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So besitzen wir denn eine naturwissenscha2liche, eine

philosophische und eine theologische Anthropologie, die


sich nicht umeinander kümmern – eine einheitliche Idee
vom Menschen aber besitzen wir nicht.

Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928)


Wesentlich bleibt die durchgehende Tendenz nach einer Überwindung
der frak%onierenden Betrachtungsweise des Menschen in
Philosophie, Biologie, Psychologie, Medizin und Soziologie; jener
Betrachtungsweise, die zwar nicht immer in der neuzeitlichen
Wissenscha: geherrscht hat, aber stets wieder zur Herrscha: gelangte,
und für die Descartes das S@chwort gab; die den Menschen
spezialis@sch vergegenständlichte und über dieser Au?eilung in
Seinsgebiete die Lebenseinheit aus den Augen verlor.

Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928),
S. 37
Es bleibt ein erstaunliches Phänomen, dessen versteckte Logik uns
noch kaum zum Bewußtsein gekommen ist, daß das gegenwär,ge
grenzenlose Vertrauen zu den menschlichen Fähigkeiten mit der
üblich gewordenen Einschätzung menschlichen Wesens in
Widerspruch steht. Soweit wir die Geschichte übersehen, hat es keine
Zeit gegeben, die dem Menschen so viel zumutete, ihn so
unbeschränkt zum Herrn über seinesgleichen und die ganze Natur
proklamierte, so hemmungslos auf seine Einsicht und Voraussicht
baute wie die unsrige. Und diese selbe Zeit arbeitet mit der gleichen
Radikalität ihrem eigenen Vertrauen entgegen, indem sie die
Vertrauenswürdigkeit des Menschen untergräbt.

Tier und Mensch (1938)


[…] bedeutsam in einer Wendezeit, da durch weit
vorangetriebene Forschung der Mensch sich die Krä6e in
die Hand gespielt hat, die zum ersten Male seit seinem
Erscheinen auf der Erde seine Spezies mit Vernichtung
bedrohen und das Lebewesen Mensch zu einer
unmi8elbaren Frage seiner Entscheidung machen.

Philosophische Anthropologie (1957)


[J]edem Aspekt, von dem aus der Anspruch erhoben werden
kann, daß in ihm menschliches Wesen erscheint, ob der
physische, psychische, geis>g-si@liche oder religiöse, ist der
gleiche Wert für die Aufdeckung des ganzen menschlichen
Wesens zuzubilligen. Dieser Grundsatz trennt die Philosophische
Anthropologie bereits methodisch von allen materialis9schen,
idealis9schen, existen9alis9schen Einsei9gkeiten, die in Richtung
auf eine Grunddimension, längs oder quer zu der tradi9onellen
Seinsschichtung im AuCau der menschlichen Natur, einen
besonderen Leit-Aspekt dem Menschen vorbehalten.

Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie (1937)


In der Philosophischen Anthropologie ist der Mensch als
Mensch angesprochen und in diesem Zusatz eine
Einschränkung auf den Bereich vorgenommen, der zwischen
den Extremen größtmöglicher Vereinzelung und
größtmöglicher Verallgemeinerung eine nicht genau
festzulegende Mi9e hält.

Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie (1937)


Die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts haben uns die Unergründlichkeit der
menschlichen Natur kennen gelehrt. Gerade die Wissenscha-en vom
Menschen gehören der jüngsten Entwicklung der Forschung an. Die
methodische Durchbildung und Ausbreitung des Materials in der Historie
und den historischen, vor allem vergleichend historischen sog.
Geisteswissenscha-en, Sprachwissenscha-, Soziologie und Völkerkunde,
Prähistorie und Archäologie fällt in das letzte Jahrhundert und nicht zum
geringsten Teil in seine späteren Jahrzehnte. Standen das 17. und z. T. auch
das 18. Saeculum im Zeichen der Physik und der anorganischen
Naturwissenscha-en, so hat sich für das 19. jedenfalls die Perspek@ve
verschoben.
Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie (1937)
Mit einer derar*gen Erweiterung des Gesichtskreises auf die
außereuropäischen Sprachen, Kulturen und Religionen, auf die
vorchristliche und vorklassische Geschichte, auf die vorgeschichtlichen,
vor- und außermenschlichen Lebensformen verlor das europäsche, das
abendländische Bewußtsein die Unbefangenheit sich selbst gegenüber.
Es gewann Abstand zu seinen eigenen Wertmaßstäben, zu der
tradi6onellen Überlegenheit seiner auf An6ke und jüdisch-christlicher
Religiosität gegründeten Kultur, zu der tradi6onellen Annahme von
der Spitzenstellung des Menschen unter den Lebewesen im Ganzen
der Natur.
Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie (1937)
Für die Inangriffnahme des Problems hat sich schließlich –
inhaltlich wie formal – die wachsende Vertrautheit mit der
Biologie des Menschen als entscheidend erwiesen. Denn
die abstammungstheore4sche Herleitung unserer Spezies
aus vormenschlichen Formen bedeutete mit der
Erschü?erung ihres tradi@onellen Privilegs zugleich die
Erschließung einer sein ganzes „Wesen“ umgreifenden
Dimension.
Philosophische Anthropologie (1957)
Durch die Entdeckungen der Abstammungs- und
Vererbungslehre, der Physiologie und
Entwicklungsgeschichte ha<e sich ein neuer Aspekt von der
Naturgebundenheit des Menschen und seiner Kultur
ergeben. Was früheren Zeiten relaGve Selbstverständlichkeit
gewesen war, die Zugehörigkeit des Menschen zum
Tierreich, wurde durch die veränderte Betrachtung der
Natur zu einer das Wesen des Menschen „erklärenden“, d.h.
auflösenden Erkenntnis.

Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), S. 4


Entweder ist der Mensch mit allen seinen Eigenscha2en,
körperlich und geis8g, das letzte Glied der organischen
Entwicklung auf der Erde. Dann ist sein Bewußtsein, sein
Gewissen, sein Intellekt, das Formensystem seines Geistes
und damit seine Kultur ein Naturprodukt, das Resultat der
Großhirnentwicklung, des aufrechten Ganges, bes8mmter
Veränderungen der inneren Sekre8on usw. Wie es zu diesem
Resultat kommt und aus körperlichen Tatsachen geis8ge
Dimensionen werden, bleibt allerdings ganz rätselha2.

Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 5


Oder seine eigene Naturgeschichte in Verbindung mit der
Geschichte der Organismen ist wie die ganze Natur eine
Konstruk9on des Menschen nach Maßgabe der
apriorischen Grundformen seines Geistes und im Rahmen
seines Bewußtseins. Wie freilich der schöpferische Geist zu
dieser konkreten Existenz „in“ einem Menschen, zu dieser
Abhängigkeit von seinen physischen EigenschaCen kommt,
bleibt ebenso rätselhaC.
Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 5
Logisch wäre es natürlich möglich gewesen, an jener uralten
dualis8schen Konzep8on festzuhalten, die den Menschen in
zwei Wirklichkeiten aufspaltet, die seelisch-geis8ge (durch
die er sich von den Tieren als ein Wesen anderer und
höherer Ordnung unterscheidet) und die körperliche (durch
die er „auch“ Tier ist). […] Aber die Entwicklung hat sich am
Sinnenfälligen der körperlichen Erscheinung orien;ert und
sie zum Maß des Menschen, das heißt den Menschen zur
Tierart gemacht.
Tier und Mensch (1938)
Als Körper wird der Mensch Tier. Es ist wich*g, von
vornherein im Auge zu behalten, daß hier eine logische
Prozedur vorliegt, die von der tatsächlich
unwidersprechlichen Verwandtscha? des menschlichen und
des *erischen Körpers ausgelöst und gelenkt wird, die aber
in sich das Verhängnis einer Verfälschung trägt, wenn
unvermerkt die Idee des Menschen mit der Idee des
menschlichen Körpers zusammenfällt.
Tier und Mensch (1938)
Je weiter das naturwissenscha/liche Denken ausgriff, je mehr es sich
die Welt der belebten Dinge und den Menschen unterwarf, desto
blasser wurde das christliche Bild der Schöpfungsordnung, desto
leichter fand man sich mit dem Paradox ab, daß der Mensch ein Tier ist.
Ist er es wirklich? Unsere Einbildungskra0 unterliegt dem
Naturalismus des Zeitgeistes und hat längst in den breiten Massen ein
aufgeklärtes Bewußtsein erzeugt, das zu der Einordnung des
Menschen unter die Tiere ja und amen sagt. Die Praxis der Zeit
bedroht dadurch die Würde des Menschen und ersHckt sein
Verantwortungsgefühl, sein Freiheitsbewußtsein. So wurde das
Problem des Verhältnisses von Mensch und Tier zu einer Lebensfrage.
Tier und Mensch (1938)
Wie der Abgrund übersprungen werden konnte, der Tier und
Mensch trennt, werden wir nie wissen. Nur wo er ist und was er
tatsächlich in aller Schärfe scheidet, vermögen wir zu begreifen.
Die klassische und die christliche Anthropologie begnügten sich
mit dem Wesensprädikat des Geistes und der Vernun= zur
Charakteris@k des Menschen; für die christliche Anthropologie ist
sie in der GoGesebenbildlichkeit des Geschöpfes verankert. Im
neuzeitlichen Naturalismus wurde aus diesem Prädikat die Gabe
der Intelligenz, die man den Tieren vorenthalten zu müssen
glaubte. Erst Biologie und Tierpsychologie haben den Irrtum dieser
These nachgewiesen.
Tier und Mensch (1938)
Intelligenz und Geist sind wesensverschieden. Intelligenz ist
eine biologische Kategorie, eine Art des Verhaltens, das für
Korrekturen durch Erfahrung offen ist. Geist dagegen ist
eine transbiologische Größe und ist unter allen Lebewesen
dem Menschen vorbehalten. Intelligenz ist
umweltbezogen, ihr Wirkungsfeld ist eine bes@mmte
Umwelt, in deren innere Bezüge und KonstellaAonen sie
Einblick, Einsicht gewährt. […]
Tier und Mensch (1938)
Der Wesensunterschied zeigt sich an dem Gegensatz
umweltgebundenen und weltoffenen Daseins, der sich
zugleich spiegelt in dem Gegensatz von Intelligenz und
Geist. Im Tier herrscht als Grundprinzip die Geborgenheit in
der Umwelt. Im Menschen öffnet sich die Geschlossenheit
des vitalen Kreises […]

Tier und Mensch (1938)


Während das Tier schon für eine bes2mmte Umwelt
spezialisiert ins Leben tri; und nur die dem Menschen
verwandtesten Tiere eine, allerdings mögIichst abgekürzte,
außermü<erliche Jugend haben, bleibt der Mensch lange in
dem zwar hilfsbedür>igen, aber bildsamen Stadium, das
auf keine bes2mmte Umwelt eingestellt ist.

Tier und Mensch (1938)


Geist ist weltbezogen und tri1 da ins Spiel, wo zwischen
Subjekt und Objekt echte Distanz herrscht […]

Tier und Mensch (1938)


Die Schranke der -erischen Organisa-on liegt darin, daß
dem Individuum sein selber Sein verborgen ist, weil es nicht
in Beziehung zur posi-onalen Mi@e steht, während Medium
und eigener Körperleib ihm gegeben, auf die posi-onale
Mi@e, das absolute Hier-Jetzt bezogen sind. Sein Exis)eren
im Hier-Jetzt ist nicht noch einmal bezogen, denn es ist
kein Gegenpunkt mehr für eine mögliche Beziehung da.
Insoweit das Tier selbst ist, geht es im Hier-Jetzt auf.

Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 288


Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mi1e seiner Existenz
gestellt ist, weiß diese Mi)e, erlebt sie und ist darum über sie hinaus.
Er erlebt die Bindung im absoluten Hier-Jetzt, die Totalkonvergenz des
Umfeldes und des eigenen Leibes gegen das Zentrum seiner PosiEon
und ist darum nicht mehr von ihr gebunden. Er erlebt das unmi1elbare
Anheben seiner AkEonen, die Impulsivität seiner Regungen und
Bewegungen, das radikale Urhebertum seines lebendigen Daseins, das
Stehen zwischen Ak;on und Ak;on, die Wahl ebenso wie die
Hingerissenheit in Affekt und Trieb, er weiß sich frei und trotz dieser
Freiheit in eine Existenz gebannt, die ihn hemmt und mit der er
kämpfen muß.

Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 291


Er [der Mensch, FH] ist in seine Grenze gesetzt und deshalb
über sie hinaus, die ihn, das lebendige Ding, begrenzt. Er
lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.

Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 292

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