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net/publication/311391936
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1 author:
Roland Kipke
Bielefeld University
53 PUBLICATIONS 182 CITATIONS
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All content following this page was uploaded by Roland Kipke on 04 December 2016.
1. Einleitung
Das ist eine bemerkenswerte Tatsache. Aber sie lässt sich leicht erklären: Rudolf Steiner hat
in seiner Philosophie der Freiheit ein Verständnis individuellen freien Handelns entwickelt,
das Moral zwar nicht aufzuheben gedenkt, aber ganz ausschließlich in den Kompetenzbereich
des Einzelnen stellt. Unter der Bedingung des so verstandenen freien Handelns lässt sich
Steiner zufolge nichts Allgemeingültiges über Moral sagen. Unter der Flagge seines
„Ethischen Individualismus“ verlieren moralische Normen ihre Bedeutung und wird eine
Ethik als normative Wissenschaft undenkbar. In dieser Perspektive ist das Fehlen einer
anthroposophischen Ethik also keine zufällige Lücke und kein bedauernswerter Mangel,
sondern Absicht und angemessen.
Andererseits ist „Ethik“ heute in aller Munde und wird allseits für eine dringliche Aufgabe
gehalten. Wie keine andere philosophische Disziplin hat sie in den letzten Jahren einen
ungeheuren Aufschwung erlebt. Das gilt vor allem für die so genannte angewandte Ethik, d.h.
derjenige Zweig der Ethik, der nicht nach dem richtigen Handeln im Allgemeinen fragt,
sondern der sich den wachsenden ethischen Fragen in konkreten Problemfelder widmet, wie
z.B. Medizin, Wirtschaft und Umwelt. Und selbstverständlich spielen auch innerhalb der
Anthroposophie ethische Themen und Fragen eine zentrale Rolle. Steiners Werk ist überaus
1
reich an moralischen Kategorien, Forderungen und Urteilen. Ja, gewissermaßen ist die
Anthroposophie ein durch und durch moralbezogenes Projekt.
Die Frage drängt sich also auf, wie das Verhältnis der Anthroposophie zur Ethik tatsächlich
beschaffen ist und wie es beschaffen sein sollte. Mit den folgenden Überlegungen will ich
eine knappe Antwort auf diese zweifache Frage skizzieren und damit einen Beitrag zur
anthroposophischen Selbstaufklärung in dieser Hinsicht leisten. Viel ist darüber bereits
geschrieben worden. Ich glaube nicht, dass dazu das letzte Wort gesprochen ist.
Unter „Ethik“ verstehe ich dabei – entsprechend dem heute vorherrschenden Sprachgebrauch
– die systematische und begründete Bestimmung des moralisch richtigen Handelns. Diese
Bestimmung kann die Form einer professionellen Wissenschaft annehmen, geschieht aber
auch in jeder ernsthaften denkenden Suche nach rechtfertigungsfähigen Handlungsgründen.
Ich beziehe mich schwerpunktmäßig auf Steiners philosophische Frühschriften, v.a. die
Philosophie der Freiheit. Mit „Anthroposophie“ meine ich jedoch sein schriftliches (und
verschriftlichtes) Gesamtwerk.1
Wie gehe ich vor? Zunächst rufe ich einige Grundzüge von Steiners Verständnis von Freiheit,
Moral und Ethik in Erinnerung, wie er es in der Philosophie der Freiheit entwickelt hat (2).
Dann zeige ich, dass er dieses Verständnis in seinem späteren anthroposophischen Werk
entgegen anders lautenden Bekenntnissen aufgibt, ja ihm sogar bereits in der Philosophie der
Freiheit widerspricht (3). Inwiefern sich diese Widersprüche und eine Reihe weiterer
Probleme zwangsläufig aus einem falschen Verständnis von Moral ergeben, ist das Thema des
zentralen vierten Abschnitts (4). Welche praktischen Konsequenzen das haben kann und
welche Konsequenzen wir daraus ziehen sollten, ist das Thema eines kurzen Fazits (5).
2. Grundzüge
Welches Konzept von Moral und Ethik entwirft Steiner also in der Philosophie der Freiheit?
Diese Begriffe stehen nicht im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Zentral ist vielmehr das
Verständnis von Freiheit. Freiheit ist ihm zufolge das Handeln aus Intuitionen, d.h. aus rein
gedachten Begriffen. Ein solcher Begriff ist, wenn er praktisch leitend wird, eine
„Sittlichkeitsmaxime“ (Steiner 1987a, 158). Das heißt, Freiheit und Moral sind keine
Gegensätze, sondern der so frei handelnde Mensch ist identisch mit dem moralisch
1
Um der Übersichtlichkeit willen verzichte ich auf die Auseinandersetzung mit der anthroposophischen
Sekundärliteratur. Aus demselben Grund blende ich die Frage aus, ob die Ergänzungen, die Rudolf Steiner 1918
an der Philosophie der Freiheit vorgenommen hat, deren Aussagen substanziell verschoben haben.
2
handelnden Menschen. Die praktischen Intuitionen sind moralische Intuitionen. Moralität ist
jedoch nicht das Ziel des freien Handelns, sondern stellt sich gewissermaßen als Nebeneffekt
ein. Als frei Handelnder will ich „einfach ausführen, was in mir liegt“ (ebd., 162). Damit sind
jedoch keine Neigungen, Affekte o.ä. gemeint, sondern eben die „rein intuitiv erfasste(n)
Sittlichkeitsziele“ (ebd., 163). Wenn die „in Liebe getauchte Intuition in der rechten Art in
dem intuitiv zu erlebenden Weltzusammenhang drinnensteht“, wird die Handlung auch „gut“
(ebd., 162).
Die moralische Intuition versteht Steiner als höchst individuell und situativ gebunden.
Darüber, welche Intuition angemessen ist, lässt sich demnach keine allgemeingültige Aussage
machen. Man kann nur „für den einzelnen Fall die besondere Sittlichkeitsmaxime“ erleben
(ebd., 158). Deshalb nennt Steiner seinen Ansatz „ethischen Individualismus“. Moralische
Normen können für den frei handelnden Menschen nicht maßgebend sein. Ja, ein Handeln,
dass sich an solchen Normen orientiert, ist der Gegensatz von Freiheit. Die Handlung ist eine
„schablonenmäßige “, wenn sie „nach irgendwelchen Regeln ausgeführt wird“ (ebd., 158).
„Wer nur handelt, weil er bestimmte sittliche Normen anerkennt, dessen Handlung ist das
Ergebnis der in seinem Moralkodex stehenden Prinzipien. Er ist bloß der Vollstrecker. Er ist
ein höherer Automat.“ (ebd., 161) Dementsprechend lehnt Steiner die Rede von „Pflicht“ als
unvereinbar mit Freiheit strikt ab: „Der bloße Pflichtbegriff schließt die Freiheit aus, weil er
das Individuelle nicht anerkennen will, sondern Unterwerfung des letztern unter eine
allgemeine Norm fordert.“ (ebd., 165)
Dennoch ist das Zusammenleben der freien Menschen kein Kampf aller gegen alle, sondern
verträglich. Diese Verträglichkeit verdankt sich nicht der Orientierung an gemeinsamen
Normen, sondern der „Einigkeit der Ideenwelt“ (ebd., 165). Das heißt, die freien Geister
schöpfen ihre Intuitionen aus derselben gemeinsamen geistigen Sphäre.
Über Fragen der Moral lässt sich unter freien Geistern nicht streiten. Das moralisch Richtige,
das moralisch Gute kann kein Gegenstand eines Diskurses sein, denn darüber lässt sich nichts
Allgemeingültiges aussagen. Insofern gibt es das moralisch Gute überhaupt nicht, weshalb
Steiner „gut“ auch in Anführungsstriche setzt (ebd., 162). Der freie Mensch fordert von
seinen Mitmenschen keine Moralität, keine Zustimmung zu bestimmten moralischen
Prinzipien, sondern er „lebt in dem Vertrauen darauf, daß der andere Freie mit ihm einer
geistigen Welt angehört und sich in seinen Intentionen mit ihm begegnen wird“ (ebd., 166).
Konsequenterweise lehnt Steiner die Ethik als Normwissenschaft radikal ab: „Eine Ethik als
Normwissenschaft kann es daneben nicht geben.“ (ebd., 195) Ethik schrumpft bei ihm
3
zusammen auf die bloße Beschreibung gegebener moralischer Überzeugungen und
Willensakte, auf eine „Naturlehre der Sittlichkeit“ (ebd., 161), eine „Naturlehre der
moralischen Vorstellungen“ (ebd., 195). Heute würde man von deskriptiver Ethik sprechen,
einer Art Sozialwissenschaft, die also gerade keine Ethik im eigentlichen Sinne, nämlich
normativer Ethik ist.
So weit zum Verständnis von Moral und Ethik in der Philosophie der Freiheit. Sie gilt unter
Anthroposophen weithin keineswegs als überholtes Frühwerk Steiner, sondern als Kern und
Keim der Anthroposophie. Steiner selbst hat sein philosophisches Konzept bekanntlich auch
zu seinen im engeren Sinne anthroposophischen Wirkungszeiten ausdrücklich bejaht und die
Philosophie der Freiheit für sein Hauptwerk gehalten. – Das Problem ist jedoch, dass er diese
radikale Ablehnung von Ethik und allgemeingültiger Moral in seinem Werk nicht durchhält,
ja massiv konterkariert.
3. Widersprüche
Die Überzeugung von der Nachrangigkeit der Moral lässt Steiner in seinem späteren
anthroposophischen Werk fallen. Allerorten findet sich hier die Rede von Moral, Moralität,
Moralgesetzen, Sittlichkeit und Ethik. Moral ist von zentralem Interesse: Die „moralische(n)
Welt“ ist dasjenige, was uns „vor allen Dingen wertvoll sein muß“ (Steiner 1924, 68). „Im
Grunde genommen ist das menschliche Leben nur dadurch gerechtfertigt, dass wir unsere
Gedanken in den Dienst des Guten und Schönen stellen“ (Steiner 1962, 89). Die zentrale
Rolle normativer Moral lässt sich auch an der Rede von der „Pflicht“ ablesen, die Steiner in
der Philosophie der Freiheit noch vehement als mit Freiheit unvereinbar abgelehnt hatte
(Steiner 1987a, 115, 119). So spricht er z.B. von der “doch unleugbare(n) Tatsache einer
ethischen Verpflichtung des Menschen” (Steiner 1959, 262), und er betont, wie wichtig es ist,
„dass man sich verpflichtet fühlt, dasjenige, was einem als moralisches Handeln gefällt, auch
zu tun und das Nicht-Moralische zu unterlassen. Das Sich-verpflichtet-Fühlen, das ist für den
Menschen das Höchste, wozu der Mensch es heute auf der Welt bringen kann.“ (Steiner 1962,
19) Die Moral ist nicht allein eine Sache der persönlichen Entscheidung, sondern es gibt
„moralische Notwendigkeiten“ (Steiner 1987b, 306).
Moralität ist in Steiners späterem anthroposophischen Werk nicht mehr etwas, das sich beim
freien Handeln bloß einstellt, sondern etwas, worauf Menschen sich bewusst auszurichten
haben, sofern sie den anthroposophischen Impuls ernsthaft aufnehmen wollen. So weist er in
den pädagogischen Schriften wiederholt darauf hin, wie wichtig es ist, dass sich durch das
4
Vorbild des Lehrers „die richtigen moralischen Impulse des Willens“ bei den Kindern
entfalten (Steiner 1979, 140). Das heißt, es gibt allgemein verbindliche moralische Ziele der
pädagogischen Arbeit. Auch wenn diese Moralerziehung nicht in der intellektuellen Lehre
von Moralgrundsätzen besteht, geht es selbstverständlich um die Realisierung von
Eigenschaften, Ideen und Idealen, die wir alle als moralisch anerkennen (sollen).
Moralität ist sogar eine Grundvoraussetzung für das, worauf die ganze Anthroposophie
hinausläuft: die Entwicklung höherer Erkenntnisfähigkeiten. Die „goldene Regel der wahren
Geheimwissenschaften“ lautet: „wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der
Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung
deines Charakters zum Guten.“ (Steiner 1987c, 67; vgl. Steiner 1987b, 306) Das Moralische
ist nicht mehr allein Sache des individuell und situativ Handelnden, sondern es lässt sich
offensichtlich etwas Allgemeingültiges darüber aussagen. Von dem ethischen Individualismus
der Philosophie der Freiheit ist hier keine Spur mehr. Letztendlich ist die ganze
Anthroposophie ab 1900 ein durch und durch normativ-moralisches Projekt.
Recht besehen, findet sich der Widerspruch zwischen dem beanspruchten ethischen
Individualismus und der dennoch vorhandenen Normativität nicht erst, wenn man in Steiners
nicht-philosophisches Werk blickt. Der Widerspruch liegt schon in der Philosophie der
Freiheit. Erstens finden sich Bemerkungen wie diese: „Denn die Staatsgesetze sind sämtlich
aus Intuitionen freier Geister entsprungen, ebenso wie alle anderen objektiven
Sittlichkeitsgesetze.“ (Steiner 1987a, 171) Staatliche Gesetze sind nun aber ein Paradebeispiel
für allgemeingültige Normen. Wenn ihnen moralischen Intuitionen zugrunde liegen, sind
diese Intuitionen offenbar nicht per se situationsgebunden und radikal individuell. Zweitens
ist bereits Steiners Überzeugung, dass es vor allem auf die Entwicklung von Freiheit
ankommt, eine normative Idee: „Jeder von uns ist berufen zum freien Geiste (…).“ (ebd., 179)
Selbstverständlich ist es eine normative Festlegung, Freiheit als einen „sittlichen Fortschritt“
(ebd., 156) und als „höherstehend“ zu begreifen (ebd., 165), als Ziel menschlicher
Entwicklung zu bestimmen: „Das Ziel besteht in der Verwirklichung rein intuitiv erfaßter
Sittlichkeitsziele.“ (ebd., 163)
Warum ist der Hinweis auf diese Widersprüche wichtig? Dass sich in Steiners Werk
Widersprüche finden, ist schließlich keine neue Einsicht. Doch erstens ist und bleibt
Widerspruchsfreiheit Bedingung jedes Denkens, das ernst genommen werden will. Eine
häufig zu hörende Erklärung von anthroposophischer Seite lautet: Steiner schaue die
Phänomene aus verschiedenen Perspektiven an, die vermeintlichen Widersprüche lösten sich
5
auf höherer Ebene auf. Das mag sein, wäre jedoch im jeweiligen Fall nachzuweisen. Was den
eklatanten Widerspruch in Sachen Ethik angeht, ist ein solcher Nachweis nicht in Sicht.
Zweitens handelt es bei dieser Angelegenheit um einen zentralen Punkt in Steiners Denken.
Die Ideen der Philosophie der Freiheit hielt er zeitlebens für überaus bedeutsam, der
moralische Impuls ist jedoch ebenso ein Wesenszug der Anthroposophie. Der dritte Grund ist
für die hier vorgenommenen Überlegungen am wichtigsten: Diese Widersprüche sind kein
Zufall, sondern notwendig. Sie ergeben sich zwangsläufig, wenn man Moral radikal
individualisieren will. Die Widersprüche kommen zustande, weil Steiner in seinem
philosophischen Frühwerk einem fundamentalen Missverständnis aufsitzt, was die Natur der
Moral betrifft.
4. Missverständnisse
Warum sind die Widersprüche bereits im Konzept des ethischen Individualismus angelegt?
Weil Moral prinzipiell keine rein individuelle Angelegenheit ist. Wenn wir moralische Urteile
fällen – und das tun wir unablässig –, erheben wir stets den Anspruch auf allgemeine Geltung
dieser Urteile.2 Diese Geltung mag nicht von allen anerkannt sein, doch der Anspruch ist da.
Andernfalls handelt es sich nicht um ein moralisches Urteil. Der Anspruch auf allgemeine
Geltung ist nicht eine Erfindung weltfremder Philosophen, sondern ein Wesensmerkmal von
Moral. Wenn ich sage, dass Pizza Funghi gut schmeckt, erwarte ich keine Zustimmung. Wenn
ich jedoch sage, dieses Verhalten ist unmoralisch, gehe ich davon aus, dass mir alle
zustimmen müssten – auch wenn ich weiß, dass dies nicht der Fall sein wird. Eine Aussage
wie „Dies ist moralisch richtig, aber wie du das beurteilst, ist ganz deine Sache“ ist sinnlos.
Gerade weil wir mit moralischen Urteilen implizit oder explizit allgemeine Zustimmung
einfordern, streiten wir uns über Fragen der Moral. Wie wir mit diesem Dissens umgehen, ob
konfrontativ oder kooperativ, ob dogmatisch oder reflektiert, ist eine zweite Frage, deren
Beantwortung den Allgemeingültigkeitsanspruch nicht berührt.
Die allgemeine Geltung, die durch moralische Urteile erhoben wird, ist nicht allein eine Sache
des Denkens, Erkennens und Anerkennens. In Fragen der Moral geht es immer um Handeln
(oder auch handlungsbezogene Einstellungen, Eigenschaften und Urteile). Von der Geltung
eines moralischen Urteils zu sprechen, heißt, von der Richtigkeit oder Falschheit eines
bestimmten Handelns oder einer Handlungsweise zu sprechen. Bei Fragen der Moral geht es
2
Nur damit keine Missverständnisse entstehen: Moralische Urteile sind nicht moralisch „gute“ Urteile, sondern
Urteile in moralischer Hinsicht, also alle Urteile, die moralisch bewerten oder fordern.
6
immer um richtiges und falsches Handeln. Ein moralisches Urteil, Prinzip oder Ideal
anzuerkennen, heißt nichts anderes als zu sagen: So soll gehandelt werden und so soll nicht
gehandelt werden. Moralische Urteile bringen also ein Sollen zum Ausdruck. Ein anderes
Wort für Sollen ist „Pflicht“. Eine moralische Pflicht anzuerkennen, bedeutet, etwas
Normatives zu sagen, bedeutet also, eine Norm anzuerkennen – wie abstrakt oder konkret die
auch sei.
Die Universalität, die Pflicht, das Normative – diese von Steiner abgelehnten Konzepte sind
also nicht Ausgeburten eines überkommenen, anti-individuellen ethischen Denkens, sondern
sie sind notwendig mit dem Begriff der Moral verknüpft. Wer von Moral spricht, kann von
Pflicht und Sollen nicht schweigen. Wer den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, die Idee der
moralischen Pflicht, des moralischen Sollens, der allgemeinen moralischen Richtigkeit
ablehnt und zugleich moralische Urteile fällt und moralische Forderungen erhebt, verstrickt
sich in unauflösliche Widersprüche. Genau das tut Steiner. Er verkennt die soziale Dimension
der Moral. In diesem Sinne ist der Begriff „ethischer Individualismus“ ein Widerspruch in
sich.
Weil Steiner das Wesen der Moral in seinem philosophischen Frühwerk verkennt, kommt es
in der Folge zu weiteren gravierenden Missverständnissen. So verwechselt er die
Allgemeinverbindlichkeit moralischer Ansprüche mit Unfreiheit und meint, Freiheit als
Gegensatz zu Normativität verstehen zu müssen. Normen sind für ihn „wie eine
außerweltliche Macht, die das Leben beherrschen sollen, (…) Gesetze, die nicht innerhalb der
menschlichen Natur erzeugt sind, sondern die als fertige Richtschnur unserem Handeln
gegeben sind.“ (Steiner 1994, 19) Ein Handeln „nach sittlichen Normen“ sei dasselbe wie das
„gehorsame Handeln“ (Steiner 1987a, 180). Doch dieses Verständnis ist schlichtweg falsch.
Nicht Normen stehen im Gegensatz zu Freiheit, sondern ein bestimmter Umgang mit ihnen,
wie z.B. die unhinterfragte Übernahme tradierter Normen. Nicht der „bloße Pflichtbegriff
schließt die Freiheit aus“ (ebd., 165), sondern ein äußerliches Pflichtverständnis. Tatsächlich
hat jede moralische Überzeugung verpflichtenden Charakter.
Eng damit verwandt und ebenso verfehlt ist die Auffassung, Normen seien zwangsläufig zu
abstrakt und lebensfremd. Steiner zufolge sei eine Handlung eine „schablonenmäßige“, wenn
sie „nach irgendwelchen Regeln ausgeführt wird“ (ebd., 158). Steiner zufolge übersehen die
Anhänger von Normethiken „daß sich alle allgemeinen Regeln und Gesetze sogleich als ein
wertloses Phantom erweisen, wenn sich der Mensch innerhalb der lebendigen Wirklichkeit
befindet.“ (Steiner 1994, 21) Doch das ist ein Zerrbild von Normen. Tatsächlich verhält es
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sich so: Normen haben zwar stets einen Anspruch auf allgemeine Geltung, das sagt jedoch
nichts darüber aus, wie allgemein oder wie konkret sie gefasst sind. Allgemeine Geltung heißt
Geltung für alle Menschen, nicht für alle Handlungsfelder und Situationen. Selbstverständlich
kann es Normen geben, die zu allgemein formuliert sind oder die auf Bereiche angewandt
werden, wo sie nicht angemessen sind. Das steckt jedoch nicht im Begriff der Norm, sondern
ist einem bestimmten menschlichen Umgang mit Normen geschuldet. Normen können auch
sehr spezifisch und kontextbezogen sein.
Weil wir frei handeln können, weil moralische Ansprüche sich stets auf alle Menschen
beziehen und weil unser Handeln sich fast immer im Zusammenhang mit anderen Menschen
vollzieht, sind unser Handeln und unsere moralischen Entscheidungen
rechtfertigungsbedürftig – spätestens dann, wenn wir auf andere moralische Ideen stoßen, und
das ist häufig der Fall. Weil Steiner die soziale Dimension der Moral nicht sieht, erkennt er
auch kein Erfordernis, sein Handeln und die zugrundeliegenden Entscheidungen zu
rechtfertigen. Zwar spricht er vielfach von der „Berechtigung“ der jeweiligen Intuition
(Steiner 1987a, 154, Hervorheb. RK), von „der rechten Art“, in der eine Intuition „in dem
intuitiv zu erlebenden Weltzusammenhang drinnensteht“ (ebd., 162, Hervorheb. RK): „Ein
freies Wesen ist dasjenige, welches wollen kann, was es selbst für richtig hält“ (ebd., 202,
Hervorheb. RK., im Orig. „wollen“ hervorgehob.). Doch wenn ich meine, dass es für mich
richtig ist, in dieser Situation so und so zu handeln, dann meine ich damit selbstverständlich,
dass es für alle richtig ist, die sich in dieser (äußeren und inneren) Situation befinden oder
befinden würden. Von moralischer Richtigkeit zu sprechen, ergibt überhaupt keinen Sinn,
wenn diese Richtigkeit sich ausschließlich auf ein einzelnes Individuum und eine einzelne
Handlung beschränken soll – eben weil mit jedem Urteil über moralische Richtigkeit stets ein
Anspruch auf allgemeine Geltung erhoben wird. Wenn ich beanspruche, das Richtige, das
Berechtigte, das Rechte zu kennen, muss ich darüber Rechenschaft ablegen können. Wenn es
Richtiges gibt, gibt es auch Falsches. Dann gibt es Gründe für diese Unterscheidung. Diese
Gründe muss ich benennen können. Nur Gründe können verständlich, kommunizierbar,
nachvollziehbar sein. Denn so individuell manche Gründe sein mögen, sie haben stets eine
allgemeine begriffliche Form. Ethik ist nichts anderes als das grundsätzliche und
systematische Nachdenken über diese Gründe.
Allerdings ist es keineswegs so, dass sich Steiner für die Übereinstimmung zwischen den
Intuitionen und Handlungen verschiedener Menschen nicht interessiert. Er plädiert ja
keineswegs für moralische Beliebigkeit oder für einen amoralischen Egoismus. Aber er setzt
nicht auf eine kommunikative Lösung, sondern darauf, dass sich die Übereinstimmung ergibt,
8
weil die Intuitionen der frei Handelnden derselben Sphäre entstammen: „Der Freie lebt in dem
Vertrauen darauf, daß der andere Freie mit ihm einer geistigen Welt angehört und sich in
seinen Intentionen mit ihm begegnen wird. Der Freie verlangt von seinen Mitmenschen keine
Übereinstimmung, aber er erwartet sie, weil sie in der menschlichen Natur liegt“ (ebd., 166).
Den Vertretern des „falsch verstandenen Moralismus“ wirft er vor, „die Einigkeit der
Ideenwelt nicht“ zu verstehen. Sie würden nicht begreifen, „daß die Ideenwelt, die in mir tätig
ist, keine andere ist, als die in meinen Mitmenschen.“ (ebd., 165) Doch das kann nicht
überzeugen. Denn dass ich mich im selben Raum bewege wie meine Mitmenschen, ist in
keiner Weise eine Gewähr dafür, dass ich ihnen begegne. Ich kann auch weit entfernt an ihnen
vorbeilaufen oder mit ihnen zusammenprallen. Nicht-metaphorisch gesagt: Dass wir dasselbe
denken können, garantiert in keiner Weise, dass wir es auch tun. Und dass die Intuitionen
eines Ursprungs sind, ist keine Gewähr dafür, dass sie miteinander harmonieren.
Die Einigkeit der Ideenwelt hebt nicht die Tatsache und die Notwendigkeit auf, dass ich mich
für dieses oder jenes entscheide. Ich habe verschiedene Möglichkeiten, ich wähle aus (vgl.
ebd., 191). Wäre es nicht so, könnte von Freiheit keine Rede sein. In Steiners Sinn kann der
frei Handelnde jedoch keine begründete Rechtfertigung für seine Entscheidungen geben. Er
kann nur sagen: Ich wollte das so. Es war meine Intuition. Ich liebe oder liebte diese
Handlung (vgl. ebd., 161 f.). – Das ist äußerst dürftig. Im wirklichen Leben würden wir so
eine „Rechtfertigung“ niemals akzeptieren. Tatsächlich verlangen wir voneinander Gründe.
Mit anderen Worten: Als denkende und freie Menschen kommen wir ohne Ethik nicht aus.
5. Konsequenzen
Fazit: Die anthroposophische Abstinenz in Sachen Ethik ist falsch. Sie geht von falschen
Voraussetzungen aus, führt deshalb unweigerlich in Widersprüche und schafft eine Reihe von
Folgeproblemen.
In gewisser Weise ist Steiners Ablehnung der Ethik auch paradox. Gerade die
Anthroposophie, die stets mit ihrer Nicht-Anerkennung als Wissenschaft hadert, spricht einer
anderen Wissenschaft deren Wissenschaftlichkeit ab. Dabei gehört es zu den wichtigsten
Ideen von Steiners Wissenschaftstheorie, dass nicht jede Wissenschaft dieselbe Methodik
aufweisen kann, sondern jeder Gegenstandsbereich seine eigene Wissenschaft verlangt (vgl.
Steiner 1988). Das ist ganz richtig. Nur bei der Ethik setzt Steiner dieses Prinzip außer Kraft.
Sofern Ethik systematisch, transparent, argumentativ und methodisch reflektiert verfährt, ist
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sie selbstverständlich eine Wissenschaft – nur eben keine empirische, sondern eine normative
Wissenschaft.
Die Ablehnung der Ethik ist nicht nur falsch, sondern auch bedauerlich. Sie führt nicht nur zu
theoretischen Problemen, sondern auch zu praktischen. Denn der Verzicht auf ethisches
Nachdenken bedeutet moralische Unreflektiertheit, ja kann sogar ein Einfallstor für
moralische Selbstherrlichkeit sein. Auch wenn das von Steiner nicht beabsichtigt wurde, kann
die Berufung auf vermeintlich uneinholbar individuelle Intuitionen als Deckmantel für
unkommunikatives, rücksichtsloses Handeln dienen.
Tatsächlich ist es natürlich so, dass Anthroposophen durchaus ethische Reflexion betreiben,
wie andere denkende Menschen auch – sowohl im Bereich persönlicher Angelegenheiten als
auch bei gesellschaftlichen Fragen. Nur wird das nie professionell, systematisch und
gemeinsam gemacht, weil stets Steiners radikales Verdikt im Hintergrund steht. Man hat gar
keine Sprache dafür, weil zentrale Moralbegriffe gemieden werden. Das ist bedauerlich, weil
sich die Anthroposophie damit von einer der großen gesellschaftlichen und
wissenschaftlichen Debatten abkoppelt. Dabei hätte die Anthroposophie zweifellos wichtige
ethische Impulse zu bieten. Es ist Zeit, dass die Anthroposophen sich aus der
selbstverschuldeten ethischen Sprachlosigkeit befreien.
Literatur
Steiner (1924): Anthroposophie. Eine Zusammenfassung nach einundzwanzig Jahren. Zugleich eine
Anleitung zu ihrer Vertretung vor der Welt. Neun Vorträge, Dornach, 19. Januar bis 10. Februar 1924,
GA 234, Dornach.
Steiner, Rudolf (1959): Geisteswissenschaft als Lebensgut, Zwölf öffentliche Vorträge, gehalten
zwischen dem 30. Oktober 1913 und 23. April 1914 im Architektenhaus, GA 63, Dornach.
Steiner, Rudolf (1962): Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit,
Dreiundzwanzig Vorträge, gehalten 1911 bis 1912 in verschiedenen Städten, GA 130, Dornach.
Steiner, Rudolf (1979): Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik, Neun öffentliche
Vorträge, gehalten zwischen dem 25. März 1923 und dem 30. August 1924 in verschiedenen Städten,
GA 304a, Dornach.
Steiner, Rudolf (1987a): Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung.
Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode, Frankfurt a.M.
Steiner, Rudolf (1987b): Geheimwissenschaft im Umriss, Dornach.
Steiner, Rudolf (1987c): Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Dornach.
Steiner, Rudolf (1988): Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Mit
besonderer Rücksicht auf Schiller, Dornach.
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Steiner, Rudolf (1994): Alte und neue Moralbegriffe, in: ders.: Moral und Christentum. Texte zur
Ethik, Sonderausgabe anläßlich des Jubiläums 100 Jahre „Philosophie der Freiheit“ 1894-1994,
Dornach.
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