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Peter Lang AG

Prinzipien einer operativen Valenzgrammatik


Author(s): Klaus Welke and Hans-Joachim Meinhard
Source: Zeitschrift für Germanistik, Vol. 1, No. 2 (1980, Juni), pp. 146-156
Published by: Peter Lang AG
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/23974292
Accessed: 27-06-2017 15:42 UTC

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Klaus Welke, Hans-Joachim Meinhard

Prinzipiell einer operativen Valenzgrammatik

Als sich Ende der 60er Jahre allgemein die Einsicht durchgesetzt hatte, daß die Grammatik
natürlicher Sprachen nicht ohne Einbeziehung der Semantik zu beschreiben ist, begann eine
intensive Phase semantischer Theorien- und Modellbildung. Fragen des Zusammenhangs von
Logik und Semantik standen im Mittelpunkt der Diskussion. Die Grammatik im engeren
Sinne (Syntax) geriet dabei eine Zeitlang so an den Band des Interesses, daß sie in der kon
kreten Forschungsarbeit wie ein Appendix der Semantik behandelt wurde — ähnlich wie
vorher die Semantik als Appendix der Grammatik. War die Hinwendimg zur Semantik der
international dominierende Trend der sprachwissenschaftlichen Entwicklung, so vollzog sich
innerhalb der valenzgrammatischen Forschung in der DDR neben einem gleichlaufenden
auch ein genau umgekehrt verlaufender Prozeß.
In der zweiten Hälfte der 60er Jahre hatte die sog. semantische Valenztheorie ihre
Grundlagen erarbeitet, indem sie die Valenz als Eigenschaft der Wortbedeutung interpre
tierte (Bondzio 1969) und die Abhängigkeitsbeziehung (Valenzbeziehung) als semantische
Determinationsbeziehung definierte (Welke 1965). Gleichzeitig wurde eine prädikaten
logische Beschreibung der semantischen Struktur (Valenzstruktur) von Sätzen eingeführt
(Welke 1965). Im folgenden wurde die valenztheoretische semantische Komponente der
Grammatik ausgebaut. Die Grammatik im engeren Sinne (Syntax) war zwar deklarierter,
aber kaum tatsächlicher Gegenstand valenzgrammatischer Theorien- und Modellbildung. So
wurde einer valenztheoretischen Semantik-Komponente eine von Chomsky entliehene
syntaktische Komponente zugeordnet, wobei grammatische Leerstellen-Besetzungsregeln
zwischen der Ebene der logisch-semantischen (Valenz-) Struktur und der Ebene einer tiefen
strukturähnlichen syntaktischen Grundstruktur des Satzes vermittelten (vgl. Bondzio 1971).
Oder es wurde einer logisch-semantischen Grundstruktur (Valenzstruktur) über eine „aus
gezeichnete" semantische Struktur eine syntaktische Oberflächenstruktur (syntaktische
Realisierungsvariante) zugeordnet (Welke 1970). Damit aber waren Syntax und Semantik
noch keine wirklich integrierten Bestandteile der Grammatik; das Grammatikdefizit der
semantischen Valenztheorie wurde als Theoriedefizit erkannt. Die 70er Jahre waren durch
verstärkte Bemühungen um die Integration von Syntax und Semantik im valenzgramma
tischen Modell gekennzeichnet (vgl. Flämig 1972, Bondzio 1976-78; Welke/Meinhakd
1974).
Im Gegensatz zur semantischen Valenztheorie folgte Helbig in den 60er Jahren einem
asemantischen grammatiktheoretischen Ansatz. Indem er die Differenzierung von Aktanten
und freien Angaben tiefenstrukturell im Sinne Chomskys begründete und die Unterscheidung
von obligatorischen und fakultativen Aktanten als oberflächenstrukturelle Erscheinung
interpretierte, baute er den Beschreibungsapparat der syntaktischen Valenztheorie aus und
unternahm zugleich den Versuch, valenzgrammatische Aspekte mit Chomskys generativem
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Operative Valenzgrammatik

Grammatik-Konzept zu verbinden (vgl. Helbig 1969). Als sich Anfang der 70er Jahre die
semantische Valenztheorie verstärkt der Grammatik (Syntax) zuwandte, begann Helbig,
die Semantik in sein valenzgrammatisches Konzept zu integrieren. Auffassungen der se
mantischen Valenztheorie kritisch verarbeitend, etablierte Helbig (1973) neben seiner Ebene
der syntaktischen Valenz zusätzlich die Ebene einer außersprachlichen, universellen „lo
gischen" und einer einzelsprachlichen „semantischen" Valenz. Im folgenden terminologisch
präzisiert und durch die Übernahme der Ansicht erweitert, daß die Valenz nicht auf die
Wortart Verb beschränkt ist (vgl. Helbig 1976a, 1976b), lag damit in den Grundzügen eine
Valenzgrammatik in Form eines Ebenen-Modells vor, neben das später noch eine Version
trat, in der die Ebene der „logisch-semantischen" Valenz im Sinne von Ftllmobes Kasus
rollen interpretiert wurde (vgl. Stepanowa/Helbig 1978).
So unterschiedlich die valenzgrammatischen Modelle von Helbig, Bondzio und Welke
auch waren, zeigt ein genauerer Blick auf ihre „Ebenen" doch, was sie untereinander ge
meinsam haben und was sie von anderen Grammatikmodellen unterscheidet. Dieses Gemein
same liegt (1) in der Definition der Valenz als einer Eigenschaft des Wortes (der Wortbedeu
tung), (2) in der Interpretation der Valenzbeziehung als strukturkonstituierende Beziehung
auf der syntaktischen und/oder semantischen Ebene, woraus folgt, daß (3) Wort bzw.
Wortbedeutung als Strukturelement grundlegende Beschreibungseinheit der Ebenen ist.
Dahinter steht die Hypothese, daß Bilden wie Verstehen von Sätzen Prozesse der Kombi
nation von Wörtern bzw. Wortbedeutungen sind. Die valenztheoretische Rechtfertigung die
ser Hypothese lautet, daß Wörter/Wortbedeutungen mit der Valenz die Voraussetzungen
für ihre Kombinierbarkeit besitzen. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von
Semantik und Grammatik für Valenzgrammatiken als Frage nach dem Verhältnis von Lexi
kon und Grammatik, womit bewußt an traditionelle Auffassungen angeknüpft wird.
Indem Valenzgrammatiken diese Fragestellung zum Ausgangspunkt ihrer Konzeption
machen und mit dem Wort bzw. der Wortbedeutung als grundlegender Beschreibungsein
heit arbeiten, setzen sie am realen Prozeß des Bildens und Verstehens von Äußerungen an.
Denn für diesen Prozeß ist kaum anzunehmen, daß der Sprecher/Hörer zuerst eine semanti
sche Struktur erzeugt und dieser dann eine syntaktische zuordnet oder umgekehrt. „Eher ist
anzunehmen, daß es eine allgemeine gedankliche Intention gibt, die im Aufbau der seman
tischen Struktur präzisiert und realisiert wird, und daß zugleich, in demselben Prozeß, auch
der syntaktische Ausdruck geschaffen wird. Das heißt, daß die Bildung der Äußerung mit
Einheiten beginnen muß, die zugleich semantisch und syntaktisch charakterisiert sind"
(Heidolph 1977, 5). Derartige Einheiten sind Wörter. Aufgrund ihrer logisch-semantischen
Valenz sind sie semantisch kombinierbar, aufgrund ihrer Wortklassenzugehörigkeit bzw.
ihrer syntaktischen Valenz sind sie auf bestimmte Weise syntaktisch kombinierbar (vgl.
Heidolph, ebenda).
Der valenzgrammatische Ansatz am realen Sprachprozeß, der das Wort/die Wortbedeu
tung als Beschreibungseinheit einschließt, begründet die Attraktivität von Valenzgramma
tiken. Denn damit kommen Valenzgrammatiken den Bedürfnissen sowohl des Fremd
sprachen- wie des Muttersprachunterrichts entgegen, die es mit Sprachlernprozessen zu tun
haben und für die abstrakte Beschreibungseinheiten wie Seme ebenso wenig praktikabel
sind wie die abstrakten Zuordnungsregeln anderer moderner Grammatikmodelle. Zugleich
ist die Valenzgtammatik einer Gegenstandsbestimmung der Grammatik nahe, die den

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Κ. Welke, ïï.-J. Medîhabd

Aspekt der sprachlichen Tätigkeit einbezieht, statt ihn wie sonst üblich ausdrücklich a
klammern.

Wenn der an sich produktive valenzgrammatische Ansatz dennoch weitgehend folgenlos


für die Grammatiktheorie blieb, dann deshalb, weil es bisher nicht gelungen ist, ein konsi
stentes widerspruchsfreies valenzgrammatisches Modell zu schaffen. Das hat seine Ursache
u. E. in inneren Widersprüchen zwischen valenztheoretischen Prämissen und valenzgram
matischer Modellbildung, vor allem in einem Widerspruch zwischen dem Ansatz am realen
Sprachprozeß sowie der Definition der Valenz einerseits und der Interpretation der
„Ebenen" andererseits :
(1) Der valenzgrammatische Ansatz am realen Sprachprozeß steht im Widerspruch zu
einer Interpretation der Ebenen als Erzeugungsstufen. Denn den Strukturbildungsoperatio
nen der logisch-semantischen und syntaktischen Ebene wird damit eine reale, quasi autonome
Existenz zuerkannt, die sie nicht besitzen, da der reale Sprachprozeß ein einheitlicher se
mantisch-syntaktischer (semantisch-grammatischer) Prozeß ist. Soll der Ebenen-Begriff bei
behalten werden, muß er entweder im Sinne eines formalen Grammatik-Modells definiert
werden, womit aber der Ansatz am realen Sprachprozeß verlorenginge. Oder er muß in dem
Sinne definiert werden, daß die Ebenen die verschiedenen Aspekte des einheitlichen gram
matisch-semantischen Prozesses beschreiben, die logisch-semantische Ebene den „Inhalt"
grammatischer Strukturbildungsprozesse, die syntaktische Ebene die grammatische „Form"
semantischer Strukturbildungsprozesse.
(2) Die Interpretation der Ebene der logisch-semantischen Struktur (Valenzstruktur)
als „grammatikfreie" Struktur steht im Widerspruch zum Begriff der Valenz und dazu, daß
Wort bzw. Wortbedeutungen die grundlegenden Beschreibungseinheiten sind. Denn Wort
bedeutungen bringen mit der Valenz zwar die Voraussetzungen für ihre Kombinierbarkeit
mit, ihre Kombination selbst aber erfolgt syntaktisch als Kombination von Wörtern. Wort
bedeutungen sind nicht grammatikfrei kombinierbar, weil sie zusammen mit ihren Formati
ven sprachliche Zeichen sind und die Kombination von Wortbedeutungen folglich in Zeichen
operationen erfolgt. Zeichenoperationen aber werden mit Hilfe anderer Zeichen (Operatoren)
vollzogen, in natürlichen Sprachen mit Hilfe grammatischer Mittel. Die Kombination von
Wortbedeutungen ist also der semantische Aspekt bestimmter grammatischer Operationen,
die logisch-semantische Struktur keine grammatikfreie Ebene. (Folgt man jedoch der psy
cholinguistischen Rechtfertigung einer grammatikfreien Phase im Prozeß der Bildung einer
Äußerung, so darf dieser Strukturbildungsprozeß folglich nicht mit Wortbedeutungen als
Einheiten operieren, sondern mit nicht lexikalisierten elementaren Bedeutungseinheiten,
die keine grammatische Charakteristik besitzen. Da diese Elemente aber keine Valenz haben,
wäre eine entsprechende Ebene keine Ebene der Valenzstruktur, sondern eine Ebene ab
strakter Aussagestrukturen o. ä.)
Das alles spricht jedoch nicht gegen die prinzipielle Leistungsfähigkeit valenztheore
tischer Grammatik-Konzeptionen. Uns scheint aber ein valenzgrammatisches Konzept ange
messener zu sein, das den Ansatz am realen Sprachprozeß und die Frage nach dem Verhält
nis von Lexikon und Grammatik konsequenter verfolgt, das gerichtet ist auf die Erkundung
der Valenz und der grammatischen Mittel als Voraussetzungen für die grammatisch-seman
tischen Operationen mit und über Wörtern und gerichtet ist auf diese grammatisch-seman
tischen Operationen selbst.

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Operativ« Valenzgrammatik

II

Wir stellen einige Thesen zur Charakterisierung der allgemeinen Grundlagen unserer Kon
zeption an den Anfang.
1. Ziel ist die Beschreibung von grammatischen Regularitäten als linguistische Hypo
these über grammatisch-semantische Prozesse, die ablaufen, wenn Äußerungen produziert
und rezipiert (gebildet und verstanden) werden. Dabei interessieren uns Äußerungen in ihrer
Qualität als Sätze bzw. Texte.
2. Das Bilden von Sätzen (Texten) fassen wir auf als das Herstellen komplexer seman
tischer Einheiten aus elementaren Bedeutungseinheiten (Wörtern). Sätze (Texte) interes
sieren uns dabei nicht so sehr als Produkt, sondern vornehmlich als Mittel der sprachlichen
Tätigkeit. Und in diesem Sinne ist die komplexe semantische Einheit Satz (Text) identisch
mit der Menge grammatisch-semantischer Operationen, aus denen diese Einheit hervorgeht.
Wir sprechen von grammatisch-semantischen Operationen, um zu betonen, daß es lingui
stisch gesehen keine grammatikfreien semantischen Operationen gibt, Wenn im folgenden
also von semantischen Operationen die Rede ist, dann immer in dem Sinne, daß wir den se
mantischen Aspekt hervorheben wollen, ohne eine autonome semantische Ebene im Auge zu
haben. Ein Sprecher bildet einen Satz (Text), um einen Hörer zum Nachvollzug bzw. Mit
vollzug der semantischen Operationen zu veranlassen, die im Prinzip auch der Sprecher bei
der Satz- bzw. Textbildung vollzogen hat. Das Vermögen, aus elementareren Bedeutungs
einheiten komplexere semantische Einheiten zu bilden, gehört zu den Wesensmerkmalen
der menschlichen Sprache und zu den sprachlichen Grundbedingungen des Denkens. Man
vergleiche dazu die Martinetsche These von der Zweigliedrigkeit der Sprache (semantisch
grammatische und phonologische Gliederung) und die Humboldtsche Unterscheidung von
phonetischer und intellektueller Technik der Sprache.
3. Semantisch nennen wir den linguistisch faßbaren Aspekt der kognitiven Tätigkeit,
deren Medium die Satz- bzw. Textproduktion und -rezeption ist. Das Semantische schließt
in unserer Sicht das Pragmatische ein, und es ist seinerseits auch nicht vom Syntaktischen
(Grammatischen) zu trennen. Was die grammatisch-semantischen Prozesse (Operationen)
betrifft, so gibt es zahlreiche Hinweise darauf in der traditionellen Grammatik wie in der
modernen Grammatik und Semantik. Man kann ζ. B. die in den Grammatiken beschriebenen
syntaktischen Beziehungen als Operationen über Wörtern (bzw. Morphemen oder anderen
Einheiten) auffassen und nach dem semantischen Gehalt dieser Operationen fragen. Die Pro
zesse der WortabWandlung und Wortkombination, die die traditionelle Grammatik be
schreibt, korrespondieren — wenn auch nicht eineindeutig — mit Prozessen, die sich in erster
Näherung als Operationen der Bedeutungsabwandlung und Bedeutungsvereinigung be
schreiben lassen.

4. Über einer gegebenen Menge von Wörtern lassen sich unterschiedliche semantisch
Operationen ausführen. Aus diesem Grunde werden die Wörter durch den Sprecher in eine
bestimmte Struktur gebracht, d. h. zu Sätzen und zu Texten organisiert. Satz- bzw. Text
strukturen sind, so gesehen, Anweisungen an den Hörer zur Ausführimg von semantischen
Operationen mit und über Wörtern bzw. Sätzen. Wörter sine auffaßbar als formal repräsen
tierte Anweisungen an den Hörer, eine bestimmte Gedächtnisstruktur (eine bestimmte B
deutung) zu aktivieren. Strukturbildende Mittel des Satzes sind die sog. grammatischen
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Κ. Welke, H.-J. Meinhard

Mittel, denn in keiner natürlichen Sprache realisiert sich das Verhältnis von Element
Struktur, Lexikon und Grammatik allein als Verhältnis von Wort und Wortkombinat
Grammatische Mittel sind aus traditioneller Sicht Wortformänderung, Hilfswörter, W
stellung und Intonation. Ihre Bedeutung - d. i. die sog. grammatische Bedeutung i
terschied zur lexikalischen Bedeutung — fassen wir somit als Operationsanweisung üb
auszuführende semantische Operationen auf.
5. Die über einem Wort mit Hilfe grammatischer Mittel oder anderer Wörter als
ratoren ausgeführten Operationen verdichten sich zu paradigmatischen undsyntagmatis
semantischen Beziehungen zwischen den Wörtern bzw. Lexemen im Lexikon. Der d
vorangegangene semantische Operationen gewonnene und im Lexikon fixierte semanti
Bezug auf andere Wörter gehört als operative Bedeutung mit zur Bedeutung eines Wo
Semantische Operationen über Wörtern geschehen also nicht voraussetzungslos. Es
Operationen über Wörtern, die aufgrund der vorangegangenen kommunikativen P
bereits in vielfältigen semantischen Beziehungen zueinander stehen. Semantische Oper
nen sind folglich, soweit sie nicht wirkliche Bedeutungsbereicherungen oder -Veränderu
bewirken, sondern aus vorausgegangenen Operationen ableitbar sind, als Aktualisierun
von semantischen Beziehungen, von semantischen Merkmalen interpretierbar, die im
kon bereits potentiell gegeben sind. (Man kann folglieh sagen, daß in der Wortgruppe b
Tinte das Wort blau ein potentielles semantisches Merkmal des Wortes Tinte aktualisi
indem das invariante Merkmal .Farbe' spezifiziert wird.)
6. Das Verstehen einer Äußerung als Satz (Text) ist somit eine Tätigkeit des Hörers
ein Prozeß, der aus zwei Quellen gleichzeitig gespeist wird:
(1) durch Informationen aus dem grammatischen und semantischen Kenntnissystem
(a) aus dem Lexikon über die lexikalische Bedeutung (invariante semantische M
male) und über die operative Bedeutung der Wörter (Aktualisierbarkeit/Spezifizier
keit varianter/potentieller semantischer Merkmale),
(b) aus der Grammatik über die operative Bedeutung der grammatischen Mittel un
über grammatisch-semantische Operationsparadigmen (Operationsmodelle),
(2) durch Informationen aus der Äußerung über die aktuelle grammatische Struktur,
über aktuelle semantische Kombinationen (über zu aktualisierende semantische Me
male).
Zwischen diesen beiden Informationsquellen besteht ein widersprüchliches Wechselverhält
nis, das für jeden Satz neu zu lösen ist. Aus dem Widerspruch von Lexikon und Grammatik
einerseits und grammatischer Äußerungsstruktur andererseits ergeben sich die zahlreichen
Redundanzerscheinungen, grammatischen Ambiguitäten und die Möglichkeiten ihrer Auf
lösung durch den Hörer, ergeben sich grammatische Fehler und Formulierungsschwierig
keiten, bedingt durch die Notwendigkeit der Auswahl der möglichen grammatischen Kon
struktionen für die Aktualisierung potentieller semantischer Bezüge zwischen Wörtern, und
schließlich das Verhältnis von expliziter im Satz präsenter und impliziter aufgrund der
Lexikonbeziehungen präsupponierbarer Information.
7. In der Satzproduktion und -rezeption und damit in der Knmmiinika.t-.ion und im
Denken haben es die Sprecher und Hörer immer mit bilateralen grammatisch-semantischen
Einheiten zu tun. Das in unserer Sicht wichtigste Charakteristikum unserer Konzeption
besteht darin, daß wir diesen Umstand auch in unserem valenzgrammatischen Modell be
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Operative Valenzgrammatik

rücksichtigen: die Beschreibungseinheiten der grammatisch-semantischen Struktur sind


Wörter bzw. Wortformen, d. h. Einheiten aus Formativ und Bedeutung; die semanti
schen Komplexbildungen erfolgen als grammatische Komplexbildungen.

III

Aus II. folgt, daß wir semantische Merkmale (Seme) nicht als gleichsam selbstän
bild- oder Bewußtseinselemente auffassen. Semantische Merkmale haben keine Existenz
außerhalb (vor oder unabhängig) von formal (akustisch, graphisch) repräsentierbaren
Zeicheneinheiten. Der Weg führt nicht von isolierten semantischen Merkmalen ohne poten
tielle Zeichenrepräsentation zur Bündelung solcher Elemente in sprachspezifischen Bedeu
tungen von sprachlichen Zeichen, sondern umgekehrt, an und mit formal repräsentierbaren
Zeicheneinheiten entstehen, entwickeln und verändern sich die als Bündelungen (Systeme,
Komplexe) semantischer Merkmale auffaßbaren Bedeutungen (vgl. Welke 1976 und 1979).
Die semantischen Merkmale ergeben sich (1) aus dem Bezug auf die sinnliche Stufe der
Erkenntnis (vgl. Kaznelson 1974), (2) aus dem Bezug auf andere Zeicheneinheiten und
deren Bedeutung. Die Bedeutung eines Wortes entsteht und entwickelt sich mit dem Ge
brauch des Wortes in der Kommunikation und im Denken, also mit dem konkret hergestell
ten Bezug auf Dinge und Erscheinungen der Realität, vermittelt über deren sinnlich-an
schauliche Widerspiegelung im menschlichen Bewußtsein und vermittelt durch den Bezug
auf andere Wörter in der sprachlichen Äußerung. So könnte man ζ. B. das Wort Brief se
mantisch beschreiben als .(beschriftetes) Papier, mit dem eine Person (A) einer Person (B)
etwas mitteilen will und das von A an Β gesendet werden soll'. .Papier', .mitteilen', .senden',
.Person' repräsentieren somit einerseits mehr oder minder komplexe semantische Merkmale
des Wortes Brief und andererseits Bedeutungen von Wörtern, mit denen das Wort Brief
syntagmatisch verbunden sein kann, ζ. B. : In unserem Brief vom 19. 10. haben wir Ihnen mit
geteilt, . . . Gestern habe ich den Brief an A gesandt. Der syntagmatische Bezug der Wörter
aufeinander als Lexeme des Lexikons ist paradigmatisch vermittelt. Die Lexeme stehen
stets als Elemente von paradigmatischen Klassen miteinander in Beziehung, was Vorzugs
aktualisierungen und deren Markierung im Lexikon nicht ausschließt, ζ. B. blaue im Unter
schied zu lila Tinte oder gar elfenbeinfarbener Tinte. Wir haben daher für die Bedeutungsbe
schreibung von Brief bereits solche Wörter gewählt, die als Repräsentanten von Archilexe
men (CosERitr 1970) in Frage kommen. Der Bezug auf paradigmatische Klassen unter Ein
beziehung der sinnlichen Stufe der Erkenntnis (der empirischen Merkmale im Sinne von
Kazeelson 1974, S. 166ff.) konstituiert die semantischen Merkmale eines Lexems. Daraus
folgt die prinzipielle Identität von Archilexem und semantischem Merkmal.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Valenztheorie, zu denen W. Bondzios Konzep
tion der semantisch orientierten Valenztheorie viel beigetragen hat, gehört, daß die Valenz
primär als eine semantische Erscheinung zu erklären ist und daß sie als semantische Erschei
nung eine Eigenschaft der Wortbedeutung ist. Denn ein grundlegender Ausgangspunkt für
die Erklärung der Valenz ist die Tatsache, daß Bedeutungen immer relational sind. Sie ent
halten aie Merkmale notwendigerweise den Bezug auf die Erscheinungen der Realität, für
die sie gelten sollen. Denn Merkmale sind immer Merkmale von etwas. Der Bezug auf die
Erscheinungen, für die ein Wort als Merkmal gelten soll, kann innersyntaktisch vermittelt
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Κ. Welke, H.-J. Meinhabd

sein dadurch, daß bestimmte Wörter oder Wortgruppen im Satz die Erscheinungen repräs
tieren, in bezugauf die das Wort als Merkmal gelten soll. Bei einwertigen Wörtern (Lexeme
die der Gegenstandsabbildung dienen, ist die Relationalität dadurch verdeckt, daß sie sy
taktisch nicht in Erscheinung tritt (durch Besetzung der Leerstelle durch ein anderes Wor
sondern daß die Leerstelle gewissermaßen durch die zu bezeichnende Erscheinung d
Realität selbst besetzt wird, der Bezug auf die Erscheinung, für die das Merkmal gelten
soll, also immittelbar hergestellt wird, vgl. Emil ist dick mit dick als einwertigem Valenzträger
und Der Dicke wartet draußen, wo das Merkmal ,dick' nicht Valenzträger ist, sondern a
Name fungiert und unmittelbar der Benennung einer Erscheinung dient. Dieser Untersch
dung entspricht die Unterscheidung der beiden grundlegenden Wortartfunktionen, der
prädikativischen und der nominativischen. Wortarten sind Klassifizierungen von Wörte
auf Grund bestimmter operativer (grammatischer) Bedeutungen, ζ. B. der operativen B
deutung der Prädikation und Nomination. Wir nehmen an, daß die Wörter im Deutsche
mit einer operativen Grundfunktion im Lexikon eingetragen sind, d. h. mit Angabe der
Wortart, der sie primär zuzuordnen sind.
Die Valenz eines Wortes ist aus der Sicht der vorangegangenen Thesen und Erörterung
die auf Grund der Lexikonbeziehungen des Wortes bestehende Herstellbarkeit von aktuell
Beziehungen zu auszuwählenden Wörtern. Innerhalb dieses allgemeinen Valenzbegriffs,
dem Begriff der Fügungspotenz bei W. Admoni vergleichbar ist und der die aktive und d
passive (zentrifugale und zentripetale) Valenz umfaßt, interessiert in der Valenztheorie
lang insbesondere die aktive Valenz als die Valenz sog. Valenzträger und deren Leerstelle
besetzung. Aktive Valenz ist die mit einer Wortbedeutung gegebene und in einer Äußerun
obligatorisch oder fakultativ zu realisierende Ergänzungsbedürftigkeit eines Wortes auf d
Grundlage invarianter semantischer Merkmale. Passive Valenz ist die mit einer Wortbed
tung gegebene Ergänzbarkeit auf der Grundlage varianter semantischer Merkmale.
Im folgenden diskutieren wir Ansätze zu einer Lösung des umstrittenen Problems der frei
Angaben auf der Grundlage unseres Konzepts.

IV

Bekanntlich geht die neuere Valenzauffassung auf die Beobachtung zurück, daß Verben
durch eine unterschiedliche Anzahl von Ergänzungen „ergänzungsbedürftig" sein können.
Mit dem großen Anspruch an die Leistungsfähigkeit des Valenzbegriffs mußten notwendiger
weise Versuche einer Ausweitung und damit auch einer allgemeineren, tieferen und differen
zierteren theoretischen Explikation des Valenzbegriffs verbunden sein. Es ging darum,
möglichst viele, wenn nicht alle grundlegenden Aspekte der Satzstruktur mit diesem Begriff
zu erfassen. Die Valenz wurde als syntaktische, semantische, logisch-semantische Valenz auf
Ebenenmodelle bezogen. Sie wurde ferner im Sinne der aktiven Valenz auf andere Wort
arten angewandt. Ein Desiderat mußte insbesondere die Einbeziehung der freien Angaben
in das Valenzkonzept sein. Denn ihre rein negative Beschreibung als nicht-valenzgebundene
Satzglieder (Stepanowä/Helbig 1978, 148) schließt einen wesentlichen Bereich der Satz
struktur aus dem Valenzkonzept aus.
Eine naheliegende Lösung besteht darin, von einer aktiven Valenz bei Adverbien, aber
auch bei Konjunktionen und Präpositionen auszugehen mit dem Argument, daß diese wie

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Operative Valenzgrammatik

Verben bestimmte Ergänzungen verlangen (ζ. B. Flämig 1972, Welke/Meinhabd 1974,


Pasch 1977). Vgl.:
Der Motor springt nicht an, weil die Zündkerzen verölt sind.
Wegen der Verölimg der Zündkerzen springt der Motor nicht an.
Die Verölung der Zündkerzen bewirkt, daß der Motor nicht anspringt.
Hier wird jedoch die Frage offengelassen, wie die Unterscheidung von Ergänzungen und
freien Angaben zu begründen ist. Denn die Begründung ist wie die Unterscheidung selbst
vom Verb aus zu geben. Unberücksichtigt bleibt damit auch, daß die Struktur des deutschen
Satzes von der Prädikatsfunktion her zu betrachten ist. Ferner wird der synsemantische
Charakter von Präpositionen und Konjunktionen, d. h. ihre operative Funktion als gramma
tische Mittel nicht berücksichtigt.
Bondzio geht bei seinem Konzept der Valenz 2. Stufe, mit dem er die freien Angaben
in sein Valenzmodell einordnet, ausdrücklich von dem synsemantischen Charakter der Prä
positionen und Konjunktionen aus (Bondzio 1974, 253). Er spricht nur den autosemanti
schen Vollwörtern Valenz zu. Aus der formallogischen Auffaßbarkeit von Adverbien als
Prädikaten 2. Stufe folgert er, daß die Einbeziehung von Adverbien und von konjunktionalen
und präpositionalen Adverbialbestimmungen (freien Angaben) in die Satzstruktur von der
aktiven Valenz dieser Adverbialbestimmungen auszugehen habe. Vgl. :
Er versank lautlos

mit lautlos als Valenzträger und versinken (χ) als Ergänzung und
Er versank, ohne daß er schrie
mit schreien (y) als Valenzträger 2. Stufe und versinken (x) als Ergänzung (Bondzio 1974,
247). Bondzio räumt nur diese Möglichkeit der aktiven Valenz als Verhältnis des Valenz
trägers zu seinen Ergänzungen ein. Nun sind aber Adverbien keine Wörter mit behaupten
der Funktion, d. h. mit Prädikatsfunktion. Der Aufbau des deutschen Satzes von einem
Hauptvalenzträger aus, der die Prädikatsfunktion hat, bleibt auch in dieser Konzeption
unberücksichtigt. So nimmt Bondzio an, daß es in dem Satz Er versank, ohne daß er schrie
auf die Valenz 2. Stufe von schreien {y) ankommt. Dieser Annahme liegt die prädikaten
logische Sicht vom Prädikat 2. Stufe her und der Blick auf die herzustellende sprachliche
Oberflächenstruktur zugrunde, sonst wäre nicht begründbar, warum nicht auch die lo
gisch-semantische Valenz 2. Stufe von versinken (χ) mit schreien (y) als Ergänzung Grund
lage der Beschreibung ist. Denn die Valenz 2. Stufe muß unter den Voraussetzungen
Bondzios (Valenz als Eigenschaft der logisch-semantischen Ebene) sowohl für schreien (y)
als auch für versinken (x) gelten. Jedes der beiden Verben könnte als Hauptvalenzträger
(Prädikat des übergeordneten Satzes) gewählt werden. Welches der beiden Verben als Haupt
valenzträger gewählt wird, hängt jedoch mit der vom Sprecher gewählten grammatischen
Realisierung der logisch-semantischen Struktur zusammen (in unserer Terminologie: mit
der semantisch-grammatischen Aktualisierung von Lexikonbeziehungen). Entweder wird
versinken alsHauptvalenzträger (übergeordnetes Prädikat) gewählt, auf dessen Valenz es bei
der Organisierung der Satzstruktur vor allem ankommt (realisiert ζ. B. in Satz (a)), oder
schreien wird als Hauptvalenzträger gewählt (realisiert ζ. B. in Satz (b)):
(a) Er versank, ohne daß er schrie
(b) Er schrie nicht, als er versank.
Bei der im folgenden vorzuschlagenden Lösungsvariante gehen wir auf einen Vorschlag
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Κ. Welke, H.-J. Meinhabd

zurück, den H.-J. Μετκττακπ (1970) gemacht hat. Meinhabd war bei der Unterscheidung v
Ergänzungen und freien Angaben von der generellen Annahme der Existenz von minde
stens zwei Mengen semantisch er Merkmale, die einen Begriff charakterisieren, ausgegang
wobei die erste Menge u. a. Angaben über die Anzahl und die Selektion der Leerstellen e
hält, die damit zur Menge der invarianten Merkmale von Begriffen, die Eigenschaften od
Relationen abbilden, gehören, während die zweite Menge unwesentliche, variante Merkma
enthält, das sind u. a. Eintragungen, die die möglichen freien adverbialen Ergänzungen
variante semantische Merkmale abbilden. So wird ζ. B. das Merkmal ,loc' in schlafen als
variantes Merkmal betrachtet, in wohnen dagegen als invariantes Merkmal. Denn wohn
benennt wie schlafen eine bestimmte Existenzweise als potentielles Merkmal von Lebewese
Menschen. Im Unterschied zu schlafen enthält jedoch wohnen noch zusätzlich den lokale
Bezug. Es ist daher im Unterschied zu schlafen zweiwertig. Das einwertige schlafen enthä
nicht von vornherein den lokalen Bezug, dennoch erlaubt es diesen. Unsere Interpretati
lautet: Mit der freien Angabe wird ein variantes semantisches Merkmal des Verbs aktua
siert und die Zahl der Ergänzungen um eine aktuell erhöht. Wir können anstelle von in
varianten und Varianten Merkmalen auch von der invarianten und Varianten Wertigke
eines Lexems sprechen. Was in der Valenztheorie im allgemeinen unter Valenz gefaßt wir
ist die invariante Wertigkeit oder mit anderen Worten: die aktive (zentrifugale) Valenz
Darüber hinaus existiert jedoch noch die passive Valenz, die nicht eine einfache Umkehru
der Beziehung zwischen Valenzträger und Ergänzung ist, sondern die variable Ausdehnb
keit der Relationalität eines Lexems. Beispielsweise enthalten zelten oder schlafen im Unt
schied zu sich befinden oder wohnen nicht den Hinweis auf den Ort des Zeltens oder Sch
fens als Invariante. Zelten oder schlafen sind nicht invariant als lokale Relationen angeleg
können aber in dieser Richtimg erweitert werden: Er zeltet an der Ostsee, Er schläft im Freien
an der Ostsee, im Freien sind freie Angaben. Ebenso enthalten ζ. B. kaufen oder übersetz
im Unterschied etwa zu widmen oder schicken nicht den invarianten Hinweis auf eine Person
als Adressaten. Wieder handelt es sich um die variante Ausdehnbarkeit der Relationalität :
Ich kaufe dir das Buch, Ich übersetze dir den Aufsatz mit dir als sog. freiem Dativ.
Da bestimmte Zusammenhänge von Valenz und ontologiseher Relationalität auf der
Hand liegen, liegt es nahe zu versuchen, die Wertigkeit von Valenzträgern direkt aus ont
logischen Verhältnissen abzuleiten, also etwa zu begründen: geben ist dreiwertig, da ein Ge
ben in der Realität jemanden voraussetzt, der gibt, jemanden, dem etwas gegeben wird, un
etwas, was gegeben wird. Ein solches Vorgehen ist jedoch zirkelhaft, da es sich bei der sprac
lichen Erfassung der Wirklichkeit (bei der Begriffsbildung) nicht um das einfache Bezeichne
fertig ausgegrenzter Relationen handelt. Es ist auf direkte Weise ontologisch (außersprac
lich) nicht begründbar, warum schlafen oder zelten im Unterschied zu wohnen einwertige Ve
ben sind. Philosophisch ist von einem unendlichen wechselseitigen Zusammenhang aller
Erscheinungen der Realität auszugehen. Was als Relation (Sachverhalt) sprachlich heraus
gegriffen wird, steht bereits mit einem subjektiven Erkenntnisinteresse im Zusammenhan
und schließt die Abstraktion von weiteren möglichen Bezügen ein. Im Lexikon einzelner
Sprachen werden Lexeme mit unterschiedlicher Wertigkeit bereitgestellt, wobei das Ang
bot von Sprache zu Sprache schwanken kann (vgl. Helbig/Schenkel 1973,11). Die Wertig
keit ist aktuell erweiterbar durch das Hinzufügen von freien Angaben. Das Angebot ist
aktuell und in der Tendenz lexikalisch ergänzbar durch Mittel der Wortbildung, ζ. B. wird

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Operative Valenzgrammatik

durch das Präfix (das operative Wortbildungselement) be- in belügen im Unterschied zu lügen
eine weitere Leerstelle geschaffen.
Auch in einer zweiten Hinsicht gilt es, den ontologischen Bezug nicht zu unvermittelt
dem Valenzbegriff und der Unterscheidung von aktiver und passiver Valenz zugrunde zu
legen. Die aktive Valenz erscheint häufig als die direkte Widerspiegelung des Verhältnisses
von Eigenschaften und Relationen zu den Dingen, denen diese Eigenschaften und Relationen
zukommen. Sie ist jedoch nicht auf diesen Zusammenhang begrenzt, worauf das Vorhanden
sein obligatorischer lokaler, temporaler und modaler Adverbialbestimmungen hinweist :
Das Buch liegt auf dem Tisch
Die Besprechung dauert drei Stunden
Er verhielt sich umsichtig.
Während die lokale Relation noch als Relation zwischen zwei Dingen auffaßbar ist (zwischen
Buch und Tisch), gilt das für die temporale und modale Adverbialbestimmung nicht mehr.
Wir streben einen Valenzbegriff an, der sich nicht an ontologischen (außersprachlichen) Ver
hältnissen orientiert. Damit leugnen wir nicht den prinzipiellen Widerspiegelungscharakter
sprachlicher Äußerungen und auch nicht gewisse prinzipielle Zusammenhänge von ontolo
gischer (und damit auch logischer) und syntaktischer Struktur, meinen jedoch, daß diese
Zusammenhänge zu vermittelt sind, um einer direkten ontologischen Begründung zugänglich
zu sein.

Die Behandlung von freien Angaben als aktuelle Hinzufügungen von weiteren Ergän
zungen erlaubt es, die Übergänge zwischen freien Angaben und Ergänzungen besser zu er
klären, als es eine Konzeption vermag, die zwischen Ergänzungen als Aktanten im Sinne von
logischen Argumenten bzw. ontologischen Dingen einerseits und freien Angaben im Sinne von
logischen Prädikaten höherer Stufe andererseits die Abgrenzung vornimmt. Die Übergänge
sind ζ. B. gut bei Instrumentalbestimmungen sichtbar. Diese können abhängig davon, ob
der Valenzträger (das Verb) invariant oder variant den instrumentalen Bezug setzt, als Er
gänzungen oder Angaben aufgefaßt werden, vgl. :
Er zerschneidet das Papier mit dem Messer
Er zerstückelt das Papier mit dem Messer.
Zerschneiden enthält im Unterschied zu zerstückeln den Verweis auf ein Instrument (Schneid
werkzeug) invariant als Merkmal.
Durch Ergänzungen und freie Angaben werden invariante Merkmale spezifiziert und
variante Merkmale aktualisiert und damit ebenfalls spezifiziert. Das Problem des tautolo
gischen (nichtrestriktiven) Benennens von Merkmalen klammern wir aus {Er singt ein Lied,
Er wohnt in einer Wohnung, Er ißt Eßbares). Es handelt sich in sinnvoller Kommunikation
immer um ein Spezifizieren. Allerdings sind hier weitere Komplikationen zu beachten. So
können invariante Merkmale unspezifiziert bleiben, und zwar auch in bezug auf den sprach
lichen und situativen Kontext : Er ißt, Er liest. Ferner kann mit der Aktualisierung varianter
Merkmale die Spezifizierung von invarianten Merkmalen unwesentlich werden, weil durch
die Spezifizierung eines Varianten Merkmals ein bestimmter semantischer Aspekt (eine be
stimmte Bedeutungsrichtung) betont wird, vgl. :
Er wohnt in Berlin — Er wohnt gut
Er schreibt einen Brief — Er schreibt leserlich.
Wir haben am Beispiel sog. freier Angaben demonstriert, daß semantische Operationen über
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Κ. Welke, H.-J. Mbinhabd

Wortbedeutungen als Merkmalaktualisierung bzw. -Spezifizierung interpretierbar sin


Damit ist ein wichtiger Aspekt semantischer Operationen angedeutet. Im wesentlichen u
berücksichtigt ist in diesem Aufsatz die Betrachtung der freien Angaben als grammatisch
Operationsanweisung und der Konjunktionen und Präpositionen als Operatoren geblieben

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