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Die Niederdeutsche Sprache und ihre Geschichte

Quelle:
SANDERS, Willy. Sachsensprache, Hansensprache, Plattdeutsch. Sprachgeschichtliche
Grundzüge des Niederdeutschen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1982.

Einführung
a) Die Sprachentwicklung des Niederdeutschen lässt sich theoretisch in drei Abschnitte
unterteilen:
I – in die Sprachvorgeschichte, die noch nicht über geschriebene Texte verfügt und daher nur
rekonstruierbar ist;
II – in die Sprachgeschichte, die das verfügbare schriftliche Textmaterial in seiner zeitlichen
Abfolge auswertet;
III – in die Gegenwartssprache, die auf Schrifttexte verezichten kann (aber nicht muss), weil sie
in ihrer gesprochnenen Form direkter Untersuchung zugänglich ist.

b) Die Gegenwartssprache wird durch die niederdeutschen Mundarten repräsentiert, die zu


einem geringen Teil verschriftlich in Mundarttexten vorliegen.
c) Sachsensprache = das Altniederdeutsche (And.)
d) Hansesprache = das Mittelniederdeutsche (Mnd.)
e) Plattdeutsch = das Neuniederdeutsche (Nnd.)
Die Gegenwart schliesst sich durch die sog. Diglossie-Situation gekennzeichnet, dass
Hochdeutsch als Standardsprache und die niederdeutschen Mundarten als Varianten ein
und desselben Sprachsystems in den wechselnden Redesituation der täglichen
Sprachverwendung miteinander konkurrieren.

Kapitel 2: Das Niederdeutsche in seinem chronologischen Verlauf: Sprachperioden und


Sprachbezeichnung
a) Niederdeutsch gilt als der sprachwissenschaftliche Fachausdruck. ► „Platt(deutsch)“
werden gemeinhin die örtlichen und landschaftlichen Mundarten Norddeutschlands
genannt, die durchaus nicht einheitlich sind.
b) Im Zuge der politischen Neuregelungen des Wiener Kongresses wurde seit 1815
Nederlands zum offiziellen Aussdruck für die Landessprachen im ‚Königreich der
Niederlande‘ (1830 Verselbständigung der Südniederlande als ‚Königreich Belgien‘) –
offenbar aus dem Bestreben, „das Niederländische deutlich vom Niederdeutschen
abzuheben“. Damit war zugleich der Weg frei, dass Jacob Grimm und die germanistische
Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts ‚Niederdeutsch‘ zum Sammelbegriff für die nicht-
hochdeutschen Dialekte Norddeutschlands erklären konnten.
c) Periodiesierung (nach dem bekannten Muster des Hochdeutschen: ‚Althochdeutsch (Ahd.)
– Mittelhochdeutsch (Mhd.) – Neuhochdeutsch (Nhd.)‘) ► In diachroner / zeitlicher Abfolge
ergeben sich die drei traditionellen Sprachperioden Altniederdeutsch – Mittelniedeutsch –
Neuniederdeutsch. ► Die genannten Begriffe stellen keine konkreten Sprachbenennungen
dar, sondern sind sie terminologische Konstrukte der Sprachwissenschaft, die lediglich
einer systematischen Periodisierung dienen. ► ‚-nieder-‘ fungiert als räumliches Kriterium
im Gegensatz zum Hochdeutschen, insofern es innerhalb des deutschen Sprachraums die
Gebiete ohne Anteil an der Zweiten „hochdeutschen“ Laurverschiebung kennzeichnet. ► ‚-
deutsch‘ beinhaltet in sprachtypologischer Charakterisierung eine Sprach- und
Volksbezeichnung.
d) Das Altniederdeutsche (Sachsensprache) ► die älteste schriftlich bezeugte Epoche der
auf sächsichem Stammenterritorium gesprochenen Sprache (‚Vor- oder Frühaltsächsiche‘
des 5. bis 8. Jahrhunderts ; z.B. kirchliche und weltliche Gebrauchsprosa sowie Glossen
konzentrieren sich auf das 9./10. Jahrhundert). ► Gegen 1100 verstummt (calar-se) die
altniederdeutsche Schreibtradition.
e) Das Mittelniederdeutsche (Hansesprache) ► Seit der ersten Hälfte des 13. Jh. gibt es
erneut niederdeutsches Schriftum (150 Jahre nach einer Überlieferungslücke). ►
‚Sachsenspiegel‘ des Eike von Repgow ► Mnd. Blütezeit: Es steigt zu einer relativ
einheitlichen, lübeckisch geprägten Schrifftsprache auf und erlangte als „Hansesprache“
internationale Geltung. ► Charakteristischerweise überwiegen damals amtlich-juristische,
chronikalische und lehrhaft-erbauliche Schriften. ► Im 16. Jh. zeigt sich der mit dem
Verfall des Hansebundes gekoppelte Niedergang, der zum Ende des geschriebenen
Mitteniederdeutschen geführt hat. ► An seiner Stelle trat das Hochdeutsche in ganz
Norddeutschland als neue Hoch- und Schriftsprache. ► In den 17./18. Jh. Ausklang
(término) der niederdeutschen Schreibsprache.
f) Das Neuniederdeutsche (Plattdeutsch) ► Mit der Übernahme des Hd sank das Nnd. ins
Mundartliche ab (absinken = afundar). ► ‚Niederdeutsch‘ als Sammelbezeichnung für
eine Reihe von Dialekten. ► Erst seit Mitte des 19. Jh. gibt es wieder eine echte
Mundartliteratur (z.B. Fritz Reuters Erzählkunst). ► Nd. Dialektologie, d.h. Nd. Mundarten /
„Plattdeutsch“.
g) Frage des Autors: Ist das Niedeudeutsche als eine einständige Sprache oder ein (Komplex
von) Dialekt(en) aufzufassen? Seit das Hochdeutsche als neue Hoch- und Schriftsprache in
Norddeutschand trat, lautet historisch das Niederdeutsche als eine Sammelnbezeichnung
von Dialekten. Sprachwissenschaftlich dient Niederdeutsch als Bezeichnung in Bezug auf
die Binnendifferenzierung der niederdeutschen Dialekte.

Sprachfunktionale Gesichtspunkte
a) Sanders (1982) beinhaltet wichtigste Eingenschaften einer Sprache, wobei das Englische,
Französische, Dänische usw. als vollgültige, zweifelsfrei anerkannte Sprachen gelten.
- offizielle und generelle Gültigkeit
- Einheitlichkeit im Sinne einer Normierung
- kommunikative Komplettheit
- dazu noch eine Reihe weiterer Aspekte sprachfunktionaler Art
b) Nach Sanders (1982) erfüllt das Niederdeutsche in seiner heutigen Gebrauchsweise keine
der drei Bedinungen.
- Das Niederdeutsche ist weder die offizielle Sprache in Behörden- und Geschäftsverkehr,
Schule, Kirche noch in Presse, Rudfunk und Fernsehen. ► Es gilt generell keineswegs in
Norddeutschland, sondern wird von einem regional sehr unterschiedlich grossen
Prozentsatz der Bevölkerung gesprochen und verstanden.
- wenig erfolgreiche Versuche zur Einführung einer geregelten Rechtsschreibung.
- Die Fähigkeit, von der Thematik her mit den eigenen sprachlichen Mitteln alles
auszudrücken, wiest im Niederdeutschen ein beträchtliches Defizit auf.
c) Der Autor weist darauf hin, dass das Alt- und Mittelniederdeutsche legitimer Gegenstand
der Sprachgeschichtsforschung sind. ► Die ursprüngliche Unabhängigkeit geht inde mit
dem Untergang (declínio) der mittelniederdeutschen Schreibsprache und der Übernahme
des Hochdeutschen verloren. ► Aus diesen Gründen kommt es in Norddeutschland zu
dem grossem Bruch (Sprache – Mundarten).

Niederdeutche Sprache und Mundarten


a) Das ältere Niederdeutsch war eine selbständige Sprache von genuin sächsischer
Eingenart.
b) Man muss sich den Bruch Sprache – Mundarten nicht in Form eines abrupten
Unschwungs, vielmehr als einen länger andauernden Prozess und seinen Endpunkt als
Ergebnis einer seit karolingischer Zeit stetig fortschreitenden „Eindeutschung“ der
sächsiche Sprache vorstellen.
c) Eine Tendenz, die alsbald nach dem Verfall des schreibsprachlichen Mittelniederdeutschn
im 1600 die Einführung des Hochdeutschen als gehobene Umgangs- und vor allem
Schriftsprache im norddeutschen Raum bewirkt.
d) Sanders (1982, S. 34) ist der Meinung, dass das Niederdeutsche sowohl eine Sprache als
auch Mundarten bezeichnet sein kann: „Von Sprache, wenn hauptsächlich das historische
Kontinuum ins Auge gefasst wird; von Mundarten, wenn es vorrangig um die heutigen
Lokal- und Regionaldialekte des Niederdeutschen geht.“

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