HERAUSGEGEBEN VON GERALD BRAUNBERGER, JÜRGEN KAUBE, CARSTEN KNOP, BERTHOLD KOHLER
Die Wirtschaft lebt von ihren Ho nungen auf die Zukunft. Doch was, wenn die
Zeit aus dem Takt gerät? Ein Gastbeitrag.
Die Corona-Krise hat diese zeitliche Ordnung des Wirtschaftssystems ins Wanken gebracht.
Zumindest kurzzeitig. Einreisesperren und Regeln zur Distanzwahrung haben die
selbstverständlichsten Erwartungen von Unternehmen, Arbeitnehmern und Konsumenten
weggefegt. Reisen? Ins Kino gehen? Zum Arbeitsplatz kommen? Plötzlich ging nichts mehr
davon. Stabiles Wirtschaftswachstum von 1,1 Prozent, wie die Bundesregierung am Anfang des
Jahres prognostiziert hatte? Sicher nicht!
Was uns an dieser Krise so bestürzt, ist die Erschütterung der Zeitordnung, auf der unser
Wirtschaftssystem und letztlich unsere Gesellschaft aufbaut. Wirtschaftliche Entscheidungen
sind immer riskant, weil die Zukunft o en ist. Doch Vorhersagen und Prognosen scha en in der
Regel die notwendige Beruhigung, dass die Zukunft zumindest nicht völlig willkürlich
hereinbricht. Wir glauben, die Zukunft zumindest so weit zu erkennen, dass wir vernünftig
entscheiden können. Manchmal geht das gut aus, manchmal nicht. Doch insgesamt erzeugen
die Akteure so die Dynamik des Wirtschaftssystems.
Die Corona-Pandemie hat dies in Frage gestellt. Sie hat eine überbordende Ungewissheit
erzeugt. Die vielbemühte Metapher des „Auf-Sicht-Fahrens“ ist ja eigentlich keine
geographische, sondern eine zeitliche Metapher. Die Zukunft erscheint völlig vernebelt. Kein
Orientierung gebendes Narrativ kann sich durchsetzen. Die Aneignung der Zukunft durch
stabile, handlungsanleitende Prognosen ist verschlossen. In Analogien zur Vergangenheit wird
nach Ankern gesucht – die Wirtschaftskrise von 2008, die Weltwirtschaftskrise, die Spanische
Grippe oder sogar die Pest.
Doch all diese Analogien geben keinen Halt, weil sich daraus
FAZ.NET komplett völlig unterschiedliche Schlüsse ziehen lassen und man letztlich
Zugang zu allen exklusiven F+Artikeln. doch weiß, dass jede Krise anders ist. Studien zeigen, dass es die
Bleiben Sie umfassend informiert, für Ungewissheit nicht reduziert, viele Szenarien zu planen, weil
nur 2,95 € pro Woche. immer mehr mögliche Entwicklungen als plausibel erscheinen.
Je unsicherer die Zukunft aussieht, desto frenetischer wird die
JETZT 30 TAGE KOSTENFREI TESTEN Suche nach neuer Erwartungssicherheit. Solange diese fehlt,
wird erst einmal stillgehalten. Die um ihren Zukunftshorizont
gebrachten Wirtschaftsakteure halten an ihrer Liquidität fest
und verstärken dadurch die Krise weiter.
Die gewaltigen Hilfsmaßnahmen des Staates lassen sich als Beruhigungspillen verstehen, die
Planungssicherheit suggerieren. Nicht Entlassungen, sondern Überbrückung durch
Kurzarbeitergeld. Nicht Insolvenz, sondern staatliche Kredite. Nicht Unterbrechung der
Zahlungsströme des Finanzsystems, sondern unbegrenzte Liquidität durch Aufkaufprogramme
der Zentralbanken. Dies sind Lehren aus der Depression der frühen dreißiger Jahre. Staatliche
Überbrückungsmaßnahmen, eine politische Rhetorik der Beruhigung, aber auch die Diskussion
um die Wiederö nung von Wirtschaft und ö entlichem Leben zielen darauf, Zuversicht zu
vermitteln und den ins Stocken geratenen Wirtschaftsmotor durch positive
Zukunftserwartungen wieder in Gang zu bringen. Wessen Zukunft dabei als systemrelevant gilt
und an wessen Zukunft gespart werden darf, wird politisch entschieden.
Die Corona-Krise fordert die Zeitordnung der Wirtschaft noch in einer weiteren Frage heraus,
nämlich hinsichtlich der Begrenzung der ökonomischen Verwertung und e zienten Nutzung
von Zeit. Zeit ist in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zuallererst eine Ressource, die
gebraucht wird, um zu produzieren und zu konsumieren. Aus der Nutzung dieser Ressource
entstehen Einkommen, Gewinne und schließlich Wohlstand. Karl Marx sah in der Extraktion der
Zeit der Arbeiter einen wesentlichen Aspekt des kapitalistischen Produktionsprozesses und
zugleich ein wichtiges Element von Entfremdung und Ausbeutung. Im Unterschied zu anderen
Ressourcen lässt sich Zeit nicht ansparen, sie verfällt. Maximierung von Zeit heißt daher, die
verfügbare Zeit stets e zient zu nutzen und mit ihr zu kalkulieren. Untätigkeit und Muße
erscheinen als Verschwendung. Max Weber beschrieb in seiner berühmten Metapher des
„stahlharten Gehäuses der Hörigkeit“ gerade auch diesen Umgang mit Zeit, auf dem die
moderne Wirtschaft fußt.
Meist bedeutet die e ziente Nutzung von Zeit Beschleunigung. Immer mehr soll in immer
kürzerer Zeit erledigt werden. Mark Zuckerberg kreierte das Motto „move fast and break
things“, um Facebook zum Erfolg zu führen. Im Wettbewerb müssen Unternehmen flinker sein
als die Konkurrenz, wofür Waren schneller produziert oder verteilt werden müssen.
Beschleunigung gilt auch für den Konsum. Neue Moden und Trends folgen schnell aufeinander
und sichern so stetige Nachfrage.
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7/11/2020 Corona hält die Zeit an und erschüttert den Kapitalismus
Die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus erschütterten dieses Credo der
Beschleunigung. Vorhandene Zeit konnte nicht mehr produktiv ins Wirtschaftssystem
eingebracht werden. Fabriken wurden stillgelegt, die Geschäfte und Kinos geschlossen.
Anstelle von stetiger Beschleunigung galt es im Kampf gegen das Coronavirus, Aktivität
herunterzufahren, Mobilität zu reduzieren und Dynamiken zu bremsen. Um die nötige Zeit für
die Bekämpfung der Seuche zu gewinnen, musste das gesellschaftliche und ökonomische Leben
verlangsamt werden.
Für die einen wird das Leben langsamer, für die anderen
intensiver
Die Erfahrung damit war durchaus ambivalent. Für die Wirtschaft bedeutet Verlangsamung
unweigerlich Krise. Dem Einzelnen verdeutlichte die Situation jedoch auch, wie sehr das eigene
Leben auf Erwerbsarbeit und Konsum zugeschnitten ist. Teilweise wurde dies als Entlastung
erlebt. „Zeit zu haben“ wurde zumindest für einige zur Realität. Dass damit auch Routinen,
Termine und Deadlines wegbrechen, ist jedoch auch ein Verlust und eine Herausforderung.
Wenn Arbeit und Konsum nicht mehr den Tag strukturieren, entsteht ein gewaltiges Vakuum.
Nicht zufällig wurde sogleich zur heimischen Selbstaktivierung und -optimierung geraten. Die
Zeit der Krise, so der Tenor, solle produktiv genutzt werden, um nachher noch schneller und
e zienter voranzukommen.
Doch Verlangsamung ist nur ein Aspekt. Beschäftigte von Lebensmittelhandel und
Lieferdiensten, Ärztinnen und Pflegepersonal erfuhren eine Intensivierung ihrer Arbeitszeit.
Einen ähnlichen E ekt hat die Corona-Krise für die weiterhin berufstätigen Eltern. Um
erwerbstätig sein zu können, lagern Familien einen Teil der für die Kinder nötigen Sorgearbeit
aus. Sie kaufen sich gewissermaßen die Zeit, um einer Erwerbsarbeit nachgehen zu können. Mit
der Schließung von Schulen und Kindertagesstätten verloren Eltern aber gerade die
Institutionen, die ihnen diese Zeit verscha en. Die Überlastung vieler Familien o enbart nicht
nur, wie ungleich Sorgearbeit in vielen Familien zwischen den Geschlechtern verteilt ist,
sondern auch, wie sehr unsere Wirtschaftsordnung andere Lebensbereiche an den Rand drängt,
indem sie ihnen Zeit entzieht.
MEHR ZUM THEMA Die Corona-Krise lenkt schließlich die Aufmerksamkeit auf
die Kehrseite e zienter Zeitnutzung: das Warten. Warten
auf Wiederö nung und Warten auf einen Impfsto . Nicht
alle ertragen das Warten gleich gut. Warten ist daher eine
Quelle ökonomischer Ungleichheit. Wer über mehr
SHOPPING IN CORONA-ZEITEN Ressourcen verfügt und bessere Netzwerke hat, kann in der
Darf es ein bisschen weniger
Konsum sein?
Regel länger warten und sich die Zukunft o enhalten.
Große Unternehmen können länger warten als kleine. Dass
die Lufthansa als systemrelevant eingestuft wurde,
bescherte ihr neun Milliarden Euro an Unterstützung. Das Café an der Ecke kann nicht mit
gleicher Aufmerksamkeit rechnen. Aber jedes kleine Café, das weicht, ist ein Konkurrent
weniger für Starbucks. Ein Resultat der unterschiedlichen Wartefähigkeit wird ein weiterer
Konzentrationsprozess in der Wirtschaft sein.
Die Corona-Pandemie legt die zeitliche Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft o en, indem
sie sie suspendiert. In mancherlei Hinsicht hat diese Erschütterung neue Erfahrungen erö net.
Die aus Not angestellten Versuche mit Heimarbeit und digitalen Technologien machen die
Verstetigung neuer Formen der Arbeitsorganisation in vielen Branchen denkbar und geben der
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7/11/2020 Corona hält die Zeit an und erschüttert den Kapitalismus
Weit überwiegend war die Suspendierung der Zeitordnung jedoch ein Blick in den Abgrund.
Der plötzliche Verlust von Zuversicht hinsichtlich der wirtschaftlichen Zukunft und der Zwang
zum Warten lassen das Gespenst eines sinkenden Lebensstandards, steigender sozialer
Ungleichheit und autoritärer Reglementierung des Lebens vor unsere Augen treten. Wie unter
dem Brennglas macht die Corona-Krise die Irrungen der zeitlichen Ordnung unseres
Wirtschaftssystems sichtbar, lässt uns aber auch deren Attraktivität klarer erkennen.
Es mag nicht die ideale Ordnung sein, doch wir können uns auf sie stützen. Sie ermöglicht den
Entwurf von Zukünften und hilft, Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren. Zur Gestaltung
der Zukunft brauchen wir uns glaubwürdig erscheinende Projektionen. Durch eine nur
vernebelt zu erkennende Zukunft gelingt dies nicht. Gut, wenn es wieder losgeht.
Quelle: F.A.S.
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