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2. Was heißt interkulturelles Lernen?

In der pädagogischen Fachdiskussion liegen bisher keine eindeutigen Begriffsbe-


stimmungen für "interkulturelles Lernen" und "interkulturelle Erziehungs- und
Bildungsarbeit" vor. I
Dies wird z. B. daran deutlich, daß die Begriffe "interkulturell", "multikul-
turell", "transkulturell" und "kulturübergreifend" häufig synonym verwendet
werden. 2
Gelegentlich entsteht auch der Eindruck, "interkulturelle Erziehung" und
"Ausländerpädagogik" seien dasselbe. 3
Auch ist nicht eindeutig zu bestimmen, was "interkulturelle Erziehungs- und
Bildungsarbeit" ist. Es gibt "die" interkulturelle Pädagogik genauso wenig wie
"die" Pädagogik. "Es gibt so viele Ansätze (interkultureller) Pädagogik wie
Theoretiker der Pädagogik" (Borelli 1986, 8).
"Interkulturelles Lernen" soll hier verstanden werden als ein Prozeß, der
Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft, unterschiedlicher
Sprache und unterschiedlichen Alters und Geschlechts befähigt, in einer Gesell-
schaft möglichst friedlich und ohne gegenseitige Diskriminierung und Ablehnung
zusammenzuleben. 4
In diesem Sinne beschränkt sich interkulturelles Lernen prinzipiell nicht nur
auf ein Lernen zwischen Deutschen und Ausländern, sondern umfaßt auch ein
Lernen zwischen unterschiedlichen Gruppen innerhalb der deutschen bzw. inner-
halb der ausländischen Bevölkerung. Interkulturelle Erziehungs- und Bildungsar-
beit macht sich zum Ziel, interkulturelles Lernen zu initiieren und zu fördern.
In der pädagogischen Fachliteratur wird interkulturelle Erziehungs- und Bil-
dungsarbeit vorrangig als Antwort auf die Probleme der durch Migration entstan-
denen Situation in unserer Gesellschaft verstanden. 5 Daher steht interkulturelles
Lernen zwischen Arbeitsmigranten und deutscher Bevölkerung im Mittelpunkt
der Überlegungen. Auch wir setzen unseren Schwerpunkt auf eine Diskussion
über interkulturelles Lernen mit Deutschen und Arbeitsmigranten.
In der pädagogischen Diskussion wird überwiegend von "interkultureller Er-
ziehung" gesprochen, wenn es um die Initiierung und Förderung interkultureller
Lernprozesse geht. Dabei sind zumeist interkulturelle Lernprozesse mit Kindern,
Schülern und Jugendlichen gemeint.
In der Weiterbildung kann deshalb kaum von "interkultureller Erziehung"
gesprochen werden, da der Erziehungsbegriff im allgemeinen mit Kindern ver-
U. Schneider-Wohlfart et al. (eds.), Fremdheit überwinden
© Springer Fachmedien Wiesbaden 1990 39
bunden wird. Wir verwenden daher den Begriff "interkulturelles Lernen" oder
auch den Begriff "interkulturelle Weiterbildung".

2.i interkulturelles Lernen orientiert sich an einem bestimmten


Verständnis von Kultur und Identität

Interkulturellem Lernen liegt aus unserer Sicht folgendes Verständnis von Kultur
zugrunde:
o Die Gesamtheit der ökonomischen, politischen, sozialen und geistigen Le-
bensverhältnisse einer Gesellschaft bildet und prägt ihre Kultur.
o Kultur ist das Ergebnis menschlicher Erkenntnis- und Gestaltungsfahigkeit
o Kultur ist prozeßhaft und unabgeschlossen.
o Ethnozentrismus und Kulturrelativismus sind gleichermaßen abzulehnen.
o Kultur wird im Prozeß der Sozialisation tradiert.
o Kultur ist nicht national eingrenzbar; sie entsteht durch die wechselseitige Be-
einflussung zwischen verschiedenen Völkern.
Interkulturelles Lernen orientiert sich bei uns an folgendem Verständnis von
Identität:
o Der Begriff "Identität" ist ein hypothetisches Konstrukt, ein Vorstellungsmo-
dell, das zur Erklärung der Realität dienen soll. Dieses theoretische Instru-
ment zur Analyse von Wirklichkeit darf nicht mit der analysierten Wirklich-
keit gleichgesetzt und verwechselt werden.
o Während in der Ausländerpädagogik "Identität" meist als Problem von zuge-
wanderten Menschen definiert wird, verdeutlicht die Sichtweise der phänome-
nologischen Soziologie, daß es sich generell um ein Problem eines jeden Men-
schen in jeder moderenen Gesellschaft handelt, welches mit der "Pluralisie-
rung" von Lebenswelten zusammenhängt.
o Identität bezeichnet ein soziales Prinzip: als "persönliche Identität" die Ein-
maligkeit des Individuums, seine lebensgeschichtliche Kontinuität im Wandel;
als soziale Identität die Zugehörigkeit des einzelnen zu verschiedenen Bezugs-
gruppen.
Identität meint auch ein psychisches Organisationsprinzip: "Ich-Identität" be-
zeichnet die Fähigkeit, zwischen "persönlicher" und "sozialer Identität" zu
vermitteln, d. h. zwischen den Polen "Einzigartigkeit" und "Normalität" zu
balancieren.
o Identität hat eine räumliche Dimension, denn räumliche Bedingungen (Land-
schaft, Klima, Architektur, Wohnraum) sind für die Gestaltung von Identität
ein nicht zu unterschätzender Faktor.
o Identität muß als dynamisch-dialektische Kategorie begriffen werden, denn im
heutigen historisch-gesellschaftlichen Kontext nimmt der Zwang einer einzi-
gen verbindlichen Wirklichkeits- und Identitätsdefinition auf den einzelnen ab.

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