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GOETHE-HANDBUCH

Band 1
Sonderausgabe
GOETHE
HANDBUCH
in vier Bänden

Herausgegeben von Bemd Witte,


Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke,
Regine Otto und Peter Schmidt ct)
Redaktion: Carina Janßen,
Petra Oberhauser
und Christoph Schumacher

Gifördert durch
die Fritz Thyssen Stiftung
und die Stiftung Weimarer Klassik

Sonderausgabe
GOETHE
HANDBUCH
Band 1

Gedichte
Herausgegeben von
Regine Otto und Bemd Witte

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart . Weimar
ISBN 978-3-476-02022-2
ISBN 978-3-476-04396-2 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-04396-2

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist ur-


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© 2004 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J .B. Metzlersche
Verlagsbuchhandlung und earl Ernst Poeschel
Verlag GmbH in Stuttgart 2004

Bibliografische Information Der Deutschen


Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
v

Inhal tsverzeichnis Vorwort VIII


Hinweise für Benutzer XII
Siglenliste XIV
Autorenverzeichnis XVIII

Goethe als Lyriker 1


Die Gedichtsammlungen in den autorisierten
Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827 18

FrüheLyrik. 1767-1770
Überblick 32
An den Mond/An Luna 44
Die Nacht 49
Hochzeitlied 51

Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775


Überblick 54
Mir schlug das Herz 77
Maifest 82
Wandrers Stunnlied 87
Mahomets Gesang 99
Prometheus 107
Ganymed 115
An Schwager Kronos 118
Künstlers Morgenlied 120
Der Wandrer 124
Heidenröslein 127
Der König in Thule 132
Neue Liebe neues Leben 134
Lili's Park 137
Auf dem See 139
Im Herbst 1775 142

Lyrik des ersten WeimarerJahrzehnts. 1776-1786


Überblick 14 7
Die Erste Weimarer Gedichtsammlung 1778
155
Seefahrt 158
Harzreise im Winter 159
Ilmenau 163
Auf Miedings Tod 169
Jägers Nachtlied 173
Warum gabst du uns die Tiefen Blicke 176
An den Mond 180
VI Inhaltsverzeichnis

Wandrers Nachtlied/Ein gleiches 187


Gesang der Geister über den Wassern 195
Grenzen der Menschheit 198
Das Göttliche 202
Zueignung 205
Der Fischer 209
Erlkönig 212
Der Sänger 217

Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806


Überblick 220
Römische Elegien 225
Venezianische Epigramme 232
Xenien 237
Alexis und Dora 243
Euphrosyne 248
Amyntas 250
Die Metamorphose der Pflanzen 253
Cupido, loser eigensinniger Knabe 257
Kophtisches Lied/Ein andres 260
Gefunden 264
Der Musensohn 267
Meeres Stille/Glückliche Fahrt 270
Nähe des Geliebten 272
Das Sonett 274
Dauer im Wechsel 277
Weltseele 280
Epilog zu Schillers Glocke 283
Legende 287
Die Braut von Corinth 288
Der Gott und die Bajadere 291
Der Zauberlehrling 293

Um den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819


Überblick 296
Sonette 302
West-östlicher Divan 306
Noten und Abhandlungen zu besserem Ver-
ständniß des West-östlichen Divans 323
Mächtiges Überraschen 334
Zum ein und zwanzigsten Juni, Carlsbad
1808 336
Das Tagebuch. 1810 339
Der Totentanz 342
Johanna Sebus 346
Herrn Staats-Minister v. Voigt 349
Symbolum 352
Inhaltsverzeichnis VII

Urworte. Orphisch 354


Hegire 365
Phaenomen 372
Derb und Tüchtig 374
Selige Sehnsucht 377
Unbegrenzt 380
Offenbar Geheimniß 384
An Hafis 389
Uebermacht, Ihr könnt es spüren 393
Der Winter und Timur 397
An Suleika 402
Gingo biloba 404
Die schön geschriebenen 412
Hochbild 415
Wiederfinden 418
Vollmondnacht 424
Geheimschrift 427
Ja, in der Schenke 430
Vermächtniß alt persischen Glaubens 431

Das lyrische Spätwerk . 1819-18J2


Überblick 436
Zahme Xenien 449
Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tages-
zeiten 454
Metamorphose der Tiere 458
Howard's Ehrengedächtnis 463
Wilhelm Tischbeins Idyllen 466
Zu meinen Handzeichnungen 469
Eins und Alles 474
Paria 478
Trilogie der Leidenschaft 481
Im ernsten Beinhaus war's 491
Dem aufgehenden Vollmonde! 495
Der Bräutigam 499
Vermächtnis 501

versepen

Reineke Fuchs 508


Herrmann und Dorothea 519
Achilleis 537
Der ewige Jude 540
Die Geheimnisse 546

Register der Gedichttitel und der Gedicht-


anfange 553
Namenregister 565
VIII

seinen Werken werden zentrale Inhalte des


VOIWOrt individuellen und gesellschaftlichen Selbst-
verständnisses der Modeme aufgenommen
und neu definiert. Die Infragestellung solcher
Das Goethe-Handbuch hat es sich zwn Ziel Begriffe wie Subjekt und Individuwn durch
gesetzt, ein handliches, die heute erreichbaren die aktuelle philosophische und literaturwis-
Infonnationen zusammenfassendes und die senschaftliche Diskussion läßt eine Reflexion
aktuellen Fragestellungen der Forschung her- von deren Ursprung wn so dringlicher erschei-
ausarbeitendes Nachschlagewerk zu Goethes nen. In diesem Sinne möchte das Handbuch
Werken und seinem Leben zu liefern. Zugleich einen Goethe präsentieren, dessen Texte mit
möchte es eine auch für den Nichtfachmann den Augen eines Lesers gelesen werden, der
lesbare Einführung in die Texte und die Bio- das 20. Jahrhundert bereits hinter sich weiß.
graphie dieses universal ausgreifenden Dich- Dies in der Hoffnung, daß eine solche von der
ters, Gelehrten, Naturwissenschaftlers und gegenwärtigen historischen Umbruchsituation
Staatsmanns geben, dessen prägender Einfluß bestimmte Lektüre diesen Autor, der selbst an
auf die deutsche Geistesgeschichte und das der Wegscheide der europäischen Geschichte
deutsche Selbstverständnis bis heute unabseh- zur Modeme steht, für den Leser des 21. J ahr-
bar ist. hunderts in seiner Bedeutung neu zu bestim-
Goethe steht an der Schwelle zwischen zwei men vennag.
Zeitaltern, insofern er in seinem Werk die
große europäische Tradition von der Antike bis Seit seinem ersten Erscheinen gilt das Goethe-
zur Aufklärung gegenwärtig hält und sie an das Handbuch als Standardwerk zur Erschließung
19. und 20. Jahrhundert weitergibt. Heute der viel faltigen Betätigungsfelder dieses be-
sind die pragmatischen Inhalte dieser Tradi- deutendsten deutschsprachigen Autors. Als
tion dem öffentlichen kulturellen Bewußtsein solches ist es in der Folge zwn Vorbild für
weitgehend verlorengegangen. Deshalb be- andere Autorenhandbücher geworden, hat
dürfen die von ihr geprägten Texte zu ihrem aber auch an der von Irrtümern und Miß-
Verständnis der Kommentierung. Darüber brauch gezeichneten Geschichte der Goethe-
hinaus soll durch die Anregung zu einer aktu- Rezeption in diesem Jahrhundert teilgehabt.
ellen Lektüre Goethes die Auseinanderset- Es erschien zwn ersten Mal in den Jahren 1916
zung mit den Inhalten dieser Tradition aus der bis 1918 in drei Bänden im Stuttgarter Metz-
Perspektive der Gegenwart gefördert werden. ler-Verlag. Sein Herausgeber, der Leipziger
Gegenüber der herkömmlichen Rezeption Kunsthistoriker Julius Zeitler, hatte sich, wie
Goethes, die überwiegend idealistisch oder er im Vorwort schrieb, zwn Ziel gesetzt, »die
positivistisch, teilweise sogar nationalistisch Goethesche Welt lexikographisch, in alphabe-
geprägt war, möchte das im Handbuch entwor- tischer Folge nach Stichworten geordnet, dar-
fene Goethebild den Akzent auf den Europäer, zustellen und das Wissen wn Goethe, sowie
ja auf den in Maßstäben der Menschheitsge- den Stand der gegenwärtigen Goethefor-
schichte denkenden Autor setzen. Mit den eu- schung ebenso wiederzugeben, wie ein syste-
ropäischen und kosmopolitischen Zügen sei- matisches Bild der gesamten" Goetheschen
nes Werkes erweist sich Goethe als Erbe und Geistes- und Kulturwelt zu vennitteln«. Die-
Umfonner der Aufklärungsbewegungen, die sem enzyklopädischen Anspruch sollte in 2196
die Geschichte der westlichen Hemisphäre bis Artikeln vornehmlich biographisch-histori-
in die jüngste Zeit hinein geprägt haben. scher Art Genüge getan werden. Das positivi-
Wie kein anderer im deutschsprachigen stische Interesse an den Lebenswnständen des
Rawn, vielleicht sogar in Europa, hat Goethe Autors drängte dabei die kritische Auseinan-
durch seine Dichtungen und durch seine als dersetzung mit Goethes Werken in den Hinter-
Vorbild wirkende Existenz zur Emanzipation grund. Zwar tauchen viele Werktitel unter den
des neuzeitlichen Individuwns beigetragen. In alphabetisch angeordneten Stichworten auf,
Vorwort IX

doch in diesen in der Regel sehr kurz gehalte- besucht.« Dieser in der Tat zutreffenden Fest-
nen Ausftihrungen beschränken sich die Ver- stellung folgen zwei eng bedruckte Spalten
fasser zumeist auf die Wiedergabe weniger über die alte Kaiserstadt, von der noch die
Daten zur Entstehungs- und Werkgeschichte erste Auflage nüchtern in nur vier Zeilen be-
und eine kurze Inhaltsangabe. richtet hatte, sie sei als Krönungsstätte der
Zu Beginn der ftinfziger Jahre wurde eine deutschen Kaiser in Reineke Fuchs und in
Neubearbeitung des Goethe-Handbuchs unter Dichtung und Wahrheit von Bedeutung. Die an
der herausgeberischen Leitung von Alfred Za- diesem Beispiel zu konstatierende Aufblähung
strau unternommen. Nach der völkisch-natio- der unscheinbarsten Wissensgegenstände ist
nalen Inanspruchnahme Goethes durch Julius kennzeichnend ftir die idiosynkratische Fixie-
Petersen, Adolf Barteis und andere im Vorfeld rung Zastraus auf das Nebensächliche, hinter
und während des Dritten Reichs versuchte der der die Beschäftigung mit dem Werk Goethes
neue Herausgeber, sich noch einmal auf das in den Hintergrund treten mußte. Unter die-
scheinbar sichere Terrain der positivistischen sen Umständen war es nicht verwunderlich,
Faktendarstellung zurückzuziehen. Der Ein- daß der Verlag, durch die Konzeptionslosigkeit
spruch gegen die unreflektierte Fortsetzung des Herausgebers und seine ständigen Termin-
der bisherigen Rezeption, den der aus dem und Umfangsüberschreitungen entnervt, im
Exil zurückgekehrte Richard Alewyn im Goe- April 1965 den Herausgebervertrag kündigte
thejahr 1949 unter dem Titel Goethe als Alibi? und das Unternehmen aufgab.
formuliert hatte: »Zwischen uns und Weimar
liegt Buchenwald«, wurde nicht zur Kenntnis Die vorliegende Neufassung des Goethe-
genommen. So blieb das editorische Konzept Handbuchs unterscheidet sich von ihren Vor-
gegenüber der Erstausgabe des Handbuchs gängern durch eine grundsätzlich neue Kon-
weitgehend unverändert, der Anspruch auf en- zeption. Vor allem rückt sie die Kommentie-
zyklopädische Vollständigkeit wurde jedoch in rung, Analyse und Kritik von Goethes Texten
diesem monströsen Versuch, sich der eigenen in den Vordergrund. So werden im ersten Band
Vergangenheit nicht zu stellen, auf die Spitze rund 100 ausgewählte Gedichte sowie Ge-
getrieben. In seinen redaktionellen Richtli- dichtzyklen, Sammlungen und Versepen be-
nien spricht der Herausgeber ausdrücklich handelt. Ergänzt werden diese Einzelinterpre-
vom »Streben nach Vollständigkeit« bei der tationen durch Überblicksartikel zu den ein-
»Erfassung aller Persönlichkeiten, [ ... ] aller zelnen Phasen von Goethes lyrischem Werk
Örtlichkeiten, [ ... ] aller Probleme«, mit de- sowie zu den Lebensabschnitten, in denen es
nen Goethe zu tun gehabt habe. entstand. Ein grundlegender Artikel, der
Verstärkt wurde diese Tendenz durch Za- Goethes Schaffen als Lyriker in seiner Eigen-
straus unglückliche Liebe zur Geographie, die art und Weiterwirkung charakterisiert, leitet
ihn 1956 vorab als vierten Band des noch nicht den Band ein.
erschienenen Werks dilettantisch gezeichnete In ähnlicher Weise werden im zweiten Band
»Karten der Reisen Goethes« veröffentlichen die Dramen und im dritten die Prosaschriften
ließ. Im Jahre 1961 erschien dann ein erster behandelt. Neben zwei grundsätzlichen ein-
Textband, der auf 2280 Spalten großformatiger leitenden Artikeln zu Goethes Bedeutung als
Lexikonseiten das Material bis zum Stichwort Theaterschriftsteller und Dramatiker und zu
»Farbenlehre« ausbreitete. Zastrau selbst steu- seiner praktischen Theaterarbeit bietet der
erte zu diesem Band ausftihrliche Artikel auch zweite Band Interpretationen zu allen Dramen
über die unbedeutendsten Orte bei, mit denen einschließlich der zahlreichen dramatischen
Goethe im Leben oder im Werk in Berührung Gelegenheitsarbeiten wie Prologe, Festspiele
gekommen war. Als symptomatisch ftir das und Maskenzüge, sowie der Fragmente. Mit
ganze Unternehmen erweist sich der Satz, mit der Erschließung des in vielfacher Weise neu-
dem der erste Artikel und damit das Handbuch artigen dramatischen Schaffens Goethes vom
eröffnet wird: »Aachen selbst hat Goethe nie Götz bis zur Faust-Dichtung wird ein wesentli-
x VOIwort

cher Bestandteil der Dramen- und Theater- Gestalt genommen und damit die für ein ange-
geschichte in Deutschland und einer der we- messenes Verständnis außerordentlich hilfrei-
nigen herausragenden deutschsprachigen Bei- che verfremdende Distanzierung aufgehoben
träge zum Welttheater vollständig und syste- wird. AngeSichts dieser Sachlage sahen es die
matisch kommentiert und interpretiert. Herausgeber als besonders dringlich an, zu-
Der dritte Band bietet einen detaillierten nächst in jedem Artikel die philologischen
und in dieser Form erstmals vollständigen Fragen zu klären. Die Bezugnahme auf ver-
Überblick über das gesamte Prosaschaffen schiedene Textausgaben in den einzelnen Arti-
Goethes. Ausführlich werden die Romane, Er- keln sollte der Leser in diesem Sinne als den
zählungen, autobiographischen Schriften, Ma- Versuch verstehen, ihm Hinweise auf eine
ximen und Reflexionen, das Briefwerk, die möglichst authentische Textvorlage zu geben.
Prosaübersetzungen, die Schriften zu Litera- Weitere unabdingbare Bestandteile jedes
tur und Theater, zur bildenden Kunst und zur Werkartikels sind eine analytische Darstellung
Naturwissenschaft, die amtlichen Schriften von Aufbau und Gehalt des Textes, eine zusam-
sowie die Reden und Ansprachen interpre- menfassende Charakterisierung seiner Rezep-
tiert. Einführende Überblicksartikel charakte- tionsgeschichte und schließlich der eigene In-
risieren Goethe als Prosaschriftsteller und als terpretationsansatz des jeweiligen Autors. Ge-
Briefschreiber. Die umfassende Aufarbeitung rade dieses letzte Element schien den Heraus-
des Goetheschen Prosawerks erlaubt neben gebern in keinem Werkartikel fehlen zu
der Einsicht in seine für die Entwicklung der dürfen. Dokumentiert es doch angesichts ei-
deutschen Prosa grundlegende literarische Ar- ner internationalen Gemeinschaftsleistung
beit zugleich die Würdigung der naturwissen- von weit über 200 Beiträgern die Breite und
schaftlichen und amtlichen Schriften, die ne- Vielfalt der methodischen Verfahrensweisen
ben das Bild des Schriftstellers auch das Bild der heutigen Goetheforschung. Abgeschlossen
des Wissenschaftlers und Staatsmanns rük- werden die Werkartikel jeweils mit einer Aus-
ken. wahlbibliographie, in der sowohl die im Arti-
kel selbst zitierten Werke als auch die wichtig-
Die Werkartikel in diesen drei Bänden geben ste weiterführende Forschungsliteratur nach-
zunächst möglichst präzise Auskunft über die gewiesen werden.
Entstehungs- und Textgeschichte der behan- Der vierte Band des Handbuchs ist enzy-
delten Werke und begründen die Entschei- klopädisch-lexikalisch angelegt und gibt in
dung für die zu zitierende Edition. Keine der mehr als vierhundert alphabetisch angeord-
vorliegenden Goethe-Ausgaben entspricht be- neten Artikeln Auskunft zu zentralen Begriffen
kanntlich den Anforderungen, die heute an und Kategorien des Goetheschen Weltbilds, zu
eine historisch-kritische Ausgabe zu stellen Personen, Orten und historischen Ereignissen,
sind. Die Weimarer Ausgabe, die diesem An- die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben,
spruch immer noch am ehesten genügt, gibt zu den zeitgenössischen Publikationsbedin-
die Texte überwiegend in der Spätfassung der gungen und zu wirkungs- und rezeptionsge-
Ausgabe letzter Hand wieder. Die viel benutzte schichtlichen Vorgängen. Auffassungen Goe-
Hamburger Ausgabe bringt nur eine schmale thes über Geschichte und Kunst, Natur und
Auswahl aus dem Gesamtwerk, auf »moder- Gesellschaft, Wissenschaft und Ethik werden
nisierter« Textgrundlage. Die neu erschei- in ihren Bedingungen, Wandlungen und Wir-
nende Frankfurter Ausgabe wie auch die chro- kungen beschrieben und erörtert. Vorrangig
nologisch angeordnete Münchner Ausgabe auf Goethe bezogen, geben die Artikel dort,
bieten zwar kritisch überprüfte und daher edi- wo allgemeine Kenntnisse nicht ohne weiteres
torisch zuverlässige Texte, haben sich aber vorausgesetzt werden können, knappe, allge-
wieder auf das leidige Prinzip der »behutsa- meine Informationen zum Gegenstand. Auch
men Modernisierung« eingelassen, wodurch hier sind jedem Artikel ausgewählte bibliogra-
den Texten in vielen Fällen ihre historische phische Angaben beigefügt.
Vorwort XI

Durch seine Zentrierung auf das geschriebene satorische Unterstützung zu Dank verpflichtet.
Wort, dessen Kommentierung und kritische Karl OUo Conrady hat durch seine kritischen
Interpretation auch in den Artikeln des vierten Stellungnahmen und sachdienlichen Hin-
Bandes im Mittelpunkt stehen, geht die Neu- weise, die auf langjährigem vertrautem Um-
fassung des Goethe-Handbuchs über die rein gang mit dem Werk Goethes beruhen, die Her-
positivistische Faktendarstellung hinaus, auf ausgeber zur Präzisierung und genaueren Her-
die sich seine Vorgänger weitgehend be- ausarbeitung der methodischen und inhaltli-
schränkten. Indem sie von aktuellen Erkennt- chen Grundsätze ihrer Arbeit veranlaßt. Vera
nisinteressen ihren Ausgang nimmt, soll sie Viehöver ist fUr die Texterfassung und fUr die
dem heutigen Leser vor Augen fUhren, in Hilfe bei der Erstellung der Manuskripte zu
welch umfassender Weise »das scheinbar Ver- danken. Bernd Lutz, der das ganze Unterneh-
einzelte, Insulare von Goethes Lebensarbeit«, men in Gang gebracht und ihm seine lang-
wie Adolf Muschg formuliert hat, »sich heute jährige editorische und verlegerische Erfah-
als Teil eines Kontinents zu erkennen [gibt], rung stets selbstlos zur Verfügung gestellt hat,
der bis unter unsere Füße reicht«. danken die Herausgeber fUr unermüdliche Er-
munterung und Rat in mancherlei schwierigen
Die Herausgeber sind der Thyssen Stiftung Situationen.
(Köln) und der Stiftung Weimarer Klassik fUr
großzügige finanzielle Förderung und organi- Düsseldorf, im Juni 1996 Bernd Witte
XII

Häufig genannte Werke der Sekundärlite-


Hinweise fur Benutzer ratur (z.B. Conrady) sind ebenfalls sigliert.lm
Artikel und in der Bibliographie erscheint
dann lediglich ein Kürzel in Kapitälchen (CON-
Verantwortlich für den Inhalt der einzelnen RADY), in der Regel mit Band- und Seiten-
Artikel ist der jeweilige Autor. angaben. Ein Verzeichnis dieser Siglierungen
findet sich aufS. XV
Zitate werden in doppelte, Zitate innerhalb
Fonnale Gestaltung der Artikel von Zitaten in einfache Anführungszeichen ge-
setzt. Vom zitierten Autor veranlaßte Hervor-
Der Name »Johann Wolfgang von Goethe« hebungen in den Zitaten werden im Druck
wird in den Artikeln »G.« bzw. im Genitiv durch Sperrung wiedergegeben.
»G.s« abgekürzt. Auch in Wortzusammenset- Hervorhebungen des zitierenden Autors
zungen wird »Goethe« abgekürzt (z.B. G.-For- werden über die Kursivierung hinaus durch
schung). Ein genaues Verzeichnis aller Abkür- die Angabe »[Hv. v. Vf.]« kenntlich gemacht.
zungen findet sich auf S. XVII. Alle Werktitel Einfügungen des Artikelautors stehen in ek-
sowie alle Binnentitel erscheinen kursiv; bei kigen Klammern und werden folgendermaßen
Gedichten ohne Titel erscheint die erste Zeile gekennzeichnet: [ ... ; d. Vf.J.
kursiv als Titel. Titel von musikalischen Wer- Wo wiederholt und ohne Verwechslungs-
ken und Werken der bildenden Kunst erschei- möglichkeit aus dem selben Text zitiert wird,
nen ebenfalls kursiv. Titel von Goethes Wer- folgt nach dem vollständigen Stellennachweis
ken können in Kurzform genannt werden, z.B. beim ersten Zitat im folgenden nur noch die
Campagne, Tasso, Lehrjahre, Dichtung und Angabe der Seitenzahl(en) bzw. Vers-, Akt-
Wahrheit, Divan. oder Szenenzahl( en).
Zur Unterteilung größerer Texte in Sinnab- Die benutzten Ausgaben werden diploma-
schnitte dienen Zwischenüberschriften. Bei tisch getreu zitiert. Flexionsänderungen in Zi-
kürzeren Artikeln werden Sinnabschnitte taten werden nicht gekennzeichnet.
durch eine Leerzeile gekennzeichnet. Briefe werden ausschließlich mit Datum
Vornamen werden nur bei der ersten Erwäh- und Adressat belegt. Zitiert wird hierbei in der
nung einer Person innerhalb eines Artikels ge- Regel nach der Weimarer Ausgabe. Der Brief-
nannt. Bei eindeutig bekannten Personen wechsel Goethe - Zelterwird nach der Münch-
(Schiller, Hegel etc.) erübrigt sich der Vor- ner Ausgabe zitiert, der Briefwechsel Goethe -
name. Bei Frauen und im Falle von Verwechs- Schiller nach der Schiller-Nationalausgabe.
lungsmöglichkeiten wird der Vorname immer Die Gespräche mit Eckermann werden mit
gesetzt. (Eckermann, Datierung) nachgewiesen, die
Bei Verweisen auf Autoren von Sekundär- Gespräche mit dem Kanzler von Müller mit
literaturwird der Vorname nicht genannt, d.h. (von Müller, Datierung).
(vgl. Weimar) und nicht (vgl. Klaus Weimar). Tagebucheintragungen werden in der Regel
Die Titel erscheinen in der Bibliographie. nach der Weimarer Ausgabe zitiert.
Die Tag- und lahreshtifte werden nur mit
Angabe des Datums zitiert (Tag- und lahres-
Zitienueise hifte, Jahreszahl).
Auf zeitgenössische nicht-G .sche Quellen
Die Goethe-Texte sind nach den gängigen Aus- und auf die Forschungsliteratur wird in den
gaben zitiert. Die Entscheidung, nach welcher Artikeln durch einen Hinweis auf den Namen
Ausgabe der jeweilige Text zitiert wird, wird des Autors und die entsprechenden Seiten-
vom Autor gefallt und innerhalb des Artikels zahlen verwiesen, z.B. (Gundolf, S. 575). Alle
begründet. Ein Verzeichnis der Siglierungen zitierten Titel erscheinen in der Bibliogra-
findet sich auf S. XIV phie.
Hinweise für Benutzer XIII

Bibliographie
An den Artikel schließt sich eine alphabetisch
geordnete Bibliographie an. Diese enthält die
im Artikel zitierten Werke und eine Auswahl
weiterer Titel der Forschungsliteratur.
Kommentare werden in der Artikel-Biblio-
graphie nur aufgefUhrt, wenn sie vorher im
Text erscheinen oder keine andere Sekundär-
literatur existiert.
XIV

Siglenliste

I. AUSGABEN

a) Goethe-Ausgaben
ALH Goethe's Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. 40 Bde. Stuttgart, Tü-
bingen 1827-1850. Ergänzt durch: Goethe's Nachgelassene Werke. Hg. von
Johann Peter Eckennann und Friedrich Wilhelm Riemer. Bd. 1-20 [Bd. 41-60
der Ausgabe letzter Hand]. Stuttgart, Tübingen 1852-1842.
BA Goethe: Poetische Werke. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen.
22 Bde. Berlin, Weimar 1960-1978.
FA Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Ge-
spräche. 40 Bde. Hg. von Hendrik Birus u.a. Frankfurt/M. 1987ff.
GA Johann Wolfgang von Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Ge-
spräche. Hg. von Ernst Beutler. 24 Bde. u. 5 Ergänzungsbde. Zürich
1948-1971.
HA Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz.
Hamburg 1948-1964.
JA Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Hg. von Eduard von der Hellen.
40 Bde. und Registerband. Stuttgart, Berlin 1902-1912.
JG Fischer-Lam- Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden. Hg. von Hanna
berg Fischer-Lamberg. Berlin 1963-1973. Registerband 1974.
JG Morris Der junge Goethe. Neue Ausgabe in 6 Bänden. Hg. von Max Morris.Leipzig
1909-1912.
LA Goethe. Die Schriften zur Naturwissenschaft. Vollständige mit Erläuterungen
versehene Ausgabe im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher.
Leopoldina. Begr. von Lothar Wolf und Wilhelm Troll. Hg. von Dorothea
Kuhn und Wolf von Engelhardt. 17 Text- und 11 Kommentarbde. Weimar
1947ff.
MA Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens.
Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G.
Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. München 1985ff.
WA Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 145
Bde. Weimar 1887-1919. Nachdruck München 1987. [nebst] Bd. 144-146:
Nachträge und Register zur IV. Abt.: Briefe. Hg. von Paul Raabe. Bd. 1-3.
München 1990

b) Sonstige Ausgaben
HSW Herders Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. 55 Bde. Berlin
1877-1915.
KA Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Eingeleitet und hg. von Ernst Behler.
55 Bde. München, Paderborn, Wien 1979ff.
SNA Schillers Werke. Nationalausgabe. 1940 begründet von Julius Petersen. Fort-
geführt von Lieselotte Blumenthai, Benno von Wiese, Siegfried Seidel. Hg.
im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums
in Marbach von Norbert Oellers. 45 Bde. Weimar 1945ff.
Siglenliste xv

11. GOETHE IN SELBSTZEUGNISSEN

Eckermann Johann Peter Eckermann : Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines
Lebens. Hg. von Heinz Schlaffer. München 1986 (MA 19).
Gespräche Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem
Umgang auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn
von Biedermann ergänzt und hg. von Wolfgang Herwig. 4 Bde. Zürich, Stutt-
gart 1965-1984.
GRÄF Hans Gerhard Gräf: Goethe über seine Dichtungen. Versuch einer Sammlung
aller Äußerungen des Dichters über seine poetischen Werke. 9 Bde. Frank-
furt/Mo 1901-1914
GRUMACH Goethe. Begegnungen und Gespräche. Hg. von Ernst Grumach und Renate
Grumach. Berlin 1965ff.
Müller, von Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe. Mit Anmerkungen
versehen und herausgegeben von Renate Grumach. Weimar 1959.

111. SIGLIERTE EINZELWERKE

BEUTLER Ernst Beutler: Essays um Goethe. Bremen 1957.


CONRADY Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. 2 Bde. Königstein/Ts.
1982-1985.
Corpus Gerhard Femmel: Corpus der Goethezeichnungen. 7 Bde. Leipzig
1958-1973.
DWb Deutsches Wörterbuch. Begr. von Jacob und Wilhelm Grimm. 33 Bde. Leipzig
1854-1962. Nachdruck München 1984.
EISSLER Kurt R. Eissler: Goethe. Eine psychoanalytische Studie. 1775-1786. 2 Bde.
Basel, Frankfurt/M. 1983-1985.
GUNDOLF Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1916.
HAMMER Joseph von Hammer-Purgstall: Der Diwan des Mohammed Schemsed-din
Hafis. Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Joseph von
Hammer. 2 Bde., Stuttgart u. Tübingen 1812f.[tatsächlich: 1814] Repr. Hil-
desheim u. New York 1973.
HwbA Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.) : Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens.
10 Bde. Berlin, Leipzig 1927-1942.
KOMMERELL Max KommereII: Gedanken über Gedichte. Frankfurt/M. 1943.
KORFF Hermann August Korff: Goethe im Bildwandel seiner Lyrik. 2 Bde. Leipzig
1958.
MuR Goethe: Maximen und Reflexionen. Hg. von Max Hecker. Weimar 1907.
STAIGER Emil Staiger: Goethe. 3 Bde. Zürich 1952-1959.
ZASTRAU Alfred Zastrau (Hg.): Goethe-Handbuch. Goethe, seine Welt und seine Zeit in
Werk und Wirkung. Bd 1.: Stuttgart 1961, Bd. 4: 1956.
ZEITLER Julius Zeitler (Hg.): Goethe-Handbuch. 3 Bde. Stuttgart 1916-1918.
ZIMMERMANN Rolf Christi an Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur
hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Interpretation und
Dokumentation. 2 Bde. München 1969-1979.
XVI Siglenliste

V. ZEITSCHRIFfEN

AfMf. Archiv für Musikforschung


AfMw. Archiv für Musikwissenschaft
AfPhilos. Archiv für Philosophie
Archiv. Archiv für das Studiwn der neueren Sprachen und Literaturen
BJbG. Basis. Jahrbuch für Germanistik
ChrWGV. Chronik des Wiener Goethe-Vereins
DD. Diskussion Deutsch
DU. Der Deutschunterricht
DVjs. Deutsche Vierteljahrsschrift für LiteratUlwissenschaft und Geistesgeschichte
GLL. German Life and Letters
GN. Germanic Notes
GoetheJb. Goethe-J ahrbuch
GoetheJbWien. Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins
GoetheYb. Goethe Yearbook
GQu. The German Quarterly
GRM. Germanisch-romanische Monatsschrift
IASL. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
JbAkadWissGöt- Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften Göttingen
tingen.
JbDASprD. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. Jahrbuch
JbFDtHochst. Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts
JbGG. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft
JbSK. Jahrbuch der Sammlung Kippenberg
JEGP. Journal ofEnglish and Germanic Philology
LenzJb. Lenz-Jahrbuch. Sturm- und Drang-Studien
LGS. London German Studies
LWU. Literatur in Wissenschaft und Unterricht
MLN. Modern Language Notes
MLQu. Modern Language Quarterly
OGS. Oxford German Studies
PEGS. Publications of the English Goethe Society
PMLA. Publications of the Modern Language Association of America
Poetica. Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft
Preuß.Jbb. Preußische Jahrbücher
SchillerJb. Schiller-Jahrbuch/ Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft
SchrGG. Schriften der Goethe-Gesellschaft
WB. Weimarer Beiträge
ww. Wirkendes Wort
ZfdA. Zeitschrift für deutsches Altertwn und deutsche Literatur
ZfDkde. Zeitschrift für Deutschkunde
ZfdPh. Zeitschrift für deutsche Philologie
Siglenliste XVII

VI. ABKÜRZUNGEN

a.a.O. am angegebenen Ort


Aufl. Auflage
Bd. Band
Bde. Bände
begr. begründet
ders.l dies. derselbe/ dieselbe
Diss. Dissertation
durchges. durchgesehen
ebd. ebenda
eingel. eingeleitet
Fs. Festschrift
G. Goethe
GHB. Goethe-Handbuch
GSA Goethe- und Schiller-Archiv
Hg. Herausgeber(in)/Herausgegeben
Hs.lhs. Handschrift/handschriftlich
Hv. Hervorhebung
Jb. Jahrbuch
Jh. Jahrhundert
Kap. Kapitel
Komm. Kommentar
Ms. Manuskript
N.F. Neue Folge
o.g. oben genannt
o.J. ohne Jahr
0.0. ohne Ort
Sp. Spalte
Str. Strophe
Tsd. Tausend
u.ä. und ähnliche(s)
u.a. unter anderem, unter anderen
u.a.m. und andere(s) mehr
u.ö. und öfter
v. vom, von
V. Vers
Vf. Verfasser
Vol. Ivo I. Volumen/volume
vollst. vollständig
zit. zitiert
XVIII

Autorenverzeichnis

Amtzen, Helmut (Münster) Kremer, Detlef (Bielefeld)


Arz, Maike (Aachen) Lee, Meredith (Irvine)
Birus, Hendrik (München) Leistner, Bemd (Chemnitz)
Böhler, Michael (Zürich) Mayer, Mathias (Regensburg)
Bohnenkamp, Anne (München) Mülder-Bach, Inka (Berlin)
Bormann, Alexander von (Amsterdam) Nisbet, Hugh Barr (Cambridge)
Böschenstein, Renate (Genf) Oellers, Norbert (Bonn)
Bosse, Anke (Genf) 0hrgaard, Per (Kopenhagen)
Breuer, Dieter (Aachen) Oswald, Stefan (Bologna)
Buck, Theo (Aachen) Otto, Regine (Weimar)
Clairmont, Heinrich (Berlin) PereIs, Christoph (Frankfurt)
Collatz, Christian-Friedrich (Berlin) Reed, Terence James (Oxford)
Dahnke, Hans-Dietrich (Weimar) Sauder, Gerhard (Saarbrücken)
Dieckmann, Friedrich (Berlin) Schärf, Christi an (Mainz)
Drux, Rudolf (Darmstadt) Schulz, Gerhard (MeIbourne )
Ehrich-Haefeli, Verena (Genf) Sorg, Bemhard (Bonn)
Eibl, Karl (München) S0rensen, Bengt Algot (Odense)
Elsaghe, Yahya A. (Brisbane) Stockhammer, Robert (Berlin)
Frühwald, Wolfgang (München) Ueding, Gert (Tübingen)
Geulen, Hans (Münster) Wild, Inge (Karlsruhe)
Hansen, Volkmar (Düsseldorf) Wild, Reiner (Mannheim)
Jäger, Hans-Wolf (Bremen) Williams, John (St. Andrews)
J0rgensen, Sven Aage (Kopenhagen) Witte, Bemd (Düsseldorf)
Ketelsen, Uwe (Bochum)
Goethe als Lyriker Lebenslust aus allen Dingen, / Dem kleinsten
wie dem größten Stern« (Wenn im Unendlichen
dasselbe, FA I, 2, S.680). Im frühen Ausruf
»dringen« wie aus einem einzigen Impuls Blü-
Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt, ten, Vogelstimmen und Gefühle aus Zweig,
in der grijßten Freiheit, nach seinen Gesträuch und menschlicher Brust und ver-
eigensten Bedingungen, bringt das künden eine allen Erscheinungen zugrunde-
objectiv Schiine hervor, welchesfreilich liegende »Liebe« (FA I, 1, S. 129); im Altersge-
würdige Subjectefinden muß, von denen
dicht herrscht ein ähnlich allgegenwärtiges
es aufgifqßt wird (MuR, 1346).
»Drängen«, das wiederum in einem Ganzen
aufgeht, diesmal in der theologisch gar nicht
festlegbaren »ewigen Ruh' in Gott dem Herrn«
Allgemeine Charakterisierung (FA 1,2, S. 680). Der Blickwinkel hat sich zwi-
schen dem Frühling und dem Herbst des Le-
bens naturgemäß gewandelt, dennoch halten
Geschichtliche Neuanfange sind schwer nach- sich eine beglückende Gesamtschau - dort der
zuvollziehen, nicht weil sie uns eigentlich »herrlich leuchtenden« Natur, hier des sich
fremd wären, sondern eher, weil ihre Folgen »kräftig in einander schließenden« Sternenge-
uns allzu vertraut, ja mittlerweile zur Substanz wölbes - und die freudige Intensität konkreter
unserer Gedankenwelt geworden sind. So ist Wahrnehmung nach wie vor die Waage. Die
es fast möglich, Größe und Besonderheit des Anschauungsweise ist wesentlich dieselbe ge-
Lyrikers G. gerade darum zu übersehen, weil blieben. Auch die Ausdrucksweise des Dich-
sie all jene Erwartungen an den lyrischen ters bleibt sich zutiefst gleich, vor allem durch
Dichter erfüllen, die ursprünglich G. selbst eine täuschend einfache Sprache, die sich mit
entscheidend geprägt hat. Syntax und Wortschatz des Alltags, ja manch-
G. ist in der deutschen Literatur der Lyriker mal fast der Plauderei begnügt, einer solchen
schlechthin. Kein anderer Dichter hat ein so freilich, die sich leicht und ungezwungen zu
reichhaltiges Corpus lyrischer Gebilde ge- Gesang steigern kann. So ergibt sich etwas wie
schaffen, keiner in so vielen verschiedenen eine Offenbarung, aber eine Offenbarung des
Formen höchste Vollkommenheit erreicht. scheinbar Selbstverständlichen; denn in die-
Keiner war über ein so langes Leben hin so ser einfachen Sprachform ist es, als wären
unermüdlich produktiv in dieser zartesten und auch die Bewegungen des Makrokosmos ohne
doch zugleich strengsten der Gattungen, in der weiteres der Anschauung zugänglich gemacht
es mit bloßer Kunstfertigkeit nicht getan ist, worden. Das macht eine Kunst der »Noncha-
weil jedes wahre Gedicht als Antwort auf lance« (KoMMERELL, S. 66), deren Wirkung in
wechselnde Lebenslagen einen Neubeginn für dem Sinn natürlich ist, daß sie von allem An-
sich bedeutet. So hat sich G. wie kein anderer spruchsvollen oder Abstrusen absieht und
Lyriker den Möglichkeiten und Bedingungen künstliche Erhebung weder ankündigt noch
menschlichen Wandels bis ins hohe Alter ge- anstrebt - eine freilich ganz unaufdringliche
schmeidig angepaßt und jeder neuen Phase die Wirkung, denn zunächst merkt man das durch-
ihr eigene Art von Lebensfreude abgewonnen sichtige Medium des Natürlichen nicht. Das
und eine ihr gemäße Form gegeben, ohne daß hat Schiller unter anderem mit dem anhand
die grundlegende dichterische Identität dabei von G.s Dichten ausgearbeiteten Begriff des
verlorengegangen wäre: eine Dauer im Wech- Naiven gemeint, der eine positive Bezeich-
sel, die sich in Ton wie Inhalt unverwechselbar nung darstellt fur das Fehlen der zeitgenössi-
kundgibt. »Wie herrlich leuchtet / Mir die Na- schen Konventionen, die bei G. durch eben
tur! / Wie glänzt die Sonne! / Wie lacht die dies Informelle abgelöst oder bis zur Unkennt-
Flur!« (FA I, 1, S. 129) - so der junge Lyriker lichkeit verwandelt worden waren. Glaubt
im Maifest von 1771; und noch 1827 »strömt man dem Autor von Dichtung und Wahrheit
2 Goethe als Lyriker

aufs Wort, so war das Natürliche schon im Bewegung bereits fortgezogen. Schon diese
Keim da, ehe G. in Leipzig die anakreontische Plötzlichkeit, mit welcher Stimme und Stand-
Mode auferlegt wurde - wenn anders »natür- punkt sich anmelden, vermittelt die fast kör-
lich« heißen darf, was eine komplexe Mi- perliche Präsenz des Dichters. Sehr viel selte-
schung war aus heimatlichem Oberdeutsch, ner sind konventionell odenhafte Anreden und
dem Sprachgebrauch der Bibel und der Chro- erzählerische Ortungen, auch diese allerdings
niken und dem Stil der Sprichwörter, welche konkrete Situationen evozierend: »Anmutig
»statt vieles Hin- und Herfackelns, den Nagel Tal I«~; »Saget Steine mir an«; »Freudig war, vor
gleich auf den Kopf« trafen (FA I, 14, S.276). vielen Jahren«; »Im ernsten Beinhaus war's<<.
Man spürt hier ein nachhaltiges Ressentiment Mit feinem Gespür ergreift der Lyriker einen
des alten G. über die »unerträgliche Forde- Faden, ob Wahrnehmung, Gefühl oder Hand-
rung« der Leipziger Modewelt, der junge Stu- lung, der thematisch sowie bildhaft ins Herz
dent solle »zugleich Denkweise, Einbildungs- der Sache führt: wiederum eine in ihrer Natür-
kraft, Gefühl, vaterländischen Charakter« auf- lichkeit ganz unaufdringliche Wirkung, weil
opfern (ebd.). Als dies alles sich später doch der herausgezupfte Faden als der richtige ein-
Bahn brach, war es wn so mehr ein Akt der leuchtet. G.s ethische Mahnung an sich selbst
Selbstbehauptung. aus dem Jahr 1777: »Sieh, das Gute liegt so
Zur Einfachheit der G.schen Sprachgebung nah« (Erinnerung; FA 1,1, S. 286), galt auch im
kommt eine Unmittelbarkeit des dichterischen Poetischen. Nur war eine Mahnung hier ei-
Einstiegs hinzu, die uns immer wieder, aber gentlich überflüssig, denn fast von Anfang an
auch immer anders, sofort mitten in die lyri- lag die Originalität dieser Kunst sprachlich
sche Situation versetzt. Mit einfachem Ausruf und gestalterisch wie thematisch darin, den
- »Wie herrlich leuchtet / mir die Natur!«; Boden des Naheliegenden fruchtbar zu ma-
»Wie im Morgenrot / Du rings mich anglühst«. chen.
Mit Imperativen - »Bedecke deinen Himmel
Zeus«; »Fetter grüne du Laub«. Mit nüchter-
nem oder bewegtem Bericht - »Der Morgen
kam«; »Mir schlug das Herz; geschwind zu Entstehungsumstände :
Pferde«, der bereits auch stark stimmungs-
trächtig sein kann - »Lichtlein schwimmen auf
Weltgenuß und Erkenntnis
dem Strome«; »Dämmrung senkte sich von
oben«. Mit intimer Anrede - »Füllest wieder's Dem Gepräge der Einfachheit und dem Prinzip
liebe Tal/Still mit Nebelglanz«; »Dich ver- »in medias res«, die G.s Lyrik eignen, scheint
wirret Geliebte die tausendfältige Mischung / eine denkbar einfache Arbeitsweise zu ent-
Dieses Blwnengewühls über dem Garten um- sprechen. Diese ist denn auch zur Legende
her«. Mit trotziger Stellungnahme - »Also das geworden. Legenden können aber auch wahr
wäre Verbrechen, daß einst Properz mich be- sein, und an dieser ist nicht leicht zu rütteln;
geistert«; »Liebesqual verschmäht mein denn die Zeugnisse für die spontane Entste-
Herz«. Mit sehnsuchtsvollem Bitten und Wün- hung G.scher Gedichte sprechen ihrerseits
schen - »Kennst du das Land wo die Citronen eine einfache Sprache. Der pittoreske Fall des
blühn«; »Hielte diesen frühen Segen / Ach nur wohl berühmtesten aller deutschen Gedichte,
Eine Stunde fest«. Mit geschichtlicher Über- Wandrers Nachtlied (»Über allen Gipfeln«),
schau - »Nord und West und Süd zersplittern«. das 1780 an eine Hüttenwand auf dem Gickel-
Mit bangem Fragen und Zweifeln - »Warum hahn gekritzelt wurde, ist nur das bekannteste.
gabst du uns die Tiefen Blicke«; »Was soll ich Noch genauer, weil fast Schritt um Schritt -
nun vom Wiedersehen hoffen?« - alles ohne oder Ruderschlag wn Ruderschlag - nachvoll-
ankündigende Fanfare. Man wird, eh man ziehbar, ist die im Tagebuch der ersten Schwei-
sich's versieht, über die fast unmerkliche zerreise festgehaltene Entstehung des Ge-
Schwelle ins Gedicht herein und von dessen dichts Ich saug an meiner Nabelschnur (der
Goethe als Lyriker 3

Urfassung von Auf dem See), »Den 15 Junius der schöpferische Prozeß in einer sanften Ket-
1775. Donnerstags morgen aufm Zürchersee« tenreaktion sich selber.
datiert (JVA III, 1, S. 1). Die erste Fassung von Dabei geht es keineswegs nur um eine ju-
An Schwager Kronos trägt den ähnlich tage- gendlich übersprudelnde Schaffenskraft.
buchartigen Vermerk »in der Postchaise d 10 Ganze acht Gedichte des West-östlichen Divan
Oktbr 1774« (FAI, 1, S.201). Von Wandrers sind an einem einzigen Reisetag, dem 25.7.
Sturmlied heißt es rückblickend in Dichtung 1814 entstanden, gleichsam von jenen »vollen
und Wahrheit: »Ich sang diesen Halbunsinn Büschelzweigen« heruntergeschüttelt, die ein
leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein anderes Divan-Gedicht anspricht (FA I, 3.1,
schreckliches Wetter unterweges traf, dem ich S. 90). Dessen Schluß - »So fallen meine Lie-
entgegen gehn mußte« (FA I, 14, S. 567). Das der / Gehäuft in deinen Schoos« - ist fast buch-
Gedicht Dem Schicksal (späterer Titel Ein- stäblich zu verstehen. In dieser Zeit, am 8.8.
schränkung) bezeichnet der Begleitbrief G.s 1815, hat G. auch gegenüber Sulpiz Boisseree
an Johann Kaspar Lavater vom 30.8. 1776 als »die Konfession« gemacht, »daß ihm die Ge-
»ein paar Zeilen reinen Gefühls auf dem Tü- dichte auf einmal und ganz in den Sinn kä-
ringer Walde geschrieben d. 3. Aug. Morgends men«, er »hüte sich, auf den Spaziergängen
unter dem Zeichnen«. Der beredte Stoßseufzer etwas auszudenken«, aus Furcht vor dem »Un-
Alles gaben Götterwird ebenfalls zunächst im glück«, er könnte es »nicht ganz im Gedächtnis
Brief mitgeteilt, diesmal mit der Anmerkung: behalten«; denn »sobald er sich besinnen
»So sang ich neulich als ich tief in einer herr- müßte, würde es nicht wieder gut, auch ändere
lichen Mondnacht aus dem Flusse stieg der vor er selten etwas« (Gespräche, 2, S. 1043). So
meinem Garten durch die Wiesen fliest« (an war ihm das Gedicht Um Mitternacht (1818)
Auguste von Stolberg, 17.7.1777). Das Sich- »seit seiner mitternächtigen unvorhergesehe-
selber-Vorsingen des Entstehenden war an- nen Entstehung immer werth« (JVA I, 41.1,
scheinend eine Gewohnheit G.s, vielleicht ein S.368), ja »desto lieber und werther«, da er
Urelement des Schaffensvorgangs selbst. So nicht sagen könne, »woher es kam und wohin
schreibt der im Dezember 1775 im Dienst Carl es wollte« (JVA I, 36, S. 137). Am eindrucks-
Augusts Reisende am Abend des 23. vor dem vollsten ist die Inspiration, die den 74jährigen
Schlafengehen an diesen: »Wie ich so in der nach fehlgeschlagenen letzten Liebeshoffnun-
Nacht gegen das Fichtengebürg ritt; kam das gen auf der Rückfahrt nach Weimar über-
Gefühl der Vergangenheit, meines Schick- kommt und die Marienbader Elegie entstehen
saals, und meiner Liebe über mich, und sang läßt: Das Gedicht wird »im vollen frischen
so bey mir selber«. Es folgt der Vierzeiler Gefühle des Erlebten« im Wagen verfaßt und
Holde Lili warst so lang. Aber beim Nieder- »von Station zu Station« bearbeitet, »so daß es
schreiben kommt dichterische Stimmung wie- Abends fertig auf dem Papiere stand. Es hat
der auf, und aus der Absicht, mit einem prosa- daher«, so die klassische Untertreibung G.s am
isch einfachen Gute-Nacht-Gruß an den Her- 16.11. 1823 zu Eckermann, »eine gewisse Un-
zog zu schließen, wird ein zweites Gedicht, mittelbarkeit«.
Gehab dich wohl bei den hundert Lichtern, das Damit sind die Begriffe genannt, die seit
von ländlich-einfacher Warte aus das ethische jeher zur Charakterisierung von G.s Lyrik ge-
Dreieck Fürst - Hofschranzen - »grade See- dient haben: Erlebnis, Gelegenheit, Sponta-
len« beleuchtet. Aus dem Tageserlebnis von neität, Unmittelbarkeit. So altvertraut sie klin-
Reise und Reflexion war ein Rückblick auf ver- gen mögen, sie bleiben gleichwohl unentbehr-
gangene Liebe entstanden, das Festhalten des lich, weil sie Tatsachen bezeichnen, die für G.s
Entworfenen am Abend bietet eine neue Gele- Lyrik konstitutiv sind und in der Lyrik-Dis-
genheit zu reflektieren, in stiller Abgeschie- kussion generell nicht fehlen dürfen, erst recht
denheit - räumlicher statt zeitlicher Distanz - nicht aufgrund modernen skeptischen Vorur-
nimmt die gesellschaftliche Konstellation der teils. Aber auch andere Momente zählen mit,
Gegenwart poetische Gestalt an. So steigert vor allem das der körperlichen Bewegung. An
4 Goethe als Lyriker

den genannten Gelegenheiten nillt auf, wie und Gewalt / Und fühle wie die ganze Welt /
viele von G.s Gedichten auf eine Reise im Boot Der große Himmel zusammen hält« (FA I, 1,
oder im Wagen zurückgehen, aus Anlaß eines S. 190).
Ritts durch die Finsternis oder einer Wande- Das ist keine bloße Empfindsamkeit.
rung gegen den Stunn oder beim Schwimmen Schluß reim wie Erkenntnisdrang klingen an
entstanden sind. »Was ich guts finde in Uber- die Erdgeistszene im Faust (FA I, 7.1, S.34,
legungen, Gedancken ja so gar Ausdruck V. 382f.) an, sie weisen bereits auf den For-
kommt mir meist im Gehn«, so im Tagebuch scher voraus, dem sein eigener Erd-Geist
am 21.3. 1780. »Sizzend bin ich zu nichts auf- mehr als nur »kalt staunenden Besuch« (ebd.,
gelegt«. Der Gedanke klingt noch im hohen S. 140, V. 3221f.) bei der Natur erlauben wird,
Alter nach: »Es liegen [ ... ] produktivma- ja sie weisen ihn als einen der »wenigen Men-
chende Kräfte in der Ruhe und im Schlaf; sie schen« aus, die, statt phantastisch-wunderlich
liegen aber auch in der Bewegung [ ... ]. Die umherzuschweifen, »eine Phantasie für die
frische Luft des freien Feldes ist der eigent- Wahrheit des Realen besitzen« (zu Eckennann,
liche Ort, wo wir hingehören«. Als Beispiel 25.12. 1825). Zu G.s lyrischen Weltbegegnun-
nennt G. Lord Byron, der »täglich mehrere gen gehört mehr als ein Gran Realismus.
Stunden im Freien lebte«, reitend, rudernd, Daß Gedichte so aus dem Wirklichen heraus
segelnd, schwimmend, was seine eigene frühe und allem Anschein nach mit einem Minimum
Praxis bestätigend wiederholt (zu Eckennann, an bewußten rhetorischen Mitteln entstanden
11.3. 1828). Der Dichter weist also nicht, wie sind, daß sich dann aber den so entstandenen
es für frühere Naturlyriker typisch war, als Fonnen ein hoher Grad der »Kunst«-Vollkom-
gelassen reflektierender Beobachter auf eine menheit nachweisen läßt - dies sagt etwas
vor ihm ausgebreitete Landschaft. Er befindet über die Möglichkeiten menschlicher Kreati-
sich mitten in ihr, er bewegt sich als ein Quan- vität schlechthin aus, es erweitert in spannen-
tum Lebenskraft durch die »freie Welt«, wie er der Weise deren Grenzen, es stellt ein exem-
sie in Brief und Gedicht immer wieder nennt, plarisches Verhältnis des Einzelnen zum Stoff
er nimmt sie mit gierigen Sinnen wahr, er fUhlt seines einmaligen Lebens dar. Anders gesagt:
sich in ihr zuhause und allem verwandt, was Ist Poesie nach dem Wort Klingsohrs in Nova-
um ihn herum ebenso aktiv vor sich hinlebt, lis' Heinrich von Ofterdingen »die eigentüm-
der körperliche wird zum poetischen Rhyth- liche Handlungsweise des menschlichen Gei-
mus, er teilt mit, wie es ihm dabei zumute ist, stes« und in diesem idealen Sinn paradoxer-
nämlich überwältigend positiv: »0 Erd 0 weise »gar nichts Besonderes« (S. 287), so ist
Sonne / 0 Glück 0 Lust!« (Maifest; FA I, 1, es wichtig zu wissen, daß es sie in dieser herr-
S. 129). »Enthusiastisch aufgeregt« soll ja die lich spontanen Fonn tatsächlich gibt bzw. ein-
lyrische »Naturfonn der Dichtung« sein (WA I, mal gegeben hat, anstatt daß Gedichte immer
7, S. 118). Bekenntnishaft-eindeutiger ist der nur im Hinblick auf ein Modell schöpferischer
späte Kommentar Zu meinen Handzeichnun- Unmittelbarkeit konstruiert werden müßten,
gen: »Ich sah die Welt mit liebevollen Blicken / dem niemand entsprechen konnte noch kann.
Und Welt und ich wir schwelgten im Entzük- Mithin ist G.s lyrische Schaffensweise doch
ken« (FA 1,2, S. 523). Daß es dabei nicht bloß etwas sehr »Besonderes«, nämlich ein nicht
um ein genüßliches Sich-Ausleben in schöner leicht wegzuargumentierender Befund im
Umgebung ging, beweisen die Verse, die G. Sinne der Anthropologie des 18. Jhs., der es
seinerzeit - wiederum »mit einer Zeichen- daran lag, die »Bestimmung« - man würde
mappe« - dem Freund Johann Heinrich Merck jetzt sagen, das Potential - des Menschen aus-
geschickt hat. Hier wird das von unten herauf zuleuchten und erfUllen zu helfen. Diese
geltende Prinzip einer säkularen Frömmigkeit Schaffensweise war ein natürlicher, ja recht
geäußert: »Geb Gott dir Lieb zu deinem Pan- eigentlich ein Naturprozeß. Bezeichnend steht
toffel/Ehr jede krüpliche Kartoffel/Erkenne in jenem Reisetagebuch, in dem die aus einem
jedes Dings Gestalt / Sein Leid und Freud Ruh Guß entstandene Urfassung von Auf dem See
Goethe als Lyriker 5

erhalten ist, getrennt für sich und kryptisch die führte nämlich im Zirkel herum, denn erst
Notiz: »Unmittelbaarer Ausdruck von der Na- durch die Qualität der poetischen Produktion
tur« (Tagebuch, 15.6. 1775). war ja das Leben dessen, der sie schuf, über-
Damit ist keineswegs einem gefährlichen Ir- haupt bedeutsam. Der zweite setzte einen
rationalismus das Wort geredet. Es handelt Maßstab der Kritik, der praktisch unmöglich -
sich nicht etwa, wie bei der Entstehung von wie stellt man die Gefühlsechtheit eines Ge-
Nietzsches Zarathustra, um einen Anspruch dichts restlos unter Beweis? - und sowieso
des Dichters darauf, »bloss Mundstück [ ... ] irrelevant war, denn diese hat herzlich wenig
übermächtiger Gewalten zu sein« (Nietzsche, mit der Qualität des Gedichts als solchem zu
Bd. 6, S.339). Spontaneität und Inspiration tun. Auch Pfuscher können biographisch echte
können im Gegenteil eine menschliche Ratio- Gefühle haben.
nalität bedeuten, die sich selbst überbietet; in Aber auch mit dem Gegenteil von Biogra-
der Wechselwirkung von Gefühl, Gedanke, phismus konnte Unfug getrieben werden. Vor
Wahrnehmung, Erinnerung und Ahnung allem im Sog der dichterischen Moderne mit
schießt unter dem Druck des Augenblicks ihrer zimperlichen Härte gegen Gefühlsunmit-
plötzlich die Form zusammen. Einschlägiger telbarkeit und ihrer fast klinisch abstrakten
wäre Kleists Konzept einer »allmählichen Ver- Poetik - die Kunst wird auf den Versuch redu-
fertigung der Gedanken beim Reden«, nur daß ziert, »innerhalb des allgemeinen Verfalls der
sie bei G. so allmählich nicht, eher augen- Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben«, und
blicklich funktioniert zu haben scheint. »ein Gedicht entsteht nicht, ein Gedicht wird
gemacht« (Benn, S.500 u. S.495) - wurden
Zweifel geltend gemacht, ob in Wirklichkeit je
so spontan und natürlich habe gedichtet wer-
Biographie und Interpretation den können. Erlebnis, Eingebung, Konfession,
und erst recht überquellendes Schöpfertum
wurden als unzulässig romantische Ideen ab-
Zugegeben: mit dem Phänomen »Erlebnisly- geschrieben. Es galt stattdessen, reinlich allzu
rik« wurde in der früheren Kritik und Lite- reinlich zu scheiden. An die Stelle des im Le-
rarhistorie Unfug getrieben, das Schöpfertum ben wurzelnden und auf Wirklichkeiten be-
beweihräuchert, Philologie durch Hagiogra- zugnehmenden Dichters trat das distanzie-
phie ersetzt. Zwecks letzterer wurde der Be- rende »lyrische Ich«, im englischsprachigen
griff Erlebnislyrik oft mißbraucht. Er mußte Raum gar die »Persona«, was vom empirischen
die Rückverwandlung von poetisch Ausge- Menschen noch entschiedener wegführte ; und
formtem in den biographischen Rohstoff anstatt des aus menschlichem Erleben spontan
rechtfertigen - enthielt doch jenes anerkann- und mitunter notgedrungen hervorgegange-
termaßen die wirklichen Erlebnisse des Dich- nen Gedichts sollte nur mehr eine berechnete
ters, wichtige »Bruchstücke« der intendierten Struktur ins Auge gefaßt werden. So soll selbst
»großen Konfession«, von der in Dichtung und in der Trilogie der Leidenschaft laut dem Urteil
Wahrheit die Rede ist (FA I, 14, S. 310). Ent- einer scheinbar maßgeblichen Instanz »ein all-
sprechend wurde unter Gelegenheit vereinfa- gemein gehaltenes lyrisches Ich« sprechen,
chend Fakt verstanden, unter Erlebnis Gefühl, wenn schon im Einleitungsgedicht der Trilogie
unter Spontaneität der unverstellte Bericht zugegebenermaßen »Goethe als Verfasser des
darüber. Gedichte wurden entweder zu doku- Werlher« spreche (Trunz, S.702) - unlogisch
mentarischen Zeugnissen, vor allem des genug, auch ohne daß nach der Implikation
G.schen Liebeslebens, gemacht, oder aber sie des Tasso-Zitats noch gefragt würde, das G.
wurden wegen des nachgeprüften Wirklich- dem Kernstück der Sequenz, der Marienbader
keitsbezugs geschätzt, weil damit die Echtheit Elegie, als Motto vorangestellt hat. Auch die
des lyrischen Gefühls nachgewiesen sei: bei- Gickelhahnhütte wurde zur Stätte rhetori-
des Holzwege des Biographismus. Der erste schen Kalküls erklärt, schon der junge G. soll
6 Goethe als Lyriker

»mit Bedacht« geschrieben haben, denn »wie stehen sollen? Auf einfachster Ebene mißbil-
könnte es anders sein?« (Jandl, S. 11). Wie aus ligte er im Divan mit behaglichem Humor jene
dieser ihrerseits rhetorischen Frage erhellt, »Anecdotenjäger«, die »emsig« waren »nach-
wurde die wirkungsästhetische Bewußtheit zuspüren, wer [s]ein Liebchen sey« (Geheim-
des Dichters prinzipiell vorausgesetzt, ihm stes; FA 1,3.1, S.41). Ernsthafter klagt er im
kurzerhand untergeschoben, nur nicht richtig hohen Alter über die »besondere Qual«, daß
nachgewiesen. Wie könnte sie es auch wer- Ausleger seiner Gedichte »dazu die Spezia-
den? Man kann ja nicht mit Sicherheit wissen, lissima, wobei und woran sie entstanden
was in des Dichters Kopf vor sich ging. Zwar seien, zu eigentlichster Einsicht unentbehrlich
kann selbstverständlich kein Schaffensvor- halten, anstatt daß sie zufrieden sein sollten,
gang im vollen buchstäblichen Sinn »unbe- daß ihnen irgend Einer das Speziale so ins
wußt« sein; man darf aber nicht darum von Allgemeine emporgehoben, daß sie es wieder
vornherein annehmen, jedes Gedicht müsse in ihre eigene Spezialität ohne weiteres über-
eine kaltblütige Konstruktion gewesen sein. nehmen können« (an Zelter, 27.3.1830). Die-
Beim Drang weg von der Legende des Erleb- ser eine Satz impliziert eine ganze Theorie von
nisdichters hat man sichtbarlich die Zeugnisse der letztlichen Gemeinsamkeit und Mitteil-
nicht ernstlich geprüft, auf denen sie beruhte. barkeit menschlichen Erlebens : Das Wesent-
Beweismaterialien zu ignorieren ist aber noch liche daran könne aus dem Privatbereich des
unzulässiger, als sie zu romantisieren. So Dichters über »das Allgemeine« in der indivi-
wurde das alte Klischee der Erlebnislyrik ein- duellen Substanz der Leser aufgenommen
fach gegen das neue eines immer nur berech- werden. Der Privatmensch G. geht also nicht
nenden lyrischen Schaffens ausgewechselt. dadurch in den Dichter über, daß er sich zum
Heutige Skepsis mag sich bei solcher Annahme »lyrischen Ich« entpersönlicht, sondern da-
wohl er fühlen; es geschieht aber um den Preis durch, daß er aus der jeweils zutiefst persönli-
einer Zuschneidung des Vergangenen auf mo- chen Gelegenheit das menschlich Gemein-
dernes Maß. Doch beim Blick auf vergangene same herausdestilliert - was allein schon we-
Größe muß der Nachkömmling bereit sein, gen deren unverwechselbar persönlicher
wie es Jacob Burckhardt in den Weltgeschicht- sprachlicher Determiniertheit etwas ganz an-
lichen Betrachtungen provokant formuliert deres ist als das blaß-abstrakte »Allgemeine«,
hat, >>unsern Ausgang von unserm Knirpstum« das in der Poetik der Aufklärung und noch in
zu nehmen. Schillers Matthisson- und Bürger-Rezensio-
nen als einzig angemessener Gegenstand der
Poesie von vornherein gefordert wurde. Dage-
gen hat Bürger in seiner Vorläußgen Antikritik
Emporhebung ins Allgemeine und mit Recht protestiert; sollten denn Gedichte
>>nicht meine, [ ... ] sondern idealisierte, das ist
Gelegenheitsgedicht
keines sterblichen Menschen Empfindungen
[ ... ] enthalten« (SNA 22, S. 419)? Gleichwohl
Es gibt nun aber einen Mittelweg zwischen mußte G.s Prinzip gemäß Allzuspezifisches be-
biographistischem Mißbrauch der Erlebnisly- seitigt werden, das die Tragweite des Gesagten
rik und verschlimmbesserndem Mißtrauen ge- auf den Einzelfall beschränken oder Verständ-
genüber der Spontaneität als solcher - einen, nis und Rezeption des Gedichts sonst verhin-
bei dem das Gedicht nicht in Biographie aufge- dern würde. Wie dies bei der Komposition
löst, auch nicht aus dem menschlichen Zusam- genau vor sich ging, läßt sich naturgemäß im
menhang schlechthin gelöst wird, sondern als einzelnen nicht rekonstruieren. Vielleicht
Produkt einer Morphologie bestehen bleibt, kommt man dem als augenblicklich zu den-
die durch das Erlebnis ausgelöst wurde. Dar- kenden Vorgang am besten auf die Spur, wenn
über war sich der Autor selbst im klaren: wer, man ihn gleichsam in der Zeitlupe bei der
wenn nicht G., hätte sich auf Morphologie ver- Überarbeitung einer Erstfassung für den
Goethe als Lyriker 7

Druck verfolgt, etwa des 1775 entstandenen junge Dichter - forderte G. nachdrücklich den
Gedichts Ich saug an meiner Nabelschnur, das Wirklichkeitsbezug: »Poetischer Gehalt aber
erst 1789 als Auf dem See erschienen ist (FA I, ist Gehalt des eigenen Lebens« (WA I, 42.2,
1, S. 169). Hier wird gleichsam in der Muße S. 107). Ebenso konsequent war seine Bereit-
nachgeholt, was bei der offenbar spontanen schaft, dort, wo die »Emporhebung ins All-
Entstehung des Gedichts nicht vollständig aus- gemeine« deutlich nicht gelungen war, zu er-
geführt wurde. Zunächst entfallen Ort und Da- läutern - etwa bei Harzreise im Winter, die den
tum - aufwelchem See dies vor sich ging und Lesern schwer zu schaffen gemacht hatte. Tat-
wann, tut nichts zur Sache. Um nicht gleich sächlich hat das nach G.s eigenem Urteil aus-
eingangs zu befremden, wird die für den Zeit- nahmsweise »abstruse Gedicht« (WA I, 36,
geschmack zu starke pränatale Metapher S. 179) etwas von dem orakelhaften Ton und
durch einen Anfang ersetzt, der mit dem un- der grandios ausholenden Bilderwahl des spä-
scheinbarsten Mittel eines »Und« als Ausdruck ten Hölderlin. Hier wie bei den Gedichten an
der Selbstverständlichkeit die immer verläß- Lida sah sich G. immerhin darüber angenehm
liche Güte der mütterlichen Natur ebenso »in Verwunderung gesetzt«, daß die Ausleger
wirksam andeutet. Wir können übrigens auch trotzdem »das Angedeutete genugsam heraus-
nachvollziehen, wie am Entwurf Wichtiges ahnten« (WA I, 41.1, S. 330). »Genugsam« hieß
erst entdeckt wird, das ursprünglich ohne Be- aber eben nicht ganz zur Genüge. Daher sein
rechnung, ja im vollen Wortsinn unbewußt zu- Kommentar. Auch hier ein klares Kommunika-
standegekommen sein muß: Die drei Stim- tionsmuster: Gedichte, die, »durch mehr oder
mungen des Gedichts - falls es bei der Entste- minder bedeutende Gelegenheit aufgeregt, im
hung nur ein Gedicht war - hat die Erstfassung unmittelbaren Anschauen irgend eines Gegen-
in acht plus zwölf Versen registriert, was eine standes verfaßt worden« waren, könnten sich
latent vorhandene, auf Folge und Gewichtung nie ganz gleichen, hätten jedoch gemeinsam,
der Stimmungen gen au abgestimmte Symme- »daß bei besonderen äußeren, oft gewöhnli-
trie der Form verdeckt. Diese vom Dichter chen Umständen ein Allgemeines, Inneres,
früher nicht beabsichtigte Vollkommenheit Höheres dem Dichter vorschwebte«, woran
wird jetzt bemerkt und durch die typographi- sich der Ausleger halten müsse (ebd., S. 329).
sche Neuteilung acht-vier-acht einsichtig ge- Nur sei die Harzreise im Winter wegen der
macht: bejahender Ein- und Ausgang bekom- »allerbesondersten Umstände« - hier kehrt
men je eine Strophe zu acht Versen, vorüber- der Superlativbegriff »Spezialissima« aus dem
gehende Bedenken machen das vierzeilige In- oben zitierten Brief an Zelter in deutschem
termezzo aus. Die leise Hervorhebung einer Gewand wieder - »sehr schwer zu entwickeln«
inneren Logik durch die Druckform macht die (ebd.). So hilft der Dichter nach. Hier spricht
dichterische Aussage noch zugänglicher. sich G.s Verbindung von »Größe und Höflich-
keit« (KoMMERELL, S. 65) aus.
Zu G.s Selbstverpflichtung auf ein »Allgemei- Der Fall ist so aufschlußreich wie selten,
nes« steht nicht im Widerspruch, es ist im weil zumeist das Prinzip Höflichkeit bereits
Gegenteil streng konsequent, daß er selber beim Schreib akt selbst gegriffen und für klare
wiederholt auf den wirklichen Umständen in- Mitteilung gesorgt hat. Freilich bildet Dich-
sistiert hat, in denen seine Lyrik ihre Wurzeln tung und Wahrheit einen analogen Versuch in
habe: »Alle meine Gedichte sind Gelegen- größerem Maßstab, eine große Erläuterung,
heitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit die der »großen Konfession« nachgeschickt
angeregt und haben darin Grund und Boden« wird, um deren »Bruchstücke« mit einem Deu-
(zu Eckermann, 18.9.1823). Wären nämlich tungsrahmen zu versehen. Denn die geschicht-
diese besonderen Umstände nicht gewesen, so liche Großwetterlage hatte ähnlich an G.s Le-
hätte es überhaupt kein Gedicht und kein All- benswerk geformt wie die »Spezialissima« am
gemeines geben können. Bis an sein Lebens- einzelnen Gedicht.
ende - etwa im testamentähnlichen Wort an G.s Verständnis des Gelegenheitsgedichts
8 Goethe als Lyriker

ist also der Angelpunkt des Neuanfangs in der Auch hier gilt das Spontane, Absichtslose: Su-
Lyrikentwicklung, und zwar nicht nur seiner chet nicht, so werdet ihr finden.
eigenen. Es geht nicht mehr, wie bei »Casual- Vom Andrang der wirklichen Welt konnte
carmina« von der Antike bis hin zum Barock, das Gedicht auch im Formalen nicht unberührt
um große Ereignisse, die gefeiert werden wol- bleiben; konventionell vorgefertigte Formen,
len - Regierungsantritte, Eheschließungen die sich jedwedem Inhalt schlecht und recht
und Geburten, Triumph oder Tod von Fürsten aufstülpen sollten, mußten einer Formenviel-
und Mäzenen; auch nicht, wie noch in G.s Zeit falt oder vielmehr einer unermüdlichen form-
hinein, um die Feier konventionell-bürgerli- findenden und -erfindenden Kraft weichen,
cher Lebensstationen. Stattdessen nimmt sich die ständig bereit war, sich auf das jeweils
der Dichter das Recht, einen beliebigen Au- Vorhandene einzulassen. Versform wie Spra-
genblick, in dem von ihm Erlebtes und Ge- che paßten sich dem Gegenstand an, am deut-
fühltes sich unverhofft zu besonderer Bedeu- lichsten in den sogenannt »freien« Versen der
tung konzentriert haben, als gleich wichtig mit frühen Hymnen. Dort erst recht erblickt man
solchen öffentlichen Anlässen zu behandeln. den Ausdruck nicht als einen Behälter, son-
Das Private, Subjektive wird damit zum Wert- dern - so eine These Herders, die den jungen
maßstab menschlicher Erfahrung. Grundsätz- G. begeistert hat - »als einen Körper, in wel-
lich bricht aber zugleich die objektive Welt chem sein Geist denket und spricht und han-
damit ins Gedicht herein, weil sich jede Gele- delt« (HSW 1, S.396; vgl. an Herder, 10.7.
genheit aus dem endlosen Vorrat des Wirkli- 1772). In diesem Sinne höchster Flexibilität
chen zusammensetzen muß. So finden sich bei der Formgebung ist auch G.s Äußerung in
G. auf Schritt und Tritt Gedichte, die sich in- Dichtung und Wahrheit zu verstehen, er habe
tensiv mit Geschautem befassen und dieses »weder in Prosa noch in Versen eigentlich ei-
ohne subjektivierenden Kommentar zum nen Stil« gehabt und daher »bei einer jeden
scheinbar ausreichenden Gegenstand haben: neuen Arbeit, je nachdem der Gegenstand war,
»Das Beet schon lockert / Sich's in die Höh«; immer wieder von vorne tasten und versu-
»Dämmrung senkte sich von oben«; »Ros und chen« müssen (FA I, 14, S. 695). Was sein »pro-
Lilie morgentaulich / Blüht im Garten meiner duktives Talent« keineswegs leugnen soll. Die-
Nähe«; »Früh wenn Tal, Gebirg und Garten / ses nennt er im Gegenteil »die sicherste Base«
Nebelschleiern sich enthüllen«. Man könnte der Selbständigkeit, so daß es »nur auf eine
von lyrischem Realismus sprechen, wenn nicht Gelegenheit« angekommen sei, »die einigen
das Geschaute sanft über sich hinauswiese und Charakter hatte, so war ich bereit und fertig«
i~ ungezwungener Weise Menschliches mit- (ebd.). Die Praxis eines wiederholten Neu-
meinte. Darin bestehen G.s Praxis und Begriff anfangs im kleinen, die formal wie inhaltlich
- so die zeitliche Folge - des Symbols, das in in immer andere Richtungen führte, wird zum
Einklang mit dem vorhin umrissenen Kom- Prinzip des großen, historischen Neubeginns.
munikationsmodell nicht vorsätzlich, wie es in
den Maximen und Rtifle.xionen heißt, »zum
Allgemeinen das Besondere sucht«, sondern
»im Besondern das Allgemeine schaut«. Dieses Selbstbewußtsein und
sei doch »eigentlich die Natur der Poesie, sie
spricht ein Besonderes aus, ohne an's Allge-
Selbstbehauptung
meine zu denken oder darauf hinzuweisen«.
Letzteres wäre Allegorie, bei der das Ge- Dieser wäre demnach eine rein persönliche
schaute nur Mittel zu lehrhaftem Zweck, nur Leistung: »Hast du's nicht alles selbst voll-
Handlanger fremder Bedeutungen ist. Wer endet / Heilig glühend Herz«, wie es im Pro-
hingegen »dieses Besondere lebendig faßt, er- metheus-Gedicht heißt (FA I, 1, S.204). Mit
hält zugleich das Allgemeine mit, ohne es ge- Selbständigkeit hing ja das produktive Talent
wahr zu werden, oder erst spät« (MuR, 279). eng zusammen. Schon die frühe Sujetwahl
Goethe als Lyriker 9

scheint ein starkes Selbstgefühl herauszustrei- nicht, / Brichts gleich, bricht nicht mit dir«; FA
chen. Es gehörte Selbstbewußtsein dazu, sich I, 1, S. 206), Dem Schicksal (»Wie seltsam uns
in den Mythos des Zeus trotzenden Prome- ein tiefes Schicksal leitet«; FA I, 1, S.249),
theus oder in den des Zeus-Lieblings Gany- Feiger Gedanken (»Allen Gewalten / Zum
med kongenial einzufühlen, oder gar sich im Trutz sich erhalten; / [ ... ] / Rufet die Arme /
selbstgezimmerten Mythos eines reisenden Der Götter herbei«; FA I, 1, S. 384). Erst recht
Lebensfürsten zu inszenieren, bei dessen tri- die »Hegire« (an Carl August, 14.10. 1786) der
umphaler Ankunft im Orkus ehrfürchtig »von italienischen Reise, die diesen schwierigen, an
ihren Sitzen / Sich die Gewaltigen lüften« (An fertiggestellten Werken eher armen Jahren ein
Schwager Kronos; FA I, 1, S. 203). Auch in der Ende gesetzt hat, steht im Zeichen eines er-
halbmythischen Seifahrt tritt der Dichter als neuerten Auserwähltheitsglaubens, der am
bewußter Träger eines Sonderschicksals vor deutlichsten im Tagebuch der ersten Reise-
teilnehmenden Zuschauern auf, »Und ver- wochen zum Vorschein kommt, wo es am
trauet scheiternd oder landend / Seinen Göt- Schluß gleich nach der Ankunft in Rom tief
tern« (FA 1,1, S. 208). Diese begleiten ihn auch aufatmend heißt: »Ich fange nun erst an zu
sonst. Ihnen als einzig angemessenen Ge- leben, und verehre meinen Genius« (Tage-
sprächspartnern gilt am Schluß von Willkom- buch, 29.10. 1786). Fortan fühlt sich der mit
men und Abschied nach dem quasi stummen der Antike wahlverwandte Dichter innerlich
Beisammensein mit der Geliebten der Ausruf »geborgen« (Römische Elegien II; FA I, 1,
- »Und lieben, Götter, welch ein Glück« (FA I, S. 397); gleichwohl bleibt der höchst persön-
2, S. 45). Den Wanderer, der querfeldein durch liche »Übermut« des Dichtens in den gemein-
den Sturm stapft, wird ein eigener Genius sam mit Schiller geführten Kulturkämpfen der
>>nicht verlassen«, ihn vielmehr »Wärm um- 90er Jahre nach wie vor gefragt.
hüllen« und »heben übern Schlammpfad«. Als Was alles nicht besagen will, daß die lite-
einer, »den ihr begleitet / Musen und Chari- rarische Entwicklung des Jahrhunderts G. in
tinnen all«, wandelt oder gar »schwebt« er keiner Weise vorgearbeitet hätte. Eine Ten-
»über Wasser über Erde / Göttergleich« dahin denz zur Stilsenkung hatte früh im Jahrhun-
(Wandrers Stunnlied; FA I, 1, S. 142f.). Am dert eingesetzt, die das Drama verbürgerli-
Gedichtschluß allerdings hat sein »armes chen und das Epos in die ebenfalls »bürger-
Herz«, - der Chuzpe mischt sich hier ein Schuß liche Epopöe«, wie Hegel ihn nennt, des Ro-
Humor bei - nur mehr »so viel Glut - / Dort ist mans verwandeln sollte. Es war auch bereits -
meine Hütte - / Zu waten bis dort hin« (FA I, 1, etwa bei Christian Fürchtegott Geliert - viel
S.145). Auch so bleibt es beim späteren von »Natürlichkeit« die Rede gewesen, so daß
Spruch: »Dichten ist ein Uebermuth« (West- der junge G. schon von seinen allerfrühesten,
östlicher Divan, Derb und Tüchtig; FA I, 3.1, noch von der Leipziger Mode abhängigen Ge-
S.22). In den frühen Gedichten wird gleich- dichten behaupten konnte, sie seien »alles Na-
sam zur Selbstaufmunterung gerade die Eigen- tur« (an Ernst Theodor Langer, Mitte Oktober
schaft verkörpert und gefeiert, die nottat, 1769?). Von Herder vollends wurden dann ge-
wenn man sich als Dichter durchsetzen wollte. rade solche Eigenschaften programmatisch
Daß auch die Natur das Ihre für den Auser- verlangt, wie sie G. im Keim besaß und zu
wählten tut, indem sie ihm Trost gibt und über entwickeln schon im Begriff war. Trotzdem
seine Krisen hinweghilft, kann - in Auf dem kann von einer bewußten literarischen Taktik
See oder Über allen Gipfeln - ebenso dankbar oder gar Strategie G.s kaum die Rede sein.
zur Sprache kommen. Eines war, von früh an Dichter werden, ein
Der Schicksalsglaube durchzieht auch das anderes, die Literatur schlechthin mit bewuß-
erste Weimarer Jahrzehnt Ho.ffnung ter Absicht durch die Kraft seiner Persönlich-
(»Schaff, das Tagwerk meiner Hände, / Hohes keit und Erlebnisfähigkeit revolutionieren zu
Glück, daß ich's vollende!«; FA I, 1, S.305), wollen. Auch hier war das Sich-Ausleben des
Eislebens Lied (»Krachts gleich brichts doch dichterischen Talents, nicht die berechnende
10 Goethe als Lyriker

Sicht auf die zeitgenössische Kultur und deren winden. Das mag auf den ersten Blick bloß als
Bedürfnisse ausschlaggebend. Erst von späte- typischer Generationenkonflikt erscheinen;
rer selbstbiographischer Warte aus konnte sich recht besehen jedoch birgt es in sich ein zeit-
G. darüber klar werden, in welchem Maß und spezifisches Schema, in das die empirischen
in welcher Weise er »aus der wäßrigen, weit- Tatsachen des G.schen Anfangs - Selbstbe-
schweifenden, nullen Epoche sich herauszu- hauptung, selbständige Versuche, Vertrauen zu
retten« gehabt habe, wozu der erste Schritt eigenem Wahrnehmen und Empfinden - ge-
>>nur durch Bestimmtheit, Präzision und nau passen. Es handelt sich um das aufkläreri-
Kürze« habe getan werden können (FA I, 14, sche Schema des menschlichen Mündigwer-
S. 295). Weiter wird an dieser zentralen Stelle dens, das nicht etwa als aus einem bestimmten
von Dichtung und Wahrheit (im Siebten Buch) Text übernommen zu denken ist, sondern eher
aus geschichtlicher Sicht berichtet, wie »die als Grundmythos des Zeitalters, den Kant 1784
Rhythmik [ ... ] damals noch in der Wiege« im Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist
gelegen und »niemand [ ... ] ein Mittel ihre Aufklärung nur auf den Begriff zu bringen und
Kindheit zu verkürzen« gewußt (ebd., S. 296), durch den didaktischen Bildschatz von Kind-
wie infolgedessen das »Anakreontische Ge- heit, Vormündern, Gängelwagen, Leitband
gängei« in der Lyrik noch dominiert habe und freiem Gang programmatisch auszudrük-
(ebd., S. 298): insgesamt ein Problem für ei- ken brauchte. Ziel und Ideal Kants ist ein mün-
nen angehenden Dichter, »der etwas aus sich diges Selbstdenken, das, einmal erreicht, in
zu produzieren gedachte, der nicht seinen Vor- eine öffentliche Dialektik mit dem schon Be-
gängern die Worte und Phrasen nur aus dem stehenden münden soll; das entspreche der
Munde nehmen wollte« (ebd., S.304), der »allgemeinen Menschenvernunft, worin ein je-
nicht mehr wie anfangs in Leipzig bereit war, der seine Stimme hat«, wie es in der Kritik der
sich selbst angesichts fremder Forderungen zu reinen vernunft heißt (Kant, Bd. 3, S.509).
verleugnen. Die Lösung kommt in Sicht, die Dazu müsse man zunächst - so der Aufsatz Was
darin lag, »alles in mir selbst zu suchen [ ... ], he!ßt: sich im Denken orientieren? - »den
in meinen Busen [zu] greifen«, »eine unmittel- obersten Probierstein der Wahrheit in sich
bare Anschauung des Gegenstandes, der Bege- selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) su-
benheit« zu praktizieren. Die Selbstdarstel- chen« (Kant, Bd. 4, S. 365).
lung bewegt sich ihrem Höhepunkt zu, die le-
benslange »Richtung, [ ... ] was mich erfreute Die parenthetische Glosse ist bezeichnend:
oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Kants Schema blieb rein vernunftorientiert.
Bild, ein Gedicht zu verwandeln«, kündigt sich Für einen Menschen der Spätaufklärung dage-
an. Davon soll die »große Konfession« gespeist gen, für G. jedenfalls, konnte nicht mehr nur
werden (ebd., S. 309f.). die Vernunft als Probierstein der Wahrheit gel-
ten; G. glaubte vielmehr, »aus der Wahrheit
der fünf Sinne« zu sein (an Lavater, 28.10.
1779). Das ist im brieflichen Kontext ein Ge-
Aufldärungsprinzipien genschlag des »sehr irdischen Menschen«
(ebd.) zu Lavaters Religiosität, bildet mithin
verinnerlicht: Individualismus
alles andere als einen Widerspruch zum auf-
klärerischen Denken, es bedeutet aber in gut
Über dem berühmten Wahlspruch darf man die Kantischem Geist eine dialektische Auswei-
Argumentation und die Metaphern nicht unbe- tung dessen, was mittlerweile von den Auf-
achtet lassen, die dahin geführt haben. Eine klärern - zumindest prinzipiell - errungen
Dichtkunst wollte aus der Wiege gehoben und worden war. Hatte die Aufklärung um die Frei-
über die Kindheit hinaus gefördert sein; es heit des Menschen von staatlicher Willkür
galt, Gängelung hinter sich zu lassen und die oder religiösem Zwang - sozusagen eine nega-
bestimmende Macht der Vorgänger zu über- tive Freiheit - gekämpft, so öffnete sich jetzt
Goethe als Lyriker 11

die Sicht auf eine weiterreichende positive Monolog durch keine scharfe Grenzlinie vom
Freiheit der Menschen, sich individuell unter- Drama getrennt. Der Sprachgestus, der jene
schiedlich zu entwickeln. Es ging nicht mehr stark profilierten Einstiege schafft und den
nur darum, sich zu den eigenen Überzeugun- Dichter gleichsam körperlich präsent macht,
gen, sondern zum eigenen Erleben schlechthin ist dramatischer Sprache und Handlung schon
zu bekennen, Mut zu haben zum eigenen eng benachbart. Nicht von ungefahr stehen
Standpunkt als dem Punkt, wo man als ein- Prometheus und Mahomets Gesang als Reste
maliger Mensch stand. An die Stelle eines »In- bzw. Kerne unvollendet gebliebener Dramen
dividualismus der Freiheit« trat ein neuer »In- da. Leicht vorstellbar wären ein Ganymed, der
dividualismus der Einzigkeit« (Simmel, sich zum Dialog im Olymp entfaltet hätte, oder
S.180). umgekehrt ein Faust, der nicht über den grü-
Wenn für eine derartige Fülle des Indivi- belnden Eingangsmonolog hinaus gediehen
duellen in der Literatur überhaupt Platz war, wäre. Ob die mythische Selbstinszenierung ly-
dann in erster Linie in der Lyrik. Diese konnte risch-einstimmig blieb oder sich zum Zusam-
mit ihrer neuen formalen Geschmeidigkeit menstoß mit anderen Figuren entwickelte,
den vielseitigen Ergebnissen vom »schauen, mußte sich im Lauf der Entstehung geben.
wissen, ahnen, glauben und wie die Fühlhör- Andererseits hatte der lyrische Duktus seine
ner alle heißen, mit denen der Mensch in's Wurzeln im Privatbrief, wo Gedichte entste-
Universum tastet« (an Christian Dietrich von hen konnten und wo - was wichtiger war - der
Buttel, 3.5.1827), gerecht werden. Durch eine Briefschreiber G. längst schon eine kraftvoll
solche Darstellung des ganzen Menschen war persönliche Ausdruckweise übte, als er sich im
das bloß Didaktische früherer Zweckformen - Gedicht von den anakreontischen Konventio-
des Lehrgedichts etwa, von dem noch 1790 der nen Leipzigs noch nicht befreit hatte. Wieland
alte Aufklärer Nicolai in seiner Tasso-Rezen- kamen G.s Briefe aus der Schweiz f6rmlich
sion in der Neuen Bibliothek der schönen Wis- wie »ein Poema« vor (an Merck, 7.4.1780).
senschaften und freien Künste (Jg. 41, 1. St.) Damit ist die Rolle der frühen Briefe nicht
meinen konnte, »alle Gattungen der Poesie nä- erschöpft: sie stellen obendrein die Brutstätte
herten sich ihm immer mehr« - reichlich über- des Werther dar, einmal indem eine Brieffolge
holt. Nicht überholt dagegen, vielmehr im Mittel zur psychologischen Analyse und zur
Schritt mit der Erweiterung des Individualis- Handlungsführung bereitstellte, zum anderen
mus auch seinerseits verwandelt, war der auf- indem der Brief - ein Fortschritt gegenüber
klärerische Begriff einer Öffentlichkeit, die den Romanen Richardsons - bei aller Leiden-
sich gern an der großen Gesellschaftsdialektik schaftlichkeit Werthers der Alltagssprache und
beteiligen wollte, an die man also in eigenen wirklichen Schreibpraxis der Zeit getreu sein
Belangen jederzeit unmittelbar appellieren konnte: also noch ein Stück Realismus. Fast
konnte. In G.s lyrischem Kommunikationsmo- prophetisch heißt es denn auch plötzlich in
dell und in seiner Voraussetzung eines All- einer tagebuchartigen Brieffolge an Behrisch
gemeinen, das im Brennpunkt des Gelegen- vom 10. bis 14.11.1767 - im gedruckten Text
heitsgedichts zu entdecken und mitzuteilen hat G. bereits die siebte Seite erreicht - »Mein
sei, wurde der Öffentlichkeitsbegriff der Auf- Briefhat eine hübsche Anlage zu einem Werck-
klärung verinnerlicht weitergeführt. gen«. Und mit Datenangaben und Tagebuch-
Auch hier wird es sich kaum um eine be- ähnlichem sind wir wieder bei jenen Gedich-
wußte Wahl G.s gehandelt haben, der in der ten, deren Urfassungen das Datum ihrer be-
Lyrik das geeignetste Vehikel zum Ausdruck deutsamen Gelegenheit getragen haben. So
des neuen Individualismus gesehen hätte. geht es bei G. von einer Gattung zur anderen
Fragt man gar nach dem Ort der Lyrik in G.s wie im Kreis herum.
Gesamtwerk, so fällt sofort auf, daß für ihn Diese gattungsübergreifende, oder besser
formale Gattungsgrenzen kaum eine Rolle ge- gattungsunterwandernde Tendenz findet sich
spielt haben. Beim jungen Dichter ist lyrischer nicht nur beim jungen Dichter. Auch dem äl-
12 Goethe als Lyriker

teren G. erschienen die Gattungsgrenzen als dem Freiheit. Vor allem waren sie ihm nach
prinzipiell durchlässig. Die drei »Naturformen 1786 mit dem befreienden Erlebnis Italiens
der Dichtung« wirken nicht nur abgesondert, untrennbar verbunden, wo »das bisher beengte
Episches, Lyrisches und Dramatisches finden und beängstigte Natur-Kind in seiner ganzen
sich oft im kleinsten Gedicht beieinander Losheit wieder nach Luft [ge ] schnappt« hatte
(WA I, 7, S. 118); in der Ballade etwa, wie sie (an Eichstädt, 29.1.1815) und »das erstemal
G. übrigens in jeder Lebensphase geschrieben unbedingt glücklich« gewesen war (an Herder,
hat, sind die Elemente »wie in einem leben- 5.6.[?]1788). Auch waren ihm »die Alten«
digen Ur-Ei zusammen« (WA I, 41.1, S.224). keine starre Bildungsautorität nur, sie waren
Noch radikaler wendet er gegen die damals Vorbilder im Leben wie im Dichten. In beiden
gängige Einstufung der Poesie unter den Bereichen und in deren gegenseitigem Bezug
»schönen Redekünsten« ein, sie sei »rein und stellten sie ein kulturgeschichtliches Konti-
echt betrachtet [ ... ] keine Red e, weil sie zu nuum dar, welches fortzusetzen jedem frei-
ihrer Vollendung Tact, Gesang, Körperbewe- stand: »Das Antike war neu da jene Glückliche
gung und Mimik bedarf«, ja eigentlich »keine lebten, / Lebe glücklich und so lebe die Vorzeit
Ku n s t, weil alles auf dem Naturell beruht, in dir« (Römische Elegien XIII; FA 1,1, S. 419).
welches zwar geregelt, aber nicht künstlerisch Der in klassischen Formen Dichtende findet
ge ängstiget werden darf« (WA I, 7, S. 115f.). denn auch Freiraum genug, um er selbst zu
Hier spricht letztlich der Konsens einer allen sein. Durch Hexameter und elegische Disti-
starren Regeln abholden Zeit, in der die Vor- chen hindurch, die alles andere als gehorsam-
herrschaft französischer Muster abgeworfen, gelehrte Stilübungen sind, bleibt G.s gar nicht
die dramatischen Einheiten endlich vor die eingeschüchterte oder auch nur übermäßig sti-
Tür des Theaters gesetzt und die herkömmlich lisierte moderne Stimme hörbar. Andererseits
nach äußeren Merkmalen festgelegten poeti- hatte er an der antiken Dichtung, Architektur
schen Dichtungsarten auf tieferliegende Emp- und bildenden Kunst, an ihrer Konkretheit,
findungsweisen des Dichters (v gl. Schiller, Diesseitigkeit und geistig-körperlichen Aus-
Über naive und sentimentalische Dichtung) zu- gewogenheit, wichtige Verbündete in seinem
rückgeführt worden waren. Statt des Buch- spätaufklärerischen Widerstand gegen doktri-
stabens sollte der Geist regieren; schöpferi- näre Engen des neuzeitlich-christlichen deut-
sche Freiheit ging allemal vor. schen Lebens. In Italien spricht das erste beste
antike Grabmal die Sprache einer vernünfti-
geren Welt: »Hier ist kein geharnischter Mann
auf den Knien, der einer fröhligen Auferste-
Kulturelle Paradigmen hung wartet, hier hat der Künstler mit mehr
oder weniger Geschick immer nur die einfache
Gegenwart der Menschen hingestellt, ihre
Bei so viel Freiheit mag es seltsam erscheinen, Existenz dadurch fortgesetzt und bleibend ge-
daß sich G. ab seiner Lebensmitte einer Reihe macht. Sie falten nicht die Hände zusammen,
von Kulturkonventionen unterworfen hat, die schauen nicht gen Himmel; sondern sie sind
auf den ersten Blick dem individuellen Aus- was sie waren, sie stehn beysammen, sie neh-
druck Grenzen setzen mußten. Noch seltsa- men Anteil an einander, sie lieben sich« (Tage-
mer, daß er ausgerechnet bei der Antike ange- buch, 15.9.1786). Polemischere Seitenhiebe
fangen hat - und ihr trotz weiterer Überlage- des »dezidirten Nicht-Kristen« (an Lavater,
rungen bis zu seinem Tod wesentlich treu 29.7.1782) gibt es in den venezianischen Epi-
blieb -, da es doch ihre drückende Autorität grammen in Fülle. Auch in gesellschaftlicher
war, die Europas Nationalliteraturen jahrhun- Hinsicht mischt sich dem Lyrischen ein streit-
dertelang daran gehindert hatte, sich aus Eige- barer Ton bei: »Ehret wen ihr auch wollt! Nun
nem frei zu entwickeln. Für G. jedoch assozi- bin ich endlich geborgen! / Schöne Damen
ierten Literatur und Kultur der Antike trotz- und ihr Herren der feineren Welt; / Fraget
Goethe als Lyriker 13

nach Oheim und Vettern und alten Muhmen len dann aus Eigenem zurück, damit auch die
und Tanten; / Und dem gebundnen Gespräch Nachfolger haben, wovon sie zehren können:
folge das traurige Spiel« (Rö"mische Elegien II; »Denn edlen Seelen vorzufühlen / Ist wün-
FA I, 1, S. 397). Schon allein die Verkündung schenswertester Beruf« ("Vermächtnis; FA I, 2,
des eigenen neuantiken Glücks wirkt subver- S.686).
siv, erst recht, wenn sich ihr eine klimatolo- Es handelt sich natürlich um mehr als nur
gisch verkleidete Kulturkritik an der ganzen Weltanschauliches. Klassisch zu dichten be-
nördlich-schwermütigen Art zu sein an- deutete Variation, Ablegen sukzessiver Schi an-
schließt: »0 wie fühl ich in Rom mich so froh! genhäute (»Die Feinde sie bedrohen dich«; FA I,
Gedenk ich der Zeiten, / Da mich ein grau- 2, S.674), einen wiederholten Neuanfang in
licher Tag hinten im Norden umfing, / Trübe und trotz der längst feststehenden Persönlich-
der Himmel und schwer auf meinen Scheitel keitsform. Daß dies immer wieder möglich
sich neigte, / Farb' und gestaltlos die Welt um war, beantwortet schon eine Frage, die uns,
den Ermatteten lag, / Und ich über mein Ich, vor die vollendeten Tatsachen dieser reich-
des unbefriedigten Geistes / Düstre Wege zu haltigen Laufbahn gestellt, nicht unbedingt
spähn, still in Betrachtung versank« (Rö"mische einfallt, die G. sich selbst vielleicht nie bewußt
Elegien VII; FA I, 1, S. 409). gestellt hat, die aber trotzdem eine wirkliche
Bildet die Antike, wie sie eigentlich gewe- ist: Wie blieb man über ein langes Leben hin
sen und in Italien noch immer sichtbar war, in eigener Weise produktiv, ohne auf der Stelle
den einen Grundpfeiler dieser trotzigen Ge- zu treten und zum Epigonen seiner selbst zu
borgenheit sowohl im Weltanschaulichen und werden? Mit der Zeit häufen und wiederholen
Sozialen als auch im Sexuellen, so war der sich die Erlebnisse, sie gerinnen zur Erfah-
andere noch einmal das Selbstbewußtsein G.s, rung. Zwar ist laut Dichtung und Wahrheit
das sich die Alten als seine Vorgänger anmaß. »alles Behagen am Leben [ ... ] auf eine regel-
In seiner Weise hatte er sich immer schon mäßige Wiederkehr der äußeren Dinge ge-
dankbar und ohne Angst noch Neid von an- gründet. Der Wechsel von Tag und Nacht, der
deren hinreißen und befruchten lassen - von Jahreszeiten, der Blüten und Früchte, und was
Shakespeare, Pindar, Homer, Ossian, Klop- uns sonst von Epoche zu Epoche entgegentritt,
stock, Spinoza. In der Klassikphase wird die- damit wir es genießen können und sollen,
sem Prinzip nur systematischer und bewußter diese sind die eigentlichen Triebfedern des
gefolgt. Was G. treibt, ist monumentale Hi- irdischen Lebens« (FA I, 14, S.628f.), der
storie im Sinne Nietzsches, bei der die Ge- Dichtung ebenfalls. Das schlägt aber leicht in
schichte »vor Allem dem Thätigen und Mächti- die negative Einsicht um, daß es thematisch
gen [gehört], dem, der einen grossen Kampf nichts Neues unter der Sonne gibt. Schon in
kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht einem frühen Brief stand: »Wenn ich nur was
und sie unter seinen Genossen und in der Ge- anderes hätte Ihnen zu schicken als Blumen
genwart nicht zu finden vermag« (Nietzsche, und immer dieselbigen Blumen. Es ist wie mit
Bd. 1, S.258). G. macht sich die Geschichte der Liebe die ist auch monoton« (an Charlotte
gen au so zunutze, er sucht sich zur Selbst- von Stein, 23.5.1779). Das Epigramm ist frei-
bestätigung und Selbststeigerung das Notwen- lich ironisch gemeint, es soll etwaige Klagen
dige, ihm Zusagende aus, gemäß dem »einzig der Dame wegen des allzu insistenten Hofma-
schönen Aperc;;u« aus der Farbenlehre, nach chens ihres Liebhabers vorwegnehmen und
dem »die echten Menschen aller Zeiten ein- entkräften: Er könne nämlich nichts dafür,
ander voraus verkünden, auf einander hinwei- wenn alles wie gehabt sei. Dabei sind Blumen
sen, einander vorarbeiten« (WA II, 3, S.250). und Liebe in Wirklichkeit für das Gefühl un-
So hat G.s auf ein Allgemeines hinzielendes ausschöpflich, man muß es aber neu auszu-
Kommunikationsmuster auch auf welthistori- drücken wissen. Mit 65 Jahren etwa so: »Ist's
scher Ebene Geltung. Große Menschen neh- möglich daß ich Liebchen dich kose! / Ver-
men nach Bedarf aus der Vergangenheit, zah- nehme der göttlichen Stimme Schall! / Un-
14 Goethe als Lyriker

möglich scheint immer die Rose, / Unbegreif- hatte es 1789 für die Schriften allzu stark abge-
lich die Nachtigall« (FA I, 3.1, S. 76). Vier zu- mildert heißen müssen: »In meinem Herzen
gleich gedrängte und in lässigem Plauderton welche Glut!« (Willkomm und Abschied; FA I,
gehaltene Verse machen das Erstaunliche am 1, S. 283). Jetzt im Alter, wo dem Dichter Ge-
Liebes- wie am Naturerlebnis schlagartig be- sicht und Haare zur grauen Felsenwand mit
wußt, wozu eine doppelte Wiederholung ge- Schneekappe wurden, kann, muß das Gefühl
hört: daß diese Dinge, so oft man sie wieder wieder durchschlagen und das streng-ernste
erlebt, dennoch »immer« wieder als unfaßbar Äußere Lügen strafen, wenn anders die Ge-
empfunden werden. Zum Beweis hält die liebte nicht leer ausgehen soll; denn auf ihre
Frage »Ist's möglich« in einem die Wirklich- Schönheit zu »erwidern« habe er sonst nichts:
keit des eben wieder eingetretenen Einzelfalls »Nur dies Herz es ist von Dauer, / Schwillt in
und die Verwunderung darüber fest. jugendlichstem Flor; / Unter Schnee und Ne-
So kann gerade ein alter Dichter »höchsten belschauer / Rast ein Aetna dir hervor« - so
Sinn in engstem Raum« schaffen (Segenspfän- das Gedicht, in welches G. den eigenen Na-
der; FA I, 3.1, S. 14). Dazu hat die neue Aneig- men als fehlendes Reimwort hineingehe im-
nung fremder, diesmal altpersischer Sprach- nißt hat (Hatem; FA 1,3.1, S. 87). In den vielen
weise beigetragen, aber der Bezug auf eigenes Liebes-, Wein- und Naturgedichten des Divan
Erleben blieb: Die Konventionen des West-öst- wird der Genuß des Augenblicks mit einer
lichen Divan sind eine neugewachsene durch Erfahrungsweisheit nur noch verstärk-
»Schlangenhaut«, keine bloße Kostfunierung. ten Intensität gefeiert: im Alter wird der Vorrat
G. flüchtet sich aus einer europäischen Gegen- an noch ausstehenden Augenblicken eben
wart, wo »Throne bersten, Reiche zittern«, um knapper. Diesem »stufenweisen Zurücktreten
»im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten« aus der Erscheinung« (WA I, 48, S.205) kann
(Hegire; FA I, 3.1, S. 12), findet jedoch an sei- der Alternde durch sorgfältiges Sammeln des
nem altpersischen Vor-Bild Hafis einen Poe- Erinnerten standzuhalten suchen, das betreibt
ten, dessen Leben am Hof der Mächtigen in G. ja in den gleichzeitig entstehenden autobio-
der verworrenen Kriegszeit eines napoleon- graphischen Schriften nach Kräften auch; dem
ähnlichen Timur an G.s eigenes anklingt. Lyriker aber angemessener ist, paradoxer-
Ähnlich wie in der klassischen Phase vermag weise gleich einem wohltätigen Spender frei-
der moderne Dichter seine Zeit durch die gebig dahinzuleben: »Reiche froh den Pfennig
Blume anzureden, sich durch fremde Figuren hin, / Häufe nicht ein Gold-Vermächtniß, /
zu bestätigen und auszudrücken, eigenes Ge- Eile freudig vorzuziehn / Gegenwart vor dem
dankengut verfremdet mitzuteilen. Warum Gedächtniß« (Und was im Pend-Nameh steht;
also nicht unmittelbar? Weil das Exotische Di- FA I, 3.1, S. 45). So bleibt der erlebte Augen-
stanz schafft, die Selbstspiegelung in früheren blick, wenn schon von der Wehmut des Ab-
Epochen die Autorität des Überzeitlichen, Ur- schiednehmens vom Leben bereits tingiert,
typischen verleiht, vor allem weil der Umweg nach wie vor der Eckstein der G .schen Poetik.
zum Ausdruck über eine exotische Kultur er- Davon ausgehend wird im Divan noch oben-
frischt und anregt. Sie gibt dem Dichter eine drein eine lyrische Großfiktion aufgebaut, die
Fülle neuer Formen, Figuren, Legenden, Sym- an Reichhaltigkeit und Kohärenz jeden ge-
bole und Glaubenssätze an die Hand, mit de- wöhnlichen Gedichtzyklus überragt und in der
nen er spielen und mitunter Versteck spielen Weltliteratur wohl ihresgleichen sucht.
kann. Im Spiel, hinter der Maske kann man um Es hat wenig Sinn zu fragen, wie der Mann
so freier sprechen, von der Liebe sogar wieder von 60 Jahren ohne die Begegnung mit Hafis
in Hyperbeln, wie sie der angehende klassi- weitergedichtet hätte. Diese war selber eine
sche Dichter seinem jüngeren Selbst allzukri- »Gelegenheit« im Großen, sie war als Quelle
tisch weggestutzt hatte: Statt »Mein ganzes eines dichterischen Rollenspiels, das fünf
Herz zerfloß in Glut« von 1775 (Mir schlug das Jahre dauern sollte, eben auch ein Stück Le-
Herz; geschwind zu Pferde; FA I, 1, S.128) benswirklichkeit. Bei den zehn Jahre später
Goethe als Lyriker 15

geschriebenen Chinesisch-Deutschen Jahres- misch wechselnden Verbindungen immer wie-


und Tageszeiten ist das in anderer Weise der der vorkommen. Schrieb schon der junge Ly-
Fall. Hier wird der exotische Effekt nicht in riker aus der Bewegung heraus, so besteht jetzt
Dialogen und sonstigen Konventionen ausge- alles Höchste, Allgemeinste, »das ewig Eine«
baut, es sind Gedichte für eine Einzelstimme, (Parabase; FA I, 2, S.495), und sogar jene
Selbstgespräche eines alten Mandarins ~ »Sag »ewige Ruh' in Gott dem Herrn« (Wenn im
was könnt' uns übrig bleiben« (FA I, 2, S. 695), Unendlichen dasselbe, FA I, 2, S. 680) schließ-
fragt gleich das erste Stück ~ angesichts einer lich aus Bewegung. »Nur scheinbar steht's Mo-
Welt von fast überwirklich klar umrissenen mente still« (Eins und Alles; FA I, 2, S. 495).
Fonnen und glänzend reinen Farben, die sich Es ist fast, als ob der alte G. das eigentliche
gegen Nebel und Finsternis behaupten. Also Erleben endgültig hinter sich gelassen hätte;
fast kein Rollenspiel mehr, da es in der Wirk- statt um besondere Gelegenheiten und einen
lichkeit des alten Dichtennandarins aufgeht. persönlichen Standpunkt handelt es sich nur
Er spielt zwar mit Fremdem, aber er ist schon mehr um eine denkbar allgemeine Ortung »im
darum nicht aufweitverzweigte Konventionen Grenzenlosen«. Denn dort »sich zu finden /
angewiesen, weil er längst selber eine grund- Wird gern der Einzelne verschwinden« (Eins
legende verkörpert: die der freien Selbstaus- und Alles; FA I, 2, S. 494). Eine solche gleich-
sage. sam entrückte Schau des Ganzen mag dem
Alter gemäß erscheinen, insoweit es über-
haupt alte Lyriker genug gegeben hat, die ei-
nen Maßstab dafür liefern könnten; das Ge-
Naturwissenschaft und Lyrik lassen-Überpersönliche ebenfalls, das in der
späten Lyrik immer unüberhörbarer erklingt,
etwa in der fast verklärten Abschiedsstim-
Dabei geht es um eine Selbstaussage, die mit mung der Dornburger Gedichte von 1828,
der Zeit immer weiter über das Intim-Persön- Willst du mich sogleich verlassen (FA I, 2,
liche hinausreicht. Beruhte schon die frühe S. 700) und Früh wenn Tal, Gebirg und Garten
Lyrik auf einer intuitiven Welterfassung, und (ebd.). Das vor Jahrzehnten an Charlotte von
hatte dann von den 80er Jahren an ein inten- Stein geschriebene Wort, »Sie wissen wie sim-
sives Naturstudium zur Vision eines allen Be- bolisch mein daseyn ist« (10. u. 11.12.1777),
reichen innewohnenden quasi-evolutionären scheint sich restlos bewahrheitet zu haben.
Prozesses geführt ~ Die Metamorphose der Um so dramatischer ist der Rückfall, den die
Pflanzen, Metamorphose der Tiere, und ge- Trilogie der Leidenschaft darstellt, und um so
wissennaßen auch eine Metamorphose des imposanter das poetische Ergebnis eines letz-
Menschen in Dauer im Wechsel~, so wird in ten Neuanfangs. Hier wird G.s symbolische
der späten Lyrik wie von höchster Warte aus Lebensakzeptanz durch eine verlockende Le-
das Weltall überschaut und in seinem Wesen bensrealität radikal in Frage gestellt, und zwar
gedeutet. Dies gelingt in einer auf den ersten mit verheerender Wirkung. Nach dem Verzicht
Blick spröde abstrakten Sprache, denn wie lie- auf eine im Unterschied zum Divan-Spiel
ßen sich die Makromechanismen des Weltalls wirklich zur Frau begehrte Geliebte scheint es
anders als in Begriffen schildern? Die Sprache ihm weder eine Ortung im Grenzenlosen noch
wirkt dennoch seltsamerweise einprägsam auch nur einen festen Standpunkt in der In-
konkret, was wohl daran liegt, daß die Bewe- dividualität mehr zu geben, schon gar nicht
gungen und Wechselwirkungen des Makrokos- den bevorzugten von einst: »Mir ist das All, ich
mos weniger beschrieben als in einer Gruppe bin mir selbst verloren, / Der ich noch erst den
von dynamischen Wörtern wie fließen, strö- Göttern Liebling war« (FA I, 2, S. 462). Doch
men, verwandeln, drängen, ringen, gestalten ~ allein schon die Klage beweist, daß er nicht
umgestalten, sich regen, schaffen ~ umschaf- ganz sich selbst verloren ist: die Gottesgabe,
fen, verkörpert werden, die in ebenso dyna- zu sagen, was er »leidet« oder »duldet«, ist
16 Goethe als Lyriker

unversehrt geblieben. Sie hing doch nicht da- Theorien und kritisch-historischen Positionen
von ab, immer nur Götterliebling zu sein; und des Essays Über naive und sentimentalische
sie hatte längst ein Lebenswerk geschaffen, Dichtung aufging. Dem unbekannten, unver-
das Hilfe in der Not bieten konnte. Auch in der standenen Hölderlin ging es ähnlich, obwohl
allerpersönlichsten Krise, das zeigen die An- ihm Schiller wichtiger war als G. Auch die
rufung Werthers und die zweimalige Tasso- Romantiker, antiklassische Frondeurs, die sie
Anspielung, lag ein trotz allem symbolischer sein mochten, konnten nicht umhin, G.s lyri-
Rückhalt bereit. Durch das lebenslange »Sa- sche Meisterschaft anzuerkennen. Hatte er
gen« (FA I, 2, S.457) hatte sich G. eine ret- doch als erster jene volksliedhafte Einfalt er-
tende eigene Kultur geschaffen. reicht, die sie zum Ideal erhoben. Mit dem
Für andere jedoch, Zeitgenossen wie Nach- Sammeln und Nachahmen von Volksliedern
folger, wurde diese rettende Kultur fast zur trieben sie die Einfachheitssuche denn doch
Krise. Das Corpus der G.schen Lyrik mit ihrer weit über G. hinaus. Einfachheit war bei G.
Vielfalt und Schönheit, die Spontaneität, mit sowieso nur ein Moment und zwar ein stili-
der es hervorgebracht wurde, der unermüd- stisches, kein Wert an sich, erst recht kein
liche schöpferische Impuls, der bis ans Ende Gegenstand halbmystischer Sehnsucht. »Der
ständig neu ansetzte - alles hatte Maßstäbe Drang einer tiefen Anschauung fordert Lako-
gesetzt, ja den Charakter und die Konventio- nismus«: in dieser Bemerkung zu Des Knaben
nen lyrischen Schaffens in moderner Zeit erst Wunderhorn (WA I, 40, S. 356) ist Nähe wie
festgelegt. So ist die Nachwirkung G.s fast Grenze G.s zu den Romantikern enthalten.
gleichbedeutend mit der ganzen späteren Ge- Auch wollte G. weder in dieser noch sonst in
schichte der deutschen Lyrik. Nicht, als hätte irgendwelcher Beziehung seine Zeitgenossen
es früher keine starken dichterischen Indivi- oder Nachfolger zu einer bestimmten Praxis
dualitäten gegeben, deren Produktion minde- anleiten. Er meinte es rückblickend auch nicht
stens stellenweise als Erlebnislyrik gelten getan zu haben: »In solchem Sinne war ich
könnte. Aber solche »Bekundungen des uns Meister von niemand«, lautet 1832 sein Quasi-
vertrauten, im spezifischen Sinn lyrischen Testament Noch ein Wortfür junge Dichter. Er
Geistes aus älterer Zeit leuchten nur ver- sei vielmehr den Deutschen überhaupt und
sprengt auf, so wie zuweilen Hintergründe al- den jungen Dichtem insbesondere ein» Be -
ter Malerei die Idee des Landschaftsbildes ah- fr eie r« gewesen; an ihm hätten sie erfahren,
nungsvoll vorwegnehmen. Sie konstituieren »daß, wie der Mensch von innen heraus leben,
nicht die Form« (Adorno, S. 79). Das Phäno- der Künstler von innen heraus wirken müsse,
men einmalig-persönlichen Sprechens außer- indem er, gebärde er sich wie er will, immer
halb der jeweiligen Zeitkonventionen »suchte nur sein Individuum zutage fordern wird«
man nicht und zeichnete man nicht aus; es war (WA 1,42.2, S. 106). »Von innen heraus«: diese
vorhanden, indem es sich vergaß, nicht indem Formel für organische Entwicklung und orga-
es sich behauptete« (KoMMERELL, S. 10). Ver- nisches Verständnis durchzieht leitmotivisch
gleicht man schließlich - einmal von G.s her- G.s Lebenswerk in allen Bereichen - Poesie,
ausragendem Format ganz abgesehen - die Ly- Naturwissenschaft, Architektur, bildende
rik, wie sie Mitte des 18. Jhs. war, mit dem, Kunst. »Befreier« ist gewiß nicht politisch ge-
was sie zur Zeit von G.s Tod geworden, so meint, obwohl die Praxis eines frei von innen
scheinen die beiden Stufen um viel mehr als heraus geführten Lebens alles andere als einen
ein einziges, auch noch so langes Menschen- Rückzug ins Private bedeutet und auf lange
leben auseinanderzuliegen. Sicht gesellschaftliche Folgen durchaus nach
Wie konnten andere, Mitlebende oder sich zu ziehen vermag. Es handelt sich immer-
Nachfolger, vor dieser Leistung bestehen und hin um ein zutiefst liberales Prinzip, denn was
sie weiterführen? Schon Schiller hat G. be- bei einem bestimmten Menschen von innen
neidet, bis der Neid in Bewunderung und »heraus« kommt, das heißt, wie seine »Äuße-
Liebe und nebenbei in den tiefschürfenden rungen« beschaffen sein werden, läßt sich we-
Goethe als Lyriker 17

der vorhersagen noch vorschreiben, es kommt macht wird. Für den Leser gilt dabei oft das
ja auf den jeweiligen »Gehalt des eigenen Le- Wort aus der Marienbader Elegie: »Das Auge
bens« an, und »den kann uns niemand geben« starrt auf düstrem Pfad verdrossen, / Es blickt
(ebd., S. 107). Für die Nachkommenschaft be- zurück, die Pforte steht verschlossen« (FA I, 2,
deutet das die Erlaubnis, ja die Auf- oder gar S.458).
Herausforderung, sie selbst zu sein und sich Daß aber die Pforte zwischenmenschlicher
autonom zu zeigen, was wiederum ein deutli- Mitteilung einmal in so beispielhafter Weise
cher Nachhall der Aufklärung ist. angelweit aufgemacht wurde und prinzipiell
Dieser Aufforderung Folge zu leisten war jederzeit aufgemacht werden kann, bleibt eine
aber ein existentielles Wagnis. Wurde »der nicht nur im musealen Sinn historische Errun-
Maßstab der Erlebtheit, den Goethe aufge- genschaft des Lyrikers G.
stellt hatte, im 19. Jahrhundert zum leitenden
Wertbegriff« (Gadamer, S.75), so war er für
andere ein zweischneidiger, eben weil eine Literatur:
tragende persönliche Substanz gefragt war. Es Adorno, Theodor W: Rede über Lyrik und Gesell-
galt ja letztlich, neben dem Gründer der Tradi- schaft. In: Noten zur Literatur. Bd. 1. Frankfurt/
tion selbst zu bestehen. Einen an den G.schen M. 1958. - Behrens, Jürgen/Michel, Christoph
heranreichenden »Gehalt« bei ähnlicher ge- (Hg.): Goethe, Elegie von Marienbad. Urschrift Sep-
staltender Kraft hat es aber kein zweites Mal tember 1825. Frankfurt/M. 1991. - Benn, Gottfried:
Probleme der Lyrik. In: ders.: Gesammelte Werke.
gegeben. Damit ist kein negatives Pauschal-
Hg. von Dieter Wellers hoff. Bd. 1. Wiesbaden 1959.
urteil über die Nachfolger gefällt. Gilt im lyri- - BEUTLER - Blackall, Eric A.: Die Entwicklung des
schen Teilbereich Hofinannsthals Wort zur Deutschen zur Literatursprache 1700-1775. Stutt-
deutschen Literatur überhaupt, »Wir haben G. gart 1966. - CONRADY - Gadamer, Hans Georg:
und Ansätze«, so konnten im Verhältnis zu G.s Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philoso-
einmaliger Erscheinung auch Ansätze bedeu- phischen Henneneutik. Tübingen 1975. - GRÄF -
Grimm, Reinhold (Hg.): Zur Lyrik-Diskussion.
tend sein. Der psychologische Druck, den das
Dannstadt 1966. - HSW 1, S.557-551. - Jandl,
Beispiel G. ausübte, blieb trotzdem ein Pro- Ernst: Das schicklich verlassene Mädchen. In: Goe-
blem. So fahndete man auch, ob bewußt oder the, Johann Wolfgang: Alle Freuden, die unendli-
nicht, nach anderen Wegen, die von der allzu chen. Liebesgedichte und Interpretationen. Hg. von
anstrengend direkten Gegenüberstellung von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M.1987. - Kant,
Persönlichkeit und Erlebniswelt abführten. Immanuel: Werke. Hg. von Ernst Cassirer. Berlin
1922. - KOMMERELL - KORFF - Nietzsche, Friedrich:
Nicht nur so, aber auch so läßt sich in ver-
Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe in 15 Bänden.
gleichender Sicht das Ausweichen der Roman- Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Mün-
tiker ins Volkhafte oder Transzendente, der chen 1980. - Novalis: Schriften. Hg. von Paul Kluck-
Biedermeierlyrik in die Enge des Niedlich- hohn u.a. Bd. 1. Das dichterische Werk. Dannstadt
Idyllischen, der Modeme ins Hermetische und 1960. - Reich-Ranicki, Marcel (Hg.): Verweile doch.
»Absolute« verstehen. 111 Gedichte mit Interpretationen. Frankfurt/M.,
Leipzig 21992. - Segebrecht, Wulf: Das Gelegen-
Was gar nicht besagen will, daß das dich-
heitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik
terische Ethos G.s nur eine »Episode« (Ga- der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977. - Simmel, Ge-
damer, S.67) war. Trotz der angedeuteten org: Kant. Leipzig 1904. - SNA 22, S. 419. - STAIGER
Schwierigkeiten mit dem großen Urheber ließ - Susman, Margarete: Das Wesen der modernen
und läßt sich die von G. durchgeführte »Befrei- deutschen Lyrik. Stuttgart 1910. - Trunz, Komm. in
ung« letztlich nicht rückgängig machen. Auch HA 1, S. 701-711.
die hermetische Lyrik der Modeme blieb ihr Terence James Reed
heimlich getreu, insofern auch sie aus Erleb-
tem hervorgegangen ist, wenn schon die
Bruchstücke in rätselhaftem Dunkel verharren
und die Konfession eher selten durch »Em-
porhebung ins Allgemeine« zugänglich ge-
18 Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827

Die Vennischten Gedichte standen im


Die Gedichtsammlungen in Schlußband der Schriften. Die früheste An-
den autorisierten Ausgaben deutung über die ins Auge gefaßte Struktur der
Lyriksammlung enthält G.s Brief an Charlotte
von Goethes Werken von Stein vom 15.6.1786: »Die kleinen Ge-
1789-1827 dichte hab ich unter allgemeine Rubricken ge-
bracht«. Erst reichlich anderthalb Jahre da-
nach schritt die Arbeit fort. Welche Bedeutung
der Dichter ihr zumaß, geht aus einer in Rom
Das lyrische ffiuvre G.s wnfaßt insgesamt am 1.2.1788 formulierten, wohl zugleich auf
rund 3000 Gedichte. Zur Vorgeschichte ihrer die Schriften insgesamt bezüglichen Äußerung
gesammelten Publikation durch den Autor ge- hervor: »Es ist ein wunderlich Ding so ein
hören mehrere kleine Gruppierungen, die an Summa Summarum seines Lebens zu ziehen.
ihrem chronologischen Ort in anderen Über- Wie wenig Spur bleibt doch von einer Existenz
blicksartikeln des Handbuchs beschrieben zurück!«. Vorsichtig einschränkende Attribute
werden: Das Liederbuch Annette (Hs. Beh- spielten auch weiterhin mit: »Meine kleinen
risch 1767; Erstdruck 1896) - die Oden an Gedichte hab' ich gesucht in eine gewisse Ord-
meinen Freund (Hs. eigenhändig 1767; Erst- nung zu bringen, sie nehmen sich wunderlich
druck 1836) - die Lieder mit Melodien Made- aus«, schrieb G. am 22.2.1788 aus Rom an
moiselle Friederiken Oeser gewiedmet von Johann Gottfried Herder, der an der Vorberei-
Goethen (Schreiber-Hs. 1768; Erstdruck tung der Schriften hilfreich beteiligt war und
1884), Vorstufe für die erste von G. selbst pu- dem der Dichter am 1.3.1788 mitteilen
blizierte Sammlung Neue Lieder, in Melodien konnte, daß »die vermischten Gedichte zwn
gesetzt von Bernhard Theodor Brätkopf (er- letzten Bande meist in's Reine geschrieben«
schienen 1769 mit der Jahreszahl 1770, ohne seien. Dies war auch dem Verleger schon ver-
G.s Namen) - die sog. Erste Weimarer sichert worden, mit dem auf Mängel der bisher
Gedichtsammlung (Hs. eigenhändig 1778; erschienenen Bände anspielenden Hinweis:
Erstdruck 1910). »doch will auch dieser achte Band wohl ausge-
dacht und ausgeziert seyn« (an Göschen, 9.2.
1788). Nach G.s Rückkehr wurden die ver-
mischten Gedichte in Weimar vervollständigt
Goethe' s Schriften und revidiert. Wahrscheinlich im Juli 1788 er-
hielt Herder das Manuskript; danach wurde es
Christoph Martin Wieland übergeben (G. an
Für den achten Band der frühesten autorisier- Charlotte von Stein, 12. u. 24.8.1788), der
ten Werkausgabe, Goethe 's Schriften, hat der Anfang September vielleicht den ganzen, wn
Autor seine Lyrik am Ende der 80er Jahre »einige Kleinigkeiten« ergänzten achten Band
erstmals zur zusammenfassenden Publikation zur »Revision« erhielt (G. an Herder, 2.13.9.
geordnet. Er stellte dafür viele der zuvor 1788).
hauptsächlich in Zeitschriften gedruckten, Es sind zwei Handschriften dieser Gedicht-
aber auch zahlreiche noch unveröffentlichte sammlung überliefert: H3 enthält die Erste, H4
Gedichte in zwei »Sammlungen« unter den ge- die Zweyte Sammlung. Beide Hefte sind von
meinsamen Titel Vennischte Gedichte. Diese G. geschrieben - mit Ausnahme weniger Ge-
Publikation eröffnete eine Reihe von Kompo- dichte, die Christian Georg Carl Vogel in H4
sitionen, die erst mit den Gedichtbänden der eintrug - und weisen Korrekturen auf, die
Ausgabe letzter Hand endete und auf die in Herder, Wieland und G. zuzuschreiben sind.
unterschiedlichem Grade zutrifft: »Das Zu- Während sich in H4 nur Detailkorrekturen fin-
sammenstellen von Gedichten zur Sammlung den, belegt H3 im Vergleich mit dem Druck
ist ein schöpferischer Akt« (Reitmeyer, S. 1). auch die nachträgliche Einfügung oder Elimi-
Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827 19

nierung ganzer Gedichte. So wurden Die Ret- Auf die Motivation der Entscheidung G.s für
tung und An Christel auf Anraten Caroline die umrissene Sammlungs struktur verweist
Herders weggelassen (an Herder, 1. 10. 1788), der schon zitierte Brief an Herder vom 1.3.
Der wahre Genz43 und das offenbar nur in der 1788, in dem G. bekannte: »Zur Stellung der
Reinschrift enthaltene Gedicht Der Besuch verschiedenen kleinen Gedichte habe ich mir
noch während der Drucklegung ausgeschlos- deine Sammlungen der zerstreuten Blätter
sen (G. an Göschen, 6.11.1788). Die Gedichte zum Muster dienen lassen und hoffe zur Ver-
Heidenröslein, Stirbt der Fuchs, Erster Verlust bindung so disparater Dinge gute Mittel ge-
und Morgenklagen sind in HO nur durch ihre funden zu haben, wie auch eine Art, die allzu
Titel repräsentiert. Die nicht überlieferten individuellen und momentanen Stücke eini-
Reinschriften, die im September und Oktober germaßen genießbar zu machen«. Die dritte
1788 als Druckvorlagen an Göschen geschickt Sammlung jener Zerstreuten Blätter (1787) be-
wurden, hatte Vogel angefertigt. Die Samm- stand u.a. aus Gedichten Herders, die der Vor-
Iung erschien zur Ostermesse 1789 (Schriften, rede zufolge >>nicht zum Druck geschrieben«
Bd. 8, S. 89-286). und »zum Theil zwanzig Jahre alt« waren -
Absicht und Methode, die diese Gedicht- partiell umgearbeitete »Jugendbilder und Ju-
sammlung strukturierten, sind hauptsächlich gendträume« (HSW 15, S.517), aus der Di-
auf zwei, vielfach miteinander verbundenen stanz publiziert. Der Wille zur Distanzierung,
Ebenen zu erkennen: Objektivierung und auf zumindest zur Relativierung der dem einzel-
Symmetrie orientierte Ensemblebildung nen Gedicht eingeschriebenen »Gelegenheit«,
(Reitmeyer, S. 48-57; EibI1993). In der Ersten begleitet von der Demonstration bestimmter
Sammlung finden sich 48 Gedichte in fünf Zusammenhänge in Wechselwirkung, hat auch
Gruppen angeordnet - zehn, vier, zwanzig, G.s Gedichtsammlung von 1789 geprägt. Der
vier, zehn Stücke -, die ohne Zwischentitel in in Italien sich festigende, auf Übersicht und
locker chronologisch-genetischer Folge den Klarheit, Maß und Mäßigung drängende Ob-
größten Teil der G.schen Lieder-, Balladen- jektivierungswille des Dichters bildete gleich-
und Spruchdichtung aus den Jahren 1773 bis sam die Basis dafür. Die teilweise einschnei-
1783 enthalten. Es sind fast ausnahmslos ge- denden Bearbeitungen, denen G. jetzt viele
reimte Gedichte, deren Gruppierung haupt- der schon früher publizierten, aber auch bisher
sächlich den verschiedenen Erfahrungsebenen unveröffentlichte Gedichte unterzog und die
des Themas »Liebe und Leben« gilt. Die fast ausnahmslos bis zur Ausgabe letzter Hand
Zweyte Sammlung enthält ebenfalls ohne Zwi- beibehalten wurden, dokumentieren die noch
schentitel 42 Gedichte in drei Gruppen, deren im Detail wirksame Grundtendenz eindrucks-
Bezugssystem und Abfolge durch die Themati- voll. Zu den beinahe überdeutlichen Beispie-
sierung von Welt- und Kunstanschauung be- len gehört die später wieder verlorengegan-
stimmt sind. Sie bieten die meisten Hymnen gene Zusammenstellung von Lili's Park mit
und Epigramme sowie die Kunst- und Künst- Auf dem See, das sich durch den zu diesem
lergedichte aus den 70er und 80er Jahren, in Zwecke veränderten Anfang »Und« auch in-
überwiegend reimlosen Formen. Umrahmt haltlich unmittelbar anschließt (Eibl 1987,
sind diese drei Gruppen von der Nachdichtung S. 1006f.).
Klaggesang von der edeln Frauen des Asan Aga An solchen Beispielen wird in besonderem
und von den ihrerseits verwandten Gedichten Maße erkennbar, wie das zunächst auf die Per-
über Hans Sachsens poetische Sendung und son des Dichters bezogene Objektivierungs-
Auf Miedings Tod. Diese drei Stücke hat G. streben zur nach außen gerichteten Wirkungs-
später anders placiert, während die drei strategie in Korrespondenz trat. Gegenüber
Hauptgruppen der Zweyten Sammlung - ab den bis dahin überwiegend für den engeren
1815 untergliedert in Vermischte Gedichte, An- Freundeskreis bestimmten einzelnen Veröf-
tiker Form sich nähernd und Kunst - weitge- fentlichungen ergaben sich für die Darbietung
hend beibehalten wurden. in der Werkausgabe ohnehin andere Anforde-
20 Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827

rungen an die Kommunikationsweise. In meh- weiter ausgreifend wirkte G.s Strukturprinzip


reren Briefen instruierte G. den Verleger de- auf die, gegenüber der älteren handschriftli-
tailliert über seine diesbezüglichen Wünsche. chen Sammlung verkürzte Sequenz Mahomets
Sie betrafen zunächst, wie für die Schriften Gesang - Gesang der Geister über den nassem
insgesamt, die Anwendung der inzwischen zu- - Meine Göttin - Harzreise im Winter - An
nehmend überregional anerkannten Regeln, Schwager Kronos - Seifahrt, in der verschie-
die Johann Christoph Adelung für Grammatik, dene Existenzmöglichkeiten und Lebensrollen
Orthographie und Interpunktion aufgestellt in unterschiedlicher poetischer Gestalt »gegen
hatte (an Göschen, 2.9. 1786). Darüber hinaus einander über« gestellt sind, der Entscheidung
hatten G. und seine Berater in Weimar auch des Lesers anheimgebend, ob sie zu vermitteln
Adelungs Lexik herangezogen. Der dadurch wären oder wohin ihre ausschließliche Rea-
verursachte Verlust an Individualität, Sponta- lisierung führen könne. Objektivierung der
neität und »Idiotismen« war der Preis für die scheinbar »allzu individuellen und momenta-
zugleich mit der Objektivierung angestrebte nen Stücke« zum Zwecke allgemeinerer »Ge-
Verbreiterung der Wirkungen. Dazu sollten nießbarkeit« (an Herder, 1.3. 1788) war auch
auch die, nicht zuletzt einem gewissen Erläu- hier das Ziel. - Wie im Einzelfall durch das
terungsbedürfnis gegenüber anonymem Publi- angewandte System Bedeutungszuwachs ent-
kum entsprungenenen ausdrücklichen Bestim- stehen konnte, der sich dann doch nicht als
mungen G.s für die Anordnung der Gedichte dauerhaft erwies, bezeugt die Einordnung des
beitragen: Die einzelnen Stücke, »welche, we- Epigramms auf den Herzog Leopold von
gen gewisser Verhältnisse gegen einander über Braunschweig, »Dich ergriff mit Gewalt«, der
stehen«, sollten gen au der Druckvorlage fol- dadurch gleichsam zum Prototyp des edlen,
gend »Seite für Seite abgedruckt werden [ ... ] hilfreichen und guten Menschen avancierte,
Es ist mir dran gelegen daß nichts verruckt im Anschluß an die eben dieses Verhalten de-
werde« (an Göschen, 9.10.1788). kretierenden Strophen Das Göttliche (vgl. G.s
Die Strukturierung der Vimnischten Ge- Brief an Göschen vom 24.10. 1788). Von dieser
dichte ließ sich so verdeutlichen - selbst op- prominenten Stelle wurde das Epigramm 1815
tisch -, und die Zweyte Sammlung, für die G. an den Beginn der Rubrik Antiker Form sich
seine Forderungen mit Nachdruck wiederholte nähernd versetzt, zu der es 1789 nur indirekt
(an Göschen, 24.10. 1788), profitierte in be- den Übergang bildete.
sonderem Maße davon. Es entstanden meh- Die Vermischten Gedichte von 1789 erwiesen
rere Gruppierungen, die die jeweils »gegen sich als grundlegend für G.s Gedichtsammlun-
einander über« gestellten Gedichte in ein Be- gen überhaupt, insbesondere für das Bestre-
zugssystem einbanden, das ihre komplemen- ben des Dichters, auch seine Lyrik als ein Ge-
täre, kontrapunktische Wertigkeit im Sinne je- flecht von weitverzweigten und -verästelten
nes Objektivierungswillens demonstrieren korrespondierenden Beziehungen erkennbar
konnte, ohne daß die Eigenständigkeit der zu machen. Die Methodik wurde beibehalten -
einzelnen Stücke dadurch notwendig zur Dis- bis hin zur penibel vorgeschriebenen Anord-
position gestellt worden wäre. Diese Einbin- nung der Zahmen Xenien in der Ausgabe letz-
dung betraf beispielsweise, mit langfristigen ter Hand. An Carl Jacob Ludwig Iken schrieb
wirkungsgeschichtlichen Folgen, die Gruppe G. am 27.9. 1827, während der Arbeit an die-
Prometheus - Ganymed - Grenzen der ser Ausgabe: »Da sich gar manches unserer
Menschheit, deren erste Stücke bereits in der Erfahrungen nicht rund aussprechen und di-
handschriftlichen Sammlung von 1778 bei- rect mittheilen läßt, so habe ich seit langem
sammenstanden, damals gleichsam nachfra- das Mittel gewählt, durch einander gegenüber
gend ergänzt durch die Strophe Menschenge- gestellte und sich gleichsam in einander ab-
fühl, die jedoch erst 1815, ohne unmittelbare spiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem
Zuordnung zu der Dreiergruppe von 1789, pu- Aufmerkenden zu offenbaren«. Eine so kunst-
bliziert wurde. Noch massiver und womöglich volle und konsequente Struktur wie in den
Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827 21

Vermischten Gedichten von 1789 wurde aller- ten läßt. In den Liedern ist die andeutungs-
dings in G.s späteren Gedichtsammlungen weise biographisch-erzählende Anordnung
nicht wieder erreicht. Einzig im West-ö"stlichen aufgegeben zugunsten der Zweiteilung in eher
Divan entstand noch einmal, allerdings unter emotionale und eher reflektierende Gedichte.
spezifischen und nicht übertragbaren Bedin- Auffällig ist hier die paarweise Anordnung,
gungen, ein hochartifizielles Produkt jenes z.B. Die Sprö"de - Die Bekehrte; Meeres Stille-
»schöpferischen Akts« der Sammlung von Ge- Glückliche Fahrt. Auch die Balladen und Ro-
dichten. manzen bestehen aus zwei Gruppen. Die erste
enthält überwiegend Gedichte aus den Jahren
1775 bis 1785. Hier herrscht der »Romanzen-
ton« vor; Der Fischer und Erlkö"nig wurden,
Goethe's neue Schriften wohl wegen ihres exemplarischen Charakters,
als einzige Gedichte aus der Sammlung von
1789 noch einmal aufgenommen. Die zweite
Bei Friedrich Gottlob Unger in Berlin began- Gruppe versammelt hauptsächlich die Produk-
nen 1792 Goethe 's neue Schriften zu erschei- tionen aus dem von der Diskussion mit Schil-
nen, die das seit dem Abschluß der Göschen- ler geprägten »Balladenjahr«. Für Zusammen-
Ausgabe neu Entstandene zusammenfassen stellung und innere Ordnung der neuen Ge-
sollten. Wiederum der letzte Band (Bd. 7) dichte im elegischen Versmaß blieben weitest-
brachte im Jahre 1800 die meisten der im vor- gehend die Vorabdrucke verbindlich. Die
angegangenen Jahrzehnt entstandenen, größ- metrische Qualität dieser Texte sollte jetzt je-
tenteils bereits einzeln oder gruppiert in Zeit- doch möglichst verbessert werden, und G.
schriften veröffentlichten Gedichte, ergänzt wandte viel an ihre detaillierte Bearbeitung.
durch die versifizierten Theaterreden von 1791 Daß die beiden umfangreichen, realitätsgesät-
bis 1792. Die zuvor entwickelten und ange- tigten Epigrammgruppen die eher dunklen
wandten Strukturprinzipien waren diesmal zu und mystifizierenden »Weissagungen« umrah-
den - wesentlich unter dem Einwirken der men, kann wohl der auch inhaltlich bestimm-
Verbindung mit Schiller - neu gewählten oder ten Orientierung auf Symmetrie zugerechnet
variierten Inhalten und Formen ins Verhältnis werden.
zu setzen. Sowohl die inhaltlich begründete Handschriftliches Material zur Druckge-
Gruppierung als auch die erläuternde Spie- schichte, das die Absichten des Dichters zu-
gelung durch konfrontierende Anordnung, sätzlich erhellen könnte, ist für die Sammlung
prinzipiell weiterhin angewendet, erhielten so von 1800 nicht überliefert. Adressat der we-
teilweise geänderte Funktionen. Der zuvor bei sentlichen Aussagen war diesmal Schiller -
aller Objektivierungsabsicht noch stark spür- auch dies Ausdruck der veränderten Lebens-
bare Faktor biographischer Erfahrung wurde situation. Am 5.8.1799 schrieb G. an Schiller,
nunmehr zusätzlich der Zuweisung der Ge- daß er nunmehr seine »kleinen Gedichte [ ... ]
dichte zu mehr oder weniger gen au definierten noch näher zusammen stelle und abschreiben
Gattungen oder Genres untergeordnet. lasse. Zu einer solchen Redaction gehört
Wesentliche Folge dieses Vorgehens war die Sammlung, Fassung, und eine gewisse allge-
Gliederung des neuen Gedichtbandes in Ru- meine Stimmung. Wenn ich noch ein Paar Du-
briken mit speziellen Überschriften: Lieder- zend neue Gedichte dazu thun könnte, um ge-
Balladen und Romanzen - zwei Gruppen Ele- wisse Lücken auszufüllen und gewisse Rubri-
gien (ohne Zwischentitel) - drei Gruppen Epi- ken, die sehr mager ausfallen, zu bereichern so
gramme (Epigramme. Venedig 1790 - Weissa- könnte es ein recht interessantes Ganze geben.
gungen des Bakis - Vier Jahrszeiten). Auch in Doch wenn ich nicht Zeit finde das Publikum
dieser Sammlung kann man innere Symmetrie zu bedenken, so will ich wenigstens so redlich
feststellen, wenn man nicht auf pedantischer gegen mich selbst handeln, daß ich mich we-
Gleichmäßigkeit besteht und Übergänge gel- nigstens von dem überzeuge was ich thun
22 Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827

sollte, wenn ich es auch gerade jetzt nicht thun schlqß, die mit den gleichen Worten beginnen,
kann. Es giebt für die Zukunft leitende Finger- stehen Trost in Tränen, Sehnsucht und Nacht-
zeige«. Der Übergangscharakter der Gedicht- gesang. Die vorangehende Gruppe enthält aus
sammlung von 1800 wird aus solchen Hin- im Wortsinne geselligen Anlässen entstandene
weisen ebenso ablesbar wie im Vergleich mit Gedichte wie das Stiftungs lied, aus deren Ab-
den späteren Ausgaben das Beständige, das folge sich eine gewisse Steigerung herauslesen
auch diese »Redaction« leistete und das G. läßt (Reitmeyer, S.66f.). Die abschließende
schon während der Arbeit erhoffte: »In meiner Abteilung besteht aus untereinander kaum
Garteneinsamkeit fahre ich an meiner Arbeit korrespondierenden Stücken, von denen ei-
recht eifrig fort und die reinliche Abschrifft nige in späteren Sammlungen unter die Bal-
fördert gleichfalls. Noch kann ich selbst nicht laden aufgenommen wurden.
sagen wie es mit der Sammlung werden wird
eins fordert das andere. Mein gegenwärtiger
Aufenthalt erinnert mich an einfachere und
dunklere Zeiten, die Gedichte selbst an man- Goethe's Werke (1806-1810)
nigfaltige Zustände und Stimmungen. Ich will
nur sachte hin immer das nächste thun und
eins aus dem andern folgen lassen. [ ... ] Ue- Auf die erste bei Cotta erschienene Ausgabe
berhaupt müsse diese Sammlung in manchem von G.s Werken wirkten Faktoren ein, die zu-
Sinne wenn es mir gelingt, als ein Vorschritt mindest die notwendig gewordene neue Ge-
erscheinen« (an Schiller, 7.8.1799). dichtsammlung eher ungünstig beeinflußten.
Der Briefwechsel mit Unger bezeugt, wie G. Als bis dahin umfangreichste Ausgabe erschie-
auch diesmal den manuskriptgerechten Satz nen Goethe's Werke 1806 bis 1810 in dreizehn
gen au überwachte. Außerdem kümmerte er Bänden. Die Gedichte standen erstmals am
sich, häufig Schiller zu Rate ziehend, um die Beginn (Bd. 1, 1806,408 S.). G. übernahm die
äußere Ausstattung, zu der auch eine Reihe Rubriken aus der Unger-Ausgabe, füllte sie auf
von Kupferstichen gehörte. Wie wenig alle und sl,lchte alles dort nicht Unterzubringende
diese Bemühungen in der Öffentlichkeit, zu- aus den Schriften und den Geselligen Liedern
mindest im Verlagswesen, erkannt oder gar sowie Ungedrucktes unter dem wieder aufge-
anerkannt wurden, erweist u.a. der als »Neue nommenen Zwischentitel vermischte Gedichte
Auflage« der Neuen Schriften 1801-1805 in mehr oder weniger lose anzuordnen. »Ich habe
Mannheim erschienene Nachdruck. Dort sind freylich diese Dinge von jeher mit zu weniger
die Gedichte auf zwei Bände verteilt und mit Sorgfalt behandelt«, glaubte er feststellen zu
anderen Schriften zusammengestellt. müssen (an Cotta, 25.11. 1805). Als Druckvor-
lagen für die älteren Teile dienten verschie-
Die »Vorschritte« und die »Fingerzeige« für dene Exemplare der Gedichtbände von 1789
Zukünftiges konnten zunächst kaum genutzt und 1800; überliefert ist ein von Johann Lud-
werden. Im Ende 1805 erschienenen, gemein- wig Geist hergestelltes Manuskript (H5). Der
sam mit Wieland herausgegebenen Taschen- Band erschien zur Ostennesse 1807 mit der
buch auf das Jahr 1804 veröffentlichte G. Der Jahreszahl 1806.
Geselligkeit gewidmete Lieder (S. 87-152), die Die Absicht, möglichst alle seit 1770 ge-
großenteils in den Jahren 1801 und 1802 ent- druckten sowie viele unveröffentlichte Ge-
standen waren. Auf die kleine Sammlung ließ dichte - darunter hauptsächlich Epigramme,
sich das bisher Erprobte nur ansatzweise an- auch Das Sonett, zuvor ausgeschaltete Stücke
wenden, etwa in der - äußerlich nicht gekenn- wie Der Besuch u. a. - nunmehr gemeinsam zu
zeichneten - Dreiteilung, deren Mittelpartie publizieren, setzte einer durchgehend konse-
aus fünf Gedichten besteht, die einen durch- quenten Komposition schon angesichts der in-
komponierten Stimmungsbogen bilden: Ein- zwischen entstandenen Fülle beträchtliche
gerahmt von Schäfers Klagelied und Berg- Schwierigkeiten entgegen. Hinzu kamen die
Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827 23

Irritationen, die G.s Leben und Schaffen seit sie das eine oder das andre seien<<. Anderer-
der Jahrhundertwende beeinflußten, durch seits schlug er vor, die »objektiven Lieder« mit
Schillers Tod und durch die in unmittelbarer den Balladen und Romanzen zu verbinden, al-
Nähe erlebten Ereignisse von 1806 krisenhaft les den »persönlichen Gelegenheitsgedichten«
vertieft wurden und auch die Teilnahme an der Nahestehende oder überhaupt nur »subjektiv
neuen Werkausgabe beeinträchtigten. Die Verständliche« dagegen den T--ermischten Ge-
Prinzipien der vorangegangenen Gedicht- dichten zuzuordnen (KAI, 3, S.114f.). Die
sammlungen scheinen in der ersten Cotta- poetologischen Konsequenzen eines solchen
Ausgabe kaum noch durch. Der geplante Er- Vorschlags sind ein Thema für sich, zumal
gänzungsband, der »besonders Gedichte« ent- Schlegels Rezension auch als ein grundsätz-
halten sollte - »manches darunter aus meinen licher Beitrag zur Theorie der Lyrik zu lesen
ersten Zeiten, das wegen verschiedener Ur- ist. Die behutsam formulierten, in nur gele-
sachen bisher zurückblieb; jetzt aber wohl das gentlich taktisch anmutende Begeisterung für
Tageslicht wird anblicken dürfen« (an Cotta, G.s Lyrik eingebetteten Feststellungen des
16.11. 1810) -, kam nicht zustande. Kritikers berührten jedoch durchaus Grund-
Daß sowohl durch das Auffüllen der für die probleme jenes »schöpferischen Akts«, für den
Unger-Ausgabe geschaffenen Rubriken als der Band von 1806 kaum als überzeugendes
auch durch die lockere Ein- und Zusammen- Beispiel gelten kann. Ob G. die Überlegungen
ordnung von Neuem und älterem Ungedruck- Schlegels zur Kenntnis nahm, ist nicht be-
tem nicht zuletzt die ohnehin problemati- kannt; auf die späteren Sammlungen haben sie
schen, zudem undogmatisch angewandten jedenfalls nicht eingewirkt.
Gattungsbegriffe unscharf und schwankend
erscheinen mußten, stellte zuerst Friedrich
Schlegel fest. In seiner 1808 in den Heidel-
bergischen Jahrbüchern der Literatur erschie- Goethe's Werke (1815)
nenen, umfangreichen Rezension zu den Bän-
den eins bis vier der ersten Cotta-Ausgabe von
G.s Werken maß Schlegel den Gedichtband an Für die dreizehnbändige Werkausgabe hatte
prononcierten ästhetischen Voraussetzungen. G. mit Cotta ein achtjähriges Nutzungsrecht
Zu ihnen gehörte, daß z.B. ein Lied, unge- vereinbart. Bereits Ende 1812 erhielt der Ver-
achtet seines je besonderen Anlasses, »sich leger ein Expose, das für den ersten Band einer
auch von der Seele des Dichters ablösen, und neuen Ausgabe vorsah: »Kleinere Gedichte.
ein unabhängiges Leben in sich tragen« müsse, Dieser wird ansehnlich vermehrt, in-
»um zur Sage zu werden, und im Munde des dem was bisher einzeln abgedruckt oder unge-
Gesanges die Jahrhunderte durchwandein zu druckt vorhanden ist, eingeschaltet wird« (an
können<<. So seien »Lieder« überwiegend den Cotta, 12.11. 1812). Erst im Februar 1815 wa-
»objektiven Stimmen der Poesie« zuzurech- ren die Vorbereitungen bis zum »Contract« ge-
nen, im Unterschied zu »vermischten Gedich- diehen, und der Plan der nunmehr auf zwanzig
ten« als überwiegend »fragmentarischen, sub- Bände angelegten neuen Ausgabe sah für die
jektiven Ergießungen des Dichters«. Der in Gedichte zwei Bände vor, in folgender, z. T.
dieser Definition zunächst indirekt enthaltene bereits die Rubrikentitel festschreibender An-
Hinweis auf die Probleme der G .schen Ge- ordnung: 1. Zueignung. Lieder. Gesellige Lie-
dichtsammlung von 1806 ist deutlicher ausge- der. Balladen. Elegien. Episteln. Epigramme. -
sprochen hinsichtlich der dort festzustellen- 2. Sonette, »funfzehen«. T--ermischte Gedichte,
den Übergänge zwischen Lied und Romanze. »drey und dreyßig«. Antiker Form sich nä-
Der Rezensent akzeptierte sie einerseits - in hernd, »vier und zwanzig«. An Personen, »funf-
der Überzeugung, »daß diejenigen Lieder oder zehen«. »Kunst betreffend, zwölf. Parabelar-
Romanzen die vollkommensten sind, von de- tig, eilE«. Gott, Gemüth und Welt, »über funf-
nen es schwer sein würde zu entscheiden, ob zig«. Sprichwörtlich, »über zwey Hundert«.
24 Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827

Epigrammatisch. In andere Bände sollten selbst und dem Publikum umfassendere Re-
ebenfalls Gedichte aufgenommen werden: die chenschaft zu geben. Dabei ist zu bedenken,
Gedichte Im Namen der Bürgerschaft von daß in dem knappen Jahrzehnt zwischen dem
Carlsbad (Bd. 8), Parabeln, Legende, Hans Erscheinen der Gedichtbände der ersten bei-
Sachsens poetische Sendung, Auf Miedings den Cotta-Ausgaben nahezu ein Drittel der Ly-
Tod und der Epilog zu Schillers Glocke (Bd. rik G.s entstanden war - darunter ein großer
9). Teil der Divan-Gedichte, die nicht in die zu-
Neben dem Ziel, die abermals angewach- sammenfassenden Lyriksammlungen einbezo-
sene Quantität zu erfassen, traten Struktur- gen wurden.
und Ordnungsprinzipien jetzt wieder stärker Zu den prinzipiellen Entscheidungen ge-
in den Vordergrund. Außer dem detaillierten hörte diesmal- auf das Gesamtwerk bezogen -
Inhaltsverzeichnis und Entwürfen zu Vertrag der ausdrückliche, durch Wünsche des Publi-
und Anzeige enthielt G.s umfangreiche Sen- kums veranlaßte Widerspruch gegen chrono-
dung an Cotta vom 20.2. 1815 noch eigens logische Anordnung. Sie mußte dem Dichter
»B em e r k u ng en, zu den zwey ersten Bän- nicht nur im Hinblick auf die Gedichte als
den«. Sie zeigten erstmals wieder das von den Rückschritt hinter die seit der Italienreise mü-
Grundsätzen bis zur Einzelanordnung be- hevoll genug erarbeitete Objektivierung und
stimmte und bestimmende Engagement des als Gefährdung des Gewinns an kommunika-
Dichters für die zusammenfassende Darbie- tiver Reichweite erscheinen. In Cottas Mor-
tung seines lyrischen CEuvres. Wie früher ge- genblattvom 31.3. 1816 erläuterte er dem Pu-
genüber Göschen und durch seitdem gemachte blikum ausführlich, was er gegen eine chrono-
Erfahrungen noch mehr besorgt, bestand G. logische Anordnung einwenden wollte: Im
darauf, daß die im Manuskript der Gedicht- Unterschied etwa zur Arbeitsweise Schillers
bände »festgesetzte Ordnung nicht getrennt seien seine Werke »Erzeugnisse eines Talents,
werde«; insbesondere bat er »inständigst«, das sich nicht stufenweis entwickelt und auch
nichts eigenmächtig »anderwärts einzuschal- nicht umherschwärmt, sondern gleichzeitig
ten«. Auch die Anordnung vor allem kleiner aus einem gewissen Mittelpuncte sich nach
Gedichte auf dem Raum der Seiten bestimmte allen Seiten hin versucht«; das »wunderlichste
er voraus und wünschte, daß »ein geistreicher Gemisch« müßte aus der Zusammenstellung
Mann die beyden Bände Gedichte nochmals des Gleichzeitigen entstehen, sofern solche
durchsähe, und, sollte sich irgend ein Beden- Gleichzeitigkeit überhaupt zu ermitteln wäre -
ken finden, mir solches anzeigte«. Was früher »weil zwischen Entwurf, Beginnen und Voll-
von den Freunden erwartet wurde, sollte von endung größerer, ja selbst kleiner Arbeiten oft
nun an verschiedenen Redaktoren aufgetragen viele Zeit hinging« und der »öffentlichen Er-
werden. scheinung« vielfach weitere Umgestaltung
Wieder verwies das scheinbar Äußerliche vorausgehe (WA 1,41.1, S. 97f.). Dieses mehr-
auf die Substanz. Die Absicht des jetzt 65jäh- fach wiederholte Statement des Dichters hat
rigen Dichters, die Präsentation mit Repräsen- die Druckgeschichte der G.schen Werke nach-
tation zu verbinden, ist unverkennbar. War haltig beeinflußt, bewegt die Diskussion der
1789 mit der »Summa Summarum« indivi- Editoren auch im Hinblick auf G.s Lyrik noch
duelle Zwischenbilanz gezogen worden - an immer und wird gelegentlich als Autorität ge-
einem entscheidenden Lebenseinschnitt, den gen den längst erwiesenen andersartigen Er-
der Dichter mit Begriffen wie »Wiedergeburt« kenntnisgewinn ausgespielt, den chronologi-
und »neu es Leben« auszeichnete (Italienische sche Anordnung ermöglicht.
Reise. Rom, 2. u. 3.12. 1786) -, so erlaubten Die im Mai 1816 mit der Jahreszahl 1815
oder erforderten die «Lebens-Spuren welche erschienenen Gedichtbände, die die zwanzig-
man, damit das Kind einen Namen habe, Werke teilige Werkausgabe eröffneten (Bd. 1: 364 S.;
zu nennen pflegt« (an Zelter, 23.1. 1815), ein Bd. 2: 292 S.), entsprachen der angekündigten
Vierteljahrhundert danach die Intention, sich Anordnung. Der zweite Band brachte darüber
Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827 25

hinaus die Rubriken Cantaten (nach den So- 27, S. 110), bedurfte offenbar nach wie vor des
netten) und Aus Wilhelm Meister (nach den distanzierenden Ausgleichs. Und Symmetrie
vermischten Gedichten). Die Zueignung eröff- und Ensemblebildung, schon in den früheren
nete nunmehr die Gedichtsammlung und da- Sammlungen mit dem Streben nach Objek-
mit zugleich die von G. autorisierten und zahl- tivierung in Wechselbeziehung, bestimmten
reiche spätere Werkausgaben; der Bedeu- weiterhin die Sammlungsstruktur - in durch
tungshorizont des Gedichts erweiterte sich da- die veränderten Gesamtproportionen gewan-
durch beträchtlich. Allen Rubriken waren delter Gestalt.
neuerdings gereimte Zweizeiler von unter- Das betraf auch die neue Gruppe Gesellige
schiedlichem programmatischem Ernst voran- Lieder, die die gleichnamige, 1806 in die Lie-
gestellt. Die Bände acht und neun enthielten der eingearbeitete kleine Sammlung von 1803
die erwähnten Einzelstücke. Als Druckvorla- wieder verselbständigte und um neue Stücke
gen für die älteren Teile der zweibändigen wie Kriegsglück und OJfne Tafel erweiterte,
Sammlung dienten verschiedene Exemplare ohne alles, was dem ohnehin immer problema-
des Gedichtbandes von 1806, weiteres stützte tischer werdenden Ideal der harmonischen
sich auf Vorabdrucke; handschriftliche Druck- Geselligkeit verpflichtet war oder zu sein
vorlagen sind nicht überliefert. schien, streng zusammenzufassen. An die lok-
Die neue Gedichtsammlung besaß im Ver- kere Folge von verwandten Bildern in der Se-
hältnis zu den vorangegangenen »Ernten« na- quenz Stiftungs lied - Frühlingsorakel - Die
turgemäß zugleich originäre und konservie- glücklichen Gatten schloß G. jetzt das ältere
rende Züge. Gegenüber Carl Friedrich Zelter Bundeslied an, so daß der Kontrast zu Dauer
deutete G. dies an - »In den zwei ersten Bän- im Wechsel noch deutlicher als zuvor betont
den wirst Du manches finden das Quellenhaft wurde.
ist, Du wirst es sammeln und auf Deine Mühle Der zweite Gedichtband von 1815, die ei-
leiten« (23.1. 1815) -, und in einigen Rubriken gentliche Neuheit in dieser Sammlung, va-
ist es besonders deutlich ablesbar. Die Lieder- riierte die älteren Strukturen. In die bereits
in den Neuen Schriften noch eine schmale 1806 um die Lieder verringerten vermischten
Sammlung, 1806 erweitert - wurden jetzt um Gedichte beispielsweise wurde Ungedrucktes
Jugendgedichte sowie um acht neu entstan- aus den 70er Jahren eingefügt, z.B. Königlich
dene Stücke vermehrt (z.B. Gifunden); eine Gebet, Menschengifiihl, und zugleich wurden
größere Anzahl wurde den Geselligen Liedern zwei neue Rubriken herausgelöst: Unter dem
zugewiesen. Die auf den »guten Leser« rech- Titel Antiker Form sich nähernd erschienen
nende T1Jrklage bildete den neuen Auftakt; die die fast ausschließlich vor der Italienreise ent-
Anrede An die Günstigen, mit der zunächst der standenen Epigramme für sich, durch den Vor-
Gedichtband der Neuen Schriften begonnen spruch »Stehn uns diese weiten Falten / Zu
hatte, schloß sich jetzt an, die werbende Ab- Gesichte, wie den Alten?« noch zusätzlich in
sicht gleichsam verstärkend. Der andeutungs- Distanz gerückt zu den Elegien und Epigram-
weise noch spürbare, an die individuelle »Ge- men aus der Zeit der vollzogenen »Näherung«.
legenheit« erinnernde erzählende Zusammen- Die ebenfalls neue Rubrik Kunst brachte die
hang zwischen den Liedern wurde in meh- seit 1789 vereinigten Kunst- und Künstlerge-
reren beinahe ostentativ wirkenden Fällen dichte; hinzugefügt wurden das Sendschreiben
durch die Anordnung der Gedichte noch wei- von 1774 und das 1812 entstandene, der Pan-
ter zurückgedrängt, so z.B. in der dreiteiligen theismusdiskussion zugehörige ästhetische
Paarung Erster verlust/Nachgifiihl- Nähe des Bekenntnis Grqß ist die Diana der Epheser.
Geliebten/Gegenwart - An die Enifernte/Am Die bewährten und variablen Sammlungs-
Flusse. Die »große Confession«, zu deren fun- grundsätze wirkten weiterhin zusammen,
damentalem Anteil an seinem Schaffen sich G. ohne daß sie auf die sich ständig erweiternde
um diese Zeit längst ausdrücklich bekannte Skala von Themen und auf die wachsende
(Dichtung und Wahrheit, Siebtes Buch; WA I, Vielfalt der Formen strikt hätten angewendet
26 Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827

werden können. Am leichtesten waren ohne- lieferung. Dem Tagebuch zufolge stellte G.
hin zyklisch angelegte, auch formal zusam- diese Gruppe im Januar 1814 und im Januar
mengehörige Gruppen wie die Sonette darzu- 1815 zusammen; es handelte sich auch hierbei
bieten. Übergänge zwischen den auf die Orga- um Erstdrucke. Das in Dichtung und Tfuhrheit
nisation von Ensembles und den auf Gattungs- (Sechstes Buch) beschriebene frühe Interesse
oder Genrebestimmung zielenden Absichten G.s für diese Tradition galt zumindest teil-
sind an vielen Stellen zu bemerken. So eröff- weise auch dem kommunikativen Einverständ-
net Mignon die Balladen, obwohl in dieser nis in vielen Fragen allgemeinerer Lebens-
Sammlung erstmals eine Abteilung Aus Wil- erfahrung, das Sprichwörter teils vorausset-
helm Meister erschien, und die Rubrik Parabo- zen, teils optativisch formulieren. Daß der
lisch ist durchaus gemischt zusammengesetzt- Bedarf an solcher Übereinstimmung in Krisen-
von der ebenfalls neuen, gelegentlich als eine zeiten stärker hervortritt, mag an G.s Samm-
Art Notbehelf anmutenden Gruppe von Ge- lung mitgewirkt haben, deren zweiter Band
dichten An Personen zu schweigen, die von der durch diese Gedichtgruppen kräftige neue
schwerwiegenden Bilanz des Ilmenau-Ge- Töne gewann. Auch der satirisch-aggressive
dichts bis zu belanglosen Glückwunschversen Zug der um die gleiche Zeit entstehenden
reicht. Solche Beispiele können zugleich als Zahmen Xenien ist schon spürbar, besonders in
Warnung dienen vor übertrieben systematisie- der Schlußgruppe Epigrammatisch, in deren
render Interpretation der in G.s Gedicht- Vorspruch G. eher ironisch »Tiefen Sinnes
samml ungen feststellbaren Strukturprinzi- heitre Wendung« versprach. Im Unterschied
pien, in denen keineswegs alles »aufgeht«. zu den Epigrammen im klassischen Versmaß
Die Gruppen Gott, Gemüth und Welt - sind hier Sprüche in vielfältigen Formen mit
Sprichwärtlich - Epigrammatisch, mit denen pointierten Überschriften zusammengestellt,
die Sammlung von 1815 schließt, dokumen- darunter einzelne aus den 70er und 90er Jah-
tierten erstmals kompakt die frühzeitig in G.s ren.
Schaffen mitwirkende, nach der Jahrhundert- Mit der Ausgabe von 1815 war G.s Bestre-
wende merklich verstärkte und ausgreifende ben, seine Lyrik in den Werkausgaben in »be-
Neigung zur Spruchdichtung. Die erste Ru- deutender« Ordnung darzubieten, auf eine
brik, deren Vorspruch tausend und mehr neue Stufe gelangt. Zugleich ermöglichte die
Stücke ankündigt - »Wird nur erst der Himmel Lyrik in diesem Stadium im Vergleich zu den
heiter« -, umfaßt zunächst nur 41 gereimte übrigen Gattungen und Arbeitsbereichen eine
Zwei- und Vierzeiler sowie zwei ebenfalls ge- speziell komprimierte Art des Überblicks über
reimte Sechszeiler mit besonders gewichtigen Entwicklungen, Schwankungen, Vor- und
Aussagen: Tfus wär ein Gott und Im Innern ist Rückgriffe, gereifte und abgebrochene Ten-
ein Universum auch. Die Sprüche haben keine denzen, Kontinuitäten und Widersprüche, die
Überschriften, sind teilweise dialogisch zu- G.s Schaffen in unterschiedlicher Ausprägung
sammengestellt und in der Sammlung von und Intensität insgesamt bestimmten.
1815 erstmals gedruckt. Die Begriffe Gott, Ge-
müt und Welt erscheinen als Zusammenhang
im Bezug auf Natur und Mensch, so daß die
Annahme naheliegt, es handele sich bei diesen Ausgabe letzter Hand
Sprüchen um ein kondensierendes Surrogat
für das seit dem Ende der 90er Jahre geplante,
didaktisch intentionierte, niemals ausgearbei- Naturgemäß verstärkten sich Wunsch und Ab-
tete Naturgedicht (Eibl 1988, S.1004-1006). sicht des Dichters, sein Werk repräsentativ
Demgegenüber finden sich in der mehr als und gleichsam testamentarisch zu »hinterlas-
zweihundert Stücke enthaltenden Gruppe sen«, in den folgenden Jahren. Die Konzeption
Sprichwärtlich überwiegend Adaptionen aus für die »Vollständige Ausgabe letzter Hand« -
der neuhochdeutschen sprichwörtlichen Über- der Untertitel zeigte ausdrücklich den ab-
Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827 27

schließenden Status an - gewann schon im den zunächst abschließenden Abteilungen


Frühjahr 1822 erste Konturen, und die Sorge, IV-VI der Zahmen Xenien. Auf diese beiden
ob er die Vollendung des großen Unterneh- Bände bezog sich G.s Äußerung im Brief an
mens erleben werde, gehörte wohl zu den Zelter vom 5.8.1825: ))Die zwei neuen Bände
stärksten Motiven für die intensive Vorberei- kleine Gedichte, in welchen Du kaum etwas
tungs- und Mitarbeit, die G. an diese Ausgabe Neues finden wirst, habe ich mehrmals umge-
wandte. Es sollte die Möglichkeit geschaffen ordnet um sie auf eine anmutige Weise an
werden, daß Redaktoren wie Friedrich Wil- einander zu gesellen. Sie sind in widerspre-
helm Riemer, Johann Peter Eckermann u.a. chenden Zuständen hervorgetreten, in einem
die Ausgabe selbständig weiterführen und ab- allgemeinen Rahmen nun friedlich zusammen
schließen könnten. zu erscheinen«. In der Tat hatte G. dem Freund
Für die Lyrik bestand solcher Vorsorge-Be- vieles von dem bisher Ungedruckten bereits
darf nur in begrenztem Maße, da G. die beiden mitgeteilt, und die )mmordnende« Beschäfti-
Gedichtbände von 1815 bereits als Zeugnisse gung mit dem reichen Material ist in G.s Tage-
»letzter Hand« betrachtete. Zur Vervollständi- büchern aus diesen Jahren als Faktum vielfach
gung sah ein Schema von Anfang Mai 1822 lakonisch bezeugt. Daß die beiden Bände nicht
zunächst weitere, noch nicht endgültig geson- nur ))kleine Gedichte« enthielten, blieb in der
derte Rubriken vor: ))Hohen Personen u. den brieflichen Ankündigung ebenso dahingestellt
Ihrigen / Freunden u. Liebchen. / Loge. / Ans wie in G.s Anzeige der Ausgabe letzter Hand
Theater geknüpft. / L Y r i s c h e s. / Politika. / vom 1.5. 1826, in der es über diese Bände
Gott und Welt. / Zu Faust. Zahme Xenien. / lediglich hieß, sie enthielten ))Neues, Bekann-
Erotika. / Juvenilia. / Moralia. / Allgemei- tes gesammelt, geordnet und in die gehörigen
nes. / Invectiven« 0'VA III, 8, S. 37Of.). Dieser Verhältnisse gestellt« 0'VA I, 42.1, S. 109f.).
Plan erfuhr beträchtliche Veränderungen: Die Im dritten Band kamen die zuvor erprobten
beiden Gedichtbände von 1815 eröffneten Strukturprinzipien noch einmal neu zur Gel-
1827 die letzte autorisierte Ausgabe von Goe- tung. Der Titel der eröffnenden Gruppe - Ly-
the's Werken (Bd. 1: 408 S.; Bd. 2: 310 S.). risches - kann einerseits als bloß formales Pen-
Hinzugefügt waren lediglich die Schlußstücke dant zur Abteilung Dramatisches im folgenden
Epoche und Charade zum Zyklus der Sonette. Band verstanden werden, gewinnt jedoch an-
Es konnte dabei nicht bleiben, denn nichts gesichts des exzeptionellen Gewichts der hier
weniger als bloße ))Nachlese« von Überbleib- erstmals zusammengeführten Gedichte auch
seln stand bevor. Die Fülle und der themati- essentielle Bedeutung. Das unleugbar diffizile
sche wie der gestalterische Reichtum der nach Verhältnis zwischen Selbständigkeit einerseits
1815 entstandenen Lyrik G.s ist bis heute frap- und durch die Zusammenordnung dennoch er-
pierend. Ein dritter gewichtiger Band erschien kennbaren Abhängigkeiten der einzelnen Be-
1827; er enthielt fast ausschließlich Gedichte standteile untereinander andererseits kann
aus dieser späten Schaffensphase, von denen nur durch eindringliche Einzelinterpretatio-
nur wenige zuvor gedruckt worden waren (296 nen bestimmt werden, die wiederum nicht
S.; überlieferte Druckvorlage H!48). Der im ohne kritische Einbeziehung der Kommentare
gleichen Jahr folgende, gleichfalls mit dem auskommen werden, mit denen G. mehrere
Obertitel Gedichte angekündigte vierte Band dieser Gedichte selbst ausgestattet hat. Der
(394 S.; überlieferte Druckvorlagen H!48a, Terminus ))Alterslyrik« erreicht, auch wenn er
HZ7!) ist als Komprorniß anzusehen, der denn nicht allein auf die Chronologie bezogen
doch der Absicht zu dienen hatte, noch mög- bleibt, längst nicht alle hier einschlägigen
lichst vieles )mnterzubringen«; Dramatisches Spezifika.
ist dort zusammengestellt mit einer neuen Am Anfang der Gruppe steht Ballade, ge-
Gruppe an Personen gerichteter versifizierter folgt von der ebenfalls einem langen Inkuba-
Inschriften, Denk- und Sende blätter sowie da- tions- bzw. Entstehungszeitraum zuzuschrei-
zugehörigen Aufklärenden Bemerkungen und benden Paria-Trilogie. Erst für die neue
28 Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827

Sammlung zur Trilogie der Leidenschaft zu- Gefühl zusammenfassenden Begriff »Gemüt«,
sammengefUgt, schließen sich an: An Werther, der ihm inzwischen suspekt geworden war:
die Marienbader Elegie und die in den an Per- »Die Deutschen sollten in einem Zeitraume
sonen gerichteten Inschriften des vierten Ban- von dreißig Jahren das Wort Gemüth nicht
des wiederholte Aussöhnung. Diese jeweils aussprechen, dann würde nach und nach Ge-
gesondert zu beachtende Art des »Doppel- müth sich wieder erzeugen; jetzt heißt es nur
drucks« hat G. in der Sammlung von 1827 Nachsicht mit Schwächen, eignen und frem-
mehrmals praktiziert. Es folgen einige klei- den« (MuR, 340). Der redensartlich-beliebige
nere Gedichte, die zu einer auf Monate und Charakter der Formel »Gott und Welt« ist in
Jahreszeiten bezüglichen, in Über Kunst und der 1827 neu formierten Gruppe von Gedich-
Alterthum (11, 3, 1820) bereits vorabgedruck- ten kaum spürbar. Vielmehr ist es der schon in
ten Sequenz hinfUhren. Einige aus den 80er den Sprüchen von 1815 feststellbare, weit aus-
Jahren stammende, aber erst 1820 veröffent- greifende Bezug auf den Naturgedicht-Plan,
lichte Gedichte - Für ewig, Zwischen beiden der in der neuen Rubrik noch intensiver zum
Welten, Aus einem Stammbuch von 1604 - Ausdruck kommt. Die einheitliche, zugleich
konnten nur Eingeweihte an frühere »Epo- poetisch deklarierende und didaktisch wer-
chen« im Leben des Dichters, etwa an die Be- bende Grundintention ließ aus den 1827 erst-
ziehung zu Charlatte von Stein erinnern. Der mals zusammengestellten Stücken noch ein-
Ort dieser Gedichte in G.s später Sammlung mal ein lyrisches Ensemble von höchster Aus-
machte die »Gelegenheiten« in einem Grade druckskraft entstehen, in dem untereinander
unkenntlich, der das Verständnis für die Ge- korrespondierende Gedichte in komplementär
dichte lange Zeit eher blockierte. Auch die gegliederten Binnengruppen das Fazit der
nahezu irrational getönte Beziehung der 1818 Welt- und Naturanschauung des Dichters ver-
entstandenen Strophen Um Mitternacht zu mächtnishaft komprimierten (Eibl 1988,
Emotionen aus der Zeit der ersten Italienreise S.1072f.). Das thematische und ästhetische
G.s berührte einen Jahrzehnte überspannen- Eigengewicht der einzelnen B~standteile ist in
den Lebens- und Erfahrungsbogen, der aber diesem Fall ohne konsequente Berücksichti-
gleichfalls nicht »öffentlich« vorgezeigt wurde gung des jeweiligen Ortes in der Gedicht-
(G. an Zelter, 16.2. 1818). Es folgen einige, sammlung kaum vollständig zu ermitteln. Die
nicht nur zeitlich z. T. dem Divan naheste- Sequenz beginnt mit dem Prooemion - dem
hende Gedichte. Am Schluß dieser Gruppe die aus der Sammlung von 1815 wiederholten
steht das Wanderlied, dessen Strophen in der Sechszeiler /#;ZS wär ein Gott und Im Innern ist
ersten Fassung von Wilhelm Meisters Wander- ein Universum auch angefügt wurden - und
jahren auf mehrere Stellen verteilt gewesen führt über das Divan-Gedicht Wiederfinden zu
waren. Daß hier Lyrisches dem Anschein nach den ebenfalls aus der Sammlung von 1815 in
teils willkürlich, andernteils dennoch bezie- den ersten Band der letzten Ausgabe über-
hungsreich zusammengestellt ist, läßt beson- nommenen, in der neuen Rubrik in neuem
dere Behutsamkeit bei der Beurteilung des Bezugssystem - vor Eins und Alles - wieder-
Verfahrens geraten erscheinen. Auszuschlie- holten Gedichten Weltseele und Dauer im
ßen ist aber wohl die bequeme Zuschreibung Wechsel. Eingebettet in die Trias von Parabase,
an den Zufall, der durch G.s intensive Teil- Epirrhema und Antepirrhema wie in antikisie-
nahme an der Vorbereitung dieser Sammlung rend-kommentierende Einreden des Autors,
kaum Spielraum erhalten haben dürfte. schließen sich die bereits im ersten Band unter
Nach der hier erstmals eingefUgten, sechs den Elegien enthaltene Metamorphose der
Gedichte enthaltenden Rubrik Loge folgt dann Pflanzen und die Metamorphose der Tiere an.
der zweite Hauptteil dieses Bandes: Gott und Die Urworte. Orphisch können als selbstän-
Welt. G. reduzierte den 1815 fUr die Gruppie- diges Zentrum angesehen werden, obwohl sie
rung weltanschaulicher Sprüche neu einge- nicht den numerischen Mittelpunkt einneh-
fUhrten Titel um den zunächst Verstand und men. Diesen Strophen folgt eine kleine Reihe
Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827 29

von meist zuvor in G.s naturwissenschaftli- Eckermann, der sich als Sammler und Redak-
chen Zeitschriften gedruckten, gleichfalls kor- tor der Werke G.s längst bewährt hatte und
respondierenden Gedichten zur Wolken- und dessen Eifer gelegentlich Anerkennung und
Farbenlehre. Das zunächst den Zahmen Xe- Spott zugleich erntete: »Eckermann schleppt,
nien zugehörige Ultimatum über den »Kern wie eine Ameise, meine einzelnen Gedichte
der Natur« im Herzen des Menschen macht zusammen; ohne ihn wäre ich nie dazu ge-
den Schluß. Als Satyrspiel folgt noch der Dia- kommen; es wird aber gar artig werden; er
log Die Weisen und die Leute als »dramatisch- sammelt, sondert, ordnet und weiß den Din-
lyrischer Scherz« (Tag- und lahreshifte 1814), gen mit großer Liebe etwas abzugewinnen«
in dem verschiedene antike Philosophen auf- (an Schultz, 8.3. 1824). Am 30.11. 1830 erhielt
dringlich-naive Fragen nach allen möglichen Eckermann alte und neue Materialien mit der
Welträtseln ironisch abfertigen. Das ausdrück- Anweisung, »beykommende schon bekannte
lich »testamentarisch« formulierte vermächt- Gedichte nochmals durchzugehen, die [ ... ]
nis entstand erst 1829; es erschien in der Aus- neueren einzuordnen, damit es sich zum Gan-
gabe letzter Hand im Anschluß an die Betrach- zen schicke«. In dieser Sendung war nichts von
tungen im Sinne der Wanderer (Bd. 22, 1829) den Gedichten enthalten, die G. den »Incom-
und wurde in der späteren Druckgeschichte municabilien« zurechnete und über deren spä-
häufig der Gruppe Gott und Welt zugeordnet. tere Publikation er den »verbündeten Freun-
In drei Rubriken wurden 1827 Kriterien und den« die Entscheidung überließ (WA I, 42.2,
Gruppentitel von 1815 wieder aufgenommen. S. 54f.). Schon 1832 begannen Goethe's nach-
Das diesen Bereichen zugehörige neue Mate- gelassene Werke zur Ergänzung der Ausgabe
rial gab offenbar keinen Anlaß, in die in man- letzter Hand zu erscheinen. Nachgelassene
cherlei Sinne geschlossene Struktur der Bände Gedichte brachte zunächst der 47. Band (1833,
von 1815 ergänzend oder umformend einzu- 268 S.), dessen Inhalt wohl noch auf die An-
greifen - ganz abgesehen davon, daß solche weisungen G.s bezogen war; er enthielt u.a.
Veränderungen aufwendige praktische Konse- die Chinesisch-Deutschen lahres- und Tages-
quenzen bis hin zu Druckkosten mit sich ge- zeiten, die Dornburger Gedichte aus dem Jahr
bracht hätten. Eine neue Abteilung Kunst 1828 und drei weitere Gruppen Zahme Xenien
brachte nun im dritten Band der letzten Aus- (VII-IX). Im 56. Band (1842) wurden schließ-
gabe außer lyrischen Betrachtungen über lich Vermischte Gedichte mit Prosatexten
Kunst und Künstler auch Gedichte zu einzel- u.a.m. zusammengestellt. Der von zahlrei-
nen Kunstwerken, so die kleinen Zyklen über chen äußerlichen Faktoren bestimmte Charak-
Wilhelm Tischbeins Idyllen und Zu meinen ter des lyrischen Nachlasses hätte die konse-
Handzeichnungen. Die neuen Abteilungen quente Anwendung der G.schen Sammlungs-
Epigrammatisch und Parabolisch entsprachen prinzipien, sofern sie ins Auge gefaßt worden
thematisch und im Sprachgestus weitgehend wäre, kaum ermöglicht.
den Vorgängern von 1815. Das drastische valet
machte den Schluß, an Invektiven des jungen
G. erinnernd. Erstmals brachte dieser Band
eine Auswahl von Übersetzungen und Nach- Wirkungen
dichtungen: Aus fremden Sprachen. Sprüche
erschienen diesmal in Gestalt der Zahmen Xe-
nien (I-III), die im vierten Band fortgesetzt Andere Autoren griffen auf G.s Verfahren nicht
wurden (IV-VI). zurück. Es dürfte nicht übertragbar gewesen
sein - weder im Hinblick auf die Substanz
Schon ehe die Ausgabe letzter Hand zu er- noch im Hinblick auf das Verhältnis des Dich-
scheinen begann, faßte G. Ergänzungen ins ters zu seinem Werk, am wenigsten angesichts
Auge (an Johannes von Müller, 23.2. 1826). der schon im weiteren Verlauf des 19. Jhs.
Zum Herausgeber des Nachlasses ernannte er insbesondere auch in den literarischen Markt
30 Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827

hineinwirkenden Wandlung der historischen angewandt. Die Weimarer Ausgabe hat zuerst
Bedingungen. Selbst in unmittelbarer Nähe die Struktur der Nachlaß-Bände der Ausgabe
wurden G.s Kompositionsprinzipien nur an- letzter Hand aufgenommen und weitere Ru-
satzweise wirksam. Während G. den Gedicht- briken - aus den von G. vorgegebenen Samm-
band von 1800 vorbereitete, unterzog Schiller lungen sowie einige neue - mit entsprechend
seine im gleichen Jahr erscheinenden Ge- geordneten Inhalten hinzugefügt, schließlich
dichte einer strengen Revision, deren Krite- eine letzte »Nachlese« nachgetragen (WA I, 4,
rium seine ästhetischen Grundsätze waren, 5.1,5.2). Damit war ein lange wirksames edi-
hinter die biographisch-chronologische oder torisches Modell geschaffen. Das folgenreich-
weltanschauliche und historische Aspekte ste Ergebnis war die ausdrückliche oder still-
weitestgehend zurückzutreten hatten. In die- schweigende Favorisierung der »letzten«,
sem Betracht könnte zwar auch hier von dem nicht nur zeitlich, sondern auch ästhetisch als
Streben nach Objektivierung gesprochen wer- »endgültig« angesehenen Gestalt der G.schen
den. Auf Schillers Anordnung seiner Gedichte Gedichte. Autorisation wurde vom Ende her
jedoch scheint der Austausch mit G. zunächst fetischisiert, was modernisierende Eingriffe in
kaum eingewirkt zu haben. Gegenüber der in Orthographie und Interpunktion aber nicht
G.s Absichten zunehmenden Tendenz zur verhinderte. Der individuelle Eigenwert und
»Ernte« dominierte für Schiller der Wunsch, die für den jeweiligen genetischen oder durch
Gedichte auszuschließen, die seinen veränder- den Erstdruck fixierten Zeitpunkt gleichfalls
ten künstlerischen Maßstäben nicht mehr ge- gegebene Legitimität der verschiedenen Fas-
recht zu werden schienen. Die unvollendete sungen wurden erst allmählich akzeptiert. Mit
»Prachtausgabe«, die die früheren Gedicht- jener Fetischisierung verband sich vielfach die
sammlungen neu geordnet repräsentativ dar- Kanonisierung des Widerspruchs, den G. seit
bieten sollte, beschäftigte Schiller noch in sei- 1815 gegenüber chronologischer Anordnung
nen letzten Lebensmonaten. Das überlieferte seiner Werke so nachdrücklich erhoben hatte.
Manuskript läßt erkennen, daß hier zumindest Erst spät wurde das chronologische Prinzip auf
die von G.1799/1800 vorgenommene gat- das Corpus der Lyrik gelegentlich angewen-
tungsbezogene Einteilung der Gedichte als det. Hans Gerhard Gräf ordnete Goethes Ge-
Vorbild gedient hat. dichte in zeitlicher Folge (1916). In der Berli-
Tieck hat die Sammlungen seiner Gedichte ner Ausgabe wurde der Versuch unternom-
schon in den zwanziger Jahren ganz indivi- men, in Anlehnung an die Behandlung des
duellen Kriterien unterworfen (Reitmeyer, lyrischen Nachlasses durch die Weimarer Aus-
S. 121-188), und für die von Heinrich Heine, gabe alle späteren Funde in chronologischer
Nikolaus Lenau oder Joseph von Eichendorff Reihenfolge in das vorgeprägte System ein-
veranstalteten Ausgaben ihrer Lyrik ist ein zufügen (BA 2). Die Münchner Ausgabe teilt
Rückbezug auf das G.sche Modell bisher eben- die Gedichte den »Epochen« zu, in die sie G.s
sowenig ermittelt worden wie für Autoren des Schaffen gliedert. Sowohl das auf die Geltung
späteren 19. und des 20. Jhs. der von G. vorgelegten Sammlungen insistie-
rende als auch das chronologische Verfahren
Die eigentliche Nachwirkung der Prinzipien, sind nicht ohne Kompromisse anwendbar.
die G. für die Sammlungen seiner Gedichte Doch beide Verfahren ermöglichen spezielle
entwickelt hat, betraf die spätere Druck- und Erkenntnisse.
Wirkungsgeschichte dieser Lyrik selbst. In der Für die wechselnden, die Wirkungsge-
sog. Quartausgabe (Bd. 1, 1836) wurden erst- schichte reflektierenden und mitbestimmen-
mals weitere nachgelassene Gedichte in die den Methoden der Forschung und Interpreta-
vorhandenen Rubriken eingefügt, ohne Rück- tion waren die Genese der G .schen Gedichte
sicht auf die innere Komposition der Gruppie- und das Verhältnis zwischen ihren Versionen
rungen. Dieses mehrfach wiederholte Verfah- stets von Interesse. Für einzelne Gedichte, Zy-
ren wird in neueren Publikationen kaum noch klen und Gruppen wurden auch G.s Sammlun-
Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827 31

gen als Produktions- und Wirkungsstufen her- ferische Akte« des Dichters repräsentieren.
angezogen. Die Sammlungen selbst sind nur Solche Analysen könnten auch das Verhältnis
selten zum Forschungsgegenstand avanciert. zwischen den genetischen Prozessen in G.s
Eine Ausnahme bildet dank der günstigen lyrischem ffiuvre und den nicht zuletzt wir-
Überlieferungslage die Sammlung aus den kungsstrategisch auf Selbst-Historisierung
Schriften; die erhaltenen Manuskripte wurden zielenden Aspekten seines Schaffens deutli-
faksimiliert vollständig gedruckt und erläutert cher erhellen.
(vgl. Hahn). In den Kommentarteilen der ver-
schiedenen G.-Editionen sind die Gedicht-
Sammlungen ebenfalls - jeweils zweckbezo- Literatur:
gen - beschrieben. Über die positivistische Eibl, Karl: Komm. in FA I, 1 u. FA I, 2. - Ders.:
Grundtendenz dieser Mitteilungen ging Karl Consensus. Eine Denkfigur des 18. Jahrhunderts als
Eibl in den von ihm herausgegebenen Gedicht- Kompositionsprinzip Goethescher Gedichtsamm-
bänden der Frankfurter Ausgabe hinaus, in- lungen. In: Literarhistorische Begegnungen. Fs.
dem er behutsam die philologischen Befunde Bemhard König. Hg. von Andreas Kablitz und Ulrich
Schulz-Buschhaus. Tübingen 1995, S. 29-41. - Goe-
zu G.s strukturierenden Absichten und zu de-
the 's Schriften. Bd. 8. Leipzig 1789: vermischte Ge-
ren Ergebnissen in Beziehung setzte. Spezielle dichte, S.89-286; Johann Wolfgang Goethe. ver-
Untersuchungen zu den von G. autorisierten mischte Gedichte. Faksimiles und Erstdrucke. Hg.
Gedichtsammlungen wurden nur selten unter- von Karl-Heinz Hahn. Leipzig 1984. - Goethe's neue
nommen, naturgemäß im Rahmen der jewei- Schriften. Bd. 7. Berlin 1800. - Goethe's Werke. Bd.
ligen Methode. Wilhelm Scherer legte am Be- 1. Tübingen 1806. - Goethe's Werke. Bd. 1-2. StuU-
gart und Tübingen 1815. - ALH 1-4. - Gräf, Hans
ginn der G.-Philologie die erste seriöse Be-
Gerhard (Hg.): Goethes Gedichte in zeitlicher Folge.
standsaufnahme vor. Elisabeth Reitmeyer ver- Leipzig 1916. - Ouo, Regine (Hg.): Goethe. Poeti-
folgte die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sche Werke. BA 2. Gedichte. Nachlese und Nachlaß.
der Sammlungen einfühlsam, auf der Suche Berlin 1966, S. 605-605. - Reitmeyer, Elisabeth: Stu-
nach Zyklen und Symmetrie gelegentlich zur dien zum Problem der Gedichtsammlung mit einge-
Überinterpretation neigend. In jüngster Zeit hender Untersuchung der Gedichtsammlungen
Goethes und Tiecks. Bem, Leipzig 1935. - Rogers,
hat Karl Eibl dem Einwirken sozial- und ideen-
Gretchen L.: Die Textgeschichte der Gedichte Goe-
geschichtlicher Prozesse auf G.s poetische und thes. Diss. (masch.). Baltimore 1958. - Scherer, Wil-
poetologisch strukturierende Arbeitsweise helm: Über die Anordnung Goethe'scher Schriften.
auch von den Gedichtsammlungen her nachge- I-III. In: GoetheJb. 3 (1882), S. 159-173; GoetheJb.
fragt. Als wünschenswert erscheinen weitere 4 (1883), S. 51-78; GoetheJb. 5 (1884), S. 257-287.
Analysen der Sammlungen als spezieller Regine OUo
Werke, die in unerschiedlichem Grade »schöp-
32

Frühe Lyrik. 1767-1770 tät des ihm entsprechenden literarischen Stils


mit bürgerlichen Themen und im »empfindsa-
men« Ton überdeckt, aber er hatte damit nur
um so mehr einer gedämpften, vernünftigen
Ausgeglichenheit das Wort geredet. Er mar-
Der Aufbruch nach Leipzig
kierte ebenfalls längst nicht mehr die Höhe
der Zeit, grundierte aber doch den aufgeklärt-
Als G. am 9.10. 1765 in Leipzig eintraf, um rationalistischen Horizont, vor dem sich das
dort Jura zu studieren, waren das - so sagte er Leipziger literarische Leben der 60er Jahre
jedenfalls später - nicht unbedingt der Ort und des 18. Jhs. abspielte. Immerhin sammelte G.
das Fach seiner Wahl; er wäre lieber zum Phi- in Gellerts und dann auch in Christian August
lologiestudium an die neue Universität Göttin- Heinrich Clodius' Kollegs neue Kenntnisse,
gen gegangen, die in jenen Jahren aber wohl die er flugs an seine Schwester Cornelia wei-
noch nicht ganz so »modern« war, wie ihr Ruf tergab, und er erlebte darin unliebsame Über-
es ihr nachsagte, wenngleich die philologi- raschungen, die seinem Selbstwertgefühl
schen Arbeiten von Johann David Michaelis nicht eben schmeichelten: Seine spontane -
und Christian Gottlob Heyne die Neugriin- und wohl auch eher altväterlich frankfurtische
dung respektabel machten. Nach Leipzig zog - Produktion hielt der auf Regeln gestützten
er, weil sein Vater - aus eben denselben Er- Kritik nicht stand. Diese Erfahrung führte zu
wägungen - es so wollte, nur daß das dortige einer Schaffenskrise.
geistige Leben inzwischen auch nicht mehr Allerdings darfman sich von den intellektu-
ganz so »modern« war, wie der alte Herr ellen Zuständen im Leipzig der 60er Jahre des
meinte. In jedem Fall aber zeigt beider Orts- 18. Jhs. keine zu übertriebenen Vorstellungen
wahl, daß es ihnen nicht allein um die reine machen; was man etwa in Dr. earl Friedrich
Wissenschaft ging, sondern auch und viel- Bahrdts Geschichte seines Lebens (1790/91)
leicht sogar in erster Linie um das »kulturelle über seine Leipziger Abenteuer während die-
Umfeld«. Und da hatte Vater G. im Hinblick ser Jahre zu lesen bekommt, triibt das Bild
auf die öffentliche Karriere seines Sohnes vom geistigen Leben zumindest an der dorti-
möglicherweise den klareren Blick, denn gen Universität arg ein. In Leipzig, so urteilte
Leipzig war zumindest »fashionable«. dieser Aufklärer riickschauend, würde er »nie
Die alte Messe- und Universitäts stadt hatte zu der Aufklärung [ ... ] gekommen seyn«
Halle, das ein halbes Jahrhundert zuvor durch (S.332).
Christian Thomasius zum Mekka der »Galan- Die Konfrontation mit der ihm neuen Atmo-
ten« gemacht worden war, längst abgelöst. In sphäre hätte ftir den jungen Studenten G. nicht
der Lindenstadt war mittlerweile der Geist schmerzvoller ausfallen können. Noch ein hal-
Christian Wolffs in Gestalt seiner Schüler ein- bes Jahrhundert später, als der Etablierte sich
gezogen. Der wichtigste von ihnen, Johann in seinen Erinnerungen über diesen wichtigen
Christoph Gottsched, war, wie G. später in Einschnitt in seinem Leben Rechenschaft ab-
Dichtung und Wahrheit sarkastisch beschrei- legte, widmete er diesem - wie wir heute sa-
ben sollte, sogar schon zum Denkmal seiner gen würden - Kulturschock überraschend viel
eigenen Antiquiertheit geworden - was aller- Platz; ausftihrlich beschreibt er, wie er, der
dings nichts daran änderte, daß er der Schul- Frankfurter Honoratiorensahn, in eine voll-
meister aller jener Musensöhne gewesen war, kommen neue Welt eintrat und mit welchen
die, wie Gotthold Ephraim Lessing, glaubten, Anpassungsschwierigkeiten er zu kämpfen
seiner ungestraft spotten zu können. Eine an- hatte. Diese Konfiguration erregt weit über
dere, jüngere Leipziger Beriihmtheit war das Biographische hinaus die Aufmerksamkeit
Christian Fürchtegott GelIert. Er hatte zwar des Historikers, weil sie drastisch die tatsäch-
die rationale Kühle des Wolff-Gottschedschen liche Gleichzeitigkeit von höchst Ungleich-
Denkens und die klassizistische Traditionali- zeitigem demonstriert, die nur zu leicht hinter
Frühe Lyrik. 1767-1770 33

unserer glatten, zumeist aus Programmschrif- Preußens seine Politik des »Retablissements«,
ten abgelesenen Vorstellung von »Aufklärung« die nicht allein als eine mentale, d.h. kultu-
verlorengeht: Es stießen zwei Mentalitäten, relle Erneuerung gedacht war, sondern es
zwei in sehr unterschiedlichen Lebensverhält- wurde in deren Kontext auch Literaten wie
nissen ausgebildete Orientierungsmuster hart Geliert oder den »Bremer Beiträgern« eine
aufeinander. G. kam aus einer im Prinzip noch wichtige orientierende Rolle zugeschrieben.
alteuropäischen Gesellschaft. Die Freie Man zog aus jahrzehntelangem Projektieren
Reichsstadt Frankfurt blickte in die Vergan- praktische Schlüsse: Man sann über eine Ver-
genheit, sie hing - wenn auch vielleicht mit einfachung der Rechtslage und der Gesetzge-
viel Sentimentalität - an des alten Reiches bung nach, richtete das wirtschaftliche Han-
Herrlichkeit, die anläßlich der Herrscher- deln auf ökonomische Ziele aus, reduzierte -
wechsel zur lahrhundertmitte in relativ kur- gegen erhebliche Widerstände - das Heerwe-
zen Abständen mit den Feierlichkeiten zu den sen, organisierte das öffentliche Finanzwesen
Kaiserkrönungen theatralisch zelebriert neu, förderte das Manufakturwesen, gestaltete
wurde. Die städtische Gesellschaft war - trotz die Zoll politik großzügiger, verbesserte das
moderaten Änderungen und trotz Lockerun- Straßen- und Wasserwegenetz. Dieser hoff-
gen, wie sie etwa im sozialen Aufstieg der nungsvolle Aufbruch bestimmt nicht zum we-
Familien Textor und Goethe unmittelbar erlebt nigsten unser Bild von der hellen, optimisti-
werden konnten - eine ständische geblieben. schen Aufklärung in Deutschland mit. Andern-
Leipzig dagegen blickte nach vorn. Schon daß orts mischten sich bereits, etwa in der gei-
die Stadt »Klein-Paris« genannt wurde, zeigt stigen Verarbeitung des Erdbebens von
an, in welchem Maße sie sich in die Gegenwart Lissabon (1755) oder der Schriften Rousseaus,
hinein, nach Europa orientierte. Zwar war ihre entschieden komplexere und auch düstere
Gesellschaft noch keine nach späterem Ver- Züge in die Interpretation der Welt. In Leipzig
ständnis offene, aber der moderne Messebe- und in Deutschland reichte es zunächst nur zu
trieb, das neue Zentrum der aufgeklärt-nord- einer Melancholisierung in der Art von Ewald
deutschen Buchproduktion und selbst die Uni- von Kleist oder Christian August Clodius.
versität öffneten die Stadt flir die Tendenzen
des zeitgenössischen Europa, zumal die räum-
liche Trennung vom sächsischen Hof in Dres-
den und von den dortigen Behörden der Ent-
faltung bürgerlicher Lebensformen förderlich
war. Zurückblickend beschreibt G. exakt, was Neuordnung des literarischen
er zu leisten hatte: sich vom »Altdeutschen«
Marktes in Deutschland und die
zum "Stutzer« zu wandeln.
Rolle Leipzigs

Zur gleichen Zeit vollzog sich im kulturell-


Die Stimmung des literarischen Leben Deutschlands ein funda-
mentaler, nachgerade revolutionärer materiel-
»Retablissements«
ler Umbruch, der flir einen Schriftsteller wie
G. wegweisend, ja bedingend wurde: Das Ver-
G. kam zu einem sehr markanten Zeitpunkt lagswesen, die organisatorisch-materielle
nach Leipzig: Kur-Sachsen hatte nach dem Tod Grundlage der neuen, der »bürgerlichen Öf-
Augusts III. 1763 das polnische Abenteuer der fentlichkeit« strukturierte sich grundlegend
Wettiner endgültig hinter sich; im Siebenjäh- um. Leipzig war das Zentrum dieses Prozes-
rigen Krieg (1756-1763) war es zu Boden ge- ses, Frankfurt sein Opfer. 1764 war der Leip-
worfen worden und betrieb nun im Schatten ziger Verleger Philipp Erasmus Reich zum letz-
34 Frühe Lyrik. 1767-1770

ten Mal auf der Frankfurter Messe gewesen; die neuen Funktionseliten des absolutisti-
mit diesem Bruch einer langen Übung schloß schen Staates nach französischem Vorbild ent-
er gleichsam symbolisch einen seit Jahrzehn- wickelt hatten, um als Bürgerliche oder nie-
ten währenden Prozeß des Wandels ab und dere Adlige in den vom Hof bestimmten sozia-
eröffnete eine neue Ära des Buchhandels: den len Feldern zu bestehen. Der Ausdruck hatte
Wechsel vom Tausch-Geschäft mit Büchern seinerzeit ein modernes, kulturell geprägtes
zum reinen Geld-Verkehr. Diese Kapitalisie- Herrschaftswissen bezeichnet, wie es etwa
rung eines zentralen Bereichs kultureller Tä- Thomasius - und in charakteristischer Vari-
tigkeit war eine entscheidende Voraussetzung ante auch Christian Weise - die aufstiegswil-
für die Professionalisierung des Schreibens. lige akademische Jugend gelehrt hatten. Von
Während die kulturgeschichtlichen Folgen dieser herrschaftsbezogenen Bedeutung, aber
dieser Veränderung erst langsam spürbar wur- auch von der am Ende resignativen Interpreta-
den, ergab sich eine andere schneller: die Do- tion sozialer Verhaltensmuster, die Baltasar
minanz der besonders in Sachsen vorherr- Gracian y Morales' Handorakel (1647) zu ei-
schenden Literaturströmungen. nem viel gelesenen Bezugstext gemacht hatte,
G. kam also 1765 ins Zentrum eines vehe- und von der teils erfreuenden, teils bedrük-
menten Wandels, den die Zeitgenossen als kenden Einsicht, daß das gesellschaftliche Le-
Aufbruch, als »Verbesserung« - wie ihr Schlag- ben - nichts als - Simulation sei, war um die
wort lautete - empfanden. Mitte des 18. Jhs. nicht mehr viel geblieben. In
der Realität der gesellschaftlichen Verhält-
nisse, aber auch in der pragmatisch orientier-
ten - »patriotischen« - Stadtkultur hatte sich
dieses höfisch-bürgerliche Kulturideal als Fik-
Die kulturelle Situation in Leipzig tion erwiesen. In der christlich moralisieren-
den Kritik an den Galanten war der in deren
um 1765 und die Literatur des französischen Vorbildern - etwa bei Mme. de
»Rokoko« La Fayette - bereits konstatierte, in Deutsch-
land ursprünglich aber kaum problematisierte
Widerspruch zwischen sozial wirksamem Er-
Was allerdings in Leipzig in den 60er Jahren scheinen und moralischem Anspruch deutli-
groß in Mode war und womit sich G. ausein- cher hervorgetreten. Aus dem galanten »deco-
anderzusetzen hatte, war nicht unbedingt der rum« war in der Tat mittlerweile eine Dekora-
neueste Trend in der Literatur, den unsere tion geworden; es hatte sich zum modischen
heutigen Literaturgeschichten für dieses Jahr- Oberflächenreiz verflüchtigt, der zunächst aus
zehnt verbuchen, also Friedrich Gottlieb Klop- Frankreich, dann aber auch zunehmend von
stock, dessen Gedichte zwar erst 1771 als Buch England her mit den jeweils neuesten Regula-
erschienen, die aber aus Zeitschriften, vor al- rien versehen wurde. Dem Ästhetischen war
lem aus dem Nordischen Aufseher, bekannt die praktische Seite gekappt worden, der im-
waren, die politischen »Bardengesänge« oder manenten Neigung zum Spielerischen, zum
gar Johann Georg Hamann, dessen Sokrati- Leichten war nur der Unernst, die Unverbind-
sche Denkwürdigkeiten bereits 1759 erschie- lichkeit geblieben; man singe vom Wein,
nen waren, der aber erst einige Jahre später trinke aber ansonsten ganz moralisch Wasser,
für G. wichtig werden sollte. Schon daß die lautete eine fast stehende Formel. Damit war
zeitgenössische Bezeichnung für das, was in auch der orthodoxen Kritik, wie sie noch zur
Leipzig »in« war, »galant« lautete, verweist auf Jahrhundertmitte etwa Gottfried Ephraim
die Traditionalität der herrschenden Vorstel- Scheibel oder der darob berühmt gewordene
lungen. »Galant« war nämlich ursprünglich Johann Melchior Goeze vortrugen, der Ernst
die Bezeichnung für jene Werte und Verhal- genommen. Auch sie erscheint uns heute ritu-
tensmuster gewesen, die am Ende des 17. Jhs. ell erstarrt.
Frühe Lyrik. 1767-1770 35

Aber die Fähigkeit, gesellschaftliche Kon- schichtlicher Sicht als problematisch, sondern
stellationen als ein Spiel zu verstehen, als eine eher um des Effektes willen, der die Bezeich-
Konfiguration von Zeichen zu lesen und zu- nung zunächst so beliebt gemacht hat, daß sie
mindest imaginativ in einer Welt von Zeichen nämlich etwas knapp zusammenfaßt und über-
zu leben, das war - bei aller »moralisierenden« sichtlich in Entwicklungslinien einzubauen
und »patriotischen« Kritik, die sie erfahren verspricht, was in Wirklichkeit komplex, viel-
hatte - vielleicht das am intensivsten nach- schichtig und auch in sich widersprüchlich
wirkende Erbe der »galanten« Kultur. Und des- war. Zwischen dem »Preußischen Rokoko« und
wegen war die Bezeichnung wohl auch noch in dem »Sächsischen Rokoko« bestehen gewiß
Gebrauch. Zeichen lesen, Verborgenes entzif- viele, vor allem stilgeschichtliche Ähnlichkei-
fern, scheinbar Fernliegendes verbinden zu ten. Aber es walten ebenso manche Unter-
können, aber auch umgekehrt, Zeichen mehr- schiede. Auch das »Sächsische Rokoko« ist al-
deutig zu machen, das Zutageliegende zu ver- les andere als eine geschlossene Erscheinung.
stecken und Naheliegendes zu trennen wissen, Diese sich regional ausdifferenzierende und
ohne aber doch zu verwirren, das galt als ein an Frankreich profilierende Kultur orientierte
Zeugnis von »esprit« oder - wie die Zeitge- sich in ihren ästhetischen Regularien stark an
nossen es übersetzten - von »Witz«. »Witz« sei der Tradition, weswegen zuweilen der etwas
- so hatte Gottsched in seiner Critischen unglückliche Terminus »spätgalant« zu ihrer
Dichtkunst (1730) deklariert - »eine Gemüths- Kennzeichnung verwendet wird. Sie selbst ist
kraft, welche die Aehnlichkeiten der Dinge in sich so janusköpfig, daß sie teils den Ein-
leicht wahrnehmen« lasse, und diese Fertig- druck erweckt, sie sei ein zierliches, dünn ge-
keit mache den Poeten vor allem aus (S. 102). schliffenes »Barock«, teils aber auch vermuten
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich läßt, in ihr schienen bereits spätere, mit dem
teils aus der Weiterführung interner frühauf- Namen Rousseaus verbundene Vorstellungen,
klärerischer Ansätze, teils unter dem Einfluß etwa über die »Natur«, voraus.
gesamteuropäischer Impulse eine sehr charak- Statt vieler Worte erläutern zwei Strophen
teristische - literarische - Kultur; sie wird in aus Klopstocks berühmter - in ihrer ange-
der deutschen Literaturgeschichtsschreibung spannten Reflexivität selbst allerdings wenig
seit den 20er Jahren dieses Jahrhunderts - »rokoko«haften - Ode Der Zürchersee (1750)
eine zunächst pejorative Bedeutung umkeh- anschaulich, worum es in dieser Literatur, die
rend - in Anlehnung an die Kunst- und Kultur- eine Lebensform vorgaukelte, ging: »Schön
geschichte mit dem Ausdruck »Rokoko« fi- ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht /
xiert. Diese Bezeichnung war vor allem in Li- Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Ge-
teraturgeschichten und Handbüchern sehr be- sicht, / Das den großen Gedanken / Deiner
liebt, wird in jüngster Zeit allerdings - und Schöpfung noch einmal denkt. / [ ... ] / ·Hal-
zwar kommentarlos - eher gemieden, wahr- lers Doris<, die sang, selber des Liedes
scheinlich weil sie die Vorstellung von einem werth, / Hirzels Daphne, den Kleist innnig wie
sich »emanzipierenden« Bürgertum als der Gleimen liebt; / Und wir Jünglinge sangen, /
Trägerschicht der »Aufklärung« empfindlich Und empfanden, wie Hagedorn« (S. 83f.).
stört. Hält sie doch die Einsicht wach, in wel- Schöne, beseelte Natur, empfindende Refle-
chem - wenn auch nicht einhelligen - Maße xion, gefühlvolle Geselligkeit, Poesie - das
sich die bürgerliche Kultur im 18. Jh. in vom sind zentrale, wenn auch nicht die einzigen
Hofadel angelegten Mustern bewegt hat. Ge- Stichworte für diese Literatur- und Kultur-
rade das aber wäre für eine Einschätzung des idee. Klopstocks Verse zeigen aber auch an,
späteren Lebenswegs G.s und der Literatur wie durchlässig die Mauern in Wirklichkeit
der »Klassik« überhaupt von nicht geringer sind, die die Literarhistoriker der Ordnung
Bedeutung. halber definitionsmächtig aufgeschichtet ha-
Der Gebrauch der Abkürzungsformel »Ro- ben, werden die Zeilen doch auch - mit eben
koko« erweist sich somit weniger in sozialge- dem gleichen Recht! - für die »Empfindsam-
36 Frühe Lyrik. 1767-1770

keit« reklamiert. In unserem so ausgerichteten Die SUjets waren speziell in der Lyrik auf
Blick läßt Klopstock seine sanges frohen Jüng- diese Weise vorgegeben: Liebe und Liebes-
linge ihren literarischen Kanon einigermaßen kummer, Natur, freundschaftliche Geselligkeit
eklektisch zusammenstellen: Albrecht von und die Poesie. In Hagedorns Gedicht Die Al-
Haller, Ewald von Kleist, Johann Wilhelm ster (1743/44), an das Klopstocks Jünglinge
Ludwig Gleim und über allem der poetische während ihrer Bootsfahrt auf dem Zürcher See
Vater der »witzigen Köpfe« im 18. Jh., der aber gedacht haben mögen, als sie sangen und fühl-
auch den »empfindsamen Herzen« lieb war: ten wie er, lautet eine Halbstrophe: »Der EIbe
Friedrich von Hagedorn. Schiffahrt macht uns reicher; 1 Die Alster lehrt
Und noch ein anderes lehren Klopstocks gesellig sein! 1 Durch jene füllen sich die Spei-
Strophen: Obwohl der Jünglinge Herz voll cher; 1 Auf dieser schmeckt der fremde Wein«
war, sangen sie nicht im »Originalton« sondern (Hagedorn, S. 13 7) .
wie Hagedorn, also nach Vorbild, um nicht zu Das Siegel auf solcherart Poesie zeigt das
sagen nach Konvention. Das disqualifizierte Bild des griechischen Poeten Anakreon aus
sie allerdings in den Augen ihrer Zeitgenossen Teos, unter dessen Namen 1554 Henricus Ste-
durchaus nicht, im Gegenteil: Sie bewiesen phanus 60 Oden herausgegeben hatte, die aber
damit, daß sie einem Wertkriterium gerecht zum geringsten Teil von Anakreon stammten.
wurden, an dem seit über zwei Jahrhunderten, Diese Sammlung hatte einer unüberschauba-
seit den Tagen der »gelehrten« Humanisten, ren Zahl von Nachahmern die Feder in die
jeder Poet unbezweifelt gemessen wurde: Sie Hand gegeben, so wie das Urbild schon in der
kannten die Regeln und hielten sich an die Antike seine Bewunderer produktiv inspiriert
Vorbilder; sie ordneten sich thematisch und hatte. Seine Nachahmer dominierten von den
poetologisch einer langen Tradition ein, die 40er bis in die 60er Jahre den Stil vor allem in
bis zurück in die Antike reichte; wenn sie Ha- der Lyrik so, daß des Griechen Name zur Be-
gedorn beschworen, dann hätten sie auch zeichnung einer ganzen Gattung und einer Li-
gleich Martin Opitz oder noch besser Horaz, teraturrichtung wurde. In Halle: Johann Wil-
Anakreon oder Sappho anrufen können. Hage- helm Ludwig Gleim, Johann Nikolaus Götz,
dorn - oder Kleist oder Gleim oder Haller - Johann Peter Uz, in Hamburg: Christian Niko-
zeichnete sich dadurch aus, daß er für das laus Naumann, Johann Matthias Dreyer, in
Überlieferte einen neuen, als ansprechend Halberstadt/Leipzig: Johann Elias Schlegel,
(»reitzend«) geltenden Ausdruck gefunden Johann Adolf Schlegel, Karl Christian Gärtner,
hatte. Daneben wurden die französische Ge- Nikolaus Dietrich Giseke, Friedrich Wilhelm
sellschaftslyrik, z.B. Mme. Deshouliere, Jean Zachariae grassierte nachgerade ein anakreon-
Baptiste Grecourt oder Jean Baptiste Gresset, tisches Fieber; Johann Christoph Rosts Schä-
die Schäferpoesie: Giovanni Battista Guarini, fererzählungen (1742), Christian Felix Weißes
Torquato Tasso oder auch die englische Natur- Scherzhafte Lieder (1758), Heinrich Wilhelm
philosophie und -dichtung: Anthony Shaftes- von Gerstenbergs Tändeleyen (1759) und
bury, Matthew Prior produktiv aufgenommen, schließlich Karl Wilhelm Ramlers Anthologie
vor allem in thematischer Hinsicht. Heinz Lieder der Deutschen (1766) faßten die Moder-
Schlaffer hat in seiner ausführlichen Unter- ichtung der »Anakreontik« nahezu kanonisch
suchung dargelegt, in welchem weitverzweig- zusammen, und noch über ein halbes Jahr-
ten historischen, aber auch zeitgenössischen hundert später vermerkte G. die bedeutend-
Zusammenhang diese Literatur stand, inso- sten unter diesen Schriftstellern im berühm-
fern sie »erotische Dichtung«, »musa iocosa« ten Siebenten Buch von Dichtung und Wahr-
war, wie differenziert sie sich entfaltete. Wer heit, in welchem er einen Überblick über die
in diesem Stil schrieb, der trat in einen glän- Literatur seiner Jugendzeit gab. Allerdings be-
zenden Rahmen, auch wenn mittlerweile die handelte er die Zusammenhänge dabei nicht
Möglichkeiten erschöpft schienen und eine er- ganz ohne Hintersinn und steuerndes Inter-
hebliche Automatisierung eingetreten war. esse, versuchte er hier doch, sich selbst in den
Frühe Lyrik. 1767-1770 37

Kontext der deutschen Literatur seiner Zeit - ken. / Sie sucht umsonst sich zu verstecken«
ganz wörtlich - hineinzuschreiben. Zwar ist (JG Fischer-Lamberg 1, S. 72).
der Ausdruck »Anakreontik« in mancherlei Das liest sich in der Tat, als sei es bei Bart-
Hinsicht nicht unproblematisch, schon weil hold Hinrich Brockes abgeschrieben, der sei-
sich manches, das ihm subsumiert wird, nur nerseits bei Giambatista Marino in die Lehre
mit Mühe auf den Namensspender beziehen gegangen war. Solche Verse mußten GelIert
läßt, zwar läßt sich die Literatur des »Rokoko« und den neuen Bekannten wie Revenants aus
bei weitem nicht auf »anakreontische« Motive den altfränkischen Wäldern erscheinen.
und Stilelemente einschränken, aber dennoch G. nahm die Herausforderung an. Im Früh-
erfüllt der Ausdruck - im Bewußtsein seiner jahr 1767 berichtete er seiner Schwester, er
Problematik gebraucht - seinen (zu)ordnen- habe die Krise, in die er vor einem Jahr ge-
den Zweck, mag er auch im streng literatur- stürzt worden sei und die für ein halbes Jahr
wissenschaftlichen Sinn - zumindest im Hin- seine poetische Ader hatte austrocknen lassen,
blick auf G. - mißverständlich sein. mittlerweile überwunden, und seit dem letz-
ten Herbst habe er an die fünfzehn Gedichte
verfaßt, »die alle nicht sonderlich groß und
wichtig« seien, aber immerhin (11. 5.1767).
Was G. jetzt und in der folgenden Zeit schrieb,
ist schwer abzuschätzen, denn schon drei
Jahre später veranstaltete er ein neuerliches
Brandopfer, ein - wie er es in Dichtung und
G.s Anpassungskrise und die Wahrheit nannte - »großes Haupt-Autodafe«:
»Kaum blieb etwas verschont« (WA I, 27,
Wendung zum Leipziger Ton
S.216), und dieses »etwas«, wenn es denn
noch etwas war, wanderte später in die Flam-
G. kam in eine Welt, in die einzugewöhnen, men (1779, 1797). Aber an dem, was dennoch
ihm einiges zu schaffen machte. Der Umgang erhalten geblieben ist, läßt sich erkennen, daß
mit den neuen Freunden und die Kollegs von und in welchem Maße G. die Wendung zum
Geliert und Clodius, die er zunächst eifrig be- Rokoko vollzogen hat. Dabei konnte er seinen
suchte und wo praktisch gearbeitet, d. h. ge- erlernten rhetorischen Verfahrensweisen
schrieben und kritisiert wurde, stürzten ihn in durchaus treu bleiben, ja, er mußte sie ver-
tiefe Selbstzweifel, auf die er mit einem ra- feinern, auf die Höhe des eleganten, spiele-
dikalen Schritt reagierte: Im Herbst 1767 ver- rischen Stilideals bringen, wie es das Rokoko
brannte er auf dem Küchenherd der Witwe verlangte; er mußte den seit Jahrhunderten
Straube, bei der er einlogiert war, die Papiere, virtuos behandelten Themen Wein, Weib, Ge-
die er aus Frankfurt mitgebracht hatte. Dieses sang, Natur und Poesie neue, überraschende
Autodafe, das er in seinem Leben noch mehr- Wendungen abgewinnen und womöglich die
mals wiederholen wird, kann man durchaus »zärtlichen« Töne, die mittlerweile bei der Be-
verstehen, wenn man sich das wenige vor Au- handlung dieser Sujets erwartet wurden, ge-
gen hält, das aus der Vor-Leipziger Zeit das konnt anklingen lassen. Über ein Jahrhundert
Selbst-Zerstörungswerk überstanden hat, et- intensiver formgeschichtlicher Forschung hat
wa Zeilen aus den Poetischen Gedancken über das aus der Leipziger Zeit Überlieferte in ei-
die Hollenfahrt Jesu Christi aus dem Jahr 1765 nen verwirrenden Zusammenhang von Tradi-
(oder auch schon 1764), die 1766 in der Wo- tionen und Abhängigkeiten gestellt; je feiner
chenschrift Die Sichtbaren gegen den Willen die Analysen wurden, desto unübersichtlicher
des Autors erschienen: Die Hölle, so liest man zeigte sich das Geflecht. Zuweilen hat man
dort: »Sie fühlt sich ihre Macht genommen. / den Eindruck, in den Sudkessel einer litera-
Sie bebt und scheut Sein [Christi; d. Vf.] Ange- turgeschichtlichen Hexenküche zu blicken, so
sicht. / Sie kennet seines Donners Schrek- sehr vermischen sich die unterschiedlichsten
38 Frühe Lyrik. 1767-1770

Zutaten im G .schen Jugendwerk. Da half dann variant - für An den Schlaf aus einem Brief an
nur der - ältere - Griff zur Formel vom »Inge- die Schwester vom Mai 1767; auch hat sich der
nium« des Autors oder - in jüngeren Arbeiten junge Poet - lange bevor Behrisch die Schön-
- die geheimnisvolle Rede vom »Zusammen- schrift anlegte - selbst aus der Sammlung zi-
wirken verschiedener literarischer Strömun- tiert. Am 24.9. 1766 trug er sich mit einem
gen«, um die Einheit zu retten. So ergibt sich solchen Zitat in das Stammbuch eines durch-
am Ende eine paradoxe Situation: Der Ver- reisenden schwedischen Studenten ein. Schon
such, den Leipziger G. in historische Zusam- die Liste der Titel zeigt an, wie intensiv sich
menhänge zu rücken, führt zu seiner Monu- G. auf das Terrain des Rokoko begeben hat,
mentalisierung in isolierter Einzigkeit. aber auch in welcher Breite er die Möglich-
Jedenfalls gelang es G. in der Tat zumeist keiten genutzt hat, die ihm in deren unter-
virtuos, an die Tradition anzuschließen, ohne schiedlichen Richtungen zur Verfügung stan-
in ihr konturenlos unterzugehen. Wäre er 1768 den: An Annetten; Ziblis, eine Erzählung;
gestorben, so würden seine lyrischen Arbeiten Lyde, eine Erzählung; Kunst die Spröden zu
der Leipziger Jahre in einem Atemzug mit de- fangen, Erste Erzählung; Kunst die Spröden zu
nen Lessings und Weißes genannt. Sie würden fangen, Zwote Erzählung; Triumph der Tu-
als Blüten der Rokoko-Lyrik gelten. Da G. die gend Erste Erzählung; Triumph der Tugend
Krise von 1768 glücklicherweise überlebte, Zwote Erzählung; Elegie auf den Tod des Bru-
sind sie - mit Recht - in den Schatten seiner ders meines Freundes; Ode an Herrn Professor
späteren Gedichte getreten. Zachariae; An den Schlaf; Pygmalion, eine
Romanze; Die Liebhaber; Annette an ihren Ge-
liebten; An einen jungen Prahler; Madrigal;
Das Schreyen nach dem Italiänischen; Madri-
gal aus dem Französischen; Madrigal aus dem
Französischen des Herrn v. Valtaire; An meine
Lieder. Und die Gedicht-Texte lösen ein, was
ihre Titel versprechen. Eine Verserzählung
Leipziger Sammlungen wie Ziblis, die eine Geschichte im Ambiente
griechischer mythologischer Figuren als ein
Exempel für die Erfahrung darbietet, daß auf
Was aus dieser Zeit die zerstörenden Ausson- besorgter Mütter Ratschlag, ihre Töchter soll-
derungen überstanden hat, gruppiert sich zu ten der »Männer List« fliehen, nicht viel zu
drei - bzw. vier - Sammlungen unterschiedli- geben sei, denn: »Mädgen, fürchtet rauher
cher Natur; dazu kommen Gedichte, die G. in Leute / Buhlerische Wollust nie / Die im ehr-
Briefe einstreute. Nur eine der Zusammenstel- furchtsvollen Kleide / Viel von unschuldsvol-
lungen hat G. selbst für den Druck bestimmt, ler Freude / Reden, Mädgen, fürchtet die«
die übrigen sind auf anderen Wegen überlie- (JG Fischer-Lamberg 1, S. 169).
fert. Allerdings sind einige Gedichte später - Ein solches Gedicht erfüllt vom Sujet, vom
unter G.s Mitwirkung bearbeitet - im Druck Thema und seiner dekorativen Ausschmük-
erschienen. kung her über die Argumentation und die Dar-
Bei der frühesten Sammlung, dem Buch An- bietungshaltung bis zur Behandlung des Verses
nette, handelt es sich um neunzehn Gedichte, in Reim und Metrum alle Erwartungen, die
die G.s Leipziger Freund Ernst Wolfgang Beh- man berechtigterweise im Kontext der Ro-
risch im August 1767 in Schönschrift kopiert koko-Kultur an Poesie stellen durfte.
hat; diese Zusammenstellung fand sich Ende Der genaueren Analyse solcher allgemeinen
des vorigen Jahrhunderts bei Durchsicht des Zuordnungen erschließt sich, wie sich der
Nachlasses des Weimarer Hoffräuleins Luise Leipziger G. der Anakreontik in einer Version
von Göchhausen wieder. Für einige der Texte anschloß, die sich von der übertrumpfenden
lassen sich Vorlagen angeben, so etwa - leicht Imitation der antiken Originale zu lösen und
Frühe Lyrik. 1767-1770 39

zu eigenständigen Formulierungen fortzuent- daß sich die Schöne ekelnd abwendet. Er greift
wickeln suchte. So sprengte er - wie Herbert bei der Ausgestaltung dieser »Erfindung«, wie
Zeman gezeigt hat - die engere anakreontische die alten Rhetoriker das nannten, zu den For-
Überlieferungstradition und ließ den Blick auf meln des gehobenen Stils, wenn er davon re-
die Antike über deren Grenzen hinausschwei- det, daß »der Raupe tückischer Zahn [ ... ] Des
fen. Baums Unverwelklichkeit« nicht habe antasten
Diese erste Sammlung von Gedichten hat in können und sie deswegen »der listigen
der G .schen Lebensgeschichte einen ganz be- Spinne« ihr Leid geklagt habe, so daß sich
sonderen Wert bekommen, weil sich hinter diese »Prachtfeindin«, diese >,vielkünstliche«
»Annette« des Dichters große Leipziger Liebe an ihr abstoßendes Werk machte (JG Fischer-
Anna Katharina Schönkopf verbirgt. Ihre Er- Lamberg 1, S. 189f.). Vor allem aber greift G.
scheinung zu schildern und ihren wohltätigen Klopstocks freie Rhythmen auf, freilich noch -
Einfluß auf G.s Weg zu einem Dichter der ähnlich wie Klopstock selbst in den späteren
wahren Empfindung zu rühmen, konnten sich Überarbeitungen seiner frühen Gedichte - in
die G.-Freunde vor allem des 19. Jhs. nicht einer zurückgenommenen Form, wenn er die
genug tun. Sie lesend, gewinnt man oft den Verse mit drei, allenfalls vier Hebungen kurz
Eindruck, der jungen Frau Name und ihr Bild, hält und zu je vieren strophisch bündelt. Die
das G. - durchaus zurückhaltend - in Dichtung Forschung hat in diesen drei Oden beglückt
und Wahrheit entworfen hat, würden zur Pro- das ansonsten in der Leipziger Zeit so
jektionsfläche eigener verschütteter Sehn- schmerzlich vermißte Authentische des Aus-
süchte. drucks finden wollen.
Die zweite Sammlung uns überlieferter Ge- Einer entwicklungsgeschichtlichen Inter-
dichte aus der Leipziger Zeit stammt von G.s pretation dieses stilistischen Wechsels steht in
eigener Hand; es sind drei Oden an meinen der Tat die dritte bzw. vierte Sammlung von
Freund. Sie sind für Behrisch geschrieben, Gedichten aus G.s Leipziger Zeit entschieden
und G. hat sie seinem Vertrauten gewidmet, entgegen. Als G. Leipzig 1768 verließ,
als dieser im Oktober 1767 mehr oder minder schenkte er Friederike Oeser, der Tochter des
gezwungenermaßen Leipzig verließ und zu- Direktors der Leipziger Kunstakademie Adam
nächst als Hofineister und später als Prinzen- Friedrich Oeser, mit dem er in engem Kontakt
erzieher nach Dessau ging. Sie sind 1818 zu- gestanden hatte, eine Handschrift mit eigenen
sammen mit den Briefen an Behrisch aus des- Gedichten. Diese Lieder mit Melodien, die al-
sen Nachlaß an G. zurückgegangen und sind in lerdings nicht G. selbst, sondern ein Kopist zu
der Handschrift erhalten. Gedruckt wurden Papier gebracht hat, umfassen zehn Gedichte,
sie zum ersten Mal 1836 in der Quartausgabe; von denen eines aus Annette stammt; sie sind
Herausgeber Eckermann gab ihnen den Titel wieder - wie schon der Titel vermuten läßt -
Drei Oden an meinen Freund Behrisch. Sie - dem Rokoko-Stil verpflichtet. Daß sich diese
wie auch die Briefe an Behrisch - nehmen in Zusammenstellung nicht als der Niederschlag
der G.-Biographik eine herausragende Stel- eines älteren, mittlerweile überwundenen Sta-
lung ein, denn sie zeigen thematisch wie for- diums bewerten läßt, zeigt ihr weiteres
mal zuvor nicht gesehene Züge in G.s Werk. Schicksal. G. nahm nämlich neun dieser
Sie betändeln den Abschied des Freundes Stücke, ergänzte sie um elf andere ähnlicher
nicht im Tone scherzhafter Lieder, sie bekla- Art und beförderte diese Neuen Lieder, in Me-
gen ihn vielmehr im deklamatorischen Oden- lodien gesetzt von Bernhard Theodor Breitkopf
ton; G. faßt in der ersten Ode etwa die Denun- als seine erste Lyriksammlung zum Druck,
ziation Behrischs in die Allegorie von der miß- ohne daß er allerdings als ihr Autor in Erschei-
günstigen Raupe, die dem Mädchen den im- nung trat. Verabredet hatte er das Projekt noch
mergrünen Brautkranz nicht gönnt und in Leipzig, fertig wurde das schmale Heft erst
deswegen die Spinne bewegt, das Immergrün in Frankfurt, und da das Komponieren und der
mit ihrem klebrigen Gewebe zu überziehen, so Druck ihre Zeit forderten, erschien die Samm-
40 Frühe Lyrik. 1767-1770

lung erst zur Herbstmesse 1769 mit der Jahres- herrschenden Dichtungsauffassungen dieses
angabe 1770. Vorsprachliche einzufangen versprechen, eine
Über den Rand der Genre-Systematik hin- besondere Anteilnahme hervor. Mit Blick auf
ausblickend, wird man feststellen, daß G. dem das 18. Jh. sind das - neben der religiösen
Kunstverständnis des Rokoko nicht allein in Poesie, die allerdings in ihrem dogmatisch
seinen Gedichten verpflichtet war, sondern verminten Terrain auf Schwierigkeiten von be-
ihm auch auf anderen literarischen Feldern sonderer Eigenart stieß - die Lyrik und der
folgte: Mit Die Laune des Verliebten (1767/68, Brief. Und in der Tat spielen in den Versuchen,
erste Aufführung 1779, erster Druck 1806) etwas über G.s »Erleben« während der Leip-
ordnete er sich ganz der damals außerordent- ziger Zeit, aber auch etwas auf seine spätere
lich beliebten Schäferspiel-Form ein, mit dem »Dichtung« Vorausweisendes zu erfahren, die
- schon aus der anschließenden Frankfurter Briefe und einige der darin eingebetteten Ge-
Zeit stammenden - Lustspiel Die Mitschuldi- dichte ihre Rolle.
gen stand er im Kontext der Sächsischen Ty- Diese Suche ist durchaus verständlich, denn
penkomödie. Und auch späteren Werken wird im Genre des Briefes lassen sich in Deutsch-
man ablesen können, welchen Ideen und land tatsächlich erste Züge der »idealistischen
Schreib konventionen seine Feder einstens ge- Kunstperiode«, der »Romantik«, wie sie im ge-
horcht hatte; immer wieder trifft man in sei- samteuropäischen Kontext genannt wird, am
nem CEuvre auf stilistische Züge, die an seine deutlichsten aufspüren. Geliert hatte gegen
Jugend erinnern, vor allem in den Gelegen- den steifen Kanzlei-Stil definiert, Briefe seien
heitsgedichten, die er sein Leben lang ge- als ein Gespräch unter Abwesenden zu begrei-
schrieben hat, aber auch in seinen Bühnen- fen; damit hatte er sie aus den starren Bindun-
werken. gen einer zeremonialen Rhetorik gelöst und
für die jeweiligen Besonderheiten einer Situa-
tion geöffnet. In den Briefen, die etwa im
Freundeskreis der Bremer Beiträger zirkulier-
ten, ganz besonders aber in den allerdings erst
seit 1950 und später öffentlich bekannt gewor-
denen Briefen, die Klopstock mit seiner Braut
Gedichte in Briefen aus der und später mit seiner Frau Meta Moller und
diese mit ihren Gefahrtinnen in Hamburg und
Leipziger Zeit
mit den Freunden im Umkreis der Beiträger
während der 50er Jahre gewechselt hatten,
Eine besondere Stellung nehmen im Kontext läßt sich deutlich studieren, wie die Stilprinzi-
der Leipziger Jahre G.s die Gedichte in Brie- pien der Empfindsamkeit in die deutsche Lite-
fen ein, in denen der Schreiber aus der Prosa ratursprache kamen.
in gebundene Sprache wechselt oder die ganz Wenn diese neuen Ausdrucksweisen auch
in Versen geschrieben sind. So etwas war da- als die Sprache des Herzens gerühmt wurden,
mals - nach französischem Vorbild und durch so waren sie nichtsdestoweniger strukturiert
die Vermittlung Gellerts - in Mode. Die Texte und reguliert wie der ältere formelle, ratio-
ziehen aber das Interesse der G.-Philologen nalistische Stil auch, nur anders -und neu. Sie
weniger aus literarhistorischen als aus histo- waren stark beeinflußt vom englischen Roman
risch-poetologischen Gründen auf sich. Wo der Jahrhundertmitte : Samuel Richardson,
nämlich nach den Spuren des »Authentischen« Henry Fielding, Oliver Goldsmith. Die Aus-
in der literarischen Produktion gesucht wird, drucksmöglichkeiten, welche die Engländer
nach dem »Ausdruck« von etwas, was außer- eröffnet und in der bevorzugten Form des
halb der Sprache vermutet wird, im »Gefühl«, Briefromans zur Nachahmung auch auf ande-
im »Erleben«, in der »Seele«, da rufen solche ren Gebieten nahegelegt hatten, wurden in
literarischen Formen, die nach unseren vor- Deutschland zum ersten Mal im Genre des
Frühe Lyrik. 1767-1770 41

Briefes wnfassend erprobt und mit den Stil- Die Poeten nach der Mode (1751) stammt, das
idealen des Rokoko verknüpft, während die er auf dem Theater gesehen hatte. Den munte-
Romane selbst trotz ihrer Beliebtheit beim le- ren Schluß macht eine Verssatire auf die Vers-
senden Publikum aufgrund der klassischen satire im Stile Gottlieb Wilhelm Rabeners.
Genrehierarchie bei den Kunstrichtern auf Diese Verse stehen so dicht und unvennittelt
Mißtrauen stießen - übrigens auch bei G. nebeneinander, daß sich der Leser kawn wird
selbst, wie man seinen Briefen an die Schwe- des Eindrucks erwehren können, als mache
ster entnehmen kann. So treffen sich denn in ein junger Poet hier seine Fingerübungen. An
den Briefgedichten zwei Genres, denen in be- sich traurige Vorfälle - wie der Schwester Mit-
sonderem Maße Subjektivität des Ausdrucks teilungen, daß einem Frankfurter Bekannten
zugeschrieben wird - oder, wn es im Sinne die Tochter durchgebrannt sei oder daß ein
neuerer Texttheorien wnwendend zu sagen: Geizling ein prächtiges Begräbnis bekommen
denen in besonderem Maße die Kraft zuge- habe - nutzte der Bruder sogleich, wn im Stile
schrieben wird, ein »Subjekt«, ein Individuum der geistreichen Galanten »scharfsinnige«
als den »Ursprung« der Texte zu »inszenie- Verse darauf zu schmieden, in denen er sich
ren«. allerdings - das mag eine Lizenz der privaten
Die auf diese Eigentümlichkeit des Genres Mitteilungsfonn sein - einige fonnale Frei-
gestützte Hoffnung, gerade in den Briefge- heiten erlaubte. Solche sprachlichen Exerzi-
dichten einen deutenden Zugang zu jenen Be- tien können denn auch einmal fremdsprach-
reichen der G .schen Existenz zu gewinnen, die lich ausfallen - etwa die englische Beilage zum
der - rationalistischen - Sprache voraus lie- Brief vom 50.5. 1766 an Cornelia - oder Ge-
gen, erfüllt sich indes nicht. Über den Grad, in dichte anderer Poeten - wie William Shake-
dem die Briefe an Behrisch ihn gewähren, ist speare oder Jean Fran~ois Mannontel - zitie-
die G.-Forschung uneins; aber die Briefge- ren, auf daß sie im fremden Ton die eigene
dichte werden eigentlich nur in Deutungen Stimme führen.
des 19. Jhs. in stärkerem Maße bemüht. Zu Angeleitet durch die Interpretation späterer
deutlich muß der Wechsel in der Schreibart Texte G.s, mag man sich hin und wieder fra-
den Epistolographen G. noch auf die poetolo- gen, ob diese rhetorischen Übungen nicht
gischen Regularien der Zeit aufmerksam ge- doch - über den »casus« hinaus - auch einen
macht haben, als daß er die Bahnen der vorge- »authentischen« Kern einschließen oder ob
gebenen Praxis verlassen hätte. Er imitierte in nicht die Rhetorisierung selbst schon eine
diesem Wechsel die - von Geliert theoretisch »Aussage« bedeute, so wenn G. die Zweifel, in
geforderte - Erzählhaltung des Parlierens, die ihn die schockierende Konfrontation mit
wenn er, um etwa seinen Zustand als frischer der Leipziger Welt gestürzt hatte, in den »Gali-
Student in Leipzig auszwnalen, in Alexandri- mathias« vom Wunn kleidete, der sich durch
nern das Bild eines in den Zweigen hüpfenden einen Stunn in die Illusion gehoben glaubt,
Vogels entwirft, als wäre es von Opitz (an Jo- ein Adler zu sein, und der dann doch unsanft in
hann Jacob Riese, 20.10. 1765), oder wenn er den Staub zurückfällt (an Cornelia G., 28.4.
(an Riese, 50.10. 1765) anstelle einer langen 1766). So hält sich zwar der ganz in Versen
Explikation, daß er den fünften Akt seines schon aus Frankfurt geschriebene Brief vom
nicht erhaltenen Trauerspiels Belsazar in 6.11. 1768 an Friederike Oeser in den Grenzen
Shakespearescher Manier in Blankverse setze, des Rokokogeschmacks und an die Regularien
diese Mitteilung kurzerhand in fünfhebigen des Gelegenheitsgedichts. Aber nicht nur, daß
Jamben macht (so auch an Cornelia G., 21.12. Versmaß und ReimsteIlung weitherzig behan-
1765). Den Beweis dafür, daß er es auch anders delt werden - man könnte hinsichtlich der
- nämlich konventioneller im althergebrach- metrischen Ordnung die widersprüchliche Be-
ten Alexandriner - könne, liefert er auf dem zeichnung »rokokohafte freie Rhythmen« be-
Fuß, indem er eine Beschreibung Gottscheds nutzen; es scheint sich auch in den konven-
gibt, deren Vorbild aus Christian Felix Weißes tionellen Floskeln des Trennungsschmerzes
42 Frühe Lyrik. 1767-1770

ein melancholischer Ausdruck der Erfahrung Die Einschätzung der Leipziger


niederzuschlagen, wie unwiederbringlich
Jahre in der G.-Literatur
fremd dem Autor nach den drei Leipziger Jah-
ren die heimatliche Welt Frankfurts geworden
ist. Die Darstellung und Beurteilung der Leipzi-
ger Jahre und damit auch die Einschätzung der
Gedichte, die in dieser Zeit entstanden sind,
stehen seit jeher in einem größeren Zusam-
Die Abreise aus Leipzig menhang. Sie haben - außer im engsten philo-
logischen Sinn - kaum für sich selbst die Auf-
merksamkeit auf sich gezogen, sondern sind
Die Krise, die G. im Spätsommer 1768 zur hauptsächlich in bezug auf das Werk und die
Rückreise nach Frankfurt zwang, war nicht nur Person G.s gesehen worden; auf diese werden
eine körperliche und eine seelische, sie war sie hingeordnet.
auch eine intellektuelle. Den Schock von 1765 Diese Perspektive und entschieden folgen-
hatte er zunächst durch eine Überanpassung reicher das Material, das heute noch zur Verfü-
gemeistert, teilweise hatte er auch die Kon- gung steht, gehen im wesentlichen auf den
tinuität zu wahren gesucht, indem er seine Ursprung aller G.-Philologie zurück, nämlich
Frankfurter Arbeiten, etwa den Belsazar, um- auf G. selbst: Er selbst hat auf weite Strecken
modelte. Das war - wie sich zeigte - ein ver- bestimmt, was wir über diese Jahre wissen,
gebliches Bemühen. Aber daß der Leipziger und er selbst hat auch die Blickrichtung nach-
Standard nicht der ultimative war, ließ sich haltig beeinflußt, in der seine Leipziger Jahre
ebensowenig verheimlichen. Geliert und in der Literaturgeschichte erscheinen. Es ist
selbst Clodius waren nicht mehr ganz au cou- ihm gelungen, sein Bild in entscheidenden
rant, von Gottsched ganz zu schweigen; Beh- Konturen selbst zu entwerfen, denn er hat die
rischs Sarkasmus machte die Risse sichtbar, Quellen unter seiner Perspektive gesichtet,
und Oesers Einführung in Johann Joachim d.h. weitgehend vernichtet, und er hat in
Winckelmanns kunsttheoretische Vorstellun- Dichtung und Wahrheit die Wertungen und
gen ließ eine Auffassung von Kunst in G.s Ho- Beurteilungen vorgegeben, in denen das über-
rizont treten, die mit den traditionellen An- lieferte Material zu sehen sei. Sein späteres
sätzen der rationalistischen Aufklärung kaum Interesse an sich selbst, aber noch entschei-
mehr zu erfassen war. Von der Leipziger Zeit dender die Kunstauffassungen und die Ge-
aus gesehen, bedeuteten die eineinhalb Jahre schichtsvorstellungen, aber auch die Selbst-
des »Frankfurter Intermezzos« zwischen Sep- einschätzung jener Epoche, die in Deutschland
tember 1768 bis März 1770 - außer, daß sie seinen Namen trägt, lenken die Blicke vieler
Aufbruch zu Neuern, vor allem zu. einer »eige- nachfolgender Generationen. Die Leitbilder
nen Religion«, waren - teils eine sichernde dieser (Selbst-)Beurteilung sind einigermaßen
Fortsetzung, wie etwa die Briefe an Käthchen deutlich zu erkennen, und sie prägen die Dar-
Schönkopf oder Die Mitschuldigen, teils eine stellung jener Jahre bis heute entscheidend:
produktive Aufarbeitung von Leipziger Impul- zum einen das Gefühl, sich bei aller - vor
sen, die aber bereits über den Leipziger Hori- allem menschlichen - Differenzierung und
zont hinausreichten wie die Briefe an Oeser. Anerkennung des Geleisteten gegen die vOr-
ausliegende Zeit, also gegen die »Aufklärung«
im Widerspruch, ja am Ende im Bruch abzu-
grenzen. Die »harte Prüfung«, die - wie G. in
Dichtung und Wahrheit meint - »der Zeit kei-
neswegs gemäß« gewesen sei, bekommt bio-
graphisierend den abkürzenden Namen »Her-
der« (WA I, 27, S. 302). Zum anderen und da-
Frühe Lyrik. 1767-1770 43

mit zusammenhängend hatte G. die Vorstel- gen, G.s Leipziger Jahre zu bewerten, angesie-
lung, daß Poesie und die »Lyrik« in ganz delt sind, wobei die Verbesserung der unge-
besonderem Maße der Niederschlag, der mein kargen Quellenlage verhältnismäßig we-
»Ausdruck« eines seelischen »Erlebnisses«, nig zur Sache beiträgt, weil die Gründe für
Bruchstücke - mit G.s späteren Worten - einer Entscheidungen jenseits der Quellen in kon-
»großen Confession« seien (ebd., S. 110). Ein zeptionellen Vorentscheidungen liegen. My-
weiteres Moment spielt im Hinblick auf die stifikatoren wie Emil Staiger, der seines Prot-
Leipziger Jahre noch eine untergeordnete agonisten Autobiographie dicht in den Zeilen
Rolle: daß Literatur - im Sinne von Belle- folgt, malten G.s Einschätzung liebevoll aus,
tristik - spätestens in der zweiten Hälfte des er sei in der Distanzierung zur Tradition zu
18. Jhs. zu einem Medium wurde, in welchem dem geworden, was er war, also in der Negie-
grundsätzliche Fragen der menschlichen Exi- rung der Leipziger Zustände. Es sei denn, man
stenz diskutiert werden, daß sie also Funk- könne - schwach - die »Stimme des Herzens«
tionen übernahm, die zuvor theologischen im Getänzel der Verse vernehmen. Ein Skepti-
Genres zugekommen waren. ker wie Heinrich Meyer, der G.s Selbsterklä-
Mehr oder minder ausdrücklich ist das, was rung analysierend befragte, kam mit ähnlichen
G. in Leipzig geschrieben hat, immer von sol- Argumenten zum umgekehrten Ergebnis, weil
chen literaturtheoretischen Positionen aus ge- er auch in die Leipziger Hinterlassenschaften
sehen und - je nach Ausrichtung der Beurtei- das G.sche Lebensmuster eingewebt sah.
lenden - bewertet worden. Die Einschätzun- Erst in den letzten zehn, zwanzig Jahren
gen waren zwar höchst unterschiedlich, die verändert sich die Perspektive auf die drei
Gründe aber immer ähnlich. So meinte Her- Leipziger Jahre langsam. In dem Maße, in
man Grimm 1877 in seinen G.-Vorlesungen, dem auch die akademische Germanistik auf-
wer dieses Autors frühes Werk nach Spuren grund des historischen Wandels und der tiefen
späterer Meisterschaft durchforsche, der Einbrüche unseres Jahrhunderts langsam be-
nehme dem Vollendeten einen Teil des Ruhms, merkt, wie weit unser Abstand zur bürgerli-
und deswegen müßten es sich die frühen chen Bildungswelt in Wirklichkeit geworden
Übungen gefallen lassen, von den Arbeiten des ist, erscheint jener »Bruch«, in welchem sich
reiferen Alters in den Schatten gestellt zu wer- G.s Generation - zumindest nachträglich - ge-
den; und folglich tat er sie mit wenigen Zeilen gen die Welt der »Aufklärung« zu sich selbst
ab, opferte sie also, um die Einheit des Werks finden sah, entschieden kleiner, als er sich in
und den Rang des Autors zu retten. Mit dem- der Eigenwahrnehmung der Betroffenen aus-
selben Ziel, die Argumentation aber umdre- nahm, und die Kontinuitäten treten deutlicher
hend, mühte sich 1895 etwa Albert Biel- ans Licht, welche die bürgerliche Epoche von
schowsky wortreich und seitenlang, die Leip- ihrem Beginn her, also von der »Aufklärung«
ziger Reliquien seiner G. -Hagiographie gerade an, durchziehen. Aber selbst dann verliert die
einzuverleiben; wie ein Lüftel-Maler breitet er Deutungstradition nicht sofort ihre ganze
die reiche Fülle dessen aus, was das Genie in Kraft, so wenn etwa Karl Otto Conrady - nach-
seinem unbezwinglichen dichterischen Drang dem er G. in den historischen Zusammenhang
in Leipzig schuf - wovon allerdings nur wenig gestellt hat - am Ende des Leipziger Kapitels
aufbewahrt geblieben sei. Und dieses wenige doch noch das »G.sche« darin sucht, also auf
befriedigt ihn gar nicht, es wird nur durch jene die Einheit der »Person« und des auf sie ge-
Briefgedichte gerettet, in denen der Biograph gründeten »Werks« baut.
ein Feuer glühen und Tiefe wie Wahrheit der
Empfindung sich dehnen fühlt, kurz: in denen
er Manifestationen von »Erlebnislyrik«, für die Literatur:
G.s Name einsteht, aufspürt. Anger, Alfred: Annette an ihren Geliebten. Ein Ge-
Mit solchen Versuchen ist gleichsam die dicht Goethes aus der Leipziger Zeit. In: DVjs. 37
Plattform abgesteckt, auf der die Bemühun- (1963), S.439-462. - Ders.: Literarisches Rokoko.
44 Frühe Lyrik. 1767-1770

Stuttgart 21968. - Bahrdt, Carl Friedrich: Dr. earl arbeitete G. offenbar an der Sammlung (vgl. an
Friedrich Bahrdts Geschichte seines Lebens, seiner JohannPeterLanger, 17.1. 1769).
Meinungen und Schicksale. Von ihm selbst geschrie-
Sie kam zur Michaelismesse 1769, vorda-
ben. Theil 1. Berlin 1790. - Bielschowsky, Albert:
Goethe. Sein Leben und seine Werke. Bd. 1. Mün- tiert auf 1770, heraus. Die Komposition ist von
chen 1895. - CONRADY, Bd. 1. - Gottsched, Johann Breitkopf, unter dessen Namen allein die
Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Sammlung erschien. Als G. sie seinem Freund
Faksimile-Nachdruck der 4., vermehrten Aufl. Leip- Langer schickte, bemerkte er, in ihr sei »nicht
zig 1751, Darmstadt 1962. - Grimm, Herman: Goe- ein Strich Nachahmung, alles Natur« (an Lan-
the. Berlin 1877. - Hagedorn, Friedrich von: Die
ger, Mitte Oktober 1769).
Alster. In: Kürschner, Joseph (Hg.): Deutsche Natio-
nal-Litteratur. Historisch kritische Ausgabe. Bd. 45. In einem langen Brief an Friederike Oeser
Berlin, Stuttgart 1896, S. 137f. - Meyer, Heinrich: vom 13.2. 1769 gebrauchte G. wichtige Ele-
Goethe. Das Leben im Werk. Stuttgart o.J. - Nord- mente des Lexikons des Gedichts im Zusam-
heim, Werner von: Goethes Buch Annette. Über menhang einer Reflexion: »0, meine Freun-
Goethes dichterische Anfange und die Eigenart sei- dinn, das Licht ist die Wahrheit, doch die
ner dichterischen Phantasie. In: JbFDtHochst.
Sonne ist nicht die Wahrheit, von der doch das
(1967), S. 57-129. - Pereis, Christoph: Studien zur
Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 Licht quillt. Die Nacht ist Unwahrheit. Und
und 1760. Göttingen 1974. - Plate, Ralf: Allegori- was ist Schönheit? Sie ist nicht Licht und nicht
sche >Bilderjagd'. Abschiedsmotiv und Klopstocks Nacht. Dämmerung; eine Gebuhrt von Wahr-
Einfluß auf Goethes Oden an Behrisch. In: Schil- heit und Unwahrheit. Ein Mittelding. In ihrem
lerJb. 31 (1987), S. 72-103. - Schlaffer, Heinz: Musa Reiche liegt ein Scheideweg so zweydeutig, so
iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der
schielend, ein Herkules unter den Philoso-
erotischen Dichtung in Deutschland. Stuttgart 1971.
- STAIGER, Bd. 1. - Schulze, Friedrich: Leipzig im phen könnte sich vergreiffen«. In diesem Brief
Zeitalter des Barock und der Aufklärung. In: ders.: kündigte G. auch das Erscheinen der Neuen
Aus Leipzigs Kulturgeschichte. Leipzig 1956, Lieder für Ostern 1769 an. An Friederikes Va-
S.71-106. - Zeman, Herbert: Die deutsche ana- ter, seinen Zeichenlehrer Adam Friedrich Oe-
kreontische Dichtung. Stuttgart 1972. ser, schrieb er am folgenden Tag: Wenn er,
Uwe-K. Ketelsen Oeser, »an einem hübschen Sommerabend am
Fenster« stehe und »ein Mensch in seltsamem
Aufzug [ ... ] getrabt kömmt, so binn ich's, der
irrende Ritter«. Im November 1768 bezog er
sich in einem Brief an ihn auf Christoph Mar-
tin Wielands Don Sylvio und bemerkte, daß er
An den Mond / An Luna dessen Idris gerade gelesen habe: beide ken-
nen die Gestalt des >irrenden Ritters< (vgl. an
Oeser, 9.11. 1768).
Nach dem Buch Annette, dessen an der Ana- In der Zeit ist die achtzeilige Strophenfonn
kreontik orientierte Gedichte zwischen Herbst bei Liedern häufig, allerdings mit zahlreichen
1766 und Herbst 1767 in Leipzig entstanden, Varianten. G. entscheidet sich für drei acht-
folgen die Lieder mit Melodien, komponiert zeilige, aus zwei Vierzeilern gebildete Stro-
von Bernhard Theodor Breitkopf, wahrschein- phen mit auftaktlosen vierhebigen Versen und
lich entstanden von Frühjahr bis August 1768 umannenden Reimen, außen männliche, in-
(bis auf das aus Annette übernommene Das nen weibliche Endung.
Schreyn). Diese Sammlung von zehn Liedern Die folgende Analyse von An den Mond / An
erweiterte G. in Frankfurt um elf weitere zu Luna legt den Text in der Fassung zugrunde,
der Anthologie Neue Lieder, während er An die von Hanna Fischer-Lamberg im ersten
Venus aus Lieder mit Melodien nicht über- Band der Sammlung Der junge Goethe
nahm. Unter den neuen ist auch An den Mond. (S. 303f.) abgedruckt wurde.
Es ist nicht vor September 1768 und nicht nach Wir stellen eine fast schematische Gliede-
Februar 1769 entstanden. Noch im Januar 1769 rung in einen >empfindsamen< (\T. 1-12) und
An den Mond / An Luna 45

Anonymer Schattenr!ß
46 Frühe Lyrik. 1767-1770

einen >scherzhaften< Teil (V. 13-24) fest, wobei Traurig abgeschiedne Seelen, / Mich, und
die Verse 17-20 inmitten des >scherzhaften< nächt'ge Vögel auf« (V. 6ff.) sieht Strack bei
Teils eine Melange beider Tendenzen bis ins Cronegk, Klopstock, Justus Friedrich Wilhelm
Lexikon hinein sind (»Dämmrung«, Zachariae, dem jungen Wieland unter dem
»schwimmt« - »Wollust«, »runden Glieder«, Einfluß Ossians und Edward Youngs vorge-
»trunken«) und der Reiz dieser Mischung bildet. Überdies wird neben der empfindsa-
darin besteht, daß durch den Kontext ein la~ men Komponente eine anakreontische be-
tenter Übergang des einen ins andere spürbar hauptet, die später mit Recht bestritten wird.
wird, z.B. »Dämmrung wo die Wollust thront« Sobald aber die Einzelheiten des Textes ver-
(V. 17). Der >empfindsame< Teil endet mit ei- lassen werden, ist man bei biographischen
nem emphatischen Imperativ, der überdies ein Vermutungen und bei privaten Wertungen.
Schlüsselwort des Sentimentalismus enthält: Erst in Friedrich Gundolfs Goethe (1916)
»Gieb der Schwärmerey dieß Glück!« (V. 12). ändert sich das: Gundolfweist zum ersten Mal
Der >scherzhafte< Teil hat eine typische auf den »neuen Ton« von sechs Gedichten der
Schlußpointe : »So da droben hängen müßen; / Neuen Lieder hin, darunter An den Mond
Ey, da schieltest du dich blind« (V. 23f.). Der (GUNDOLF, S.59). Ihn irritiert freilich der
erste Teil ist überdies ganz auf die Apostrophe Dualismus der Lieder, er spricht davon, daß
des Monds, der zweite auf das »Mädgen« »das Geistreiche« in An den Mond störend sei
(V. 16) und die »Begierde« (V. 22) konzentriert, (ebd., S.68). Während Hermann Baumgart
wobei die mittleren Verse dieses Teils in den 1931 im Gedicht noch einen humoristischen
sprachlichen Anziehungsbereich von »Mond« Scherz sieht (S.55), hört Heinz Kindermann
(V. 20) gelangen. Doch stehen »Mond« und 1932 »irrationale Töne« (S. 50) und spricht von
»Mädgen« über »Schwester« (V. 1) in einer »Beseelung« (ebd., S. 55). Bis auf Andeutun-
deutlichen Beziehung zueinander. gen bei Gundolf hatte bis dahin wie üblich
Das Lied steht innerhalb der Sammlung in niemand das Gedicht als Gedicht wahrgenom-
Relation zu Die Nacht, ebenfalls mit achtzei- men, sondern als einen mitteilenden Diskurs
liger Strophe aus auftaktlosen, vierhebigen in Versen gelesen.
Versen. In diesem Gedicht geht es auch um den Bei Felix Trojan wird 1951 auf den Rhyth-
Zusammenhang zwischen sentimental erfah- mus abgehoben, der allerdings alsbald zu ei-
rener Mondnacht und >Liebesnacht< (»Luna nem rhythmischen Typus schematisiert wird.
bricht die Nacht der Eichen« - »Freude! Wol- Hermann August Korffmacht 1958 Andeutun-
lust! Kaum zu faßen!«; JG Fischer-Lamberg 1, gen zur Sprachmusik. Kaspar Heinrich Spin-
S. 295, V. 5 u. 13). Auch das unserem Gedicht ner bemerkt 1969 das Nebeneinander ver-
voraufgehende Lied Das Glück der Liebe stellt schiedener Töne. Wolfgang Schadewaldt
einen Zusammenhang zwischen >Abend / nennt wieder die deutsche Anakreontik als
Nacht< und Geliebter her, wobei jene als Raum Einflußkraft und sieht den Schluß wieder als
»großgemeßner Weite« (V. 10) die Liebe als Störung. Bei Herbert Zeman wird 1972 in Auf-
>Fernliebe< garantieren. nahme von älteren Anmerkungen Erich
Schmidts und neueren Erich Schenks auf die
Im Positivismus geht es wie stets um Einfluß- Herkunft der Form aus der Singspiel-Ariette,
kataloge, die teilweise plausibel, teilweise insbesondere Johann Adam Hillers, hingewie-
hergeholt wirken. Schon Richard Maria Wer- sen und der Zusammenhang mit der Ana-
ner und Adolf Strack haben auf die wesentli- kreontik abgewiesen. Klaus Weimar gibt 1982
chen Einflüsse hingewiesen: die Darstellung einen ersten nennenswerten Interpretations-
der Mondnacht seit der Empfindsamkeit, so versuch, der vor allem auf der Unterscheidung
z.B. bei Johann Peter Uz, Christian Felix von Rollen (Nachtpoet, Ironiker) und von erle-
Weiße, Klopstock, Wieland, Johann Friedrich bendem und erzählendem Ich basiert. Jörn
Cronegk und Salomon Geßner. Das Motiv der Göres zeigt sich 1989 fasziniert von den gängi-
Verse »Weckt aus Tagverschloßnen Hölen / gen Rhetorik-Modellen und -Thesen und kann
An den Mond / An Luna 47

das Gedicht schon darum nicht erfassen. Tho- Nun ist aber, liest man den Text als Gedicht,
mas Anz' Kurzinterpretation innerhalb von der Abstand zwischen dem, was man als Zeilen
Marcel Reich-Ranickis Lyrik-Anthologie sieht aus dem Geist der Empfindsamkeit zunächst
das erotische Moment und betont den poeti- bezeichnen kann, und den Zeilen eines
schen Spielcharakter, bleibt aber eklektizi- 'scherzhaften Liedes<, die es deutlicher sind
stisch. als die eines früher behaupteten anakreonti-
schen, erheblich größer, nämlich intensiver,
Geht man von der Form der Singspiel-Ariette, als es die Ariette zuläßt.
die G. ja auch noch in seinen eigenen Sing- Der in Frankfurt zweifellos psychosoma-
spielen da und dort gebrauchte, und von einer tisch kranke Neunzehnjährige, bis Ende De-
semantisch-strukturellen Zweiteilung aus, so zember 1768 im fast ausschließlichen (enge-
zeigt sich das frühe Mond-Gedicht alsbald als ren) Umgang mit der Schwester Cornelia,
der sehr reizvolle Versuch des ganz jungen G., schreibt in dieser Zeit das Gedicht, das eine
zu einer Synthesis von empfindsamer Lyrik Ariette werden soll und es formal wird, in dem
der Subjektivität und scherzhafter Gesellig- sich der empfindsame Teil aber zum frühen
keitslyrik zu kommen. Ausdruck G .scher Subjektivität steigert.
Dabei war eben die Form dieser Gesellig- Nimmt man die ganze erste Strophe, so wirkt
keitslyrik vorgegeben, und zwar nicht so sehr es unverständlich, wenn ein Interpret der letz-
dank der Entscheidung des Autors, sondern ten Jahre daraus nichts anderes liest als »ba-
aufgrund der Forderung des Komponisten, von rocke Rhetorik« in den ersten beiden Zeilen
der G. unmutig als von »ewigen« Verbesse- und Adaptation antiker Mythologie in den drei
rungswünschen am 17. 1. 1769 an Langer letzten. Das ist so unbefriedigend wie die fal-
schreibt (JG Fischer-Lamberg 1, S.264). In sche Emphase, die in den 50er Jahren von
Hillers, des Singspielkomponisten, Zeitschrift Unmittelbarkeit und Irrationalität schwärmte.
Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen Nicht primär um die poetischen Apparate und
die Musik betriffend wird von den Neuen Lie- Stimmungen, deren sich der junge Autor be-
dern gesagt, »daß es dem Dichter keineswegs diente, geht es, sondern um den Text, den er
an einer glücklichen Anlage zu dieser scherz- formulierte.
hafften Dichtungsart fehle« (Schenk, S.76). Im ersten Vers gelingt dank dem Rhythmus
Dieser Synthese-Versuch zeigt sich formal als ein Eingang außerordentlicher Art. Insofern
ein >latentes< Duett innerhalb der Singspiel- der Akzent ganz auf »Schwester« und »ersten
Ariette. Weimar hat mit Recht auf die ver- Licht« liegt und der in einem Prosadiskurs
schiedenen Rollen im Gedicht hingewiesen. wnständlich wirkende Ersatz eines genitivus
Man könnte das unter musikalischem Aspekt subiectivus (»steife Anrede«, JG Fischer-Lam-
präzisieren als Duett zwischen einem 'er<, der berg 1, S.502) eine Senkungs-Funktion be-
später »weitverschlagner Ritter« cv. 14) ge- kommt, verändert sich die bloß rhetorische
nannt wird, und einer 'sie<, die »Schwester Metapher für »Mond« (die man im Positivis-
von dem ersten Licht« cv. 1) heißt. Bis Vers 12 mus natürlich in Fran\iois Joachim de Pierres
singt 'er< 'sie< an, 'sie< repliziert scherzhaft de Bernis' La Nuit mit »La soeur aimable du
cv.15-16), 'er< antwortet halb scherzhaft, halb soleiI« vorgebildet fand, als sei »soleiI« unge-
empfindsam cv.17-20), schließlich singen sie fähr dasselbe wie »erstes Licht«) in die Apo-
gemeinsam, wobei 'er< in ,ihren< scherzhaften strophe einer mythischen Beziehung wie auch
Ton einstimmt und das letzte »du« Selbstan- - durch Anfangsstellung - in die Evokation der
rede wie Fremdanrede ist cv.
21-24). So wäre Frau, des Mädchens als Schwester. Denn eben
hier zunächst auf originelle Weise ein Postulat um die, nicht um den Mond als Gestirn geht es
musikalischer Form erfüllt, ja gewissermaßen in den Versen 2, 4 und 5. Primär wird »Schwe-
übererfUllt, da durch die Ariette hindurch, also ster« apostrophiert, dann erst »Mond«, aber
den Vortrag einer Einzelstimme, das Duett eben auch als durch »Schwester« Benennbares,
hörbar wird. der als solche in Beziehung nicht einfach zur
48 Frühe Lyrik. 1767-1770

Sonne, sondern ZlUTI ursprünglichen Licht »weitverschlagne Ritter« bleibt mitten zwi-
steht, in einer mythischen Beziehung also. Sie schen der »Schwester von dem ersten Licht«
ist das genaue Pendant zu der in Robert Musils und »seines Mädgens Nächten« (y. 16), zwi-
Gedicht Isis und Os iris von 1923, wo nämlich schen »Schwärmerey« und »Begierde zu genie-
»der Knabe I Mond in silberner Ruh« der ßen« (y. 22).
»Schwester« Sonne begegnet (Musil, S. 465). G. schreibt mit neunzehn Jahren ein frühes
Von diesem starken rhythmischen Akzent, Gedicht der Dissoziation, die >nur' formal, als
der sich als ein semantischer erweist, lebt die ariettenhaftes Lied, aufgehoben werden kann,
ganze erste Strophe. »Reizendes Gesicht« wobei aber die >Schnittstellen' deutlich be-
(y. 4) ist ganz menschlich und als Reim zu »er- stehen bleiben.
sten Licht« auch mythisch. »Deines leisen Fu- Für die zweite Cotta-Ausgabe der Gedichte
ßes Lauf« (y. 5) ist keinesfalls nur kühne Meta- von 1815 stellt G. das Gedicht unter den Titel
pher für das Aufgehen des Mondes, sondern An Luna und arbeitet die dritte Strophe voll-
die semantische Reflexion und gleichzeitig der ständig lUTI. Dabei tilgt er das Scherzhafte
rhythmische Vollzug dessen, was Versfuß und weitgehend. Das Ganze wird nun, »antiker
Zeilenlauf der Strophe ausmachen. Form sich nähernd«, auf das Mythologem
In der zweiten wird sowohl vom »Blick« Luna I Selene - Endymion bezogen, das seit
(y. 9) gesprochen wie von erotischer Bezie- der Antike eine bedeutende Rolle in der Lyrik
hung. Der »Blick« ist hier ein anderer als der gespielt hat: »Und nun zieht sie mich her-
in der dritten Strophe: Er ist der mythische der nieder, I Wie dich einst Endymion« (JVA I, 1,
»Schwester von dem ersten Licht«, ein for- S. 49, V. 23f.). Jetzt sucht er die Synthese auch
schender, dort ist er der erotische des »weit- in der poetischen Aussage zu erreichen. Das
verschlagnen Ritters«, ein trunkener: der Blick Beschauen selbst, das vom »Blick« Erreichte
ins Weite hier, der Augen-Blick dort, jener ein soll schon zur Erfüllung führen und zwischen
weiblicher, dieser ein männlicher. Und zwei- »Schwester« und »Mädgen« soll vermitteln,
mal und jeweils ganz anders die erotische Be- daß diese wie »Luna«/Selene und daß er, der
ziehung: die eine von der >Mondin' ausge- Ritter, wie »Endymion« sei. Nicht nach der
hend, fast unsinnlich und dennoch im »hebe >wirklichen' Synthese, die nicht gelingen
mich an deine Seite« (y. 11) deutlich erotisch. kann, strebt das Gedicht mehr, sondern in
Hier wird, wie es in Das Glück der Liebe heißt, Konsequenz einer nur noch homogenen Struk-
»die Begier zur Schwärmerey« (JG Fischer- tur werden die poetischen Namen, die my-
Lamberg 1, S. 303, V. 17). Die andere ist ganz thologische sind, zur Garantie eines Gelin-
sinnlich und erotisch durch »Wollust«, wenn- gens, das allein im und als Gedicht zu er-
gleich das Wort noch in der Zeit des Gedichts scheinen vermag.
die weitere Bedeutung »Freude, Fröhlichkeit«
etc. hat, durch den »Blick« auf die »runden
Literatur:
Glieder« (y. 18).
Und »schwimmt« dort »Nebel [ ... ] mit Sil- Anz, Thomas: Was für Wünsche. In: Reich-Ranicki,
berschauer / Um dein reizendes Gesicht« Marcel (Hg.): Johann Wolfgang von Goethe. Ver-
weile doch. 111 Gedichte mit Interpretationen.
(y. 3f.), so hier »Dämmrung wo die Wollust
Frankfurt/M. 1992, S. 26-28. - Baumgart, Hermann:
thront [ ... ] lUTI ihre runden Glieder« (y. 17f.). Goethes lyrische Dichtung in ihrer Entwicklung und
Ständig geht es lUTI sprachliche Analogisie- Bedeutung. Bd. 1. Heidelberg 1951, S.55f. - Fi-
rungen und Differenzierungen. Der Blick aber scher-Lamberg, Komm. in JG Fischer-Lamberg. -
von oben nach unten, von der Position der Göres, Jörn: Goethes Mondgedichte. Bonn 1989,
»Schwärmerey« zu dem, was man dem »Mond« S.6-52. - GUNDOLF, S.59. - Kindermann, Heinz
verhüllt, führt zu keiner Erfüllung, zum (Hg.): Der Rokoko-Goethe. Leipzig 1952, S. 49-59,
bes. S. 57f. - KORFF, Bd. 1, S. 49ff. - MusiI, Robert:
>Blindschielen ' vielmehr. Und das »Glück«, Gesammelte Werke. Hg. v. AdolfFrise. Bd. 2: Prosa
das die »Schwärmerey« droben geben soll, und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiogra-
provoziert gerade den Blick nach unten. Der phisches. Essays und Reden. Kritik. Reinbek bei
Die Nacht 49

Hamburg 1978. - Schadewaldt, Wolfgang: Mond und spätere Behauptung, daß seine Leipziger
Sterne in Goethes Lyrik. Ein Beitrag zu Goethes Dichtung oft »eine Art von epigrammatischer
erlebtem Platonismus. In: Reiss, Hans (Hg.): Goethe
Wendung« (yIlA 1,27, S. 395) hatte, ist das Ge-
und die Tradition. Frankfurt/M. 1972, S.58-83. -
Schenk, Erich: Breitkopfs Musik zum Leipziger Lie- dicht ein gutes Beispiel.
derbuch und ihre Beziehung zu Hiller und Goethe. Geschrieben im Frühjahr 1768, hat das
In: ders.: Ausgewählte Aufsätze, Reden und Vor- scherzhafte Gedicht mit dem pointierten
träge. Graz, Wien, Köln 1967, S. 73-85. - Schmidt, Schluß eine komplizierte Textgeschichte. In
Erich: Zum Leipziger Liederbuch. In: GoetheJb. 3 einem Brief an Ernst Wolfgang Behrisch im
(1882), S. 321-324. - Spinner, Kaspar Heinrich: Der
März 1768 bat G. den Freund um Rückgabe
Mond in der deutschen Dichtung von der Aufklärung
bis zur Spätromantik. Bonn 1969, S. 46-66. - Strack, seiner Gedichtsammlung Annette, da er einige
Adolf: Goethes Leipziger Liederbuch. Giessen 1893. von den frühen Gedichten geändert und neue
- Trojan, Felix: Sprachrhythmus und vegetatives dazugeschrieben habe. In einem undatierten
Nervensystem. Eine Untersuchung an Goethes Ju- Brief, wohl im Mai 1768 geschrieben, schickte
gendlyrik. Wien-Meisenheim 1951, bes. S. 37-41. - G. seinem Freund die Gedichte wieder zurück,
Weimar, Klaus: Goethes Gedichte: 1769-1775. Inter-
und dazu »3 meiner neusten Lieder«. Ein
pretationen zu einem Anfang. Paderborn, München,
Wien, Zürich 1982, S. 13ff. - Werner, Richard Ma- Quartbogen im Nachlaß von Behrisch mit den
ria: Rezension zu »Studien zur Goethe-Philologie drei Gedichten Die Nacht, An Umus und Der
von J. Minor und A. Sauer. Wien [... ] 1880«. In: Schmetterling wird allgemein als identisch mit
Anzeiger für deutsches Alterthum und deutsche Lit- der im Brief erwähnten Gedichtsendung ver-
teratur 8 (1882), S. 238-271. - Zeman, Herbert: Die standen. Die Fassung in diesem Manuskript,
deutsche anakreontische Dichtung. Ein Versuch zur
die als die Erstfassung von Die Nacht gilt
Erfassung ihrer ästhetischen und literarhistorischen
Erscheinungsformen im 18. Jahrhundert. Stuttgart (JG Fischer-Lamberg 1, S. 475f.), gleicht, ab-
1972, S. 274-281. gesehen von geringfügigen Varianten, der Fas-
sung, die in den Neuen Liedern von Breitkopf
HelmutArntzen vertont und 1769 veröffentlicht wurde (ebd.,
S. 295). In der handgeschriebenen Sammlung
Lieder mit Melodien, die G. Friederike Oeser
im August 1768 bei seinem Abschied von Leip-
zig schenkte, erscheint das Gedicht wieder,
nun aber in einer Fassung (ebd., S. 194), die in
der Wortwahl an mehreren Stellen von der
Die Nacht Fassung aus dem Nachlaß von Behrisch und
den späteren Neuen Liedern abweicht. Bis zur
Veröffentlichung der Briefe an Behrisch durch
Das zweistrophige Gedicht Die Nacht, das Ludwig Geiger (1886) wurde diese Fassung
dritte Lied in Bernhard Theodor Breitkopfs aus dem Oesersehen Nachlaß als die früheste
Neuen Liedern (1769), wird von der Darstel- verstanden. Weil man dafür keine überzeu-
lung einer nächtlichen Landschaft von unge- gende Erklärung gefunden hat, daß G. selbst
wöhnlicher Pracht und Herrlichkeit belebt, die seinen Text erst überarbeitete und dann ver-
mit einem spielerischen Witz verbunden wird. warf, bleibt die Frage nach der Erstfassung
Das Schema ist klar: Die wachsende Intensität weiterhin offen.
der glanzvollen, schönen Nacht ist so darzu- Nach der anonymen Veröffentlichung in den
stellen, daß trotz ihrer entzückenden Schön- Neuen Liedern wurde Die Nacht mehrmals
heit, in einer plötzlichen Umwälzung die nachgedruckt: in Johann Adam Hillers Wö-
Nacht dem Einzelgänger im Wald, dem lyri- chentlichen Nachrichten und Anmerkungen
schen Ich des Gedichts, gering erscheint, ver- die Musik betrif.fend (1769), in Christian Hein-
glichen mit dem, was ihm dringend fehlt und rich Schmids Leipziger Almanach der deut-
was wahrscheinlich nicht zu haben ist - eine schen Musen auf das Jahr 1773 und in der
Nacht in den Armen der Geliebten. Für G.s Muse (1776). Die Varianten in diesen Druck-
50 Frühe Lyrik. 1767-1770

fassungen sind nicht G. zuzuschreiben, son- abhängig vom Betrachter zu intensivieren


dem durch die Herausgeber veranlaßt oder im scheint, bis der Sprecher in Ausrufe der
Druckverfahren entstanden. In einer Bespre- Freude und Bewunderung ausbricht. Die zu-
chung des Leipziger Musenalmanachs im nehmende Stärke des nächtlichen Schauspiels,
Teutschen Merkur (1773, II, 1, S.55; abgedr. darunter der stilisierte Aufzug der Luna und
in: Viehoff, Bd. 1, S.66f.) wurde das kleine der personifizierte Schauer, lenkt die Auf-
Gedicht ausführlich, aber auch kritisch be- merksamkeit des Lesers vom Sprecher ab und
sprochen. Unklarheiten bei der Wortwahl und ermöglicht damit die plötzliche Wendung von
dem Handlungsvorgang wurden getadelt, wie der Darstellung eines unaussprechlichen
das unmotivierte »gern« der ersten Zeile oder Wunders zur sehnsuchtsvollen Klage des fru-
die Schilderung eines ausgestorbenen Waldes strierten Liebhabers. Die gefeierte Wollust
am Anfang der ersten Strophe, da ein paar bzw. Wonne der Natur dient letzten Endes als
Zeilen später die Luft voll von Gerüchen ist. hyperbolisches Kontrastbild zu seinem uner-
Auch wurde das Bild von »vergnügtem füllten erotischen Verlangen, und die Verse der
Schritte« kritisiert, das aber nicht von G. angeblich »reinen« Naturlyrik in der Mitte des
stammte, sondern eine eigenwillige Variante Gedichts werden in der Endzeile als erotische
des Musenalmanachs war. Bei der Überarbei- Sublimierung erfahrbar gemacht.
tung des Gedichts für die Schriften von 1789 Das Gedicht hat eine verhältnismäßig lange
reagierte G. auf die Kritik: Aus dem »gern« Rezeptionsgeschichte, wobei in der Regel die
wurde ein »nun« (V. 1) und aus dem »ausge- Naturbeschreibung in den Mittelzeilen beson-
storbnen« ein »öder, finsterer« Wald (V. 4). An- ders hervorgehoben und der pointierte Schluß
dere Änderungen resultieren aus G.s Distanz als Rückfall in spielerischen Witz abgelehnt
zu der Sprache und den poetischen Empfin- wird. Es gilt zusammen mit An den Mond
dungen seiner Jugend. Die nächtliche Ge- (»Schwester von dem ersten Licht«) als die
fühlswallung wird gedämpft und der erste Darstellung des Mondes in G.s Lyrik und
»Schauer«, der durchs Gebüsch »flüstert« und wird regelmäßig zu den frühen Gedichten ge-
»die Seele schmelzen macht« (V. 9-11), wird zählt, die G.s Durchbruch zum Naturgefühl
aus dem Gedicht entfernt. Auch verschwindet und zur neuen poetischen Sensibilität verhei-
das Wort »Wollust« (V. 13), das als Modewort ßen. Unmittelbarkeit, eine Offenheit der Na-
in der deutschen Rokokodichtung einfach das tur gegenüber, ein neu es Gefühlsleben, auto-
Vergnügen beschreiben konnte, ohne explizi- biographischer Gehalt und das Fehlen der so-
ten sexuellen Bezug. Das Gedicht wird jetzt genannten anakreontischen Künstlichkeit sind
Die schöne Nacht genannt und unter diesem die in der älteren Forschung bevorzugten
Titel in allen weiteren Ausgaben der Werke Merkmale der neuen Dichtung. Dabei kamen
veröffentlicht (JVA I, 1, S. 44). Der Mehrzahl G.s Virtuosität, Geselligkeit und Formgefühl
der insgesamt dreizehn Vertonungen, von de- immer wieder zu kurz, wie etwa Herbert Ze-
nen über die Hälfte zu G.s Lebzeiten - u.a. von man und Kar! Eibl deutlich gemacht haben.
Johann Friedrich Reichardt - vorgenommen Friedrich Gundolfs Verherrlichung ausgewähl-
wurde, dient diese letzte Fassung als Grund- ter Leipziger Gedichte, darunter Die Nacht,
lage. Die Frankfurter Ausgabe druckt die Fas- als »Liebes-urerlebnis« und ihrer Sprache als
sung der Neuen Lieder (FA I, 1, S. 84f.) und die »klanggewordene Liebe« hat trotz der exzessi-
der Schriften von 1789 (ebd., S. 282). ven Formulierung großen Einfluß gehabt. Bei-
spielsweise beruft sich der psychoanalytische
In der Form zweistrophig, je mit acht Zeilen in Kritiker Karl Robert Eissler nicht zu seinem
gereimten trochäischen Tetrametern, lebt das Vorteil wiederholt auf Gundolfbei seinem Ver-
Gedicht von der lyrischen Darstellung der such, die Wirkung von G.s sexuellen Konflik-
prachtvollen Nachtlandschaft. Besonders in ten auf seine Kreativität aus dem Gedicht zu
den frühesten Fassungen wird der Nacht eine deuten, wobei G. mit dem Ich des Gedichts
dynamische Kraft zugeschrieben, die sich un- gleichgesetzt wird. Die jüngere Forschung,
Hochzeitlied 51

weniger geneigt, die Neuen Lieder in erster


Linie als Zeugnis von G.s Gefühlsleben zu le-
Hochzeitlied
sen, betont die Fortsetzung der weltlichen Tra-
ditionen des geselligen Liedes und des Sing-
spiels in G.s Frühwerk (vgl. Zeman) und seine Im Herbst 1767 geschrieben und in einer über-
Adaption und Transformation des großen eu- arbeiteten Fassung 1769 in Breitkopfs Neuen
ropäischen Erbes der erotischen Dichtung Liedern veröffentlicht, wurde Hochzeitlied in
(vgl. Schlaffer). die Werkausgabe von 1815 unter dem Titel
Die Hoffnung auf neue Einsichten in G.s Brautnacht aufgenommen. Trotz der ur-
frühe dichterische Entwicklung bleibt letzten sprünglichen Widmung »An meinen Freund«
Endes das Hauptinteresse bei allen Interpreta- ist es eher unwahrscheinlich, daß das Gedicht
tionen des kleinen Gedichts. Als Demonstra- zu einer bestimmten Hochzeit geschrieben
tion von G.s wachsenden dichterischen Fähig- wurde. Statt dessen betont der Untertitel das
keiten dient nicht nur die lebhafte Nachtszene vertraute Verhältnis zwischen dem Bräutigam
mit der Progression vom Gesehenen zum in- und dem Dichter, der sich im Laufe des Lie-
nerlich Gefühlten, sondern auch G.s Versuch, des, ebenso wie Amor selbst, als treu er und
im scherzhaften Gedicht die transformierende diskreter Freund beweist.
Kraft des Eros zu gestalten. Dieses Thema, Vor seiner Veröffentlichung in den Neuen
reich an Scherz und Ernst, hat G. in seinen Liedern wurde das Gedicht mindestens zwei-
Werken sein Leben hindurch immer wieder mal überarbeitet. Der Erstdruck und die frü-
beschäftigt. heren Fassungen sind in Der junge Goethe
(JG Fischer-Lamberg 1, S. 154f., 297f., 499f.)
enthalten. G. schickte die erste Fassung am 7.
Literatur: oder 9.10. 1767 an seinen Freund und Mentor
Boyle, Nicholas: Goethe. The Poet and the Age. Ox- Ernst Wolfgang Behrisch kurz vor dessen Ab-
ford 1991, S.82-83. - Eibl, Komm. in FA I, 1, fahrt aus Leipzig: »Ich schicke dir dieses
S. 792-798 u. S. 801-02. - EISSLER, S. 1296-1309. - kleine Gedicht, dessen Verfasser du an der
Geiger, Ludwig: Einundzwanzig Briefe Goethes an Denckungsart, und an der Versifikation gar
Behrisch. Oktober 1766 bis Mai 1768. In: GoetheJb. leichte erkennen wirst, um deine Meinung
7 (1886), S.76-124 u. S.142-151. - GUNDOLF,
darüber zu hören. Mir kommt es noch so ganz
S. 59-68. - Schlaffer, Heinz: Musa iocosa. Gattungs-
poetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dich- artig vor<<. Aufgrund einer zweiten Fassung in
tung in Deutschland. Stuttgart 1971, S. 181-188. - einer Abschrift von unbekannter Schreiber-
Strack, Adolf: Goethes Leipziger Liederbuch. Gie- hand, die sich im Nachlaß von Friederike Oe-
ßen 1893, S.44-63. - Viehoff, Heinrich: Goethe's ser fand und inzwischen verschollen ist, kann
Gedichte erläutert und auf ihre Veranlassungen, man annehmen, daß G. schon während der
Quellen und Vorbilder zurückgeführt. Bd. 1. Stutt- Leipziger Zeit eine Überarbeitung unternahm.
gart 31876, S.65-67. - Zeman, Herbert: Die deut-
sche anakreontische Dichtung. Stuttgart 1972, Da das Gedicht aber in die Sammlung Lieder
S.266-281. mit Melodien Mademoiselle Friederiken Oeser
gewiedmet von Goethen, die er ihr im August
Meredith Lee 1768 beim Abschied von Leipzig schenkte,
nicht aufgenommen wurde, bleibt es unbe-
kannt, wann oder wie Friederike Oeser die
Abschrift erwarb. Kopien von G.s Gedichten
zirkulierten unter den Leipziger Freunden.
Die letzte wichtige Überarbeitung, die dann in
Breitkopfs Liedersammlung vertont wurde, ist
wahrscheinlich erst in Frankfurt nach G.s
Rückkehr entstanden. Im Vergleich mit der
frühesten Fassung zeigt das Gedicht jetzt einen
52 Frühe Lyrik. 1767-1770

einheitlicheren Handlungsbau mit neuer Beto- Verzögerung von Seiten der Braut; die Klei-
nung der physischen Dringlichkeit (»beben«, dung, die im Gedicht als letztes Hindernis vor
»glühen«, »eilen«, »zittern«). In den Neuen dem Liebesakt fungiert. Amors spürbare Wir-
Liedern wird das dreistrophige Gedicht - jede kung nimmt im Laufe des Gedichts zu. Schon
Strophe achtzeilig in gereimten jambischen in der zweiten Strophe steigert sich das Ver-
Tetrametern - in A-Dur zu einer Melodie mit langen des Bräutigams. Klopfenden Herzens
leisem Schwung im Dreivierteltakt strophisch eilt er mit der Braut ins Schlafgemach. In der
gesetzt. Nur zwei weitere Vertonungen sind dritten Strophe weicht die frühere Strenge der
veröffentlicht worden, beide von wenig be- Braut einem erwartungsvollen Beben und Zit-
kannten Komponisten des 19. lhs. tern.
Bei einer Auswahl von Motiven aus der rei- Als engagierter Beobachter hat der Dichter
chen epithalamischen Tradition wird im Ge- die Vorbereitungen und die Annäherung an
dicht Nachdruck auf das Private und Intime Amors Reich mit großer Aufmerksamkeit und
gelegt. Es beginnt nicht beim Hochzeitsfest, Bewunderung beschrieben: »wie schlägt«
wo sich die Braut und der Bräutigam noch (V. 9), »wie glühst« (V. 11), »wie bebt« (V. 17).
unter die Gäste mischen, sondern im Schlaf- Aber als das Brautpaar sich entkleidet, folgt
zimmer, wo das Fest seine Vollendung finden der Dichter diskret Amors Beispiel: Amor
wird. Die ersten Zeilen: »Im Schlafgemach, schließt die Augen, und der Dichter beendet
entfernt vom Feste, / Sitzt Amor dir getreu und das Lied. Der Leser, der mit dem Dichter ins
bebt« (lG Fischer-Lamberg 1, S.297) stellen private Schlafgemach eingetreten ist, weilt am
einen Amor als wachsamen Kammerdiener Ende in der Atmosphäre, die Amor »schalkhaft
dar, der mit sichtbarer Freude auf das Ende des und bescheiden« (V. 23) geschaffen hat. Der
Abends harrt. Der Dichter übernimmt eine Leser wird nicht eingeladen - wie gewöhnlich
ähnliche Rolle: Innig engagiert, um das Wohl in der heterosexuellen erotischen Dichtung -,
seines Freundes besorgt, nicht nur ein Beob- durch die Augen des männlichen Liebhabers
achter, sondern auch einer, der des Abends den körperlichen Reiz der Braut zu schauen,
Fortschritt fördert, indem er dem vertrauten sondern nimmt, wie der dichtende Freund, an
Freund, dem »Du« des Gedichts, Amors Be- dem abgewandten, aber vergnügten Blick
reitschaft mitteilt. Das Gedicht bewegt sich Amors teil. In der Phantasie aber wird das
vom Gesellschaftlichen zum Privaten, vom vollendet, was dem Sehen entzogen bleibt.
Lärm des Hochzeitsfestes zur Ruhe des be- Amor, dem die Freuden des Bräutigams wohl
wachten Zimmers, das als »Heiligtum« be- bekannt sein dürften, wird dem Dichter und
zeichnet wird, wo »alles« »vollendet« wird. dem Leser als vorbildliche Identifikationsfi-
Der euphemistisch evozierte Liebesakt ist das gur angeboten. G. hat den Topos des diskreten
Telos der Gedichthandlung. Schlusses variiert, unter voller Wahrung des
Von Anfang an ist Amor die Verkörperung Anstandes, um das Erotische zu erhöhen. In
der erwartungsvollen erotischen Spannung: der Mischung von Dezenz und Erotik kommt
kein lüsterner Voyeur, wie ein Satyr oder lie- aber auch zuletzt eine jugendliche Ehrfurcht
derlicher Faun, der im Gebüsch versteckt eine vor den Geheimnissen der physischen Liebe
erspähte Liebesbegegnung in der Natur zu ge- zum Ausdruck.
nießen hofft, sondern Förderer einer eroti- Die wenigen Kritiker, die sich mit dem Ge-
schen Liebe, die gesellschaftlich gebilligt, so- dicht beschäftigt haben, haben sich überwie-
gar empfohlen wird. Im Reich, wo Amor jetzt gend mit der Frage der Überarbeitungen und
wacht und waltet, werden alle Barrieren weg- der dichterischen Vorbilder auseinanderge-
geräumt, die bisher das Paar von der bebenden setzt. Die Entdeckung der zwei früheren Fas-
Wonne, die er verkörpert, femgehalten haben: sungen im 19. lh. erweckte erstes kritisches
die Gesellschaft bzw. die Gäste, in der ersten Interesse. Die Abschrift in Friederike Oesers
Fassung auch die schützende Mutter; die frü- von Otto lahn 1849 veröffentlichtem Nachlaß,
heren Worte der Ablehnung oder zumindest die zunächst als die Erstfassung des Gedichtes
Hochzeitlied 53

galt, spielte in den frühen kritischen Versu- allem wegen seiner artistischen Kontrolle und
chen, G.s dichterische Entwicklung anhand seinem Zartgefühl, geschätzt. G. hat in diesem
seiner Überarbeitungen zu beschreiben, eine Gedicht ein Bild des erotischen Reizes ge-
bescheidene Rolle. Mit Ludwig Geigers Aus- schaffen, das nuancierter ist als in den meisten
gabe der Briefe an Behrisch von 1886, worin anderen Gedichten aus der Leipziger Zeit. In
sich die Fassung des Gedichts findet, die heute seinem Experiment mit der Erzählperspektive
als die früheste verstanden wird, wurde die übernimmt der Dichter eine Rolle, in der er
Diskussion erneuert. In seiner problemati- sich bei aller persönlichen Unerfahrenheit in
schen, aber einflußreichen Analyse von G.s der sexuellen Liebe doch als intimer Freund
dichterischen Anfängen zählt Friedrich Gun- von Amors Welt bekennen kann.
dolf das Gedicht zu den sechs Leipziger Lie-
dern, in denen ein neuer »authentischer«
G.-Ton ansetzt und damit der Durchbruch zum Literatur:
»echten« Erlebnis in der deutschen Dichtung. Eibl, Komm. in FA I, 1, S. 804f. - Geiger, Ludwig:
Die wiederholten Versuche, bestimmte Vorbil- Einundzwanzig Briefe Goethes an Behrisch. Oktober
der in den Werken von Catull, Johann Chri- 1766 bis Mai 1768. In: Goethelb. 7 (1886), S. 76-124
stian Günther und anderen zu entdecken, ha- u. S. 142-151. - GUNDOLF, S.59-68. - lahn, Otto
ben anhand einer reichen Materialiensamm- (Hg.): Goethe's Briefe an Leipziger Freunde. Leip-
zig 21867, S. 215-217 u. S. 227-229. - Oppenheimer,
lung, bei Adolf Strack und Eugen Wolff, die
Ernst M.: Goethe's Poetry far Occasions. Toronto
Tradition beschrieben, in der G. dichtete, aber 1974, S.22-24. - Strack, Adolf: Goethes Leipziger
den spezifischen Wert von angeblichen Quel- Liederbuch. Gießen 1893, S. 84-98. - Viehoff, Hein-
len zu hoch veranschlagt. Von Heinrich Viehoff rich: Goethe's Gedichte erläutert und auf ihre Ver-
im 19. Jh. als die Krone des Leipziger Lieder- anlassungen, Quellen und Vorbilder zurückgeführt.
buchs und von Strack weit übertrieben als die Bd. 1. Stuttgart 51876, S.70-72. - Wolff, Eugen:
Goethes Gedichte in ihrer geschichtlichen Entwick-
schönste Blüte der Gattung Hochzeitslied
lung. Oldenburg, Leipzig 1907, S. 303-312.
überhaupt bezeichnet, wird das immer noch
wenig bekannte Gedicht auch heute noch, vor Meredith Lee
54

dichte wie Seifahrt (1776), Vor Gericht (ver-


Lyrik des Sturm und Drang. mutlich 1776 oder 1777) und Harzreise im
1770-1775 Winter (1777) liegen bereits jenseits des hier
dargestellten Zeitabschnitts, gehören ihrem
Charakter nach aber durchaus noch zu den
Balladen und Hymnen der vorausgegangenen
G. war im August 1768 aus Leipzig zurück- Frankfurter Jahre. Dennoch kündigt sich als-
gekehrt. Die Zeit bis zum Aufbruch nach bald in Weimar ein Stilwandel in G.s Lyrik an,
Straßburg, um dort das Studium der Juris- gewiß auf eine kaum fixierbare Weise mitbe-
prudenz zu Ende zu bringen, schließt, was die wirkt durch Charlotte von Stein, die Herzogin
Lyrik angeht, eher an die Gedichte aus der Luise und Christoph Martin Wieland, die ne-
Leipziger Studienzeit an, als daß sie den Wan- ben und gegen des Herzogs Carl August Sturm
del zur Sturm und Drang-Lyrik ankündigte. und Drang-Gebärde an einem empfindsam ge-
Erst das Jahr 1770 markiert nicht nur eine tönten Frühklassizismus festhielten. Immer-
Zäsur in G.s Biographie, sondern auch in sei- hin entstanden das für Charlotte bestimmte
nem dichterischen Werk. rfarum gabst du uns die Tüifen Blicke und
In vier Sammlungen war der Ertrag der Wandrers Nachtlied (»Der du von dem Himmel
Jahre 1765 bis 1769 zusammengefaßt worden. bist«) ebenfalls schon 1776, inmitten des be-
Auch wenn es zwischen Annette (1767) und rüchtigten Weimarer Sturm und Drang-Jahres
Neue Lieder (1770) eine Fortentwicklung gibt, zwei Gedichte, die man sich eher synchron mit
so verbleiben doch die vier Sammlungen in- der Iphigenie auf Tauris als mit Stella oder
nerhalb des Spektrums der lyrischen Formen dem Uifaust vorstellen kann. Im Neben- und
und Gattungen, welche die seit 1740 zur Blüte Miteinander der verschiedenen Ausdrucks-
gelangte deutsche Rokokolyrik auf der einen, möglichkeiten ähneln sich die Jahre 1770171
Friedrich Gottlieb Klopstock in seinem Oden- und 1775176. Während der Beginn des großen
werk auf der anderen Seite bereitstellten. G. lyrischen Jahrfünfts noch manche Elemente
eignet sich einen Konventionalstil an, be- der Leipziger Lyrik weiterfUhrt, bei gleich-
herrscht ihn in allen seinen Möglichkeiten - zeitigem Aufbruch zu neuen Sprechhaltungen,
des Scherzes, des Witzes, der Zärtlichkeit, der zeigt die frühe Weimarer Zeit ein Nebenein-
Sartire und des Erhabenen - alsbald meister- ander von drastischer Direktheit des Sturm
haft (und darin gleicht er seinen Generations- und Drang und ersten Anzeichen klassizisti-
genossen, dem Maler Friedrich Müller und scher Dämpfung und Zurücknahme. Dennoch
Jakob Michael Reinhold Lenz), bildet einen liegt 1770 eine werkgeschichtlich markantere
Individualstil aber noch nicht so weit aus, daß Zäsur vor als 1775.
die überlieferten Gattungen wie Lied und Epi-
gramm, Idylle und Fabel, Madrigal und Ro-
manze, Elegie und erhabene Ode ihre normie-
rende Kraft verlören. Wie in seiner Formen- Überlieferung: Die zeitgleichen
sprache, so bleibt G. bis 1770 auch in seiner
Einzelabdrucke
Publikationspraxis konventionsgebunden. In
beiden wird sich das anschließende Jahrfünft
von Grund auf anders darstellen. Der Stil- und Strukturwandel der G.schen Ly-
Anders steht es mit dem Jahr 1775, das zwar rik zwischen 1770 und 1775 war allerdings fUr
ein bedeutsames biographisches, nicht aber die Zeitgenossen nur schwer wahrnehmbar.
ein werkgeschichtliches Datum markiert: Von den etwa hundert als selbständig anzuse-
warum auch sollte es mit G.s Wechsel von henden Gedichten hat G. nur wenige sofort
Frankfurt am Main nach Weimar mit seiner oder doch zeitnah zu ihrer Entstehung publi-
Sturm und Drang-Lyrik plötzlich vorbei sein? ziert, auf eine zusammenfassende Veröffentli-
In der frühen Weimarer Zeit entstandene Ge- chung des lyrischen Ertrags dieser fUnf Jahre
Lyrik des Stunn und Drang. 1770~ 1775 55

hat er ganz verzichtet. Bewußt oder unbewußt sind es die Hymnen Mahomets Gesang und
liegt darin nicht weniger eine Konventionsauf- Der Wandrer sowie das Künstlergedicht Der
kündigung als in der Sprache und in den For- Adler und die Taube. Ohne daß er diese Nähe
men der Gedichte selbst, ein Verfahren, das nachdrücklich gesucht hätte, erscheint G. hier
allenfalls im publizistischen Umgang Klop- neben den Dichtem des Göttinger Hain und
stocks mit seinen Oden ein Vorbild hat. Der Gottfried August Bürger, neben dem Maler
Markt für Lyrik war ein Markt für konven- Friedrich Müller und Matthias Claudius und
tionelle Gattungen; der Leipziger G. konnte vor allem neben Friedrich Gottlieb Klopstock.
ihn ohne weiteres bedienen, der G. des Sturm Um 1773/74 hätte der Lyriker G. keinen ihm
und Drang kann es nicht mehr und will es auch angemesseneren Kreis finden können, so sehr
nicht. Als Lyriker entzieht er sich damit zu- sich auch sein bereits ausgeprägter Individual-
gleich einer institutionalisierten Literaturkri- stil von der Schreibweise aller Genannten un-
tik, die in einflußreichen Zeitschriften wie terscheidet. Von den professionellen Auguren
Christian Felix Weißes Neuer Bibliothek der hat allerdings keiner wahrnehmen können,
schänen Wissenschaften undfreyenKünsteund daß hier ein junger Dichter seinen eigenen
Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutscher Bi- Kontur zu zeichnen beginnt, denn weder ste-
bliothek seit langem mächtige Foren hatte. Die hen die Gedichte im Almanach hintereinan-
39 Abdrucke G.scher Gedichte zwischen 1773 der, noch sind sie mit einer einheitlichen Sigle
und 1775/76, von denen drei beinahe gleich- gekennzeichnet.
zeitige Doppelabdrucke sind, so daß sich die Auch im Göttinger Musenalmanach des fol-
Zahl der mit G.s Zustimmung veröffentlichten genden Jahres ist G. mit zwei Gedichten ver-
Gedichttexte auf 36 vermindert, resultieren treten, die allerdings ein halbes Jahr zuvor
aus des Dichters Verfahren, seinem Freundes- schon Claudius im Wandsbecker Boten abge-
kreis gelegentlich Gedichte mündlich oder druckt hatte: Ein Gleichnfß (»Über die Wiese,
schriftlich mitzuteilen. Johann Gottfried Her- den Bach herab«) und die polemischen Verse
der, Matthias Claudius und Heinrich Christi an Da hatt ich einen Kerl zu Gast.
Boie waren die ersten, die mit G.s Einver- Im Jahr 1775 wird Johann Georg Jacobis
ständnis, aber ohne den Namen des Verfassers Zeitschrift Iris. Zeitschrift.für Frauenzimmer
preiszugeben, nach einer Pause von vier Jah- zum wichtigsten Medium G.scher Gedichtpu-
ren wieder G.sche Gedichte veröffentlichten. blikationen : mit zehn, über fünf Jahre hin ent-
Herder brachte im Rahmen des Sammelwerks standenen lyrischen Texten - und einem noch
Von deutscher Art und Kunst (1773) das Hei- älteren, in die Leipziger Zeit gehörenden ~
denr6slein; der Wandsbecker Bote des Matthias gibt Jacobis Blatt den klarsten, freilich noch
Claudius druckte 1773 zwei der von G. im immer ganz unzulänglichen Einblick in G.s
Elsaß gesammelten und dann bearbeiteten damaliges lyrisches Schaffen. In den Monaten
Volkslieder (Das Lied vom Herrn von Falcken- Januar, März, Juli, August und September
stein, Das Lied vom verkleideten Grafen) so- wurden hier Kleine Blumen, kleine Blätter,
wie die Kurzgedichte Cathechetische Induc- Mayfest (später: Maified), Der neue Amadis,
tion und Ein Gleichnfß (»Es hatt' ein Knab eine Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde
Taube zart«), ein halbes Jahr später folgten in (später: Willkommen und Abschied), Neue
derselben Zeitschrift eine weitere Volkslied- Liebe, Neues Leben, An Befinden, Den kleinen
bearbeitung (Das Lied vom braun Annel) und Straz.YJ, den ich dir binde (Widmungsverse zu
wiederum zwei Kurzgedichte: Da hatt ich ei- Erwin und Elmire) , Ob ich dich fiebe wefß ich
nen Kerl zu Gast und Ein Gleichn!ß (»Über die nicht, 1 Samuel 16 Cap 11 Vund Im Herbst
Wiese, den Bach herab«). Gewichtiger sind 1775 gedruckt. Auch diese Texte erschienen
G.s Beiträge zu Heinrich Christian Boies Gö"t- sämtlich anonym, nur gelegentlich mit einer
tinger Musenalmanach auf das Jahr 1774, der nichtssagenden Buchstaben-Chiffre versehen.
im Herbst 1773 herauskam: außer dem kurzen, So hatte es G. schon von Heinrich Christian
poetologisch bedeutsamen Gedicht Sprache Boie erbeten (vgl. seinen Brief vom 10.7.
56 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

1773), so wollte er es auch von Jacobi: « heut Briif an Lottchen (mit dem Verfassernamen:
empfang ich die Iris [ ... ], einige Blicke die ich Göthe), An Kenner und Liebhaber und Bun-
hinein thue, wecken in mir das Gefühl ver- des lied.
gangner Zeiten, und zugleich die Erinnerung Noch weitere G.sche lyrische Arbeiten wa-
einiger Lieder die es begleiteten. Ich nehme ren in der Hand von Freunden und zirkulierten
mir vor sie Ihnen zu schicken, und da ich heut in Abschriften. Aber nur Johann Gottfried
nach Tische zur lieben Tante [d.i. Johanna Herder konnte der Druckerlaubnis G.s sicher
Fahlmer, eine Stieftante Jacobis; d. Vf.] sein, als er 1778 in den Volksliedern Das Lied
komme, die den Einfall auch gut, und was ich vom jungen Grafen und Das Lied vom eifer-
ihr vorsage zum tone Ihrer Sammlung passend süchtigen Knaben veröffentlichte, zwei Texte
findet, sez ich mich gleich zu ihr hin, und aus dem Konvolut der von G. im Elsaß ge-
schreibe das aus dem Gedächtniss auf was Sie sammelten Volkslieder; ebenfalls in seine
hier mit erhalten. Können Sie's brauchen; so Volksliedervon 1778 nahm Herder den Klagge-
sezen sie verschiedne Buchstaben drunter, sa- sang von der edlen Frauen des Asan Aga auf,
gen niemand was davon, so haben die Herrn u die Bearbeitung einer südslawischen Ballade,
Damen was zu rathen« (1.12. 1774; JG Fischer- von G. wohl 1774175 geschrieben.
Lamberg 4, S. 257). Von den Gedichten im Uifaust, der integral
Im Herbst 1775 und im folgenden Jahr erst 1887 von Erich Schmidt aufgefunden und
stellte G. auch anderen Freunden und Bekann- ediert wurde, stellte G. vorab nur Der König
ten Gedichttexte zum Abdruck zur Verfügung. von Thule zum Abdruck zur Verfügung; 1782
Johann Heinrich Voß, Herausgeber des Göttin- erschien das Gedicht, mit dem Zusatz »Aus
ger Musenalmanachs auf das Jahr 1776 Göthens Dr. Faust« in Volks- und andere Lieder
brachte die Gedichte Der Kenner sowie Kenner in Musik gesetzt von S. Frhr. v. Seckendorf.
und Künstler; Heinrich Leopold Wagner er- Dessau 1782.
hielt von G. als Anhang zur Übersetzung von Über die genannten Gedichte hinaus konn-
Sebastien Merciers Neuem versuch über die ten die zeitgenössischen Leser G.sche Lyrik
Schauspielkunst unter der den Verfasserna- im Kontext seiner größeren Werke finden, dar-
men nun offenlegenden Überschrift Aus Goe- unter auch solche, die ursprünglich als eigen-
thes Briiftasche das Prosagedicht Dritte Wall- ständige Gedichte entstanden waren. Die
fahrt nach Erwins Grabe, ein ursprünglich an zweite Fassung des Götz, Mitte 1773 gedruckt,
Johann Heinrich Merck gerichtetes Briefge- enthielt am Beginn des zweiten Akts Liebe-
dicht Mein altes Evangelium, das Denck- und trauts Lied Mit Pfeilen und Bogen / Cupido
Tros tsprüch lein, Künstlers Morgenlied sowie giflogen, gegen Ende des dritten Akts singt
die zwei schon bei Voß gedruckten Gedichte; Georg das Kinderlied Es fing ein Knab ein
Johann Caspar Lavater setzte das Lied des Vögelein. Im März 1775 druckte Jacobis Iris
Physiognomischen Zeichners, das er im De- (2. Bd., 3. Stück) G.s Singspiel Erwin und El-
zember 1774 mit einem Brief G.s erhalten mire ab, das unter mehreren anderen lyrischen
hatte, an den Schluß des ersten Bandes der Stücken - Ihr verblühet si!ße Rosen, Auf dem
Physiognomischen Fragmente (1775). Ein Ge- Land und in der Stadt - auch das Lied Ein
legenheitsgedicht für Hieronymus Peter veilchen auf der Wiese stand enthält, ein Ge-
Schlosser - Du dem die Musen von den Akten dicht, das unabhängig vom Singspiel Anfang
Stöcken - ließ Schlosser zusammen mit einem 1774 oder noch etwas früher entstanden war.
eigenen Gedicht an G. 1775 in Frankfurt am In G.s zweitem Singspiel aus der Frankfur-
Main drucken. Als es nach G.s Übersiedlung ter Zeit, der Claudine von Villa Bella, Ende
nach Weimar galt, ein freundschaftliches Ver- 1775 in Berlin gedruckt, singt Crugantino die
hältnis zu Christoph Martin Wieland aufzu- Ballade Es war ein Buhlefrech genung, die G.
bauen, erhielt auch dessen Teutscher Merkur schon im Sommer 1774 in Köln im Kreis der
1776 einige der Gedichte aus den Jahren 1770 Jacobis vorgetragen hatte. Zur Herbstmesse
bis 1775 zum Abdruck: Auf Christianen R., 1774 brachte der Verleger Weygand in Leipzig
Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775 57

unter dem Titel Neueriiffnetes moralisch-poli- Jacobis Bestand an ungedruckten Texten G.s
tisches Puppenspiel eine Sammlung G.scher aus den Jahren 1770 bis 1775 geht der nicht
Farcen und Dramolette heraus, denen als Pro- autorisierte Druck von Wandrers Sturmlied
log ein Knittelvers-Gedicht vorangestellt war. (1810) zurück, den G. aus einem zeitlichen
Auch dieser satirische Text ist unabhängig von Abstand von fast 40 Jahren recht gelassen hin-
der Sammlung selbst entstanden und gehört zu nahm. War der Blick auf die Gedichte der
G.s literatur- und kunstkritischen Gedichten Sturm und Drang-Zeit in den späten 70er und
der Sturm und Drang-Phase. in den 80er Jahren kritisch-normativ, so wird
Die Form des anonymen, zerstreuten und er nun, während der Arbeit an Dichtung und
teils zufälligen, teils bewußt zurückhaltenden Wahrheit, autobiographisch-historisch. Man
Publizierens zwischen 1770 und 1775 hatte zur kann es ablesen an der vermehrten Berück-
Folge, daß der Lyriker G. selbst für seinen sichtigung dieser Texte in den Werkausgaben
Freundes- und Bekanntenkreis nur partiell seit 1815, auch an der Umdichtung der Verse
sichtbar wurde, im Gegensatz zur öffentlichen aus dem Sommer 1779, die für das Sechzehn-
Präsenz als Autor des lebhaft diskutierten Götz ten Buch im Vierten Teil von Dichtung und
und des Werther, des Clavigo und der Stella. Wahrheit vorgenommen wurde. Von der Pole-
Entsprechend fehlt es, von einigen brieflichen mik gegen Himburg nimmt G. nichts zurück,
Äußerungen abgesehen, an zeitgenössischen aber sein lyrisches Frühwerk beurteilt er nun
Urteilen über die Gedichte der Sturm und mit Nachsicht als »holde Zeugen süß verträum-
Drang-Zeit. Vor allem der Dichter der großen ter Jahre« (JVA I, 29, S. 16). Die Erfahrungen
Hymnen und der volksliednahen balladesken mit Himburg und mit Jacobi blieben jedoch
Gedichte blieb dem Publikum unbekannt. nicht ohne Einfluß auf Überlegungen des Wei-
marer G., wie mit der Lyrik der Sturm und
Drang-Jahre publizistisch umzugehen sei.

Nichtautorisierte spätere Drucke

G.s Umgang mit seiner Sturm und


G. selbst unternahm lange Zeit nichts, seine
Drang-Lyrik im ersten Weimarer
Gedichte aus den Jahren 1770 bis 1775 auch
nur vollständig zu sammeln, geschweige denn Jahrzehnt
zu einem Band für eine Publikation zusam-
menzustellen. Höchst bezeichnend ist seine
Reaktion, als 1779 in Berlin eine Edition von Drei Jahre nach der Übersiedlung nach Wei-
29 seiner Gedichte erschien, vom Verleger mar stellte G., wahrscheinlich für Charlotte
Himburg unrechtmäßigerweise veranstaltet. von Stein, ein Manuskript von 28 Gedichten
In dem kleinen Gedicht G.s aus diesem Anlaß zusammen, von denen 21 in den Jahren zwi-
zeigt sich, neben der Polemik gegen Himburg, schen 1770 und 1775 entstanden sind. Das
ein Maß von Distanz gegenüber den eigenen Bild, das er hier von seiner Sturm und Drang-
Jugendgedichten, wie es größer kaum gedacht Lyrik vermittelt, unterscheidet sich wesent-
werden kann. Er nennt sie »lang verdorrte, lich von dem, das die verstreut publizierten
halbverweste Blätter vor'ger Jahre« (JVA 1,5.1, Texte bieten. Vor allem enthält das Konvolut
S.161). sämtliche großen Hymnen, von denen ja nur
Beinahe noch ärgerlicher war es für den zwei 1773 im Druck erschienen waren. Zu-
Dichter, als Friedrich Heinrich Jacobi 1785 die sammen mit einigen weiteren Gedichten im
Sturm und Drang-Hymne Prometheus veröf- Ton der Ode oder Hymne bilden sie in dieser
fentlichte, nicht weil er den Text für mißraten Ersten Weimarer Gedichtsammlung den
gehalten hätte, sondern weil Jacobi ihn damit mächtigen Auftakt, angefangen von Mahomets
in den Spinoza-Streit hineinzog. Ebenfalls auf Gesang als dem ersten bis zu Der Wandrer als
58 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

dem elften Text. Zu Recht hat man hierin ein Werken (Stuttgart und Tübingen, Cotta 1815).
»komponiertes Ensemble« (EibI, S. 732) gese- Jetzt werden auch einige der kleinen satirisch-
hen, das programmatisch Zeugnis ablegt von polemischen Gedichte, die G. in den 70er Jah-
der tiefgreifenden VelWandlung des hohen ren teils anonym publiziert, teils unveröffent-
Stils älterer Prägung durch den G. der 70er licht gelassen hatte, unter die Werke aufge-
Jahre. Erst in dieser Handschriften-Sammlung nommen; den bedeutsamsten Zugewinn aber
wird eine ganz wesentliche Seite seiner Lyrik stellt die große Hymne Wandrers Sturmlied
überhaupt erkennbar, freilich wieder nur für dar, die G. 1814, in Dichtung und Wahrheit, als
die Weimarer Vertrauten, die in das Konvolut »Halbunsinn« qualifiziert hatte (WA I, 28,
Einblick nehmen konnten. S. 119). Bis zur Ausgabe letzter Hand blieb der
Die erste öffentliche Selbstpräsentation G.s von G. in Druck gegebene Bestand seiner Ly-
als Lyriker, in der auch Gedichte der Sturm rik aus den Jahren 1770 bis 1775 nun unverän-
und Drang-Zeit berücksichtigt sind, findet dert. Der enge Zusammenhang zwischen den
sich in Goethe 's Schriften. Achter Band. Leip- Werken der Sturm und Drang-Jahre war wei-
zig, bey Georg Joachim G6schen, 1789. Von terhin unkenntlich, zumal G. nicht daran
Herder bestärkt, hat G. allerdings so sehr ge- dachte, die Überarbeitungen aus den späten
sichtet und überarbeitet und darüber hinaus 80er Jahren rückgängig zu machen.
die Anordnung der Gedichte so disponiert,
daß der spezifische Charakter der Sturm und
Drang-Lyrik nicht mehr deutlich hervortritt.
Nur 28 Gedichte dieser Periode hat G. der Druckgeschichte der Sturm und
Aufnahme für wert befunden, von 90 insge-
Drang-Lyrik G.s nach dessen Tod
samt dort abgedruckten. Sie stehen unter-
mischt mit Lyrika der Leipziger Zeit und mit
solchen aus dem ersten Weimarer Jahrzehnt. G.-Verehrung und G.-Philologie des 19. Jhs.
Zu dieser Moderierung durch Anordnung brachten weitere Zeugnisse früher G.scher Ly-
tritt die durch Überarbeitung, um »die allzu rik ans Licht. 1833 veröffentlichten Johann
individuellen und momentanen Stücke eini- Peter Eckermann und Friedrich Wilhelm Rie-
germaßen genießbar zu machen« (an Herder, mer aus G.s Nachlaß die Geschichte Gotifrie-
1.3. 1788). Die Tendenz der Überarbeitung dens von Berlichingen mit der eisernen Hand
zielt durchwegs auf die Zurücknahme des Cha- dramatisiert, die Erstfassung des G6tz von
rakteristischen und Besonderen zugunsten des 1771172, darin am Beginn des Zweiten Auf-
Typischen und Allgemeinen, des Spontanen zugs Liebetrauts Lied Berg auf und Berg ab,
zugunsten des Kalkulierten, des Expressiven am Beginn des Fünften Aufzugs das Lied der
zugunsten des Gedämpften. Soweit es die zur Zigeunerinnen Im Nebel Geriesel im tiifen
Aufnahme bestimmten Gedichte zuließen, Schnee, ein unheimlich dichter balladesker
wurden sie nach klassizistischen Stil normen Text mit chorischem Refrain.
revidiert. Immerhin konnte man in dieser Aus- Weiteres Material kam aus den Nachlässen
gabe zum ersten Mal Gedichte wie Geistes- der Freunde und Bekannten G.s: von Friede-
gr1flJ, Lili 's Park und vor allem die Hymnen An rike Brion, Herder, Lenz, Johann Heinrich
Schwager Kronos und Ganymed gedruckt fin- Merck, Charlotte und Johann Christi an Kest-
den; auch Prometheus hatte G. aufgenommen, ner, den Jacobis und ihrem Kreis, Lavater,
nachdem die Publikation durch Jacobi nun Charlotte von Stein und anderen. So entstand
einmal den Text bekannt gemacht hatte. in den Jahren zwischen G.s Tod 1832 und dem
Die während der Arbeit an Dichtung und Beginn der philologischen Erschließung des
Wahrheit erkennbar gewandelte Auffassung handschriftlichen Nachlasses G.s ab 1885, ge-
G.s von seinem Jugendwerk bestätigt sich in gen die Autorität der Ausgabe letzter Hand,
der ElWeiterung der Lyrik-Auswahl für die ein Bewußtsein dafür, daß »der junge G.« und
ersten zwei Bände der Ausgabe von Goethe 's insbesondere der Sturm und Drang-G. als ein
Lyrik des Stunn und Drang. 1770~ 1775 59

Phänomen eigener Art noch zu entdecken empfindsame freirhythmische Oden; in Knit-


seien. telversen sowohl derbe burleske und polemi-
1875 zog Salomon Hirzel eine erste Summe: sche Texte als auch wichtige kunsttheoretische
Der junge Goethe. Seine Briife und Dichtun- Bekenntnisse. Auffallig ist die häufige Nähe
gen von 1764~ 1776, hrsg. von Salomon Hirzel, zum Dialogischen, wie überhaupt die Grenzen
mit einer Einleitung von Michael Bernays. zwischen der Lyrik und den kleinen dramati-
Band 1~3. Leipzig 1875. Hier war fast alles schen Arbeiten, aber auch den Fragmenten
gesammelt, was bis dahin an Drucken und größer geplanter dramatischer Entwürfe un-
Handschriften auch der Gedichte aus den Jah~ scharf werden. Die Unterscheidung zwischen
ren 1770 bis 1775 zugänglich geworden war. dramatischem Rollen-Ich, lyrischem Ich und
Hirzels und Bernays' Rekonstruktionsleistung biographischem Ich ist oft nur noch in einem
mußte freilich unvollkommen bleiben, da die rein äußerlichen Sinn möglich. Soweit ältere
Weimarer Archivbestände noch verschlossen Gattungsbegriffe wie Lied und Hymne auf G.s
waren. Aber sie hatten den Weg gewiesen. Un- Sturm und Drang-Lyrik angewandt werden,
abhängig von der Weimarer G.-Ausgabe, aber muß man sich der durch den jungen G. be-
nachhaltig unterstützt von den Archiven an wirkten grundlegenden Neugestaltung des ge-
den G.-Stätten in Weimar und Frankfurt am samten älteren Systems lyrischer Gattungen
Main, setzte Max Morris ihre Arbeit fort und bewußt bleiben. Wo diese Gedichte Überlie-
schuf mit Der junge Goethe. Neue Ausgabe in fertes aufnehmen, stellen sie sich nicht in eine
sechs Bänden besorgt von Maz Morris, Leipzig Tradition, sondern machen sie sich auf eine
1909~ 1912 für mehr als ein halbes Jahrhundert radikal-individuelle Weise zu eigen.
die Textgrundlage zur Erforschung der Ge- Seit mit der Edition von Max Morris das
dichte aus der Frühzeit. Erst durch die editori- vollständige Corpus der frühen Lyrik in au-
sche Leistung von Max Morris wurde das Bild, thentischer Gestalt sichtbar geworden ist,
das G. selbst in späteren Jahren von seiner reißt die Diskussion über das Einheitsstif-
Sturm und Drang-Epoche gezeichnet hatte, tende in dieser Mannigfaltigkeit der Gattun-
endgültig revidiert. Die Neubearbeitung der gen nicht ab. Worin unterscheidet diese Lyrik
Edition, herausgegeben von Hanna Fischer- sich von der vorausgehenden, auch von G.s
Lamberg, Berlin 1963-1973, konnte durch er- eigener der Leipziger Zeit? Man hat sie als
neute Kollationierung der Handschriften zahl- »irrationalen Dichtungsstil« (vgl. KORFF; ähn-
reiche textliche Verbesserungen vornehmen, lich Langen) und »unmittelbare Gefühlsaus-
das Corpus der lyrischen Gedichte jedoch nur sprache« (vgl. Böckmann), vor allem aber als
geringfügig erweitern. Bedeutsam sind man- »Erlebnislyrik« zusammenfassend charakteri-
che Neudatierungen und insbesondere das siert. Emil Staiger spricht von »auf dem Zufall
Ausscheiden von für das Lyrikverständnis ein- des Augenblicks« beruhender Schöpfung, die
schlägigen Rezensionen aus den Fran!ifurter »mit dem Augenblick wieder zerrinnt« (S. 78).
Gelehrten Anzeigen 1772, die nach neueren Im aus dem Augenblick gewonnenen Gedicht
Forschungserkenntnissen nicht mehr für G. in schlägt sich eine bis dahin ungekannte Durch-
Anspruch genommen werden können. dringung von Ich und Welt nieder - »umfan-
gend umfangen«, dieser Vers aus der Hymne
Ganymed wird bei Staiger zu einer Schlüs-
selformel für G.s Sturm und Drang-Lyrik
Gattungsvielfalt und innere Einheit (S.66). Neben die in der älteren Forschung
akzentuierten Begriffe Gefühl und Stimmung
stellt Roy Pascal nachdrücklich den der Erfah-
Eine große Gattungsvielfalt kennzeichnet G.s rung; der Dichter erspüre die spezifische Ei-
Lyrik zwischen 1770 und 1775: liedhafte Lie- genart jeder Erfahrung und nehme sie in sei-
beslyrik, dem Volkslied nahe Gedichte und nem Innern als strukturierte und proportio-
Balladen, Hymnen in freien Rhythmen und nierte wahr (S. 340): intensives Erleben, aber
60 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

gefonnt und gemeistert - »vor allem Goethes zur Voraussetzung hat und selbst anstrebt. Die
Gedichte gehen aus dem intensiven Gefühl Kategorie des Besonderen, in diesem Sinn,
hervor; aber beim Dichten lösen sich die Span- umfaßt alle Modifikationen G.scher Lyrik zwi-
nungen und werden der gesellschaftlichen schen 1770 und 1775, von den Liebesliedern,
Welt wieder heil zurückgegeben« (S.370). Volksliedern und Balladen bis zu den Hymnen,
Nach einer Phase kritischer Distanz gegenüber von den Künstlergedichten bis zu den burles-
dem in der älteren Forschung eng mit dem ken und polemischen Knittelversen. Das ,Be-
Irrationalismus einerseits, der biografischen sondere< kennzeichnet ununterschieden Ge-
Lektüre andererseits verknüpften Begriff »Er- dicht-'Gelegenheit< und Gedicht-Gestalt. Un-
lebnislyrik«, einer Phase, in der man G.s Lyrik ter dem Begriff des ,Charakteristischen<, des-
der 70er Jahre genauer auf das hin unter- sen sich der junge G. häufig bedient, rückt die
suchte, was sie der Antike und der Renais- Kategorie des Besonderen in das Zentrum
sance-Poetik bis zu ihren späten Ausläufern in auch von G.s eigenen kunst- und literaturtheo-
der vorausgehenden Lyrik des 18. Jhs. ver- retischen Bemerkungen in der Stunn und
dankt (Sauder), inwieweit sie in ihren Ich- Drang-Epoche.
Rollen bewußt Fiktionalität entwirft (Con-
rady) , inwieweit sie in experimentierendem
Schreiben zwischen 1770 und 1775 die distan-
zierenden, auch episierenden Elemente nach Der neue Lyrikstil
und nach überwindet, »Übereinstimmung ei-
nes Ich mit sich selbst und der Welt« erarbeitet
(Weimar, S. 128), hat der Begriff »Erlebnisge- Während der Leipziger Studienzeit hatte sich
dicht« für G.s frühe Lyrik erneut an Bedeutung G.s Poesie aus der rheinfränkischen Sprach-
gewonnen (0hrgaard, in: Jorgensen, S.445). welt seiner Herkunft gelöst. Der Autor machte
Allerdings nicht in dem Sinn, daß ,Erlebnis< sich die obersächsische, Meißnerische Sprach-
und ,Gedicht< voneinander zu trennen seien nonn zu eigen, wie denn auch seine scherz-
und das ,Erlebnis< dem ,Gedicht< voraus- hafte und witzige Lyrik sich zwar noch einem
ginge, vielmehr »schafft [das Gedicht] das Er- empfindsamen Rokokostil öffnet, im ganzen
lebnis, das es ausspricht« (Kaiser, 1988, Bd. 1, aber innerhalb der von Johann Christoph Gott-
S.68), sein Ich ist »nicht einfach das biogra- sched um die Jahrhundertmitte systematisier-
phische Ich des Dichters; es ist nichts anderes ten Stilnonnen verbleibt. Auch die drei in der
als das Ich, das da sprechend erlebt und erle- Nachfolge Klopstocks stehenden erhabenen
bend spricht« (ebd., S. 69). Das Erlebnis in Oden an meinen Freund von 1767 sprengen
diesem Sinn ist »erschrieben; Stilisierung ist nicht das seit 1750 etablierte System lyrischer
das Medium seines Erscheinens« (Kaiser, Ausdruckshaltungen. Um 1770 aber kehrt G.s
1988, Bd. 2, S. 584). Eine solche Integration Lyriksprache partiell zu altertümlicheren
der Dimensionen der Erinnerung, des Erleb- Sprachfonnen zurück und nähert sich wieder
nisses und des Textes findet sich bestätigt in der dem Dichter von Kindheit an vertrauten
der Kategorisierung der Stunn und Drang-Ly- Mundart. Die Literatursprachen des 16. Jhs.,
rik G.s als einer neuen Fonn der 'Gelegen- insbesondere die Martin Luthers und Hans
heits<-Dichtung, die sich nicht nur auf G.s ei- Sachs', werden jetzt ebenso als dichterische
genen Begriff der 'Gelegenheit< beruft, son- Ausdrucksmedien rezipiert wie Homer und
dern auch auf seinen emphatischen Begriff des Pindar, wie Shakespeare und anonym tradierte
'Augenblicks<. Gedichte sind »Augenblicks- Volkslieder, wie James Macphersons Ossian-
Offenbarungen des Ganzen« (Eibi, S.731), Dichtungen und wie die mit erneuter Inten-
und zwar des ,Ganzen< im ,Besonderen<. Sie sität aufgenommene poetische Sprache Fried-
steht damit in Gegensatz zur vorausgehenden rich Gottlieb Klopstocks. Alle diese Namen
Leipziger Lyrik, die wie alle ältere Lyrik ein mit Ausnahme von Pindar und Hans Sachs fin-
Allgemeines und Verallgemeinerungsfahiges den sich auch schon in Zeugnissen zwischen
Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775 61

1765 und 1770. Aber nur in Bezug auf Homer verbindet sich ftir G. unter der Anleitung von
und Shakespeare gibt es um 1769/70 Äußerun- Herders intuitiver und reflektierender Kraft zu
gen, die auf die sich in Straßburg anbahnende einem lebendigen Ganzen. Herder sammelt in
Wende G.s vorausdeuten. Auch in einigen diesen Monaten schon Materialien altmorgen-
Briefabschnitten der ersten Straßburger Mo- ländischer Poesie, aus denen 1773 das Werk
nate kündigt sie sich an. Eines dieser Zeug- .Aiteste Urkunde des Menschengeschlechts her-
nisse zeigt, wie eng Schönheit, Genie und >Le- vorgeht, eine umfangreiche rhapsodische Ab-
ben ( in G.s Denken bereits beieinander liegen handlung, die Natur, Offenbarung und Poesie
und wie weit ein ganzheitliches Wahrnehmen in ihrem ungeschiedenen Ursprung in eins zu
sich vom analytischen Zugriff der frühen und denken sucht. Aus nächster Nähe erlebt G. die
mittleren Aufklärung entfernt hat: »Mendels- Entstehung der Abhandlung Über den Ur-
sohn und andre [ ... ] haben versucht die sprung der Sprache (1770) und liest auf Anre-
Schönheit wie einen Schmetterling zu fangen, gung Herders die Schriften Johann Georg Ha-
und mit Stecknadeln, für den neugierigen Be- manns. Gemeinsam und im Wettstreit über-
trachter festzustecken; es ist ihnen gelungen; setzen Herder wie G. Teile aus Ossian, auf
doch es ist nicht anders damit, als mit dem Anregung Herders und für dessen geplante
Schmetterlingsfang; das arme Thier zittert im Volkslied-Sammlung zeichnet G. im Elsaß
Netze, streifft sich die schönsten Farben ab; Volkslieder aus mündlicher Überlieferung auf.
und wenn man es ia unversehrt erwischt, so Nach Straßburg wird Herder die erste Buch-
stickt es doch endlich steif und leblos da; der ausgabe Klopstockscher Gedichte übersandt:
Leichnam ist nicht das g a n z e Thier, es gehört Klopstocks Oden und Elegien. Vier und dreys-
noch etwas dazu, noch ein Hauptstück, und sig mal gedruckt. Darmstadt 1771. Die Em-
bey der Gelegenheit, wie bey ieder andern, phase, die seinen Dankbrief auszeichnet,
ein sehr hauptsächliches Hauptstück: das Le- dürfte sich G. mitgeteilt haben; seine Kritik
ben, der Geist der alles schön macht« (an Hetz- wird er nicht verschwiegen haben - den Man-
lerd. J., 14.7. 1770). gel an Bildlichkeit: »Von seinen Oden bleibt
Im September 1770 lernte G. in Straßburg auch nichts, als Dämmrungston dunkler Emp-
Johann Gottfried Herder kennen, im Oktober findungen in der Seele!« (an Johann Heinrich
die Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Merck, Februar 1771). Die von Herder ausge-
Brion. Es steht außer Frage, daß beide Erleb- henden Impulse wirkten über den Straßburger
nisse des 21 jährigen in seinem Leben und in Beginn der Freundschaft bis weit in die Wei-
der Geschichte seines lyrischen CEuvre Epoche marer Zeit hinein.
gemacht haben. Aus Briefen G.s an Oeser vom Herder befreite G. von den letzten Bindun-
14.2.1769 und an Langer vom 30.11. 1769 geht gen an die normative Stilistik und begründete
hervor, daß der Dichter Herders Position in neue Maßstäbe der Kritik, die dem Stil der
der Laokoon-Diskussion und seine Kritischen G.schen Sturm und Drang-Lyrik eine anthro-
Wälder (Teil 1-3, 1769) kannte; er blieb aber pologische, historische und ästhetische
distanziert: »Pour parler des beaux arts il faut Grundlage und Rechtfertigung gaben. Zusam-
plus que d'etre critique, et que de scavoir for- men mit der sich gleichzeitig ereignenden
mer de belles hypotheses« (an Langer, 30.11. Freisetzung der eigenen Individualität in der
1769). Der ein halbes Jahr andauernde enge Liebe zu Friederike Brion steht die Begegnung
persönliche Verkehr veränderte seine Haltung G.s mit Herder als glückhaftes Ereignis am
von Grund auf. Im Bannkreis von Herders gei- Beginn einer neuen Epoche der G. schen, ja der
stiger Energie liest G. erneut Homer, Shake- deutschen Lyrik. Noch die späte Darstellung
speare und Ossian, beschäftigt sich mit altnor- in Dichtung und Wahrheit (JVA 1,27, S. 302ff.)
discher und altkeltischer Poesie und läßt sich legt davon beredtes Zeugnis ab.
die Welt der Volkslied-Überlieferung erschlie- Von 1770 an folgt G.s Lyrik einem anderen
ßen. Was in den Jahren zuvor gelehrte und Formkonzept als zuvor, das, aus den erstmals
voneinander gesonderte Lektüre gewesen war, entdeckten oder mit durch Herder geschärf-
62 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

tem Sinn wieder entdeckten literarischen Wel- versionen, Ellipsen, Apostrophe und Ausrufe
ten entwickelt, sich als originär, als deutsch, erlauben vielmehr, rhythmische Emphase
als individuell versteht. Seine leitenden Ideen durch die Positionierung bestimmter Wörter
sind nicht mehr Richtigkeit im Sinn einer an exponierte Stellen im Versverlauf zu er-
sprachlichen und metrischen Norm, sondern zeugen. Beide Befreiungen, die des Verses und
Vielfalt, Kraft, Bewegung und Geftihlsintensi- die der Syntax, schaffen dem Ich-Ausdruck bis
tät. Gegenüber den poetologischen Regelwer- dahin unbekannte Spielräume. Und doch han-
ken und den Leipziger dichterischen Versu- delt es sich nicht um willkürlichen Ich-Aus-
chen unter den Anweisungen dieser Regel- druck, vielmehr bleibt der Kunstanspruch
werke bedeutet das neue Formkonzept einen durchaus bestehen. Nicht im Sinne eines vor-
Akt der Befreiung. G.s Behandlung des Verses gängigen Wissens um >>Verhältnisse, Maase
gewinnt eine bis dahin ungekannte, kraftvolle und des Gehörigen«, sondern in der Gewiß-
Flexibilität. Metrik und Rhythmus stehen heit, daß das Gefühl selbst, indem es zum Aus-
nicht mehr im Dienst einer Ordnung des Ver- druck gelangt, sich als ein Sinn des richtigen
ses, sondern des intensiven Gefühlsausdrucks : Maßes und der richtigen Proportion erweist.
»Schöpfungskraft im Künstler sey aufschwel-
lendes Gefühl der Verhältnisse, Maase und des
Gehörigen« (JG Fischer-Lamberg 5, S.240).
So stehen im Corpus der Gedichte nebenein- Charakteristische Themen und
ander Verse in alternierendem Metrum und Motive
solche, die sich der vom Volkslied und vom
Knittelvers legitimierten Senkungsfreiheit be- Die großen Themenbereiche, die G. sich in
dienen, reimlose vierzeilige Strophen, in de- der neuen lyrischen Sprache aneignet, heißen
nen iambische Vierheber und Dreiheber kon- >Natur<, >Liebe<, >Genie< sowie >Kunst< und
sequent wechseln, und Gedichte in freien >Künstler<. Allerdings würde es schwerfallen,
Rhythmen, und wiederum Gedichte in freien das lyrische Werk des Sturm und Drang-G.
Rhythmen, die >geregelte< Versgruppen in sich entsprechend einzuteilen, allzu eng sind die
bergen - wie die iambischen Vierheber 55 bis Überlagerungen zwischen mehreren oder al-
45 in Fels-Weihegesang an Psyche (JG Fischer- len genannten Themenbereichen. Die Ge-
Lamberg 2, S.265), die trochäischen Vierhe- samtheit der Gedichte zwischen 1770 und 1775
ber in Mahomets Gesang von Vers 61 bis zum entfaltet ein breites Spektrum allein von aus-
Schluß (JG Fischer-Lamberg 5, S. 155) oder drücklichen Prädikationen der >Natur<, wie es
die Verse dreizehn bis fünfzehn in An Schwa- weder die >schöne Natur< der Rokokotradi-
ger Kronos, die man als asklepiadeische Halb- tion, noch die erhabene oder die >Mutter Na-
verse lesen kann (JG Fischer-Lamberg 4, tur< in der Nachfolge Albrecht von Hallers
S. 270) -, Madrigalverse und ein Prosa-Hym- oder Friedrich Gottlieb Klopstocks in sich
nus wie Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im schlossen: die leuchtende und glühende, die
Juli 1775 (JG Fischer-Lamberg 5, S.259f.). allheilende und leitende Natur; die Natur, die
Das Metrum dominiert nicht den Rhythmus erahnt und gefühlt werden will, die als ewig
und transportiert definite Affekte, vielmehr keimende und schöpferische zugleich ewig
werden Metrum und Rhythmus, kongruent zertrümmernde und zerstörende ist, lebendi-
oder antagonistisch, zu Medien subjektiven, ges Buch, Urquell, übermächtige Mutter. Die
aus dem Textzusarnmenhang nicht extrapolier- rührend-erhabene >Mutter Natur< wird abge-
baren, momentgebundenen Gefühlsaus- löst von einer Natur, deren göttlich-vitale
drucks. Macht tradierte Personifikationen immer wie-
Wie mit dem Metrum verhält es sich mit der der überschreitet und sprengt. Wenn G. von
Wortfolge und der Syntax. Sie unterliegen der >Herrlichkeit< der Natur spricht (JG Fi-
nicht länger einer der Prosawortfolge weitge- scher-Lamberg 5, S.590), dann ist das nicht
hend angenäherten >natürlichen< Regel. In- nur ästhetisch gemeint, sondern bringt auch
Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775 63

Macht, ja Gewalt zum Ausdruck. Unter den Thule, JG Fischer-Lamberg 4, S.229f.; Das
Naturbildern dominieren der Morgen, Früh- Veilchen, ebd., S. 31).
ling und Herbst, Strom und See, Gebirge und Neben Natur und Liebe kennzeichnet das
arkadisch getönte ländliche Szenerien. Unwet- Genie-Thema G.s Sturm und Drang-Lyrik,
ter und Nebellandschaften, literarisch beglau- wobei von vornherein die Ich-Rollen und die
bigt durch die Stimmungslandschaften bei Gestalten in die Nähe des Künstler-Genies ge-
Shakespeare und Ossian, bereichern von den raten. Ungeachtet einer weit über die Künst-
Sesenheimer Liedern an die Naturbildlichkeit lergestalt hinausgehenden Genie-Vorstellung
der G.schen Lyrik. ist es doch vornehmlich die Kunst, in der sich
das Genie verwirklicht. G.s frühe Lyrik steht,
Kaum weniger prägend für G.s Lyrik der was das Genie-Thema angeht, seiner Drama-
Sturm und Drang-Jahre sind die Liebesge- tik besonders nahe, angefangen vom Götz und
dichte und die, in denen Liebe in objektivier- den Fragmenten eines Caesar-, eines Maho-
ter Form thematisiert ist. Neben der zu Grup- met-und eines Prometheus-Dramas bis zu Cru-
pen zusammentretenden Friederiken-Lyrik gantino in Claudine von Villa BeUa und zum
von 1771 und der Lili-Lyrik von 1775 finden Faust. Alle großen Hymnen - Wandrers Sturm-
sich höchst unterschiedliche Konstellationen: lied, Prometheus, Mahomets Gesang, Gany-
teils als philiströs karikierte, teils genrehaft med, An Schwager Kronos - sind damit befaßt,
beleuchtete Gattenliebe, empfindsame Freun- so daß in der weiterentwickelten Tradition des
dinnenliebe, burleske Bauern- und donqui- erhabenen Stils von Pindar und Klopstock ge-
chotesque Ritterliebe, Liebe zweier Freundin- rade dieses Thema vor allem seine lyrische
nen, das Künstlerturn stimulierende Liebe, hö- Darstellung findet. Auch in nicht programma-
fischer Flirt und Liebesverrat, auch Reste tisch dem Genie-Thema zugewandten Texten
empfindsamer Schäferliebe. G. bewegt sich hohen Stils bildet es doch zentrale Motive, wie
hier sehr frei in überlieferten Ausdrucksmodi in Der TTandrer und Der Adler und die Taube.
empfindsamer und scherzhafter Lyrik, die un- In Der Wandrer fallt das Wort, das die we-
ter seiner aneignenden Kraft individuelle sentliche Charakteristik des Genies ausmacht:
Züge empfangen. Der erhabene Stil bleibt da- »Götterselbstgefühl« (JG Fischer-Lamberg 2,
bei dem hymnischen Ausdruck der All-Liebe, S. 236). Aber nicht nur in den Hymnen, auch in
des Einswerdens mit der Gott-Natur vorbehal- Gedichten anderer Form begegnet das Genie-
ten (Mahomets Gesang, Ganymed). Was ganz Thema, im Briefgedicht Mein altes Evange-
fehlt, ist die von vornherein aussichtslose lium (JG Fischer-Lamberg 4, S. 258f.), dessen
Liebe der petrarkistischen Tradition. Elegi- entscheidende letzten zwei Abschnitte dann
sche Töne schlagen die Gesänge von Selma an, als Lied des Phisiognomischen Zeichners
G.s frühe Ossian-Bearbeitungen in lyrischer (ebd., S.260) in Lavaters Physiognomische
Prosa. Liebessehnsucht und Liebeskummer Fragmente eingingen, und in den schlichten,
aber gewinnen unmittelbar individuellen Aus- gebets artigen Vierzeilern von Sehnsucht
druck (Ein grauer trüber Morgen, JG Fischer- (JG Fischer-Lamberg 5, S.266), in denen
Lamberg 2, S.82; Ein zärtlich jugendlicher nichts geringeres als eine Totalität von Liebe
Kummer, ebd.). Wo die Liebeslyrik sich in den und Schmerz, ein Erfülltwerden mit dem
überlieferten Formen des Volkslieds oder der >Ewigen<, der Gott-Natur, erbeten wird. Einen
Ballade bewegt, gelingt es dem jungen G. Abschluß der zum Themenbereich >Genie< zu
gleichwohl, jede dem Volkslied eigene ab- zählenden Sturm und Drang-Gedichte G.s bil-
strakte Formelhaftigkeit zu vermeiden, so daß det der Prosahymnus Dritte Wallfahrt nach Er-
gerade diese Gedichte in ihrer Verbindung von wins Grabe im Juli 1775, der an das frühe,
Altertümlichkeit und >moderner< Innigkeit zu freilich noch nicht lyrisch geformte Werk G.s,
den bekanntesten Texten der Sturm und das dem Genie huldigt, anknüpft: Von deut-
Drang-Zeit geworden sind (Heidenröslein, JG scher Baukunst (JG Fischer-Lamberg 3,
Fischer-Lamberg 2, S.33L; Der König von S. 1OlfL).
64 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

Zur lyrischen Formung der drei großen The- tur< gehörenden Motiven besondere Hervor-
menbereiche treten charakteristische Motive, hebung. Nicht weniger als achtzehn Mal be-
die noch über die Lyrik hinaus G.s Sturm und gegnet das Wort, zumeist in Komposita, in den
Drang-Dichtung in ihrem individuellen Kon- zwischen 1770 und 1775 entstandenen Gedich-
tur auszeichnen. Wie Werther sich selbst als ten, und zwar ohne erkennbare gattungs be-
Wanderer bezeichnet und wie Adelheid in der stimmte Präferenz: Pilgers Morgenlied und
Erstfassung des Götz die Zigeuner »fürchter- Künstlers Morgenlied; »Morgen schimmer«,
liche Wandrer« nennt (JG Fischer-Lamberg 2, »Morgenwolken«, »Morgenblumen«, »mor-
S. 198), so entwirft sich das lyrische Ich nicht genschön«, »Ein grauer trüber Morgen«,
nur einiger Hymnen häufig als Wanderer, »Morgenschlummer«, »Morgen Nebel«,
Fremdling, Pilger oder Reisenden (vgl. ebd., »Frühlingsmorgen«, »Morgendüfte«, »Mor-
Wandrers Sturmlied, S.228ff.; Der Wandrer, genglanz«, »Knabenmorgen«, »Morgenroth«,
S. 255ff.; Elisiuml an Uranien, S. 258f.; Pil- »Morgenwind« (zweimal), »des Wandrers
gers Morgenlied / an Lila, S. 261; Fels-Weihe- Blick am Morgen«, »morgendlich«. Das Motiv
gesang / an Psyche, S. 262f.; JG Fischer-Lam- gehört zu den signifikanten Elementen in dem
berg 4, An Schwager Kronos, S. 27Of.; JG Fi- sich entwickelnden Individualstil des jungen
scher-Lamberg 5, Dritte Wallfahrt nach Er- Lyrikers. Er verwendet es sowohl im eigent-
wins Grabe im Juli 1775, S.259f.; Salomons lichen Sinn als auch übertragen (»morgen-
Königs von Israel und Juda güldne Worte von schön«, »Knabenmorgen«) im Sinn von ju-
der Ceder biss zum Issop, S. 557f.; An die Ent- gendlicher Reifezeit, oft genug so, daß eine
fernte, S.507). Das sich darin ausdrückende solche Unterscheidung kaum mehr statthaft
Lebensgefühl hat eine gewisse Entsprechung ist, da beides gemeint ist (z.B. in Ganymed, JG
in G.s Leben schon während der Straßburger Fischer-Lamberg 4, S. 50; Den 15 Junius 1775.
Studienzeit und auffälliger noch in den darauf- Donnerstags morgen aujin Zürchersee, JG Fi-
folgenden Frankfurter Jahren. »Der unruhige« scher-Lamberg 5, S. 255).
unterzeichnet er am 5.8. 1775 einen der bis
zum Exzess sprunghaften Briefe an Auguste
Gräfin zu Stolberg. Dieser Wanderer ist weder
zielstrebig noch ein Abenteurer, er ist viel- Eigenart der Wortwahl und
mehr der sich jedweder Erfahrung Ausset-
Wortbildung
zende und damit der, der bürgerlich-geordne-
tes oder idyllisch-beruhigtes Dasein in Frage
stellt und von außen sieht - als ein Wunschbild Ausdruckskraft und Ausdrucksvielfalt des
bald, bald als ein Schreckbild, überwiegend G.schen Lyrikstils lassen sich, wie im Metri-
allerdings als ein Wunschbild. Das Wanderer- schen, Syntaktischen und Sprachgeschichtli-
Motiv, das von der Sturm und Drang-Zeit an chen, so auch auf der Ebene des Wortschatzes
bis in G.s Alterswerke hinein erhalten bleibt, beobachten. Mit unterschiedlicher Dichte,
repräsentiert ein Doppeltes: das Fraglichwer- aber nicht nur auf die Hymnen beschränkt,
den des sozialen Orts - darin antizipiert es die setzt sich überall die Vorliebe für sinnkonzen-
im 19. und 20. Jh. so oft thematisierte Außen- trierende Substantiv- und Adjektivkomposita
seiterrolle des Künstlers - und die Behaust- durch, bis hin zu dreigliedrigen Bildungen
heit, das sichere Wohnen im Gesamtraum ei- (»Myrtenhaindämmerung«, »Weitnaslöcher«).
nes göttlich verbürgten Universums, ein Welt- Auffällig sind ferner häufige Verbindungen
und Selbstvertrauen, das auch die gefährlich- von Adjektiv und Adverb: »heilig glühend«,
sten Krisen G.s selbst und seiner dichterischen »heilig warm«, »heilig sanft«, »leise wan-
Gestalten überdauert. delnd«, »rings umfassend«; ein weiteres cha-
Zeigt das Wanderer-Motiv eine Nähe zum rakteristisches Stilmerkmal sind, neben den
Genie-Thema, so verdient das Motiv des Mor- dynamisierenden Präsenspartizipien, die dy-
gens unter den zum Umkreis des Themas ,Na- namisierenden Präfixe: »entgegenglühen«,
Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775 65

»umflügeln«, »vorbeiquellen«, »hinanbeten«, Sesenheimer Lyrik


»niederbleiben«; nach Klopstocks Vorgang
transitiviert G. häufig intransitive Verben
(»Hoffnungslieder nachjauchzen«, »Lieb ahn- Aus G.s Straßburger Studienzeit zwischen
den«), und er steigert dieses Verfahren noch April 1770 und August 1771 sowie aus den sich
durch kühne Kompositabildungen aus Objekt daran unmittelbar anschließenden Monaten
und Präsenspartizip : »Bienensingend«, »Ho- sind vierzehn Gedichte überliefert, die, zu-
nig-lallend«, »silberprangend«, »freudebrau- meist als Sesenheimer Lieder bezeichnet, den
send«, »liebahndend«. Unter den morphologi- Beginn der Sturm und Drang-Lyrik G.s dar-
schen Stileigentümlichkeiten sind die meisten stellen. Als im Jahr 1835 der Student Heinrich
durch frühneuzeitlichen oder zeitgenössi- Kruse nach G .schen Spuren im Elsaß forschte,
schen mündlichen Sprachgebrauch beglau- fand er bei Friederikes Schwester Sophie
bigt: flexionsloser Gebrauch des Adjektivs, Brion in Niederbronn ein Konvolut mit zehn
Verzicht auf Artikel oder Personalpronomina, Gedichten, die er abschreiben durfte; ein elf-
Enkopierung des »e« in unbetonten Mittel- tes Gedicht diktierte ihm Sophie. Das Kon-
und Endsilben, enklitischer Anschluß von »es« volut selbst ist nicht mehr erhalten; ob G.sche
und »das« an das vorausgehende Wort. Erst die Gedichtautographen darunter waren, ist zwei-
Vielzahl der charakteristischen Stilmerkmale felhaft; mit Sicherheit waren einige Texte von
macht es möglich, daß im Gesamtcorpus der Friederikes und vermutlich Jakob Michael
Gedichte von den Hymnen hohen Stils bis zu Reinhold Lenz' Hand geschrieben. Zwei der
den derb-polemischen Kurzgedichten G.s In- von Kruse gefundenen Gedichte - Ach bist Du
dividualstil durchweg erkennbar bleibt. Auch fort und Wo bist du izt - sind nicht von G.,
manche G.schen Lieblingswörter tragen zu sondern von Lenz gedichtet. Zwei weitere,
dieser Erkennbarkeit bei: »ahnden«, »glühen«, nämlich Kleine Blumen, Kleine Blätter und
»heilig«, »warm« sowie deren Derivativa und zehn Verse des später Willkommen und Ab-
mit ihnen gebildete Komposita. Verbunden mit schied betitelten Es schlug mein Hertz, ge-
einem bis zu G. hin unbekannten dynamik- schwind zu Pferde hat G. selbst durch die Auf-
und intensitätsbestimmten Rhythmus konsti- nahme in die Schriften als sein Eigentum in
tuiert sich in G.s Sturm und Drang-Lyrik eine Anspruch genommen. Über die verbleibenden
Gedichtsprache von unvergleichlicher Aus- sieben und ihre Zuweisung an G. oder Lenz ist
druckskraft; in seinen späteren Überarbeitun- in der Forschung lange diskutiert worden. An
gen hat G. nicht wenig davon zugunsten an- G.s Verfasserschaft der kurzen Briefgedichte
derer künstlerischer Intentionen wieder zu- Nun sitzt der Ritter an dem Ort und Ich komme
rückgenommen. Vor dem Hintergrund der sich bald, ihr goldnen Kinder wird nicht mehr ge-
im 18. Jh. voll ausgestaltenden Bildungshoch- zweifelt, ebensowenig an der Authentizität
sprache und ihrer Normen zeigt G.s lyrischer von Jetzt fohlt der Engel, was ich fohle und
Individualstil demonstrative und experimen- Dem Himmel wachse entgegen, dem von Kruse
telle Züge. In den polemischen Farcen gegen nach dem Diktat Sophie Brions aufgezeich-
den neuen Bibelübersetzer Carl Friedrich neten elften Gedicht. Ein grauer trüber Mor-
Bahrdt und gegen den neuen Bearbeiter des gen dürfte im Herbst 1771 in Frankfurt am
Alkeste-Stoffes Christoph Martin Wieland so- Main entstanden und von dort Friederike
wie in einer Reihe von Rezensionen für den übersandt worden sein. Ebenfalls, wenn auch
Jahrgang 1772 der Franlifurter Gelehrten An- nicht ohne bedenkenswerte Einwände, wird
zeigen hat er diesen Stil, wie er in der Lyrik am die Verfasserschaft von Balde seh ich Rickgen
avanciertesten erscheint, auch offensiv vertei- wieder G. zugeschrieben. Besonders unbefrie-
digt. digend ist der Forschungsstand in der Authen-
tizitätsfrage bei Erwache Friedericke, dem er-
sten von Kruse abgeschriebenen Text: von den
sechs Strophen werden die Strophen eins, drei
66 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

und sechs von der übelWiegenden Zahl der Überlieferung weitelWirkende Motive durch-
Forscher für G. in Anspruch genommen, die dringen und der subjektiven Empfindung an-
Strophen zwei, vier und fUnf, als stilistisch velWandeln. Letzteres gilt in besonderem
schwächer, fUr Interpolationen von Lenz er- Maße fUr die von G. zum Druck bestimmten
klärt. Entsprechend drucken die G.-Ausgaben und fUr die nicht im Nachlaß Friederike Brions
teils nur die erste, dritte und sechste Strophe, überlieferten, aber der Sesenheimer Lyrik zu-
teils den vollständigen von Kruse überliefer- zurechnenden Gedichte. Zu nennen sind in
ten Text (so insbesondere HA). Die meisten erster Linie Mayfest - später Mailied -, in dem
bei Sophie Brion entdeckten Gedichte zeigen der hellste Vorklang der später einsetzenden
wie dieses noch anakreontische Elemente, den Hymnen-Dichtung zu vernehmen ist, und Hei-
Zug zum Diminutiv, ja zum Kleinen, Zierli- denröslein, das, so nahe es einem überlieferten
chen überhaupt, charakteristische Motive wie Volkslied steht, G.s eigene Liedsprache von
die Belauschung der schlafenden Geliebten, der Sturm und Drang-Zeit an repräsentiert.
die Vorstellung, der Geliebten im Traum zu Nur spät, von der Hand Johanna Fahlmers im
erscheinen, das gemalte Band als Geschenk für Nachlaß Johann Georg Jacobis, ist Ob ich Dich
die Geliebte, das Einritzen des Namens in den liebe weiß ich nicht überliefert, ein schlichtes,
Baum, das Binden von Kränzen und Sträußen. ebenfalls die Sprache des Volkslieds sich an-
Einige von ihnen richten sich nicht nur an velWandelndes Gedicht, das wohl auch der Se-
Friederike, sondern an den ganzen Familien- senheimer Zeit zuzurechnen ist. Als spätere
kreis als einen Geselligkeitsraum, wie ihn die Nachklänge der von der Liebe zu Friederike
Anakreontik fiktiv entwirft. G. schreibt später bestimmten Zeit dürfen Ach wie sehn ich mich
in Dichtung und Wahrheit: »Ich legte für Frie- nach Dir, aus derselben späten Provenienz,
deriken manche Lieder bekannten Melodien und Ein zärtlich iugendlicher Kummer gelten,
unter. Sie hätten ein artiges Bändchen gege- das vermutlich aus dem März 1772 stammt,
ben« (WA I, 28, S.31). Erwache Friedericke aber nur von der Hand G.s im Nachlaß Char-
folgt im Metrum dem sechsstrophigen Gedicht lotte von Steins überliefert ist. Auch dieses
Der Morgen von Friedrich von Hagedorn und späteste auf Sesenheim zu beziehende Gedicht
läßt sich auf die dazu von Johann Valentin zeigt noch Motive der Rokokopoesie - der
Görner komponierte Melodie singen. Auch die Jüngling, der sich zum Tanz auf der Wiese
der Rokokolyrik eigene witzige Pointierung schmückt; das Mädchen, das mit geheimem
am Gedichtschluß ist noch nicht ganz ver- Vergnügen bemerkt, wie sein Busen gewach-
schwunden (vgl. Erwache Friedericke, Nun sen ist - und bedient sich des G. schon aus der
sitzt der Ritter an dem Ort, Balde seh ich Rick- Zeit der Leipziger Gedichte vertrauten leich-
gen wieder). Daneben macht sich aber schon ten Madrigalverses; dennoch zeigt es in der
der Einfluß der Ossian-Lektüre bemerkbar, am Verschmelzung von Vorfriihlings-Landschaft,
deutlichsten in Es schlug mein Hertz, ge- Melancholie und neuer Hoffnung die Einheit
schwind zu Pferde und Ein grauer trüber Mor- von Szene, Handlung und Empfindung, die G.
gen, bewegte dämmrige Nebellandschaften, in seit der Straßburger Zeit nicht nur von seiner
denen sich die realen Gestalten entwirklichen eigenen Lyrik einfordert (vgl. die Rezension
und die Landschaften zu Spiegelungen un- Idyllen von GifJner, JG Fischer-Lamberg 2,
greifbarer innerer Befindlichkeit werden: des S.272, bes. 20ff.). Es ist davon auszugehen,
Triiben, des Geisterhaften, des Drohenden. daß sich in der Heterogenität des Corpus der
Vor allem jedoch, und darin kündigt sich un- Sesenheimer Lieder einiges vom Bruchstück-
übersehbar G.s Sturm und Drang-Sprache an, haften der Überlieferung spiegelt, das fUr
zeichnen sich diese Gedichte durch ein der sämtliche zeitgleichen Zeugnisse der Bezie-
gesamten vorausliegenden Lyrik unbekanntes hung zu Friederike Brion zu gelten hat. Ohne
Vertrauen in den subjektiven GefUhlsausdruck G.s späten, stark stilisierten Bericht in Dich-
aus: als Mut und Übermut, insbesondere aber tung und Wahrheit wüßten wir so gut wie
als Innigkeit und Freude, die selbst aus der nichts über das Leben im Sesenheimer Pfarr-
Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775 67

haus. Von einer einheitlichen Formgebung ti on die älteren lyrischen Gattungen des mitt-
kann, bei dem Spektrum vom kleinen, gesel- leren und des niederen Stils völlig wandeln
ligen Briefgedicht bis zum hymnennahen oder ganz verschwinden, wahren G.s Hymnen
MayJest, nicht die Rede sein. Die vier Ge- den Zusammenhang mit der Tradition der Ode
dichte, die G. schließlich ftir publikationswert hohen oder erhabenen Stils; und das heißt, mit
hielt, sind die künstlerisch substantiellsten; einem charakteristischen Segment der Antike-
sie klammern aber das gesellige Umfeld aus, Aneignung. Seit den 40er Jahren des 18. Jhs.
und sie bilden formal keine kohärente Gruppe. hatte sich Klopstock bemüht, unter Anlehnung
Alle Texte definieren sich als zusammengehö- insbesondere an Horaz, klassische Verse und
rig ausschließlich über das biographische Mo- Strophen bei Verzicht auf den Reim im Deut-
ment, das weitgehend durch Rekonstruktion schen nachzubilden. 1771 erschienen seine zu-
ermittelt worden ist. G. selbst unterwarf diese vor verstreut gedruckten Oden erstmals ge-
Gedichte einer doppelten Zensur: der Rück- sammelt. G. ist ihm in diesem Bemühen par-
sicht auf Friederike und der Selbstkritik als tiell gefolgt. Er hat zwar keine Oden in sapphi-
Künstler. schen, alkäischen oder asklepiadeischen Stro-
phen geschrieben, dennoch verraten seine
Hymnen eine genaue Vertrautheit mit den an-
tiken Metren, seine .freien Rhythmen< lassen
Hymnen und Elegien sich zu einem beträchtlichen Teil in Anleh-
nung an die Terminologie klassischer Metrik
Die Reihe der Sturm und Drang-Hymnen G.s beschreiben. Der von G. in ftinf Prosaabsätze
setzt im Frühjahr 1772 ein. Vermutlich im gegliederte Monolog Mahomets Teilen kann
April entstehen Wandrers Sturmlied und Der ich euch nicht dieser Seele Gifühl besteht in
Wandrer, im Winterhalbjahr 1772/73 Gesang Wahrheit aus ftinf gleich gebauten Strophen,
(später Mahomets Gesang). Für die Entste- die das metrische Schema der asklepiadei-
hung von Prametheus kommen der Sommer schen Ode leicht variieren. Es ist dies freilich
1773, aber auch die Monate zwischen Herbst der einzige Fall, in dem G. während seiner
1773 und Sommer 1774 in Frage. Im Hinblick Sturm und Drang-Jahre so konsequent an
auf Ganymed fehlen Anhaltspunkte zur Entste- Klopstocksche Odenformen anknüpft.
hungszeit; die Hymne dürfte jedoch ins Jahr Vielmehr setzt im ersten Halbjahr 1772 eine
1774 gehören, vermutlich in den Frühling, intensive Auseinandersetzung nicht mit Ho-
während für An Schwager Kranos der Herbst raz, sondern mit Pindar und mit der Poetik der
desselben Jahres gesichert ist, möglicherweise pindarischen Ode ein, die bis ins Jahr 1773
ist das Gedicht tatsächlich am 10.10. 1774, anhält (an Herder, Juli 1772; Übersetzung ei-
dem im Titel genannten Datum, geschrieben. ner für Pindarisch gehaltenen Ode, nicht vor
Zwei weitere der Hymnendichtung der frühen dem zweiten Drittel des Jahres 1773). Seit der
70er Jahre nahestehende Texte, Seifahrt und Renaissance galt Pindar als das unübertroffene
Harzreise im Winter, fallen bereits in die frühe Muster der hohen, enthusiastischen Ode, ein
Weimarer Zeit. Hinzuzunehmen ist jedoch, Muster, dem das 18. Jh. die Psalmen als in der
obwohl formal charakteristisch abweichend, Formgebung gleichgerichtet an die Seite
Mahomets Eingangsmonolog im Dramenfrag- stellte. Obgleich den Theoretikern der pinda-
ment Mahomet aus dem Winter 1772/73: er rischen Ode im 17. und 18. Jh. bekannt war,
stammt aus dem selben Textbestand, aus dem daß gerade diese erhabenen, anscheinend die
G. Gesang zur Einzelpublikation herausgelöst freiesten und unmittelbarsten Empfindungen
hat. ausdrückenden Gedichte Produkte höchsten
Innerhalb der Sturm und Drang-Lyrik bil- Kunstverstandes waren und nach komplexen
den die Hymnen eine verhältnismäßig homo- metrisch-rhythmischen Regeln verfuhren, trat
gene Gruppe. Während sich nämlich im Ge- von der Mitte des 18. Jhs. an und gipfelnd in
folge der Volkslied- und der Knittelversrezep- der Pindar-Deutung Herders die Vorstellung
68 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

von einer ganz den enthusiastisch aufgeregten und ohne daß die semantisch-syntaktische
Gemütsbewegungen des Dichters folgenden Komplexität sich verringerte, zeigt sich in der
Lyrik in den Vordergrund (Henkel, 1978; Jo- Entwicklung der G.schen Hymnendichtung
chen Schmidt, S. 179ff.); von Gedichten, die eine zunehmende formale Konsistenz. Der äu-
»Pindars Gesängen gleich, / Gleich Zeus er- ßere Umfang der Gedichte reduziert sich von
habnem trunknen Sohne, / Frey aus der schaf- 117 Versen in Wandrers Sturmlied (1772) auf 32
fenden Seel enttaumeln« (Klopstock). Klop- in Ganymed und 41 in An Schwager Kronos
stock zog daraus als erster die Konsequenz und (1774). Die Varianz der Strophen oder rich-
dichtete Hymnen in freien Rhythmen, ohne tiger: der Versgruppen bewegt sich in Wand-
Bindung an Reim und metrisches Maß. Wäh- rers Sturmlied zwischen fünf und fünfzehn
rend jedoch Klopstocks Hymnen-Dichtung Verszeilen, in An Schwager Kronos nur noch
ihre Verankerung in der zweifachen Gattungs- zwischen fünf und acht; der strikt alternie-
tradition noch deutlich bekundet - sie wahrt rende Wechsel von längeren und von nur zwei-
der Thematik nach den Bezug zu den Psalmen versigen Zeilengruppen in Ganymed führt den
(vgl. Die Frühlingifeyer, Dem Allgegenwärti- Text in die Nähe einer auch im Druckbild er-
gen u.a.), und sie erscheint als höchste Auf- kennbaren geregelten Struktur. Auch die
gipfelung seiner weit überwiegend in Oden- Rhythmisierung der einzelnen Verse selbst
strophen gebauten Poesie insgesamt -, liegen zeigt eine Entwicklung hin zu stärkerem Par-
bei G.s Hymnen beide Bezugssysteme nicht allelismus. In Wandrers Sturm lied variiert die
mehr offen zutage. Zahl der Hebungen im Vers zwischen zwei und
Den Übergang bildet die vermutlich frühe- sechs, während in Ganymed überwiegend je-
ste Hymne, Wandrers Sturmlied. Sie themati- weils zwei, in An Schwager Kronos jeweils
siert noch programmatisch das traditionelle drei Hebungen den Versrhythmus charakteri-
poetologische Schema, das die pindarische sieren. Da G. bis in die jüngsten Hymnen der
Ode in Polarität zu bukolischer und anakreon- Frankfurter Zeit den stark inversiven und el-
tischer Poesie definiert. Die im Gedicht ge- liptischen Satzbau des enthusiastischen Stils
nannten Dichternamen Anakreon, Theokrit beibehält, so daß noch in An Schwager Kronos
und Pindar evozieren das aus der griechischen sich eine eindeutige Bestimmung der Satzteile
Antike überlieferte System lyrischer Gattun- häufig verbietet, werden die Kola als Versbau-
gen. Auch die triadische Strophengruppierung elemente desto bedeutsamer; schon in Maho-
der pindarischen Ode - Strophe, Antistrophe, mets Gesang (1772173) fallen Versgrenze und
Epodos - läßt sich trotz sehr freier Handha- Kolongrenze in der Regel zusammen. Damit
bung noch erkennen. wird auch eine Kunst des punktuellen, empfin-
G.s Hymnen erfüllen in allem die Erforder- dungssteigernden Enjambements wieder mög-
nisse des erhabenen Stils, wie ihn die Theo- lich, wie am Beginn von Ganymed (»Wie im
retiker Johann Jacob Breitinger und Johann Morgenroth du rings mich / Anglühst, Früh-
Jacob Bodmer, wie ihn Friedrich Gottlieb ling Geliebter!«; JG Fischer-Lamberg 4, S. 30)
Klopstock bestimmt hatten: Sinn konzentrie- oder am Schluß der ersten und in der Mitte der
rende Komposita - >Machtwörter< -, kühne fünften Versgruppe.
Partizipialkonstruktionen und eine Syntax, die Alle Sturm und Drang-Hymnen G.s sind in
sich über allen vertrauten Satzbau hinweg- einem emphatischen Sinn nicht nur in Stil und
setzt. Nicht um einer angestrebten Dunkelheit Struktur, sondern auch dem Thema nach Ge-
willen, wie sie wesentlich zur Poetik der pin- nie-Dichtung. Während die Genie-Dramen
darischen Ode gehört, sondern um des inten- dieser Periode, mit Ausnahme des Gdtz, Frag-
siven Ausdrucks willen. G.s individuelle Ly- ment bleiben (Caesar ab 1771, Mahomet
riksprache dominiert auch im Medium des er- 1772173, Prometheus 1773, Urfaust 1775),
habenen Stils vollkommen das Angebot tra- fand G. in den Hymnen die Gattung, dem
dierter poetischer Verfahrensweisen. Gerade Selbstverständnis seiner dichtenden Genera-
der gesteigerten Ausdrucksintensität wegen tionsgefahrten zum Ausdruck zu verhelfen.
Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775 69

Die Nähe der Hymnen zu den Dramen ist un- Namen Urania, Louise Henriette Friederike
verkennbar. Mahomets Gesang und Prome- von Ziegler den Namen Lila und Herders Ver-
theus gehören nicht nur dem Stoff, sondern lobte Caroline Flachsland den Namen Psyche
auch der Genese nach denselben Textkomple- führten.
xen an wie die Dramenfragmente. Die Genie- Dichterischer Leitstern der Darmstädter
gestalten dieser Hymnen sind Rollenentwürfe. Empfindsamen war Klopstock, aus ihrem
Ähnliches gilt für die von monologischen Ab- Kreis war 1771 der Band Klopstocks Oden und
schnitten der Selbstklärung durchwirkte dia- Elegien als Zeugnis der Verehrung hervorge-
logische Hymne Der Wandrer, die in einem gangen. Anders als die Hymnen in freien
Entwicklungsprozeß von der erklärtermaßen Rhythmen, deren zwei erste in denselben Mo-
pindarischen Hymne Wandrers Sturmlied hin naten entstehen und die dem erhabenen Stil
zu Mahomets Gesang, Prometheus und Gany- angehören, repräsentieren die drei als Brief-
med den Übergang zu den aus der Überliefe- gedichte an die Empfängerinnen gesandten
rung genommenen Identifikationsrollen bil- Texte als Freundschaftsoden einen Versuch G.s
det. MitAn Schwager Kronos bedarf es solcher im Genus medium. Nirgendwo sonst hat sich
Identifikationsrollen nicht mehr, das Ich des der Dichter, in kalkulierter Rücksicht auf den
Genies entwirft seinen Lebensreise-Text nun Rezeptionshorizont der Adressatinnen, so sehr
in seinem eigenen Namen, im Selbstgefühl der der Klopstockschen Lyriksprache angenähert.
eigenen Individualität unter den Koordinaten Mit diesem Entstehungskontext hängt es wohl
des eigenen Orts und der eigenen Zeit: »in der zusammen, daß er die Gedichte in keine seiner
Postchaise d. 10 Oktbr 1774«. Und so blieb es Werkausgaben aufgenommen hat.
auch in den Hymnen der frühweimarischen Außer mit der Ode mittlerer Stilhöhe be-
Zeit, in Seifahrt und in Harzreise im Winter. rühren sich die drei Gedichte mit einer wei-
Obgleich der G. des Sturm und Drang mit teren lyrischen Gattung des Genus medium,
dem Werther und der Stella zwei Werke ge- der empfindsamen Elegie. Auch darin nehmen
schaffen hat, die rasch von den Zeitgenossen sie in G.s Sturm und Drang-Lyrik einen singu-
als Klassiker der Empfindsamkeit rezipiert lären Platz ein. Abschied, Sehnsucht und Erin-
wurden, wahrte der Dichter zu der zum al in nerung als zu deren Themeninventar gehö-
Klopstocks Schülerkreis blühenden empfind- rend finden sich hier ebenso wie das Bild der
samen Lyrik deutlich Distanz. An Elementen einsamen Liebenden: »Und aus den Reihn ver-
der Empfindsamkeit fehlt es zwar in seiner lieret / sich Psyche zwischen Felsen / und
Lyrik zwischen 1770 und 1775 nicht, aber nur Sträuchen weg und traurend / um den Abwe-
eine kleine Gruppe von Gedichten läßt sich als senden / lehnt sie sich über den Fels« (JG Fi-
empfindsame Lyrik in freien Rhythmen ange- scher-Lamberg 2, S. 263). Das lyrische Ich ist
messen klassifizieren: Elisium an Uranien, auch in diesen Texten als Fremdling und als
Pilgers Morgenlied an Lila und Fels-Weihege- Wanderer konzipiert, freilich nicht als einer,
sang an Psyche. Alle drei im Frühling und der wie in der Hymne Der Wandrer der bil-
Sommer 1772 geschriebenen Texte richten denden und zerstörenden Natur begegnet,
sich an Damen aus dem Kreis der Darmstädter sondern der, vielleicht in persiflierender Dar-
Empfindsamen, einer Gruppe von im Umkreis stellung, transitorisch am empfindsamen Trei-
des Hofes der Landgräfin Henriette Caroline ben teilhat.
von Hessen-Darmstadt tätigen Frauen und Die empfindsame Elegie gelangte über
Männern, in der man außerhalb der Pflichten Frankreich und England in die deutsche Lyrik
des Alltags in freundschaftlich-zärtlichem und nahm wenig später Motive und Stimmun-
Umgang miteinander einen empfindsamen gen aus den unter dem altkeltischen Barden-
Lebensstil zu realisieren versuchte. G. war namen Ossian verbreiteten Fälschungen
durch Herder und Johann Heinrich Merck mit (durch James Macpherson von 1760 an) in ihre
dem Kreis in Verbindung gekommen, in dem Topik auf. Zuerst im Zusammenwirken mit
das Hoffräulein Henriette von Roussillon den Herder, später mit Merck wandte sich auch G.
70 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

dieser als ein Beispiel ursprünglicher Sprach- tränenseligen empfindsamen Poesie. Aber bis
kunst geltenden Poesie zu. Seine freie Über- in die späte Frankfurter Zeit gehörten ihre
tragung der Gesänge von Selma in poetischer Elemente zu seinen lyrischen Ausdrucksmit-
Prosa, aus dem Herbst 1771, gehört, wie in die teln. Im Jahr 1775 entstanden wahrscheinlich
Vorgeschichte des Werther, so auch in die der Wonne der Wehmut (JG Fischer-Lamberg 5,
drei freirhythmischen empfindsamen Ge- S. 507; Datierung mit Trunz, HA 1, S. 461; vgl.
dichte. G. sandte den Text, wohl über Johann auch Eibl, S.897) und Bleibe, bläbe bei mir
Daniel Salzmann, an Friederike Brion, in de- (JG Fischer-Lamberg 5, S. 507; zur Datierung
ren Nachlaß er sich fand. Ossian gehörte zu vgl. Trunz, HA 1, S. 459 u. Eibl, S. 897).
den im Winter 1770/71 mit Herder getriebe- So wenig wie zur Empfindsamkeit über-
nen Studien, wobei Herder die geistige Füh- haupt hat sich G. zur empfindsamen Lyrik in
rerschaft zukam. G. kannte sowohl die eng- den frühen Jahren diskursiv geäußert. Wenn
lische Ausgabe Macphersons von 1765 als auch er jedoch in der kleinen, Anfang 1773 entstan-
die Übersetzung von Johann Michael Denis denen theologischen Abhandlung Zwo wich-
von 1768 und 1769. Denis gibt den Gesängen tige biblische Fragen als zweite erörtert: »Was
von Selma (bei ihm: Die Lieder von Selma) die heißt mit Zungen reden?« (JG Fischer-Lam-
Gestalt einer Kantate, indem er antike Metren berg 3, S. 122-124), dann spricht er indirekt
und deutsche Reimstrophen miteinander ab- wohl auch von der ekstatischen Sprache der
wechseln läßt und insbesondere den Hexame- großen Hymnen und von der Sprache der
ter nicht nur für die erzählenden Zwischen- Empfindsamkeit, ihrem höchst positiven Ur-
partien, sondern auch für lyrisch-elegische sprung und ihrer Gefahr, sich zuletzt »in einen
Textteile verwendet. Englische Vorlage und Sumpf« zu verlieren (ebd., S. 123). Paulus zi-
deutsche Übersetzung sind in G.s Technik der tierend, setzt G. »die zur Empfindung des
Absatz-Bildung wiederzuerkennen; nahezu je- Geists bewegte Seele« gegen den »ruhigen
der Absatz bei ihm entspricht einer Strophe Sinn«, aber auch gegen bloße »dunkle Ahn-
oder einer Hexameter-Gruppe bei Denis. Im dungen«. Nicht weniger als fünfrnal fallen in
übrigen ist G.s lyrische Prosa durchsetzt von dem kurzen Text die Worte »Empfindung« und
antikisierenden Kola und Klauseln, den »empfinden«. Im Sprachenwunder des
Schluß bildet ein vollständiger Hexameter, der Pfingstereignisses verband sich »aus der Seel
dem bei Denis weitgehend entspricht. Mit der in die Zunge« (ebd., S. 122) strömende Emp-
Entscheidung für die Prosa überdeckt G. die findung mit großer Einfachheit und Allge-
epische Grundstruktur und verwischt die drei- meinverständlichkeit. Gesteht man dem, was
fache zeitliche Schichtung des Ausgangstextes hier von der Predigt gesagt und gefordert
zugunsten einer übergeordneten entzeitlich- wird, poetologische Relevanz auch für die Ly-
ten, nebel- und sturmdurchzogenen Stim- rik zu, dann hätte G. ein zumindest in den
mungslandschaft und dehnt die im Text selbst theoretischen Prinzipien geklärtes Verhältnis
verbalisierte Poetik der eigentlichen ,Ge- zu seiner lyrischen Praxis in den Hymnen und
sänge< auf alle Teile des kleinen Werkes aus: den freirhythmischen empfindsamen Gedich-
»Der Gesang kömmt mit seiner Musick, die ten gehabt. Die erhabene und die zärtliche
Seele zu schmelzen, und zu vergnügen. Er ist Emphase treiben die Bilder hervor, lösen sie in
wie der sanfte Nebel, der von einem Teiche ihrem Strömen aber nicht ins Wesenlose auf.
heraufsteigt, und über das schweigende Thai
zieht; die grünen Blumen füllen sich mit Thau,
aber die Sonne kehrt zurück in ihrer Stärcke,
und der Nebel ist weg« (JG Fischer-Lamberg
2, S. 79).
Statt, wie Denis, »zu rühren«, schreibt G.
»zu vergnügen« - eines der zahlreichen In-
dizien für seine Distanz gegenüber einer allzu
Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775 71

Volkslied und Ballade und es überdies zwischen den beiden über-


lieferten, eigenhändigen Sammelhandschrif-
ten Divergenzen gibt, ist anzunehmen, daß G.
Wie die griindliche Beschäftigung mit Shake- die mündliche Tradition nicht unangetastet
speare und Ossian geht auch die mit dem gelassen hat. Eine genaue Lokalisierung der
Volkslied und der Ballade auf die Straßburger Region, in der sie gesammelt wurden, ist nicht
Zeit 1770/71 zuriick und steht im Zeichen Her- möglich. Es spricht manches dafür, daß, entge-
ders. G. kannte zwar bereits die von Johann gen der älteren Forschungsmeinung, die Texte
Wilhelm Ludwig Gleim aus der französischen und die Melodien stammten aus dem Oberen
Literatur in die deutsche eingeführte komische Elsaß, G. sie durch Vermittlung Friederikes in
Romanze oder komische Ballade und hatte sich der Umgebung von Sesenheim aufgezeichnet
in seiner Leipziger Zeit selbst in dieser Gat- hat (Fink, S.206ff.), und zwar vermutlich im
tung versucht (Pygmalion, eine Romanze, JG Mai und Juni 1771. Anders als die Ossian-
Fischer-Lamberg 1, S.183f.). Die zwischen Dichtungen Macphersons sind die von G. auf-
1770 und 1775 von ihm gedichteten Volkslie- gezeichneten Lieder sämtlich authentische
der und Balladen haben mit dieser, den naiv- Volksballaden, deren, vom 16. Jh. an zum Teil
komischen Bänkelsängerton zitierenden Poe- auch schriftliche, Überlieferung bis ins späte
sie aber nichts mehr zu tun. Vielmehr knüpfen Mittelalter zuriickreicht. Das Lied vom Herrn
sie an bei den bis zu Thomas Percys Reliques of von Falckenstän, Das Lied vom Pfalzgrafen,
Ancient English Poetry (1765) und Herders Das Lied vom jungen Grafen, Das Lied vom
Auszug aus einem Briifwechsel über Oßian Herren und der Magd, Das Lied vom verklei-
und die Lieder alter V61ker (geschrieben 1771, deten Grafen, Das Lied vom Zimmergesellen,
gedruckt 1773) als subliterarisch geltenden, Das Lied vom Lindenschmidt, Das Lied vom
nur ausnahmsweise in Buchform überlieferten Grafen Friederich sind historisierende Erzähl-
Liedertexten. Damit wird, gleichzeitig durch gedichte, Das Lied vom eifersüchtigen Kna-
G. und Gottfried August Bürger, die ernsthafte ben, Das Lied vom braun Annel und T-0m plau-
Ballade, das ernsthafte, erzählende Volkslied derhaJften Knaben tragen ebenfalls lyrisch-
zu einer festumrissenen lyrisch-epischen Gat- episehen Charakter; das zwölfte, Zugabe
tung. 1771 sammelt G. für Herder zwölf im (»Hab ein bucklich Männel g'nomme«, JG Fi-
Elsaß verbreitete Volkslieder (JG Fischer- scher-Lamberg 2, S. 52f.), schlägt als burles-
Lamberg 2, S. 34-53), von denen drei in Clau- kes Gedicht, vorgetragen nicht von einem Er-
dius' Wandsbecker Boten schon 1773 und 1774, Erzähler, sondern von der jungen Frau des
drei in Herders Sammlung T-0lkslieder 1778 buckligen Ehemanns, einen von allen übrigen
Aufnahme fanden. Im September 1771 über- Texten abweichenden Ton an. Zehn der zwölf
sandte er das Material mit der folgenden Be- Gedichte handeln von der Macht des Eros, die,
merkung an Herder: »ich habe noch aus Elsas Standes- und Rechtsordnungen durchbre-
zwölf Lieder mitgebracht, die ich auf meinen chend, ihrem eigenen Gesetz folgt, nicht im-
Streiffereyen aus denen Kehlen der ältsten mer mit tödlichem Ausgang für einen der Lie-
Müttergens aufgehascht habe. Ein Glück! benden oder beide: »Da sprach der Burgemei-
denn ihre Enckel singen alle: ich liebte nur ster / Wir wollen ihn leben lahn, / Ist keiner
Ismenen. [ ... ] Ich will mich nicht aufhalten, unter uns allen / Der nicht hätt das gethan«
etwas von ihrer Fürtrefflichkeit, noch von dem (Das Lied vom Zimmergesellen, JG Fischer-
Unterschiede ihres Wehrtes zusagen. [ ... ] Lamberg2, S. 44). G. fand in diesen Gedichten
meine Schwester soll Ihnen die Melodien die die Elemente wieder, die Herder im 1771 ent-
wir haben, I: sind NB die alten Melodien, wie standenen Auszug aus einem Briifwechsel über
sie Gott erschaffen hatl: sie soll sie Ihnen ab- Oßian und die Lieder alter Välker (HSW 5,
schreiben« (JG Fischer-Lamberg 2, S. 63). S. 159-207) als charakteristisch für Volkslie-
Da die überwiegend vielstrophigen Balla- der benannt hatte: sie sind >lyrisch handelnd<
den nur geringen Dialekteinfluß aufweisen (vgl. ebd., S. 164), lebendig, frei und sinnlich;
72 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

sie zeichnen sich aus durch Festigkeit, Be- Ähnlich liegt der Fall bei der Schauerballade
stim:mtheit und 'runden Contour< des ersten vom Liebesverrat und seiner Bestrafung Es
Hinwurfs (vgl. ebd., S. 183), sie sind gekenn- war ein Bule frech genung, die in Thema und
zeichnet durch »lebhafte Sprünge, Würfe, Vers technik an Bürgers Lenore erinnert; G.s
Wendungen« (ebd., S. 185) und bewegen den Gedicht dürfte im Sommer 1774, als selbstän-
Leser oder Hörer, »auf eine dunkle Weise, das diger Text, geschrieben sein, der Dichter rezi-
lebendige Poetische« (ebd., S.187) zu emp- tierte es am 24. Juli in Düsseldorf. Der voll-
finden - »je älter, je Volksmässiger, je leben- ständige Text ist jedoch zuerst in G.s Singspiel
diger; desto kühner, desto werfender« (ebd.); Claudine von Villa Bella überliefert: hier trägt
in all diesem zusammen aber sind sie »Natur« Crugantino die Ballade als ein Beispiel für »die
(ebd., S. 181). alten Lieder« vor, die neuerdings wieder hoch
Gleichzeitig mit dem Sammeln von Volks- geschätzt würden (JG Fischer-Lamberg 5,
liedern für Herder setzt 1770171 G.s eigene, in S.151-155).
der neuentdeckten Tradition stehende Volks- Alle übrigen Volkslieder G.s aus dieser frü-
liedpoesie ein. Von den insgesamt zwölf hier- hen Zeit sind zuerst in der ersten Fassung des
her zu zählenden Texten stehen nicht weniger Götz und im Urfaust bezeugt. Darunter findet
als zehn wiederum im Zusammenhang mit sich, neben Gedichten von geringerem Ge-
dramatischen Arbeiten. Als frühestes in der wicht (aus dem Götz Liebetrauts Lied Berg auf
Volksliedtradition stehendes Gedicht ist Hei- und Berg ab, JG Fischer-Lamberg 2, S. 125,
denröslein, aus dem Umkreis der Sesenheimer und Georgs reizendes und, dem Sänger unbe-
Lyrik, anzusehen, in einer frühen Fassung von wußt, situations bezogenes Kinderlied Es fing
Herder in seinen Auszug aus einem Brüifwech- ein Knab ein Meiselein, ebd., S. 176; aus dem
sei über Oßian und die Lieder alter Völker Urfaust Es war ein Ratt im Keller Nest, JG
aufgenommen und dort als »Fabelliedchen« Fischer-Lamberg 5, S. 289, und Es war einmal
(S. 194) und ,Lied für Kinder< (vgl. ebd., ein König, ebd., S. 292f.) das Lied der Zigeu-
S. 193) bezeichnet. Während der Reise an ner Im Nebel Geriesel im tiifen Schnee (JG Fi-
Lahn und Rhein mit Lavater und Basedow im scher-Lamberg 2, S. 192f.), das nach der eine
Sommer 1774 wurde Hoch auf dem alten lichtlose winterliche Natur evozierenden Ein-
Thurne steht - später Geistes-Grl!ß - gedich- gangsstrophe das Werwolf-Motiv durchführt;
tet, in einer Reihe von Motiven Gretchens auf jede von einer Einzelsängerin vorgetra-
Lied vom König in Thule nahestehend, aber gene Erzählstrophe folgt der stets gleiche
auch auf die Gestalt des Götz zurückweisend. zweiteilige Refrain von Chor und Einzel-
Obwohl die Zugehörigkeit zum Faust-Drama stim:me. Ferner, im Urfaust, Gretchens Lied
bei »Es war ein König in Thule« (JG Fischer- Meine Ruh ist hin (JG Fischer-Lamberg 5,
Lamberg 4, S. 229f.) sowohl im Einzelabdruck S.328f.), das gleichsam einen Monolog in
von 1782 festgehalten wird als auch durch die Volksliedgestalt darstellt und durch die Wie-
Göchhausensche Abschrift des Urfaust bestä- derholung der Eingangsstrophe als vierte und
tigt ist, wird vermutet, das Lied sei unabhän- achte Strophe die Grundbefindlichkeit der
gig davon und ebenfalls auf der Reise vom Sprechenden intensivierend und zugleich re-
Sommer 1774 entstanden. Das gilt mit Sicher- frainartig aufnim:mt. Das Gedicht ist »wie ein
heit für das die Möglichkeiten eines gleiten- Lied, ein Volkslied, durchgehend auf einen
den Übergangs zwischen dem Rokokolied und Klang gestim:mt« (Trunz, HA 3, S. 519). Auch
dem Kunstvolkslied bezeugende Ein Veilchen das Lied Meine Mutter die Hur / Die mich um-
aufder Wiese stand; das Gedicht lag spätestens gebracht hat, das Gretchen im Kerker singt
im Januar 1774, wie eine Abschrift von der (JG Fischer-Lamberg 5, S.346), ist der
Hand Lotte Jacobis erhärtet, fertig vor und G.schen Volkslieddichtung der Sturm und
wurde in das Mitte Februar 1775 abgeschlos- Drang-Zeit zuzurechnen: Dem Stoff nach stellt
sene Singspiel Erwin und Elmire als von El- es eine Paraphrase des Lieds aus dem Volks-
mire gesungenes Lied aufgenommen. märchen Vom Machandelbaum dar, das G.
Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775 73

schon früh in einer uns unbekannten Version Künstlergedichte


vertraut war. G.s Vorbild ftir die Verwendung
von Gedichten der Volkslied tradition in Dra-
mentexten war Shakespeare, insbesondere auf Mit etwa 30 Texten, allerdings sehr unter-
Macbeth ftir die Zigeunerszenen im Götz und schiedlichen Gewichts, bilden innerhalb der
auf Hamlet ftir die Ur:Jaust-Szenen, in denen G.schen Sturm und Drang-Lyrik die Künst-
Gretchen singt, hat die Forschung hingewie- lergedichte eine verhältnismäßig große
sen. Gruppe. Zu ihr gehören auch die zwei Dramo-
Aus Dalmatien stammen der Stoff und die G. lette Des Künstlers Erdewallen und Des Künst-
bekannte dichterische Gestaltung der Ge- lers pergötterung. Zusammen mit den kunst-
schichte von der zu Unrecht verstoßenen Ehe- und literaturtheoretisch ausgerichteten Prosa-
frau, die den Gatten und die Kinder verlassen texten zwischen VOn deutscher Baukunst
muß und von ihrem Bruder als ihrem Vormund (1771/72) und Nach Falkonet und über Fal-
gegen ihren Willen einem anderen verheiratet konet (1775) weisen die Künstlergedichte die
wird; G.s Klaggesang von der edlen Frauen des ftinf Sturm und Drang-Jahre sowohl als eine
Asan Aga, nicht in Strophen, sondern in Ab- Epoche des poetischen Experimentierens, als
schnitte gegliedert und in ftinfhebigen trochäi- auch einer parallel dazu laufenden Reflexion
schen Versen ohne Reim gedichtet, ist der über Kunst und Literatur aus. Unter den zahl-
Form nach eher eine Verserzählung als eine reichen Aspekten: Produktion und Rezeption,
Volksballade, dem Thema und seiner tragi- Literatur- und Kunstkritik, Formen der Di-
schen Auffassung nach aber den Volksballaden stribution und der Mechanismen des Marktes,
eng verwandt. Das Gedicht entstand wahr- die gesellschaftliche Rolle des Künstlers und
scheinlich 1775 und wurde von Herder 1778 in das Umfeld des Literatur- und Kunstbetriebs,
seine VOlkslieder aufgenommen. steht der Schaffensprozeß selbst als Thema
G.s Interesse am Volkslied während der Zeit deutlich im Vordergrund.
des Sturm und Drang war nicht ausschließlich Frühestes Zeugnis dürfte das freirhythmische
gattungsbezogen. Charakteristische Volkslied- Gedicht Der Adler und die Taube (JG Fischer-
motive begegnen auch in anderen Kontexten, Lamberg 2, S. 232f.) sein, das vielleicht schon
wie etwa dem Werther (vgl. den Brief vom 30. in der ersten Hälfte 1772 entstanden ist (so
November, JG Fischer-Lamberg 4, S.164). Sauder, Komm. in MA 1.1, S. 851; vgl. auch JG
Dem nach höchstmöglicher Nähe zum 'natür- Fischer-Lamberg 2, S.346; den Herbst 1772
lichen ( Ausdruck Suchenden bot sich hier ein erwägt Eibl, S. 867; Trunz, HA 1, S.445, legt
unerschöpflicher Motivschatz, der Kraft und Frühjahr 1773 als Entstehungszeit nahe). Den
Einfachheit der Bildstruktur mit hochemp- abschließenden Akzent setzt das Prosagedicht
findsamer, rührender Wirkung verband. Die Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli
Gedichte selbst aber mit ihrem archaisieren- 1775 (JG Fischer-Lamberg 5, S. 239f.). Die be-
den Vokabular, ihrer regelfernen Syntax, ih- deutendsten der Künstlergedichte stehen in
rem altertümlichen Rhythmus stellen vor dem engem Bezug zu den Hymnen, mit denen sie
Hintergrund der prosaorientierten Bildungs- eine Reihe von Themen und Motiven teilen
sprache des 18. Jhs. demonstrativ wirkende und in denen mit den Genie-Rollen zugleich
Sprachlehrstücke dar; auch wo sie nur als An- Künstler-Rollen entworfen werden. Dazwi-
spielung oder Zitat begegnen, ist ihre Eigen- schen schieben sich durch greifbare konkrete
tümlichkeit so hochmarkiert, daß sie wie der Anlässe hervorgerufene, wie die Gedichte, die
Durchbruch einer verschütteten und fremd ge- im Frühjahr und Sommer 1773 die Neufassung
wordenen Sprache der Natur wirken. des Götz begleiten (vgl. JG Fischer-Lamberg
3, S. 28 u. S. 38f.), und die Kurzgedichte, die
mit dem Werther und mit der Kritik an dem
Roman replizierend einhergehen, vor allem
1775, im letzten Frankfurter Jahr (vgl. JG Fi-
74 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

scher-Lamberg 4, S. 270; JG Fischer-Lamberg im Stil des Rokoko an Johann Jacob Riese und
5, S. 26f.). an Cornelia gesandt, an Friederike Oeser so-
Diese Gruppe zeichnet eine große Vielfalt gar einen langen Brief ausschließlich in Ma-
der Formen aus. Gedichte wie Der Adler und drigalversen (vgl. JG Fischer-Lamberg 1,
die Taube (JG Fischer-Lamberg 2, S.232f.) S.251-255); dann folgten die kleinen Brief-
und die beiden Ein Gleichn!ß überschriebenen gedichte aus Straßburg nach Sesenheim an die
Texte aus den Jahren 1772 und 1773 (JG Fi- Geschwister Brion. Die Empfanger der mit
scher-Lamberg 3, S. 70 u. S. 71) sind aus der Fragen der Poesie und Kunst befaßten gereim-
Fabel entwickelte Gleichnisreden, deren de- ten Briefe sind Friedrich Wilhelm Gotter,
monstrativer Charakter am Schluß offengelegt Gottlieb Friedrich Ernst Schönborn, Hierony-
wird. Mit Sprache (ebd., S. 71), einem aus nur mus Peter Schlosser, Johann Caspar Lavater
sieben Versen gebildeten, aber sehr dichten, und vor allem Johann Heinrich Merck. Einige
odenverwandten Text vom Frühsommer 1773, der Texte sind so programmatisch substantiell,
setzt die Reihe der teils appellativen, teils po- daß sie später ganz oder teilweise als eigen-
lemischen kleinen Gedichte ein, zu denen Da ständige Gedichte aus der Korrespondenz ge-
halt ich einen Kerl zu Gast, Denck und Trost- löst wurden und in die Werkausgaben eingin-
sprüchlein, An Kenner und Liebhaber und die gen. Es dominiert der Knittelvers, doch finden
im Zusammenhang mit dem Werther entstan- sich auch andere Formen: Kreuzreime, gere-
denen Spruchgedichte und Polemiken gehö- gelte Paarreime und Madrigalverse. Abgese-
ren. Für Der neue Amadis (JG Fischer-Lam- hen von den beiden Briefgedichten zum G6tz
berg 4, S.269) und Flieh, Täubchen, flieh! (JG Fischer-Lamberg 3, S.28 u. S.38f.) an
(JG Fischer-Lamberg 3, S.74f.) hat G. Lied- Merck und Gotter sowie dem an Schlosser, der
formen gewählt. ein Geschenk begleitete (JG Fischer-Lamberg
Künstlers Morgenlied (JG Fischer-Lamberg 4, S.256), kommen hier in schlichten Vers-
1, S.75-77; von JG Fischer-Lamberg, ebd., maßen grundsätzliche Fragen zur Sprache,
S.436 ebenso wie Trunz, HA 1, S. 444 u. Sau- selbst in den beiden mit einer selbstverfertig-
der, Komm. in MA 1.1, S. 866 auf Anfang 1773 ten Zeichenmappe an Merck übersandten Hier
datiert; Eibl, S. 918 allerdings: »vielleicht erst schick ich dir ein theures Pfand (JG Fischer-
1774«) als Rollengedicht eines bildenden Lamberg 4, S.266) und Denck und Trost-
Künstlers eröffnet die Künstlergedichte, in de- sprüchlein (ebd.).
nen G. die Malerei als paradigmatisch für die Mit den Gestalten des Knaben und des Jüng-
Probleme von Kunst und Künstler überhaupt lings, doch auch mit dem Bild des Adlers wird
einführt. Sein Pendant bildet das Lied des der Künstler den sozialen und ästhetischen
Phisiognomischen Zeichners (JG Fischer- Normen der aufgeklärten Erwachsenengesell-
Lamberg 4, S. 260), das in geringfügig verän- schaft enthoben. Er verhält sich unmittelbar
derter Form später den Titel Künstlers Abend- zur Natur. Ihr wie den großen vorausgegan-
lied erhielt. Dazwischen liegen szenisch-dia- genen Künstlergestalten gegenüber erscheint
logische Gedichte (Kenner und Künstler, JG er als der Fromme: nicht nur sein Schaffen,
Fischer-Lamberg 4, S. 268f.; Der Kenner, ebd., sondern auch seine Lebensgestaltung werden
S.267f.) und die beiden Dramolette (ebd., zu Analoga religiöser Rituale. Er beginnt den
S. 231-235 u. S. 236f.), die ebenfalls den bil- Tag mit einem Morgenlied und schließt ihn
denden Künstler in den Mittelpunkt stellen. mit einem Abendlied, seine Botschaft ist ein
Acht Briefgedichte bezeugen, wie der junge »Evangelium« (vgl. ebd., S. 258), Gebets- und
G. die Kommunikation mit Freunden und Predigtstil stellen sich ein, wenn vOn der
Gleichgesinnten über Kunstwerke, Künstler- Kunst die Rede ist, der dritte Aufenthalt in
turn und Künstlerdasein an die Stelle der öf- Straßburg, im Juli 1775, mit der erneuten Be-
fentlichen, den Literaturbetrieb in Gang hal- steigung des Münsterturms, schlägt sich im
tenden Diskussionen setzt. Schon vor der Prosagedicht als Pilgerreise, als »Wallfahrt«
Sturm und Drang-Zeit hat er Vers-Prosa-Briefe nieder, Erwin von Steinbach wird als »heiliger
Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775 75

Erwin« angerufen (JG Fischer-Lamberg 5, bildete / Der Kunst rings um dich her« ge-
S. 239). Das aus solcher Haltung resultierende fesselt (An Kenner und Liebhaber, ebd.,
Werk wird nicht auf dem Markt angeboten, S. 268). Daß die Form gegenüber der als inten-
sondern ausgeteilt; ein wahrer Künstler sivstes Gefühl erfahrenen Schöpfungs kraft
»streut seine Freuden herum, / Seinen Freun- nichts Sekundäres ist, ergibt sich aus dem Cha-
den, dem Publikum« (JG Fischer-Lamberg 3, rakter des Gefühls selbst als eines Vermögens
S. 72). Materiellen Verlust oder Gewinn aus »der Verhältnisse, Maase und des Gehörigen«;
der Kunstproduktion wägt er nicht ab. Nur aus durch diese wird »wie andere Geschöpfe durch
Not nimmt er Aufträge an; sein künstlerischer ihre individuelle Keimkraft« ein Werk hervor-
Anspruch erwächst aus seiner Berufung, we- getrieben (v gl. Dritte Wallfahrt nach Erwins
der betreibt er die Kunst selbst als handwerk- Grabe, JG Fischer-Lamberg 5, S. 240). In den
liche Profession noch neben der Kunst ein ihn einleitenden Worten zu den unter dem Titel
sozial absicherndes Gewerbe. Die sich aus die- Aus Goethes Brüiftasche 1775 zusammenge-
ser Haltung ergebenden Konflikte treten am stellten Beiträgen hat der Dichter sein gegen
deutlichsten in den beiden Dramoletten Des Ende der Sturm und Drang-Periode erreichtes
Künstlers Erdewallen (1773; JG Fischer-Lam- Verständnis der Form auch diskursiv beschrie-
berg 3, S. 339-343) und Des Künstlers vergöt- ben und auf den Begriff der »innern Form«
terung (1773 oder 1774; JG Fischer-Lamberg gebracht, »die alle Formen in sich begreift«
4, S.236f.) mit betonter gesellschaftskriti- (ebd., S. 352). Die Künstlergedichte, die den
scher Tendenz hervor. Schaffensprozeß selbst zum Gegenstand der
Der künstlerische Schaffensprozeß vollzieht Lyrik machen, sind alle auf dieses Problem-
sich diesen poetologischen Texten zufolge we- zentrum hin ausgerichtet.
sentlich im Gefühl, in dem die die ältere Poe-
tik bestimmenden Kräfte, der urteilende Ver-
stand und die kombinierenden Vermögen Witz
und Scharfsinn, aufgehoben sind. Die produk- Lili-Lyrik
tiven Augenblicke sind Phasen intensiver emo-
tionaler Steigerung. Das künstlerische Subjekt
erfährt die Verbindung von Ich und Natur im G.s letzte Monate in Frankfurt am Main von
Gefühlsraum als Daseinssteigerung und Da- Januar bis Oktober 1775, unterbrochen durch
seinserweiterung (vgl. Sehnsucht, JG Fischer- die Reise in die Schweiz vom 14. Mai bis zum
Lamberg 5, S. 266, und Lied des Phisiognomi- 22. Juli, stehen im Zeichen der Verbindung zu
schen Zeichners, JG Fischer-LaITIberg 4, der siebzehnjährigen Bankierstocher Anna
S. 260), vergleichbar der im Liebesakt erfah- Elisabeth Schönemann, genannt Lili, mit der
renen Entgrenzung: »Wo ist der Urquell der sich der 25jährige um Ostern 1775 verlobte. Im
Natur, / Daraus ich schöpfend / Himmel fühl' Oktober wurde die Verlobung wieder gelöst.
und Leben / In die Fingerspitzen hervor! / Außer in den gleichzeitigen, von Unruhe und
Daß ich, mit Göttersinn / Und Menschen- Zerrissenheit geprägten Briefen an Auguste
hand, / Vermög' zu bilden, / Was bey meinen Gräfin zu Stolberg suchte G. in Gedichten, der
Weibe / Ich animalisch kann und muß !« (Ken- sogenannten Lili-Lyrik, über seine innere und
ner und Künstler, ebd., S. 268; vgl. auch das äußere Situation im Verhältnis zur Geliebten
Briefgedicht an Gotter, JG Fischer-Lamberg 3, Klarheit zu gewinnen. Von den vierzehn hier-
S.38). Gleichen Wesens mit der Natur, sind her zu rechnenden Texten sind drei erst nach
am Schöpfungsakt auch die >Heiligen< aus der Abreise nach Weimar geschrieben: Holde
Kunst und Literatur, die zu erreichen der Lili warst so lang (entstanden am 23.12.
Künstler sich abmüht, beteiligt: »In süßen Lie- 1775), An ein goldenes Herz, das er am Halse
besbanden« (Der Kenner, JG Fischer-Lamberg trug (Datierung unsicher; Trunz, HA 1,
4, S. 267f.) findet er sich sowohl an die Mani- S. 461 f. u. Eibl, S. 1019f. datieren es, wie
festationen der Natur als auch an »das Ge- schon die ältere Forschung, in den Winter
76 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

1775/76) und das Widmungsgedicht für Lili in Rolle eines verliebten Bären darstellt, viel-
ein Exemplar der Stella: Im holden Tal, auf leicht in scherzhaftem Verweis auf Jean-Jac-
schneebedecktenHohen (entstanden im Januar ques Rousseaus Spitznamen in der Pariser Ge-
1776) - insbesondere das zuletzt genannte be- sellschaft.
kennt offen ein, daß G.s Neigung für Lili mit Während der zwei Monate dauernden Reise
der Trennung noch lange nicht erloschen war in die Schweiz mit den Brüdern Stolberg und
(vgl. FA 1,1, S. 176). Christian von Haugwitz vennochten neue Er-
Von den elf in die Zeit vor dem Aufbruch fahrungen und Begegnungen, das Wiederse-
nach Weimar fallenden Gedichten gehören hen mit Gesprächs- und Korrespondenzpart-
Herz mein Herz was soll das geben?, Tffirum nern wie Salzmann, Lenz und Lavater, der
ziehst du mich unwiderstehlich, die Widmung Besuch bei der Schwester Cornelia und ihrem
Den kleinen StralflJ, den ich dir binde zu Erwin Gatten in Emmendingen G.s Unentschieden-
und Elmire und möglicherweise auch Lilis heit zwar zu überdecken, aber nicht zu be-
Parck (vgl. JG Fischer-Lamberg 5, S. 27-32) in ruhigen. Wie in den Briefen aus diesen Wo-
die erste Phase der Beziehung. Ich saug an chen an Johanna Fahlmer und Sophie von La
meiner Nabelschnur (später Auf dem See) und Roche (vgl. JG Fischer-Lamberg 5, S.229-
Wenn ich liebe Lili dich nicht liebte entstanden 231), so schlägt sie sich auch in den zwei in
am 15.6. 1775 in der Schweiz und sind in G.s Zürich geschriebenen Gedichten nieder: Ich
Reisetagebuch überliefert (ebd., S. 235 f.). saug an meiner Nabelschnur und Wenn ich
Während der letzten Frankfurter Monate sind liebe Lili dich nicht liebte. Das erstgenannte ist
das am Rande stehende Briefgedicht Lieber aber zugleich das erste in dieser Werkgruppe,
Herr Dorville liebe Frau (ebd., S.252-254) das den autobiographischen Zusammenhang
und Im Herbst 1775 geschrieben (ebd., S. 268), im Fortschreiten des Textes so weit transzen-
vennutlich auch Sehnsucht (ebd., S.266) und diert, daß die Liebe in einem gedachten >dort<
die beiden erst in Weimarer Autographen be- und in einem gegenwärtigen »Hier auch« zwar
zeugten einstrophigen, hochempfindsamen Motiv bleibt, aber der Name der Geliebten
Texte Wonne der Wehmut und Bleibe, bleibe bei nicht genannt wird. Auch das nach der Rück-
mir (ebd., S. 507). Von Beginn an - und darin kehr gedichtete Im Herbst 1775 erreicht die
unterscheidet sich die Lili-Lyrik augenfällig völlige Lösung vom autobiographischen Stoff,
von den auf Friederike Brion zu beziehenden ohne daß das dem besonderen Augenblick ver-
Gedichten von 1770/71 - fehlt die völlige dankte Gefühl im geringsten an Intensität ver-
Übereinstimmung, sei es im Jubel, sei es im löre. Im »Scheideblick« der Sonne, die als
Schmerz, zwischen dem Liebenden und der »Mutter Sonne« die sonst der Natur insgesamt
Geliebten, und zwar nicht, weil die Geliebte vorbehaltene Prädikation erhält, ist ein Ab-
die Werbung des Liebenden abwiese, sondern schied enthalten, der den des Sprechenden zu
weil sie ihm keinen Einblick in ihre Emp- antizipieren scheint. Unter den für die Zeit der
findungen gewährt und weil der Liebende vor Verlobung mit Lili Schönemann ohne Ein-
seiner eigenen Empfindung und Neigung zu- schränkung geSicherten Gedichten ist dies das
rückscheut. Es klafft ein Riß zwischen dem einzige in freien Rhythmen, »aufschwellendes
sprechenden Ich und seiner Rolle als Lieben- Gefühl« (ebd., S.240), um G.s damaliges
der in einer bürgerlich-konventionell entwor- kunsttheoretisches Vokabular zu zitieren. Im
fenen Szenerie. Sowohl in Herz mein Herz was Herbst 1775 und Wonne der Wehmut - etwa
soll das geben? als auch in Warum ziehst du gleichzeitig entstanden - stehen der Fonn
mich unwiderstehlich mischt sich ein leicht nach der empfindsamen Elegie zwar fern, sie
komisches Element in den Ton empfindsamer realisieren jedoch deren Gattungsmerkmal
Zärtlichkeit, und dieses komische Element der vennischten Empfindung auf unvergleich-
setzt sich in Lilis Parck vollends durch, wenn liche Weise. Der in den frühesten Texten der
der Liebende die Geliebte als Herrin unter den Lili-Lyrik thematisierte Zwiespalt ist hier
Tieren ihrer Menagerie und sich selbst in der überwunden, die Totalität des Gefühls kon-
Mir schlug das Herz 77

stituiert sich aber in einer Einheit des Gegen- buch der Literaturwissenschaft. Europäische Aufklä-
sätzlichen. Im Moment, wo G. der empfindsa- rung 11. Wiesbaden 1984, S.327-378. - Ders.,
Komm. in MA 1.1. - Schmidt, Alfred: Goethes herr-
men Elegie nahekommt, überwindet er auch
lich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur
schon deren traditionelle Grenzen. Immerhin deutschen Spätaufklärung. München, Wien 1984. -
ist es bemerkenswert, daß die späteren Lili- Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedan-
Gedichte, daß die letzten Gedichte der Frank- kens in der deutschen Literatur, Philosophie und
furter Zeit überhaupt die Möglichkeit einer Politik 1750-1945. Von der Aufklärung bis zum Idea-
eigenständigen G.schen Sturm und Drang- lismus. Bd. 1. 2., durchgesehene Aufl. Darmstadt
1988. - STAIGER, Bd. 1, S. 33-245 - Trunz, Komm. in
Elegie sichtbar werden lassen. Indessen be-
HA 1 und HA 3. - Pascal, Roy: Der Sturm und Drang.
reiten die hier erkennbaren Ansätze die Ge- Autorisierte deutsche Ausgabe von Dieter Zeitz und
fühlsmomente vor, die - in gedämpfterem Aus- Kurt Mayer. Stuttgart 1963. - Suppan, Wolfgang:
druck - die aus dem Umgang mit Charlotte von Volkslied. Seine Sammlung und Erforschung. Stutt-
Stein hervorgegangenen Gedichte der frühen gart 1966. - Wagenknecht, Christian: Deutsche Me-
Weimarer Zeit charakterisieren. trik. Eine historische Einführung. München 1981. -
Weimar, Klaus: Goethes Gedichte 1769-1775. Inter-
pretationen zu einem Anfang. Paderborn, München,
Wien, Zürich 21984.
Literatur:
Blackall, Eric A.: Die Entwicklung des Deutschen Christoph Pereis
zur Literatursprache 1700-1775. Mit einem Bericht
über neue Forschungsergebnisse 1955-1964. Von
Dieter Kimpel. Stuttgart 1966. - Böckmann, Paul:
Formgeschichte der deutschen Dichtung. Bd. 1: Von
der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache. Ham-
burg "1967. - Conrady, Kar! Otto: Zur Bedeutung von
Goethes Lyrik im Sturm und Drang. In: Hinck, Wal-
ter (Hg.): Sturm und Drang. Durchgesehene Neu-
Mir schlug das Herz
aufl. Frankfurt/M. 1989, S. 97-116. - Eibl, Komm. in
FA I, 1. - Falk, Walter: Die Anfange der deutschen
Kunstballade. In: DVjs. 44 (1970), S.670-686. -
Das für die Sesenheimer Lyrik exemplarische
Fink, Gonthier-Louis: Le jeune Goethe et la tradi-
tion populaire. In: Revue d'Allemagne 3 (1971), Gedicht ist in mehreren Fassungen überliefert.
H. 1, S. 198-222. - Große, Wilhelm (Hg.): Zum jun- Für die ersten zehn Zeilen, die in einer Ab-
gen Goethe. Stuttgart 1982. - Henkel, Arthur: Der schrift von zehn Liedern durch die Hand von
deutsche Pindar, 0.0. 1978. - Ders.: Goethe-Erfah- Friederike Brions Schwester Sophie erhalten
rungen. Studien und Vorträge. Stuttgart 1982. - sind, kann mit einiger Wahrscheinlichkeit das
HSW 5, S. 159-207. - Huyssen, Andreas: Sturm und
Jahr 1771 als Entstehungszeit angenommen
Drang. In: Walter Hinderer (Hg.): Geschichte der
deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. werden. Gedruckt wurde das ganze Gedicht
Stuttgart 1983, S. 177-201. - Jorgensen, Sven Aage zuerst in der Zeitschrift Iris. Des Zweyten Ban-
u.a. (Hg.): Aufklärung, Sturm und Drang, frühe des drittes Stück. März 1775 (S. 244f.). Für die
Klassik. 1740-1789. München 1990. - Kaiser, Ger- Lyriksammlung des achten Bandes der Schrif-
hard: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänome- ten (1789) hat G. den Text grundlegend umge-
nologie der Natur in der deutschen Dichtung von
arbeitet und den Titel Willkomm undAbschied
Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977. -
Ders.: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe hinzugefügt, den er schließlich im Abdruck in
bis Heine. Ein Grundriß in Interpretationen. 3 Bde. den Werken (1810) in Willkommen und Ab-
Frankfurt/M. 1988. - KORFF, Bd. 1. - Langen, Au- schied änderte. Die spätere, den Intentionen
gust: Deutsche Sprachgeschichte vom Barock bis zur des Urtexts durchaus widersprechende Fas-
Gegenwart. In: Stammler, Wolfgang (Hg.): Deutsche sung wurde dann in den weiteren Werkaus-
Philologie im Aufriß. 2. überarbeitete Aufl. Bd. 1.
gaben bis hin zur Ausgabe letzter Hand bei-
Berlin 1957, Sp. 1117-1129. - Pereis, Christoph
(Hg.): Sturm und Drang. Frankfurt/M. 1988. - Sau- behalten und auch in die Weimarer Ausgabe
der, Gerhard: Die deutsche Literatur des Sturm und übernommen. Unter den späteren Werkaus-
Drangs. In: Müllenbrock, H.-J. (Hg.): Neues Hand- gaben bietet die Hamburger Ausgabe, deren
78 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

Text der Mehrzahl der neueren Interpretatio- In den Strophen drei und vier wird ebenfalls
nen zugrundeliegt (so noch Gerhard Kaiser eine Widersprüchliche Erfahrung zur Sprache
1988 und Helmut Brandt 1991), die erste Fas- gebracht: die Freude beim Anblick der Ge-
sung als eine philologisch unzulässige Kompi- liebten und der Schmerz beim Abschied von
lation aus den ersten zehn Zeilen nach der ihr. Dabei wird die geliebte Frau zugleich in
Sesenheimer Abschrift und den restlichen in Gegensatz und in Parallele zur Natur gesetzt.
der Iris-Fassung. Die Frankfurter und Münch- Wie die Natur wird sie vom Mann angesehen
ner Ausgabe bringen sowohl die Sesenheimer und blickt zurück. Während das Augenauf-
Abschrift wie auch den Iris-Druck von 1775 schlagen der Natur diese jedoch mit der Angst
und die Fassungen von 1790 und 1810, jedoch des Mannes beseelt, fließt aus dem Blick der
alle in leicht modernisierter Version (FA I, 1, Geliebten »milde Freude« cv.
17) auf den
S. 128f. u. S.283; FA I, 2, S.45; MA 1.1, Schauenden zurück, »auf« ihrem »lieblichen
S. 160f. u. S. 834f.; MA 3.2, S. 16f.). Für die Gesicht« erblickt er ein »rosenfarbes Frühlings
Interpretation kann zunächst allein die frü- Wetter« cv. 21f.). Die Frau erweist sich damit
heste autorisierte Fassung des Textes maßgeb- als Teil der Natur, und wie diese ist sie ftir den
lich sein, die mit dem Iris-Druck vorliegt. Sie Blick des sie betrachtenden Mannes undurch-
bietet insgesamt eine eigenständige und - wie sichtig, wird zum bloßen Spiegel seiner Ängste
noch zu zeigen sein wird - gegenüber den und Hoffnungen.
späteren Fassungen schlüssigere Lesart. In Zum ersten Mal erscheint so die Natur in
ihrer Originalgestalt ist sie einzig in Der Junge diesem Gedicht als menschliche und der
Goethe (JG Fischer-Lamberg 2, S.294) abge- Mensch als Natur, wobei deren Ambivalenz als
druckt, wonach im folgenden zitiert wird. schöpferische und zugleich bedrohliche, ja
zerstörerische Macht hier wie im Götz oder im
In seiner ursprünglichen Fassung ist das Ge- Werther betont wird. Sie ist weiblich-mütter-
dicht von einer tiefen Ambivalenz gekenn- liche Umhüllung: »Der Abend wiegte schon
zeichnet. Die beiden Anfangsstrophen evozie- die Erde« cv.
3), aber auch männliche Dro-
ren einen Ritt durch die Nacht, in der dritten hung: »Schon stund im Nebelkleid die Eiche, /
Strophe begegnet das Ich der Geliebten, um in Ein aufgethürmter Riese« cv. 5f.). Immer aber
der vierten ebenso unvennittelt von ihr Ab- bleibt sie das undurchdringlich andere, das
schied zu nehmen. Eingerahmt durch die Be- Fremde schlechthin: »da / Wo Finsterniß aus
teuerungen von Entschlossenheit und Mut dem Gesträuche / Mit hundert schwarzen Au-
cv. 1 f. u. V. 14-17), mit denen der Reiter »wild, gen sah« cv. 6ff.).
wie ein Held zur Schlacht« aufbricht, zeichnet In diesem Zusammenhang wird auch die
die erste Hälfte des Gedichts das Bild einer Liebe zum bloßen Naturphänomen, die wort-
bedrohlichen, unheimlichen Natur. Die Land- los nur aufBlicke sich verlassen muß. Solcher-
schaft, durch die der Reiter zu seiner Gelieb- art verweist sie den Liebenden auf sich selbst
ten eilt, wird so zum Ausdruck seiner Unsi- zurück, der sich ihrer in keiner Weise sicher
cherheit und Angst, die in den forschen Ge- sein kann. »Und Zärtlichkeit ftir mich, ihr Göt-
ftihlsäußerungen des Rahmens verdrängt er- ter! / Ich hoft' es, ich verdient' es nicht«
scheinen. In dem Maße, wie die Natur cv. 23f.), lautet der Schluß der dritten Strophe,
menschliche Züge annimmt, droht sich das Ich in der dieser Selbstzweifel deutlich ausgespro-
an sie zu verlieren. Die Iris-Fassung bringt chen ist. Von diesen Zeilen fallt ein zweifel-
diese Flucht aus dem Ich auch formal außer- haftes Licht auch auf die berühmte Schluß-
ordentlich präzise zum Ausdruck. Von dem pointe, mit der das Gedicht scheinbar ganz in
»mir«, mit dem das Gedicht einsetzt, geht die der traditionellen Manier der Rokokolyrik en-
Bewegung weg, um am Ende die gänzliche det. Dieses »Und doch, welch Glück! geliebt zu
Auflösung des Ich zu konstatieren: »Mein gan- werden, / Und lieben, Götter, welch ein
zes Herz zerfloß in Gluth« cv. 16). Glück« cv. 31f.) ist, wie die Anfangszeilen,
eher eine Selbstbeschwichtigung angesichts
Mir schlug das Herz 79

~44 ~ (0) ~

~d} fa~ bieb, unb bit milbt \5-mzbt


ID~r fd}lug bQ~ S}tr~ j gcfd,)l\Jiub ~u
IJIfabe, l'lop anll DM filgen !Blid auf ntid).
Unb fort, ",ilb, l\Jittin .l')elb&lIr 6etldd,)t! (\JRn~ war mrin S}aJ an btiner 6drt,
tln rub(nb ltIitglt fc~cn bie (!Tbc, l1nl> ieber iltJitltlAlIg fflr bid,).
Uub IIn brn !Bugm ~itnB bit !J!~t; C!in rofmfar&d grMlillgß mlrtttr
6d,)01l punb im !J!ebdf[cib bit (!id!lr, 249 auf bm litbllebtn <!\tfid)t,
\!in aufgctbdl"nlter mieft, bn, UnI> ~Artlid,)frit f~r ulid,), ibr Glutt«!
!lBo ijinfltmiO au' btm ®tjlrAud,)e 3d,) bof[' eil, id,) Dtrbitnt' ~ nid,)t.
rolit bunbtrt fd,)I1>IUatll Wugen fa~. ;oer mfd,)irb, lI>it&tbrAngt, l1Iit tn\6e!
;orr !mol1b \)on ftintm !lDurf(\1~ügrl, ilull I>rinm !BMtn fprad) brin .\)erJ.
ed)iell !lnglid) (1116 Dem :i:lllft ~rrDDr j ~n brium .!tuprn, mrld,)e litbt,
tlie !!Dinbe fd)\1l4ngrll hift jJfllgd, C> 1IIt1d)e !!Donne , II>rlebrr Sd,)ntrra!
Umfnuflrll fd,)aurrlid) mein :C~r; lDu gimSff, teb /blnb, unb fa~ iur erbtn,
::I)ir !J!ad}t fd}l1f tauflnb Ungd)rua- UDb ra~ bir nad) mit napm !Blief;
::I)od} toufrnbfadfer lIlaJ mein ID!ul1) j Unb bOd, J ",eid,) Gllllef! grlie(.t au tucrbtn,
ID/fin Glrifl tullr ein ur&tbrenb Weuer, Uub litbtl1, G!bttcr, !lide!} ein (!!lIld!
!mein BQnJ" J)tri ill ~
itr~o8 QHlIt~.
5'd} ..a. 3 'llolitiP.

Iris-DruckMärz 1775
80 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

der tief gefühlten Ambivalenzen, ein trotziges rung« zielt, aber schließlich scheitert. So er-
»und doch«, als der Jubelruf über das Urer- weist sich das scheinbar so selbstgewisse posi-
lebnis einer beglückenden Liebe, als der es tive Ende des Gedichts im Kontext der Hym-
immer wieder gelesen worden ist. nen Wandrers Stunnlied oder An Schwager
Kronos als weiterer Ausdruck eines radikalen
Die metrische Fonn des Gedichts erscheint Selbstzweifels des lyrischen Subjekts.
zunächst eher konventionell. Jeder Vers ist als
der »obligate jambische Viertakter« gebaut, Während die Auflösung des Ich, seine Angst
der seit Martin Opitz in der Liedstrophe vor- und die Unsicherheit seiner Liebe das zentrale
herrscht (May, S. 133). Allerdings wird dieses Thema der ersten Fassung bilden, engt die
Schema auf eine originelle und immer wech- spätere Fassung und ihr folgend ein Großteil
selnde Weise gefullt, wobei einzelne Verse der Deutungstradition den Text auf eine bio-
höchste Expressivität erreichen. So beispiels- graphische Situation ein. Durch die Umbil-
weise der zweite Vers, in dem mit den Worten dung der ersten beiden Zeilen der letzten Stro-
»Und fort! wild, wie ein Held zur Schlacht« phe zu: »Doch ach, schon mit der Morgen-
zunächst zwei stark betonte Silben aufeinan- sonne / Verengt der Abschied mir das Herz:«
derstoßen, gefolgt von zwei unbetonten, bevor (JG Fischer-Lamberg 2, S.295) wird das Ge-
der Vers dann regelhaft ausklingt. Die An- dicht in die Tradition des Tagelieds eingereiht,
fangszeilen lassen, wie Gerhard Kaiser formu- in dem der Mann sich am Morgen nach der
liert hat, »sprachlich den Hufschlag des an- Liebesnacht von seiner Geliebten trennen
galoppierenden Pferdes aufklingen und im muß. Der Aufgang der »Morgensonne« signali-
Einklang damit den wild galoppierenden siert jedoch nicht nur den Moment des Ab-
Herzschlag des Reiters« (S.62f.). Wie dem schieds, er verweist zugleich auf den Fall aus
auch sei, auf jeden Fall läßt die Durchbrechung der Authentizität, durch die die erste Fassung
und Aufhebung des metrischen Schemas auch sich auszeichnete. Allegorisch gelesen, ver-
rhythmisch die Aufbruchsbewegung ahnen, breitet sich im Text mit dem Licht des kalku-
die den semantischen Gehalt des Gedichts lierenden und umgestaltenden Verstandes
ausmacht. auch das Wissen um das Schuldigwerden der
Die Füllungsfreiheit und die aus ihr ent- Liebe und die Trauer über ihren Verlust.
springende metrische Expressivität, die Zu dieser völligen Umdeutung fügt sich auch
sprunghaften Übergänge vom Ritt zur Begeg- die hier erstmals hinzugefügte Überschrift
nung mit der Geliebten und zum Abschied von Willkomm und Abschied. Eckhardt Meyer-
ihr, schließlich die Vergangenheitsform, in der KrentIer hat nachgewiesen, daß diese Formel
die Handlung erzählt wird, nähern das Ge- im 18. Jh. eine präzise juristische Bedeutung
dicht der volksliedhaften Ballade an, wie G. hatte, nämlich die Verschärfung der Zucht-
sie in seiner Straßburger Zeit unter dem Ein- hausstrafe durch Prügel bei Einlieferung und
fluß Herders »aus denen Kehlen der ältsten Entlassung. Der untergründige Hinweis auf
Müttergens aufgehascht« hat (an Herder, das Verbrecherische der Liebe, das in der For-
Herbst 1771). Lediglich die beiden letzten mel mitschwingt,. dürfte von dem Juristen G.
Verse der dritten und vierten Strophe fallen im Jahre 1789, als er das wohlmeinende Wei-
aus der epischen Erzählform heraus. Beide mar durch sein Zusammenleben mit Chri-
Male wendet sich der Sprecher mit einer sen- stiane schockierte, bewußt über seinen Text
tenzhaften Reflexion an die »Götter«. Dieses gesetzt worden sein, bevor er dann in den
»spontane Verlassen der Sprechsituation«, ver- Werken von 1810 durch die Variante Willkom-
bunden mit der Formel »Ihr Götter«, tritt, wie men und Abschied die Anspielung wieder ver-
Klaus Weimar nachgewiesen hat (Weimar wischte.
1984, S. 303-305), in G.s Texten der Zeit von Die Umarbeitung zur zweiten Fassung
1772 bis 1774 immer als Ausdruck der Selbst- brachte noch eine weitere Akzentverschiebung
verständigung auf, die auf »Selbstvergötte- mit sich. Nicht nur wird nun im Gegensatz zum
Mir schlug das Herz 81

ursprünglichen Text die aktive Rolle des Man- nell rhetorischen Elemente des Textes über-
nes stärker betont, vielmehr wird das Verhal- holt (vgl. Wünsch, Sauder), weshalb Klaus
tensmuster von Mann und Frau geradezu um- Weimar das Gedicht als »experimentelle Ver-
gekehrt. Hieß es in der Iris-Fassung noch »Du längerung der bisherigen Biographie im
giengst, ich stund, und sah zur Erden«, Schreiben« auffaßt (Weimar 1982, S. 30).
schreibt G. 1789: »Ich ging, du standst und In den 80er Jahren ist das Gedicht mehrfach
sahst zur Erden«. Jetzt hat also der Mann das mit originellen Ansätzen interpretiert worden.
Gesetz des Handeins an sich gerissen. Er ver- Kaiser liest es als »Psychodrama der Adoles-
läßt die Geliebte und macht sich dadurch zenz«, als »Aufbruch in die Männerwelt« (Kai-
schuldig. Aber dieses Handeln wird in einem ser, S. 64) und macht es zugleich zur Grund-
ganz bestimmten Sinne als notwendiges sti- lage seiner Neubewertung des Begriffs »Erleb-
lisiert. Es ist das Handeln des Dichters. Statt nisgedicht« : »Es imitiert nicht Erlebnisse, es
»Mein ganzes Herz zerfloß in Gluth« steht nun- kreiert Erlebnisse im Produzenten und im Re-
mehr am Ende der zweiten Strophe: »In mei- zipienten« (ebd., S.69). So versucht er den
nen Adern welches Feuer! / In meinem Herzen Anspruch des Individuums, »organisierende
welche Gluth!« (JG Fischer-Lamberg 2, S. 295, Mitte der Welt zu sein« (ebd., S. 585f.), gegen
V. 15f.). Damit sind die zentralen poetologi- poststrukturalistische Deutungen zu verteidi-
schen Begriffe genannt, mit denen der Stunn gen, wie sie etwa David Wellbery vorgelegt
und Drang das dichterische Genie charakte- hat, der den Text als »kreative semiotische Ar-
risiert. Als Dichter und um seiner Dichtung beit« begreift, wobei die zentrale Tätigkeit des
willen muß sich der Mann von seiner Gelieb- lyrischen Ich, das »Sehen«, nur noch als »Ma-
ten trennen, der er - das die Vollendung seines trix des Bedeutens und nicht wirklicher Wahr-
Verrats - mit dem Doppelpunkt am Ende des nehmung« erscheint (Wellbery, S. 34 u. S. 16).
vorletzten Verses die nunmehr positiv zu le- Dieser Deutung widerspricht explizit Peter
sende Schlußsentenz in den Mund legt. Ein Utz, dem der Nachweis gelingt, daß G. hier
zweiter Prometheus, wird er schuldig um sei- gegen die »aufklärerische Hierarchisierung
nes Heilsauftrags willen. Aus der innovativen der Sinne«, die das Auge bevorzugt, bewußt
Gestaltung der Ambivalenzen des neuzeitli- eine »>ganzheitliche< Wahrnehmungserfah-
chen Individuums, das sich in der Liebe ver- rung« gestaltet habe, die sich >>nur als Prozeß
liert, ist so am Ende des Umgestaltungspro- denken« und sprachlich fassen lasse (S. 104).
zesses die Verherrlichung des Dichters als ei- »Der Text gelingt, wo der Blick versagt« (ebd.,
ner Erlösergestalt geworden. S.107).
Diese allzu optimistische Fonnel übersieht
G. selber hat in Dichtung und Wahrheit mit geflissentlich den Preis, den der Autor für das
wörtlichen Anspielungen auf Willkommen und Gelingen des Textes zu zahlen hat und den
Abschied das Gedicht in diesem Sinne nach- dieser durchaus benennt: Es ist die Vernich-
träglich als tragische Liebesgeschichte inter- tung des Lebens. Von Kaisers Begriff einer
pretiert (FA I, 14, S.494). Ihm folgt die com- »abwesenden Anwesenheit« der Geliebten
munis opinio der Ausleger bis ins 20. Jh. hin- ausgehend (Kaiser, S. 67), wäre der Text auch
ein. Sie lesen unter Berufung auf G.s autobio- als poetologische Aussage über das zu lesen,
graphische Aussagen den Text als was sich im Schreiben ereignet. Das Ich ver-
»Erlebnislyrik«, so etwa Max Kommerell, der liert sich, indem es sich mit allen Sinnen der
ihn als »Ansatz zu einem Lebensbericht« Welt öffnet, aber es verliert sich ebenso, indem
(S.93) begreift, oder Hennann August Korff, es sich selbst in den Text einbringt. Diese bei-
dem er sich als »die einfachen Urtöne des Her- den Ebenen der Textkonstitution sind im dich-
zens« darstellt (S. 62), die sich zu einem »Lie- terischen Text eins. Deswegen heißt es in der
besroman« zusammenfügen (ebd., S. 59). Die- Mitte der Iris-Fassung: »Mein Geist war ein
ser naive Biographismus ist spätestens seit der verzehrend Feuer, / Mein ganzes Herz zerfloß
Herausarbeitung der fiktionalen und traditio- in Gluth« (Y. 15 f.). Wie das Feuer vernichtet
82 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

der Schreibende die lebendige Welt und sich


selbst. Dem korrespondiert am Ende das Weg-
Maifest
gehen der Geliebten, die sich dem Blick des
Mannes entzieht. So entzieht sich alles Le-
bendige dem es begreifen wollenden Schrei- Das Gedicht ist wohl im Mai/Juni 1771 ent-
ben. So verfehlt alles Schreiben die lebendige standen: G. befand sich um die Pfingstzeit vom
Liebe. 18. Mai an in Sesenheim. Wegen eines hart-
näckigen Hustens hielt er sich noch bis spät in
den Juni hinein im dortigen Pfarrhaus auf.
Literatur: Auch Friederike Brion war krank. Die Briefe
Brandt, Helmut: Goethes Sesenheimer Gedichte als an Johann Daniel Salzmann, die G. zwischen
lyrischer Neubeginn. In: GoetheJb. 108 (1991), dem 29.5. 1771 und dem 19.6. 1771 aus Sesen-
S. 38-41. - Ellis, J. M.: Goethe's Revision of Will- heim schrieb, sind - mit Ausnahme des letzten
kommen und Abschied. In: GLL. 16 (1962/63), - Zeugnisse einer eher gedrückten und
S.4-22. - Hutchinson, Peter: Willkommen und Ab- schwankenden Stimmung. Die Welt, die »so
schied. In: GLL. 36 (1982/83), S.3-17. - Kaiser,
schön« (19.6. 1771) war, kontrastiert mit ei-
Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Goe-
the bis Heine. Erster Teil. Frankfurt/M. 1988, nem beharrlichen Mißmut.
S.61-70. - KOMMERELL, S.93-95. - KORFF, Bd. 1, Eine Handschrift ist nicht überliefert. Das
S.58-62. - May, Kurt: Drei Goethesche Gedichte Maifest befand sich vermutlich unter den Ge-
interpretiert. In: Alewyn, Richard u.a. (Hg.): Ge- dichten, die G. am 1.12. 1774 an Johann Georg
staltprobleme der Dichtung. Fs. Günter Müller. Jacobi schickte. Es wurde - mit »P.« unter-
Bonn 1957, S. 127-141. - McWilliams, James R.: A
zeichnet - in dessen Zeitschrift Iris (2. Bd., 1.
new Reading of Willkommen und Abschied. In:
GLL. 32 (1978/79), S.293-300. - Meyer-Krentler, St., Januar 1775) gedruckt. Für die Umarbei-
Eckhardt: Willkomm und Abschied. Herzschlag und tung, die im achten Band der Schriften
Peitschenhieb. Goethe, Mörike, Heine. München (S. 126f.) im Jahre 1789 erschien, änderte G.
1987, S. 85-111. - Michelsen, Peter: Willkomm und den Titel in Mayfied und verzichtete damit auf
Abschied. In: Sprachkunst 4 (1977), S. 6-20. - Mül- ein bestimmtes und genau datierbares >Mai-
ler, Peter: Zwei Sesenheimer Gedichte Goethes. In:
fest< zugunsten zeitlicher Entgrenzung (Text in
WB. 13 (1967), S.20-47. - Sauder, Gerhard: Will-
kormn und Abschied: wortlos. Goethes Sesenheimer FA I, 1, S. 287ff.). Die darin veränderte Zei-
Gedicht Mir schlug das Herz. In: Richter, Kar! (Hg.): chensetzung kann die mehrdeutigen syntak-
Gedichte und Interpretationen. Bd. 2. Aufklärung tisch-semantischen Beziehungen klären: hin-
und Sturm und Drang. Stuttgart 1983. S. 412-424. - ter den Ausrufen in Vers elf und zwölf, Vers
Utz, Peter: Das Auge und das Ohr im Text. Literari- dreizehn und Vers fünfzehn steht ein Ausrufe-
sche Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. Mün-
zeichen. In Vers 33 wird das Komma getilgt,
chen 1990, S. 100-109. - Weimar, Klaus: Goethes
Gedichte 1769-1775. Interpretationen zu einem An- Vers 34 schließt mit Punkt, Vers 35 mit
fang. Paderborn 1982, S.21-31. - Ders.: »Ihr Göt- Komma. Neben der Änderung des Titels und
ter!«. In: Barner, Wilfried u.a. (Hg.): Unser Com- der Interpunktion - von einigen Apostrophie-
mercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. rungen und orthographischen Korrekturen
Stuttgart 1984, S. 303-328. - Wellbery, David: The muß hier nicht die Rede sein - ist die Er-
Specular Moment: Construction of Meaning in a
Poem by Goethe. In: Goethe Yearbook 1 (1982),
setzung von »blinkt« cv.23) durch »blickt« die
S. 1-41. - Wünsch, Marianne: Der Strukturwandel bedeutsamste spätere Korrektur. Schon hier
in der Lyrik Goethes. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz steht Mayfied zwischen An Befinden und Mit
1975, S. 109-113. einem gemalten Band. Diese Stellung behält es
Bernd Wilte auch in der Sammlung von 1815 und in der
Ausgabe letzter Hand, wo es unter der Rubrik
Lieder erscheint (FA 1,2, S. 47f.).
Der folgenden Analyse liegt die Iris-Fassung
zugrunde (Text in MA 1.1, S. 162f.). Die Ent-
scheidung ist chronologisch und stilistisch be-
Maifest 85

gründet. Das Maifest gehört zu den bedeu- kommt mit der Personifizierung, Anrufung
tendsten Gedichten des jungen G. aus der und Rühmung der Liebe eine zentrale Funk-
Straßburger Zeit. Mit ihnen hat er seinen eige- tion zu. Die Liebe zum Mädchen und die Häu-
nen lyrischen Ausdruck gefunden. Die Fassung fung von Natur-Vergleichen in den Strophen
von 1789 entspricht schon einer späteren sechs bis neun gipfeln in dem abschließenden
Phase der G.schen Lyrik - so viel Gewicht Glück-Wunsch. Die Verzahnung der Strophen
haben wenige Korrekturen. untereinander überspielt die Grenzen der Pha-
Das Gedicht ist wegen seiner Kurzzeilen oft sen - die subtile Verkettung der Zeilen, Stro-
als> stürmisch< oder> atemlos< bezeichnet wor- phen und Phasen wird durch häufige Ana-
den, wobei das metrische Schema mit seiner phern und Parallelismen bewirkt. Klaus Wei-
einfachen Struktur die Zersplitterung in die mar hat durch eine Unterscheidung von >ab-
Einzelelemente verhindere. Außer Vers zwei soluten< und >ausgeführten< Vergleichen - die
der ersten und Vers vier der zweiten Strophe, Verse 55 und 56 versteht er als >selbstverständ-
die daktylischen Einsatz haben, sind alle Zei- liche Entsprechung< - eine Makrostruktur
len zweihebig-jambisch. Die dritte Strophe nach den Bedeutungsvarianten der Vergleiche
weist als einzige zwei Reimpaare auf. Abge- erkannt: In Strophe eins bis drei herrscht der
sehen von dieser Ausnahme besteht die Ord- >absolute Vergleich<, in den Strophen vier bis
nung des Gedichts darin, daß zwei Kurzzeilen sechs überlagern sich >absoluter< und >ausge-
jeweils kreuzweise durch Reime verbunden fUhrter< Vergleich, in den Strophen sieben bis
sind. Mit Recht sind je zwei Kurzzeilen als neun >ausgeführter< Vergleich und >selbstver-
eine Langzeile verstanden worden: In jeder ständliche Entsprechung<.
Strophe - außer der dritten - treten je zwei Das Gedicht erweckt den Eindruck des >Na-
Langzeilen durch Reime mit männlicher Ka- turtons< durch eine syntaktische Fügung mit
denz zusammen. Die kurzen Verszeilen drän- >einfachen< Mitteln: Ausrufe, kurze Aussage-
gen metrisch und rhythmisch auf die geraden sätze, Vergleiche, Apostrophe und der Glück-
Zeilen und auf deren Reimwörter mit männ- Wunsch der Schlußzeilen sind parataktisch ge-
licher Kadenz zu. Die unbetonte Endsilbe je- fügt - an die Stelle unterordnender Konjunk-
der ungeraden Zeile verbindet sich mit dem tionen tritt die nebenordnende Kopula >>und«;
jambischen Beginn jeder geraden Zeile (Aus- das in mehreren Funktionen erscheinende
nahmen: V. 2 u. 8) zu einem Daktylus - so »wie« wird auch als vergleichende Konjunk-
entsteht eine Art von metrischem Enjambe- tion verwendet.
ment. Dieser parataktischen Strukturierung ent-
Über diesen metrischen Kunstgriff hinaus sprechen zahlreiche Verdoppelungen, Wieder-
werden die einzelnen Strophen immer zur holungen und Anaphern. Die Anaphorik in
nächsten hin »geöffnet«: Nach den drei Aus- Mir schlug das Herz wird im Maifest aus einem
rufen der ersten Strophe beginnt in der zwei- Instrument der Akzentuierung des Strophen-
ten ein Satz, der bis zur Mitte der dritten Stro- schlusses zu einem umfassenden Formprinzip.
phe reicht. Die analog konstruierten Ausrufe Ein Hinweis auf die Funktion rhetorischer
am Ende der dritten Strophe und am Beginn Wiederholungsfiguren fUhrt hier ins Leere -
der vierten Strophe schließen diese Strophen G.s Gedicht überbietet jede rhetorische affek-
zusammen. Strophe vier und fUnf werden tische >amplificatio< durch die Intensität einer
durch einen Satz verbunden. Die Strophen sie- kunstvollen >Natürlichkeit<.
ben bis neun bestehen aus einem Satz. Der Sie wird auch durch einen eng begrenzten
fünften Strophe wird eine wichtige Funktion Wortschatz erzeugt. Die Frühlings-Welt
zugewiesen - sie steht zur sechsten hin schein- kommt mit wenigen konkreten Elementen
bar fUr sich. (»Blüten«, »Zweig«, »tausend Stimmen«, »Ge-
Die Strophen eins bis drei bilden durch ihre sträuch«, »Höhen«, »Feld«, »Auge«, »Lerche«)
Naturevokation und zahlreiche Ausrufe eine aus - sie wirkt mit umfassenden Begriffen wie
erste Phase. Den Strophen vier und fünf »Natur«, »Flur«, »Erde« entrealisiert. Die Ge-
84 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

fühlsabstrakta (»Freud«, »Wonne«, »Glück«, durch das Bewegungsverb »dringen« mit


»Lust«, »Liebe«, >}Mut«) tragen zur Entgren- »Freud und Wonne« aus »jeder Brust« verei-
zung des Konkreten bei - ihre semantische nigt. Während die ältere Tradition der Lyrik
Abgrenzung ist nicht intendiert. Die Adjektive dieses »System der gestuften Kontinuität«,
steigern noch die Redundanz der Gefühlsevo- dieses Bild der »lückenlosen Kette« (vgl. Höl-
kation - von der sechsten Strophe an domi- scher-Lohmeyer) eines von Leibniz begrün-
niert das Verb »lieben«; Liebe ist das >Leit- deten Naturdenkens genutzt hätte, um gleich-
motiv< des Maifests. Mit diesen eher abstra- sam noch einmal physikotheologisch die Stu-
hierenden Stilmitteln der Gefühlsevokation fen bis zum Schöpfer hinaufzusteigen, begnügt
verbindet sich die Reduktion der Metaphorik. sich das Gedicht mit der wirkenden Gottnatur
Neben der lehrbuchartigen Metapher »Wie des ungeheuren Ganzen. Mit Recht sind in
lacht die Flur!« (pratum ridet) beschränkt sich solcher >Bescheidung< pantheistische Züge
das Gedicht auf Vergleiche, die Natur und lie- entdeckt worden (vgl. May u. Müller). Die
bendes Subjekt verknüpfen. mütterliche Natur offenbart sich »leuchtend«,
Beim Versuch, diesen scheinbar so schlich- als göttlicher Liebesgrund allen Lebens. Die
ten und doch so kunstreichen Ton von der Licht-Phänomene des Eingangs werden in der
Lyrik um 1770 her verständlich zu machen, ist G.schen Neuprägung des Wortes »Blüten-
auf die Tradition des Volksliedes hingewiesen dampf« (Y. 19) gesteigert und erinnert. Die
worden, der sich G. unter Herders Leitung im Tendenz zur Entkörperlichung setzt sich darin
Elsaß öffnete (vgl. KOMMERELL, JG Fischer- fort: die »volle Welt« wird durch den Schleier
Lamberg 2). Klopstocks Naturevokation - Die dieses >Dampfes< erst völlig erfahrbar.
Frühlingsfeyer- wird G. als durchaus vorbild- G. hat in den siebziger Jahren eine Ästhetik
lich gelesen haben, um sie jedoch - genauso der >Dämmerung< entworfen und in seinen
wie das Volkslied - zu überbieten. Eine kon- Kupferstichbeschreibungen für die Frankfur-
krete Anregung durch das französische Ge- ter Gelehrten Anzeigen an konkreten Beispie-
dicht Hameau, das im Almanach des Muses len demonstriert: volles und hartes Licht läßt
(1767) erschien und der Poesie fugitive ver- die Dinge nicht >ganz< erscheinen. Sie bedür-
pflichtet ist, kommt kaum in Frage (vgl. FA I, fen des >}Trüben«, das später in der Farbenlehre
1, S. 839). fundamentale Bedeutung erlangt, der }}dun-
Die Natur dieses Gedichts erscheint wie ein stigen Klarheit«, wie es in der Italienischen
Teil des Ichs - das metrisch hervorgehobene Reise heißen wird (MA 15, S. 288). Die plan-
Personalpronomen >}Mir« in Vers zwei, in sei- volle Unschärfe findet sich auch in >}golden«:
ner Funktion vergleichbar mit dem das Ge- es gibt in der Zusammenstellung mit »schön«
dicht eröffnenden »Mir« in Mir schlug das seinen Charakter als Farbadjektiv auf und ver-
Herz (erste Fassung), stellt bereits im Eingang stärkt eine >glänzende< Einheitsvorstellung.
des Maifests Natur wie eine Person dar: ganz Im Vergleich zwischen »golden schön«,
auf das empfindende Subjekt bezogen. Die er- »Liebe«, und }>Morgenwolken« vermischen
ste Strophe evoziert Natur als eine Epiphanie: sich die Bedeutungen; die Vergleichsglieder
leuchtend, glänzend, heiter. Carl Pietzcker »schweben zwischen Farbe, Bedeutung und
und, detaillierter noch, Dorothea Hölscher- Gefühl« (Pietzcker, S. 19).
Lohmeyer haben auf die Stufung der Natur- Das lyrische Ich des Gedichts nennt sich nur
Bereiche, die >}gestufte Schöpfung« in kosmi- in den Formeln }>Wie lieb ich dich!« (Y. 22) und
scher Harmonie hingewiesen. Die vom Licht »Wie ich dich liebe« (Y. 29). Aber durch die
der Natur-Herrlichkeit erfüllte Welt entsteht >pronominale< Evokation (>}mir«, »mich«) gibt
aus der Pflanzensphäre (}}Blüten«, »Zweig«), es sich als intensiv erlebendes und empfinden-
erhebt sich durch die tausendstimmigen Vögel des Ich zu erkennen. Es scheint nur im Auf-
zum Tierreich und schließlich zum fühlenden nehmen der Naturphänomene und im Emp-
Menschen. So wird mit knappen optischen finden und Reflektieren der Empfindungen zu
und akustischen Zeichen die Frühlings-Natur existieren. Einer auf klare Kontur verzichten-
Maifest 85

den Natur, die als elementare Kraft erfahren Ausrufe der Liebe, wie sie zuvor der Natur
wird, entspricht dieses wie ein Teil der Natur gelten, ein mehrfach gestufter Vergleich und
selbst sprechende Ich, das seine Individuie- die Musen-Wirkungen des Mädchens wieder-
rung im Einklang mit der schaffenden Natur holen in der Schlußphase des Gedichts seinen
sucht. Während es aber in den Ausrufen von Gang von der gesteigerten Empfindung über
Vers elf bis dreizehn völlig von der Natur ver- die subtile Distanzierung des ersten Verglei-
einnahmt erscheint, entsteht durch Vergleiche ches (Y. 15/16) bis hin zur Reflexion seines
und reflektierte Empfindung Distanz, die auch künstlerischen Produziert-Seins. Die Lerche
die Konstituierung des Ichs für das Du der ist seit der antiken Dichtung als Kunst-Perso-
Geliebten ermöglicht. Das fühlende und lie- nifikation verstanden worden. Das Subjekt des
bende Subjekt ist auf Totalität hin angelegt, die Gedichts liebt wie sie »Gesang«, die >>lleuen
zunächst in affektiver Identifikation mit den Lieder« (vgl. G.s Neue Lieder in Melodien ge-
Naturerscheinungen erfahren wird. Mit Recht setzt von Bernhard Theodor Breitkopf[1770J).
ist die Evokation einer unentfremdeten Ein- Sie und die »Tänze« sind den Musengaben
heit zwischen Ich und Natur vor dem Horizont »Jugend«, »Freud und Mut« zu verdanken. Der
der Hoffnungen des Bürgertums im späten 18. Totalität der Natur, erfüllt von »All-Liebe«, ge-
Jh. situiert worden (vgl. Gnüg): volle Ich- hört das Mädchen als Muse und natürliche
Identität und Selbstbestimmung müssen der »Kraft« an: Mit Hilfe des Mädchens schafft die
Entfremdungserfahrung abgezwungen wer- Natur den Dichter. So wird Maifest zum Fest
den; der Glanz der Natur und ein utopischer einer Wiederbringung der Inspiration. Daß es
Vor-Schein steigern das Leuchten dieser Na- sich bei den Sesenheimer Gedichten tatsäch-
tur- Ich -Erfahrung. lich um »neue Lieder« handelt, wird beim Ver-
Das im Titel des Gedichts angekündigte Fest gleich mit den 1770 veröffentlichten Texten
kennt zunächst nur zwei Teilnehmer: Ich und evident. Die ländlichen Sesenheimer »Tänze«
Natur. Als lebte dieses empfindende Subjekt lassen das Leipziger Rokoko vergessen.
allein in dieser Mai-Landschaft, kann es das Das Gedicht wird mit einem Glück-Wunsch
Äußere für das Innere nehmen: Fühlen und beschlossen, der im Hinblick auf die Bedeu-
Erscheinen sind in den Strophen eins bis drei tung des »wie« kein eins inniges Verständnis
untrennbar. Das Mädchen ist in den Strophen zuläßt. Gewiß ist noch einmal das >Ausgewo-
vier und fünf noch Teil der in aller Natur wal- gensein< von LiebenlGeliebtwerden gemeint,
tenden, ja vergöttlichten Liebeskraft (»Du seg- so daß die bei G. seit dem Heidenrö"slein gern
nest«; V. 17). Die notwendige Grenzenlosig- benützten Umkehrformeln (Y. 22: »Wie lieb'
keit der Totalität »Natur«I»Liebe« erlaubt auch ich dich 1«; V. 24: »Wie liebst du mich«) sinnge-
dem personifizierten Liebes-Adressaten, dem mäß wiederkehren. Ob sich die kausalen
namenlosen »Mädchen«, keine individuellen Obertöne hier tatsächlich aufdrängen (vgl.
Züge: das »Blinken« des Auges (Y. 23) korre- Margetts) oder ob das »wie« im Sinne von »in
spondiert dem Leuchten der Natur und dem der Art, in welcher« (vgl. Pietzcker) zu ver-
Glänzen der Sonne. Eigenschaften des Mäd- stehen ist: die Zeilen bleiben mehrdeutig. Das
chens werden einzig in seiner Wirkung auf das Ich und sein Mädchen sollen jedenfalls im lie-
Ich angedeutet: Natur und Mädchen sind nur beserfüllten Augenblick ein hyperbolisches,
für dieses sich wie die Natur selbst allmächtig »ewiges« Glück erfahren.
fühlende Subjekt vorhanden. »In der allgemei- Das Maifest gilt als Höhepunkt und gelun-
nen Liebe erfährt das Ich nun die eigene und genstes Werk der Sesenheimer Lyrik. Die
weist von ihr - wohl immer noch mit Erstau- frühe Wirkungsgeschichte nach der Veröffent-
nen - wieder in die allgemeine zurück. Das lichung 1775 und 1789 ist noch nicht über-
Thema der Strophen sechs bis neun ist nicht schaubar. In der romantischen und epigonalen
die private Liebe, sondern die allgemeine, und Poesie wirkt das Gedicht gewiß als Paradigma
erst in sie gehört die private« (Pietzcker, der »neuen« Lyrik. Die nicht immer für das
S.21). Verständnis förderliche Bindung an Friederike
86 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

Brion und Sesenheim wurde durch Heinrich im Sinne eines »Gedichts der Liebe der Natur
Kruses Reise ins Elsaß (1835) und die Ver- und in der Natur, in der auch die eigne erfah-
öffentlichung weiterer Texte (einige von Jacob ren wird«, lesen. Marianne Wünsch hat einen
Michael Reinhold Lenz) aus G.s Sesenheimer latent solipsistischen Charakter der Sprech-
Zeit im Deutschen Musenalmanach für 1838 situation erkennen wollen; das »Du« sei eine
verstärkt. Die G.-Philologie des sogenannten Verschleierung des Konkreten ohne Inhalt.
Positivismus hat die Interpretation weitge- Der Unterschied zwischen Innen und Außen
hend auf das »Erlebnis« der G.schen Liebe in falle weg. So entstehe Mehrdeutigkeit. Die
Sesenheim fixiert: Biographie soll das Gedicht Bedingungen für >Kunst<-Produktion würden
erklären. Gundolf spricht in seiner G.-Mono- reflektiert. Von Klaus Weimar stammt die
graphie kaum vom Maylied, wohl aber von sorgfältigste stilistische Analyse: die triadi-
Friederike und G.s Entdeckung des Frühlings sche Gliederung, Dominanz des »wie«, Liebe
für die Deutschen - Friederike sei der »wan- als Leitmotiv, Wiederholungstechnik, ein
delnde Genius dieses Frühlings« gewesen. dichtes Netz von Bezügen und Verweisungen
Erst die Ausgaben der Werke des jungen Goe- charakterisierten das Gedicht. Nicholas Boyle
the durch Salomon Hirzel (1875) und Max kam gleichzeitig zu ähnlichen Ergebnissen. Er
Morris (1909-1912) haben einen philologisch spricht von Echo-Strukturen, von einer Lyrik
gesicherten Überblick über die Lyrik der frü- des Selbstbewußtseins. Hiltrud Gnüg hat die
hen 70er Jahre ermöglicht. Stilmittel, Verknappung, Ellipse und Redun-
In der Auslegungs-Geschichte führt die Ver- danz der Gefühlsworte untersucht. Die Liebe
pflichtung des Gedichts auf das »Erlebnis« fungiere als Muse und repräsentiere unent-
schon bei Heinrich Düntzer (1876) zu einer fremdetes Lebensgefühl, das jedoch die Erfah-
kritischen Wertung der Schlußstrophen: das rung von Entfremdung voraussetze. In der kri-
Lied breche etwas nüchtern ab. Ein Erlahmen tischen Distanz zu dem scheinbar so gefühlsse-
der Leidenschaft entdeckten auch Kurt May ligen Gedicht geht Bernhard Sorg am weite-
und Emil Staiger. Diese Interpreten lesen das sten. Er möchte die Unmittelbarkeit der
Gedicht als »Liebesgeschichte«; das Mädchen Gefühlssprache als Schein und Konstruktion
ist fraglos mit Friederike Brion identisch; die erkennen. Subjekt und Objekt würden ver-
Liebessprache werde durch die Vergleiche in schwimmen. »Ich, Natur, Liebe und künstle-
Strophe sieben und acht distanziert und abge- risches Schöpfertum« schließe die lyrische
kühlt. Die kunstvolle Vieldeutigkeit des Ge- Sprache zusammen.
dichts, die Funktion der schöpferischen All-
Natur und All-Liebe, die das Mädchen »ent-
individualisiert«, um als Muse mit dem schöp- Literatur:
ferischen Ich zu kommunizieren, ist dabei Boyle, Nicholas: Maifest und Auf dem See. In:
kaum bemerkt worden. GLL. 36 (1982/1983), S. 18-34. - Düntzer, Heinrich:
Neuere Deutungen haben den biographi- Goethes lyrische Gedichte erläutert. Bd. 11. Leipzig
schen Ansatz aufgegeben und sind durchweg 1876, S. 113. - Gnüg, Hiltrud: Entstehung und Krise
distanzierter im Ton. Peter Müller versuchte lyrischer Subjektivität. Vom klassischen lyrischen
Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit. Stuttgart
einen neuen Zugang, indem er die Kommu-
1983, S. 72-78. - GUNDOLF, S. 140. - Hälscher-Loh-
nikation des Menschen mit der Natur, diese meyer, Dorothea: Die Entwicklung des Goetheschen
und das Mädchen als Adressaten der lyrischen Naturdenkens im Spiegel seiner Lyrik - am Beispiel
Sprache verstand. Carl Pietzcker hat in seiner der Gedichte Mailied - Selige Sehnsucht - Eins und
breit angelegten Interpretation auf die Makro- Alles. In: GoetheJb. 99 (1982), S. 11-31. - KOM-
struktur mit drei Phasen, die Stufung der MERELL, S. 104-106. - Margetts, John: The creative
act in Goethe's Mailied. In: New German Studies 15
Seinsbereiche, die ohne feste Konturen (Ab-
(1988-1989), S. 17-21. - May, Kurt: Form und Be-
strakta!) evoziert werden, vor allem aber auf deutung. Interpretationen deutscher Dichtung des
die >Einheit< des Gedichts hingewiesen: Die 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1957, S. 66-72.-
Strophen sieben und acht ließen sich durchaus Mittelberg, Ekkehart: Methoden- und Rezeptions-
Wandrers Stunnlied 87

wandel in der Literaturwissenschaft arn Beispiel der lenkst, den austretenden herbei, den aufbäu-
Sesenheimer Lyrik Goethes. Zusammenstellung der menden hinabpeitschest, und jagst und lenkst
Materialien und Kommentierung. Stuttgart 1976. -
Müller, Peter: Zwei Sesenheimer Gedichte Goethes. und wendest, peitschest, hältst, und wieder
Zur Interpretation von Willkomm und Abschied und ausjagst, biß alle sechzehn Füße in einem Takt
MayJest. In: WB. 13 (1967), S.20-47. - Pietzcker, ans Ziel tragen. Das ist Meisterschaft, ~1ttKPU­
earl: Johann Wolfgang Goethe: Mailied. In: ww. 19 'tElV, Virtuosität. [ ... ] Seit vierzehn Tagen les'
(1969), S. 15-28. - Sorg, Bemhard: Das lyrische Ich. ich Eure ,Fragmente', zum erstenmal«. Diese
Untersuchungen zu deutschen Gedichten von Gry- Zeilen zeugen zunächst und vor allem vom
phius bis Benn. Tübingen 1984, S. 57-61. - STAIGER,
Studium der großen Olympischen Oden Pin-
Bd. 1, S. 54-61. - Weimar, Klaus: Goethes Gedichte
1769-1775. Interpretationen zu einem Anfang. Pa- dars, die den Anfang der Ausgaben seiner er-
derborn, München, Wien, Zürich 1982, S. 32-39. - haltenen Werke bilden. Sie stehen im Zeichen
Wünsch, Marianne: Der Strukturwandel in der Ly- des »Zeus, des Kronos Sohn und der Rhea, der
rik Goethes. Die systemimmanente Relation der Ka- umhegt des Olympos Sitz« (Zweite Olympische
tegorien .Literatur. und .Realität.: Probleme und Ode, V. 12). In ihnen besingt Pindar die Sieger
Lösungen. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1975,
im olympischen Wettkampf des Pferde- und
S.149-153.
Wagenrennens, in ihnen vergleicht er seine
Gerhard Sauder Verse mit treffsicheren Pfeilen.
Der ganz aus Pindars Geist und unter Ver-
wendung wichtiger Motive seiner Siegeslieder
geschriebene Brief ist eines der bedeutendsten
Dokumente der dichterischen Selbstvergewis-
serung des jungen G. Um so bemerkenswerter
Wandrers Sturmlied seine Übereinstimmung mit den Schlußstro-
phen von »&ndrers Sturmlied. Hier wie dort
nennt G. die Namen dreier ihm wichtiger grie-
chischer Dichter, wobei dem Vorbild Pindar
Der genaue Zeitpunkt der Entstehung des Ge- eindeutig der Vorzug gegeben wird. In beiden
dichts ist nicht belegt. Jedoch liegt es nahe Texten dominiert das von Pindar inspirierte
anzunehmen, daß es im Kontext von G.s inten- Bild vom Wagenrennen, in dem das Selbst-
siver Beschäftigung mit dem altgriechischen bewußtsein des Dichters sich ausdrückt. G.s
Chorlyriker Pindar und der gleichzeitigen Ziel, das Leben und gleichzeitig die Dicht-
Lektüre von Johann Gottfried Herders Frag- kunst zu »meistern«, ist in dem Pindarischen
menten Ueber die neuere Deutsche Litteratur Bild vorgegeben. Noch aber zweifelt der Autor
entstanden ist, wovon ein Mitte Juli 1772 in daran, ob er es erreichen wird.
Wetzlar geschriebener Brief an Herder berich- Die aus der Parallele zwischen dem Brief an
tet: »Ich wohne jetzt in Pindar, und wenn die Herder und »&ndrers Sturmlied abgeleitete
Herrlichkeit des Pallasts glücklich machte, Datierung des Gedichts auf den Sommer 1772
müßt' ichs sein. Wenn er die Pfeile ein- übern wird allerdings in Frage gestellt, wenn man
andern nach dem Wolkenziel schießt steh ich mit Karl Eibl in Erwägung zieht, daß G. sich
freilich noch da und gaffe, doch fühl' ich in- 1774 noch ein zweites Mal mit Pindar beschäf-
deß, was Horaz aussprechen konnte, was tigt hat, wovon seine aus diesem Jahr stam-
Quintilian rühmt [ ... ]. Da gingen mir die Au- mende Übersetzung der unter dem Namen
gen über meine Unwürdigkeit erst auf, gerieth Pindars überlieferten Fünften Olympischen
an Theokrit und Anakreon, zuletzt zog mich Ode zeugt, die ebenfalls einem Sieger im Wa-
was an Pindarn, wo ich noch hänge.[ ... ] Ueber genrennen gewidmet ist (Komm. in FA I, 1,
den Worten Pindars E1ttKPU'tElV 8uvuaSut ist S. 856). Dann würde die Niederschrift in un-
mir's aufgegangen. Wenn du kühn im Wagen mittelbare zeitliche Nähe zu dem Brief an
stehst, und vier neue Pferde wild unordentlich Friedrich Heinrich Jacobi vom 31.8.1774 rük-
sich an deinen Zügeln bäumen, du ihre Kraft ken, in dem G. seine Düsseldorfer Freunde zur
88 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

Wanderung »in freyer Gotteswelt« ermuntert als Ausdruck des »Stürmisch-Erlebnishaften«


und ihnen mit der Bemerkung: »Hier eine ist das hervorstechende Merkmal, das die äs-
Ode, zu der Melodie und Commentar nur der thetische Theorie des 18. Jhs. der pindari-
Wandrer in der Noth erfindet« seine pindari- schen Ode zuschreibt (Schmidt 1985b, S. 203).
sche Hymne übersendet. Ähnlich argumentiert Nicolas Boileau, der in seiner Art poetique die
Arthur Henkel, der den »Entwurf der Hymne kanonische und in der deutschen Aufklärungs-
dem Jahr 1772« zurechnet, ihre Niederschrift poetik weithin übernommene Definition der
jedoch ebenfalls in unmittelbare zeitliche lyrischen Großform geliefert hat, schreibt ihr
Nähe zu dem Brief an Fritz Jacobi rückt diese Eigenschaft ausdrücklich zu: »Mit noch
(S.22). höherem Glanz und nicht weniger Kraft erhebt
Das den Jacobis übersandte Manuskript hat die Ode ihren ehrgeizigen Flug bis zum Him-
sich erhalten und befindet sich heute im mel und pflegt in ihren Versen Verkehr mit den
Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt (Ab- Göttern. [ ... ] Ihr stürmischer Stil bewegt sich
bildung und Transkription bei Henkel, häufig nach dem Gesetz des Zufalls. In ihr ist
S. 10-19; Text in FA I, 1, S. 142-145). In der die schöne Unordnung eine Wirkung der
Handschrift der Ersten Weimarer Gedicht- Kunst« (Il, 58 ff.). Der scheinbar regellose,
sammlung von 1778 steht das Gedicht - mit dem Verstand nicht ohne weiteres zugängliche
einigen sprachlichen Änderungen gegenüber Bau der Pindarischen Ode und ihre daraus
der ältesten Handschrift und mit dem hier resultierende »Dunkelheit« - dieses parado-
erstmals auftretenden Titel Wandrers Stunn- xen Faktums war sich die zeitgenössische
lied - an zweiter Stelle zwischen Mahomets Theorie durchaus bewußt - ist also schöner
Gesang und Künstlers Morgenlied (Faksimile Schein, beruht auf strikten, aus der antiken
bei Suphan; Text in FA I, 1, S. 195-198). Auf Tradition abgeleiteten und durch sie geheilig-
diese als sorgfaltige Reinschrift angelegte Fas- ten Regeln. Ihr hoher Stil erfordert die Dar-
sung bezieht sich die vorliegende Interpreta- stellung des Erhabenen, als das dem 18. Jh. die
tion. Der Erstdruck der Hymne erfolgte erst antiken Götter, aber auch außergewöhnliche
über 40 Jahre nach ihrer Entstehung. Erst Naturerscheinungen, etwa ein Gewittersturm,
nachdem sie unautorisiert unter dem Titel Di- galten. Des weiteren ein sprunghaftes, asso-
thyrambe in den Hamburger Nordischen Mis- ziatives Gedankengefüge, das seinen sprach-
zellen vom 1.3. 1810 erschienen war, nahm G. lichen Ausdruck in ungewöhnlichen Kompo-
sie in die Werkausgabe von 1815 auf, dies ein sita und schwierigen grammatikalischen Kon-
erster Hinweis darauf, daß ihm der esoterische struktionen findet, dem, was Norbert von Hel-
Charakter seiner Dichtung durchaus bewußt lingrath später im Anschluß an die antike
war. In der Sammlung von 1815 wie in der Theorie »harte Fügung« genannt hat. Schließ-
Ausgabe letzter Hand steht es unter der Rubrik lich eine triadische Strukturierung der Texte,
vennischte Gedichte zwischen An Schwager in der ein dreistrophiges Element, das nach
Kronos und Seifahrt (Text in FA I, 2, dem Vorbild Pindars aus Strophe, Antistrophe
S.292-295). und Epode besteht, mehrfach wiederholt wer-
den kann.
Wenn die Forschung übereinstimmend fest- Auch wenn man die Kontroversen über die
stellt, Wandrers Stunnlied sei ein »schwieriger Stropheneinteilung der G.schen Ode zunächst
Text« (Schmidt 1985b, S.223; vgl. STAIGER, unberücksichtigt läßt (vgl. Eibl 1985 u.
Bd. 1, S. 68; Zimmermann, S. 77) oder gar das Schmidt 1985 a), ist es evident, daß die »innere
»schwierigste« aller G.schen Gedichte (Wei- Form« von wandrers Stunnlied vier solcher
mar, S. 66; ähnlich Henkel, S. 20), so benennt dreigliedrigen Elemente aufWeist. Die erste
sie damit eines der zentralen Charakteristika Strophenfolge ist der Anrufung des »Genius«
der Tradition, in die G. selbst sein Gedicht gewidmet, die zweite den »Musen und Chari-
gestellt hat, als er es Jacobi gegenüber als tinnen«, die dritte apostrophiert die Götter
»Ode« bezeichnete. Künstliche »Dunkelheit« Bromius (Bacchus), Apollo und Jupiter, und
Wandrers Stunnlied 89

wandrers Sturmlied
90 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

die letzte evoziert die antiken Dichter Ana- Ode aus dem »Regengott« Jupiter, ein mytho-
kreon, Theokrit und Pindar. In Analogie zu logischer Kontext, der sonst in der europäi-
Strophe und Antistrophe von Pindars Sieges- schen Tradition nicht nachzuweisen ist. Zu-
liedern sind die beiden ersten Strophen jeder dem wird er in der letzten Strophe in das Bild
Triade annähernd gleichlang gestaltet. Hinge- des Wagenrennens integriert und so aufs ge-
gen ist die Epode, also die dritte Strophe der naueste der dichterischen Eigenart Pindars zu-
Triade, schon durch ihre Länge deutlich von geschrieben, wenn G. den durch den Wett-
den beiden vorhergehenden unterschieden. In kampf aufgewirbelten Staub mit einem Kiesel-
der zweiten und dritten Triade ist sie zudem wetter, das heißt, einem Hagel- und Regen-
im Manuskript durch einen Querstrich von sturm vergleicht, der sich »vom Gebürg
Strophe und Antistrophe abgesetzt (nach V. 38 herab / [ ... ] in's Tal«wälzt (Y. 107f.). Was hier
bzw. V. 70). Aber auch inhaltlich trägt sie je- als punktueller Vergleich eingesetzt ist, be-
weils den Hauptakzent. So wird in ihr in der stimmt in Mahomets Gesang, der Hymne, die
letzten Triade das Pindarische Bild des Wagen- in der Ersten Weimarer Gedichtsammlung der
rennens und der Name des thebanischen Dich- Pindar-Ode unmittelbar vorausgeht, als Cha-
ters selbst zum Identifikationskern des eige- rakterisierung des genialen Ausnahmemen-
nen Verständnisses vom Dichterturn. In der schen durchgehend die metaphorische Grund-
vorletzten Triade ruft der Dichter in ihr Ju- schicht des Gedichts.
piter Pluvius als Schutzgottheit des Oden- Die poetologische Ode des Horaz betont in
Dichters an. In der zweiten tritt »der kleine ihrer ersten Strophe paradoxerweise die Un-
schwarze feurige Bauer« als irdische Gegen- möglichkeit pindarisierender Dichtung, in-
figur zu dem von enthusiastischem Feuer ge- dem sie den zu hoch hinausstrebenden Dichter
tragenen Autor auf. Selbst in der ersten Triade durch das Beispiel von Höhenflug und Absturz
läßt sich, wenn man die durch einen größeren des Ikarus vor allzu großem Ehrgeiz warnt. In
Zeilenabstand nach Vers 22 geteilten Verse 18 seinen Fragmenten Ueber die neuere Deutsche
bis 27 als Einheit liest, eine solche die vorher- Litteratur hat Herder diese Skepsis aktuali-
gehenden Strophen an Gewicht übertreffende siert, indem er die Möglichkeit hoher Oden-
Epode erkennen. dichtung in der Modeme grundsätzlich an-
Die Tradition der pindarischen Ode ist in zweifelt: »Dithyramben, nach dem Griechi-
der europäischen Literatur durch einen Autor schen Geschmack nachgeahmt, bleiben für uns
vermittelt, dessen Kenntnis G. in seinem Brief fremde. Das trunkne Sinnliche [ ... ] wäre viel-
an Herder ebenfalls erkennen läßt. In seinem leicht für unsre feine und artige Welt ein Aer-
beriihmten Carmen Pindarum quisquis studet gerniß; das Rasende in ihnen wäre uns aller-
aemulari (Iv, 2) hat Horaz den bewunderten dings dunkel, verworren und oft unsinnig«
Vorgänger in einer Weise charakterisiert, die (HSW 1, S. 315). Gegen dieses historische Ver-
ihren Nachklang in Wandrers Sturmliedfindet: dikt opponiert der junge G. Er schreibt ein
»Vom Gebirge herabstürzend wie ein Strom, Gedicht, das in seiner Ungebundenheit noch
den der Regen über seine gewohnten Ufer hat über die von der ästhetischen Theorie der Zeit
anschwellen lassen, so stürmt und braust der akzeptierte »Regellosigkeit« der pindarisie-
unübertreffliche Pindar mit volltönendem renden Ode hinausgeht. Darin mag auch die
Munde. / / Den Lorbeer Apollos verdienend, Nachlässigkeit begriindet sein, mit der er das
wälzt er neugefundene Worte durch kühne Di- traditionelle triadische Schema handhabt, so
thyramben hin und wird mit aufgelösten Me- daß er die erste »Triade« trotz ihrer deutlich
tren übers Maß hinausgetragen. / / Götter be- erkennbaren »inneren Form« in der Rein-
singt er, Könige und der Götter Nachkom- schrift und in der Druckfassung in vier Stro-
men«. Diese Verse, die von der durchgehenden phen aufteilt. Wie er mit dem Gätz das von
Metapher des durch Regen angeschwollenen Herder hoch gesteckte Ziel des Shakespeare-
Bergstroms geprägt sind, bestimmen offen- sehen Dramas zu übertreffen sucht, so mit
sichtlich G.s Vorstellung vom Ursprung seiner Tffindrers Sturmlied das der Pindarischen Ode,
Wandrers Sturmlied 91

indem er sie zum Ausdruck der genialen Dich- Ihr trochäisches Metrum, das den Marsch un-
ter-Subjektivität umfunktioniert. terstützt, wird auch in den übrigen Triaden nur
sporadisch durch daktylisch angelegte Verse
Im autobiographischen Rückblick, den G. im unterbrochen ~ bezeichnenderweise zum er-
Zwölften Buch von Dichtung und Wahrheit sten Mal in den Versen 28 und 29, die dem
seinen von Frankfurt aus unterhaltenen Bezie- Anruf der als leichtfüßige Tänzerinnen imagi-
hungen zum Darmstädter Hof und dem Kreis nierten Musen und Charitinnen gilt.
der Empfindsamen um die Landgräfin Caro- Einen Höhepunkt der Häufung betonter Sil-
line von Hessen-Darmstadt widmet, erzählt er ben stellt die letzte Strophe mit dem Pindari-
von den Fußwanderungen, die er in den Jah- schen Gleichnis vom Wagenrennen dar. In ihr
ren 1772 bis 1774 zwischen Homburg und stoßen in den Kurzzeilen (V. 103 u. V. 110) zwei
Darmstadt unternommen habe: »Man pflegte stark betonte Silben unmittelbar aufeinander,
mich daher den Vertrauten zu nennen, auch, während sich in Vers 109: »Glühte deine Seel
wegen meines Umherschweifens in der Ge- Gefahren Pindar!«, in dem die Aussage der
gend, den Wandrer. [ ... ] Unterwegs sang ich Ode wie in einem Brennpunkt gebündelt ist,
mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wo- das trochäische Grundmetrum des Marsches
von noch eine, unter dem Titel Wanderers noch einmal rein durchsetzt, um am Ende, als
Sturmlied, übrig ist« (FA I, 14, S.567). G.s der Wanderer seiner Hütte zustrebt, durch
Wanderungen, ein damals durchaus unge- schwergewichtige Daktylen abgelöst zu wer-
wöhnliches Unternehmen für einen jungen den: »Dort auf dem Hügel/Himmlische
Mann seines Standes, waren ein zweckfreies, Macht / Nur so viel Glut / Dort meine Hütte /
schöngeistigen Interessen geschuldetes Dort hin zu waten!« (V. 112~116). Schon in die-
Durchstreifen der Landschaft, mit dem der ser metrischen Wiederaufnahme der Musen-
junge Dichter seine Durchsetzungskraft und anrufung deutet sich an, daß der Schluß kei-
seinen Freiheitsdrang auf die Probe stellte. neswegs, wie von den neueren Interpreten
Zugleich aber, darauf weist Arthur Henkel zu- durchgehend behauptet, als »Scheitern« oder
recht hin, verwandelte er sich die aus stoischer Resignation zu lesen ist (Kaiser, S. 149).
und christlicher Tradition stammende »Figur Die metrische Eigenart der freirhythmi-
des Lebenswanderers« literarisch an und schuf schen Ode weist jedoch in ihrer Bedeutung
sie »zum universalen Sinnbild für geniales, weit über diesen mimetischen Aspekt hinaus.
produktives Unterwegssein« um (S. 20). In der Beziehung des Metrums auf die Bewe-
Kulturelles Gedächtnis und eigenes unmit- gung des Gehenden und Sprechenden kommt
telbares Erleben fließen so in der Figur des zum Ausdruck, daß hier die Gültigkeit der
Wanderers zu einem neuen Selbstverständnis Natur nicht mehr objektiv gegeben ist, das
des Autors zusammen, das sich auch unmittel- Unwetter nicht mehr als solches geschildert
bar in der sinnlichen Gestalt der Verse manife- werden soll, sondern daß sie nur in den Ge-
stiert. Ist doch der Rhythmus des gegen den genkräften sich manifestiert, die dieses im In-
Sturm Angehens, in dem sich der Einzelne dividuum hervorruft. Für diese kopernikani-
gegen die Übermacht des Unwetters behaup- sche Wende, die für die gesamte Lyrik der
tet, in die keinem festen Schema folgenden, Neuzeit wegweisend ist, steht das Metrum ein,
expressiv dem Vorwärts schreiten angepaßten das nicht das Gewitter lautmalerisch nach-
Verse seines Gedichts eingegangen. Insbeson- ahmt, sondern sich der Bewegung des gegen
dere in der ersten Triade wird in der mit leich- den Regensturm Angehenden anpaßt.
ten Varianten fünfmal insistierend wiederhol- Der insistierende Einsatz des Gedichts ver-
ten Anfangszeile »Wen du nicht verlässest dankt sich jedoch nicht allein der unwillkürli-
Genius« die Anstrengung des im Gewitter- chen Angleichung an den Rhythmus der
sturm Wandernden, die im folgenden die mo- Schritte. Er ist zugleich Reminiszenz an eines
tivische Grundschicht des ganzen Gedichts der frühesten antikisierenden Gedichte deut-
bildet, unmittelbar sinnlich vergegenwärtigt. scher Sprache, an Friedrich Gottlieb Klop-
92 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

stocks Der Lehrling der Griechen aus dem Stelle gesetzt hat, die in Klopstocks Gedicht
Jahre 1748, das mit den Zeilen beginnt: »Wen der biblische >,Jehova« einnimmt.
des Genius Blick, als er gebohren ward, / Mit
einweihendem Lächlen sah« und das selbst Schon der Beginn des Gedichts läßt erkennen
wiederum eine Ode des Horaz (Carm. 4,5) - und die neuere Forschung hat dies mit vielen
nachbildet, die mit einem ähnlich formulier- Details herausgearbeitet -, daß das Sturmlied
ten Musenanruf einsetzt. Dieser markierte Be- entgegen seiner eigenen Programmatik in ei-
ginn deutet darauf hin, daß G. mit seiner Pin- ner langen »gelehrten Tradition« steht
dar-Ode auch die Überbietung Klopstocks in- (Schmidt 1985b, S.249 u.ö.; Henkel, S.28 u.
tendiert, der im Kreis der Darmstädter Emp- S.50), die dem heutigen Leser kommentie-
findsamen als Mittelpunkt des literarischen rend erschlossen werden muß. Darüber hinaus
Lebens und als Dichterfürst verehrt wurde. bezieht sich G. auf apokryphe oder esoterische
1771 hatte die Landgräfin seine bis dahin ver- Überlieferungen, die auch dem zeitgenössi-
streut publizierten Gedichte in einem Privat- schen Leser nicht ohne weiteres einsichtig wa-
druck sammeln lassen, den die von Klopstock ren. Vor allem aber wertet er den überkomme-
im selben Jahr unter dem neuen Titel Die nen Mythos um und macht ihn so zum Medium
Frühlingifeyerpublizierte Ode Das Landleben seiner neuen Auffassung vom schöpferischen
eröffnet. In ihr wird die Offenbarung Gottes Menschen.
im Kosmos und das Kommen Jehovas im Ge- Programmatisch hierfür schon der Beginn
witter gefeiert. Klopstocks Ode ist in ihren der Ode mit der fünffach variierten Apostro-
freien Rhythmen immer noch imitatio naturae, phe des »Genius«, die an die Stelle der in der
Evokation des Blitzes: »Und der gesplitterte antiken Dichtung üblichen Anrufung der Mu-
Wald dampft!«, oder des Regens: »Ach schon sen getreten ist. In den Briefen, die zeitlich der
rauschet, schon rauschet / Himmel, und Erde Abfassung des Sturm lieds unmittelbar voraus-
vom gnädigen Regen!« (S. 6). Diese Verse ha- gehen, beschwört G. im Zusammenhang sei-
ben den jungen G. tief beeindruckt, wie ihr ner dichterischen Arbeit mehrfach seinen
Zitat in einer zentralen Episode von Die Lei- »Genius«, so am 28. 11. 1771 an Johann Daniel
den des jungen Werthers erkennen läßt. In Salzmann mit Bezug auf die Ausarbeitung des
Wi:mdrers Sturmlied bezieht er sich kontrafak- Gölz: »Mein ganzer Genius liegt auf einem
tisch auf sie. Aus dem Regen, der die Erde Unternehmen worüber Homer und Schäke-
befruchtet, wird mit »Jupiter Pluvius« der Ur- spear und alles vergessen worden«. Schon hier
sprung der dicherischen Produktivkraft. ist die von Johann Georg Hamann in seinen
Wenn G. in Dichtung und Wahrheit behaup- Sokratischen Denkwürdigkeiten durch die
tet, er habe seine Ode auf dem Weg nach Gleichsetzung mit dem sokratischen Daimo-
Darmstadt vor sich hin gesungen, »da mich ein ni on vorbereitete und von G. in diesem Zu-
schreckliches Wetter unterweges traf, dem ich sammenhang rezipierte Umwertung der anti-
entgegengehen mußte« (FA 1,14, S. 567), dann ken Bezeichnung für den persönlichen Schutz-
bedeutet das auch, daß er als der »Wandrer« gott vollzogen (an Herder, Anfang 1772). Der
sein »Sturmlied« dem religös gebundenen Genius ist zur Verkörperung des individuellen
Sturmlied der Frühlingifeyer entgegensingt. schöpferischen Prinzips geworden, das G. in
Dabei ersetzt er die Anrufung des christlichen dem zitierten Brief an Salzmann mit den Wor-
Gottes durch die Apostrophe des »Genius«, ten: »alle Stärke die ich in mir selbst fühle«
der Musen und der antiken Götter. Wie schon beschreibt.
die metrische Gestaltung seiner Hymne erken- Anruf und Aufruf der eigenen Schöpferkraft,
nen läßt, geht es ihm nicht mehr um das Natur- damit setzt die erste Strophe des Sturmlieds
phänomen Frühlingsgewitter und die All- programmatisch ein, und damit endet sie im
macht des transzendenten Schöpfergottes, die Bild der Lerche, die dem Unwetter »entgegen«
sich in ihm manifestiert, sondern um die singt und die selber wieder von dem sich sei-
Schöpferkraft des Menschen, der sich an die nes Genius vergewissernden Sprecher apo-
Wandrers Stunnlied 93

strophiert wird: »Du dadroben« (Y. 9). Es wäre rung seinen eigenen privaten Mythos vom
ein groteskes Mißverständnis der Sprechweise schöpferischen Individuum.
der Ode, wollte man sich fragen, ob eine Ler- Die Berufung auf den über dem »flut-
che in Wirklichkeit »der Regenwolk« und dem schlamm« wandelnden Apollo in der Antistro-
»Schloßensturm«, also dem Hagelsturm, ent- phe der ersten Triade wird in der Antistrophe
gegensingt (so Henkel, S. 23). Wie die Apo- der zweiten durch die Evokation des über den
strophe unterstreicht, ist das Bild der Lerche Wassern schwebenden Geistes Gottes ersetzt,
poetologisch gemeint. Sie ist die Sängerin des bevor dann an derselben Stelle der dritten
»hohen Tons«, womit die Ode von vornherein Triade Apollo als dem Anspruch des genialen
auf den ihr zugehörigen Bereich des Erhabe- Dichters nicht genügend verworfen wird. Je
nen verweist. So ist auch der im zweiten Vers stringenter der innere Aufbau der aufeinander
genannte »Regen« nicht nur Teil des Unwet- folgenden Triaden miteinander korrespon-
ters, der äußeren Natur, die den Wanderer be- diert, um so deutlicher erweist sich, daß die
droht, sondern zugleich, wie die spätere An- Bilder, die der Sprechende evoziert, keinen
rede an »Jupiter Pluvius« (Y. 75) erkennen substantiellen Gehalt mehr besitzen, sondern
läßt, Bild des strömenden Ursprungs des Ge- als Tropen sich ineinander verwandeln, wäh-
sangs. Auch diese Verwandlung des Wassers rend der Wanderer fortschreitet, im Gehen
vom Ursprung allen Lebens zur Quelle des spricht.
Gesangs ist schon in Pindars Sieges liedern Die Epode (Str. 3 u. 4) wendet sich im Ge-
vorgebildet. Dessen Erste Olympische Ode gensatz zu den hochfliegenden Ambitionen
setzt mit den großartigen Worten ein: »Wasser der ersten Strophen dem alltäglichen Leben zu
ist das beste«, um dieses Beste mit dem »klän- und behauptet auch hier die positive Wirkung
gereichen Hymnos« gleichzusetzen. des dichterischen »Genius«. Aus den »Feuer-
Die zweite Strophe setzt neben das Bild des flügeln« der Phantasie sind jetzt die »wollnen
Wassers das hergebrachte des Feuers als Meta- Flügel« (Y. 19) und die }>Hüterfittige« (Y. 21)
pher der göttlichen Inspiration des Dichters. geworden, mit denen er den Menschen in der
Nicht der Aufbau eines harmonischen Bild- Nacht behütet und im »Schneegestöber« (Y. 24)
felds, sondern spannungsreiche Polarität er- erwärmt. Diese Wendung von der absoluten
weist sich damit als das Strukturprizip des Schöpferkraft zur Bewahrung des kreatürli-
Textes, der - wenn man auch den in Vers zwei chen Lebens wiederholt sich mit der Evo-
und sechs genannten »Sturm« in diesen Zu- kation des Bauern in der Epode der zwei-
sammenhang miteinbezieht - drei elementare ten Triade. Selbst in der Epode der dritten
Naturerscheinungen mit der dichterischen Triade wird dieses Motiv mit den Zeilen: »Der
Imagination gleichsetzt. Im folgenden wird du mich fassend deckst / Jupiter Pluvius«
mit »Deukalions flutschlamm« der griechische (Y. 82f.) wieder aufgenommen, um endlich
Zeugungsmythos zitiert, nach dem aus Steinen in den Schlußzeilen der Ode mit der Bitte:
die ersten Menschen erstanden, ein Verweis »Nur so viel Glut / Dort meine Hütte / Dort hin
auf die menschenbildnerische Kraft des Dich- zu waten!« (Y. 114-116) an ihr Ziel zu kom-
ters, wie er in anderer Form für die Prome- men.
theus-Hymne kennzeichnend ist. In den letz- Die zweite Triade steht im Zeichen der »Mu-
ten Versen schließlich wird Apollo als Töter sen« und »Charitinnen«. Dies die leicht ver-
der Urschlange Python beschworen, mit dem ballhornte Form der bei Pindar auftretenden
sich der Sprechende identifiziert, um damit »Chariten«, der Grazien. Sie werden dem Ge-
den anfangs evozierten elementaren Natur- nius nachgestellt, sind von ihm abhängig. Am
phänomenen das männliche, das geistige Prin- Ende der ersten Triade heißt es: »Nach der
zip entgegenzusetzen, für das der Sieg des Wärme ziehen sich Musen / Nach der Wärme
Sonnengottes über das Urtier der Erde ein- Charitinnen« (Y. 26f.). Nicht mehr ruft der
steht. So konstruiert der Sprecher aus den wi- Dichter die Musen um Beistand an, wie bei
dersprüchlichsten Fragmenten der Überliefe- Homer, Hesiod und Pindar üblich, sondern es
94 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

ist die Wärme des genialen Subjekts, die sie Anstelle des Geistes Gottes, wie das Erste Ka-
anzieht und damit zur Erscheinung bringt pitel der Genesis berichtet, schwebt der ge-
(Schmidt 1985b, S.228). Allerdings ist ihr niale Dichter »über Wasser über Erde«. Nun ist
Auftreten an dieser Stelle genau kalkuliert. G. er es, der Wasser und Erde scheidet und da-
verbindet die einzelnen Triaden dadurch mit- durch dem Kosmos seine Ordnung gibt. Diese
einander, daß er in der Epode der vorherge- Einsetzung des neuzeitlichen Subjekts anstelle
henden schon ein zentrales Motiv der folgen- des jüdisch-christlichen Schöpfergottes trägt
den auftreten läßt, so hier Musen und Chari- durchaus blasphemische Züge (so auch Hen-
tinnen, so in der zweiten den »Vater Bromius« kel, S.24), die durch die Berufung auf die
(V. 42). antike Elementenlehre und den Deukalionmy-
Die Anrufung der Musen und damit die Be- thos nur mühsam verdeckt werden. G. war sich
rufung auf die antike Dichtungstradition be- dieser Tatsache bewußt, weshalb er den Text in
herrscht nicht zufällig den Teil der Ode, in Dichtung und Wahrheit als »Halbunsinn« dis-
dem die Schöpferkraft des Dichters auf die kreditiert und ihn erst vierzig Jahre nach sei-
elementare Natur bezogen wird. Zu den schon ner Entstehung, versteckt zwischen den schon
zuvor genannten Feuer, Wasser und Luft tritt längst bekannten Hymnen seiner Sturm und
in der zweiten Triade als weiteres Element die Drang-Zeit, publiziert hat.
Erde, womit die griechische Lehre von den Die Epode der zweiten Triade hat in der
vier Elementen, aus denen sich der Kosmos Forschungsliteratur Anlaß zu mancherlei Spe-
zusammensetzt, erneuert wird. In ihrer Rein- kulationen gegeben. In einem charakteristi-
heit werden sie genannt: »Das ist Wasser, das schen »saltus dithyrambicus« wendet sich die
ist Erde« (V. 30), um in der nächsten Zeile: Ode aus dem höchsten Aufschwung dem irdi-
»Und der Sohn des Wassers und der Erde« schen Alltag zu und spricht von dem »schwar-
(V. 31) vermischt zu werden, wodurch der zen feurigen Bauer« (V. 40). Er ist das erdnahe
Schöpfungsmythos von »Deukalions flut- Gegenbild zu dem gottgleich schwebenden ge-
schlamm« aus der ersten Triade und damit die nialen Dichter. Allerdings wäre es völlig ver-
Erschaffung des Menschen in Erinnerung ge- fehlt, ihn - wie Arthur Henkel (S. 32ff.) - mit
rufen wird. In den Formulierungen »Herz der dem Schweizer Klyjogg oder - wie Klaus Wei-
Wasser« (V. 34) und »Mark der Erde« (V. 35), mar (S. 76ff.) - mit G.s Straßburger Bekann-
mit denen G., wie RolfChristian Zimmermann ten Franz Lerse identifizieren zu wollen. Sol-
nachgewiesen hat (S. 113), Formulierungen che Zuschreibungen haben sich noch immer
»der zeitgenössischen Naturmystik« auf- nicht von der Vorstellung gelöst, das Sturmlied
nimmt, öffnet sich die nächste Strophe der sei Erlebnislyrik und deshalb auf lebensge-
esoterischen Tradition, in der die antike Ele- schichtlich nachweisbare Ereignisse und Be-
mentenlehre aufs 18. Jh. gekommen ist. gegnungen zurückzuführen. Statt dessen ist
In diesem Kontext tritt das sprechende Sub- festzuhalten, daß in den charakterisierenden
jekt zum ersten Mal als »ich« auf. »Über den Adjektiven »schwarz« und »feurig« die Ele-
ich wandle / Göttergleich«, heißt es am Ende mente der vorhergehenden Strophe wieder
der fünften Strophe (V. 32f.), und noch einmal auftreten, an die des weiteren mit den »Ga-
am Ende der sechsten: >>und ich schwebe / ben« des >,vater Bromius« (V. 42), das heißt,
Über Wasser über Erde / Göttergleich« dem Wein als Mischung von Feuer und Erde,
(V. 36-38). Die Insistenz, die in der variieren- und dem »umwärmend Feuer« des Herdes
den Wiederholung liegt, macht deutlich, daß (V. 43) erinnert wird. In der irdischen Sphäre
damit der Text an seinem innersten Bedeu- sind sie jedoch Teil der Lebenswelt, haben
tungskern angelangt ist: Das schöpferische ihre Reinheit eingebüßt, wie auch der Bauer
Ich, der Autor ist es, der Welt und Menschen bewußtlos in diese elementare Welt eingebun-
erschafft. Dieser ungeheure Anspruch wird den ist, während der Dichter über ihr schwebt.
hier erhoben und durch die Kontrafaktur des Es geht in dieser Strophe also um den Kontrast
biblischen Schöpfungsberichts unterstrichen. der beiden Welten, der dichterischen und der
Wandrers Stunnlied 95

alltäglichen, und um ihren geheimen Zusam- sich gefallenden Säculums, dem Herder die
menhang, der erst am Ende der Ode offen Kraft zur Nachfolge Pindars nicht zutraut. Des-
ausgesprochen wird. So gesehen, fungiert die halb setzt er an das Ende seiner Abhandlung
zweite Epode als Achse und Wendepunkt des über »Pindar und der Dithyrambist« eine sati-
Gedichts. Angesichts der Wärme, die die Welt rische Ode, mit der er die Schwäche der Dich-
des Bauern charakterisiert, wird dem Dichter ter seiner Zeit entlarven will: »Dithyramben
sein eigener Lebensentwurf problematisch, soll ich singen, / hier bei deutschem Wein? /
weshalb die Triade mit Worten endet, die seine Nein! hier soll kein Griechisch Lied erklin-
skeptische Selbstbefragung formulieren: »Und gen, / Deutscher Vater Bachchus! Nein!«
ich [ ... ] / Soll mutlos kehren?« (V. 45-51). (HSW 1, S.528). Ein solcher deutscher Bac-
In der dritten Triade wendet er sich ange- chus ist auch G.s >>Vater Bromius«. Auf ihn
sichts dieses Dilemmas den antiken Göttern kann sich der geniale Dichter ebensowenig
zu, an erster Stelle dem schon zuvor genannten berufen wie auf den Sonnengott Apollo, der
»Vater Bromius« (V. 52). G. wählt diesen selte- mit deutlichen Anleihen an das Vokubular der
nen Beinamen des Bacchus, den er in Ovids Adelskritik der Aufklärung als Schutzgott der
Metamorphosen gefunden haben mag, um in Herrschenden charakterisiert ist, wenn von
ihm die Nähe des Weins zum Feuer zum Aus- ihm gesagt wird: »Kalt wird sonst / Sein Für-
druck zu bringen. Weist doch »Bromius«, »der stenblick / Über dich vorübergleiten«
Tönende«, wie Benjamin Hederich in seinem (V. 64-66). So ermahnt der Sprecher sich
mythologischen Lexikon zu berichten weiß, selbst, diesem Fürstengott »entgegenzuglü-
auf die Geburt des Dionysos im Blitzstrahl des hen« (V. 62), also die eigene innere Kraft gegen
Zeus hin (S. 505), was Herder in seinen Frag- die Hoheit Apollos aufzubieten. Sonst werde
menten auf den Dithyrambendichter über- dessen Blick voller Neid »auf der Zeder Grün
trägt, der nach ihm »den Vater des Weins, von verweilen« (V. 68), weil sie zu »grünen« seiner
seinem Blitzstrale getroffen, mit brausendem nicht bedarf (V. 69 f.). Die Zeder steht schon in
Munde sang« (HSW 1, S. 511). So wird Bac- den Psalmen als Emblem unbändiger Kraft und
chus schon in seinem Namen auf den Gewit- ewigen Lebens. Ihr soll sich - das wollen diese
tergott Jupiter bezogen, in dessen Apostrophe dunklen Zeilen andeuten - der Autor gleich-
die dritte Triade gipfelt. Wie auch der in der stellen, um sich ebenso wie sie vom äußeren
nächsten Strophe im Zentrum stehende Son- Licht der Sonne - und das heißt auch von der
nengott Apollo den Beinamen »Phöb[ us ]«, der Gunst der Fürsten - unabhängig zu machen.
»Strahlende«, erhält (V. 58 u. V. 65). Die Göt- Nachdem der Sprecher so die beiden tradi-
tertrias der Ode ist also insgeheim durch das tionellerweise mit der Dichtung verbundenen
Motiv des Feuers und der Wärme verbunden, Götter zurückgewiesen hat, wendet er sich in
das traditionellerweise als charakteristisches der Epode an den Göttervater Jupiter. Auch er
Merkmal des Odendichters gilt, woran das wird durch einen eher seltenen Beinamen ge-
Stunnliedmit den Worten erinnert: »was innre kennzeichnet. Als »Pluvius« ist er der Regen-
Glut / Pindarn war« (V. 55f.), und das als »in- und Wettergott, der der Erde die Fruchtbarkeit
nre Wärme / Seelen Wärme« (V. 59f.) dem ge- bringt, wie bei den römischen Elegikern zu
nialen Subjekt als »Mittelpunkt« (V. 61) zuge- lesen war (etwa Tibull 1,7, V. 28ff.). G. deutet
schrieben wird. jedoch die Zuordnungen des poetischen Göt-
Als Personae der einen großen Natur sind terhimmels radikal um, wenn er diesen Natur-
die Götter einander ähnlich, andererseits aber gott, dem in der antiken Mythologie das
werden sie streng voneinander geschieden. Va- Wachstum der Pflanzen zugeschrieben wurde,
ter Bromius wird als >,Jahrhunderts Genius« zum obersten Schutzgott der Dichtung, zur
(V. 54) angesprochen und damit ganz im Sinne Ausdrucksgestalt seines ästhetischen Pro-
von Herders Fragmenten Ueber die neuere gramms macht. In den an ihn gerichteten Zei-
Deutsche Litteratur abgewertet. Er ist der len: »Warum nennt mein Lied dich zuletzt /
Schutzgeist jenes in Trink- und Liebesliedern Dich von dem es begann, / Dich in dem es
96 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

endet! Dich aus dem es quillt« cv. 71-74) re- nen, daß mit ihnen zugleich zeitgenössische
flektiert die Ode sich selbst. Vom Regen ist sie Dichtungsgattungen gemeint sind. Anakreon
ausgegangen cv. 2), im Unwetter endet sie mit wird »tändelnd« genannt, eines der Signalwör-
der letzten Strophe. Zugleich aber spricht sie ter der anakreontischen Dichtung, das G.
poetologisch die Fruchtbarkeit spendende selbst noch in seinem frühen Gedicht Zu einem
Kraft der Natur als den Ursprung aller Dich- gemalten Band in signifikanter Weise verwen-
tung an. Die Götter sind hier also, wie Herder det (FA I, 1, S. 225f.). Theokrit heißt »bienen-
mit Berufung auf die Griechen gefordert hatte, singend« und »honiglallend« cv. 97f.), womit
»personificirte Natur« (HSW 1, S.443), aber die allzu große Süße der modernen Idyllen-
diese erscheint transfonniert. Sie wird, wie dichter in ähnlicher Weise herausgestellt wer-
schon die Analyse der metrischen Struktur des den soll, wie dies Herder in seinem Vergleich
Gedichts gezeigt hatte, in eins gesehen mit der zwischen »Theokrit und Geßner« tut: »Die Sü-
inneren Natur des Dichters, mit seinem schöp- ßigkeit des Griechen ist noch ein klarer Trank
ferischen Vennögen. Dieser einen großen Pro- aus dem pierischen Quell der Musen; der
duktivkraft gegenüber, für die hier Jupiter Plu- Trank des Deutschen ist verzuckert« (HSW 1,
vius einsteht, muß die herkömmliche Dich- S. 347). Überhaupt sind es derartige »Paralle-
tung als nebensächlich und flach erscheinen, len«, wie sie das 18. Jh. liebte, die es G. er-
weshalb der dem Apollo heilige »Castalische möglichen, in der Gestalt der antiken Dichter
Quell« cv. 77), der in der antiken Mythologie die eigenen Zeitgenossen zu kritisieren. Unter
als Ursprung der Dichtung galt, zum »Neben- dem Titel Von der Griechischen Litteratur in
bach« cv. 78) abgewertet wird. Deutschland hatte Herder in der zweiten
Den drei Göttern der dritten entsprechen Sammlung seiner Fragmente nicht nur Pindar
die drei Dichter der letzten Triade. Dieser auf- und den »Dithyrambisten« verglichen, woraus
fällige Parallelismus ist lange Zeit nicht wahr- G. ein Gutteil seiner Vorstellungen über die
genommen worden (vgl. Schmidt 1985b, pindarische Ode bezogen hatte, sondern auch
S. 233). Dennoch ist er für das Verständnis des »Anakreon und Gleim«, wobei er »die Liebes-
Schlußteils der Ode grundlegend. In dem drei- und Weinlieder des Leßings, Weiße, Uz, Hage-
gliedrigen Schema wird der Lyriker Anakreon dorns und selbst einige Gleimische als eine
mit den charakteristischen Topoi seiner Dich- besondere Classe Anakreontische Gedichte«
tung auf diese Weise dem »Vater Bromius«, definierte (HSW 1, S. 330). In der schon zitier-
dem dichterischen Genius des Jahrhunderts, ten Parallele zwischen »Theokrit und Geßner«
zugeordnet. Der»Ulmenbaum« cv. 84), an dem wertet er die moderne Idylle der Franzosen -
sich nach antiker Mythologie die Weinreben Fontenelle ist hier sein Beispiel - als Ausdruck
emporranken, gehört der Sphäre des Ana- »politischer Lebensart« ab. In ihnen herrsch-
kreon ebenso an wie das »Taubenpaar« cv.
86), ten »Gewohnheiten und Umgang und Artigkeit
das auf ihn als Dichter von Liebesliedern ver- und Hofrnanieren« vor (ebd., S. 345), was noch
weist, oder die »freundliche Ros« cv.
88), At- einmal die Nähe theokritischer Idyllen zum
tribute, die auch dem Bacchus zugeschrieben Bereich des Hofes bestätigt.
werden. In ähnlicher Weise ist von Theokrit Anakreontika wie Idyllendichtung werden
die Rede, dem Dichter bukolischer Idyllen, demnach von dem Sprecher abgelehnt. Denn
deren »schwelgerische Spielart« - »an des Si- beiden Dichtungswelten ist gemeinsam, daß
baris Strand« cv.93) - ebenso durch topologi- sich ihnen Jupiter, die »stunnatmende Gott-
sche Details seiner Landschaften charakteri- heit« cv.91), verweigert. Er ist der Gott Pin-
siert wird wie ihre »heroische« - »an des Ge- dars und seiner agonalen Welt, die in der letz-
bürges! Sonnenbeglänzter Stirn« cv.
94), wo- ten Strophe im Bild des Wagenrennens evo-
mit zugleich ein Verweis auf die Fürstenwelt ziert wird. Die von den Siegesliedern des The-
des Apollo gegeben ist (Henkel, S. 39). baners inspirierte Szene bedient sich in dem
Die Adjektive, mit denen die beiden antiken eingelegten Vergleich der Horazischen Meta-
Dichter charakterisiert werden, lassen erken- pher des vom Berg herabstürzenden Stroms
Wandrers Stunnlied 97

und gipfelt in einem Satz, der sich in auf- transzendente Macht und ihrem Gegründet-
fälliger Weise der »harten Fügung« Pindars sein im Irdischen. Jeder auf seine Weise ist
bedient, indem er das dem zentralen Motiv- Beförderer der produktiven Kräfte der Natur
feld der »inneren Wärme« zuzurechnende, in- und schafft damit dem Menschen auf der Erde
transitive Verb »glühen« mit zwei Objekten eine Heimat. Dafür steht am Ende der poeti-
konstruiert: »Glühte deine See I [Norn.] Ge- schen Wanderung das Bild der Hütte »dort auf
fahren [Dativ] Pindar! IMut! [Akk.; Zusätzev. dem Hügel« ein.
Vf.]« (V. 109f.).
Nach diesem Höhenflug, der durch die Wie- Im Sturm lied gestaltet G. das neue Menschen-
derholung des »Glühte?« mit Fragezeichen ein bild des auf die natürlichen Produktivkräfte
erstes Mal problematisiert wird, erfolgt in den vertrauenden, genialen Subjekts bis in seine
Schlußzeilen wiederum - wie schon in der extremen Konsequenzen hinein. Noch 40
ersten und zweiten Epode - der Abschwung in Jahre später hat er die Radikalität dieses Tex-
die irdische Alltagswelt. Der Wanderer erfleht tes im Zwölften Buch von Dichtung und Wahr-
von der »Himmlischen Macht I Nur so viel heit dadurch zu verschleiern versucht, daß er
Glut I Dort meine Hütte I Dort hin zu waten!« ihn als unverständlich hinstellte: »Ich sang
(V. 112-116). Dieser Ausklang der Hymne wird diesen Halbunsinn leidenschaftlich vor mich
allgemein als »ein Scheitern« (Kaiser, S. 149) hin«, heißt es im autobiographischen Rück-
oder gar als »Widerruf« (Weimar, S.86) ge- blick, »da mich ein schreckliches Wetter unter-
deutet, und seitdem Elizabeth Wilkinson und weges traf, dem ich entgegen gehn mußte«
Leonard Willoughby in ihrer Analyse, die (FA I, 14, S.567). Aufgrund dieses Verdikts
Erich Trunz in seinem Kommentar in einem seines Autors hat das schwierige Gedicht lange
längeren Exzerpt abdruckt (S.432f.), seine Zeit im Schatten des Interesses der Leser und
»humorous implications« entdeckt haben, gibt der Forschung gestanden. Als Beispiel für das
es kaum noch eine deutschsprachige Interpre- Unverständnis der älteren Forschung kann
tation, die nicht auch »einen Oberton von Ko- Hermann August Korffs schroffes Dekret gel-
mik« in ihm entdecken möchte (Henkel, ten, es gehe nicht an, »diesen Halbunsinn
S. 39). Demgegenüber hat schon Kaiser auf die durch gequält kunstvolle Interpretation
»biblische Grundschicht« der Metapher hinge- scheinbar vernünftig zu machen« (S. 114).
wiesen (S.140), ohne jedoch zu erwähnen, Ähnlich argumentiert Emil Staiger, für den es
daß bereits Klopstock in seiner Frühlingifeyer fraglich bleibt, »inwiefern das Ganze in sich
die Hütte zum Ort der irdischen Geborgenheit zusammenhängt und eines aus dem anderen
macht, die vor dem Blitz geschützt ist: »Unser folgt« (S. 68f.). Einem weiteren Mißverständ-
Vater gebot I Seinem Verderber I Vor unsrer nis ist die ältere Forschung ebenfalls im Ge-
Hütte vorüberzugehn!« (S.6). So kann die folge der G.schen Selbstaussage erlegen, wenn
Hütte bei G., wie sein Prometheus erkennen sie die Ode als unmittelbaren Ausdruck eines
läßt, zum Ort der Selbstbehauptung des aufbe- wirklichen Erlebnisses interpretierte, wofür
gehrenden Titanen werden, der dem verachte- Erich Trunz' Feststellung symptomatisch ist:
ten Göttervater Zeus entgegenschleudert : »Das Sturmlied zeichnet mit Echtheit auf, was
»Mußt mir meine Erde I Doch lassen stehn, I sich dem Dichter in einer bestimmten Lage auf
Und meine Hütte I Die du nicht gebaut« (FA I, die Lippen drängt« (S. 431).
1, S. 203). Hier ist das neue Menschenbild voll Mit Arthur Henkels ausführlichem >,ver-
entfaltet, das im Sturmlied in der geheimen such, das dunkle Gedicht des jungen Goethe
Solidarität zwischen dem einfachen, naturver- zu verstehen«, setzt die ernsthafte Auseinan-
bundenen Menschen und dem genialen Aus- dersetzung mit diesem Text ein. Ihm gelingt
nahmesubjekt dadurch zum Ausdruck kommt, es, viele der Motive aus der europäischen
daß beide in ihre irdische Behausung, die Dichtungstradition heraus zu erhellen und in
Hütte, zurückkehren. Bauer und Dichter glei- ihrem Zusammenhang zu begreifen, so daß
chen sich so in ihrer Frontstellung gegen eine der Text in seiner Sicht als »anspielungsreiche
98 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

und gelehrte Dichtung« erscheint (S. 50). Auf schein spontaner Kreativität, einer durch
diesem Weg ist Rolf Christian Zimmermann nichts eingeengten Hingabe an das Erlebnis
weitergegangen. Indem er G.s Quellen in der des Augenblicks. Es will offensichtlich nur die
hermetischen Literatur untersucht, erweist Aufzeichnung einer mündlichen Rede sein.
sich ihm in der »langen Gedankenarbeit« und Die vielfachen Apostrophen, die sprunghafte,
dem »plötzlichen Produktionsmoment« die assoziative Gedankenführung, das ungebun-
»Doppelpoligkeit des dichterischen Schaffens- dene, sich der körperlichen Aktivität des Spre-
vorgangs« (S.85). Zu Recht betont er daher chenden anpassende Metrum haben als eben-
den »literarischen Charakter« des Gedichts, soviele Merkmale einer prononcierten Oralität
der intensive Studien der antiken Tradition im Text zu gelten. Diesen durch den Text selbst
voraussetze (ebd., S. 84). hervorgerufenen Eindruck hat G. noch durch
An diese Ergebnisse knüpft die umfangrei- seine bewußte Rezeptionssteuerung verstärkt,
che Studie von Jochen Schmidt an, der eine als er behauptete, er habe das Gedicht auf
überwältigende Fülle antiker und neuzeitli- einer Wanderung »leidenschaftlich« vor sich
cher Bezüge nachweist und dem es zum ersten hingesungen.
Mal gelingt, die pindarische Konstruktion des Aber ebenso unübersehbar sind die Merk-
Ganzen herauszuarbeiten (Schmidt 1984 und male einer Konstituierung des Textes als
1985b). Gegenüber dieser historischen Sicht Schrift. Hierzu zählen nicht nur die zahlrei-
auf den Text erweist sich Gerhard Kaisers Fest- chen gelehrten Zitate, von denen die seltenen
stellung, das Gedicht sei ein Dokument Beinamen der Götter nur die auffälligsten
»rauschhafter dionysischer Entgrenzung« sind. Zu ihnen zählt auch die Bezugnahme auf
(S. 137), wiederum als eine Einengung. Kaiser zeitgenössische Texte, etwa auf Herders Frag-
interpretiert die Ode gänzlich aus der Sicht mente oder Klopstocks Oden, schließlich und
von Nietzsches Geburt der Tragädie aus dem vor allem aber die genaue Konstruktion des
Geiste der Musik: »Die tiefste Begegnung mit Textes in vier Triaden, deren Schema die zahl-
dem Gott ist Agon, Kampf, ja das Dionysische reichen inneren Entsprechungen der einzel-
und das Apollinische sind nur zwei Weisen des nen Strophen zum Vorschein bringt. Diese aus
einen Göttlichen« (S. 138). Diese Lesart mag der Tradition übernommene, mit höchstem li-
noch in etwa den inneren Zusammenhang al- terarischen Kunstverstand einer neuen Funk-
ler göttlichen Manifestationen treffen, die das tion zugeführte Form dient der Manifestation
Gedicht gestaltet. Wenn Kaiser jedoch ab- einer neuen Erscheinungsform des Autors und
schließend feststellt: »Die personale Mitte des damit der Neudefinition dessen, was neuzeit-
Ich, das Zentrum der schöpferischen Kräfte, liche Subjektivität ist, indem sie deren Ur-
ist der Gott, der Rausch, das Außersichsein« sprung sichtbar werden läßt. Einen Genius
(S. 146), verfehlt er die Spannung zwischen schreibt sich das Ich zu und damit eine un-
dichterischem Kalkül und enthusiastischem hintergehbare Individualität. Indem es die
Höhenflug, die G.s Pindar-Ode auszeichnet Stelle des biblischen Schöpfergottes ein-
und die vielleicht - ist doch das Wasser ihre nimmt, erwirbt es die Fähigkeit zur creatio ex
tragende Grundmetapher für die dichterische nihilo. Indem es den Fruchtbarkeitsgott Ju-
Kreativität - am ehesten mit dem schönen Höl- piter Pluvius zum Quell seiner dichterischen
derlinsehen Adjektiv als »heilignüchtern« zu Produktivität erwählt, stellt es sich in den Zu-
kennzeichnen wäre. sammenhang der allumfassenden Schöpfer-
kraft der Natur. Indem es schließlich Pindar
Die so gefaßte Polarität weist das Sturmlied als zum kanonischen Vorbild seines künstleri-
Schwellentext aus. Einerseits nimmt es die ge- schen Tuns stilisiert, macht es die »innere
samte gelehrte Tradition seit der griechischen Glut«, den eigenen indivuellen Antrieb zum
Antike in sich auf und ist damit das Produkt Urgrund seiner Kreativität.
einer lange eingeübten und fest etablierten Historisch gesehen, ist Wtmdrers Sturmlied
Schriftkultur. Andererseits gibt es sich den An- genau an jener Epochenschwelle situiert, die
Mahomets Gesang 99

die ältere, nur teilweise literalisierte Gesell- klärung bis zum Idealismus. Darmstadt 1985,
schaft von der neuzeitlichen trennt, in der das S. 199-255. - STAIGER, Bd. 1, S.68-72. - Suphan,
BernhardlWahle, Julius (Hg.): Aus Goethes Archiv.
Projekt einer vollständig literalisierten Ge-
Die erste Weimarer Gedichtsammlung in Facsimile-
sellschaft erstmals ins Auge gefaßt und teil- Wiedergabe. Weimar 1908. - Trunz, Komm. in HA 1,
weise realisiert wurde. Vor 1770 kam dem ge- S.451-455. - Weimar, Klaus: Wen du nicht verläs-
schriebenen Text seine Autorität aus dem vor sest Genius. In: ders.: Goethes Gedichte 1769-1775.
ihm Geschriebenen zu, auf das er sich in viel- Interpretationen zu einem Anfang. Paderborn 1982,
fa:ltiger Weise bezog. Als diese kollektive Be- S. 66-86. - Wilkinson, Elizabeth M.I Willoughby,
Leonard A.: Wandrers Sturmlied. A Study in Poetic
glaubigung in einem Zeitalter, in dem auch der
Vagrancy. In: GLL. 1 (1948), S. 102-116. - Zimmer-
Ungelehrte schreiben und lesen konnte, weg- mann, Rolf Christian: Das Weltbild des jungen Goe-
gefallen war, mußte sich der geschriebene Text the. Bd. 2. München 1979, S. 77-118.
einer neuen Autorität versichern. Er fand sie,
indem er das Mimikry des Oralen annahm, um Bernd Wille
sich die Autorität der Stimme zu verschaffen.
Eines der ersten und sicherlich das extremste
Zeugnis solcher »fiktiven Oralität« ist G.s Pin-
dar-Ode. Als solche kann sie als das Grün-
dungsmanifest der klassischen Produktions-
ästhetik gelten. Mahomets Gesang

Literatur:
CONRADY, S. 185-190. - Dieckmann, Friedrich: Hüt- Auf Anregung Herders beschäftigte sich G.
ten - Pfade des jungen Goethe. Die Wanderer-Ge- zwischen 1771 und 1773 erstmals intensiver
dichte von 1772. In: GoetheJb. 52 (1970), mit der Kultur des Islam. Neben historischen
S. 221-252. - Eibl, Kar!: Schmidts Sturm lied - Goe- Darstellungen wie Jean Gagniers La vie de
thes Sturm lied. In: SchillerJb. 29 (1985), S. 514-519. Mahomet (1732) und Fran\iois Henri Turpins
- Ders., Komm. in FA I, 1, S. 854-867. - Hederich,
Histoire de la vie de Mahomet (1773179) las er
Benjamin: Gründliches mythologisches Lexicon.
[ ... ] vermehret und verbessert von Johann Joachim vor allem den Koran, von dem er sich auch
Schwabe. Leipzig 1770. - Henel, Heinrich: Der einige Exzerpte machte. Wie aus diesen Aus-
Wandrer in der Not. In: DVjs. 47 (1975), S. 69-94. - zügen hervorgeht (ihr Autograph befindet sich
Henkel, Arthur: Versuch über Wandrers Sturmlied heute im Düsseldorfer G.-Museum), benutzte
(1960). In: Goethe-Erfahrungen. Studien und Vor- G. in erster Linie die neue, Ende 1771 er-
träge. Kleine Schriften 1. Stuttgart 1982, S. 9-42. -
schienene deutsche Übersetzung David Fried-
HSW 1. - Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen
Lyrik von Goethe bis Heine. Erster Teil, Frankfurt/ rich Megerlins, zog jedoch ergänzend auch die
M.1988, S. 156-147. - Klopstock, Friedrich Gott- lateinisch-arabische Edition (1698) des vatika-
lieb: Klopstocks Oden und Elegien. Faksimiledruck nischen Orientalisten Ludovico Marracio
der bei Johann Georg Wittlich in Darmstadt 1771 heran. Offenkundig mißtraute er der Ausgabe
erschienenen Ausgabe. Hg. von Jörg-Ulrich Fechner. Megerlins, und dies aus guten Gründen. Zwar
Stuttgart 1974. - KORFF, Bd. 1. - Lee, Meredith: A
war sie die erste deutsche Übersetzung, die
Question of Influence: Goethe, Klopstock and Wand-
rers Sturmlied. In: GQu. 55 (1982), S.13-28. - direkt auf das Arabische zurückging. Doch
Mommsen, Katharina: Wandrers Sturm lied. In: Goe- machte auch sie sich das seit Jahrhunderten
theJb. Wien. 81/85 (1979) S.215-236. - Schmidt, von der christlichen Apologetik tradierte
Jochen: Gelehrte Genialität: Wandrers Sturm lied. Feindbild zu eigen, nach dem der Koran ein
In: SchillerJb. 28 (1984), S. 144-190. - Ders.: Ju- »Lügenbuch« und Mohammed »das Apoc. 13
piter Pluvius, Lord Chesterfield und Kar! Eibl. In:
angezeigte Thier, der falsche Prophet und grä-
SchillerJb. 29 (1985), S. 520-531. - Ders.: Paradoxe
Ausgangssituation : Die gelehrte Konstruktion in ste Antichrist seye« (Megerlin, S. 25). Entspre-
Wandrers Sturm lied. In: ders.: Die Geschichte chend kritisch fiel die Rezension von Meger-
des Geniegedankens 1750-1945. Bd. 1: Von der Auf- \ins »Türkischer Bibel« in den Franlifurter Ge-
100 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

lehrten Anzeigen vom 22.12.1772 aus, die als ein Grundproblem jeder sendungsbewuß-
heute allgemein G. zugeschrieben wird: ten Praxis dargestellt werden sollen. Nach G.s
»Diese elende Produktion wird kürzer abge- eigener Erinnerung war das Dramenprojekt
fertigt. Wir wünschten, daß einmal eine an- eine Reaktion auf die Rheinreise mit Johann
dere unter morgenländischem Himmel von ei- Bernhard Basedow und Johann Caspar Lavater
nem Deutschen verfertigt würde, der mit al- im Sommer 1774. Für den schon 1773 ver-
lem Dichter- und Prophetengefühl in seinem öffentlichten Gesang kann das offenkundig
Zelte den Koran läse, und Ahndungsgeist ge- nicht gelten. Denkbar ist jedoch, daß das Ge-
nug hätte, das Ganze zu umfassen«. dicht geschrieben wurde, bevor es konkrete
Mit »Dichtergefühl« und »Ahndungsgeist« Dramenpläne gab, oder daß es nicht sowohl
reichlich gesegnet, verfaßte G. auf der Basis die persönliche Bekanntschaft als vielmehr
seiner Islam-Studien einige Szenen zu einer der vorausgehende schriftliche Austausch war,
größeren dramatischen Dichtung, in deren der das Projekt anregte. Dafür spricht auch ein
Mittelpunkt die Gestalt Mahomets - so die im Brief an Lavater und Johann Conrad Pfennin-
18. Jh. übliche Schreibung des Prophetenna- ger vom 26.4. 1774, der schon verschiedent-
mens - stehen sollte. Drei Texte, die als Teil lich mit dem Drama in Verbindung gebracht
oder im Umkreis dieses Dramen-Projekts ent- wurde. Dem missionarischen Eifer und naiven
standen, sind heute erhalten. Der erste ist eine »Zeugnis«-Glauben seiner Adressaten setzt G.
fünfstrophige Ode, in der sich Mahomet, in hier jenen radikalisierten aufklärerischen
freier Anlehnung an Vers 75 der Sechsten Sure »Consensus«-Gedanken (vgl. Zimmermann,
des Koran, nacheinander dem »freundlichen Bd. 1, S. 196ff.) entgegen, von dem auch sein
Stern Gad« (MA 16, S. 672; d.h. Jupiter), dem Interesse an der islamischen Religion und ih-
Mond und der Sonne zuwendet, um sich rem »Propheten« getragen war: »Und so ist das
schließlich zu »dem Erschaffenden« als seinem Wort der Menschen mir Wort Gottes es mögen
wahren Herrn und Gott zu erheben. Der Pfaffen oder Huren gesammelt und zum Canon
zweite ist eine Prosaszene zwischen Mahomet gerollt oder als Fragmente hingestreut haben.
und seiner Pflegemutter Halima. Der dritte ist Und mit inniger Seele fall ich dem Bruder um
ein Lobgesang auf Mahomet, der im dialogi- den Hals Moses! Prophet! Evangelist! Apostel,
schen Wechsel von seiner Lieblingstochter Fa- Spinoza oder Machiavell« (ebd.).
tema (nach heutiger Schreibung Fatima) und Als G. sein Dramenprojekt in Dichtung und
seinem Vetter und Schwiegersohn Ali vorge- Wahrheit rekonstruierte, hielt er die fünfstro-
tragen wird. Er wurde unter dem Titel Gesang phige Ode für verloren. Er dürfte sie zusam-
Ende 1773 im Göttinger Musenalmanach auf men mit der Prosaszene schon in der frühen
das Jahr 1774 veröffentlicht. Weimarer Zeit Charlotte von Stein geschenkt
Über die Konzeption der dramatischen haben, aus deren Nachlaß beide Texte erstmals
Dichtung, der diese Texte zuzuordnen sind, ist von Adolf Schöll 1846 publiziert wurden. Er-
nur das bekannt, was G. selbst im Vierzehnten gänzt um die Koran-Auszüge, erschienen sie
Buch von Dichtung und Wahrheit darüber be- dann 1897 in dem 37. Band der Weimarer Aus-
richtet (MA 16, S. 632-673). Demnach war an gabe. Den Gesang dagegen bewahrte G. sorg-
ein Historiendrama in fünf Akten gedacht, das faltig auf und arbeitete ihn spätestens 1777/78
Mahomet - gegen das christliche Feindbild im Zuge der Vorbereitung der handschriftli-
des »Betrügers« und »falschen Propheten«, wie chen Anthologie der sogenannten Ersten Wei-
es selbst Voltaire in seiner von G. 1799 über- marer Gedichtsammlung in jene Hymne um,
setzten Tragödie Mahomet (1742) noch propa- die seitdem den Titel Mahomets Gesang trägt.
giert hatte - zum Prototypus des sendungs- Ihr Text ist weitgehend identisch mit dem des
bewußten religiösen »Genies« (MA 16, S. 673) früheren Gedichts. Statt auf zwei Sprecherfi-
aufgewertet hätte. Zugleich hätte an dieser guren verteilt zu sein, hat sie nunmehr jedoch
prototypischen Gestalt die Pervertierung der die Form eines strophisch gegliederten Mono-
Zwecke durch die Mittel ihrer Durchsetzung logs.
Mahomets Gesang 101

Die erste Publikation der Hymne erfolgte den Propheten hervorging und daß G. Kompo-
1789 im achten Band der Schriften im Rahmen sita in seinen Handschriften oft getrennt
der vennischten Gedichte. Zweyte Sammlung. schrieb (vgl. Trunz). Stärker sind allerdings
Für diese Ausgabe hat G. ihre Interpunktion die Argumente für die zweite Lesart. Denn
und Syntax normalisiert, ihre Versaufteilung nicht nur behielt G. die Getrenntschreibung in
geringfügig modifiziert und einzelne Worte sämtlichen Drucken bei, er stellte die Hymne
um des Rhythmus willen ausgetauscht. Zwei in der Weimarer Gedichtsammlung auch an
Verse der vorletzten Strophe, die in der frü- den Anfang eines Zyklus, in dem mit Wandrers
heren Fassung die kühne Transitivierung eines Stunnlied, Künstlers Morgenlied und Prome-
intransitiven Verbs mit einem ebenso kühnen theus weitere Gedichte folgen, die im Titel
Vater-uns er-Zitat verbinden (>,sausend / We- eine Sprecherfigur benennen (vgl. Eibl). Ein
hen über seinem Haupte / Tausend Segel auf weiteres Argument für Mahomet als Sprecher-
zum Himmel/Seine Macht und Herrlichkeit«, figur ist die Apostrophe, mit der die Hymne
V. 65-68), wurden neu formuliert (»sausend / einsetzt: »Seht den Felsenquell« cv.
1). In dem
Wehen über seinem Haupte / Tausend Flaggen früheren Gedicht Gesang wird dieser Vers vOn
durch die Lüfte, / Zeugen seiner Herrlich- Ali zu Fatema , gesprochen<. Liest man ihn als
keit«, V. 61-64). Um die Hymne im Sprach- Zitat der Formel, mit der auch manche der
gestus ihrer Entstehungszeit zu präsentieren, Gleichnisreden Jesu eröffnet werden, unter
greifen neuere Ausgaben in der Regel nicht ihnen das berühmte Gleichnis vom Sämann
mehr auf die überarbeitete Version, sondern (Matt. 15,5), so steht er jedoch nicht dem Jün-
auf die Handschrift der Ersten Weimarer Ge- ger, sondern nur dem Propheten zu, der sich
dichtsammlung (so etwa HA und FA, die dane- an seine Jüngerschaft wendet.
ben auch den Text der Schriften druckt) oder Mit der historischen Gestalt Mahomets und
auf den Musenalmanach-Druck des älteren seiner im Koran kodifizierten Lehre hat die
Gedichts Gesang zurück (so JG und MA). Im Hymne nur vermittelt zu tun. Statt einer spezi-
folgenden wird die Version der Weimarer Ge- fisch islamischen Welt evoziert sie eine sym-
dichtsammlung zitiert, und zwar nach der bolische Ursprungs-Szenerie unter »morgen-
Transkription in der Frankfurter Ausgabe ländischem Himmel«, in der auch das Isla-
(FA 1,1, S. 195-195), für die die vOn mehreren misch-Arabische aufgehoben ist. Zu dieser
Korrekturschichten überzogene und darum Szenerie gehören »Wüste« cv. 45), »Sand«
schwer lesbare Handschrift noch einmal sorg- cv. 44) und »Sonne« cv. 45) ebenso wie der
fältig überprüft wurde. Wie alle neuen Edi- hymnisch-odische »Gesang«, der als »Quelle
tionen mit Ausnahme von Der junge Goethe der Dichtkunst« und »Allerheiligstes des Ori-
hat allerdings auch diese Ausgabe den Nach- ents« (HSW 1, S. 98) für den gemeinsamen Ur-
teil, daß sie G.s Schreibweise modernisiert. sprung vOn Poesie und Religion einsteht. Vor
allem aber gehört zu dem »morgenländischen
Obwohl ihm G. als Eröffnungsgedicht der Wei- Himmel« der Strom als symbolisches Zentrum
marer Anthologie eine denkbar prominente des Gedichts. Mit der Frage nach den Quellen
Position zuwies, hat sich die ältere Forschung dieses Symbols ist das zweite Thema ange-
mit Mahomets Gesang relativ selten beschäf- sprochen, das die ältere Forschung beschäftigt
tigt. Nur zwei Fragen sind immer wieder kon- hat. Auf der einen Seite schließt G. offenkun-
trovers diskutiert worden. Die erste betrifft dig an religiöse Bildtraditionen an. Sowohl in
die Auslegung des Titels und damit zugleich der Bibel wie im Koran (vgl. Burdach) wie in
die >Sprechsituation<. Ist das Gedicht ein Ge- der christlichen Mystik (vgl. Saran) spendet
sang auf Mahomet, so daß es eher ,Maho- das Wasser in seinen vielfältigen Gestalten
metsgesang< bzw. ,Mahomets-Gesang< heißen eine Fülle vOn Metaphern und Vergleichen für
müßte, oder ist Mahomet sein 'Sprecher<? Zur das menschliche Leben und das Wirken Got-
Begründung der ersten Lesart wird angeführt, tes. Im Bild des »aufgehaltenen Stroms, den
daß die Hymne aus einem Wechselgesang auf der Wind des Herrn treibt«, verheißt Jesaja
102 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

(59,19) den kommenden Erlöser, mit der Vi- Christoph Lichtenberg, der in seinen Sudelbü-
sion eines »lautem Strom des lebendigen Was- chern notiert: »Wenn ich etwas zu sagen [hät-
sers«, der »klar wie Krystall« dem Thron Got- te], so ließ ich bei Strafe des Stranges verbieten
tes entspringt, beginnt die letzte Offenbarung künftig das Genie mit einem Strom zu verglei-
des Johannes (22,1). Als Quelle und schwel- chen, oder wenigstens einen ganzen stillen
lender Strom ein Symbol des Ursprungs und langsamen und tiefen dazu nehmen« (S. 448).
der zeugend-befruchtenden Kraft, kann das
Wasser in Gestalt von versiegenden Flüssen So wichtig die zitierten Bildtraditionen als hi-
und vertrockneten Teichen auch zu einem Bild storische Kontexte auch sein mögen, über die
des Todes werden (Hiob 14,11; Hesekiel Bedeutung der Hymne und den Anspruch, den
47,11). Im Koran (10. Sure) symbolisiert sein sie fonnuliert, vennag nur sie selber Auskunft
Kreislauf den menschlichen Lebenszyklus, die zu geben. In zehn Strophen unterschiedlicher
christliche Mystik entwickelt die Metapher Länge entfaltet Mahomets Gesang das Bild des
der »Seelenflüsse« - so Madame de Guyon in Stromlaufs als Metapher einer menschlichen
Les torrens spirituels (1704) -, die in unter- Lebensbahn und eines zivilisatorischen Pro-
schiedlicher Größe und Geschwindigkeit zu zesses. Die Metaphorisierung folgt einerseits
ihrem göttlichen Ursprung zurückdrängen. G. einer progressiv-teleologischen Logik, die
hätte dem Strom allerdings kaum eine so zen- sich an der Bewegung des Flusses von der
trale symbolische Position eingeräumt, wenn Quelle bis zur Mündung orientiert. In Ana-
er nicht neben theologischen auch auf poeti- logie zu dem Kreislauf des Wassers, das vom
sche Bildtraditionen hätte zurückgreifen kön- »Ozean« (V. 58) aufsteigt, sich in »Wolken«
nen. Williams hat auf eine Reihe von zum Teil (V. 4) sammelt, auf die Erde niederregnet und
wörtlichen Parallelen zwischen Mahomets Ge- in Gestalt der »Bäche« und »Flüsse« (V. 28ff.)
sang und der Nilbeschreibung in James Thom- zum Meer zurückgetragen wird, evoziert sie
sons Gedicht Summer (1746) aufmerksam ge- zum anderen eine zyklische Struktur. Was in
macht; man könnte ergänzend etwa auf die teleologischer Perspektive als Bewegung auf
Strom- und Ozean-Symbolik bei Klopstock ein Ziel hin erscheint, stellt sich in zyklischer
verweisen. Wichtiger jedoch als die mögliche als Rückkehr zum Ursprung dar. Entsprechend
Anregung durch einzelne Gedichte ist der To- wendet sich das Gedicht an seinem Ende
pos vom »Strom des Genies« (Werther, Brief gleichsam zu seinem Anfang zurück (vgl. Wei-
vom 26. Mai), der in den Pindar-Versen von mar), indem es das sprachliche Material der
Horaz' Ode carm. IV,2 vorfonnuliert wird: ersten Strophen variierend wiederaufgreift
»Wie vom Berge herabströmt der Fluß, die (V. 59: »Fuß«; V. 19: »Fußtritt; V. 61: »Flam-
Regengüsse / haben ihn anschwellen lassen mengipfel«; V. 15: »Gipfelgänge«; V. 62: »Mar-
über die vertrauten Ufer, / so braust und uner- morhäuser«; V. 10: »Mannorfelsen«; V. 67: »auf
meßlich stürzt hervor aus tiefgründigem / zum Himmel«; V. 12: >>nach dem Himmel«;
Quellmunde Pindar«. Der Rekurs auf diese V. 72: »Freudebrausend«; V. 2: »Freudehelh».
Verse und die Metaphorisierung des Genies als Der Weg, den der Fluß in seinem Lauf von
majestätischer Strom wurden im Stunn und der Quelle bis zur Mündung passiert, wird
Drang zu einem Gemeinplatz (vgl. die Beleg- topographisch genau markiert. Er beginnt (Str.
stellen bei Schmidt, S. 182f. u. 271f.), den Ed- 2) an den »Mannorfelsen«, auf die der »Felsen-
ward Young in seinen Conjectures on Original quell« »aus der Wolke« niederfällt (V. 9f.), und
Composition (1759) ebensowenig ausläßt wie führt (Str. 3ff.) »durch die Gipfelgänge« (V. 15)
der Verfasser des »Enthousiasme«-Artikels der des Hochgebirges und das bergige »Schatten-
Enzyklopädie oder Herder in seinen Fragmen- tal « (V. 22) in die »Ebne« (V. 26 ff.) hinab (Str.
ten Ueber die neuere Deutsche Litteratur 6), wo der Fluß durch die Aufnahme anderer
(1766-1768). Das prägnanteste Zeugnis fur die Gewässer (Str. 7) zu einem ,furstlichen ( (V. 56)
zeitgenössische Inflation des Strom-Genies Strom »schwillt« (V. 54), der »unaufhaltsam«
stammt aus der Feder ihres Kritikers Georg (V. 60) dem »Ozean« entgegen drängt (Str. 8ff.).
Mahomets Gesang 103

Die Metaphorisierung dieses Laufs als Indem der Strom die Flüsse und Berge mit
menschliche Lebensbahn erfolgt in den ersten dem verkürzten Bibelzitat »Kommt ihr alle!«
Strophen einerseits durch die personifizie- 01. 53) in sich aufnimmt und zu einem histori-
rende Zuschreibung affektiver Qualitäten schen »Geschlechte« (Y. 55) vereinigt, das über
01. 2: »freudehell«; V. 8: »jünglingsfrisch«) und die Grenze des natürlichen Lebens hinaus Be-
gestalthafter Elemente 01. 19: »Fußtritt«; V. 24: stand hat, »schwillt er« (Y. 54) selbst zu einem
»Knie«). Vor allem aber ist sie eine Funktion »Fürsten« 01. 56) an, der eine Zivilisation als
des verbalen und rhythmischen Bewegungs- »Schöpfung Seiner Fülle« 01. 62f.) hervor-
ausdrucks, der indirekt, über semantische bringt. In der Literatur wird dieser fürstliche
Merkmale wie Temperament, Geschwindig- Strom immer wieder als eine religiöse Führer-
keit und Gangart, einen Prozeß des Wachs- figur bezeichnet. Der Titel der Hymne legt das
tums und Reifens konnotiert: Der junge Quell zwar nahe, doch nicht nur hat seine Schöpfung
»tanzt« 01. 9) und »jauchzet« 01. 11); der ju- einen dezidiert weltlichen Charakter und nicht
gendliche Gebirgsbach »jagt [ ... ] bunten Kie- nur identifiziert ihn das Gedicht mit der my-
seln nach« 01. 14) und »reißt [ ... ] seine Bru- thologischen Gestalt des »Atlas« 01. 64). Viel-
derquellen mit sich fort« 01. 16f.); der gereifte mehr fehlt ihm auch gänzlich die Demut, die
Fluß schließlich »tritt« mit jener versammel- er als Prophet einer monotheistischen Reli-
ten Kraft aktueller Wirksamkeit »in die Ebne« gion seinem transzendenten Gott doch schul-
01. 30f.), die durch das ins Partizip Präsens dig wäre. Seine Schöpfung steht nicht im Zei-
gesetzte Kompositum »silberprangend« 01. 31) chen der Demut oder Unterwerfung, sondern
angezeigt wird. Dieser Eintritt in die Ebene ist in dem der Erhöhung und Erhebung. Hoheit
zugleich ein Trittfassen im buchstäblichen, ist das Merkmal seiner eigenen Gestalt (vgl.
nämlich metrischen Sinn. Nach den freien und V. 56) ebenso wie das seiner Werke (vgl.
vielfach wechselnden Rhythmen der ersten V. 61f.), die dem »Himmel« die Erhabenheit
Strophen fallt das Gedicht hier erstmals über ihres Schöpfers mit einem ketzerischen Vater-
mehrere Verse 01. 31 ff.) in einen regelmäßigen unser-Zitat urunißverständlich kundtun: »Ze-
trochäischen Marsch, der in den folgenden demhäuser trägt der Atlas / Auf den Riesen-
Strophen zur rhythmischen Signatur des »Tri- schultern, sausend / Wehen über seinem
umph«-Zugs 01. 57) des Stromes werden wird. Haupte / Tausend Segel auf zum Himmel /
Triumphal ist der Lauf des Stromes als Ema- Seine Macht und Herrlichkeit« 01. 64-68).
nation einer schöpferischen Kraft, die im Pro- Liest man die vertikale Erhebung dieser
zeß ihrer eigenen Entfaltung sowohl eine na- Verse als »Vemeinung der Transzendenz«, so
türliche (Y. 19: »Blumen«; V. 20: »Wiesen«) wie verhält sich ihre Aussage komplementär zu der
eine kulturelle Welt hervorbringt. Der Über- »Bejahung der Immanenz« (Schmidt, S.276),
gang von der einen in die andere Welt vollzieht die in Gestalt der ozeanischen Allnatur absolut
sich durch die Sprachwerdung der Natur, zu gesetzt wird. Aber die vertikale Semantik er-
der dieses Gedicht gleichsam eine eigene Hy- hebt sich nicht nur gegen etwas, sondern rich-
pothese formuliert. Nicht aus den Leiden- tet zugleich etwas auf: nämlich »Marmorhäu-
schaften (Rousseau) oder aus dem Bedürfnis, ser« 01. 62), »Türne« 01. 61) und »Zedernhäu-
die Welt kennenzulernen (Herder) , bricht ser« 01. 64) als erhabene Monumente der Kul-
Sprache hervor, sondern aus dem Verlangen, tur. Diese kulturelle Welt verhält sich zur
den Tod, als natürliche Grenze des individuel- Natur nicht einfach komplementär, vielmehr
len Lebens, durch Vergesellschaftung zu trans- will das Gedicht gerade darstellen, wie sie aus
zendieren. Es sind daher zuerst die kleineren ihr emaniert und wieder in sie zurückkehrt.
»Flüsse von der Ebne« 01. 33) und »die Bäche Die poetischen Anstrengungen seiner Schluß-
von Gebürgen« 01. 34), die ihre Stimmen erhe- strophen gelten daher weniger der Formulie-
ben und dem Strom zurufen: »Bruder nimm rung einer stimmigen pantheistischen Aussage
die Brüder mit! / Mit zu deinem Alten Vater / als der Vermittlung von vertikaler Erhebung
Zu dem ewgen Ozean« 01. 36ff.). als Signatur der kulturellen Schöpfung und
104 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

horizontaler Bewegung als Signatur der natür- »Natur« dabei nicht als Begabung oder Fähig-
lichen Schöpfungskraft. Wie in den Anfangs- keit zu verstehen, sondern als das Eingeschrie-
strophen, kommt dabei dem verbalen und bensein des Ziels in den Ursprung, als »eine
rhythmischen Bewegungsausdruck eine figu- umfassende Lebensweise der Selbstbestim-
rative Schlüsselfunktion zu. Nur verläuft die mung durch eingeborene Notwendigkeit«
Metaphorisierung jetzt in umgekehrter Rich- (ebd.).
tung: Statt der Natur (dem Fluß) anthropo- Stärker geistesgeschichtlich ist die Interpre-
morphe Qualitäten zuzuschreiben, wird der tation orientiert, die Jochen Schmidt unter der
kulturelle Schöpfer (der »Fürst«) als strö- Überschrift »Das Genie im Horizont der pan-
mende Natur metaphorisiert - so in >>Unauf- theistischen ,Natur'« vorstellt. Als Zentralmo-
haltsam rauscht er über« (V 60) und durch den tive der Hymne bestimmt Schmidt die schöp-
Reim »sausend« (V 65) und »freudebrausend« ferische »Freude« (S. 273), die er in die Tradi-
(V 72), dessen Bewegungssuggestion auch auf tionen sowohl der Enthusiasmus-Lehre Shaf-
das Attribut »tausend« (V 67) übergreift. Noch tesburys wie des amor dei intellectualis
enger werden die semantischen Dimensionen Spinozas stellt, ferner das »Ideal der Brüder-
dadurch verschränkt, daß die Erhöhung des lichkeit« (ebd., S. 274) und die »werkrelativie-
Stromes (V 55f.: »ein ganz Geschlechte / trägt renden und werksprengenden Energien«
den Fürsten hoch empor [Hv. v. Vf.]«) und die (ebd., S. 277) des Genies, das als »grenzenlose
Erhabenheit seiner kulturellen Mission Schöpfungs kraft« (ebd., S.276) auch das von
(V 64f.: »Zedernhäuser trägt der Atlas / Auf ihm selbst Geschaffene transzendieren muß.
den Riesenschultern [Hv. v. Vf.]«) durch das- Alle drei Motive werden auf die Partizipation
selbe Verb bezeichnet werden, das in der des Genies an der spinozistisch verstandenen
Schlußstrophe die horizontale Bewegung der Allnatur zurückgeführt, die die Hymne mit
Rückkehr zum Ursprung anzeigt: »Und so trägt blasphemischem Pathos zur neuen, immanen-
er seine Brüder / Seine Schätze seine Kinder / ten Instanz des Göttlichen aufWerte.
Dem erwartenden Erzeuger / Freudebrausend Gegen die Rede vom »Genie-Begriff« insi-
an das Herz [Hv. v. Vf.]« (V 69-72). stiert David Wellbery in seiner Studie auf dem
Status des Genies als »symbolische Position«
Im Zuge der Renaissance des »elose reading«- (S. 122). Was in G.s Texten der 70er Jahre des
Verfahrens ist Mahomets Gesang in jüngster 18. Jhs. als Genie bezeichnet oder figuriert
Zeit mehrfach kommentiert und gedeutet wor- wird, sei keine anthropologische Substanz
den. Allen Interpretationen gemeinsam ist die oder Tatsache, sondern eine Konstellation be-
Lektüre des Gedichts als paradigmatische For- stimmter symbolischer Valeurs. Wellbery um-
mulierung der Ästhetik oder Poetik des »Ge- schreibt sie durch Begriffe wie »Ursprung«,
nies«. Sehr unterschiedlich allerdings fällt die »Ergießung« (als Form der Expression), »Zeu-
Anwort auf die Frage aus, was unter »Genie« gung« (als Form der Kreation), »kulturelle Ge-
zu verstehen und entsprechend: was an dem setzgebung«, »Okkupation der Vater-Position«
Gedicht paradigmatisch sei. und »phallische Identität« (S. 130). Diese Be-
Die Interpretation Klaus Weimars - der al- griffe zielen zum einen auf die sexuelle Di-
lerdings nicht die Hymne, sondern das frühere mension der Genie-Symbolik, zum anderen
Gedicht Gesang zugrundeliegt - hebt vor al- auf die »Unmöglichkeit« (ebd.), die ihr inne-
lem die metaphorische Technik der »Vermitt- wohnt. »Okkupation der Vater-Position« soll
lung von Bild (Fluß) und Sache (Mahomet)« nämlich nicht nur heißen, daß das Genie sich
hervor (S.32). Statt zu sagen: »Mahomet ist selbst zum Vater, sondern vielmehr, daß es sich
,Natur'«, produziere die Hymne die Identität, zum Vater seiner selbst macht, mithin als Sym-
die dieser Satz behauptet, indem sie die Sache bol einer unmöglichen »Selbsterzeugung«
»in das Bild [ ... ] hineinwandern und es aus- (ebd.) fungiert. Auf der Basis dieser - zunächst
füllen läßt« (ebd.). Anders als die mißver- an anderen Texten entwickelten - Thesen ge-
ständliche Rede vom »Genie« es nahelegt, sei langt Wellbery zu einer Interpretation von Ma-
Mahomets Gesang 105

homets Gesang, die sich grundsätzlich von bis- gigen »Schattental« (Y. 22), das er vor seinem
herigen Deutungen unterscheidet. Zum einen Eintritt in die Ebene passiert, durch das an-
liest er die vertrauten Topoi, die traditionell dere, das weibliche Geschlecht infiziert. Zwar
auf poetische (z.B. Strom-Bild), poetologische gelingt es ihm, den »Blumen« (Y. 25) zu wider-
(z.B. das Erhabene) oder geisteswissenschaft- stehen, die ihm hier »seine Knie umschlingen«
liche (z.B. spinozistische Allnatur) Motive zu- (Y. 24) und »ihm mit Liebesaugen schmei-
rückgeführt werden, als Figurationen männ- cheln« (Y. 25). Doch entwindet er sich ihren
licher Sexualität. Zum anderen versucht er zu Umarmungen nur in Gestalt jener symbolisch
zeigen, daß das manifeste Gelingen, welches aufgeladenen Bewegung, die die Hymne durch
die Hymne artikuliert, eine Verfehlung oder eines ihrer kühnen ,Machtworte< bezeichnet:
Versagung in sich einschließt. »Nach der Ebene dringt sein Lauf / Schlange-
Wellbery zufolge stellt sich schon die »Ur- wandelnd [Hv. v. Vf.]« (Y. 26f.). Als Zeichen
sprungs«-Position als erste und geläufigste Be- von »Gift« und »Weiblichkeit« (S. 146) fungiert
stimmung des Genies in Mahomets Gesang als die Schlange in Wellberys Interpretation als
unverfügbar dar. Die Gegenwart der hymni- inverses Komplement zum »ganz Geschlechte«
schen Rede umfasse nur die Spanne, in der der und damit zur phallischen Identität des Ge-
Fluß eine identifizierbare und sichtbare Ge- nies. Mit dem Gift der Weiblichkeit infiziert,
stalt hat, in der er schon als Felsenquell und ist diese Identität für den genialen Strom uner-
noch als Strom erscheint. Dagegen bleibe reichbar geworden. Die »Wunde der Moder-
seine Herkunft aus dem vom Meer aufstei- ne« wird damit lesbar als Wunde der Alterität,
genden Wasser optisch und zeitlich (vgl. als »Kastration« (ebd., S. 157), die das phalli-
V. 4ff.: »Über Wolken / nährten seine Jugend / sche Subjekt in sich selber spaltet, indem sie es
Gute Geister [Hv. v. Vf.]«) ebenso entrückt wie unwiderruflich an die Gegenposition der
seine Vereinigung mit dem ozeanischen Ur- Weiblichkeit (oder der Mutter) bindet.
sprung, auf die die Schlußstrophe als eine Wellbery verschränkt seine Lektüre der
noch unerreichte Zukunft verweise. Wellbery Hymne mit Interpretationen zu Wandrers
deutet diese doppelte Entrückung als eine hi- Sturmlied und Künstlers Morgenlied, die in
storische Diagnose: Die Gegenwart - die »Mo- der Ersten Weimarer Gedichtsammlung un-
derne« - »ist die Wunde des Genies« (S. 129). mittelbar auf Mahomets Gesang folgen. Wie er
Darum kann es nur als verlorener Ursprung zu zeigen versucht, gibt es zwischen diesen
erinnert oder als zukünftige Originalität be- drei Gedichten einen systematischen Zusam-
schworen werden. menhang: Während Mahomets Gesang und
Die Metapher der »Wunde« ist mit Bedacht Wandrers Stunnlied den phallischen (apolli-
gewählt und wird durch zwei weitere Beobach- nisch-solaren) Mythos des Genies im Modus
tungen zum Text motiviert. Die erste gilt dem seiner Verfehlung darstellten, formuliere
Anfang seiner siebten Strophe: »Kommt ihr Künstlers Morgenlied einen Ausweg aus der
alle! - / Und nun schwillt er / Herrlicher, ein symbolischen Krise, indem es die Kunst »ma-
ganz Geschlechte / Trägt den Fürsten hoch trilinear« umbesetze (Wellbery, S. 175f.) und
empor« (Y. 55-56). Der Gliederung der Verse das »Bild der Mutter« als ihre neue, spezifisch
statt der Logik der Syntax folgend, liest Well- moderne Matrix etabliere (ebd., S. 178). Erst
bery die Worte »ein ganz Geschlecht« als Appo- innerhalb dieses, hier nur angedeuteten argu-
sition zu dem Komparativ, der ihnen voraus- mentativen Zusammenhangs gewinnen Well-
geht. »Herrlicher« wäre demnach der Strom, berys Bemerkungen zu Mahomets Gesang ihr
weil er selbst ein »ganz Geschlechte«, das Gewicht und ihre Überzeugungskraft. Umge-
heißt: ein unverletzter, unversehrter Phallus kehrt ist allerdings auch unverkennbar, daß
ist. Der »Mythos des Genies«, so Wellberys der Kontext die Interpretation >schiebt< und
pointierte These, ist der »Mythos des einzigen, gelegentlich gewaltsame Lösungen erzwingt.
phallischen Geschlechts« (S. 146). Tatsächlich Ein Beispiel ist die Deutung des Komposi-
jedoch hat sich der Strom schon in dem ber- tums »schlangewandelnd«, dem Wellbery zu-
106 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

recht eine figurative Schlüsselfunktion zu- wandelnder Bewegung der Fluß sich an-
weist. In den Stellenkommentaren der ein- gleicht, sondern mit jener geschlängelten Li-
schlägigen Editionen wird dieses Wort als nie der Schönheit, die seit William Hogarths
»Neologismus« bezeichnet. Ein neues Wort ist Analysis ofBeauty (1753) ein Topos der Ästhe-
es allerdings nur im Bereich der deutschen tik des 18. Jhs. war. Entsprechend ist auch die
Sprache. In der englischen taucht es, als mah- Bewegungsfonn selbst durchaus kein Zeichen
nendes Zeichen der Gefahr, die von dem abge- einer Behinderung oder Hemmung, kein sym-
fallenen Engel Satan droht, schon in lohn Mil- bolisches Äquivalent einer »oedipalen Läh-
tons Paradise Lost (1667) auf - und zwar im mung« (Wellbery, S.64). Dank des Partizips
Kontext der Beschreibung der Flüsse und Ge- Präsens, das schon die antike Rhetorik als Mit-
wässer, die Gott am dritten Tag der Schöpfung tel des lebendigen Ausdrucks aktueller Wirk-
schafft: >>nor withstood them rock or hili, / But samkeit propagierte, fungiert sie im Gegenteil
they [ ... ] / With serpent error wandering [Hv. als Inbegriff selbsttätiger Kraft. In G.s Hymne
v. Vf.], found their way« (Buch VII, V. 300ff.). bilden die Präsenspartizipien eine eindrucks-
Ob G. sein - auch im Tempus übereinstimmen- volle Sequenz, die über die Instanzen »silber-
des - Kompositum in bewußter Anlehnung an prangend« cv.31) und »sausend« cv.65) bis
Milton gebildet hat, kann dahingestellt blei- zum »freudebrausend« cv.72) der Schlußstro-
ben. Wichtiger ist, daß es einen verwandten phe führt. Daß das »schlangewandelnd« diese
symbolischen Kontext evoziert. Denn auch Sequenz eröffnet und insofern auch in gram-
Mahomets Gesang variiert noch einmal die ur- matischer Hinsicht ausgezeichnet wird, hat
alte Geschichte des Falls. Dessen Schauplatz seinen guten Grund: Denn während ihm der
ist der locus amoenus des paradiesisch-frucht- Fall vom Gebirge vorgeschrieben ist, muß sich
baren Bergtals, dem sich der Fluß in seinem der Fluß seinen Weg durch die Ebene selbst-
Lauf hinab zur Ebene »schlangewandelnd« tätig bahnen. Die Kraft zu dieser Selbsttätig-
entwindet. Daß dieses Tal unter »Schatten« keit aber wächst ihm gerade in jener weib-
liegt, steht nicht im Widerspruch zu seiner lichen Welt der »Blumen« und »Wiesen« zu,
paradiesischen Natur. Der kühlende Schatten die, weit davon entfernt, ein »Gift« zu injizie-
gehört vielmehr als Zeichen eines lebensnot- ren, die Produktivität des Eros entfesseln. Was
wendigen und natürlich gewährten Schutzes die Hymne als Ursprung und Natur figuriert,
zur traditionellen Topik des locus amoenus ist auf irreduzible Weise zweigeschlechtlich -
und fungiert daher auch innerhalb der Hymne ohne daß Zweigeschlechtlichkeit eine >tragi-
als positives Komplement zu der »Sonne«, der sche< Spaltung oder Alterität bezeichnete. Es
die unfruchtbare Ebene als Raum des >gefalle- läßt sich im Gegenteil schwerlich eine gran-
nen< Lebens ausgesetzt ist. Der Eintritt des diosere Inszenierung der männlich-weibli-
Flusses in die Ebene ist also ein Fall im dop- chen Doppelnatur denken als diejenige, mit
pelten Sinn des Wortes, und eben in diesem der die Hymne schließt. So wie der Strom in
Doppelsinn liegt die erste Pointe der Ge- der letzten Strophe zugleich als zeugende
schichte, die G. erzählt. Denn indem der Fluß Kraft und gebärende Matrix metaphorisiert
vom Gebirge über das paradiesische »Schat- wird, so ist auch der Ozean, in den er sich
tental« in die post-paradiesische »Wüste« fällt, ergießt und seine »Kinder« cv.
70) austrägt, als
folgt er nur dem Weg, zu dem ihn die topogra- »erwartender Erzeuger« cv.
71) sowohl müt-
phischen Verhältnisse und die Schwerkraft be- terlicher Schoß wie väterlicher Ursprung.
stimmen: Die Natur selbst ist auf seinen Fall
hin angelegt.
Komplementär zu dieser Naturalisierung Literatur:
des Falls betreibt G.s Hymne eine Positivie-
[Anonym]: Megerlins Koran. In: Seuffert, Bernhard
rung der Verführungssymbolik, mit der Well- (Hg.): Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr
berys Interpretation unvereinbar ist. Nicht mit 1772. Zweite Hälfte. Stuttgart 1883, S.673 (22.12.
»Gift« wird die >Schlange< assoziiert, deren 1772). - Burdach, Konrad: Goethes Gesang der Gei-
Prometheus 107

ster. In: ders.: Vorspiel. Gesammelte Schriften zur


Geschichte des deutschen Geistes. Bd. 2: Goethe Prometheus
und sein Zeitalter. Halle 1926, S.82-90. - Eibl,
Komm. in FA, I, 1, S.915-917. - Herder, Johann
Gottfried: Fragment über die Ode. In: ders.: Werke
in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacheru.a. Bd. 1: Als G. seine Hymne Prometheus zwischen
Frühe Schriften 1764-1772. Hg. von Ulrich Gaier. Herbst 1773 und Anfang 1775 aus dem gleich-
Frankfurt/M.1985, S.96-99. - Horaz: Oden und namigen, kurz zuvor aufgegebenen Dramen-
Epoden. Übers. und hg. von Bernhard Kytzler. Stutt- fragment herausarbeitete, konnte er nicht vor-
gart 41988. - Lichtenberg, Georg Christoph: Schrif-
hersehen, daß sie zehn Jahre später zum
ten und Briefe. Hg. von Wolfgang Prornies. Bd. 1:
Sudelbücher 1. München 1968. - Megerlin, David, »Zündkraut einer Explosion« werden würde,
Friedrich: Die türkische Bibel. Die Uebersetzung »welche die geheimsten Verhältnisse würdiger
aus der arabischen Urschrift selbst verfertiget von M. Männer aufdeckte und zur Sprache brachte«
David Friedrich Megerlin. Frankfurt/M. 1772 (1771 (WAl, 28, S.313). Er machte zunächst keine
erschienen). - Minor, Jacob: Goethes Mahomet. Anstalten, sie zu veröffentlichen, sondern ließ
Jena 1907. - Mommsen, Katharina : Goethe und die
sie nur im engeren Freundeskreis zirkulieren.
arabische Welt. Frankfurt/M. 1988. - Saran, Franz:
Goethes Mahomet und Prometheus. Halle 1914. - Ihr vermutlich erster Entwurf - Karl Koet-
Schmidt, Jochen: Goethes Hymnen als dichterischer schau entdeckte ihn auf der Rückseite einer
Höhepunkt der Genie-Zeit. In: ders.: Die Ge- G .schen Zeichnung -, ist nur als Fragment er-
schichte des Genie-Gedankens 1750-1945. Bd. 1: halten. Die älteste vollständig überlieferte
Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Dannstadt Handschrift befindet sich im Nachlaß von Jo-
1985, S. 196-305 (bes. S. 269-277). - SchölI, Adolf:
hann Heinrich Merck (Universitätsbibliothek
Goethe. Briefe und Aufsätze. Weimar 1846. - Solb-
rig, Ingeborg H.: Die Rezeption des Gedichts Maho- Leipzig), dem G. die Hymne möglicherweise
mets-Gesang bei Goethes Zeitgenossen und in der in seinem Briefvom 7.3.1773 zuschickte. Aus
modernen persischen Adaption Muhammad 19bals etwas späterer Zeit stammt die Handschrift
(1923). In: GoetheJb. 100 (1983), S. 111-126. - STAI- der Ersten Weimarer Gedichtsammlung (um
GER, Bd. 1, S.96-111. - Trunz, Komm. in HA 1,
1778), in der Prometheus zwischen den Hym-
S. 481-483 - Weimar, Klaus: Teilen kann ich euch
nen An Schwager Kronos und Ganymed seinen
nicht. In: ders.: Goethes Gedichte 1769-1775. Inter-
pretationen zu einem Anfang. Paderborn, München, Platz fand.
Wien, Zürich 1982, S.40-45. - Ders.: Gesang. In: Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Pro-
ebd., S. 46-55. - Wellbery, David E.: The Specular metheus erstmals 1785 durch Friedrich Hein-
Moment. Goethe's Early Lyric and the Beginning of rich Jacobis Abhandlung Über die Lehre des
Romanticism. Stanford 1996. - Williams, Charles Spinoza in Briifen an den Herrn Moses Men-
A.: James Thomson's Summer and Three of Goe-
deIssohn bekannt. Jacobi präsentierte das Ge-
the's Poems. In: JEGP. 47 (1948), S. 1-13. - Zimmer-
mann, Rolf Christian: Das Weltbild des jungen Goe- dicht als atheistisches Skandal on, zu dessen
the. Studien zur hennetischen Tradition des deut- Publikation er sich nur darum entschlossen
schen 18. Jahrhunderts. 2 Bde. München 1969 und habe, weil es ihm »als Beleg [ ... ] kaum ent-
1979. behrlich« sei. Er traf aber Vorsorge für den
Inka Mülder-Bach sympathetisch antizipierten Fall, daß jemand
»es in seinem Exemplare lieber nicht hätte«,
indem er es auf unpaginierten Vorstoßblättern
einheften ließ. Auf diese Weise, so erläuterte
er auf einer eigens hinzugefügten »Nachricht«,
könnten auch die Zensurbehörden das mögli-
cherweise »strafbare besondre Blatt« bequem
entfernen, ohne gleich das ganze Buch zu kon-
fiszieren (zitiert nach Christ, S. 16). Wofür Ja-
cobi das Gedicht als »Beleg« diente, war jene
Behauptung, an der sich die erregteste Debatte
der deutschen Spätaufklärung entzündete: die
108 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

Behauptung nämlich, daß Lessing »ein Spino- Hand, so ließ er ihm auch in dieser Ausgabe
zist« - und das hieß für Jacobi soviel wie: ein die Hymne Ganymed folgen.
Atheist - »gewesen sei« und sich dazu auch
»ohne alle Zurückhaltung« bekannt habe (Ja- Für die Veröffentlichung in den Schriften hat
cobi, S.39f.). Im Sommer 1780, so berichtet G. die Hymne überarbeitet. Orthographie und
Jacobi, habe er Lessing in Wolffenbüttel be- Interpunktion wurden normalisiert, syntakti-
sucht und ihm dabei unter anderem auch die sche Härten geglättet. Ein Opfer dieser Ein-
Prometheus-Hymne gezeigt. Lessing habe sie griffe war das Kompositum »Knabenmorgen
mit den Worten kommentiert: »Der Gesichts- Blütenträume« (V. 50f.), von dem nur der
punct, aus welchem das Gedicht genommen zweite Teil übrigblieb. Um das Gedicht im
ist, das ist mein eigener Gesichtspunct. [ ... ] Sprachgestus seiner Entstehungszeit zu prä-
Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind sentieren, greifen neuere Editionen in der Re-
nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genie- gel nicht auf die überarbeitete Version, son-
ßen. EV KUt niiv! Ich weiß nichts anders. Dahin dern auf die Merck-Handschrift (so JG Fi-
geht auch dies Gedicht; und ich muß beken- scher-Lamberg und MA) oder den Autograph
nen, es gefällt mir sehr« (Jacobi, S. 54f.). Als der Ersten Weimarer Gedichtsammlung (so
Jacobi folgerte, dann sei Lessing »ja mit dem HA und FA, die daneben auch den Text der
Spinoza ziemlich einverstanden«, erwiderte Schriften druckt) zurück, deren Textfassungen
sein Gesprächspartner: »Wenn ich mich nach sich allerdings ebenfalls unterscheiden. Der
jemandem nennen soll, so weiß ich keinen wichtigste Unterschied betrifft die strophische
andern« (ebd.). Gliederung: Während die erste Strophe des
Wie die Philosophie Spinozas, so hat auch Gedichts in der Ersten Weimarer Gedicht-
die nachfolgende, als Spinozismus- oder Pan- sammlung die Verse eins bis zwölf umfaßt,
theismus-Streit bezeichnete Auseinanderset- setzt Mercks Handschrift die Verse acht bis
zung, die Jacobi zunächst mit Lessings eng- zwölf als eigene Strophe. Gegen diese zweite
stem Vertrauten Moses Mendelssohn, später Gliederung spricht vor allem, daß sie die me-
mit Vertretern der idealistischen Philosophie tonymische Bewegung unterbricht, die durch
führte, mit G.s Gedicht kaum etwas zu tun. G.s die Positionen »Erde« (V. 6), »Hütte« (V. 8),
Unmut über Jacobis »tollen Streich« (an Char- »Herd« (V. 10) und »Glut« (V. 11) markiert
lotte von Stein, 11.9. 1785) galt entsprechend wird. Im folgenden wird der Text der Ersten
weniger der weltanschaulichen Enthüllung als Weimarer Gedichtsammlung zitiert und zwar
vielmehr der Fonn der Publikation, die »eine nach dem Abdruck in der Frankfurter Ausgabe
besorgliche Confiskation« (an Jacobi, 26.9. (FA I, 1, S.203f.), für den die von mehreren
1785) provozierte und überdies durch eine ge- Korrekturschichten überzogene und darum
zielte Indiskretion auch den Verfasser des Pro- schwer transkribierbare Handschrift noch ein-
metheus verriet. Denn Jacobi publizierte die mal sorgfältig überprüft wurde. Der Mangel
Hymne zwar anonym und ohne Titel, doch dieser Ausgabe liegt darin, daß sie - wie alle
stellte er ihr - ebenfalls auf den unpaginierten anderen neuen G.-Editionen mit Ausnahme
Blättern, aber mit Angabe des Verfassers - G.s von Der junge Goethe (JG Fischer-Lamberg)-
Gedicht Das Göttliche voran, »damit man ja«, G.s Schreibweise modernisiert. Vertont wurde
wie G. monierte, »bei dem noch ärgerlichern die Hymne u.a. von Johann Friedrich Reich-
Prometheus mit Fingern auf mich deute« (an ardt, Franz Schubert und Hugo Wolf.
Jacobi, 11.9. 1785). Nachdem das Gedicht auf
diese spektakuläre Weise an die Öffentlichkeit Die Umstände ihrer Veröffentlichung sind
gelangt war, nahm G. es in die Zweite Samm- nicht nur für die zeitgenössische Wirkung der
lung seiner Vermischten Gedichte auf, die 1789 Prometheus-Hymne, sondern über weite
im achten Band der Schriften erschienen. Wie Strecken auch für ihre wissenschaftliche Re-
schon in der handschriftlichen Anthologie von zeption bestimmend gewesen. Vor allem an
1778 und wie später in der Ausgabe letzter der Spinozismus-Frage entzündeten sich im-
Prometheus 109

Prometheus erwehrt sich des Adlers (Bleistift, Feder mit Tusche)


110 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

mer wieder neue Kontroversen, die letztlich ser Fixierung andere, näherliegende Kontexte
wenig zum Verständnis der Hymne selbst bei- übersehen und im übrigen mit Begriffen ope-
trugen. Denn anders als das gleichnamige rieren, die zu unbestimmt sind, um die spezifi-
Dramenfragment enthält diese nicht den ge- schen Strategien der Texte zu erfassen. Selbst
ringsten Hinweis auf ein pantheistisches Na- wenn man an dem von G. behaupteten Zusam-
turgefühl, nicht den leisesten Anklang an jenes menhang von Prometheus und Ganymed fest-
spinozistische sv KUl1tiiv (Eins und Alles), zu halten und diesen geistesgeschichtlich verste-
dem Lessing sich nach Jacobis Bericht bekannt hen wollte, würde die Polarität von >Verselb-
haben soll. Lessings Bemerkung, der Prome- stung< und >Entselbstigung< dazu nicht ausrei-
theus sei »aus einem Gesichtspunct genom- chen. Denn die Gedichte bezeichnen nicht die
men«, der sich mit den »orthodoxen Begriffen beiden Pole einer Opposition, die erst im
der Gottheit« nicht mehr vermitteln ließe, >Ganzen< des G.schen »Weltgefühls« aufgeho-
wird damit keineswegs hinfällig. Nur sagt sich ben wäre, vielmehr bildet die prometheische
das Gedicht nicht im Namen eines spinozisti- Absage an die Vorstellung einer transzenden-
schen Monismus von diesen Begriffen los, ten Gottheit die Voraussetzung für die gany-
sondern im Rückgriff auf die Religions- und medsche Hinwendung zur pantheistischen Na-
Mythenkritik der französischen und engli- tur (vgl. Schmidt, S.278f.; Eibl, S.241f.). Da
schen Aufklärung. sich das Fragment und die beiden Hymnen
Aus der Verlegenheit, in die das radikal- schon durch das basale Merkmal ihres Genres
aufklärerische Pathos der Hymne manche ih- unterscheiden, kann im übrigen von einer
rer Interpreten versetzte, bot sich als Ausweg übergreifenden Konzeption in poetischer Hin-
die zweite interpretatorische Vorgabe ihrer sicht kaum die Rede sein. Das Fragment ist ein
Veröffentlichungsgeschichte an: das von G. Drama, dessen Protagonisten der Mythologie
selbst hervorgehobene komplementäre Ver- entnommen sind; die Hymne Ganymed wird
hältnis von Prometheus und Ganymed. Die >im Namen< einer mythologischen Figur >ge-
prometheische Selbstermächtigung, so heißt sprochen<, ohne daß das lyrische Ich mit die-
es etwa bei Karl Otto Conrady, bezeichne nicht ser identisch wäre; Prometheus schließlich ist
das »ganze Weltgefühl des jungen G.« (S. 87), ein Rollengedicht, dessen Sprecherfigur durch
sondern nur dessen »eine Seite« (ebd., S. 91); den Titel bezeichnet wird.
sie finde ihre notwendige Ergänzung in jener
»Hingabe und sehnsüchtigen Lust nach Ent- Daß diese gattungspoetischen Differenzen
grenzung und Alliebe« (ebd., S. 88), wie sie in dem >Gehalt< der Texte nicht äußerlich blei-
Ganymed zum Ausdruck gelange. Auf der Ba- ben, läßt sich an ihrem Verhältnis zur Mytho-
sis von G.s Darstellung der hermetischen Reli- logie demonstrieren. Zwar hat G. fUr seine
gion seiner Jugendzeit im Achten Buch von beiden frühen Prometheus-Dichtungen dies-
Dichtung und Wahrheit hat Rolf Christian sei ben Quellen verwendet, doch macht er von
Zimmermann aus diesem interpretatorischen diesen Quellen nicht nur einen unterschiedli-
Ansatz auch eine entstehungsgeschichtliche chen Gebrauch - so ist, wie Ulrich Gaier ge-
Hypothese gewonnen. Demnach sind beide zeigt hat, der Lukian-Bezug für die Hymne
Gedichte aus dem dramatischen Fragment sehr viel bestimmender -, vielmehr weist er
Prometheus hervorgangen, dessen polarer der Mythologie selbst in bei den Texten einen
Rhythmus in seine komplementären Momente unterschiedlichen Status und eine unter-
auseinandergetreten sei, um in der Prome- schiedliche Funktion zu. Der Dramen-Prome-
theus-Hymne als >Verselbstungs<-Puls, in Ga- theus agiert als Menschenbildner und Kultur-
nymed dagegen als >Entselbstigungs<-Puls schöpfer in einem Geschehen, dessen Statio-
(vgl. FA I, 14, S. 385) festgehalten zu werden. nen und Schauplätze der Mythologie nachge-
Die Problematik dieser Interpretationen liegt bildet sind. Der Sprecher der Hymne dagegen
nicht schon darin, daß sie auf G.s Selbstaus- steht sowohl innerhalb wie außerhalb seiner
legung fixiert bleiben, sondern daß sie in die- eigenen mythologischen Geschichte: er bleibt
Prometheus 111

ihr durch seinen Namen verbunden, aber er und ihre Konsequenzen in Form einer frei-
löst sich zugleich von ihr, indem er ihr inter- rhythmischen Rede, die die traditionelle hym-
pretierend gegenübertritt (vgl. Wellbery). nische Struktur der Anrufung der Gottheit be-
Diese hermeneutische Distanz wird in dop- wahrt, ihre Intention aber verkehrt. Weder er-
pelter Weise markiert: negativ dadurch, daß bittet sein Sprecher etwas von »Zeus« und den
Ort und Zeit seiner Rede gänzlich unbestimmt »Göttern«, noch will er überhaupt von ihnen
bleiben, sich mithin auch keiner Station seines erhört werden. Er macht ihnen vielmehr den
mythologischen Schicksals mehr zuordnen Prozeß und überführt sie ihrer Nichtigkeit.
lassen; positiv durch die Art und Weise, wie Die freien Rhythmen der Hymne - sie sind oft
das Gedicht den Mythos zitiert und in dieser gerühmt, aber noch nie eingehend analysiert
Zitation 'ins Humane umfunktioniert<. Der worden - sind dabei nichts weniger als spon-
Menschenbildner, als der sich Prometheus in tane emotive Ausdruckscharaktere. Ihre Funk-
der Schlußstrophe zu erkennen gibt: »Hier sitz tion ist vielmehr eine rhetorische in doppel-
ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde« tem Sinn: Einerseits simulieren sie im Me-
ry 52f.), ist nicht das »einzige mythologisch dium der Schriftlichkeit eine mündliche Rede,
identifizierbare Element des ganzen Gedich- andererseits verstärken oder tragen sie die Fi-
tes« (Weimar, S.92), vielmehr greift dieses gurationen des Gedichts. So ist etwa die
auch die im Dramenfragment ausgeblendeten schneidende Ironie am Anfang der zweiten
Kembestände des Mythos auf. Nur greift es sie Strophe: »ICh kenne nichts ärmers / Unter der
nicht als narrative Sequenzen auf, sondern Sonn als euch GÖtter« ry 13f.), wesentlich ein
verwebt sie in die Rhetorik der promethei- Effekt der rhythmischen Zäsur zwischen der
schen Selbstbehauptung (vgl. Reinhardt, vorletzten und letzten betonten Silbe in Vers
S. 149, Meller sowie ausführlich Wellbery). So vierzehn.
ist zwar nicht von einem Feuerraub die Rede, In blasphemischer Umkehrung der traditio-
wohl aber von einem »Herd« ry 10) und einer nellen hymnischen Anrede an die Gottheit
»Glut« ry 11), die Prometheus so ursprünglich konstatieren die beiden ersten Strophen die
zu eigen sind wie sein »heilig glühend Herz« Ohnmacht des »Zeus« und die Abhängigkeit
ry 34). In ähnlicher Weise spricht das Gedicht der »Götter«. Die imperativische Apostrophe,
zwar nicht von einem Opferbetrug an Zeus, mit der das Gedicht einsetzt: »Bedecke deinen
wohl aber von den »Opfersteuern« ry 16), die Himmel Zeus / Mit Wolkendunst« ry 1 f.), zi-
die »Kinder und Bettler« ry 20) den »Göttern« tiert die Bildtradition des »jupiter tonans«, des
ry 14) entrichten, und davon, daß Prometheus zornigen Donnerers und Blitzeschleuderers,
selbst »betrogen« cv.36) wurde, indem er Zeus dessen erhabene Gestalt in den folgenden Ver-
»Rettungsdank« ry 36) erstattete. Schließlich sen ironisch depotenziert wird: Mag Zeus
erzählt es auch nicht, daß Prometheus zur sich, »Knabengleich / Der Disteln köpft«
Strafe für seinen Ungehorsam an einen Felsen ry 3f.), an »Eichen« und »Bergeshöhn« ry 5)
im Kaukasus »angeschmiedet« wurde - David versuchen, der Raum der prometheischen Exi-
E. Wellbery verweist darauf, daß Benjamin stenz bleibt seiner Macht entzogen: »Mußt mir
Hederich in dem von G. konsultierten Prome- meine Erde / Doch lassen stehn, / Und meine
theus-Artikel seines Gründlichen Mythologi- Hütte / Die du nicht gebaut, / Und meinen
schen Lexikons genau diese Vokabel verwen- Herd / Um dessen Glut / Du mich beneidest«
det -, wohl aber heißt es, daß ihn die »Zeit« ry 6-12). Während sich der Prometheus des
ry 44) und das »Schicksal« ry 45) »zum Manne Dramenfragments mit der Forderung nach de-
geschmiedet« ry 43) hätten. finitiver Scheidung von »mein« und »dein« be-
Fundiert und legitimiert werden diese figu- gnügt (vgl. JG Fischer-Lamberg 3, S.325,
rativen Umdeutungen durch die promethei- V. 74), bedeutet die Opposition von »deinen
sche Einsicht in die menschliche Genese nicht Himmel« und »meine Erde« in dem Gedicht
nur seines Mythos, sondern der Götter über- nur eine vorläufige Positionsbestimmung. In
haupt. Das Gedicht entfaltet diese Einsicht Bewegung gerät diese schon durch den Ver-
112 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

gleich mit dem distelköpfenden Knaben - ein Götter ins Dasein rufen, indem sie in ihren
Bild, das G. aus Macphersons Ossian über- »Schmerzen« 01. 39) und »Tränen« 01. 41) nach
nommen haben dürfte. »Knabengleich« näm- einem antwortenden Gegenüber suchen. »Da
lich ist nicht nur der Gewittergott in der Ohn- ich ein Kind war / Nicht wußt wo aus wo ein /
macht seiner Aggression, »knabengleich« ist Kehrt mein verirrtes Aug / Zur Sonne als wenn
vielmehr das Bild des Gewittergottes selbst als drüber wär / Ein Ohr zu hören meine Klage /
»metaphorische Projektion eines kindlichen Ein Herz wie meins / Sich des Bedrängten zu
Bewußtseins« (Wellbery, S. 297), das den Na- erbarmen« 01. 22-28). Während der Konjunk-
turgewalten personale Agenten unterlegt. Das tiv (»als wenn [ ... ] wär«) die kindliche Erwar-
aber bedeutet, daß auch der Himmel, insofern tung als Illusion entlarvt, läßt der biblische
er sich mit Göttern bevölkert, einen Teil der Ausdruck (»erbarmen«) keinen Zweifel, daß
menschlichen Welt darstellt. die Desillusionierung auch dem Gott des Chri-
Die zweite Strophe zieht aus dieser Einsicht stentums gilt, dessen Züge sich mit denen der
zunächst die topographische Konsequenz, in- antiken Götter überlagern.
dem sie die nunmehr im Plural apostrophier- Diese Desillusionierung ist das Ferment ei-
ten »Götter« 01. 14) nicht - wie Prometheus in nes Erfahrungs- und Erkenntnisprozesses,
seiner Kindheit - 'über< (vgl. V. 25), sondern dessen Ergebnis das Gedicht in seiner vierten
»unter der Sonn« 01. 14) lokalisiert. Zugleich und fünften Strophe in Form von zwei rhetori-
führt diese Strophe den im Knabengleichnis schen Fragen verkündet: »Hast du's nicht alles
implizit thematisierten Mechanismus der me- selbst vollendet / Heilig glühend Herz«
taphorischen Projektion explizit auf seine so- 01. 33f.) und: »Hat nicht mich zum Manne ge-
zialen und psychischen Ursachen zurück. Was schmiedet / Die allmächtige Zeit / Und das
die Götter ins Dasein ruft und ihre vermeint- ewige Schicksal« 01. 43ff.). Die Affirmationen,
liche »Majestät« 01. 18) »kümmerlich [nähret; die diese beiden Fragen erzwingen (vgl. Well-
d. Vf.]« 01. 15), sind Furcht, Mangel, Unkennt- bery, S.321), widersprechen einander nicht,
nis und Hoffnung. Sie sind Geschöpfe der vielmehr ist die zweite die Voraussetzung der
Schwächsten und Ärmsten, der »Kinder und ersten: Ohne die Anerkennung der Realitäts-
Bettler« 01. 20f.). Wie am entschiedensten prinzipien von »Zeit« und »Schicksal« wäre die
Rasch und Wellbery betonen, bezeugt das Ge- prometheische Autonomieerklärung nur eine
dicht mit dieser radikal aufklärerischen Statu- neuerliche Illusion. Die Apostrophierung des
ierung göttlicher Heteronomie seine Zugehö- »heilig glühend Herz«, in der diese Erklärung
rigkeit zu jenem mythen- und religionskriti- ihre poetische Gestalt findet, ist das figurative
schen Diskurs von »Voltaire, Hume, la Mettrie, Zentrum des Gedichts. Sie bezeichnet das Te-
Helvetius, Rousseau und ihrer ganzen Schule« los der konzentrierenden Bewegung, die ihr in
(WA 1,37, S. 257), auf die sich der junge G. in der ersten Strophe auch paronomastisch vor-
seinen anonymen Artikeln fUr die Franlifurter arbeitet (»Erde«, »Herd«, »Glut«, »glühend
Gelehrten Anzeigen explizit beruft. Herz«; vgl. Wellbery, S.294) und schon hier
Die dritte, durch den Tempuswechsel zum auf jene »Glut« enggefUhrt wird, die mitsamt
Präteritum von den einleitenden Apostrophen ihren morphologischen Varianten ein Lieb-
deutlich abgesetzte Strophe eröffnet den Mit- lingswort des jungen G. war. Die zunächst rät-
telteil der Hymne, in dem Prometheus seine selhafte Behauptung, daß Zeus auf die prome-
eigene Geschichte - die Geschichte seiner theische »Glut« neidisch sei (vgl. V. 12), findet
Kindheit, Reifung (vgl. V. 51) und Mannwer- ihr Komplement und ihre Begründung in der
dung (vgl. V. 43) - in einigen wenigen, stark Heiligsprechung des Herzens. Denn was dem
typisierten Zügen als exemplarische Ge- Gott als Geschöpf der menschlichen Phantasie
schichte menschlicher Emanzipation erzählt. fehlt, ist eben das, was das »glühend Herz«
Auch er gehörte einmal zu den Bedürftigen, zu »heilig« macht: die schöpferische Potenz.
den »Beladenen« 01. 40) und »Geängsteten« Mit welcher Konsequenz das Gedicht die
01. 42), die die anthropomorphe Gestalt der traditionellen Attribute des Göttlichen auf den
Prometheus 113

Menschen überträgt, zeigt schließlich auch der difikationen, aus dem Dramenfragment Pro-
Wechsel der Apostrophe (»Hast du's nicht alles metheus übernommen. Zum einen tritt an die
selbst vollendet«; V. 33). Weil die Anrufung der Stelle der Anrede an Zeus, mit der sie im
Gottheit zu den konstitutiven Merkmalen der Drama beginnen (»Sieh nieder Zevs / Auf
Gattung der Hymne gehört, findet die Rede meine Welt sie lebt«; JG Fischer-Lamberg 3,
des Prometheus in dem »heilig glühend Herz« S.330, V. 241-242), die deiktische Selbstsitu-
(vorübergehend) ihren neuen Adressaten. Die ierung (»Hier sitz ich«) des Sprechers. Daß
konzentrische Bewegung, die auf diesen neuen dieser seine schöpferische Selbstermächti-
Adressaten zuführt, liest Wellbery (S. 294) als gung >sitzend< verkündet, orientiert sich wohl
gezielte Aufhebung der mythologisch behaup- an einer Tradition bildlicher Prometheus-Dar-
teten Exterritorialität oder Exzentrität des stellungen, wie sie G. etwa aus einem bei sei-
Feuers, das der Prometheus des Gedichts als nem Gewährsmann Hederich beschriebenen
das >ergreift<, was es immer schon gewesen Basreflief Montfaucons bekannt war. Zugleich
ist: der energetische Nucleus seiner eigenen fügt sich das >Sitzen< in jene Strategie der
Subjektivität. Ergänzt man diese Interpreta- ironischen Umkehrung ein, die das Gedicht als
tion durch den Hinweis auf die zeitgenössische Depotenzierung der oberen und Erhöhung der
Poetik, in der sich die Attribute der »Hitze« unteren Welt schon in seinen beiden ersten
und des »Feuers« geradezu topisch mit der Strophen verfolgt. Die zweite wichtige Modifi-
Gattung der Ode (bzw. Hymne) verbinden, so kation ist der Tempuswechsel vom Perfekt des
könnte man auch sagen: Was der Sprecher in Dramas (»Ich habe [ ... ] geformt«; JG Fischer-
einem befreienden Akt der Aufhebung mytho- Lamberg 3, S. 331, V. 242) zum durativen Prä-
logischer Exzentrität als eigene schöpferische sens des »Ich forme«. In diesem Wechsel
Kraft ergreift, ist die affektive »Glut« der poe- schlägt sich grammatisch nieder, was man als
tischen Sprache, die im buchstäblichen Sinn Metaphorisierung oder Denaturalisierung des
auch im >Herzen< dieser Hymne brennt. Denn prometheischen Mythologems der Menschen-
die Apostrophe an das »heilig glühend Herz« schöpfung bezeichnen könnte. Das Dramen-
erfolgt in den beiden mittleren Versen der fragment legt diese Schöpfung noch durchaus
mittleren Strophe und steht damit im kompo- wörtlich und naturalistisch aus. Entsprechend
sitorischen Zentrum des gesamten Gedichts läßt es Prometheus im ersten Akt als Bildhauer
(vgl. Sorg, S. 64). in einem Hain von Statuen auftreten, deren
Die beiden Schlußstrophen (Str. 6 u. 7) kon- Animation die menschliche Gattung ins Leben
trastieren zwei mögliche Konsequenzen jener ruft. Der Prometheus der Hymne dagegen
ebenso sclunerzhaften wie befreienden Des- spricht aus einer Welt heraus, in der die
illusionierung, die das Ferment der mensch- Menschheit - z.B. in Gestalt der »Kinder und
lichen Emanzipation darstellt: Flucht in die Bettler« der zweiten Strophe - schon längst
Krankheit der Melancholie und schöpferische existiert. Die Produktivität, die er für sich be-
Tätigkeit. Während die erste als Versuchung ansprucht, ist weder im engeren Sinne bild-
der Vergangenheit erinnert wird - »Wähntest nerisch oder plastisch zu verstehen, noch er-
etwa / Ich sollt das Leben hassen / In Wüsten schöpft sie sich in einem einmaligen Akt (»ich
fliehn, / Weil nicht alle Knabenmorgen / Blü- habe geformt«), vielmehr bezeichnet sie einen
tenträume reiften« (Y. 47-51) -, führt die tri- Prozeß (»ich forme«) künstlerischer oder kul-
umphale Proklamation der zweiten in die Ge- tureller Hervorbringung.
genwart des Sprechers zurück und öffnet sie Was in diesem Prozeß geschaffen wird, ist
auf die Zukunft: »Hier sitz ich, forme Men- nicht die Menschheit im biologischen Sinne,
schen / Nach meinem Bilde / Ein Geschlecht sondern das Menschen-»Geschlecht« als
das mir gleich sei / Zu leiden, weinen / Genie- emanzipiertes Subjekt seiner eigenen Ge-
ßen und zu freuen sich / Und dein nicht zu schichte, ein »Geschlecht« eben »nach meinem
achten / Wie ich!« (Y. 52-58). Diese Schluß- Bilde« - und das kann nur heißen: nach dem
verse der Hymne sind, mit zwei wichtigen Mo- Bild, das Prometheus in dem Gedicht von sich
114 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

selbst entwirft. In der auf Oskar Walzel zu- währleistet werde. Einen überzeugenden Aus-
rückgehenden Deutungstradition, welche die weg aus dieser einigermaßen absurden Kon-
Hymne vor allem als Künstler-Gedicht ver- sequenz bietet die Lektüre Wellberys, der, was
steht, als Autonomieerklärung des ästheti- Gaier als »mythologische Lügen« (ebd.,
schen »Genies«, ist die Schlußstrophe immer S. 149) bezeichnet, als hermeneutische Opera-
wieder als Selbstvergötterung des Künstlers tionen begreift, in denen Prometheus »die
gelesen worden, der sich an die Stelle des wahre Bedeutung seiner eigenen Geschichte«
biblischen Schöpfers setzt. Ihre blasphemische (Wellbery, S. 295) ans Licht bringt.
Zuspitzung gewinnt diese Selbstvergötterung Schwerer flillt es, Wellbery darin zu folgen,
allerdings erst daraus, daß sie.die Gotteseben- daß die apostrophische Form eine »Parodie«
bildlichkeit (Schmidt, S.267), ja mehr: jede (ebd., S. 295 u. S. 327) und, entsprechend, der
Abbildlichkeit des Menschen (Wellbery, Konflikt zwischen kommunikativer Geste und
S. 322ff.) negiert. Nicht »Gott schuf den Men- Ausssage, zwischen der Anrufung der Götter
schen ihm zum Bilde« (1. Mose 1,27), viel- und der Negation ihrer Existenz, ein Schein-
mehr sind die Götter anthropomorphe Pro- konflikt sei. In anderer Perspektive nämlich
jektionen der menschlichen Phantasie. Vor al- ließe sich sagen, daß die prometheische An-
lem aber gilt: das »Geschlecht«, das Prome- rede der Götter die Form der Apostrophe nicht
theus 'nach seinem Bilde. formt, wird ihm parodiert, sondern buchstäblich erfüllt. Apo-
gerade darin »gleich« sein, daß es sich seine strophe heißt, wörtlich übersetzt, Abwendung.
eigenen, originären Züge verleiht. Sie bezeichnet in der Rhetorik diejenige Figur,
mit der sich der Redner von seinem Publikum
In den Schlußworten: »Und dein nicht zu ach- - in der Gerichtsrede etwa den Richtern -
ten / Wie ich!« bricht ein Konflikt auf, der erst abkehrt, um eine andere, reale oder fiktive,
in der neueren Forschung zum Thema wird, anwesende oder abwesende Instanz zu adres-
obwohl er für die gesamte Hymne konstitutiv sieren. Die Sprecherfigur von G.s Gedicht
ist. Gemeint ist der Konflikt zwischen ihrem wendet sich von den alten, mythologischen
propositionalen Gehalt und ihrer kommunika- Adressaten der Hymne ab, indem sie sich ei-
tiven Geste, zwischen dem, was sie sagt, und nem neuen Adressaten zukehrt (dem »heilig
dem, wie sie es sagt. Wie kann Prometheus glühend Herz«), zugleich jedoch thematisiert
von sich selbst behaupten, Zeus nicht zu be- sie ihre Abwendung (»dein nicht zu achten«),
achten, ihn zu ignorieren - es heißt ja: »dein indem sie sich an die fiktive Instanz der Götter
nicht zu achten« und nicht etwa: »dich nicht zu richtet. Das aber bedeutet, daß das Gedicht ein
achten« -, wo er doch in der ganzen Hymne auf doppeltes Dasein der Götter kennt, ein my-
ihn fixiert bleibt? Wie kann er, zugespitzter thologisches und ein poetisches. Beide sind in
gesagt, eine Instanz zum Adressaten seiner den figurativen und tropischen Operationen
Rede wählen, deren Existenz er leugnet? Für der Sprache fundiert, nur bleibt dieses meta-
Gaier liegt die einzige mögliche Antwort auf phorische Fundament im Mythos unbewußt.
diese Fragen darin, das Gedicht als »Selbst- Indem das Gedicht das Bewußtlose bewußt
vernichtung der Sprecherfigur« zu lesen macht, hebt es die mythologische Existenz der
(Gaier, S. 156). Indem Prometheus sich in Götter auf. Aber diese Aufhebung ist nicht nur
»Selbstwidersprüche« (ebd., S. 158) verstrickt eine Verabschiedung und Vernichtung, son-
und permanent »gegen seinen Mythos« (ebd.) dern zugleich eine Übersetzung ins Poetische.
redet - der ja z.B. von einer unbelangbaren Das Gedicht entlarvt den mythologischen Be-
»Hütte« ebenso wenig etwas weiß wie von ei- stand als metaphorische Projektion, aber es
ner heteronomen Götterwelt, einem 'neidi- setzt ihn zugleich neu, oder vielmehr: es ent-
schen. Zeus oder einem Anspruch der Men- larvt ihn, indem es ihn neu, nämlich als Be-
schen auf göttliches ,Erbarmen. -, entziehe er stand einer poetischen Sprache setzt. Wäre es
sich »die Grundlage seiner eigenen Existenz« anders, könnte die Sprecherfigur nicht Prome-
(ebd., S. 159), die nur durch den Mythos ge- theus heißen. Der Konflikt zwischen kommu-
Ganymed 115

nikativem Gestus und propositionalem Gehalt benen bei Goethe. In: Akten des 8. Internationalen
führt weder zur »Selbstvernichtung« dieser Fi- Germanistenkongresses in Tokio. Bd. 7. München
1991, S. 15-26. - Schmidt, Jochen: Die Geschichte
gur, noch hebt er sich als ein bloß scheinbarer
des Genie-Gedankens 1750-1945. Bd. 1: Von der
selber auf, vielmehr artikuliert sich in ihm ein Aufklärung bis zum Idealismus. Darmstadt 1985,
anderer, grundsätzlicher Konflikt, den die S. 196-309, bes. S. 254-269. - Sorg, Bernhard: Das
Hymne austrägt, indem sie die mythologische lyrische Ich. Untersuchungen zu deutschen Gedich-
Sprache in eine poetische transformiert. Ihre ten von Gryphius bis Benn. Tübingen 1984, S. 61-68.
singuläre Leistung besteht darin, daß sie diese - Thome, Horst: Tätigkeit und Reflexion in Goethes
Prometheus. Umrisse einer Interpretation. In: Rich-
Transformation nicht stillschweigend voll-
ter, Kar! (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Bd.
zieht, sondern die poetische Erbschaft der My- 2: Aufklärung und Sturm und Drang. Stuttgart 1983,
thologie erst im Durchgang durch eine radi- S. 427-435. - Trousson, Raymond: Le theme de Pro-
kale Kritik derselben antritt. methee dans la litterature europeenne. Genf 1964. -
Walzei, Oskar: Das Prometheussymbol von Shaftes-
bury bis Goethe. Leipzig 1910. - Weimar, Klaus:
Goethes Gedichte 1769-1775. Interpretationen zu
Literatur:
einem Anfang. Paderborn, München, Wien, Zürich
Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt/ 1982, S. 87-94. - Wellbery, David E.: The Specular
M. 1979. - Bollacher, Martin: Der junge Goethe und Moment. Goethe's Ear!y Lyric and the Beginnings of
Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in Romanticism. Stanford 1996, Hermeneutics and the
der Epoche des Sturm und Drang. Tübingen 1969. - Origin of Humanity, S.287-345. - Zimmermann,
Braemer, Edith: Goethes Prometheus und die Rolf Christian: Das Weltbild des jungen Goethe.
Grundpositionen des Sturm und Drang. Weimar Studien zur hermetischen Tradition des deutschen
1959, 31968. - Christ, Kurt: ,Der Kopf von Goethe, 18. Jahrhunderts. München 1969 und 1979, bes. Bd.
der Leib von Spinoza und die Füße von Lavater<. 2, S. 119-166.
Goethes Gedichte Das Göttliche und Prometheus im
Kontext ihrer Erstveröffentlichung durch Jacobi. In: Inka Mülder-Bach
GoetheJb. 109 (1992), S.11-21. - Conrady, Kar!
Otto: Goethe: Prometheus. In: Wiese, Benno von
(Hg.): Die deutsche Lyrik. Interpretationen. Düssel-
dorf 1957, S. 214-226. Wieder in: Große, Wilhelm
(Hg.): Zum jungen Goethe. Stuttgart 1982, S. 81-91.
- Eibl, Kar!: » ... Mehr als Prometheus ... «. Anmer-
kung zu Goethes »Baukunst«-Aufsatz. In: SchillerJb.
25 (1981), S. 238-248. - Gaier, Ulrich: Vom Mythos
zum Simulacrum. Goethes Prometheus-Ode. In: Ganymed
LenzJb. 1 (1991), S. 147-167. -Hederich, Benjamin:
Gründliches Mythologisches Lexikon. 0.0. 1724, 2.,
durchges., verm. und verb. Ausg. Leipzig 1770
(Nachdruck Darmstadt 1968). - Jacobi, Friedrich Das Gedicht, dessen Entstehung nicht gen au
Heinrich: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an datiert werden kann - anhand von Anklängen
den Herrn Moses Mendelssohn. In: ders.: Werke. an den Werther ist das Frühjahr 1774 anzu-
Hg. von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. Bd. nehmen, aber auch 1772 und 1777 sind mit
4.1. Leipzig 1812-1825 (Nachdruck Darmstadt guten Gründen genannt worden (Eibi,
1968), S. 1-253. - Meiler, Marius: Wo sitzt der Gott?
S. 928f.) -, liegt in einer ersten autorisierten
Zu Goethes Prometheus-Hymne. In: DVjs. 68 (1994),
Sonderheft, S. 189-196. - Pietzcker, Car!: Trauma, Fassung in der Ersten Weimarer Gedicht-
Wunsch und Abwehr. Psychoanalytische Studien zu sammlung von 1778 vor (Text in FA I, 1,
Goethe, Jean Paul, Brecht, zur Atomliteratur und zur S. 205). Auf sie bezieht sich die vorliegende
literarischen Form. Würzburg 1985, hier: Goethes Interpretation. Eine vermutlich frühere Hand-
Prometheus-Ode, S.9-64. - Rasch, Wolfdietrich: schrift (Kopie im G.-und-Schiller-Archiv; JG
Goethes Iphigenie auf Tauris als Drama der Auto-
Fischer-Lamberg 4, S. 50; MA 1.1, S. 255) hat
nomie. München 1979, Prometheus, S.55-71. -
Reinhardt, Hartrnut: Prometheus und die Folgen. In: Vers 6 »Wonne« statt »Wärme«, Vers 27 »In
GoetheJb. 108 (1991), S. 137-168. - Schings, Hans- deinem Schoose«, Vers 52 »Allfreundlicher Va-
Jürgen: Beobachtungen über das Gefühl des Erha- ter« sowie einige andere Zeilenabteilungen.
116 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

Der Erstdruck erfolgte im achten Band der (V. 3) angesprochen, spendet Licht und
Schriften von 1789; dort lautet Vers 1: »Mor- Wärme. Dem sehnsuchtsvollen Sprecher er-
genglanze« statt »Morgenrot«, Vers 20: »Ich scheint er als ein aktiv Werbender, der ihn »mit
komm', ich komme!«, Vers 30f. als ein Vers: tausendfacher Liebeswonne« (V. 4) zu berük-
»AufWärts an deinen Busen«. In der Sammlung ken trachtet und dessen »unendliche Schöne«
von 1815 steht das Gedicht mit den anderen (V. 8) in ihm den Wunsch weckt: »Daß ich dich
großen Hymnen des Sturm und Drang unter fassen möchtl In diesen Arm I«~ (V. 9 f.). Das
der Rubrik Vermischte Gedichte. Vertont wurde Wechselspiel von Liebesbekundung der früh-
es u.a. von Johann Friedrich Reichardt, Franz lingshaften Natur und Liebesbejahung des'
Schubert (Deutsch-Verzeichnis 544, op. 19, monologisierenden Ich prägt die Kommunika-
Nr. 3), earl Loewe und Hugo Wolf. tionsstruktur des gesamten Gedichts. Das An-
drängen des Frühlings, in drei größeren Grup-
Daß G. schon in der Ersten Weimarer Gedicht- pen zumeist zweihebiger Verse geschildert,
sammlung und danach in allen Werkausgaben wird in den beiden Verspaaren emphatisch er-
den Ganymed der Prometheus-Hymne folgen widert. Das neunzeilige Mittelstück (V. 11-19)
ließ, scheint die Annahme zu bestätigen, er verknüpft das intensive Begehren mit einzel-
habe in den bei den Gedichten die komple- nen Phänomenen der Natur (Blumen, Gras,
mentären Seiten seines damaligen »Weltbil- Morgenwind, Nachtigall), die das Verlangen
des« gestaltet (Zimmermann, S. 119f.). Da sich des nach Liebe Schmachtenden mit inniger
Ganymed Zeus zuwendet, unterscheidet er Zuneigung zu befriedigen suchen. Die daraus
sich grundlegend von Prometheus, der sich - resultierende Bereitschaft zur Vereinigung er-
in G.s Version - vom Göttervater absondert klärt jubelnd der erste Vers des zweiten Zwei-
und, trotzig auf seine eigene Schöpferkraft po- zeilers mit dem verdoppelten Ausruf: »Ich
chend, ein ihm gleichendes, von den Göttern komme! Ich komme I«~ (V. 20). Ihm schließt sich
unabhängiges Geschlecht bildet. Die gegen- allerdings gleich im zweiten die den Rhythmus
sätzlichen Haltungen erhebt G. bei seinen Aus- der Evokation aufgreifende Frage an: »Wohin?
führungen über die Bedeutung hermetischen Ach wohin?« Eine Antwort gibt die letzte Vers-
Gedankenguts in seiner Jugend am Ende des gruppe (V. 22-32). Der AufWärtsbewegung des
Achten Buches von Dichtung und Wahrheit zu emporstrebenden Ich korrespondieren die ab-
anthropologischen Kategorien: Wir Menschen wärtsschwebenden Wolken, und diesem ver-
vermögen »die Absichten der Gottheit dadurch tikalen Verlauf wiederum entspricht die hori-
zu erfüllen, daß wir, indem wir von einer Seite zontale Verschmelzung von Annahme und Hin-
uns zu verselbsten genötiget sind, von der an- gabe, wie sie die Kombination der Partizipien
dem in regelmäßigen Pulsen uns zu entselbsti- (»umfangend umfangen!«; V. 29) als vollkom-
gen nicht versäumen« (FA I, 14, S. 385). Der mener Ausdruck einer Einheit von actio und
Systole entspricht das egozentrische Verhalten passio beschreibt. Mit dem Schlußvers wird
des Titanen, der sich auf sich selbst konzen- der »alliebende Vater« als endgültiges, durch
triert, hingegen ist mit der Diastole die Hin- das anaphorische »AufWärts!« (V. 28 u. V. 30)
gabe Ganymeds gleichzusetzen, der, sich »ent- beschworene Ziel allen Sehnens apostro-
selbstigend«, in der Natur aufgeht. phiert.

Das Gedicht selbst hebt mit der begeisterten Die ekstatische Darstellung der Natur als eines
Invokation des Frühlings an und wird so in die Liebespartners kennzeichnen Wörter und
Tradition des Päans, des am Frühlingsanfang Wendungen, die auch sonst für G.s Jugend-
zu Ehren Apolls gesungenen Hymnus, gerückt. dichtung bedeutsam sind. Schon das erste Prä-
Der Frühling, vom entzückten Ich in zwei er- dikat, das durch das Präfix »an-« transitiv wird
regten Ausrufesätzen, die sich über drei und damit dem Sprecher gestattet, sich als
(V. 1-3) und fünf (V. 4-8) reimlose Verse ohne tatsächliches Objekt des Begehrens (»mich«)
festes Metrum erstrecken, als »Geliebter« zu präsentieren, verleiht der Personifikation
Ganymed 117

des Friihlings unerhörte Dynamik; sie durch- gesetzt. Dem Ganymed G.s offenbart sich der
zieht einen lückenlosen Erlebnisraum, wie ihn Gott vielmehr in der Schönheit der Natur, und
die adverbiale Bestimmung »rings« cv. 2) sug- indem sie ihn liebend umwirbt, steigert sich
geriert. Das Verbum »anglühen« cv. 2) führt sein Begehren nach Hinwendung zum gött-
zudem nicht nur das Eingangsbild vom »Mor- lichen Vater. In dem Maße, wie die herrliche
genrot« cv. 1) fort und verweist auf die innigste Natur mit dem höchsten Gott zusammenfällt,
menschliche Empfindung, die - wie im Prome- nimmt der Sprecher des lyrischen Monologs
theus (»Heilig glühend Herz«; V. 34) - religiös- die mythologische Rolle an, ja er überbietet sie
sakral übehöht wird: Vom »heilig Gefühl« ei- sogar. Denn G.s Ganymed gelangt zu Zeus aus
ner »ewigen Wärme« glaubt sich das Ich in freien Stücken; emporgetragen im weichen
Ganymed durchströmt cv. 6f.). Dem damit zu- Schoß der Wolken, sieht er seinen eigenen
gleich eröffneten Bereich der Thermik, der Wunsch, den die Frühlingspracht auslöste, er-
ebenfalls in einigen Künstlergedichten (z.B. füllt.
Künstlers Morgenlied, 1773; Der Kenner, 1774; Die enthusiastische Feier der Natur erfor-
An Kenner und Liebhaber, 1774) anzutreffen dert freilich poetische Arbeit, wie im übrigen
ist, lassen sich ferner die Wörter »kühlen« und auch die Vision der Vereinigung des einzelnen
»brennen« cv.15) zurechnen. Kühlung bietet mit dem All, »des Ich mit der Gottheit« (Rasch,
der Morgenwind, und da sich »drein« cv.18) S. 34), persönlichen Erlebnissen der Trennung
die Nachtigall mit ihren Liebestönen verneh- und Enttäuschung abgerungen ist. Zwar ent-
men läßt, wird die Natur synästhetisch erfah- zieht G. seine Verse metrischen Zwängen, die
ren. Ihre sinnliche Präsenz erinnert an den dem Eindruck spontaner Gefühlsäußerung zu-
Anfang 1774 verfaßten Brief vom 10. Mai aus widerlaufen würden. Aber er gliedert die Mit-
den Leiden des jungen Werthers. Auch Werther teilung seines Textes nach Versgruppen, er-
genießt »den süßen Friihlingsmorgen« - »im zeugt Emotionen durch wirksame rhetorische
hohen Grase am fallenden Bache liege [nd]« Figuren und fangt den Schwung der Emphase
(FAI, 8, S. 14). In der erotisch-personifizie- im Rhythmus der Worte auf. Paradoxerweise
renden Metaphorik des Gedichtes ist vom wird gerade durch die kalkulierte Verwendung
Schmachten an des Friihlings Busen die Rede, solcher sprachlich-poetischen Mittel die un-
das für das Ich in Ganymed dann befriedigt mittelbare Begeisterung des Sprechers im Ge-
wird, wenn es mit dem in der friihen Hand- dicht vermittelbar; das mußte damals als
schrift als »allfreundlich«, danach mit dem ebenso neuartig gelten wie die strikte Paral-
Werther-Begriff »alliebend« prädizierten Vater lelisierung von Naturerlebnis und Liebesbe-
vereint ist, der keineswegs mit dem monothei- gegnung, wodurch »die Gottheit« sinnlich er-
stischen Schöpfergott identisch ist. In seiner fahren wird.
Anrufung sind die vorausgehenden Apostro- Das Gedicht, von Klaus Weimar als »die
phen des Friihlings und des Morgenwinds auf- Summe der bisherigen Goetheschen Ge-
gehoben; er verkörpert mit seiner alles umfas- dichte« und »reinstes lyrisches Gebilde« apo-
senden Liebe pantheistisch die ganze Natur. strophiert (S.91), ist in der Literaturwissen-
Eine andere Identifikation, die nämlich mit schaft häufig interpretiert worden. Die vor-
Zeus, dem Göttervater, legt der Titel des Ge- herrschende Lesart sieht in ihm ein Dokument
dichts nahe. Wie das von G. benutzte Gründ- des pantheistischen Naturenthusiasmus des
liche mythologische Lexikon von Benjamin jungen G., wobei die Verschmelzung des Ich
Hederich (2. Auflage, 1770) berichtet, wird mit der Natur als »ein religiöses Ereignis«
der Königssohn Ganymed wegen seiner außer- (Conrady, S. 232) oder gar als »die ekstatische
ordentlichen Schönheit vom Adler des Zeus Selbstverwandlung, die Selbstvergötterung«
oder von Zeus in der Gestalt eines Adlers in (Weimar, S.99) gedeutet wird. Am reinsten
den Olymp entführt, wo er den Göttern als hat diese communis opinio, welche die drei
Mundschenk aufwartet. Keiner dieser mytho- Grundmotive des Textes, Naturerfahrung,
logischen Bezüge wird im Gedicht explizit um- Selbsterfahrung und deren mythische Spiege-
118 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

lung resümiert, Wolfdietrich Rasch in seinem gekennzeichnet ist und die vor allem in den
1954 publizierten Aufsatz formuliert: »Die Leiden des jungen Werthers ihren Niederschlag
Goethesche Erfahrung des Angerufenwerdens gefunden hat.
von Gott durch die ,Stimme< der Natur, das
Erlebnis ekstatischer Vereinigung mit der
Gottheit mischt sich untrennbar mit dem Ge- Literatur:
fühl, ein anderer Ganymed zu sein« (Rasch, Conrady, Kar! Ouo: Goethe: Ganymed. In: Wiese,
S. 40; vgl. Trunz, S. 437f.). Benno von (Hg.): Die deutsche Lyrik. Fonn und
Auch der durch die Anordnung in den Druk- Geschichte. Bd. 1. Düsseldorf 1956, S.227-234. -
ken nahegelegte Bezug des Gedichts auf die Eibl, Komm. in FA I, 1, S.928f. - GUNDOLF,
Prometheus-Hymne ist immer wieder zur S. 113-123. - Kaiser, Gerhard: Geschichte der deut-
schen Lyrik von Goethe bis Heine. Frankfurt/
Grundlage der Interpretation gemacht wor-
M. 1988, S. 325-328. - Keller, Werner: Goethes Ga-
den, so schon nachdrücklich von Friedrich nymed. Mythisches Modell und odische Metamor-
Gundolf, der den Prometheus als Ausdruck des phose. In: Polheim, Kar! Kurt (Hg.): Sinn und Sym-
»Gefühls eines schöpferischen und führerhaf- bol. Fs. Josef Strelka. Bern 1987, S.67-85. -
ten Wesens« interpretiert, während er im Ga- Lugowski, Clemens: Goethe: Ganymed. In: Burger,
nymed »die Expansion dieser schöpferischen Heinz OUo (Hg.): Gedicht und Gedanke. Auslegun-
gen deutscher Gedichte. Halle 1942, S. 102-118. -
Fülle in das All« diagnostiziert (S. 118). Rolf
Müller, Joachim: Goethes Hymnen Prometheus und
Christian Zimmermann hat diesen Zusam- Ganymed. In: Sinn und Fonn. 11 (1959), S. 872-889.
menhang zur Begründung seiner Hypothese - Rasch, Wolfdietrich: Ganymed. Über das mythi-
herangezogen, der Ganymed gehöre ursprüng- sche Symbol in der Dichtung der Goethezeit. In:
lich in den Kontext des Prometheus-Frag- ww. 2. Sonderheft (1954), S.34-44. - Stolberg,
ments, sei »ein Bühnen-Monolog gewesen«, Friedrich Leopold Graf zu: Über die Fülle des Her-
mit dem Pandora den dritten Akt des Dramas zens (1777). In: Stunn und Drang. Kritische Schrif-
ten. Plan und Auswahl von Erich Loewenthal. Hei-
eröffnet habe (S. 160). delberg 31972, S.792. - Trunz, Komm. in HA 1,
Gegen eine allzu schnelle Vereinnahmung S.437f. - Weimar, Klaus: Goethes Gedichte
des Textes als Dokument einer triumphalen 1769-1775. Interpretationen zu einem Anfang. Pa-
Naturreligion hat Clemens Lugowski schon derborn u.a. 1982, S. 95-101. - Zimmennann, Rolf
1942 auf der Erfahrung des Fremden bestan- Christian: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien
den, die die Natur in diesem Gedicht als das zur hennetischen Tradition des deutschen 18. Jahr-
hunderts. Bd. 2. München 1979, S. 119-166.
Unverftigbare erscheinen läßt: »Es ist wichtig,
in allem Seligkeitsschauer zugleich das Rätsel- RudoifDruxlRedaktion
hafte, Unheimliche, Übermenschliche zu spü-
ren, das dieser Frühling im Morgenrot aus-
strahlt« (S. 110). In jüngerer Zeit hat Gerhard
Kaiser diese Überlegungen weitergeführt und
das Gedicht geradezu als Zeugnis für die »La-
bilität« des neuzeitlichen Individuums gele-
sen: »Das Ich gerät in die Krise, da gerade in
An Schwager Kronos
der größten Nähe zu den einzelnen Frühlings-
erscheinungen das Ganze, zu dem die
schmachtende Sehnsucht hin will, sich ent- Der Text des Gedichts ist in seiner frühesten
zieht. [ ... ] Das modeme Ich, das sich in seiner Fassung in der Ersten Weimarer Gedicht-
Besonderheit gründet und erfahrt, ist eben da- sammlung von 1778 überliefert. Auf sie, die
durch auch aufs äußerste gefahrdet« (S. 327f.). noch alle sprachlichen Kühnheiten der
Diese Lesart, die Brüche und Diskontinuitäten G.schen Sturm und Drang-Hymnen bewahrt,
des Textes nicht übergeht, macht in ihm die bezieht sich die vorliegende Interpretation
Ambivalenz sichtbar, von der die Naturerfah- (Text in FA I, 1, S. 20 Hf.). In sprachlich abge-
rung G.s in der Periode des Sturm und Drang milderter und geglätteter Form wurde das Ge-
An Schwager Kronos 119

dicht zum ersten Mal im achten Band der werden in einer die grammatischen Regeln
Schriften von 1789 veröffentlicht (Text in FA I, sprengenden Syntax komprimiert: So bündelt
1, S. 324ff.). In der Sammlung von 1815 steht das Prädikat »zögern« (Y. 4) durch seinen tran-
es unter der Rubrik Vennischte Gedichte zwi- sitiven Gebrauch die Energie von zwei Verben,
schen Harzreise im Winter und Wandrers die als Objekt (»Ekles Schwindeln«; V. 4) und
Stunnlied. Die gemäßigtere Druckfassung Subjekt (»dein Haudern« = langsames Fahren;
liegt Franz Schuberts Vertonung von 1816 V. 5) fungieren, und das attributive Partizip
(Deutsch-Verzeichnis 369; op. 19, Nr.1) zu- »holpernden« (Y. 6) wird von seinem Bezugs-
grunde, in der die vorwärts drängende Hast wort »Trott« (Y. 7) durch die Gegenstände
des Reisenden musikalisch akzentuiert wird. (»Stock, Wurzeln, Steine«; V. 7) gesperrt, die
Der genauen Datumsangabe des Untertitels eben dieses Holpern verursachen.
in der Ersten Weimarer Gedichtsammlung zu- Die Mühsal des Anstiegs lassen Laute und
folge ist das Gedicht »in der Postchaise d 10 Rhythmus der zweiten Strophe erkennen. Daß
Oktbr 1774« entstanden (FAI, 1, S.201). G. sich der Schritt der Pferde, die ins Atmen kom-
befand sich, nachdem er seinen Gast Friedrich men (ingressiv: »eratmen«; V. 10), verlang-
Gottlieb Klopstock ein Stück auf dem Weg samt, verlangt erneuten Ansporn: »Auf denn!
nach Karlsruhe begleitet hatte, auf der Rück- nicht träge denn!« (Y. 12). Die Rastlosigkeit
fahrt nach Frankfurt. Die reale Reise in der des »strebend und hoffend« (Y. 13) Vorwärts-
Postkutsche wird zur sinnbildlichen Fahrt drängenden wird zwischenzeitlich beruhigt,
durch das Leben. Diesen Doppelsinn zeigt be- wenn der Gipfel erreicht ist. Wiederum über-
reits die Überschrift an. Der Kutscher, um- lagern sich die bei den Bedeutungsbereiche :
gangssprachlich mit »Schwager« angespro- Ungehindert kann der Blick über die Berge
chen, erscheint als Gott der Zeit und ver- schweifen, zugleich geht er »rings ins Leben
schmilzt gemäß damaliger mythographischer hinein« (Y. 15). »Weit hoch herrlich« (Y. 14) -
Gepflogenheit (v gl. Benjamin Hederichs Arti- die asyndetische Adjektivreihe mit drei ge-
kel über »Saturnus«) mit dem Vater des Zeus, wichtigen Hebungen markiert die Bedingun-
dem kinderverschlingenden Kronos: Katego- gen, unter denen sich »der ewige Geist« (Y. 17)
rien wie die Zeit oder das »ewige Schicksal« entfaltet. Frei von jeder räumlich-zeitlichen
(Prometheus; FA I, 1, S.204, V. 45) hat der Beschränkung, ennöglicht er die Ahnung
antike Mythos nicht selten als eherne Herrn »Ewigen Lebens« (Y. 18). Mit dem Blick in die
über Götter- und Menschengeschlechter mit Weite korrespondiert der nahe »Frischung ver-
den archaischen Gottheiten verbunden. heißende Blick / Auf der Schwelle des Mäd-
Von Ehrfurcht vor erhabenen Mächten ist gens da« (Y. 21 f.). Die erneute Sperrung - die
der Sprecher im Kutschwagen aber gewiß lokale Bestimmung drängt sich vor das Geni-
nicht erfüllt; vielmehr ist der Imperativ, mit tivattribut - schließt den Ort und das Subjekt
dem das Gedicht einsetzt, kennzeichnend für des sinnlichen Glücks als unauflösbare Einheit
seine selbstbewußt-herrische Attitüde: er be- zusammen. Auf dem Gipfelpunkt stellt sich so
fiehlt (Y. 1 und V. 37f.), treibt an (Y. 6, V. 12 u. mit dem Gefühl zeitaufhebender Unendlich-
V. 26), fragt nach (Y. 9), fordert auf (Y. 27 u. keit die berauschende Wirkung des natürlich-
V. 33). Wenn er sich der Zeit schon nicht ent- erotischen Kontaktes ein. Am »schäumenden
ziehen kann, will er wenigstens das Tempo Trunk« (Y. 24) erquicken sich beide, das Mäd-
bestimmen. Mit dem Befehl zur Beschleuni- chen wie der Reisende. Im Austausch der
gung »Spude dich Kronos« beginnt die erste Liebe wird die Zeit, die sich dem Blick in die
Strophe, und wohin sich die beschleunigte Ferne als ewig offenbarte, auf den Augenblick
Fahrt zu richten habe, venneldet ihr letzter erfüllten Glücks konzentriert.
Vers: »Rasch in's Leben hinein« (Y. 8). Die Derart gestärkt durch den Lebensmoment,
flüchtigen Eindrücke während der Kutsch- in dem Ewigkeit und Augenblicklichkeit zu-
fahrt, durch kurze Vokale, r-Liquide (Y. 2 u. sammenfällt, läßt sich die Talfahrt beschwing-
V. 6) und eingestreute Daktylen lautlich erfaßt, ter angehn: »Ab dann frischer hinab« (Y. 26).
120 Lyrik des Sturm und Drang. 1770~ 1775

Die versinkende Sonne verweist metaphorisch er das Gedicht in seinen Schriften erstmals
auf das Ende des irdischen Daseins: Mit bi- veröffentlichte, eliminiert, und entsprechend
zarren Bildern wird in einem großen Tempo- sind auch die syntaktischen 01. 6f.) und mor-
ralgefüge der Verfall des Körpers antizipiert phologischen 01. 17, V. 21 u. V. 26) Kühnheiten
01. 26~36). Bevor den Reisenden aber als Greis reduziert. Die letzten Verse lauten nun: »wir
die Vergänglichkeit ereilt, ersehnt er sich die kommen, / Daß gleich an der Türe / Der Wirt
Einfahrt in die Unterwelt. Sein Selbstwertge- uns freundlich empfange« (FA I, 1, S.326).
fühl, das er sich auf seiner Lebensfahrt erwor- Dieser stark abgemilderte Schluß hält jedoch,
ben hat, überdauert: Selbst im Tartarus noch indem er eine Analogie zur Bewirtung durch
erweisen ihm »die Gewaltigen« 01. 41) ihre das Mädchen in »des Überdachs Schatten« auf
Reverenz. dem Gipfel herstellt 01. 19ff.), jenen Augen-
Wie der selbstironische Ton der letzten blick fest, der die »freundliche« Aufnahme im
Strophe von Wandrers Sturmlied (FA I, 1, Hades gewährleistet.
S. 142~145) den hymnischen Aufschwung
bremst, so relativiert auch der Schluß der lyri-
schen Rede an Schwager Kronos mit der recht Literatur:
respektlosen Erwartung, daß »Drunten von ih- Anglet, Andreas: Der »ewige« Augenblick. Studien
ren Sitzen / Sich die Gewaltigen lüften« zur Struktur und Funktion eines Denkbildes bei
01. 40f.), die pathetische Vision eines »vom Goethe. Köln u.a. 1991, S. 24~27. ~ Artikel »Satur-
letzten Strahl« der Sonne »Trunknen« 01. 32). nus«. In: Benjamin Hederichs gründliches mytholo-
Eine andere Gemeinsamkeit mit wandrers gisches Lexicon. Leipzig 21770. ~ Lyon, Laurence
Gill: Goethes An Schwager Kronos und Schubart's
Sturmlied 01. 65) macht Klaus Weimar aus,
An Chronos. In: MLN.91 (1976), S. 524~530. ~
wenn er auf den »Fürstenblick« des Apoll hin- Pehnt, Wolfgang: Zeiter!ebnis und Zeitdeutung in
weist. Daß diesem die übrigen Götter ehr- Goethes Lyrik. Tübingen 1957, S. 44~56. ~ Polheim,
furchtsvoll huldigen, schildere der homeri- Kar! Konrad: Goethe: An Schwager Kronos. In: Fs.
sche Apollo-Hymnus: »Sie heben, wie du her- Julius Franz Schütz. Hg. von Berthold Sutter. Graz,
eintrittst / Von den Stühlen sich auf, den kom- Köln 1954, S. 119~124. ~ Weimar, Klaus: Goethes
Gedichte 1769~1775. Interpretationen zu einem An-
menden Sieger zu ehren« (G.s. Übersetzung
fang. Paderbom u.a. 1982, S. 102~1O8.
von 1795; FA 1,1, S.922). Die offenkundige
Parallele muß aber nicht bedeuten, daß sich RudolfDrux
der Reisende in der Postchaise »in Apollo ver-
wandelt« hat (Weimar, S. 106). Dem genialisch
das Leben im Zeitraffer Durchmessenden ge-
nügt eine letzte Begegnung mit Phoebus Apol-
lo ~ im Bild des Tagesablaufs mit der unter-
gehenden Sonne, deren Strahlen in ihm »ein
Feuermeer« 01. 33) entfachen~, um sich auch
Künstlers Morgenlied
nach dem Tode noch kraftvoll zu behaupten.
Als Eleve und Schützling des Künstlergottes
avanciert das sogar die Zeit dominierende G. las im Wetzlarer Sommer 1772 sehr intensiv
Kraftgenie zum Fürsten. Ihm, immerhin dem Homer, ein Brief Gottlieb Friedrich Ernst
Landesherrn im Zeitalter des Absolutismus, Schönborns vom 12.10. 1773 schildert den bil-
ist ebenbürtig, wer den erfüllten Augenblick in denden Künstler G. in einer den ersten Stro-
der Schau des Ewigen und dem Rausch der phen des Gedichts verwandten Atelierszene.
Liebe genossen hat. Den zugleich hochge- So ist zu vermuten, daß das Gedicht 1773 ent-
stimmten und ironisch gebrochenen An- standen ist. Der Erstdruck erfolgte drei Jahre
spruch, den der als Fürst in die Unterwelt später in Heinrich Leopold Wagners in Leipzig
Einziehende gegenüber den dort versammel- anonym erschienener Übersetzung von Louis-
ten Heroen und Potentaten erhebt, hat G., als Sebastien Merciers Neuem versuch über die
Künstlers Morgenlied 121

Kopfttudie (Bleistift)
122 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

Schauspielkunst. Aus dem Französischen. Mit der häufige Gebrauch von artikellosen Sub-
einem Anhang aus Goethes Briiftasche (1776). stantiven und knappe Fügungen wie »Andacht
Weitere Fassungen enthalten die Erste Wei- liturgscher Lecktion« und »liegen will ich
marer Gedichtsammlung (1778), die Schriften Mars zu dir«; stark emphatisch sind Wieder-
(1789) und die späteren Werkausgaben. G. holungen von »Todten« und »Todt« (Y. 23, 29,
glättete in den späteren Fassungen die Syntax 40,47,48) sowie viele Ellipsen (z.B. V. 79f.).
und den sperrigen Rhythmus (z.B. V. 23 u. Durch diese Eigentümlichkeiten gewinnt das
V. 33f.) und milderte die erotische Symbolik, Gedicht schon sprachlich eine deutliche Di-
indem er »geiles Schwänzchen« durch »rauhe stanz zu der geschmeidigeren und eleganteren
Brust« ersetzte. Diese Änderungen machten poetischen Sprache der Spätaufklärung und
das Gedicht sprachlich und z. T. auch inhaltlich des Rokoko in den Dichtungen Gotthold
»klassischer« und tilgten den ursprünglichen, Ephraim Lessings, Johann Wilhelm Ludwig
provozierenden Charakter weitgehend. Die Gleims und Christoph Martin Wielands sowie
erste Fassung bildet die Grundlage dieses Arti- zu G.s Leipziger Gedichten.
kels (Text in JG Fischer-Lamberg 3, S. 75-77). Der Aufbau des Rollengedichts ist klar und
Im Kontext seiner Erstveröffentlichung er- durchsichtig. Die Verse eins bis sechzehn prä-
hielt das Gedicht programmatischen Charak- zisieren und veranschaulichen, was im Titel
ter. Aus Goethes Briiftasche enthält nach einer steckt. Die Verse 17 bis 32 vermitteln den In-
Einleitung die kunsttheoretischen Aufsätze halt der »Lecktion im heiligen Homer«. Die
Nach Falkonet und über Falkonet und Dritte Verse 33 bis 48 schildern die ekstatische Iden-
Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775 so- tifikation des Künstlers mit den homerischen
wie die Gedichte Briif, Guter Rath auf ein Helden, die in den Versen 49f. von einem erin-
Reisbret auch wohl Schreibtisch, Kenner und nerten Aufwachen in den Armen der Geliebten
Künstler, Wahrhaftes Mährgen und Künstlers abgelöst wird. Die Verse 61 bis 80 drücken die
Morgenlied. Mit den kunsttheoretischen Sehnsucht des Künstlers nach der Geliebten
Schriften verbunden, thematisieren diese Ge- und den mannigfachen Formen einer künfti-
dichte den Unterschied zwischen Künstler- gen Liebe aus.
und Kennertum, d.h. in dieser Periode zwi- Das Morgenlied des bildenden Künstlers,
schen Schöpfertum, Leben und Liebe einer- der hier wie später in der klassischen Periode
seits und krittelnder blutloser Theorie ande- ein anschaulich dargestellter Inbegriff des
rerseits. Künstlertums ist, sakralisiert die unter der In-
Das einem bildenden Künstler in den Mund spiration der Musen geschaffenen eigenen
gelegte Rollengedicht zählt zwanzig vierzei- Kunstwerke (Y. 1), die schöpferische Kraft des
lige, reimlose Strophen mit abwechselnd vier Künstlers (Y. 4) und die lebendige, d.h. schaf-
und drei Hebungen (Chevy-Chase). Das Me- fende Natur (Y. 8). Die Metaphorik zehrt vom
trum steht in einer teilweise starken Spannung Alten Testament (etwa 2. Mose 33-34; 1. Kö-
zu Rhythmus und Normalbetonung, was der nige 6, 16) sowie auch von der griechischen
volkstümlichen Strophe zusätzlich einen ar- Mythologie, und während die Musen noch
chaisierenden Duktus verleiht. Dieser Charak- konventionell-allegorisch bzw. rhetorisch als
ter wiederholt sich teilweise in auffallenden gleichbedeutend mit Inspiration aufgefaßt
Stilzügen: präfixloses »kehren« statt »zurück- werden könnten, amalgamiert die vierte Stro-
kehren«, nachgestelltes Adjektiv - »Liebesgöt- phe Christliches und Antikes auf provozie-
tin starck« - sprachliche Formen wie »baut« rende Weise in dem Bild einer Homer-Litur-
statt »gebaut« und zahlreiche Elisionen. Zum gie. Diese synkretisierende Metaphorik ist für
gedrungenen Stil tragen auch alltagssprach- die unter dem Einfluß neuplatonischer Strö-
liche Formen wie »'rab« für »herab« bei. Dazu mungen, insbesondere Shaftesburys sich ent-
kommen andererseits dynamisierende Inno- wickelnde Genieästhetik, charakteristisch, in
vationen wie »sengte sie dahin«, »bet hinan«, welcher der Künstler an der universalen
»in Griffel schmachtete«; neuartig sind auch Schöpferkraft partizipiert.
Künstlers Morgenlied 123

Die Homer-Lektion verwandelt sich in eine himmlische Venus. Der Künstler setzt alle For-
Vision, die vor allem vom XVI. und XVII. Ge- men der Liebe in eins, resümiert sozusagen
sang der llias inspiriert ist (vgl. besonders zu die Vielfalt der Darstellungen des Weiblichen
Vers 28: XVI, V. 788ff., zu Vers 31: XVII, V. 120, in der bildenden Kunst und verwandelt ohne
zu Vers 45: XVII, V. 580 und XVIII, V. 20f., zu Übergang seine Madonna in eine Nymphe und
Vers 47: XVIII, V. 350). Der Künstler liest den sich selbst in einen geilen Faun. Die Sexualität
Bericht über den Kampf zwischen Patroklos erhält geradezu kosmische Dimensionen
und Hektor und setzt die Vision in ein Bild um durch die abgewandelte Mythe vom Ehebruch
(Y. 33-36); die Vertiefung in den Text geht in Aphrodites: Hephaistos fing seine Frau und
ein fast unbewußtes, traumhaftes Schaffen ihren Liebhaber Ares durch ein Netz im Bette
über, das den Künstler an der Schlacht aktiv und rief die anderen Götter als Zeugen des
teilnehmen läßt. Die großen klassischen The- Ehebruchs herbei (Odyssee VII, V. 266ff.). G.s
men auch der bildenden Kunst assoziieren sich Künstler zieht selber das Netz um das Liebes-
traditionell im Kampf um Troja, denn er ist lager herum und bekennt sich zu einem alle
gleichzeitig der Kampf um Helena. G.s Künst- Gesetz- und Ehelichkeiten überspringenden
ler dissoziiert jedoch Liebe und Heldentum; und mythologisch erhöhten Glück, das sogar
über das Heroische siegt das Erotische als E~­ die Götter beneiden mögen. Es bleibt aber
innerung an das - wegen ekstatischer auch hier beim Traum.
Schlachtvisionen verlorene? - heimelige Lie- Die Forschung seit Erich Trunz (Karl Otto
besidyll, das als Teil eines Künstleralltags aus- Conrady, Ilse Graham, Hans-Heinrich Reuter,
gemalt wird. Klaus Weimar) interpretiert das Gedicht als
Das erotische Motiv löst im Gedicht das he- Darstellung von Schöpfungskraft, Schaffens-
roische ab, aber beide Motive des Rollenge- rausch und Liebe, sieht es mit guten Gründen
dichts sind natürlich »sentimentalisch«, denn im Kontext einer Reihe von anderen Künstler-
auch eine antikisch-renaissancehafte Künst- und Kunstgedichten als Ausdruck der Ästhetik
lerexistenz war im Deutschland des 18. Jhs. der jungen Generation. Hans RudolfVaget ver-
ein kompensatorischer Traum. In diesem alles sucht eine »Dekonstruktion dieses an der Ge-
erfüllenden Traum erscheint die Geliebte, in nieästhetik orientierten Deutungsschemas«,
der Gestalt der Madonna, gut neuplatonisch indem er das Gedicht aus diesem Kontext löst
als Verkörperung des Urbildes der Schönheit. und es als Darstellung einer Krise des bil-
Die Parallelen zu der programmatischen Ab- denden, als solchen dilettierenden Künstlers
handlung Nach Falkonet und über Falkonet G. interpretiert. In dem Gedicht enthusias-
sind fast wörtlich: »Wem hat nicht in Gegen- miere sich der an Werther erinnernde Künstler
wart seines Mädchens die ganze Welt golden erfolglos an Homer, antizipiere aber in den
geschienen? Wer fühlte nicht an ihrem Anne letzten Strophen gewissennaßen die erotische
Himmel und Erde in wonnevollsten Hanno- Erfüllung und künstlerische Neugeburt G.s in
nien zusammenfließen? Davon fühlt nun der Rom - als Dichter, nicht als bildender Künst-
Künstler nicht allein die Wirkungen, er dringt ler. In der Diskussion dieser Deutungen darf
bis in die Ursachen hinein, die sie hervor- nicht übersehen werden, daß es sich nicht um
bringen. Die Welt liegt vor ihm, möcht' ich »Erlebnislyrik«, sondern um ein sentimenta-
sagen, wie vor ihrem Schöpfer, der in dem lisch-programmatisches Rollengedicht han-
Augenblick, da er sich des Geschaffnen freut, delt, das der Gegenwart ein Kunstevangelium
auch alle die Hannonien genießt, durch die er predigt, gleichzeitig jedoch den eigenen Ab-
sie hervorbrachte und in denen sie besteht« stand vom erträumten Künstlerdasein deutlich
(yVA I, 37, S. 317). Diese und andere Parallelen thematisiert.
verdeutlichen den neuplatonischen Hinter-
grund der letzten Strophen. Kunst und Liebe
verschmelzen, es gibt in diesem Traum keine
Dichotomie der Liebe, keine irdische und
124 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

Literatur: Apokopierungen rückgängig gemacht hat


CONRADY - Graham, Ilse: Goethe and Lessing. The (H 115; JG Fischer-Lamberg 2, S.233-238),
Wellsprings of Creation. New York 1973. - Reuter, vennutlich nach der Begegnung mit Charlotte
Hans-Heinrich: Goethes Lyrik 1771-1775. In: WB. Buff (9.6.1772). Auf sie bezog er nun die Be-
(1971), H. 11, S.72-94. - Trunz, Erich: Die Künst- gegnung des Wandrers mit der Frau des Ge-
lergedichte. In: HA 12, S.493-496. - Vaget, Hans dichts; er habe es in Wetzlar verfaßt und nie-
Rudolf: Eros und ApoI!. Ein Versuch zu Künstlers mand solle es besser verstehen als Lotte und
Morgenlied. In: SchillerJb. 30 (1986), S. 196-217. -
Weimar, Klaus: Goethes Gedichte 1769-1775. Inter- ihr Verlobter Johann Christian Kestner,
pretationen zu einem Anfang. Paderborn 1982. schrieb er im Mai 1773 an Freund Kestner.
Der Erstdruck, unterzeichnet mit der Chif-
Sven-Aage Jergensen fre T. H., erfolgte im September 1773 im Göt-
tinger Musen-Almanach auf das Jahr 1774.
Erst hier erhielt das Gedicht die Überschrift
Der Wandrer. G. übersandte den Druckbogen
mit dem Gedicht sogleich an Kestner mit bei-
gefügter allegorischer Deutung: »Er [Der
ffundrer; d. Vf.] ist in meinem Garten, an
Der Wandrer einem der besten Tage gemacht. Lotten ganz
im Herzen und in einer ruhigen Genüglichkeit
all eure künftige Glückseeligkeit vor meiner
Das Gedicht, der Gattung nach eine dialogi- Seele. Du wirst, wenn dus recht ansiehst mehr
sche Idylle in freirhythmischer Brechung des Individualität in dem Dinge finden als es
antiken daktylischen Metrums, entstand im scheinen sollte, du wirst unter der Allegorie
Frühjahr 1772, als G. des öfteren zu Fuß als Lotten und mich, und was ich so hunderttau-
»der Wanderer« zwischen Frankfurt, Dann- sendmal bey ihr gefühlt erkennen. Aber ver-
stadt und Homburg unterwegs war (Dichtung raths keinem Menschen. Darob solls euch aber
und Wahrheit, Zwölftes Buch). Erstmals be- heilig seyn« (an Kestner, 15.9.1773).
zeugt ist es in einem Brief von Caroline Flachs- G. nahm das Gedicht sodann in die nur
land an Herder: »Goethe steckt voller Lieder, handschriftlich überlieferte Erste Weimarer
Eins, von einer Hütte, die in Ruinen alter Tem- Gedichtsammlung (1778) auf und plazierte es
pel gebaut, ist vortrefflich; ermuß mirs geben, zwischen Seifahrt und Ein Gleichnis (Text in
wenn er wieder kommt« (13.4.1772). G. hatte FA I, 1, S. 208-214). Gegenüber dem Erstdruck
das Gedicht bei seinem Aufenthalt in Dann- sind dort lange Verse in kurze unterteilt
stadt bei Johann Heinrich Merck, im Freun- (V. 46f., V. 54f., V. 57ff., V. 65f. u. V. 159-162),
deskreis der Empfindsamen, vorgetragen. In einzelne Ausdrücke ersetzt (V. 17: »Schwül ist
der zweiten Maihälfte 1772, als er bereits am schwer der Abend« statt »Schwül ist, schwül
Reichskammergericht in Wetzlar praktizierte, der Abend«; V. 100: »Lenzes« statt »Frühlings-
schickte er Caroline Flachsland auf deren Bitte tages«) oder umgestellt (V. 88: »Daß ich Wasser
den handschriftlichen Text. Diese Handschrift schöpfen hinabgeh« statt »Daß ich hinabgeh,
ist verloren, doch gibt es zwei Abschriften: Wasser zu schöpfen«); ein Vers (nach V. 124:
eine bis Vers 87 reichende von Caroline »Du meines Lebens Hoffnung«) ist ganz ge-
Flachsland (H 114) als Beilage zu ihrem Brief tilgt. Die Eingriffe in den Text bewirken eine
an Herder vom 1.6.1772 in der von Herder (an größere rhythmische und argumentative Kon-
Caroline, 13. oder 17.6.1772) befürworteten strastierung der beiden Sprecherrollen. Diese
Apokopierung der Artikel und Pronomina Fassung ist die meist rezipierte, sie liegt auch
(V. 13: »D'lächelst«; V. 37: »'r Venus«; V. 42: den folgenden Ausführungen zugrunde.
»D'staunst«); die andere von Merck mit eigen- Demgegenüber ist die in Italien entstandene
händigen Korrekturen G.s, der den Text, wie handschriftliche Fassung (H 4, Zweyte Samm-
es scheint, in Wetzlar überarbeitet und die lung der Vennischten Gedichte) für den 1789
DerWanclrer 125

erschienenen achten Band der Schriften das risch und bildlich vermittelt. Als Quelle für
Ergebnis einer klassizistisch-mäßigenden diese Konstellation kommt zwar auch der in
Glättung von Rhythmus und Ausdruck und zu- Dichtung und Uilhrheit erwähnte Ritt von
gleich der sprachlichen Normierung mit Blick Straßburg nach Saarbrücken (22.6.-4.7.1770)
auf das größere überregionale Publikum. So ist in Betracht, bei dem G. im elsässischen Nie-
der für die früheren Fassungen charakteristi- derbronn Reste römischer Baukunst und eine
sche Rhythmus in Vers 25 und Vers 54 »Da ich gut erhaltene Inschrift zu Ehren des Merkur
trinke draus« abgeschwächt zu »Den ich entdeckte: »Hier in diesen von den Römern
trinke«; in Vers 16 ist der Ausdruck »schwül« schon angelegten Bädern umspülte mich der
durch »kühl« ersetzt, was den Sinnzusammen- Geist des Alterthums, dessen ehrwürdige
hang stört und durch den neuen Vers 86 (»Lie- Trümmer in Resten von Basreliefs und In-
ber in dem Freien bleiben« statt »Untern Pap- schriften, Säulenknäufen und -Schäften mir
pelbaum dich setzen«) nur mühsam geheilt aus Bauerhöfen, zwischen wirthschaftlichem
wird. Innerhalb der Vermischten Gedichte Wust und Geräthe, gar wundersam entgegen-
steht Der Wandrer nun zwischen Die Nektar- leuchteten« (WA I, 27, S. 559). Auch dieses
tropfen und Künstlers Morgenlied (FA I, 1, »Erlebnis« ist, abgesehen von der nachträgli-
S. 542-548). Seit der Gesamtausgabe von 1815 chen Stilisierung (1812) künstlerisch prädis-
(Bd. 2) steht Der Uilndrer in gleichem Kontext poniert, etwa durch die Kupferstichserie ita-
unter der Rubrik Kunst (FA I, 2, S. 550-556), lienischer Landschaften im Elternhaus, wahr-
so auch in allen weiteren Ausgaben zu G.s scheinlicher noch durch des Vaters Viaggio per
Lebzeiten und in den der Ausgabe letzter Hand Italia; im 26. Brief (Neapel, 8.4.1740) berich-
folgenden Ausgaben. tet Johann Caspar Goethe vom Besuch der
Durch den veränderten Kontext erhielt die Tempel des Apoll, des Merkur, der Venus und
allegorisch-biographische Selbstdeutung nun der Diana bei Pozzuoli: »Diese liegen nahe bei
ein anderes Ziel; die vorausgeahnte Begeg- der Straße, aber die Zeit hat sie derart zerstört,
nung mit der antiken Kunst in Italien sollte daß außer den Namen von ihrem einstigen
nunmehr das Verstehen leiten. So überrascht Glanz nichts übriggeblieben ist. Wer diese
es nicht, daß der junge Felix Mendelssohn auf Bruchstücke oder besser Überreste den ge-
seiner Italienreise, wie er voller Begeisterung nannten Gottheiten nicht zugestehen will, mag
aus Neapel an Carl Friedrich Zelter schrieb das halten, wie ihm beliebt. Wir besichtigten
(17.5.1851), das »Lokal« des Gedichts drei dort insbesondere die Kammer der Venus, wo
Meilen vor Cumae gefunden und bei der Frau wir an der Decke zahlreiche Basreliefs ent-
in der Hütte zu Mittag gespeist zu haben deckten« (Goethe, S. 188). Zuvor hatte Johann
glaubte. In seinem Brief an Zelter vom Caspar Goethe Cumae mit der Grotte der Cu-
28.6.1851 verwarfG. diese Spurensuche nicht, mäischen Sibylle besucht und in diesem Zu-
sondern bekräftigte seine Deutung noch ein- sammenhang auf Vergils berühmte, heilsge-
mal: »Das Zweite, welches Du aber nicht ver- schichtlich gedeutete Vierte Ekloge verwiesen.
raten mußt, ist: daß jenes Gedicht der Wande- G. kehrt in seiner Idylle, auf steigernde Ab-
rer im Jahre 1771. geschrieben ist, also viele folge der Motive bedacht, die Reiseroute des
Jahre vor meiner italiänischen Reise. Das ist Wandrers anspielungsreich um: Cumae ist das
aber der Vorteil des Dichters, daß er das voraus Ziel seiner Reise, nachdem ihm in den von der
ahnet und wert hält, was der die Wirklichkeit Natur überwucherten Trümmern des Venus-
Suchende, wenn er es im Dasein findet und tempels, während kurzer Rast, eine erste Er-
erkennt doppelt lieben und höchlich daran leuchtung zuteil geworden ist. Mit Vergils Ek-
sich erfreuen muß«. logendichtung ist die wichtigste Quelle ge-
nannt. Einzelne Motive waren in der Idyllen-
Die Figurenkonstellation vom Wandrer und dichtung des 18. Jhs. vorgebildet, vor allem in
der Frau vor der Hütte, die die Deutung späte- Salomon Geßners Idylle Daphnis und Micon
rer Lebenssituationen ermöglichte, ist litera- (1756) und in Oliver Goldsmiths Versdichtung
126 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

The Traveller (1764; Einzelnachweise bei JG wachsenen Trümmern des Venustempels die
Fischer-Lamberg 2, S.347). Mit der antiken »Spuren ordnender Menschenhand« (Y. 27),
Idyllendichtung (Theokrit, Anakreon) hatte den »bildenden Geist« (Y. 33), den »Genius«
sich G. noch im Winter 1771/72 intensiv be- (Y. 57) des Künstlers einer großen Vergangen-
schäftigt, und in Vergils Erster Ekloge fand er heit, die er unwiederbringlich verloren glaubt.
das Struktunnodell für die eigene Aussage: die Es bedarf der einfachen Gesten und Hand-
Begegnung des im Bewußtsein geschichtlichen lungen der Frau, um den Wandrer schrittweise
Niedergangs der Natur entfremdeten Wand- aus seiner melancholischen Fixierung auf die
rers - bei Vergil der Hirt Meliboeus - mit der Entzweiung von Natur und Geist, auf die zwie-
in glücklicher Naturgeborgenheit lebenden spältige Erfahrung von naturgegebener Schöp-
Bauernfamilie - bei Vergil der Hirt Tityrus - ferkraft und dem Marasmus der Geschichte zu
im Dialog, der zugleich eine Abfolge von sehr lösen. Dies geschieht in den vier monologi-
einfachen, statischen »Bildchen« evoziert. schen Reflexionen des Wandrers. Auf die An-
Der Schauplatz mit Ulmenbaum, Pfad, Ge- klage der Natur, die »unempfindlich« (Y. 80)
sträuch, Hütte und Pappelbaum ist in der das ihr geweihte Heiligtum, den Venustempel,
Weise der Idyllentradition Theokrits und Ver- zertrümmert hat, folgt beim Betrachten des
gils stilisiert, die Personen - die Frau, der schlafenden Knaben - in Analogie zu Vergils
Knabe, der Wanderer - sind typisiert. Die Sta- Vierter Ekloge - der hoffnungsvolle Gedanke,
tik des idyllischen Raumes wird durch die tra- daß sich in dem »über Resten / Heiliger Ver-
ditionell »niedere und zärtliche« Schreibart gangenheit« (Y. 93f.) Geborenen und zu neuem
der Ekloge (Gottsched, S. 598) - vor allem in »Götterselbstgefühl« (Y. 97) naiv Heranwach-
den Dialogpartien der Frau - verstärkt. Die senden die Schöpferkraft der antiken Vergan-
Einfachheit der Frauengestalt und ihres glück- genheit erneuern könne.
lichen, geschichtslosen Naturzustandes - das Aber erst durch den Erfrischungstrunk wer-
verfallene antike Kunstwerk als solches nimmt den dem Wandrer die Augen für den sinnvol-
sie überhaupt nicht wahr - spiegelt sich in len Lebenszusammenhang der Idylle vor ihm
ihrer unkomplizierten, naiven Sprache, die geöffnet. Er preist, nun auch rhythmisch zum
sich fern aller Reflexion stets am Konkret- ausgeglichenen jambischen Maß der Frau fin-
Sinnlichen ihres beschränkten Lebenskreises dend, die Mütterlichkeit der Natur, die alle
orientiert, so in der Frage nach dem Gewerbe ihre Kinder, Schwalbe, Raupe und auch die
des Wanderers (Y. 8-12), in der liebevollen Bauernfamilie, in dürftiger Zeit mit dem
Anrede an das Kind (Y. 86, V. 89, V. 124ff.), im »goldnen Zweig« (Y. 136) der Wiedergeburt
schlichten Bericht über ihre Familie ausgestattet habe. Wie wichtig noch dem alten
(Y. 118-123). Einfache Syntax und Wortwahl, G. diese frühe, ohne sinnlichen Eindruck ge-
naiv ausgewogener Sprechrhythmus kenn- wonnene Einsicht in den »innigen Sinn eines
zeichnen alle ihre Äußerungen, besonders wundersamen hingeschwundenen und wieder
deutlich in der zweimaligen Apposition zu neubelebten Zustandes« ist, zeigt das Selbst-
Brunnen (»Da ich trinke draus«; V. 26 u. V. 55), zitat der Verse 127 bis 142 im Aufsatz Wilhelm
in der die Frau den rhythmisch viel unruhige- Tischbeins Idyllen (Ueber Kunst und Alter-
ren Vers des Wandrers (»Draus du trinkest«; thum 11, 3, 1822, S. 96). Der Abschiedsmono-
V. 19) aufnimmt und bei gleichbleibendem log des Unbehausten fUgt in neuem Naturver-
Wortlaut rhythmisch beruhigt. trauen dem nur noch den Wunsch hinzu, über
Der Wandrer dagegen, ein Bildungsreisen- weitere Begegnungen mit antiker Kunst eben-
der, steht außerhalb der Idylle; er ist und falls zu solchem natürlich-naiven Lebenszu-
bleibt der »Fremdling« (Y. 13, V. 35, V. 42, V. 85 sammenhang zu gelangen, den »Schutzort«
u. V. 155). Ganz auf sich und sein sentimen- (Y. 159), die eigene Idylle zu finden. Das Rei-
talisch-elegisches Verhältnis zu der »Götter- seziel Cumae als der vergilische Symbolort des
bildung« der antiken Kunst fixiert (Y. 64), er- römischen Neubeginns nach der Katastrophe
kennt er sogleich in den von der Natur über- von Troja und Ort der Verheißung des gött-
Heidenröslein 127

lichen Kindes, das das Goldene Zeitalter er- Literatur:


neuern wird, bekräftigt das neugewonnene, Bohm, Amd: From Politics to Aesthetics: Gold-
auch die Geschichtlichkeit des Menschen um- smith's The Travellerand Goethe's Der Wanderer. In:
fassende Naturverständnis des Wandrers. GR. 57 (1982), S. 138-142. - Breuer, Dieter: Goethes
Wie generell G.s Gedichte der Genie-Peri- Gedicht Der Wanderer. Zur Programmatik eines Tex-
ode sind auch Der Wandrer und sein Gegen- tes. In: ww. 20 (1970), S.302-313. - Dieckmann,
Friedrich: Hütten-Pfade des jungen Goethe. Die
stück, Wt:mdrers Stunnlied, zunächst als >Er-
Wanderer-Gedichte von 1772. In: Goethe. N.F. 32
lebnisdichtung< gedeutet worden, obgleich (1970), S.221-251. - Düntzer, Heinrich: Goethes
schon Heinrich Düntzer herausfand, daß die Wanderer, ein Gelegenheitsgedicht. In: Illustrierte
biographische Methode hier nur Verwirrung Monatshefte. 3 (1855), S.32-38. - Ders.: Goethes
stiftet. Die neuere Forschung hat sich denn lyrische Dichtungen. Leipzig 21876, S.488-500. -
auch mehr für die im Gedicht gestaltete The- Goethe, Johann Caspar: Reise durch Italien im Jahre
1740. Übersetzt u. kommentiert von Albert Meier.
matik und Motivik interessiert und den Zu-
München 1986. - Gottsched, Johann Christoph: Ver-
sammenhang des Gedichts, das sich ohnehin such einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 41751
nur in den Monologen des Wandrers mit den (Nachdruck Darmstadt 1962). - Hehn, Victor: Über
>großen Hymnen< zu berühren schien und als Goethes Gedichte. Stuttgart 1912, S. 163-171. - Kai-
Ganzes Rätsel aufgab, mit den Dichtungen der ser, Gerhard: Wandrer und Idylle. Goethe und die
Genie-Peri'ode wie der Zeit nach der Italien- Phänomenologie der Natur in der deutschen Dich-
tung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen
reise herausgearbeitet. So untersuchte H.
1977, S.37-82. - Ders.: Mutter Natur und die
Thiele die Auffassung der Antike, W Silz die Dampfmaschine. Ein literarischer Mythos im Rück-
sprachlichen und motivlichen Entsprechungen bezug auf Antike und Christentum. Freiburg 1991,
in der Rede Zum Schäkespears Tag, im Aufsatz S. 13-36. - Rehder, Helmut: Das Symbol der Hütte
Von deutscher Baukunst und im Werther. Hel- bei Goethe. In: DVjs. 15 (1937), S.403-423. -
mut Rehder, L. A. Willoughby, Hans Joachim Schrimpf, Hans Joachim: Gestaltung und Deutung
des Wanderermotivs bei Goethe. In: ww. 3
Schrimpf, Friedrich Dieckmann und Gerhard (1952/53), S. 11-23. - Ders.: Das Weltbild des spä-
Kaiser (1977) verfolgten den Motivkomplex ten Goethe. Stuttgart 1956, S. 121-144. - Silz, Wal-
von Wanderer und Hütte, der G. von der Früh- ter: Goethe: Der Wanderer. In: Stoffe, Formen,
zeit bis zum fünften Akt von Faust II immer Strukturen. Fs. Hans Heinrich Borcherdt. Hg. v. Al-
wieder beschäftigt hat. bert Fuchs u. Helmut Motekat. München 1962,
Für das nähere Verständnis des Gedichts S. 139-150. - Thiele, H.: Frühe Andacht vor Anti-
ken. Hinweise zu einer Interpretation von Goethes
selbst waren damit nur erste Umrisse gewon-
Gedicht Der Wanderer. In: Die Sammlung. 15 (1960),
nen; erst die Frage nach seiner Stellung inner- S. 232-235. - Willoughby, L. A.: The Image of the
halb der Tradition der Gattung Idylle eröffnete Wanderer and the Hut in Goethe's Poetry. In: Etudes
einen Zugang zur inhaltlichen wie formalen Germaniques.6 (1951), S. 207-219.
Eigenart diese Gedichts, das, wie Kaiser fest- Dieler Breuer
stellte, durch die Festlegung des Idyllenperso-
nals auf die Perspektivik von Natur und Be-
wußtsein den Höhepunkt der Gattungsrenais-
sance der Idylle im 18. Jh. darstellt. Mit der
Ersten Ekloge Vergils war das strukturbildende
Modell des Wandrer-Gedichts gefunden (vgl.
Breuer). Diesen Ansatz aufgreifend, unter- Heidenröslein
suchte Gerhard Kaiser (1991) G.s Vergil-Re-
zeption auf breiterer Basis (Bucolica, Aeneis)
und konnte auf diesem Wege Argumentations- Die einzige von G. autorisierte Fassung dieses
struktur und Bildlichkeit des anspielungs- Gedichts erschien an der zweiten Stelle der
reichen Textes im einzelnen erhellen und für vennischten Gedichte nach Der neue Amadis
das Natur- und Kunstverständnis des jungen im achten Band der Schriften von 1789. Diese
G. fruchtbar machen. Fassung liegt der folgenden Interpretation zu-
128 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

grunde (Text in FA 1,1, S. 278). Seit der Samm- erklärung gedeutete »Auf-den-Fuß-Treten«
lung von 1815 steht das Gedicht unter der Ru- zeigen, daß es ihn mag. Der Kuß und die Wie-
brik Lieder. In den Vertonungen durch Johann derholung des Liebesversprechens schließen
Friedrich Reichardt (1794), Franz Schubert die durch häufigen Wechsel der Zeit- und Per-
(1815) und vor allem durch Heinrich Werner sonenperspektive zunächst nicht klaren
(1827) - insgesamt sind 154 Melodien zu G.s Schritte des Liedes ab. Der Schluß charak-
Gedicht veröffentlicht worden - ging es in den terisiert es als Abschiedslied; die szenische
Kanon des deutschsprachigen Liedes ein. Entwicklung soll nicht als eine einmalige, son-
Über die Entstehung oder Vorstufen des Hei- dern als eine typische Liebesbeziehung ver-
denröslein liegen keine Zeugnisse vor. Doch standen werden, in der auch der Abschied -
Herders Arbeiten für seine Volksliedsamm- etwa eines wandernden Handwerksburschen -
lung erlauben eine Rekonstruktion der Entste- enthalten ist. Der Hinweis auf die typische
hungsgeschichte. In seinem Besitz befand sich Situation erklärt auch den Abschiedswunsch :
die Liedersammlung von Paul van der Aelst: »behüt sie Gott ohn allen Spott / Rößlein auf
Blumm vnd Az!f3bund Allerhandt Az!f3erleser der Heyden<<.
Weltlicher / Züchtiger Lieder vnd Rheymen Gegenüber dieser Vorlage mit ihrer eher
[. . .J so wol az!f3 Frantzösischen / als Hoch- und »leichtsinnigen« Liebeskonzeption wirkt Her-
Nider Teutschen Gesang- und Liederbüchlein ders Umdichtung moralisch und belehrend.
zusammen gezogen / und in Truck veifertigt Wird ein weiterer Text aus Caroline Herders
(Deventer 1602). Ein neunstrophiges Volkslied »Silbernem Buch« mit dem Titel Das Rosen-
des 16. Jhs. aus dieser Sammlung wurde von knöspchen. Aus der Clarisse (fol. 139-141)
Herder bereits 1771 umgedichtetund unterdem herangezogen, so deuten beide Bearbeitungen
Titel Die Blüthe an Caroline Flachsland zum auf die Richardsonsche Tugendempfindsam-
Eintragen in ihr »Silbernes Buch« geschickt. keit - im zuletzt zitierten Text auf die Warnung
Das Volkslied van der Aelsts mit dem Re- vor Verführung (Clarissa, 34. Brief). Dem Ver-
frain »Rößlein auff der Heyden« trägt keinen führer gilt die warnende Schlußzeile der Stro-
eigenen Titel, nur die Angabe, »Im thon: Wol phen, z.B. >>nur, Bube, brich das Knöspchen
auffin Gottes etc.«. Nach einer zweistrophigen nicht!« (Str. 1), »Ha Bube, thu auch du es
Einleitung wird das Mädchen mit einer Rose nicht!« (Str. 2), »Sieh, Bube, das ist Höllen-
verglichen - in dieser Sammlung durchaus lohn!« (Str. 6). Der Untertitel zu Herders Um-
nichts Einmaliges: »Sie gleicht wol einem Ro- dichtung Die Blüthe kennzeichnet es als »Kin-
senstock / drumb geliebt sie mir im hertzen / derlied« - offensichtlich wegen der mit Ver-
sie tregt auch einen rohten Rock / kan züch- zicht auf die Rosenmetaphorik intendierten
tig / freundlich schertzen / sie blüet wie ein Enterotisierung der Vorlage und der manife-
Röselein / die Bäcklein wie das Mündelein / sten Moraldidaxe in der vierten Strophe. Die
Liebstu mich / so lieb ich dich / Rößlein auff neutestamentliche Wendung von den »Früch-
der Heyden« (Str. 3). An die Vergleiche des ten«, den guten Werken des Christen, erlaubt
Mädchens mit einer Rose schließt unvermit- eine Erweiterung der Bedeutung von »Blüte«
telt eine direkte Anrede mit der Versicherung und »Frucht« ins Allgemein-Moralische, ob-
wechselseitiger Liebe an. Aber das hier distan- wohl die erotische Konnotation nicht völlig
ziert und dann wieder in direkter Rede sich ausgeschlossen wird (vgl. HSW 25, S. 437f. u.
äußernde Ich ist nicht mit dem künftigen Lieb- Anm. S. 680f.).
haber identisch, der das »Röslein brechen« Die Blüthe befindet sich im »Silbernen
wird. Im Gegensatz zu späteren Bearbeitungen Buch« in einer Reihe von Gedichten Herders,
erscheint dieser hier jedoch als gesitteter und die sich auf 1769/1770 und früher datieren
beherrschter junger Mann. Wieder von sich lassen. Herders Korrekturen aus seinen späten
selbst sprechend, erklärt das Ich, unter wel- Jahren verstärken den Eindruck großer Nähe
chen Bedingungen er ein Mädchen lieben zu G.s Gedicht: die syntaktische Parallelisie-
kann: es muß durch das im Brauch als Liebes- rung und Streichung des Artikels am Zeilen-
Heidenröslein 129

J4bdli(~d)en.
if dn Stnab' ein ~~6Iein
f(l~' lle~n.
(tin mo~letn ouf tlet J?eiben.
Q:t fa~, e6 I\)at fo frifcl) unb f~on
llnb blieb fle~l1, d an3ufe~en
Un~ flanb in fUffrn .frtuben.
~d) fuppIire Mefe ~t!i~e nur AUS bem·~ebddjt=
niÖ, IIl1b nun folgt bRG tinbifcf}t DUtotnea~el)
jeber etrop~c :
9t6öldn, mötHein, 9t6ölein r~t~,
9ioöle!n auf tier ,Qettlen!
~n ~nnbe fpraa,: (a, brra,e Ma,!
9i60lein 2C.
~a~ 9\6tjlein fprad): ia, fhd)e bia"
!E)aö bu ewig benfll an mia,
mag id)6 nid)t roiU leiben! 9totilein IC_
,3ebod) I)~t I i1t1e jtnabe brad),
~n6 monldn le.
ma! ~h\lilcin ttle~tte Pd) unb flaaJ,
l!btc n \lCtgnö batnacl)
sr,e~m Q)mu Öbd ~tiben! 9töfilein lC
~tl bQ~ nid)t jIinbtrton? Unb nod', nme idj
~6nt!n (fine 2{t!nbtrun~ bee Ie~enbigen Qjefan~
getS mdben. ~er Q3orfd)(Q!J t~ut bel) ben
Hebern bea mo(tt1 eine fo ~rotTl! unb ßutc ~lll'$
fung, ba6 id) cuus ~eutfcben unb ~nsliid)en
a{ten <6tucfen fe{>e, wie \)ieI bit minfird5
barlluf g~a(tel1: unb ber ifl nun pocf) im ~cllt:
rcf)cn wie im [n~{jfd)en in ben mo(t~ri,ebertl
ntcificn& ber bllntle taut \)on [he in 6elJbe!n
~erd)'ed]t Ct)e2.\nabe) '0 fl'lft b"6 ('6 l.,off:::
X> ~ lein)

Heidenröslein (Erstdruck)
130 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

beginn fallen besonders ins Gewicht (vgl. »Das Rößlein, Rößlein roth, / Rößlein auf der Hei-
Silberne Buch« im Herder-Nachlaß, Kapsel xx, den! [ ... ] Ist das nicht Kinderton? Und noch
124, fol. 86). G.s Text und Herders Blüthe muß ich Ihnen Eine Änderung des lebendigen
weisen einige fast identische Zeilen auf - bei Gesanges melden. Der Vorschlag thut bei den
Herder steht statt »Röslein« jeweils »Knösp- Liedern des Volks eine so grosse und gute
gen«. Die Reimwörter der ersten Strophe Würkung, daß ich aus Deutschen und Eng-
»stehn«, »schön«, »sehn« finden sich in beiden lischen alten Stücken sehe, wie viel die M i n -
Gedichten. In der zweiten Strophe sind die s t re I s darauf gehalten: und der ist nun noch
erste Zeile beider Gedichte und die Reimwör- im Deutschen wie im Englischen in den Volks-
ter »dich«l»mich« identisch. Die erste Zeile liedern meistens der dunkle Laut von the in
der dritten Strophe unterscheidet sich nur beidem Geschlecht ( d e K n a be) 's statt das
durch »jedoch«l»Und« zu Beginn. Die Anre- ( , s R ö ß lei n) und statt ein ein dunkles a,
gung beider Texte durch van der Aelsts Samm- und was man noch immer in Liedern der Art
lung während Herders Straßburger Aufenthalt mit ' ausdrücken könnte. Das Hauptwort be-
von September 1770 bis April 1771 steht außer kommt auf solche Weise immer weit mehr Poe-
Frage. G.s Heidenröslein und Herders Blüthe tische Substantialität und Persönlichkeit
sind wohl noch 1770 oder im Frühjahr 1771 'Knabe sprach/ 'Rößlein sprach, u.s.w. in den
entstanden. Liedern weit mehr Accent« (HSW 5, S. 193ff.).
Der gemeinsame Entstehungsprozeß - ein Die einleitenden Worte mit dem Hinweis, das
freundschaftlicher Wettbewerb? - verbindet Fabelliedchen enthalte »keine transcendente
sich für Herder mit dem Genre »Kinderlied«. Weisheit und Moral«, das Epitheton »kin-
Die Wiedergabe des G.-Textes aus dem Ge- disch« lassen sich auf die »aemulatio« zwi-
dächtnis erfolgte ebenfalls im Kontext von Lie- schen Herder und G. beziehen: dem Kinder-
dern für Kinder. Im Auszug aus einem Brüif- lied Herders steht G.s doch so wenig »kindi-
wechsel über Ossian und die Lieder alter Völ- sches« Fabelliedchen gegenüber.
ker, den Herder im Juli/August 1771 in Bücke- G.s Druckfassung von 1789 ist im Lakonis-
burg fertiggestellt hatte (Druck in Von mus noch konsequenter als die von Herder aus
deutscher Art und Kunst. Einige fliegende dem Gedächtnis reproduzierte Fassung. Her-
Blätter, 1773) spricht er, nach dem Zitat zweier ders Vorschläge ('Knabe sprach / 'Rößlein
Lieder aus van der Aelsts Sammlung (Der si!f3e sprach) sind hier befolgt worden; auch Herder
Schlaf, Kuckuck und Nachtigall), davon, daß hat in der späteren Überarbeitung seines Ge-
»zu unsern Zeiten« so viel von »Liedern für dichts Die Blüthe diese Verknappung reali-
Kinder gesprochen« werde. Christian Felix siert. Die Fassung in Herders Volksliedern
Weiße hatte 1767 seine Lieder für Kinder in stellt einen stilistischen Kompromiß zwischen
erster Auflage ohne Melodien und 1769 in der Form des Fabelliedchens im Druck von
»vermehrter Auflage. Mit neuen Melodien von 1773 und der im Sinne von Herders stilisti-
Johann Adam Hiller« (Leipzig) veröffentlicht. schen Erwägungen konsequenten Fassung von
In diesem Zusammenhang kann Herder fra- 1789 dar.
gen: »wollen Sie ein älteres Deutsches hören? G.s offenbar sorgloser Umgang mit seiner
Es enthält zwar keine transcendente Weisheit Umdichtung der van der Aelstschen Vorlage
und Moral, mit der die Kinder zeitig gnug und Herders Aufnahme des Gedichts in seine
überhäuft werden - es ist nichts als ein kindi- Volkslieder-Sammlung hat zu der Frage ge-
sches Fabelliedchen. Es sah' ein Knab' ein Röß- führt, ob G. dem Freunde nicht ein von ihm
lein stehn / Ein Rößlein auf der Haiden. / Er aufgezeichnetes Volkslied »mündlich« mitge-
sah, es war so frisch und schön / Und blieb teilt habe. Ein vergleichbares Volkslied ist je-
stehn, es anzusehen / Und s t a n d ins ü s - doch nicht bekannt geworden, und Herder
sen Fr e u den. Ich supplire diese Reihe nur trug keine Bedenken, in seine Sammlung auch
aus dem Gedächtniß, und nun folgt das kindi- »Kunstlieder« zu integrieren, wenn sie nur wie
sche Ritornell bei jeder Strophe: Rößlein, Volkslieder klangen.
Heidenröslein 131

G.s Heidenröslein hat zweifellos themati- Saloncauserie eines Libertin, sondern archai-
sche und fonnale Züge wie Parallelismus und sierte sie mit den Versatzstücken der Vorlage.
Refrain mit dem Volkslied gemeinsam. Aber Statt der naheliegenden empfindsamen Töne
seit dem Urteil von Max Morris (1912) wird werden elementare Handlungen (»breche«,
dem Gedicht der Charakter des Volksliedes »steche«, »wehrte sich«), Affekte und Klagen
abgesprochen - es gilt als ein »volksmäßig (»Freuden«, »leiden«, »Weh und Ach«) insze-
empfundenes Künstlerwerk«; die fonnale Voll- niert. Zwischen dem >Sehen<, der ersten Phase
endung und Verknappung gegenüber dem der »quinque lineae amoris«, der> Anrede< und
meist additiv verfahrenden, Motive reihenden >Widerrede< und der brutalen >Berührung<
und vielstrophigen Volkslied, vor allem aber bleibt kein Raum für psychologische Differen-
die »szenische« Pointierung nähern es der Bal- zierung. Das Geschehen ist - mit Ausnahme
lade an. Max Kommerell hat das Heidenröslein der >modernen< Prägung »morgenschön« - auf
mit dem König in Thule an den Anfang von G.s eine ossianisehe Archaik gestimmt.
Balladendichtung gestellt (S. 327-330). In älteren Interpretationen ist in dem Ge-
In der ersten und dritten Strophe wird er- dicht eine »die Menschen- und Pflanzenwelt
zählt, in der zweiten folgt auf die drohende verbindende Fabel«, G.s »Veilchen« vergleich-
Rede des Knaben die drohende Widerrede des bar, gesehen worden (Morris), eine »Urbege-
Rösleins. Der Kehrreim »Röslein auf der Hei- benheit«, ein »Verkehr von Mensch mit
den« in der zweiten und letzten Zeile jeder Pflanze«, wobei die Pflanze »mehr als Pflanze«
Strophe, die dreimalige Wiederkehr der vor- sei, aber doch »ein anderes als der Mensch«. In
letzten Zeile »Röslein, Röslein, Röslein rot«, der Vokabel »morgenschön « zeige sich aber der
die wiederholte Betonung von »Röslein« im Abstand des »sich verbergenden Dichters« und
Zeilenbeginn, die Voranstellung des Verbs, das seiner Epoche zu dem, »was sie als früh, als
Aussparen oder Apostrophieren von Artikeln jugendlich empfindet« (KoMMERELL,
und der Verzicht auf Pronomen am Zeilen- S. 329f.). Das Gedicht würde »getötet«, »wenn
beginn und schließlich das trochäische Me- man es amourös auslegte« - diese KommereII-
trum erzeugen »eine wahre Musik der strophi- sche Auffassung wird im nachfreudianischen
schen Fonn!« (KoMMERELL, S. 329). Zeitalter nicht mehr geteilt. Peter von Matt
Die Anverwandlung von Elementen des nennt das Heidenr6slein ein »zweifelhaftes
Volksliedes ist in diesem Gedicht so vollendet und zwielichtes Gedicht«, in dem Gewalt »er-
gelungen, daß es nicht verwundert, wenn eine lebt und erlitten« werde - ohne jede Regung
kaum noch zu überblickende Zahl von Ver- von Mitleid. In diesem »schauerlich barbari-
tonungen seinen Liedcharakter musikalisch schen Gesang« seien »Schönheit und Schän-
überhöhte. Die Ambivalenz der zentralen Me- dung« gepaart, als handle es sich um ein Welt-
tapher läßt ein scheinbar naives Verständnis gesetz. Für Karl Eibl wird »hier die Geschichte
und eine Deutung im Sinne des Geschlechter- einer Vergewaltigung geboten« (S. 830). Insge-
kampfs zu. Die Metaphorik von »Rose« und samt ist als erstaunliches Faktum festzuhalten,
»Röslein«, die in der Sammlung van der Aelsts, daß einem der berühmtesten Gedichte G.s bis-
aber auch in Herders »Silbernem Buch« mehr- lang keine ausführlichere modeme Interpreta-
fach mit erotischer Konnotation verwendet tion gewidmet wurde.
wird, ist in dieser Bedeutung noch im 18. Jh.
geradezu ein erotischer Topos. Welche euro-
päische und literarische Tradition von Ovid
über Petrarca bis zur französischen Rokokoly-
rik damit aufgerufen werden konnte, demon-
strierte Johann George Scheffner mit seinen
Gedichte[nJ im Geschmack des Grecourt (vgl.
darin vor allem Röschens Röschen). Aber G.
gestaltete seine Rede vom »Röslein« nicht als
132 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

Literatur: werden« (JG Fischer-Lamberg 4, S.373; Fi-


Albrecht, Michael von: Goethe und das Volkslied. scher-Lamberg druckt nach Seckendorff). In
Darmstadt 1972. - Baumgart, Hermann: Goethes der späteren Fassung nahm G. das Gedicht in
lyrische Dichtung in ihrer Entwicklung und Bedeu- Faust. Ein Fragment (1790) und in den siebten
tung. Bd. 1. Heidelberg 1951, S.88-95. - Eibl, Band der Neuen Schriften von 1800 unter die
Komm. in FA I, 1, S. 850. - HSW 5 und 25. - KOM- Rubrik Balladen und Romanzen auf. In der
MERELL, S.527-550. - Matt, Peter von: Diese un-
Sammlung von 1815 steht es unter Balladen,
heimlichen Diminutive. In: Reich-Ranicki, Marcel
(Hg.): Frankfurter Anthologie. Gedichte und Inter- ebenso in der Ausgabe letzter Hand. Dieser
pretationen. Frankfurt/M. 1986, S. 104f. - Morris, Text (in FA I, 2, S. 109f.) als der allgemein
Komm. in JG Morris 6. - Scheffner, Johann George: bekannte und am weitesten verbreitete wird
Gedichte im Geschmack des Grecourt. Leipzig der folgenden Interpretation zugrunde gelegt.
1771-75; 21775; 31780. - Trunz, Komm. in HA 1, Die Ballade gehört wegen ihres scheinbar
S.508-511. - Wertheim, Ursula: Das Volkslied in
schlichten, »volksliedhaften« Tons zu G.s am
Theorie und Praxis bei Herderund Goethe. In: dies.:
Goethe-Studien. Berlin 1968, S. 9-55. häufigsten rezipierten Texten. Regelmäßige
dreihebige Jamben und abwechselnd weibli-
Gerhard Sauder che und männliche Kreuzreime bestimmen die
äußere Fonn der sechs vierzeiligen Strophen.
G.s durch Herder vennittelte und im Elsaß im
Aufhaschen der Lieder aus »denen Kehlen der
ältsten Müttergens« bewährte Vertrautheit mit
dem Volkslied (an Herder, Herbst 1771) paart
Der König in Thule sich hier mit seiner gleichzeitig entdeckten
Vorliebe für Mittelalterliches und eine fiktio-
nale nordische Frühzeit, wie sie die Zeitge-
nossen in der Ossian-Dichtung gegenwärtig
Die Ballade ist vennutlich während G.s mit sahen. So hat Steffen Steffensen zurecht auf
Johann Kaspar Lavater und Johann Bernhard die »Mischung des nordisch-ossianischen mit
Basedow unternommener Lahn-Rhein-Reise den gotisch-mittelalterlichen Elementen« hin-
im Juli 1774 entstanden. Friedrich Heinrich gewiesen (S. 41). Allerdings handelt es sich
Jacobi erinnert sich in einem Brief an G. vom dabei um eine bestimmte Aneignung des
28.12.1812 an G.s Rezitation von Es war ein Volksliedhaften; Simplizität und Altertümlich-
Buhle frech genung und anderer »Romanzen« keit sind kunstvoll erzeugt, z.B. durch die Ne-
in seinem Freundeskreis. In seiner Erwäh- benfonn des Präteritum Indikativs »täten«
nung dieser Rezitation im Vierzehnten Buch (V. 23), das veraltete »Buhle« für »Geliebte«
von Dichtung und Wahrheit nennt G. den Kö- (V. 3) oder die aus der Luthersprache stam-
nig in Thule eine seiner >meusten und liebsten mende Wendung »die Augen gingen ihm über«
Balladen« (FA I, 14, S. 680). für »es kamen ihm die Tränen« (V. 7; vgl. Lu-
In einer frühen Fassung wurde das Gedicht thers Übersetzung von Joh. 11, 35). Das Ge-
zuerst gedruckt in Volks- und andere Lieder dicht ist also »keine Nachahmung eines Volks-
[. . .j in Musik gesetzt von Siegmund Frhr. v. liedes [ ... ], sondern eine modeme Nachbil-
Seckendoiff. Dritte Sammlung (Dessau 1782), dung, kein naives, sondern ein sentimenta-
dort mit der Anmerkung: »aus Göthens D. lisches Lied, das den Volkston als Zitat
Faust<<. Daneben eine handschriftliche Über- benutzt« (Gaier, S.381). Singbarkeit und al-
lieferung: a) Abschrift des Fräuleins von Göch- tertümliche Stimmung haben auch die Kompo-
hausen unter der Überschrift Romanze; b) nisten angezogen: außer von Seckendorff
Göchhausen-Abschrift des Uifaust. »Die wurde das Lied von Johann Friedrich Rei-
Frage, ob der von Seckendorff überlieferte chardt (1809), Carl Friedrich Zelter (1812),
Text oder der von Luise von Göchhausen der Franz Schubert (1816), dem Wunderkind Carl
ältere ist, kann kaum eindeutig beantwortet Eckert (1828), Hector Berlioz (franz. Text,
Der König in Thule 133

1829) und Franz Liszt (1843) in Musik ge- vates zugleich: »Bei dem standesgemäßen
setzt. Sterben vor versammelter Ritterschaft demon-
Themen des Gedichts sind die Treue und striert der König, worin er den Mittelpunkt
der Tod. Die Spätfassung sagt vom König, er der Welt erkannt hat« (S. 64).
sei »gar treu bis an das Grab« (V 2), was die Will man überhaupt von Solipsismus reden,
weitere Erzählung vorwegnimmt. Die Geliebte könnte man dies eher in bezug auf die Sprech-
hat dem König den Becher auf ihrem Sterbe- oder Singsituation tun, in die G. die Ballade
bett gegeben. Er vermacht bei seinem Tode im Urfaust gestellt hat. Kommerell meint
den Becher niemandem, sondern wirft ihn ins dazu: »Nicht der unter dem Vortrag des Rhap-
Meer. Wie der Becher sinkt, geht das Leben soden zusammen schauernde Kreis der Zuhö-
des Königs zu Ende - im Zeichen seiner gro- rer, sondern ein einsamer, vom geahnten
ßen Liebe, die ihm auch bei »jedem Schmaus« Schicksal betroffener Mensch, der wird von
(V 6) gegenwärtig geblieben ist. Die Liebe er- der Ballade angeweht« (S. 333). So öffnet sich
scheint dadurch als etwas ganz Persönliches, ein weiteres Interpretationsfeld durch G.s Ver-
Individuelles. Der Becher wird nicht vererbt, wendung des Gedichts im Zusammenhang der
begründet keine zukünftige Realität - im Ge- Faustdichtung. In der Szene Abend, nach ihrer
gensatz zu den »Städt' im Reich«, die ohne ersten Begegnung mit Faust und nach seinem
weiteres den Erben »gegönnt« werden und Mephistos Verweilen in ihrem Zimmer,
(V 10f.) -, sondern geht mit dem König unter. singt Gretchen beim Schlafengehen das Lied
Max Kommerell schreibt: »Er ist ein König, (Urfaust, V. 611-634) und beschwert die letzte
mit dem eine Welt stirbt« (S. 331). Zeile noch mit einer zusätzlichen Silbe:
Andererseits lähmt die Erinnerung an die »Trank nie einen [statt: >keinen<; d. Vf.] Trop-
tote Geliebte den König nicht. Sein Leben ist fen mehr«. Unmittelbar nachdem sie vom Ge-
offenbar weiterhin standesgemäß, der Becher schenk der Treue gesungen hat, findet sie in
gehört zum Zeremoniell des »Königsmahles« ihrem Schrank das Schmuckkästchen, das frei-
(V 13). Durch den Becher werden sowohl An- lich ein Geschenk der Begierde ist.
klänge an die traditionelle erotische Symbolik Ulrich Gaier greift den oft gemachten Hin-
als auch an die Weihe eines heiligen Abend- weis auf die Parallele zum »willow-song« in
mahls wachgerufen, zugleich aber auch Poeto- Shakespeares Othello (IV, 3) auf: »Warum ei-
logisches. Als »Gegenwart von viel Gestorbe- nige Kommentatoren trotz dieser Parallele
nem in einem Ding« wird er zum »Symbol des versichern, das Lied sei >ohne Beziehung auf
Symboles« (KommereII, S.331). Wie Jesus den Faust< (Schmidt) ist mir unverständlich«
seinen Jüngern auftrug, das Abendmahl zu sei- (S.381). Ähnlich bereits KommereII: »Die
nem Gedächtnis einzunehmen (Luk. 22,19), so Luft ist belagert, ihr [Gretchens; d. Vf.]
trinkt hier der König stets zum Gedächtnis Schicksal hat schon begonnen, sie weiß und
seiner Geliebten, und zwar nicht im Gehei- versteht es nicht, aber es ist da, spricht aus ihr
men, sondern öffentlich und für die Gäste selber und sie fährt zusammen« (S. 332). Kom-
sichtbar weinend. Daß der König sich zum merell betont, wie Gaier, die Spontaneität des
Becher verhalte »wie das solipsistische Ich zur Gedichts: »Das betroffene Herz ist, anders als
Welt« (Wünsch, S. 173), scheint daher wenig sonst, sehr alten oder auch ganz neuen Dingen
stichhaltig. Einleuchtender Gerhard Kaiser: und dem Besuch aller Geister aufgetan. Da
Der Becher ist »Gefäß der Liebe und des Le- fallen uns Lieder ein, oder wir machen sie gar
bens, der Erinnerung und der Selbstverges- selber; Lieder, von denen wir nicht wußten,
senheit, Sinnbild des Daseins, das sich sin- daß sie in uns waren« (S.44). Anders Emil
kend erfüllt, und des unübertragbar Eigenen, Staiger: Das Lied »soll offenbar nicht als Text
durch das der Mensch, nur ein Glied in der verstanden werden, den Gretchen aus seinem
unendlichen Kette der Geschlechter, doch zu- Liederschatz aufnimmt, sondern als Monolog«
gleich unmittelbar zum Leben ist« (S. 198). (S.241). Gaier folgt KommereII: »Der Volks-
Siegfried Lenz betont Öffentliches und Pri- ton der Ballade macht auch deutlich, daß Mar-
134 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

gare te das Lied nicht erfindet, sondern singt, 10. Frankfurt/M.1986, S.61-65. - Requadt, Paul:
weil es ihr einfällt, weil ihr Unterbewußtsein Goethes Faust I. Leitmotivik und Architektur. Mün-
chen 1972. - STAIGER, Bd. 1, S. 204-244. - Steffen-
wie ihr Körper auf die veränderte Atmosphäre
sen, Steffen: Der König in Thule. Bemerkungen zu
reagiert« (S. 381). Paul Requadt legt Wert auf den Elementen des Goetheschen Gedichts. In: Orbis
die Feststellung, daß es Gretchen nicht um litterarum. 15 (1960), H. 1, S. 36-43. - Wünsch, Ma-
eheliche Treue gehe: »In Wahrheit kommt es rianne: Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes.
ihr auf die Treue in Freiheit an, vor der die Die system immanente Relation der Kategorien »Li-
Konvention verblaßt. Im Singen dieser Ballade teratur« und »ReaHtät<<. Probleme und Lösungen.
Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1975.
befreit sie sich aus ihrer Einschränkung zu
ihren eigenen Möglichkeiten« (S. 229). Per 0hrgaard
Zum Zeitpunkt des Singens ist Gretchen je-
doch Faust gerade erst begegnet; das ganze
Ambiente der Szene ist das der erwachenden
Liebe, mit der auch bereits die Angst, daß sie
»verrauschen« könnte (An den Mond), einher-
geht. Die Worte von der Treue sind keine be-
wußte oder unbewußte, eheliche oder unehe-
Neue Liebe neues Leben
liche Programmerklärung, sondern eine Be-
schwörung, die von ferne an die Worte des
Heidenrösleins: »Daß du immer denkst an Das Gedicht stammt aus der Zeit der ersten
mich!« erinnern könnte. Das Lied ist sozu- Bekanntschaft G.s mit der Frankfurter Ban-
sagen objektiv da - es rückt Gretchen, wäh- kierstochter Lili Schönemann. Eine hand-
rend sie sich auszieht, buchstäblich auf den schriftliche Fassung - noch ohne Titel- hat G.
Leib! Es weiß mehr als sie, und zwar nicht, auf einem gesonderten Blatt einem Brief an
weil sie ein unbedarftes Mädchen aus dem Johann Heinrich Merck vom Februar 1775 bei-
Volke ist, wie in älteren Interpretationen oft gelegt (Text in JG Fischer-Lamberg 5, S.27).
leicht herablassend vennerkt wird, sondern Am 6.2. 1775 sandte G. das Gedicht an Betty
weil sie noch so jung und die Situation noch so Jacobi »für die Iris«. In dieser Zeitschrift er-
neu ist. Sie ist sich ihrer Vorzüge - »Schönheit, schien es im März 1775 (Des zweyten Bandes
junges Blut« (Urfaust, V. 631) - wie auch des drittes Stück) zwischen An Befinden und Mir
sozialen Gefälles deutlich bewußt. Das Lied schlug das Herz. Die sofortige Freigabe zum
soll diese Erkenntnis abwehren und spricht sie Druck erfolgte »wider alle Gewohnheit« G.s
zugleich aus: Denn während Gretchen die (Weimar, S. 109); allerdings erschien das Ge-
Hoffnung ihrer Liebe zu Faust singt und zu- dicht ohne den Namen des Autors. Auf die Iris-
gleich versucht, den Anteil Mephistos an Fassung als den Erstdruck, in dem auch der
Faustens Liebe zu ihr zu vertreiben, sagt das Titel Neue Liebe, Neues Leben zum ersten Mal
Gedicht, daß das Geschenk, das sie Faust ma- auftaucht, wäre zurückzugehen. Da sie aber in
chen kann, sie das Leben kosten wird. So hän- keiner neueren Ausgabe zugänglich ist, be-
gen Treue und Tod zusammen. zieht sich die folgende Interpretation auf die
Fassung, in der G. das Gedicht unter die ver-
mischten Gedichte des achten Bandes der
Literatur: Schriften von 1789 aufgenommen hat (FA I, 1,
Fischer-Lamberg, Komm. in JG Fischer-Lamberg 4, S. 286). In der Sammlung von 1815 und in der
S. 373. - Gaier, Ulrich: Goethes Faust-Dichtungen. Ausgabe letzter Hand steht es unter der Rubrik
Ein Kommentar. Bd. 1. Stuttgart 1989. - Kaiser, Ger- Lieder wieder zwischen Willkommen und Ab-
hard: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und
Drang. 3., überarbeitete Auflage. München 1979. -
schied und An Befinden (FA I, 2, S.46). 1809
KOMMERELL, S. 330-333. - Lenz, Siegfried: Johann wurde es von Ludwig van Beethoven vertont
Wolfgang Goethe: Der König in Thule. In: Reich- (op. 75, Nr. 2).
Ranicki, Marcel (Hg.): Frankfurter Anthologie. Bd. Die Stimmung des Gedichts entspricht vie-
Neue Liebe neu es Leben 135

len Aussagen G.s in Briefen aus dem Jahr gegen ihren eigenen oder den des Liebhabers
1775, vor allem an Auguste von Stolberg und (V. 20)? - Karl Eibl verweist auf die Groß- und
Johanna Fahlmer, sowie später in Dichtung Kleinschreibung in Vers 24 der Handschrift:
und Wahrheit, Sechzehntes bis Zwanzigstes »In der >Iris< zu ,Liebe Liebe< normalisiert.
Buch, wo G. das Gedicht in extenso zitiert, und Liebe als Abstraktum angesprochen oder die
in den dazugehörigen Paralipomena (yVA I, 'liebe< Geliebte?« (Eibi, S.890; das Für und
29). »Die Schemata zum 17. Buch von DuW Wider in der früheren Forschung summiert
[ ... ] geben von der Verwirrung dieser Tage ein Boyd, S. 83).
anschaulicheres Bild als der wohl abgewogene Über derlei Unsicherheiten hinweg läßt sich
Text, wie er in DuW vorliegt« (JG Fischer- immerhin feststellen: Hier spricht jemand,
Lamberg 5, S. 430). G. war von Lili sehr ange- der über die von ihm empfundene Liebe zu-
zogen, fühlte sich aber in ihrem gesellschaft- tiefst beunruhigt ist, weil sie eine bisher nie
lichen Kreis nicht heimisch, und auch der gekannte Art der Abhängigkeit, wenn nicht gar
»wohl abgewogene Text« von Dichtung und Unmündigkeit (»Zauberfädchen«; V 17) bein-
Wahrheit ist da noch deutlich genug: »Mein haltet; das ist die Grundspannung des Ge-
Verhältniß zu ihr war von Person zu Person, zu dichts.
einer schönen, liebenswürdigen, gebildeten Zunächst (V. 1-8) wendet sich das Ich in ei-
Tochter; es glich meinen früheren Verhältnis- nem eher väterlich-sorgenvollen Ton an sein
sen, und war noch höherer Art. An die Äußer- Herz, das offensichtlich eigene Wege geht und
lichkeiten jedoch, an das Mischen und Wie- sich dem Bewußtsein und dem Willen ent-
dermischen eines geselligen Zustandes hatte fremdet hat. Die anfängliche Frage (V. 1 f.) lei-
ich nicht gedacht. Ein unbezwingliches Ver- tet zu einer weiteren Diagnose über; das Ich
langen war herrschend geworden; ich konnte hält dem Herzen sozusagen dessen Benehmen
nicht ohne sie, sie nicht ohne mich sein; aber vor (V. 3-7) und schließt mit einer weiteren
in den Umgebungen und bei den Einwirkun- Frage, die allerdings auch bereits eine - iro-
gen einzelner Glieder ihres Kreises, was er- nisch-resignierte - Feststellung ist; der Fra-
gaben sich da oft für Mißtage und Fehlstun- gende scheint die Antwort bereits zu kennen.
den I«~ (yVA I, 29, S. 38; unmittelbar darauffolgt Die folgende Strophe bezeichnet die Ursache
das Gedicht). Die meisten Zeugnisse vom der Verwirrung denn auch genau. Deutlich
Fremdsein G.s stammen aus der späteren Zeit wird jetzt, aber erst jetzt, daß das Ich sich sehr
der Beziehung zu Lili. Daher verdient der wohl in den Zustand seines Herzens zu ver-
frühe Ausdruck seiner Empfindungen im vor- setzen weiß. Die Beschreibung der Geliebten
liegenden Gedicht Beachtung, wenn auch der (V. 9-12) geschieht deutlich in eigener Verant-
Topos von der Liebe als Fessel keiner genaue- wortung, fast als würde das Ich zum Herzen
ren biographischen Begründung bedarf. sagen: »Ach, die meinst du? Die kenn' ich aber
Das Gedicht ist in der Form traditionell. auch!« So verschmelzen die anfangs ausein-
Statt der metrischen Freiheiten der Sturm und andergesetzten Größen Ich und Herz, und die
Drang-Hymnen finden sich hier wieder regel- Frage, wer denn ab Vers dreizehn das Wort
mäßige vierhebige Trochäen mit abwechselnd führe, verliert an Bedeutung: Ob das Ich jetzt
weiblichen und männlichen Kreuzreimen. Auf die Frage beantwortet oder das Ich im eigenen
syntaktischer und semantischer Ebene hinge- Namen weiterspricht, bedeutet wenig gegen-
gen stellt Klaus Weimar Momente »von irritie- über der Gemeinsamkeit. Das Ich bekennt sich
render Uneindeutigkeit« fest (S. 110), die nur zu seinem Herzen, ohne daß es dadurch hin-
zum Teil auf die Überlieferung zurückzuführen reichend als »solipsistisch« charakterisiert
seien. Wer redet z.B. ab Vers dreizehn: das wäre, wie Marianne Wünsch annimmt
zunächst angesprochene Herz oder das Ich (S.126).
selbst? Ist in Vers neunzehn das Mädchen lieb Damit entfällt auch die letzte Möglichkeit,
und lose oder vielleicht gar lieb(e)los, und die Liebe auf Distanz zu halten. Sie hat die
gegen wessen Willen hält sie das Ich fest - ganze Person erfaßt, nicht nur das vom Be-
136 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

wußtsein womöglich noch zu korrigierende Es wäre kaum gerechtfertigt, die gequälte


Herz. Dies nimmt auch Weimar an, der freilich Stimmung des Gedichts allein Lili zuzuschrei-
daraus die Uneigentlichkeit der anfanglichen ben, denn eindeutig ist die Liebesauffassung
Rollenverteilung ableitet (S. 111), was nicht G.s auch vor jener Begegnung nicht, was deren
zwingend scheint. Man denke an Werther, der Bedeutung jedoch nicht schmälert. Die un-
sein Herz »wie ein krankes Kind« hält; ähnlich heimliche Zauberkraft der Liebe kommt schon
spricht hier ein sich zunächst überlegen und in den Leiden des jungen Werlkers in Gestalt
sorgenvoll gebendes Bewußtsein zum Herzen. des Märchens vom Magnetberg zum Ausdruck.
Ein letzter Rest von Widerstand wäre viel- Überhaupt könnte der Roman zum Vergleich
leicht noch im Moralischen zu suchen (»mich herangezogen werden: an dessen Anfang steht
ermannen«; V. 14), aber auch er bricht zusam- Werthers Erinnerung an eine Beziehung, in
men. Das Ich gibt auf bzw. gibt dem Herzen der er den »Zauberfaden« hielt, an dem das
ohne Widerrede recht, kapituliert vor höheren arme Mädchen zappelte. Dann aber wird Wer-
oder auch unteren Mächten: vor dem Zauber ther selbst zum Abhängigen. Die boshafte Va-
(»Zauberfadchen«; V. 17). Diese Liebe ist jetzt riante der Zauberin ist Adelheid in Gölz von
kein Überschwang in Freiheit, sondern viel- Berlickingen, die Weislingen zum Hörigen
mehr Zwang. »Die Triebansprüche scheinen macht. Die Scheu vor der unwiderruflichen
diesem Ich und seinem Realitätsprinzip ge- Bindung ist auch früheren Texten G.s nicht
fahrlich zu sein« (Sauder, S. 896). abzusprechen. Oft ist von Abschied, Entfer-
Der Zwang geht freilich von der Geliebten nung, Liebe aus der Distanz die Rede, und
aus. Nicht die Liebe selbst, sondern die Ge- nicht selten scheint die Gewißheit, alles ver-
liebte ist hier die Zauberin: Sie hält den Faden lassen zu können, die Bedingung des Glücks zu
in der Hand, was auch die Worte vom »lieben, sein. Daher der Vergleich der >meuen Liebe«
losen« oder - mit Weimar - »lieb(e)losen« mit Zauberei: Die bisher bekannte Freiheit ist
Mädchen erklären hilft (Y. 19), im Wider- verloren gegangen.
spruch zum »Blick voll Treu' und Güte« (Y. 11).
Daher ist diese Liebe auch keine, die die bei-
den Geliebten in irgendeine gemeinsame al- Literatur:
ternative Welt entführt. Vielmehr muß das Ich Beutler, Ernst: Lili. Wiederholte Spiegelungen. In:
»in ihrem Zauberkreise / Leben nun auf ihre ders.: Essays um Goethe. Bd. 2. Wiesbaden 1947,
Weise« (Y. 21 f.), während der Geliebten an- S. 1-160. - Boyd, Jarnes: Notes to Goethe's Poems.
scheinend keine »Verändrung« (Y. 25) abver- Vol. 1 (1749-1786). Oxford 1948. - Eibl, Komm. in
langt wird. Folgt man diesem Gedankengang, FA I, 1, S.890. - Sauder, Komm. in MA 1.1,
wäre der letzte Vers des Gedichts, in dem ein- S.895-896. - Weimar, Klaus: Goethes Gedichte
1769-1775. Interpretationen zu einem Anfang. Pa-
zig das Wort »Liebe« auftaucht, vielleicht sogar derborn, Wien, Zürich 1982. - Wünsch, Marianne:
als Anrufung der Liebe gegen die Geliebte auf- Der StruktUlwandel in der Lyrik Goethes. Die sy-
zufassen: Die Geliebte hat sich der Liebe be- stemimmanente Relation der Kategorien »Literatur«
mächtigt, diese aber müßte jetzt selbsttätig das und »Realität«: Probleme und Lösungen. Stuttgart,
Ich, das aus eigener Kraft nicht mehr los- Berlin, Köln, Mainz 1975.
kommt, wieder in die Freiheit entlassen. Der Per 0hrgaard
Schluß entbehrt gewiß nicht der Ironie, so-
wenig wie der Titel, der freilich nicht von G.
selbst stammen muß, von ihm aber jedenfalls
akzeptiert wurde. Sauder erwähnt den »wohl
resignierten und ironisch getönten Imperativ
des Schlußverses an die personifizierte Liebe«
(S. 896), Weimar schlägt sogar die - doch wohl
übertriebene Bezeichnung »augenzwin-
kernd« vor (S. 111).
Lili's Park 137

Lili's Park Besucher ins Schönemannsche Haus brachte,


von denen »keiner einen gewissen Antheil an
der liebenswürdigen Tochter völlig aufgeben
wollte noch konnte« (ebd., S. 158). Lili ge-
Entstanden ist das Gedicht im Laufe des Jah- hörte dieser Welt auch zweifellos an, während
res 1775 im Kontext der spannungs reichen Be- G. sich zwar von ihrer Person angezogen, von
ziehung zu Lili (Elisabeth) Schönemann. In ihrer Umgebung aber eher abgestoßen fühlte:
Dichtung und Wahrheit (WA I, 29, S. 159) da- »Ich hasse das Volck lang im tiefsten Grunde«
tiert G. es ungefahr auf die Herbstmesse dieses (an Johanna Fahlmer, 10.4.1776). Daß G.
Jahres. Für eine frühere Abfassung mag die auch Lili als eine Gefangene und den Gesamt-
Identifikation der eigenen Person mit einem verlauf der Beziehung als gesellschaftlich de-
Bären sprechen, die sich sowohl in dem Ge- terminiert sah, geht aus seinem Reisetagebuch
dicht wie in Briefen an Johanna Fahlmer vom hervor: »Es hat sich entschieden - wir müssen
Mai und Juni 1775 findet (an Johanna Fahlmer, einzeln unsre Rollen ausspielen« (30.10.
24.5. und 5.6.1775). Doch warum sollte das 1775).
Bild vom Bären nicht bis in den Herbst leben- Das Gedicht, das auf diese Konstellation re-
dig geblieben sein? kurriert, ist im »Stil der Gellertschen Verser-
Handschriftlich nur in der Gedichtsamm- zählungen, die damals sehr beliebt waren«
lung überliefert, die als eine Vorlage der (Trunz, S.526), geschrieben. Wemer Kraft
Schriften von 1789 diente, wurde das Gedicht fand »eingemischte Prosasätze« - so der Titel
zuerst im achten Band der Schriften publiziert. seines Aufsatzes. Die Situation des Gefangen-
Auf diesen Erstdruck bezieht sich vorliegende seins in der Liebe, auch in Neue Liebe neues
Interpretation (Text in FA I, 1, S. 293-296). In Leben thematisiert, wird in diesem Gedicht
die Sammlung von 1815 und in die Ausgabe buchstäblich genommen: aus dem »Zauberfäd-
letzter Hand wurde es unter der »Verlegen- chen« des früheren Gedichts sind »Filet-
heitsrubrik« (Eibi, S. 990) Vermischte Gedichte schurz« (Y. 47), das heißt, ein fein gearbeitetes
aufgenommen (FA 1,2, S. 305-309). Netz, und »Seidenfaden« (Y. 48) geworden.
Im Sechzehnten Buch von Dichtung und Doch ist auch jetzt die Abhängigkeit vor allem
Wahrheit erzählt G., wie er von einem Freund eine innerliche. Sie wird deutlich erkannt, was
in das Schönemannsche Haus eingeführt wiederum Widerstand hervorruft und das Ich
wurde und dort auch die sechzehnjährige am Ende auf die eigenen Kräfte vertrauen
Tochter Lili traf: »Der quaSi-Fremde, ange- läßt.
kündigt als Bär, wegen oftmaligen unfreundli- Der Sprecher gibt sich zwar zunächst als
chen Abweisens, dann wieder als Hurone Vol- bloßer Beobachter der Menagerie der Lili
taire's, Cumberlands Westindier, als Natur- (Y. 1ff.) , muß aber im Laufe des Gedichts zuge-
kind bei so vielen Talenten, erregte die Neu- ben, mit jenem Waldbären (Y. 45f.) identisch
gierde« (WA I, 29, S. 22); man wollte ihn in der zu sein, der mit den anderen Tieren in diese
Frankfurter Gesellschaft herumreichen. Menagerie gebannt wurde, ohne ihr entfliehen
Die Entwürfe zu Dichtung und Wahrheit zu können (Y. 62-83). Wird die Menagerie zu-
sprechen sich über die Komplikationen der nächst verspottet (Y. 1-8 und V. 11-28) - die
neuen Beziehung deutlich aus: »Nothwendig- Szene des Füttems erinnert von feme an Lotte
keit in ihre Zirkel einzugehen. Für mich eine in den Leiden des jungen Werthers -, muß sich
große Qual. Verglichen mit Sessenheim und der Sprecher im weiteren Verlauf eingestehen,
Wetzlar; beynahe unerträglicher gegenwärti- daß Lilis, der »Fee« (Y. 9), Zauberkraft groß
ger Zustand« (ebd., S.214). »Vollkommene genug wäre, um selbst die mythologischen
Dienstbarkeit war eingetreten« (ebd., S. 212). Tiere alle anzulocken (Y. 29-35). Zumindest
Die Welt schien auf Lili Anspruch zu haben, war sie groß genug, ihn selber zu fangen -
wie es vor allem in der Beschreibung des Trei- womit er sich schließlich auch in die Klasse
bens zur Messezeit deutlich wird, das viele der mythologischen Tiere versetzt. Eine Weile
158 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

noch bleibt das Gedicht in der dritten Person: dicht nicht mehr ausgeführt. Der Bär rühmt
ein Bär, >>ungeleckt und ungezogen« ry. 37) sich seiner Kraft, aber das Gedicht bricht ab,
wurde »herein betrogen« ry. 38), womit das ohne daß er sie unter Beweis gestellt hätte.
Feenhafte schon anklagend betont wird. So
geriet er unter die zahmen Tiere - »bis auf Die Spannung zwischen Natur und Zivilisation
einen gewissen Punkt versteht sich!« ry. 41). wird in diesem Gedicht auf die Spitze getrie-
Es werden dem Bären immerhin andere Quali- ben. Lilis Park ist ein Rokoko-Gehege, in dem
täten zugeschrieben als den übrigen, schnat- alles gezähmt oder gar verstellt erscheint, wo
ternden und quakenden Tieren im »Beschluß« die Oreaden aus Porzellan sind und franzö-
ry. 38). Der Bär möchte zumindest nicht einer sisch gesprochen wird, wo aber die Konven-
unter vielen sein, denn er ist es, der spricht. tion ihrerseits zugleich an mythische Kräfte
Die Identifikation erfolgt fast als Parodie heranreicht: Lili erscheint als eine Circe. Ihr
der Identifikation des Ich mit seinem Herzen Gegenspieler ist freilich kein Odysseus, son-
in Neue Liebe neues Leben. Nach anfänglichem dern ein Bär, ein gezähmter Tanzbär, der aber
Zögern wird die Verfremdung aufgehoben und das freie Leben nicht ganz vergessen hat. Das
im weiteren ry. 45-51) der Sachverhalt erklärt. Gedicht verspottet die Gesellschaft, ironisiert
Dabei sind auch die Attribute der Frau diesel- aber zugleich die Natur. Jene ist der Natur
ben wie in Neue Liebe neues Leben: Schönheit, gänzlich entfremdet, diese dafür kaum bil-
versteht sich, aber auch zumindest scheinbare dungsfähig, obwohl ein redlicher Versuch ge-
Güte: »Wie schön und ach! wie gut« ry. 42). macht wird: »So sittig als ein Bär nur mag«
Am 9.4.1775 hatte G. an Johanna Fahlmer ry. 102). Dieser Vers deutet natürlich auch auf
über Lili Schönemann geschrieben: »Und lie- kaum zurückgehaltene Begierde. Eine produk-
ber Gott wie viel ist sie noch besser als tive Dialektik zwischen Natur und Gesell-
schön«. schaft ist ausgeschlossen. Sie stehen sich letz-
Der Bärwird eifersüchtig ry. 52ff.), will flie- ten Endes unversöhnlich gegenüber.
hen, kehrt um, macht dann ry. 62-83) einen Die Spannung zwischen Natur und Zivilisa-
regelrechten Ausbruchsversuch, aber schei- tion wird aber nicht nur von der Außenwelt
tert. Er bleibt im Park und muß den »porzella- provoziert, sondern steckt auch im »Bären«
nenen Oreaden« ry. 83), wie hier die Nymphen selbst: als Spannung zwischen dem ungebun-
mit ihrem mythologischen Namen benannt denen Leben und der mit der Verlobung aktu-
werden, sein Leid klagen: Die wahre Natur ist ell gewordenen Perspektive der Ehe und der
weit weg. Dafür ruft ihn Lilis Stimme, und sie gesellschaftlichen Repräsentanz. G.s Bezie-
stellt ihre Zauberkraft erneut unter Beweis: hung zu Lili stand von Anfang an im Zeichen
Das höchste Glück des armen Bären bedeutet einer solchen Krise: Kurt R. Eissler betont,
zugleich seine tiefste Erniedrigung, jetzt ge- daß der Briefwechsel G.s mit Auguste von
hört er erst recht zur »zahmen Compagnie« Stolberg fast gleichzeitig mit der Bekannt-
ry. 39). Will er aber den Lohn für seine Hörig- schaft mit Lili einsetzt, und des weiteren, daß
keit erhalten ry. 103ff.), wird er wieder zu- G. auf seinem Weg in die Schweiz seine
rückgestoßen. Auch wenn physisch die Distanz Schwester Cornelia in Emmendingen be-
überwiegt ry. 121 ff.), bleibt der Bär gebannt. suchte, die ihm von der Ehe mit Lili abriet
Zuguterletzt blitzt doch der Widerstand auf (S. 161ff.). Eissler deutet beides als Versuch
- und zwar der eigene. Wohl fleht der Bär G.s, gleichsam ein Gegengewicht zu Lili zu
zunächst die Götter um Hilfe an, behält sich schaffen, bzw. als Unmöglichkeit, sich ganz der
aber vor, im Falle ihres Ausbleibens sich selbst neuen Beziehung hinzugeben. Das gleich-
zu befreien. Die Wut, die schon früher ausge- zeitige Drama Stella interpretiert Eissler als
sprochen wurde ry. 51: »wütig«; V. 52f.: »ra- ein Stück über G., Cornelia und Lili, Friedrich
sen« etc.), scheint über die Dressur und die Gundolf, weniger überzeugend, über G., Au-
Hörigkeit endlich den Sieg davonzutragen. guste von Stolberg und Lili (S. 206f.). Daß G.s
Doch wird das angekündigte Vorhaben im Ge- Krise im Verhältnis zu Lili »the most serious,
Auf dem See 139

and most decisive, of his life« gewesen sei


(Boyle, S. 199), war immer eine verbreitete
Auf dem See
Auffassung, die auch durch G.s eigene Zeug-
nisse Unterstützung erfahrt.
Die Forschung schwankt in der Beurteilung Das in zwei Fassungen überlieferte Gedicht ist
der Ernsthaftigkeit des Gedichts. Erich Trunz gut dokumentiert und viel besprochen. Vor al-
meint, daß der Konflikt »trotz alles Quälenden lem sind die Umstände der Entstehung recht
ohne Bitterkeit ins Scherzhafte gewandt« genau bekannt. Es findet sich in einer ersten
werde (S.526). Hanna Fischer-Lamberg Fassung im Tagebuch der Reise in die Schweiz,
spricht zwar von »grimmigem Humor«, aber das G. vom 15. bis 21.6.1775 geführt hat. Den
auch von einer »märchenhaft, leicht scherzen- Titel entnahm man dem Gesamteintrag: »Den
den Atmosphäre« (S.424), ähnlich Werner 15 Junius 1775.! Donnerstags morgen! au fm
Kraft, der die »französische Leichtigkeit des Z ü r c her see«. Die zweite Fassung, in der
Tones« rühmt. Radikaler sind - meines Erach- vor allem die Kühnheit, die Katachrese des
tens zu Recht - u. a. Emil Staiger, der meint, es Anfangs - der Embryo als Säugling - getilgt
bedürfe im Gedicht »des grimmigsten Hu- ist, erschien zum ersten Mal in den Schriften
mors, um die Lage noch einmal notdürftig zu von 1789. Beide Fassungen sind als selbstän-
meistern« (Bd. 1, S.262), und Eissler: »Ich dige, in sich gültige Texte zu behandeln, d.h.
glaube [ ... ], daß dieses Gedicht eine burleske weder die erste als >Vorstufe< noch die zweite
Attacke gegen Lili ist« (S. 771). Karl Otto Con- als >Korrektur<. - Wie im Faksimile der Ur-
rady konstatiert: »Lilis Park leistet sich einen schrift zu erkennen (FA I, 1, Abb. 6), sind die
geradezu ätzenden Spott« (S. 262). Für die ver- ersten zwei Strophen der ersten Fassung als
söhnlichere Deutung spricht sich G. in Dich- ein Block zu drucken, anders als in der Wei-
tung und Wahrheit aus: »Lili's Park mag unge- marer Ausgabe. Dies tut folgerichtig die
fahr in diese Epoche [Herbstmesse 1775; d. Frankfurter Ausgabe (FA I, 1, S.169). Die
Vf.] gehören; ich füge das Gedicht hier nicht zweite Fassung, die seit der Sammlung von
ein, weil es jenen zarten empfindlichen Zu- 1815 unter der Rubrik Lieder erscheint, wird
stand nicht ausdrückt, sondern nur, mit ge- im folgenden nach dem Text der Frankfurter
nialer Heftigkeit, das Widerwärtige zu er- Ausgabe zitiert (FA I, 1, S. 297).
höhn, und durch komisch ärgerliche Bilder das
Entsagen in Verzweiflung umzuwandeln trach- Die Reise unternahm G. mit den Grafen Fried-
tet« (WA 1,29, S. 159). Doch sollte nicht über- rich Leopold und Christian zu Stolberg sowie
sehen werden, daß eben diese Deutung noch Graf Christian August von Haugwitz, mit de-
dem alten G. Gelegenheit gibt, neben dem nen ihn immerhin, wie er in Dichtung und
Entsagen auch die Verzweiflung in Erinnerung Wahrheit schreibt, die Empfindung der »Fülle
zu rufen. einer Jugend« verband, »die sich fühlt und
nicht weiß, wo sie mit Kraft und Vermögen
hinaus soll« (FA I, 14, S. 785). Die späteren
Literatur: Bemerkungen G.s schwächen das Verhältnis zu
Beutler, Ernst: Lili. Wiederholte Spiegelungen. In: den jungen Leuten ab, doch im Tagebuch
ders.: Essays um Goethe. Bd. 2. Wiesbaden 1947, steht: »Gejauchzt bis Zwölf« (16.6. 1775), und
S. 1-160. - Boyle, Nicholas: Goethe. The Poet and auch: »Sauwohl u Projeckte« (21.6. 1775). Als
the Age. Volume 1. The Poetry of Desire. Oxford
1991. - CONRADY, S. 259-262. - Eibl, Komm. in FA I, tieferen Grund für die Reise deutet G. an:
2, S. 990. - EISSLER, Bd. 2, S. 161 ff. - Fischer-Lam- »einen Versuch zu machen ob ich Lilli ent-
berg, Komm. in JG Fischer-Lamberg 5, S. 424. GUN- behren könne« (FA I, 14, S. 785). G. hatte sich
DOLF, S.197-207. - Kraft, Werner: Eingemischte im Juni 1775 mit der Offenbacher Patriziers-
Prosasätze. Zu Lilis Park. In: Akzente. 3 (1956), tochter Lili Schönemann verlobt und erfahren,
H.4, S.374-376. - STAIGER, Bd. 1, S.245-264. - »wie es einem Bräutigam zu Mute sei« (ebd.,
Trunz, Komm. in HA 1, S. 526.
Per 0hrgaard S. 765). In seiner Autobiographie spricht er
140 Lyrik des Stunn und Drang. 1770-1775

von Gefühlen, »die sich schwer aussprechen mus wie in der Empfindsamkeit - so etwa in
und kawn erklären lassen« (ebd.). Die Verlo- Friedrich Leopold Stolbergs An die Natur -,
bung war eher eine Konsequenz der gesell- hat einen Assimilierungsprozeß in G.s eige-
schaftlichen Stellung Lilis gewesen, hatte sich nem Werk hinter sich (vgl. Burckhardt), bevor
sozusagen ergeben, nicht ohne das Zutun an- er prononciert in bildgrammatischer Anstö-
derer - G. nennt die Demoiselle (Helena Do- ßigkeit dieses Gedicht eröffnet. Der Unstim-
rothea) Delph. Gleich darauf schien ihm die migkeiten sind viele: ein Säugling ist nicht
Braut doch nicht »zu passen« (ebd., S.767), mehr der Embryo an der Nabelschnur und
und er unternahm die Schweizer Reise wenige noch längst kein Ich-Sager. Es ist das lyrische
Tage nach der Verlobung, immerhin »ohne Ab- Ich, »das in und aus einer von ihm selbst als
schied« (ebd., S.786), dem Geburtstag der sprachlos entworfenen Situation spricht« (Kai-
Braut entgehend. Auch der Abstecher zur ser 1991, S.63). Man betont neuerdings die
Schwester Cornelia wird in den Zusammen- Künstlichkeit, die Gefügtheit dieser Zeilen,
hang dieser gemischten Stimmung gebracht; nachdem die Kenntnis der Umstände ihrer
G. gibt an, »daß meine Schwester mir auf das Entstehung die Forschung allzu lange verführt
Ernsteste eine Trennung von Lilli empfohlen hat, das Gedicht als Prototyp der sogenannten
ja befohlen hatte« (ebd., S. 791). >Erlebnislyrik< zu betrachten. So noch, wenn
Mißverständnisse führten zur Entfremdung; auch abgeschwächt, bei Herbert Lehnert: »Das
und es mag gelten, daß beiden erst viel später Gedicht präsentiert die Wahl zwischen war-
bewußt wurde, was sie mit ihrer Trennung mer, aber enger menschlicher Existenz und
voneinander aufgegeben hatten. Die auf Emp- einem Leben für das selbstgenügsame, unge-
findsamkeit gestellte Reise, mit der Bibel, Ho- heuer reizende, aber gegenüber warmer
mer, Ossian und Klopstock als poetischer Weg- Menschlichkeit doch kühle Kunstwerk«
zehrung, bot keine ausreichende Bewältigung, (S. 32). G.s Hinweis, daß »die ganze Circula-
keine »frische Nahrung«. Die Tonart der >ge- tion« seiner »kleinen Individualität« durch die
nialischen< Gefahrten nötigte G. vielmehr zum Reise in die Schweiz »viel gewonnen« habe (an
Ausbruch, zur Unterscheidung. Als lyrischen Anna Luise Karseh, 17.8. 1775), ist damit zu
Durchbruch hat man das Lied denn auch ge- geschwind auf eine von Thomas Mann inspi-
wertet, dessen starker, metrisch betonter Ein- rierte Formel gebracht.
satz - »Ich saug« als Spondeus - sich vom
empfindsamen Freundschafts-»Wir« ebenso Das Gedicht bietet sich zweimal in Dreiteilun-
grundlegend entfernt, wie dessen Schlußbild, gen dar (in der Urschrift in Zweiteilung), näm-
die gespiegelte Frucht, den Sturm und Drang lich in der Druckfassung der Schriften und in
>reiflich< verabschiedet. der Sammlung von 1815. Diese ist vorzuzie-
hen, trägt sie doch auch den Rhythmuswech-
Wie schon Klopstock hat auch G. die Reise in seln Rechnung: Jambus, Trochäus, Daktylus
die Schweiz die Flucht vor einer problemati- bestimmen nacheinander die Strophen. Das ist
schen Liebe bedeutet, den Versuch, eine un- gelegentlich recht aufwendig gedeutet wor-
deutliche Gefühlslage zu klären. Bei bei den den, als Geburt des Daktylus aus Jambus und
meint das Seegedicht eine Überwindung, eine Trochäus (Burckhardt, S. 42f.). Plausibler ist
Rückkehr aus der Krise (vgl. Paulin). Doch es, von einer einfachen zeitgenössischen Se-
verläßt G. den Rahmen der Poetik Klopstocks. mantik der Metren auszugehen. Lehnert ver-
Der Bezug ist deutlich: die Bilderfolge von G.s weist für die ersten beiden Strophen auf den
Gedicht (die Höhe, die Welle, die beschattete Ton der Volksballade (vom Chevy-Chase-Typ),
Bucht, der niedergesenkte Blick, die reifende einen frischen, freien Ton, wie ihn auch G.s
Frucht) ist von Klopstocks Gedicht Der Zür- gleichzeitige Balladen pflegen. Selbstverfan-
chersee mitbestimmt. Das eigene Empfinden genheit und Selbstbewußtsein, ja entschiede-
sucht eine eigene Form; der Topos »Mutter nes Dagegenhalten (»Weg, du Trawn!«; V. 11)
Natur«, ein bildliches Allgemeingut im Pietis- geben dem Trochäus Charakter; außerdem
Auf dem See 141

verbindet er das Gedicht mit dem Lili-Lied Vers zwölf in Form eines Bildes gedeutet, sie
Neue Liebe neues Leben (FA I, 1, S.286) vom sei »die Strophe des wieder geöffneten Au-
Februar 1775, dessen Schlußvers »Liebe! ges«: Im Verhältnis der - in erotischer Bewe-
Liebe! laß mich los!« 01. 24) nicht nur rhyth- gung - aufeinander bezogenen Naturelemente
misch dem Vers »Weg, du Traum! so Gold du erscheint das Verhältnis der Liebe. Für die
bist« 01. 11) präludiert. Der Vers »Mich erman- Deutung ist es wichtig, wie hier geredet wird:
nen, ihr entfliehen« 01. 14) lautete da ur- fast immer reflexionsphilosophisch, d.h. der
sprünglich: »Sie mit festem Vorsatz fliehen«. »Durchbruch zu einer neuen Bewußtseins-
Der Daktylus der dritten Strophe ist gewiß stufe« (Dyck, S. 82) wird auch als Stufung im
nicht als Anspielung auf Klopstocks asklepia- Gedicht wahrgenommen, mit der frohgemuten
deische Ode zu lesen, wie Lehnert meint. These, Natur, Welt, Wirklichkeit gelte es, »ak-
»Schweben« 01. 14), »Welle« 01. 5), »umflü- tiv zu erschließen«, was Hans Jürgen Geerdts
geln« 01. 17) setzen eine freie Bewegung vor- dazu führt, auch das Saugen als »An eignung
aus, wie sie gern mit Kahnfahrten assoziiert der Welt, also der Wirklichkeit« zu deuten
wird. Man denke an die daktylischen Verse in (S.98). G.s Katachresen sind ihm kein Pro-
Stolbergs Lied von 1775 Auf dem Wasser zu blem. Dagegen hebt Gerhard Kaiser die Un-
singen: »Mitten im Schimmer der spiegelnden stimmigkeiten im poetischen Material hervor,
Wellen«. Annerose Schneider hat auf einen die Vermitteltheit der Bilder, mit denen Un-
Text von Johann Benjamin Michaelis aufmerk- mittelbarkeit suggeriert werden soll. Wie
sam gemacht, der sichtbar auf G.s Gedicht ein- kann man an seiner Nabelschnur saugen? Und
gewirkt hat (S. 283); auch dort, in dem Sing- dann noch sprechen? Das Einheitsbild hält
spiel Paros und Hyla (1772), wird die nächt- nicht lange: »Vor den Embryo schiebt sich das
liche Flucht der Liebenden im Kahn daktylisch Brustkind, das Kind in der Wiege, das Klein-
untermalt : »Wellen bespiegelten / Wellen, und kind im Lauf« (Kaiser 1991, S. 63).
Sterne / Kamen und flügelten / Hüpfend den Ebenso verweist der Ausdruck »bespiegeln«
Kahn«. auf ein Bewußtsein, auf das Ich als Subjekt.
Die so Signifikant eingesetzten Rhythmen Das Spiegel-Bild, worin das Gedicht mündet,
werden gern inhaltlich gedeutet: das Wiegen steht so nicht für »die Integration des Men-
im Anfang als mütterliche Bewegung (vgl. schen in die Natur« (Geerdts, S. 101), sondern
Dyck) , während andere an einen Liebesakt vollzieht, kraft seiner Fügung, »seine eigene
denken, mit dem Erfolgserlebnis »Hier auch Durchkreuzung auf paradoxe Weise«, sie im
Lieb' und Leben ist« 01. 12) als Höhepunkt und Vollzug integrierend (Kaiser 1991, S.64). Es
den Daktylen als gemeinschaftlichem Aus- ist die Frucht, die sich bespiegelt, nicht der
klang - eine biometrische Semantik! Vorsich- Himmel, wir haben also nicht das Bild der
tiger urteilt Nicholas Boyle, der das ausgewo- heiligen Hochzeit von Uranos und Gaia vor
gene Verhältnis von Subjekt und Objekt be- uns. »Die sich bespiegelnde Frucht ist ein
tont: »The rhythms alone can tell us that the Symbol, das seine Spaltung in sich aufnimmt
poem moves in a complex dance through vola- und einschließt. Sie steht für das Ich als Geist,
tility to calm« (S. 31). das sich denkend auf sich als Naturgeschöpf
Das Gefühl der Übereinstimmung und Un- zurückbeugt: das Kind, das sich im Spiegel des
gebrochenheit soll die ersten beiden Halbstro- Fruchtwassers von Mutter Natur erblickt«
phen charakterisieren und wird in der zweiten (ebd.)
Strophe erhalten, indem die Vergangenheit gar Es ist fraglich, ob dieser interpretatorische
nicht erst zugelassen wird (vgl. Dyck) - das Anschluß an Jacques Lacans Das Spiegelsta-
sprechende Ich hält sich im Bewußtsein der dium als Bildner der Ichfunktion (1949) der
Gegenwart; eine Kreisbewegung der Zeitstu- Schlußstellung des Bildes gerecht wird. Bei
fen Gegenwart-Vergangenheit-Gegenwart an- Klopstock war der Hinweis auf die Früchte
zunehmen, ist wenig plausibel. Die dritte Stro- eher beiläufig gegeben: »Von des schimmern-
phe wird so als Vollzug der Behauptung von den Sees Traubengestaden her«, und »Gebirge
142 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

voll von Reben« werden genannt. G.s Text S.22-32. - Paulin, Roger: Von Der Zürchersee zu
durchläuft sehr konsequent die zentralen Ent- Aufin Zürichersee. In: JbFDtHochst. (1987),
S.23-49. - Schneider, Annerose: Zu Goethes Ge-
wicklungsstadien: Embryo, Säugling, Kind,
dieht Auf dem See. In: GoetheJb. 92 (1975),
Lieb und Leben, so daß »die reifende Frucht« S. 281-285. - Vietor, Karl: Goethe. Dichtung. Wis-
mehr bedeuten mag als einen »Phasen-Effekt«, senschaft. Weltbild. Bem 1949.
einen »Spezialfall der Funktion der Imago, die
darin besteht, daß sie eine Beziehung herstellt Alexander von Barmann
zwischen dem Organismus und seiner Reali-
tät« (Lacan, S. 66). Karl Vietor hat auf die So-
natenform des Gedichts hingewiesen: »Es ist
ein >durchkomponiertes< Gedicht, nach Art
der Sonatenform aufgebaut in drei Sätzen von
wechselndem Rhythmus. Eine seelische Bewe-
gung wird in ihren Phasen wiedergegeben,
Im Herbst 1775
und so, daß nicht ein Abgeschlossenes erzählt
wird, sondern ein Lebensprozeß sich gegen-
wärtig vollzieht. Die Seele und ihre Spiege- Das Gedicht entstand 1775 in Frankfurt dicht
lung im Wort und Rhythmus, innere Bewegung vor G.s Übersiedlung nach Weimar und wurde
und Ausdruck sind hier so sehr eines, wie sie zuerst in Johann Georg Jacobis Zeitschrift Iris
es zu sein vermögen« (S. 48). Diese Deutung im September desselben Jahres mit der Über-
hält sich an Winke von G.s Symbollehre (vgl. schrift Im Herbst 1775- unterzeichnet mit der
Emrich), und so wäre das Schlußbild denn Chiffre »P.« - gedruckt. Der Titel findet sich
auch mit dieser als »Gleichniß einer glück- noch in dem von Barbara Schulthess in der
lichen Zeitlichkeit« aufzufassen, als Erlaubnis, nicht näher zu präzisierenden Zeit »vor des
»das Ende an den Anfang anzuschließen« (an Dichters italiänischer Reise« angelegten Ver-
Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra, 5. 1. zeichnis G.scher Gedichte (WA I, 1, S.365,
1814)). Nr. 16). Eine undatierte Abschrift Herders ist
überschrieben Herbstgifühl 1775, was eine
Zwischenstufe bildet zum verallgemeinernden
Literatur: Titel Herbstgifühl der Schriften (Bd. 8, 1789).
Boyle, Nicholas: Maifest und Aufdem See. In: GLL. Dort hat der Text gegenüber der U rfassung nur
N.S.36 (1982/83), No. 1/2, S. 18-34. - Burckhardt, geringfügige Änderungen erfahren. Allerdings
Sigurd: The Metaphorical Structure of Goethes Auf hatten schon die Herausgeber des Erstdrucks
dem See. In: GR.31 (1956), S. 35-48. - Dyck, Joa-
durch ausgiebige Interpunktion in die über-
chim: Die Physiognomie der Selbsterkenntnis:
Goethes Gedicht Auf dem See. In: Euphorion. 67 lieferte handschriftliche Vorlage - besonders
(1973), S. 74-84. - Emrich, Wilhelm: Die Symbolik in den freien Rhythmus - stark eingegriffen.
von Faust Il. Sinn und Vorformen. Bonn 1957. - Die in allen zeitgenössischen Drucken seit
Geerdts, Hans Jürgen: »Ich saug an meiner Nabel- 1789 und in den meisten späteren Editionen zu
schnur«. Lyrisches aus dem Jahr 1775. In: ders.: Zu findende Form »Laub'« (V. 1) ist weder durch
Goethe und anderen. Leipzig 1982, S. 96-105. - Kai-
die Handschrift noch durch den Erstdruck
ser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von
Goethe bis Heine. Frankfurt/M. 1988, S.93-101 - oder durch die handschriftliche Vorlage für die
ders.: Goethes Naturlyrik. In: GoetheJb. 108 (1991), Schriften gerechtfertigt. Sie dürfte schon dem
S. 61-66. - Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Zür- Sinn nach ein verschleppter Druckfehler sein.
chersee (1750). In: Boxberger, Robert (Hg.): Klop- Die Annahme, eine am Geländer heraufgrü-
stocks Werke. 5 Theil. Berlin o. J. (1879), S. 91-94.- nende Laube könnte gemeint sein (Eibi,
Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der
S. 1018), bedeutet gegenüber der Anrede an
Ichfunktion ... In: ders.: Schriften. Bd. 1. Ausgew.
und hg. von Norbert Haas. Frankfurt 1975, S. 61-70. die eigentlich »grünende« Pflanze selbst eine
- Lehnert, Herbert: Struktur und Sprachmagie. Zur Abschwächung von Sinn und Wirkung der Im-
Methode der Lyrik-Interpretation. Stuttgart 1966, perativform. Im folgenden wird nach der
Im Herbst 1775 143

~m ~erbfl 1775.

Wetter grune, bu ~au6!


;oa~ 9teb~lIgdettotr,
J)itr mein ~enfler ~erauf.
@ebrQngter quiUet
~tuiUiIl9ß, ~eere! unb reifet
E5d)udIer, unb 9fanlet boUer.
end, brütet ber rolutttl! Sonne·
ed)eibe&Uf, eud) umraufelt
l)eß (}otbt'l1 J}imn'ltTtJ
ßrdcf}tenbe ~uUt.
t!ud) fti~(d beß IDlonbß
gmmbfid}er ~au tl'ba·ud);
Ul1b eucf) betgallen, ~d}!
~rllß bieren ruugen I
1)« etuis bclcbettben ~iebe
moa fd)ltltUmbe It~rallell.

Iris-Druck 1775
144 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

Handschrift zitiert (FA I, 1, S. 174f.; Faksimile Naturlyrik, und nicht nur sie, die Situation erst
bei JG Morris 5, Tafel 9). beschreibend einleiten muß, um dann zu Ge-
Die Sprechsituation erinnert an den »sehn- danke und Gefühl überzugehen - etwa in der
süchtigen Aufenthalt« des Knaben im Haus am Art: »Ich sahe mit betrachtendem Gemüte /
Frankfurter Hirschgraben, wie ihn das Erste Jüngst einen Kirsch-Baum, welcher blühte«
Buch von Dichtung und Wahrheit schildert: (Brockes: Kirschblüte bei der Nacht, 1727)-,
»Im zweiten Stock befand sich ein Zimmer, sind hier jeweils in Imperativ plus Kompara-
welches man das Gartenzimmer nannte, weil tivadverb das wahrgenommene Phänomen und
man sich daselbst durch wenige Gewächse vor das antwortende Gefühl gleich konkret gege-
dem Fenster den Mangel eines Gartens zu er- ben. So evoziert die Aufforderung »Fetter
setzen gesucht hatte. Dort war, wie ich heran- grüne« das schon üppig wachsende Laub, ohne
wuchs, mein liebster, zwar nicht trauriger, es zu beschreiben, und feiert es, indem sie ein
aber doch sehnsüchtiger Aufenthalt. Über jene noch stärkeres Wachstum, eine sattere Farbe
Gärten hinaus, über Stadtmauern und Wälle wünscht. Es ist die sparsam-nachdrücklichste
sah man in eine schöne fruchtbare Ebene« (WA Form des Jasagens. Imperative bedeuten hier
1,26, S. 15f.). Die Passage hält Lage und Sen- nicht etwa einen menschlichen Willen zur
dung des künftigen Dichters in der konven- Herrschaft über die Natur, sie sekundieren
tionellen Gesellschaft des 18. Jhs. symbolisch vielmehr dem Naturwillen: So, wie die Er-
fest: zuinnerst das Stadthaus, davor die ge- scheinungen sind, sollen sie weiterhin blei-
zähmte Natur der Gärten, darüber hinaus of- ben, ja womöglich noch schöner, überwälti-
fene Landschaft. Die gewiß nicht wilden »Ge- gender werden, zuviel kann es dem Betrachter
wächse« am Fenster stehen gleichwohl vOr der nicht sein. Der Wunsch nach einer Steigerung
Schwelle des Bürgerlichen als ein Stück Natur, des Erlebten hört sich fast wie der Ausruf eines
ein Fremdes, das die kindliche Sehnsucht ins Liebenden an, bei dem - frei nach Römische
Freie geweckt hat. Sie weisen gleichsam aus Elegien III - »Begier dem Genuß« folgt. Es
der häuslich-gesellschaftlichen Geborgenheit handelt sich um eine aufgeregte und zugleich
hinaus in ein von der europäischen Lyrik da- behagliche Akzeptanz der Erscheinungswelt.
mals noch kaum erschlossenes Reich, das in Erscheinung beruht auf innerem Vorgang.
Briefen und Gedichten des jungen G. wieder- Die Pflanze wird schon in ihrer üppigen äuße-
holt »die freie Welt« heißen soll - wobei sich ren Schönheit wahrgenommen und bewun-
»frei« eigentlich auf den Dichter bezieht. dert, der Dichter ist ganz Auge dafür. Es ist
Derselbe Rahmen - buchstäblich eines Fen- aber zum Teil sein geistiges Auge, das von
sters - auch im Gedicht. Allein, der zu dieser Wachstum weiß und dessen nächste Stufe be-
Ausgangslage zurückgekehrt ist, hat die natür- reits vorwegnimmt. Gewiß, ein noch fetter
liche Welt inzwischen als »Wanderer« etwas grünendes Laub läßt sich - ausgerechnet im
kennengelernt, er steht den Phänomenen Herbst - kaum forcieren, ebensowenig ein
nicht mehr »sehnsüchtig«, sondern vertraut schnelleres Reifen der Trauben: Diese Auf-
und zugleich begeistert gegenüber. Schon die forderungen sind rein syntaktische Metaphern
Apostrophe »du Laub« (V. 1) schlägt im Unter- der Bejahung. Doch als sich G. die Beeren
schied zur distanziert-formellen Odenkonven- »gedrängter« (V. 4) und »glänzend voller« (V. 6)
tion - »0 Laub« - einen Ton der Intimität an. vorstellt, ist es sozusagen ein Wunschsehen,
Allerdings nicht den sanften, in dem Gärtner das sicher bald in Erfüllung gehen wird - auch
bekanntlich ihren Pflanzen zureden: der Ein- dies ein Unterschied zu vager lyrischer Sehn-
stieg mit Imperativen - »Fetter grüne« (V. 1), sucht. Vor allem, daß der Dichter Empfindun-
»quillet« (V. 4), »reifet« (V. 5); der Erstdruck gen so »gedrängt und glänzend voll« mitteilen
weist einen weiteren auf: »glänzet«, statt kann, und zwar fast ohne von der eigenen Per-
»glänzend« (V. 6) - ist von frappierender Dyna- son zu sprechen - »mein [Hv. v. Vf.] Fenster«
mik. Durch die unerwartete Verbform ist auf (V. 5) bezeichnet allenfalls mit denkbarer
kleinstem Raum viel gesagt. Wo eine ältere Sparsamkeit den Blickpunkt -, ist keine ge-
Im Herbst 1775 145

ringe Leistung. Lange nämlich bevor die Kon- Konzetti endet - als bedürften die Trauben der
vention romantisch-lyrischer Subjektivität ge- Mondkühlung oder gar des Tränentaus, als
schichtlich ausgelaugt wurde, ja zu einer Zeit, wäre die Natur auf den Menschen angewiesen.
da sie sich eben erst einzubürgern begann, hat Dieser Schlußpointe strebt alles zu.
G. in diesen Eingangsversen an den Schwie- Der Begriff »Pointe« wird gewöhnlich nur in
rigkeiten des Ich-Sagens gleichsam vorbeige- der Diskussion über G.s frühe Anakreontik
dichtet. Der glückliche Griff bildet einen Hö- bemüht. Schon bei der eleganten Satzkon-
hepunkt seiner frühen Lyrik. struktion könnten Gedanken an die Anakreon-
Auch weiterhin ist vom Ich nicht ausdrück- tik aufkommen - wenn schon hier die Virtuosi-
lich die Rede. Dennoch hat sich der Blickpunkt tät höher, die rhythmische Bewegung freier,
leise gewandelt, wir kommen allmählich von die Wortprägungen : »Scheideblick«, »umsäu-
der Pflanzenwirklichkeit ab. Die Rebe wird selt« cv.8) und die Alliteration: »Des holden
zwar weiter angeredet, jetzt werden aber die Himmels / Fruchtende Fülle« cv. 9f.) bezau-
Bedingungen ihres Wachstums bewußt poeti- bernder sind als in jenen jugendlichen Stil-
sierend vorgeführt: vom »Scheideblick« der übungen. Gleichwohl zeigt das Gran Berech-
»Mutter Sonne« cv.7f.) gegen Jahresende über nung an der Abrundung dieses so kräftig ein-
»Des holden Himmels / Fruchtende Fülle« bis setzenden Gedichts die Schwelle zum sym-
zum Einfluß des Mondes cv.9ff.). Ausgerech- bolischen Sprechen an: Nicht alles ist hier
net des Mondes? Es mag an dem sein, daß Symbol, entgegen der Meinung Max Kom-
nachts die Naturprozesse ruhen, Kräfte sam- merells (S. 88) sind die menschlichen Belange
meln müssen. Eher scheint aber die Phantasie nicht so restlos im Gegenstand aufgegangen,
überhand nehmen zu wollen. Zum bewußten wie etwa bei dem eng benachbarten, Maßstäbe
Poetisieren paßt auch, daß der eine Satz, in setzenden Gedicht Auf dem See. Allerdings:
dem das geschieht - er macht den ganzen Die Liebe wird im Herbstgedicht anders als in
zweiten Teil des Gedichts aus -, ebenso be- der Anakreontik nicht selber zum Spiel, die
wußt rhetorisch gegliedert ist. Forderten die Natur nicht zum Requisit herabgewürdigt.
Anfangsverse enthusiastisch-überstürzt eine Liebe wird im Gegenteil zu einer majestäti-
Steigerung des Erlebten, so herrscht hier eine schen, »ewig belebenden« Kraft cv.15) aufge-
rein stilistische Steigerung. Wo der Eingang wertet, die sich im großen Naturprozeß wie in
das für den jungen G. typische Zur-Form-Fin- Glück und Schmerz des Einzelnen äußert. Es
den verkörperte, das der Terminus »freie sind nämlich nicht einfach seine, sondern
Verse« nur schwach bezeichnet, so wird jetzt durch ihn hindurch »der ewig belebenden
auf einen eleganten Schlußeffekt hingearbei- Liebe / Vollschwellende Tränen« cv.
15f.).
tet. Der Satz steigt über drei Stufen bis zum Auch er ist Teil eines größeren Ganzen.
kurz hinhaltenden »Ach!«, um seinen Höhe- Doch ist es sein Einzelschmerz, von dem das
punkt in den Tränen zu erreichen, welche die Gedicht ausgeht und der am Schluß verwan-
Trauben angeblich »betauen« cv.13-16). Ins- delt wiederkehrt. Erst dort erfahren wir, daß
gesamt vier recht unterschiedliche Einflüsse, »diese Augen« cv. 14) voll Tränen stehen, also
die ein viermal wiederholtes »euch« - also die daß der Blick auf die Rebe einen unglücklich
Beeren - zum Gegenstand haben: Das ist bei Liebenden aus seinem Grübeln herausgeris-
aller Ausgewogenheit der Satzgliederung viel- sen haben muß. Die strotzende Fülle der
leicht eine Spur zu viel, jedenfalls ein Stück Pflanze und ihr Einbezogensein in ein über-
mehr als die maßgebliche Trias der instinkti- greifendes Wachstumssystem haben dem Lei-
ven wie der orthodoxen Rhetorik. Dem ent- den plötzlich einen naturhaften Sinn gegeben:
spricht denn auch der Inhalt: Das letzte Ele- zwar nicht den vordergründigen des Wort-
ment erübrigt sich, die Tränen werden dem spiels vom »Betauen«, das eigentlich nur eine
Naturprozeß aufgedrängt. Womit auf etwas pe- Arabeske ist, aber den dahinter liegenden ei-
dantischem Umweg gesagt sein soll, daß das ner Befruchtung durch den Schmerz. Das ist
Poetisieren in einem Spiel mit poetischen ein ständiges Thema der frühen Lyrik: die
146 Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775

nicht trocknen sollenden Liebestränen : nonne der frühen Weimarer Jahre entgegen. Abge-
der Wehmut, der Schmerz auch bei Gottes- schlossen freilich ist damit nur ein erster
liebe, der »also fort / Durch Nerv' und Adern schöpferischer Kreislauf.
wühlen« soll: Sehnsucht (FA I, 1, S. 705,
V. 7f.). So oder so erhält Liebesschmerz in rät-
selhafter Weise lebendig, bewahrt vor dem
Verstumpfen, läßt reifen. Intensität des Ge-
fühls geht allemal vor landläufiger Zufrieden- Literatur:
heit; die Liebe wirkt auch im menschlichen Blackall, Eric A.: Die Entwicklung des Deutschen
Teilbereich der Natur, auch in ihrer Leidens- zur Literatursprache 1700-1775. Stuttgart 1966. -
gestalt, »ewig belebend«. Eibl, Komm. in FA I, 1, S. 1018-1019. - Killy, Wal-
»Herbst« hat auch über das Gedicht hinaus ther: Wandlungen des lyrischen Bildes. Göttingen
einen symbolischen Sinn für G.s Schreiben. 1956, S.23ff. - KOMMERELL, S.82-88. - Weimar,
Klaus: Goethes Gedichte 1769-1775. Interpretatio-
Der Herbst 1775 ist Erntezeit und Abschluß
nen zu einem Anfang. Paderbom 1982, S. 123-130.
der ersten großen Phase seiner Lyrik. Er geht
jetzt der dichterisch relativ winterlichen Zeit Terence James Reed
147

Lyrik des ersten Weimarer sprechen. So wurde von den knapp 140 Ge-
dichten, die im ersten Weimarer Jahrzehnt
Jahrzehnts. 1776-1786 entstanden, lediglich die geringe Zahl von
etwa zwanzig in diesem Zeitraum überhaupt
veröffentlicht; nur sie waren damit über den
engen Kreis Weimars, in dem immerhin eine
Die Epoche deutlich größere Zahl zirkulierte, hinaus be-
kannt. Die Mehrzahl der in den Jahren zwi-
schen 1775 und 1786 bereits veröffentlichten
In G.s Lebensgang war das erste Weimarer Gedichte übernahm G. in den achten Band der
Jahrzehnt eine entscheidende Epoche; ihren Schriften, der 1789 erschien; außerdem ent-
literarischen Ertrag jedoch hat G. in späteren hielt dieser Band, in dem auch ein nicht gerin-
Jahren eher gering eingeschätzt. Insbesondere ger Teil der Lyrik G.s vor 1775 erstmals ver-
durch seine Tätigkeit im Staatsdienst sei, ließ öffentlicht wurde, etwa 40 weitere Gedichte
Johann Peter Eckennann G. am 10.2. 1829 aus dem ersten Weimarer Jahrzehnt. Etwa
sagen, das »poetische Talent im Konflikt mit zwanzig weitere Gedichte aus dieser Zeit
der Realität« gestanden; deshalb habe er »in nahm G. dann in die späteren Ausgaben seiner
den ersten zehn Jahren nichts Poetisches von Werke auf, vorrangig in die 1815 erschienenen
Bedeutung hervorgebracht« und sei schließ- ersten beiden Bände der zweiten Werkausgabe
lich zur »Flucht nach Italien« genötigt gewe- bei Cotta. Etwas mehr als ein Drittel der Ge-
sen, »um sich zu poetischer Produktivität wie- dichte aus dem ersten Weimarer Jahrzehnt je-
der herzustellen«. Mag diese Selbsteinschät- doch wurde der Öffentlichkeit überhaupt erst
zung G.s im Bereich des Dramas und der Epik nach G.s Tod bekannt; dazu gehören neben
immerhin zutreffen und das erste Weimarer einer Reihe von Gelegenheitsgedichten, die
Jahrzehnt eine Epoche der nicht zu Ende ge- vorrangig an Personen gerichtet sind, die mei-
führten Projekte sein; bei der Lyrik gibt es sten der Gedichte an Charlotte von Stein, die
gute Gründe, ihm zu widersprechen. Schließ- auch in Weimar weitgehend unbekannt geblie-
lich gehören einige der Gedichte, die in den ben waren. Die Gelegenheitsgedichte an Per-
Jahren zwischen G.s Ankunft in Weimar am sonen und die Gedichte an Charlotte von Stein
7.11. 1775 und seiner Abreise nach Italien aus bilden die beiden quantitativ größten Gruppen
Karlsbad am 3.9.1786 entstanden sind, zu sei- in der Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts;
nen gelungensten und auch berühmtesten, so hinzu kommen weitere Gelegenheitsgedichte,
das als Wandrers Nachtlied bekannte Gedicht Texte, die der Naturlyrik und der Liebeslyrik
Über allen Gipfeln ist Ruh oder die Hymnen zugeordnet werden können, Gedichte weltan-
wie Harzreise im Winter, Grenzen der Mensch- schaulichen oder reflexiven, nicht zuletzt poe-
heit, Gesang der Geister über den Wassern, die tologischen Charakters, einige Balladen und
beiden Balladen Der Fischer und Erlkönig, die etliche der Geselligkeit gewidmete Lieder.
Zueignung und, nicht zuletzt, die Gedichte an G. selbst hat in den Ausgaben ab 1815 die im
Charlotte von Stein bis hin zu Warum gabst du ersten Weimarer Jahrzehnt entstandenen und
uns die Tiifen Blicke. Die literaturhistorische von ihm veröffentlichten Gedichte im wesent-
Forschung allerdings hat, insbesondere unter lichen den vier Rubriken Lieder, vermischte
dem Einfluß einer Dichtungsvorstellung, nach Gedichte, wozu auch die Hymnen gestellt wur-
der amtliche und politische Tätigkeit poeti- den, Epigrammatisches und Antiker Form sich
sche Kreativität notwendig beeinträchtige, G.s nähernd zugeordnet; ein kleiner Rest ist unter
Selbsteinschätzung über lange Zeit bereitwil- An Personen, Kunst, Balladen, Gesellige Lie-
lig übernommen und das erste Weimarer Jahr- der gefaßt. Freie Rhythmen und Liedstrophen
zehnt ausschließlich als eine Epoche des Über- im Volkston kommen in der Lyrik des ersten
gangs verstanden. Und immerhin scheinen ei- Weimarer Jahrzehnts ebenso vor wie komple-
nige Daten für eine solche Einschätzung zu xere und strengere Strophenfonnen; in den
148 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

80er Jahren schrieb G. erstmals Gedichte in deutenden Hügel! und mir fuhrs durch die
Hexametern und in Distichen. Das erste Wei- Seele - Wenn du nun auch das einmal ver-
marer Jahrzehnt zeigt so eine beachtliche Viel- lassen musst! das Land wo du so viel gefunden
falt des lyrischen Sprechens; andere Epochen hast, alle Glückseeligkeit gefunden hast die
von G.s Schreiben wie die Jahre des Sturm und ein Sterblicher träumen darf, wo du zwischen
Drang oder das klassische Jahrzehnt erschei- Behagen und Mißbehagen, in ewig klingender
nen einheitlicher oder sind jedenfalls durch Existenz schwebst - wenn du auch das zu ver-
die Dominanz einer spezifischen lyrischen lassen gedrungen würdest mit einem Stab in
Sprechweise gekennzeichnet. Vor allem in den der Hand, wie du dein Vaterland verlassen
ersten Jahren in Weimar, in denen G. auch hast. Es kamen mir die Trähnen in die Augen,
mehrfach an seine vorangegangene Lyrik an- und ich fühlte mich starck genug auch das zu
knüpfte, ist solche Vielfalt zu bemerken. Im tragen«. Dieser - wie die Schrift zu erkennen
Verlauf der Jahre in Weimar ließ die lyrische gibt - sehr rasch niedergeschriebene Brief ist
Produktivität nach, wobei zudem in der Lyrik einigermaßen irritierend und läßt durchaus
der 80er Jahre die Gelegenheitsgedichte deut- widersprüchliche Empfindungen erkennen.
lich überwogen. Der Beginn der 80er Jahre Warum spricht G. von »unbedeutenden« Hü-
markiert so einen Abschnitt in G.s Lyrik; und geln; warum sieht er sich schweben zwischen
auch in anderen Lebensbereichen sind in die- »Behagen und Mißbehagen«, da er doch »alle
sen Jahren Veränderungen zu bemerken, in Glückseeligkeit« gefunden hatte; warum wählt
der Beziehung zu Charlotte von Stein oder im er die Metapher der Vertreibung, der Flucht
Verhältnis zu Johann Gottfried Herder, dem ins Elend, die sein Weggang aus Frankfurt nun
sich G. wieder näherte, in der Wiederauf- gewiß nicht gewesen war, wobei er zudem mit
nahme der Arbeit an Wilhelm Meisters Thea- »Stab« und »Vaterland« vorgeprägte, nahezu
tralischer Sendung oder in den nun zuneh- klischeehafte Formulierungen gebraucht? Fast
menden Äußerungen von Unzufriedenheit mit läßt sich von einer ecriture automatique spre-
der eigenen Situation in Weimar. chen, die zu Fehlleistungen fUhrt, in denen
tiefsitzende, ansonsten verborgene Wider-
sprüche und Widerstände um so deutlicher
AInbivalentes Weltgefühl sichtbar werden.
Das Gefühl der Ambivalenz von »Behagen
Solche Bekundungen von Unzufriedenheit, die und Mißbehagen« war fraglos vornehmlich in
auch der späteren, zu Eckermann geäußerten der Einschränkung der poetischen Produktivi-
Selbsteinschätzung entsprächen, sind in den tät begründet. Am 15.9. 1780 schickte G. an
Zeugnissen aus den ersten Jahren in Weimar Charlotte von Stein das vermutlich am Vortag
kaum zu finden. In sehr bewußter Entschei- entstandene Gedicht Meine Göttin, eine in
dung ließ sich G. auf die Arbeit, auf die Tätig- freien Rhythmen gehaltene Preis-Ode an das
keiten ein, welche die verschiedenen Ämter, dichterische Vermögen der Einbildungskraft;
die er nach und nach übernahm, von ihm ver- am Tag zuvor hatte er an Frau von Stein ge-
langten, wohl wissend, daß er damit die poeti- schrieben: »0 thou sweet Poetry ruf ich
sche Produktion unvermeidbar hintansetzen manchmal und preise den Marck Antonin
mußte. Gleichwohl gab es bereits sehr früh glücklich, wie er auch selbst den Göttern dafUr
Äußerungen des Zweifels und des Selbstzwei- danckt, dass er sich in die Dichtkunst und
fels, die eine doch tiefsitzende Ambivalenz er- Beredsamkeit nicht eingelassen. Ich entziehe
kennen ließen. Am 16.7. 1776 berichtete G. in diesen Springwercken und Caskaden soviel
einem Brief an Charlotte von Stein von seinem möglich die Wasser und schlage sie auf Müh-
nächtlichen Ritt von Apolda zurück nach Wei- len und in die Wässerungen aber eh ichs mich
mar; er sei, so schrieb er, »in Gedancken« fort- versehe zieht ein böser Genius den Zapfen und
geritten: »Da fiel mirs auf wie mir die Gegend alles springt und sprudelt. Und wenn ich den-
so lieb ist, das Land! der Ettersberg ! die unbe- cke ich sizze auf meinem Klepper und reite
Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786 149

meine pflichtmäsige Station ab, auf einmal Göschen arbeite, und er erzählt weiter, daß er
kriegt die Mähre unter mir eine herrliche Ge- alle Briefe seit 1772 und anderes aus dieser
stalt, unbezwingliche Lust und Flügel und Zeit sammle und binden lasse: »Welch ein An-
geht mit mir davon«. Einige Monate früher, am blick! mir wirds doch manchmal heis dabey.
14.5. 1780, schrieb G. an Johann Christian Aber ich lasse nicht ab, ich will diese zehn
Kestner: »Meine Schriftstellerey subordinirt Jahre vor mir liegen sehen wie ein langes
sich dem Leben, doch erlaub ich mir, nach dem durchwandertes Thai vom Hügel gesehn
Beyspiel des grosen Königs der täglich einige wird«. Der Rückblick auf die letzten zehn
Stunden auf die Flöte wandte, auch manchmal Jahre, die G. offenbar wie eine zusammenhän-
eine Übung in dem Talente das mir eigen ist. gende Wegstrecke erschienen, zeigt erneut,
Geschrieben liegt noch viel, fast noch einmal daß der Beginn der 80er Jahre einen Abschnitt
so viel als gedruckt, Plane hab ich auch genug, markiert. Insbesondere im Zusammenhang
zur Ausführung aber fehlt mir Sammlung und mit der Arbeit für die Werkausgabe mehrten
lange Weile«. Beide Briefzeugnisse lassen den sich in den folgenden Jahren die Klagen über
inneren Konflikt erkennen, den er in sich aus- das Nachlassen der poetischen Produktivität;
tragen mußte, wenn er die »Schriftstellerey«, G. war in eine Krise seiner dichterischen Krea-
das Talent, von dem er sagte, daß es ihm »ei- tivität geraten.
gen« sei, dem »Leben« und also vorrangig den
amtlichen Tätigkeiten unterordnet, wenn er
seine Lebenskraft auf das Nützliche, die Eine erste Bilanz: Ilmenau
»Mühlen« und die »Wässerungen« richtet, die
nicht zuletzt nützlich sind für andere Men- Das Gefühl der Ambivalenz prägte auch das
schen, und sie abzieht vom Vergnügen der 1785 geschriebene, an den Herzog gerichtete
Kunst, von den »Springwercken und Caska- Gedicht Ilmenau, in dem G. eine poetische
den«, wenn er im Ausbruch poetischer Produk- Bilanz der bisherigen Zeit in Weimar und sei-
tivität mitten im »pflichtmäsigen« Tun einen ner Tätigkeit am Hof und im Herzogtum zog.
»bösen Genius« am Werke sieht und darin Ilmenau ist damit ein Gedicht der Selbstrefle-
doch »unbezwingliche Lust« erfahrt. Dieser xion; es gehört zu den vornehmlich im ersten
Konflikt hat seinen Ausdruck auch in der Jahrzehnt in Weimar für G. wichtigen Gedich-
Sehnsucht nach Ruhe und nach Geborgenheit ten, in denen er lyrisches Sprechen zur Selbst-
gefunden, die in der Lyrik des ersten Wei- reflexion nützte und darin auch an seine frü-
marer Jahrzehnts mehrfach, so zum Beispiel in here Lyrik anknüpfte; spätestens seit der
den beiden mit wandrers Nachtlied über- Straßburger Zeit war Lyrik für G. ein Medium
schriebenen Gedichten Der du von dem Him- der Selbstverständigung. Zu ihr gehörte jetzt
mel bist und Über allen Gipfeln ist Ruh be- vor allem die Reflexion auf die Situation am
schworen wird. Im Laufe der Jahre fand G., so Hof und im Herzogtum, die in eher beiläufig
scheint es, zu einem Arrangement zwischen erscheinenden Gedichten wie Ich weiß nicht
den Ansprüchen von Amt und Hof einerseits was mir hier gifällt oder Hierhergetrabt die
und Dichtung andererseits, gleichsam zu einer Brust voll tiifem Wühlen ebenso ihre Gestalt
Art doppelter Existenz oder des Doppellebens; fand wie in den großen Hymnen, in Seifahrt
am 21.11. 1782 schrieb er an Karl Ludwig von etwa oder in der Harzreise im Winter, mit de-
Knebel: »Ich habe mein politisches und gesell- nen G. gleichfalls an seine frühere Lyrik an-
schafftliches Leben ganz von meinem morali- schloß. Dabei ist die Reflexion auf die Tätig-
schen und poetischen getrennt (äusserlich ver- keit immer wieder mit dem Thema Kunst und
steht sich) und so befinde ich mich am besten«. Künstler verbunden. Die Selbstverständigung
Im selben Brief berichtete G., daß er an Wil- G.s ist - gerade in der Lyrik - stets Reflexion
helm Meisters Theatralischer Sendung und vor auf die eigene Dichter-Existenz; darin haben
allem an der Neufassung der Leiden des jungen die Gedichte ihre poetologische Dimension.
Werthers für die Ausgabe seiner Schriften bei So ist das 1777 entstandene Gedicht Harzreise
150 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

im Winter, in dem - mit Anklängen an ffundrers Gelegenheitsdichtung


Sturm lied - die Wanderung durch den Winter
zur Vergewisserung des eigenen Lebensweges Mit der in der Harzreise im Winter und in
wird, bestimmt von der Opposition zwischen anderen Gedichten gestalteten und reflektier-
Einbildungskraft und Tätigkeit, die ebenso als ten Opposition zwischen Tätigkeit und Ein-
Arbeit am Hofwie als Anstrengung der winter- bildungskraft, Arbeit und Poesie ist eine funda-
lichen Reise selbst erscheint. Gerade die Hym- mentale Spannung des ersten Weimarer Jahr-
nen aber lassen in ihrer Abfolge einen Wandel zehnts bezeichnet. In einem Teil der Lyrik, in
erkennen, der als eine Rücknahme früherer den Gelegenheitsgedichten, sind die beiden
Positionen und als Distanzierung vom vorange- Pole dieser Spannung gewissermaßen verei-
henden lyrischen Sprechen verstanden werden nigt; denn dazu zählt im ersten Weimarer Jahr-
kann. Bereits im Gedicht Seifahrtvom Septem- zehnt wie in der späteren Zeit neben den Ge-
ber 1776, dessen freie Rhythmen deutlich an dichten an Personen, den eher beiläufigen
die Lyrik der Frankfurter Zeit anschließen, Briefgedichten, den Stammbucheintragungen
fällt der Wechsel von der ersten zur dritten und auch manchen Belanglosigkeiten die für
Person auf; aus dem »Ich im Hafen« der ersten höfische Anlässe geschriebene Lyrik. Einzel-
Strophe wird in der letzten Strophe ein »er«, texte wie Ilmenau, von G. zum 26. Geburtstag
der »männlich an dem Steuer« des Schiffes des Herzogs verfaßt, gehören dazu ebenso wie
steht (MA 2.1, S. 27f.). Diese Rücknahme von Texte, die ursprünglich in einen weiteren poe-
Unmittelbarkeit, die auch eine Distanzierung tischen Kontext eingeordnet waren; so war die
von der Möglichkeit des unverstellten subjek- Ballade Erlkönig zunächst eine Arie, mit der
tiven Ausdrucks ist, zeigt sich insbesondere in das 1782 zu Ehren der Herzoginmutter Anna
sprachlich-stilistischen und formalen Verände- Amalia aufgeführte Singspiel Die Fischerin be-
rungen. Die Sprache in den Hymnen ist ge- gann. Zu im engeren Sinne »höfischer« Lyrik
messener und gezügelter, das noch immer vor- zählen auch die für die Geselligkeit geschrie-
handene Pathos deutlich gedämpft. Zugleich benen Texte wie die gemeinsam mit Siegmund
wurden die Gedichte artifizieller, erscheinen, von Seckendorff zum Neujahr 1779 verfaßten
etwa in der zunehmenden Angleichung der Gedichte auf Weimarer Hofdamen; derglei-
einzelnen Strophen, durchgebildeter. Dieser chen Lyrik war Teil der poetischen Kommu-
Wandel in Sprache und Stil haltung ging, wie in nikation am Weimarer »Musenhof«. Die Pro-
Grenzen der Menschheit (1779/81), das als ein duktion solcher Hofpoesie gehörte zu den Auf-
Gegengesang zur Prometheus-Hymne verstan- gaben G.s; sie wurde von ihm erwartet, ja
den werden kann, einher mit der Absage an verlangt, und er hat sie zeit seines Lebens,
den emphatischen Geniebegriff der frühen wenn auch gelegentlich mit Unmut, angefer-
70er Jahre. Der Abkehr von der Unmittelbar- tigt. Immerhin verweist die Gelegenheitspoe-
keit des subjektiven Ausdrucks entsprach die sie darauf, daß mit »Tätigkeit« und »Poesie«
stärkere Hinwendung zum Konkreten, die nicht zwei grundsätzlich unvereinbare, einan-
gleichsam realistische Wiedergabe gerade von der gar notwendigerweise ausschließende
Naturphänomenen wie im 1779 entstandenen Sachverhalte bezeichnet sind; zu den Anstren-
Gesang der Geister über den ffussem, wobei gungen G.s im ersten Weimarer Jahrzehnt -
solche Tendenz zum Objektiven auch, wie in und in den späteren Jahren - gehörte es ge-
Das Göttliche von 1785, Lehrhaftigkeit und rade, beides zu vereinbaren. Auch wäre es eine
eine Neigung zur Abstraktion einschließen lediglich oberflächliche Sicht, die Ambivalenz
kann. In diesen Gedichten gewann die Selbst- im ersten Weimarer Jahrzehnt allein im Ge-
verständigung allgemeine Bedeutung; der sub- gensatz von Politik und Dichtung begründet zu
jektive Ausdruck und der sprachliche Gestus sehen und dabei gar, einem Klischee folgend,
der Individualität sind in eine ich-distanzierte den weitabgewandten, sich selbst genügenden
Rede überführt, die darin weltanschaulichen Dichter und Produzenten autonomer Kunst
Charakter erhält. dem im Amte praktisch Tätigen oder dem welt-
Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786 151

zugewandten Hofmann entgegenzustellen. Die sind Entwicklungen G.s angesprochen, die


Opposition ist vielmehr, wie die entsprechen- sich im ersten Weimarer Jahrzehnt vollzogen
den Gedichte und andere Dichtungen G.s bis und sich auf mannigfache Weise in seinen ver-
hin zu Torquato Tasso zeigen, weitaus kom- schiedenen Lebens- und Tätigkeitsbereichen
plexer und in sich gebrochener, als daß sie zeigten. Mit ihnen sind aber ebenso charak-
durch einfache Dichotomien zureichend gefaßt teristische Merkmale der an Charlotte von
werden könnte. Als eine elementare, das erste Stein gerichteten Lyrik benannt, die - keines-
Weimarer Jahrzehnt gleichsam als Grundton wegs allein in quantitativer Hinsicht und ob-
bestimmende Spannung aber läßt sich der Wi- gleich sie von G. nicht veröffentlicht wurde -
derspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit das Zentrum der lyrischen Produktion dieser
benennen, der sich in den verschiedenen Le- Zeit bildete.
bensbereichen G.s in sehr unterschiedlicher Ein großer Teil der Gedichte an Charlotte
Ausprägung äußerte. von Stein sind in einem spezifischen Sinne
Briefgedichte, Gedichte nämlich, die G. seinen
Briefen an Charlotte von Stein beigab, die gele-
Die Gedichte für Charlotte von gentlich auch an die Stelle eines Briefes treten
Stein können und die so einen Teil der umfangrei-
chen und mannigfaltigen Korrespondenz der
Diese Ambivalenz prägte auch die Beziehung beiden bildeten, von der, da Charlotte von
zu Charlotte von Stein, die - neben der zum Stein später ihre Briefe von G. zurückforderte
Herzog Carl August - ohne Frage die wichtig- und vernichtete, nur die Briefe G.s erhalten
ste Beziehung G.s im ersten Weimarer Jahr- sind. Wie die Briefe waren damit auch die
zehnt war. Über diese Beziehung ist in der Gedichte zunächst Teil der Beziehung und der
G .-Forschung viel geschrieben, viel gerätselt Kommunikation der beiden Liebenden; sie ge-
worden. Und zweifellos war der Einfluß Char- hörten zu ihrem persönlichen, privaten Dialog.
lotte von Steins auf G.s Entwicklung in den Die literaturwissenschaftliche Forschung hat
ersten Jahren in Weimar und damit auf seinen seit der ersten Veröffentlichung der Briefe und
Lebensweg überhaupt von zentraler, ja mögli- Gedichte durch Adolf Schöll 1848 immer wie-
cherweise ausschlaggebender Bedeutung. De- der nach der genauen biographischen Veror-
ren Kern hat G. selbst benannt - in den beiden, tung einzelner Texte gefragt und zugleich die
beim Nachdenken über diese Beziehung im- Gedichte zur Klärung der Beziehung heranzu-
mer wieder und zu Recht zitierten Versen aus ziehen versucht. Die Gedichte sind jedoch -
dem bekannten, bereits im April 1776 entstan- jenseits der biographischen Bedeutung, die sie
denen Gedicht Warum gabst du uns die Tiifen für G. und ebenso fur Charlotte von Stein hat-
Blicke, in denen komprimiert ist, was G. auch ten und durch die sie auch Zeugnisse dieser
in anderen Gedichten und in seinen Briefen Beziehung wie der Entwicklung G.s in ihr sind
immer wieder ausgesprochen hat: »Tropftest - vor allem große Liebeslyrik, sind lyrische
Mäßigung dem heißen Blute, / Richtetest den Gestaltungen der Möglichkeiten einer Liebes-
wilden irren Lauf« (MA 2.1, S. 23). Bereits in beziehung oder jedenfalls der Erfahrung und
Jägers Abendlied, dem vermutlich ersten Ge- der Sehweise des männlichen Partners. Die
dicht G .s, das zur Beziehung zu Charlotte von Gedichte an Charlotte von Stein sind so ein Teil
Stein gehört, wurde der Frau in der Kontami- der Liebeslyrik G.s überhaupt, gehören mithin
nation ihres Bildes mit dem des Mondes eine zu einem Genre, in dem G. sich von seinen
besänftigende Wirkung zugesprochen; und der lyrischen Anfangen an versuchte. Ihre Beson-
Mond blieb eine der zentralen Metaphern in derheit tritt gerade im Vergleich mit der voran-
den Gedichten an Charlotte von Stein, die nach gegangenen Liebeslyrik deutlich hervor, mit
der poetischen Chiffre »Lida«, die G. für sie den Rokoko-Liedern der Leipziger Zeit, mit
wählte, gelegentlich auch Lida-Gedichte ge- den Gedichten der enthusiastischen Glückser-
nannt werden. Mit Mäßigung und Bändigung fahrung und der schmerzlichen Erfahrung von
152 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

Trennung und Schuld, wie er sie in Straßburg ner nur imagInIerten Erfüllung, weil die
schrieb, mit den eher verhaltenen, dabei auch »Wirklichkeit« den Wunsch negiert und dessen
spielerischen und doch zugleich melancholisch Erfüllung versagt.
gestimmten Lili-Gedichten der Frankfurter
Zeit. Zu den Charakteristika der Lida-Lyrik
gehört zunächst die Vielfalt der lyrischen Das neue Naturverständnis
Töne, die nicht zuletzt aus der spezifischen
Kommunikationssituation resultierte, in der In dem erst 1820 veröffentlichten Gedicht
die Gedichte geschrieben sind; sie reicht von Zwischen beiden Welten, dessen Anfangsverse
eher beiläufig hingeschriebenen Zeilen und möglicherweise bereits im ersten Weimarer
schlichten Grüßen in Versform über komple- Jahrzehnt geschrieben wurden, hat G. die Be-
xere, oft mehrstrophige Gedichte, in denen G. deutung, die Charlotte von Stein für ihn hatte,
seinen Empfindungen Ausdruck gab und die auf nachdrückliche Weise formuliert; neben
als Liebesgedichte in einem eigentlichen Sinne Shakespeare nennt er sie die bestimmende Er-
bezeichnet werden können, hin zu den lyri- fahrung seines Lebens: »Lida! Glück der näch-
schen Reflexionen über diese Beziehung wie in sten Nähe, / William! Stern der schönsten
Warum gabst du uns die Tüifen Blicke. Die Höhe, / Euch verdank' ich was ich bin«
meisten Gedichte sind künstlerisch durchgear- (MA 15.1, S.55). Und wenn Mäßigung und
beitet und entfernen sich so vom Anschein des Bändigung den Kern und die lebenslange Wir-
unmittelbaren subjektiven Ausdrucks, wie er kung dieser Erfahrung bildeten, so gilt doch
für die Straßburger und Frankfurter Lyrik zugleich, daß der damit bezeichnete Wandel
kennzeichnend ist. Diese Bändigung verbindet G.s im ersten Weimarer Jahrzehnt, so maß-
sich mit einer Zartheit der Sprache, gerade gebend dafür die Beziehung zu Charlotte von
auch in der Anrede an die geliebte Frau, im Stein war, durch andere Erfahrungen mitbe-
Eingehen auf sie und der Zurücknahme des stimmt oder jedenfalls verstärkt wurde. Dazu
eigenen Liebes- und Besitzanspruchs; weitaus beigetragen haben vor allem auch die Erfah-
mehr als die bisherige Liebeslyrik G.s sind die rungen G.s in seiner amtlichen Tätigkeit, die
Gedichte an Charlotte von Stein auch Ausdruck ihn dazu zwang, sich auf die Gegebenheiten
der Gemeinsamkeit der Liebeserfahrung. Be- des Herzogtums einzulassen, was er auch be-
merkenswert häufig ist in diesen Gedichten reitwillig und intensiv leistete; dabei verban-
das Motiv des Traumes zu finden. So endet das den sich die Zuwendung zur Realität und die
kunstvoll einfache, nur zwei Strophen umfas- Erweiterung der Welterfahrung durch prakti-
sende Gedicht Um Mitternacht, wenn die Men- sches Handeln mit der Übernahme von Pflich-
schen erst schlafen von 1780 mit den drei Zei- ten und der damit geforderten Selbstdiszipli-
len: »Wir suchen unsern Raum / Und wandlen nierung. Zu G.s Aufgaben gehörte auch die
und singen / Und tanzen einen Traum« verantwortliche Mitarbeit am Wiederaufbau
(MA2.1, S.57); in Warum gabst du uns die des Ilmenauer Bergbaus; seit November 1777
Tilgen Blicke ist »Traum« eines der tragenden war er zuständig für alle mit dem Bergbau
und mehrfach variierten Motive. Wie in die- verbundenen Fragen. Die dabei verlangte Be-
sem Gedicht ist das Motiv des Traumes auch in SChäftigung mit den technischen und den wis-
anderen Texten mit dem der Erinnerung ver- senschaftlichen Fragen des Bergbaus, mit der
bunden, als sei die Beziehung der Liebenden G.s wissenschaftliche Auseinandersetzung mit
und das Glück ihrer Liebe bereits vergangen. Natur begann, führte ihn zu einer kritischen
In ihrer Verknüpfung geben die Motive des Überprüfung seines bisherigen Naturverständ-
Traums und der Erinnerung der in den Ge- nisses; die schwärmerische Zuwendung zu
dichten gestalteten und immer wieder auch »Natur« in den vorangegangenen Jahren
reflektierten Liebe ihre eigentümliche Struk- wurde allmählich durch ein Naturverständnis
tur; zu ihren Besonderheiten gehört die Dicho- abgelöst, das aufDistanznahme gründete. Die-
tomie zwischen werbendem Begehren und ei- ser Wandel wurde auch in der Lyrik sichtbar;
Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786 153

als ein Medium der Selbstverständigung war Antike Fonnen


die Lyrik an diesem Wandel selbst beteiligt,
der in ihr reflektiert und von ihr mit vorange- Der in den Hymnen, den Liebesgedichten an
trieben wurde. So lassen sich die beiden Bal- Charlotte von Stein oder in den Naturgedich-
laden Der Fischer von 1778 und Erlkönig von ten feststellbare Wandel in G.s lyrischer Spra-
1782 als lyrische Auseinandersetzungen mit che, deren Zügelung, Mäßigung und Bändi-
unterschiedlichen Zugangsweisen zu Natur gung, wurde im ersten Weimarer Jahrzehnt
und mit elementaren Bedingungen mensch- und vornehmlich in dessen zweiter Hälfte
licher Beziehung zu Natur verstehen. Anderen noch durch andere Erfahrungen verstärkt. Am
Naturgedichten wie etwa dem bereits in den 17.4. 1782 schrieb G. an Karl Ludwig von Kne-
ersten Weimarer Jahren entstandenen Gedicht bel, der in dieser Zeit an seiner Übersetzung
An den Mond eignet, verglichen mit G.s frü- der Georgica von Vergil arbeitete: »Schicke
herer Lyrik, ein ruhiger und gelassener, von mir von deinem Virgil, du sollst auch alle die
Emphase und Pathos weitgehend freier Ton, kleinen Sachen haben mit denen ich mir das
der den lyrischen Ausdruck ebenso wie die Leben würze, ich bin nun auch in den Ge-
Wahl der Naturbilder bestimmt. Wie in G.s schmack der Inschrifften/Epigramms gekom-
früherer Naturlyrik erscheint in solchen Ge- men, und es werden bald die Steine zu reden
dichten, beispielsweise im 1779 auf der Reise anfangen«. Die letzte Bemerkung ist sehr kon-
in die Schweiz geschriebenen und formal an kret zu verstehen; im Frühjahr 1782 schrieb G.
Früheres anschließenden Gesang der Geister eine Reihe von Gedichten, die auf Steinen in
über den Wassem, Natur weiterhin als ein den Weimarer Parks angebracht wurden und
Spiegel des sprechenden Subjekts; weitaus von denen einige noch erhalten sind; für diese
weniger jedoch ist von dessen Empfindungen Inschriften wählte er das in der Antike für
oder Affekten die Rede, vielmehr ist zwischen Epigramme übliche Versmaß des Distichons.
Sprecher des Gedichts und Natur eine deut- In den Jahren davor hatte es einige wenige
liche Distanz gesetzt. Der Sprecher erscheint Versuche G.s in antiken Versmaßen gegeben;
als ein Beobachter, der einen Naturvorgang sein erstes Hexametergedicht Physiognomi-
beschreibt, welcher mithin als Objekt, als vom sche Reisen entstand 1779, sein erstes Gedicht
Sprecher getrennter Gegenstand der Beobach- in Distichen versuchung 1781. Mit den Epi-
tung erscheint. Die sehr konkrete, durchaus grammen vom Frühjahr 1782 jedoch, die unter
realistisch zu nennende Beschreibung von Na- anderem von Herders Versuchen einer ange-
turvorgängen ist häufig mit einer Tendenz zum messenen Übersetzung der Anthologia Graeca
Sinnbildlichen, zur fast allegorischen Ausdeu- angeregt wurden und denen in den folgenden
tung des Beschriebenen verbunden, die - oft- Jahren weitere Gedichte in Distichen und He-
mals in den Schlußzeilen - auch lehrsatzartig xametern folgten, begann G.s intensive poeti-
formuliert sein kann. So bilden im Gesang der sche Auseinandersetzung mit antiken Metren.
Geister über den Jfassem die in den ersten und Ihr Gebrauch verlangte eine distanzierte Hal-
den letzten Zeilen ausgesprochenen Verglei- tung zur Sprache; in einigen Änderungen, die
che einen Rahmen, und durch ihn wird dem G. bei den Gedichten vornahm, sind auch die
dargestellten Naturvorgang eine über das Dar- Schwierigkeiten ablesbar, die ihm Distichon
gestellte hinausweisende Bedeutung zuge- und Hexameter noch bereiteten. Im ersten
sprochen. In diesem Verfahren der Präsenta- Weimarer Jahrzehnt gebrauchte G. antike Me-
tion und poetischen Deutung von Natur tren nahezu ausschließlich für Gelegenheits-
knüpfte G. an ältere, insbesondere auch in der gedichte; in anderen Bereichen seines lyri-
aufgeklärten Natur- und Lehrdichtung ge- schen Schaffens entsprach dieser Wahl jedoch
bräuchliche lyrische Sprechweisen an. der vermehrte Gebrauch komplexerer und
komplizierterer Strophenformen bis hin zur
Form der Stanze etwa in der Zueignung von
1784. Die Wahl strengerer Formen ist der Bän-
154 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

digung und Zügelung der Sprache komple- im ersten Band der Frankfurter Ausgabe abge-
mentär; G. löste sich zunehmend von der Ly- druckt.
rik des unmittelbaren subjektiven Ausdrucks Der erste, 1787 erschienene Band der
der vorangegangenen Jahre, wenngleich sol- Schriften, der Die Leiden des jungen Werthers
che Lyrik als Bekundung seiner Individualität enthält, wird mit dem Gedicht Zueignung er-
und seiner persönlichen Erfahrungen zeit sei- öffnet; auch in der zweiten bei Cotta erschie-
nes Lebens Teil seiner lyrischen Produktion nenen Werkausgabe und ebenso in der dritten,
blieb; er entwickelte sich hin zum poetisch der Ausgabe letzter Hand, steht dieses Gedicht
bewußt arbeitenden, damit aber zugleich Di- am Beginn des jeweils ersten Bandes, der nun
stanz setzenden, Person und Werk differenzie- auch der erste der Gedichtbände ist. Die expo-
renden Dichter. nierte Stellung, die G. dem Gedicht gab, ver-
weist auf dessen programmatischen Charak-
ter; er ist vornehmlich in der poetologischen
Ensemblebildung Aussage des Gedichts begründet, die in den
bekannten Versen gipfelt: »Empfange hier was
Dieser Prozeß wurde durch die - allerdings ich dir lang' bestimmt, / [ ... ] / Aus Morgen-
bereits in die Zeit des italienischen Aufent- duft gewebt und Sonnenklarheit, / Der Dich-
halts fallende - Arbeit an der ersten, von ihm tung Schleier aus der Hand der Wahrheit«
selbst veranstalteten Gesamtausgabe seiner (MA 2.1, S.96). Zugleich aber läßt sich die
Gedichte noch verstärkt, die 1789 im achten Zueignung als eine Summe der Lyrik G.s im
Band der Schriften erschien. Dafür hat G. teil- ersten Weimarer Jahrzehnt verstehen; in dem
weise gravierende Änderungen an einzelnen 1784 geschriebenen Gedicht sind die wesentli-
Gedichten vorgenommen, und er hat vor allem chen Merkmale der lyrischen Produktion G.s
Auswahl und Anordnung der Gedichte mit gro- in dieser Zeit und gerade auch ihres Wandels
ßer Sorgfalt bedacht. In diesem Vorgang, ins- versammelt und miteinander verknüpft: die
besondere bei der Bildung von Gruppen aber Hinwendung zur strengeren Form, die Bändi-
mußte G. die Gedichte gleichsam aus dem gung und Zügelung der Sprache, die genaue
Kontext ihrer Entstehung herauslösen, und zu- und sehr konkrete Beschreibung von Natur-
gleich erhielten sie im neuen, durch die An- vorgängen, die Tendenz zum Sinnbildlichen,
ordnung der Ausgabe gesetzten Kontext, im die sich hier mit poetologischer Aussage ver-
Ensemble mit anderen Gedichten eine zusätz- bindet, und nicht zuletzt - insofern in der alle-
liche, allgemeinere Bedeutung. gorischen Frauenfigur, die dem Sprecher er-
Die Arbeit an der Ausgabe, mit der zudem scheint, zu Recht an sie gedacht werden kann -
der Schritt hin zu einer breiteren Öffentlich- die Bedeutung und die Wirkung Char!otte von
keit verbunden war, bedeutete so für G. eine Steins. Und in dem Gedicht wird auch präzise
Distanzierung von der eigenen früheren Lyrik, der Kern der Entwicklung G.s im ersten Wei-
die er - worauf insbesondere Kar! Eibl auf- marer Jahrzehnt benannt: »Besänftiget wird
merksam gemacht hat - durch die Bildung VOn jede Lebenswelle« 0f. 103). Gerade darin aber
Ensembles noch verstärkte. Erkennbar ist waren die Weimarer Jahre zwischen 1775 und
diese Tendenz zur Ensemblebildung, der G. 1786 mehr als lediglich eine Zeit des Über-
auch schon in seinen lyrischen Anfängen in gangs zwischen den beiden Epochen des
Leipzig gefolgt war, bereits in der Sammlung Sturm und Drang und der Klassik; sie allein so
von Gedichten, die er etwa 1778, möglicher- zu verstehen, bliebe an der Oberfläche. Zwar
weise für Char!otte von Stein, zusammen- fehlte dem ersten Weimarer Jahrzehnt, ver-
stellte und die neben Gedichten aus den ersten glichen mit den vorangehenden und den fol-
Weimarer Jahren auch Lyrik aus den Jahren genden Abschnitten in G.s Leben und Schrei-
davor, darunter die Hymnen der Frankfurter ben, eine dominante poetische Tendenz; ge-
Zeit, enthält; diese Erste Weimarer Gedicht- rade in der Lyrik aber zeigen diese Jahre eine
sammlung ist in G.s Handschrift erhalten und bemerkenswerte und zugleich sich wandelnde
Die Erste Weimarer Gedichtsammlung 155

Vielfalt. Dieser Wandel läßt sich - in seiner sammlung, genauer: die erste für uns sichtbare
Verknüpfung mit Veränderungen in anderen eigenhändige Sammlung, wenn man von den
Lebensbereichen - als ein Reifungsprozeß ver- Leipziger Anfangen einmal absieht. Die
stehen; immerhin war G., als er nach Weimar Sammlung enthält folgende Gedichte: Maho-
kam, gerade 26 Jahre alt. Disziplinierung und mets Gesang, Wandrers Sturmlied, Künstlers
Selbstdisziplinierung, Durchsetzung des Rea- Morgenlied, An Schwager Kronos, Prome-
litätsprinzips und damit auch der Abschied von theus, Ganymed, Menschengifühl, Eislebens
Wünschen und Erwartungen, mithin auch Ent- Lied, Königlich Gebet, Seifahrt, Der Wandrer,
täuschungen, sind die Momente dieses Rei- Ein Gleichnis (»Es hatt ein Knab«), Legende
fungsprozesses. Im Rückgang der lyrischen (»ln der Wüsten«), Ein lutherischer Geistlicher
Produktion in den Jahren nach 1782 wurde spricht, Freuden des jungen Werthers, Ca te-
freilich sichtbar, daß dieser Reifungsprozeß chisation, Kenner und Künstler, Ein Gleichnis
eben auch in eine Krise der dichterischen (=Autoren), Ein Reicher dem gemeinen Wesen
Kreativität führte, die in anderen Bereichen zur Nachricht, vor Gericht, Kenner und Lieb-
der poetischen Produktion G.s noch deutlicher haber (Monolog des Liebhabers), Der neue
bemerkbar war und die ihn schließlich - zu- Amadis, Hypochonder, An Christel (Christel) ,
sammen mit anderen Gründen - zur »Flucht Anekdote unserer Tage (= Kenner und Enthu-
nach Italien« trieb, um dort, wie er im späten siast), Bundeslied, Jägers Nachtlied (=Jägers
Rückblick zu Eckermann sagte, »sich zu poe- Abendlied) , Zu einem gemalten Band (=Mit
tischer Produktivität wieder herzustellen« einem . .. ). Die Weimarer Ausgabe hat der
(10.2. 1829). Sammlung die Sigle HZ erteilt.
Textkritisch ist die Sammlung deshalb von
Bedeutung, weil einige Gedichte hier hand-
Literatur: schriftlich überhaupt zum ersten oder gar ein-
CONRADY, Bd. 1, S. 299-428. - Eibl, Komm. in FA 1,1, zigen Mal oder aber mit charakteristischen Va-
S. 1004. - Geerdts, Hans Jürgen: Goethes erste Wei- rianten erscheinen. Erstmals erscheint Maho-
marer Jahre im Spiegel seiner Lyrik. In: GoetheJb. mets Gesang als Rollengedicht des Propheten,
93 (1976), S. 51-59. - Keipert, Hans: Die Wandlung während die Vorstufe, Gesang im Göttinger
Goethescher Gedichte zum klassischen Stil. Die Um-
Musenalmanach 1774, von Fatema und Ali als
arbeitungen für die Gesamtausgabe 1789. Jena 1933.
- KORFF Bd. 1, S. 185-300. - Lüders, Detlev: Schif- Wechselgesang gesprochen worden war. An
fer - Linde - Vogel- Eisen. Goethes Urteil über sein Schwager Kronos wird hier erstmals sichtbar,
erstes Weimarer Jahrzehnt. In: GoetheJb. 93 (1976). mit Datierung »In der Postchaise d 10 Oktbr
S. 139-149. - Schöll, Adolf (Hg.): Göthe's Briefe an 1774« und in der stilistisch »harten« Fügung,
Frau von Stein aus den Jahren 1776-1826. Bde. 1-3. die für die Erstpublikation in den Schriften
Weimar 1848-1851.
von 1789 dann geglättet wurde. Zu einem ge-
Reiner Wild malten Band (Mit einem . .. ) ist zwar, wie im
Iris-Druck von 1775, bereits vierstrophig,
bringt jedoch in der zweiten Strophe eine Teil-
rückkehr zur Sesenheimer Urfassung. Prome-
theus und Ganymed stehen hier erstmals hin-
tereinander, gefolgt freilich noch nicht, wie
Die Erste Weimarer seit der ersten eigenen Publikation von 1789,
von Grenzen der Menschheit, sondern von
Gedichtsammlung Menschengifühl, einem epigrammatisch poin-
tierten Spruch, der die Bedingungen formu-
liert, unter denen man die ganze Götterwirt-
Dreiundzwanzig Blätter in graublauem Um- schaft auf sich beruhen lassen könnte. Dieses
schlag, zum Heft gebunden mit einem rosa Gedicht wurde erst 1815 in den Werken ge-
Faden - das ist G.s Erste Weimarer Gedicht- druckt, ebenso Wandrers Sturmlied, Königlich
156 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

Gebet, die Legende, Vor Gericht, An ChristeI, die ihm vorlag, verändert; Charlotte von Stein
1825 dann Hypochonder. Erst aus dem Nachlaß hingegen hat noch die alte Fassung. Das ist ein
gedruckt wurden Ein lutherischer Geistlicher deutlicher Hinweis darauf, daß HZ nicht die
spricht, Freuden des jungen Werthers - die je- Vorlage von St ist. Mehr noch: Fast könnte man
doch in unautorisierten Versionen kursierten - hier schon den Beweis dafür sehen, daß HZ erst
und Ein Reicher. nach St entstanden ist. Eine weitere Eigentüm-
Das erste Blatt des Heftes ist herausge- lichkeit, nun von St, läßt mit größerer Sicher-
schnitten, bis auf einen Rand, auf dem noch heit eine Vermutung zur zeitlichen Abfolge zu.
Buchstabenreste zu erkennen sind. Wahr- In Vers achtzehn hat HZ: »Und lebt nicht seelig
scheinlich sind es die Reste einer Widmung, drin?«, St jedoch hat an dieser Stelle laut
die uns Genaueres hätte verraten können. So Düntzer nicht »seelig«, sondern »fröhlich«.
aber sind wir bei Fragen nach Bedeutung und Dieses »fröhlich« ist unterstrichen, und dar-
Funktion der Sammlung auf Vermutungen an- über steht »selig«. Weshalb das »fröhlich« hier
gewiesen. Von Charlotte von Steins Hand gab nicht stehenbleiben konnte, läßt sich leicht
es eine Sammlung, in der genau dieselben Ge- erklären; schon in Vers neun, in der voraus-
dichte in fast derselben Reihenfolge standen - gegangenen Strophe, hatte es geheißen: »so
von der Weimarer Ausgabe »St« genannt. Am glühet fröhlig heute«. Aber wie kommt das
Anfang stand dort jedoch die Harzreise im »fröhlich« überhaupt in die Steinsche Ab-
Winter, gefolgt von den Freuden des jungen schrift, weshalb ist es unterstrichen, wie
Werthers, und den Abschluß bildeten 125 Verse kommt das »selig« hinzu? Es gibt, wie mir
aus Hans Sachsens poetische Sendung. Char- scheint, nur eine plausible Möglichkeit: Char-
lotte von Steins Sammlung ist seit Kriegsende lotte von Stein hat das »fröhlich« als verbesse-
verschollen. Vermutungen stützen sich auf rungswürdig markiert und einen Gegenvor-
Heinrich Düntzers ausführliche Beschreibung schlag darübergeschrieben, den G. dann über-
und auf Albert Leitzmanns Verzeichnung von nahm. HZ ist nicht die Vorlage von St, ist nach
Varianten in seiner Ausgabe von H2. Meistens St entstanden. Beide Handschriften basieren
stellt man sich die Beziehung zwischen den direkt auf einer anderen, verlorenen Samm-
beiden Handschriften so vor: G. hat das Heft lung.
H2 für Charlotte von Stein angelegt, es später Eine der Spuren, die diese Sammlung an-
aber zurückerbeten, und bei dieser Gelegen- derswo hinterlassen hat: Es gibt in Ho und H4_
heit hat Frau von Stein die Abschrift St daraus den Sammelhandschriften, die G. für die Aus-
angefertigt. gabe von 1789 anlegte - zwei Korrekturen, die
Ein genauer Vergleich der von Düntzer mit- in diesem Sinne zu deuten sind. Als erstes
geteilten ca. 200 Stellen aus St sowie des von wäre abermals die Veränderung des »der« in
ihm vollständig abgedruckten Bundeslieds mit ein »die« im Bundeslied zu nennen. In H\ näm-
dem Text von HZ läßt diese Beziehung aber lich stand hier ursprünglich »der freyen«, was
unwahrscheinlich erscheinen. In den Versen dann in »die freye« korrigiert wurde; also fast
19/20 des Bundeslieds heißt es in St: »Genießt derselbe Korrekturvorgang wie in HZ, den St
der freien Weise / Und uns ern treuen Sinn«. G. nicht mitvollzogen hatte. Und das heißt: Die
hatte also in der Vorlage »genießen«, wie auch Vorlage, die G. 1788 benutzte, enthielt die-
sonst meistens, mit dem Genitiv konstruiert, selbe Variante wie die Vorlage von St und HZ.
brauchte dann aber in der nächsten Zeile des Daß dies nicht nur für das Bundeslied gilt,
Reimes wegen den Akkusativ. In H2 aber heißt zeigt eine Korrektur in Vers zwei von An Ken-
es: "Genießt die freye Weise«; der störende ner und Liebhaber (später: Monolog des Lieb-
Wechsel in der Konstruktion ist also beseitigt. habers). Da heißt es in HZ wie im Merkur-
Das »die« ist hier aus »der« korrigiert, »freye« Druck: »An deinem Busen dir«, in St aber: »In
aber steht ohne Korrektur da: Es handelt sich deinem Busen dir<<. Das wäre einer der Fälle,
demnach um eine Sofortkorrektur. G. hat also wo man ein Schreibversehen vermuten
im Augenblick der Niederschrift die Fassung, könnte. 1789 heißt der Vers überdies ganz an-
Die Erste Weimarer Gedichtsammlung 157

ders: »Vor deinen Augen dir«. In H4 aber hatte Zwanglos läßt sich nun auch eine Vermutung
zuerst gestanden: »In deinem Busen dir«. Da- darüber anstellen, welchen Zweck das Heft HZ
mit ist die Korrektheit der Abweichung in St hatte. Gewiß sollte es nicht als Handarchiv
beglaubigt und abermals ein Hinweis darauf dienen; dazu war es viel zu unvollständig. Man
gegeben, daß HZ nicht die Vorlage von St war. darf es sich, mit Rücksicht auf Charlotte von
Überdies erscheint der Schluß erlaubt: G. be- Steins Sammlung, vielleicht so vorstellen:
nutzte 1788 auch für dieses Gedicht noch die- Charlotte von Stein hatte sich die Harzreise
selbe Vorlage wie ein gutes Jahrzehnt davor und die Freuden des jungen Werthers - dieses
Charlotte von Stein für St. Es ist also mit guten Gedicht wußte sie laut Düntzer noch im höch-
Gründen zu vermuten, daß HZ nach St ent- sten Alter zu rezitieren - abgeschrieben. Sie
standen ist und daß beide Sammlungen im verspürte den Wunsch, diese Sammlung zu
Wortlaut auf einer dritten Sammlung, einem vervollständigen. Zunächst schrieb sie sich die
handschriftlichen Archetyp beruhen. Nur in Hymnenreihe auf, die anscheinend in dieser
der Textauswahl und einigen Korrekturen be- Form beisammen lag, dann aber nur noch sol-
ruht HZ auf St (weiteres Material, das aus- che Gedichte, die ihr besonders gut gefielen,
schließt, daß es sich um eine Zufallskonstella- und des Hans Sachs wurde sie dann doch
tion von Abschreibfehlern handelt: Eibl 1994). müde. Und eben diese Gedichte, die derart
Auch die Erwähnungen einer Gedichtsamm- herausgehoben waren, schrieb G., mit kleinen
lung in Briefen an Charlotte von Stein (50.12. Änderungen, abermals aus dem Portefeuille
1777,50.7.1778,7.8.1778,7.5.1780,16.5. ab, damit sie diese Gedichte auch von seiner
1780, Juni 1781 oder 1786) und an Caroline eigenen Hand besaß. Der ganze Vorgang mag
Herder (21.9. 1781) lassen sich zwangloser auf sich 1778 abgespielt haben. Die Harzreise im
den Archetyp als auf HZ beziehen. Nennen wir Winter, in Frau von Steins Sammlung am An-
den Archetyp HO. fang der ganzen Sequenz, ist jedenfalls um die
Was es mit diesem Archetyp auf sich hat, Jahreswende 1777178 entstanden. Das späte-
läßt sich auf fast triviale Weise klären. Denn ste von G. selbst datierte Gedicht ist Seifahrt,
natürlich hat G. seine Gedichte in irgendeiner »11. Sept. 76.« Als er dann die Ausgabe S vor-
Form gesammelt oder zumindest abgelegt, bereitete, mag er sich das Heft zurückerbeten
mehr oder weniger vollständig, mehr oder we- haben. Das ist zumindest eine Möglichkeit,
niger geordnet, in handschriftlicher oder ge- gegen die keiner unserer Befunde spricht und
druckter Form. Die Frühfassungen G.scher die den Vorzug hat, daß wir das Heft auch
Gedichte, die Bernhard Suphan 1876 und 1881 weiterhin als eine »Gedichtsammlung für
begeistert aus Herders Papieren mitteilte, Charlotte von Stein« ansehen dürfen. Dies je-
dürften diesem Archetyp entstammen. Wie denfalls dann, wenn wir von dieser Vorstel-
immer man das nennen oder sich vorstellen lung nur unsere Phantasie beflügeln lassen
will: Der Archetyp wurde von G. - neben dem und nicht irgendwelche Schlüsse aus ihr zie-
Heft HZ, das entsprechende Spuren enthält - hen.
noch 1788 bei der Vorbereitung der Ausgabe Zwei andere Befunde jedoch können mit
von 1789 benutzt. Eine Mappe oder ein Kon- größerer Sicherheit getroffen werden: Zumin-
volut oder Portefeuille hatte er auch in Italien dest in der Zeit von etwa 1778 bis 1781, aber
dabei, als Arbeitsinstrument für den achten vielleicht auch darüber hinaus, war die Haupt-
Band der bei Göschen erscheinenden Schrif- sammlung HO von G.s Gedichten bei der
ten. Und aus dieser Sammlung hat er auch Freundin deponiert; das ergibt sich, wenn man
schon HZ zusammengeschrieben, nachdem die oben angegebenen Briefstellen nicht auf
Charlotte von Stein ihre Sammlung angelegt HZ, sondern auf HO bezieht. Und diese Samm-
hatte. Bei der Anlage von HO und H4, den lung wies eine Ordnung auf, nach der die gro-
Handschriften, die den Lyrik-Band der Schrif- ßen Verlautbarungsgedichte - von Mahomets
ten von 1789 vorbereiteten, ist diese Samm- Gesangbis zum Wandrer- beisammen standen
lung dann aufgebraucht worden. und einander durch solche Anordnung sowohl
158 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

verstärkten als auch relativierten; denn nicht die Verse als persönliche Standortbestimmung
nur Frometheus und Ganymed sind Rollenge- des Autors verstanden, zumal G. im Brief an
dichte, sondern alle zehn Gedichte im ersten Johann Kaspar Lavater vom 6.3. 1776 seine
Teil der Sammlung. »Insgemein hat man nur Lage in Weimar bereits mit ähnlichen Wen-
eine Seele«, so soll Lavater gesagt haben, dungen geschildert hatte: »Ich bin nun ganz
»aber G. hat hundert« (Zimmermann an Char- eingeschifft auf der Woge der Welt - voll ent-
lotte von Stein, 29.12. 1775). Mit weniger Em- schlossen: zu entdecken, gewinnen, streiten,
phase gesagt: Eine Vielzahl von Ausdrucks- scheitern, oder mich mit aller Ladung in die
rollen und Möglichkeitsentwürfen, die nur pa- Lufft zu sprengen«. Der Vater in Frankfurt
rataktisch adäquat zu vermitteln waren. Hier kommentierte die eigenhändig verfaßte Ab-
liegt der Keimpunkt fUr das Prinzip des lyri- schrift des Werks mit dem ihn wohl selbst
schen Ensembles, das G.s Gedichtsammlun- beruhigenden Satz: »Als seinen Freunden
gen offenbar von Anfang an prägt. bange ward, er mögte sich nicht in das Hof-
leben finden, hat er folgendes Trostgedicht
ihnen zugeh[en] lassen« (zitiert nach FA I, 1,
Literatur: S.931). Seit den Schriften (Bd. 8, 1789) er-
Düntzer, Heinrich: Die handschriftliche Sammlung schien das Gedicht mit dem Titel Seifahrt.
Goethescher Gedichte von Charlotte von Stein. Ein Sowohl die literarische Tradition des Titel-
Beitrag zur Geschichte der Goetheschen Gedichte. bildes, die bis in die Antike (Alkaios, Aristo-
In: Archiv für Litteraturgeschichte. 6 (1877),
phanes) zurückreicht, als auch seine Verwen-
S. 96-110. - Eibl, Karl: Die erste Weimarer Gedicht-
sammlung. In: FA I, 1, S. 193-226. - Ders.: Consen- dung in anderen Werken G.s, z.B. am Schluß
sus. Eine Denkfigur des 18. Jahrhunderts als Kom- von Torquato Tasso (MA 3.1, S. 519 f.), stehen
positionsprinzip Goethescher Gedichtsammlungen. einer einsinnigen Übertragung auf Ereignisse
In: Literarhistorische Begegnungen. Fs. Bernhard in seiner Lebensgeschichte entgegen. Also
König. Hg. von Andreas Kablitz und Ulrich Schulz- kein autobiographischer Kommentar, viel-
Buschhaus. Tübingen 1993, S.29-41. - Ders.: Ist mehr das, was fUr den Lebensweg eines Men-
Goethes .Erste Weimarer Gedichtsammlung< die
.Gedichtsammlung für Charlotte von Stein<? In: schen im allgemeinen prägend ist, sollte dem
GoetheJb. 111 (1994), S. 269-275. - Leitzmann, Al- Gedicht entnommen werden.
bert: Goethes älteste Gedichtsammlung. In: Archiv Im Text der Ersten Weimarer Gedichtsrunm-
für das Studium der neueren Sprachen und Lite- lung, der hier nach der Frankfurter Ausgabe
raturen. Deutsches Sonderheft 1920, S.75-94. - zitiert wird (FA I, 1, S. 206ff.), verzögert eine
Ders. (Hg.): Goethes erste Gedichtsammlung. Mit Flaute den Aufbruch des Seefahrers. Die pho-
Varianten hg. von Albert Leitzmann. Bonn 1910. 2.
verbesserte Aufl. 1940. - Suphan, Bernhard: Goethi- netische Eintönigkeit der a-Assonanz im er-
sche Gedichte aus den siebziger und achtziger Jah- sten Vers symbolisiert Stillstand. Ein in der
ren in ältester Gestalt. In: ZfdPh. 7 (1876), Ich-Form sprechender junger Mann, augen-
S.208-237. - Ders.: Ältere Gestalten Goethe'scher scheinlich ein Kaufmann, der eine Fracht zu
Gedichte. Mitteilungen und Nachweise aus Herder's befördern hat und am Zielort mit »GüterfUlle«
Papieren. In: GoetheJb. 2 (1881), S.103-145. -
(V. 7) rechnet, vertreibt sich mit seinen Freun-
Ders. u. a. (Hg.): Die erste Weimarer Gedichtsamm-
lung in Facsimile-Ausgabe. Weimar 1908. den, die wie er zunehmend ungeduldiger wer-
den, die Wartezeit im Hafen, bis »am frühen
KarlEibl Morgen« (V. 11) der Matrose die Mannschaft
zur Ausfahrt weckt. Eine entspannte Atmo-
sphäre, günstige meteorologische Bedingun-
Seefahrt gen und der Jubel der Freunde (V. 15-21) deu-
ten auf ein erfreuliches und ungefährdetes Un-
ternehmen hin. Daß diese frohe Gestimmtheit
Beim Erstdruck im Deutschen Museum (Sep- allerdings verfrüht ist, zeigt die adversative
tember 1777) war das Gedicht »G. den 11. Sep- Konjunktion »aber« an (V. 22), die akzentstark
tember 1776« überschrieben. Dadurch wurden den zweiten Teil des Gedichts einleitet und zu
Harzreise im Winter 159

Anfang der sechsten Strophe als Anapher wie- Eindruck eines bewußt angegangenen und ein
derkehrt (V 27): »Wechselwinde« (V 22), die - gestecktes Ziel unbeirrt verfolgenden Vorha-
auch hier wirkt das Vorbild antiker Dichtung bens. Dabei werden die Strophen eins, zwei,
nach - von den Göttern geschickt werden, be- sechs und acht mit trochäischen Zweihebern
einträchtigen die Fahrt des Schiffers. Der abgeschlossen, die jeweils entscheidende
bleibt zwar »treu dem Zweck auch auf dem Wirkmomente pointiert benennen: die Bereit-
schiefen Wege« (V 26) - möglicherweise eine schaft zum Aufbruch (»Ich im Hafen«; V. 4), die
Anspielung aufG.s jugendlich-übermütige Ak- anerkennende Bestätigung durch die Freunde
tionen mit dem Herzog -, hat sich aber dem (»Lieb und Preis dir«; V. 10), die Hinderungs-
anrollenden Sturm zu beugen und rafft weise, kräfte (»Wind und Wellen«; V. 34) und die ei-
d.h. im Wissen um lebenspraktische Belange, genen Fähigkeiten (»Seinen Göttern«; V. 46).
die Segel, wenn das Schiff zum Spielball von Der Wechsel vom erlebenden Ich zum beob-
»Wind und Wellen« wird (V 34). Den gewinn- achteten Er und das seit alters her auf das
suchenden Kaufmann hat inzwischen der kurs- menschliche Leben bezogene Bild der Schiff-
haltende Steuermann abgelöst, und mit dem fahrt tragen außerdem dazu bei, daß die lyri-
symbolischen Wechsel des Berufs ändert sich sche Reflexion auf eine biographische Situa-
auch die Perspektive. Aus betrachtender Di- tion in eine allgemeine Aussage mündet: daß
stanz wird vom handelnden Subjekt in der nämlich Schwierigkeiten jedweder Art den
dritten Person berichtet. Hingegen werden die nicht schrecken können, der sich auf seine
Reaktionen der »Freund und lieben« (V 36) auf Talente und eigenen Möglichkeiten besinnt.
die Unbilden der Schiffahrt in wörtlicher Rede
mit stark emotionaler Färbung wiedergege-
ben. Dem ängstlichen Jammer der Freunde Literatur:
begegnet die letzte Strophe, den Gegensatz CONRADY, Bd. 1, S. 329-331. - Gode von Aesch, A.:
durch das tontragende »doch« ankündigend Goethe's Seifahrt. In: Monatshefte. 41 (1949),
(V 41), mit der standhaften Selbstvergewisse- S. 65-70. - Pehnt, Wolfgang: Zeiterlebnis und Zeit-
rung des Steuermanns. Die im letzten Vers der deutung in G.s Lyrik. Tübingen 1957, S. 97-102.
sechsten Strophe hervorgehobene Formel RudolfDrux
»Wind und Wellen« wird nochmals aufgegrif-
fen, und ihre chiastische Wiederholung unter-
streicht den Unterschied zwischen dem wil-
lenlosen Schiff und dem willensstarken
(Steuer-)Mann. Wie immer seine Unterneh-
mung ausgehen wird, er hofft nicht wie die
Freunde am heimischen Ufer auf die Hilfe Harzreise im Winter
fremder »Götter«, sondern baut auf seine eige-
nen Kräfte.
Das Selbstvertrauen, das der Schluß des Ge- Das hymnische Gedicht Harzreise im Winter
dichtes vermittelt, wird von vornherein durch entstand im Dezember 1777. Es ist als poe-
seine poetische Struktur referiert. Abwei- tischer Reflex jenes »wunderlichen Ritts«
chend von den Frankfurter Hymnen, mit de- (WAl, 41.1, S.338) zu fassen, den G. vom
nen es den rhetorisch-pathetischen Duktus 29.11. bis 14.12. 1777 in den Harz unternahm.
und den Hang zu Neologismen (»entjauchzt«; Die Urschrift ist nicht erhalten. Die älteste
V. 12) gemeinsam hat, prägt den Text ein autorisierte Textüberlieferung stellt eine Nie-
durchgängiges Metrum, ein zumeist fünfhe- derschrift des Sekretärs Philipp Seidel dar; am
biger Trochäus, mit dem im Deutschen eine 5.8. 1778 wurde sie einem Brief an Johann
bestimmte, feste Vorwärtsbewegung assoziiert Heinrich Merck beigefügt, mit dem Titel: Auf
wird. Die klare strophische Gliederung des dem Harz im Dezember. 1778 [!]. Der Erst-
Darstellungszusammenhangs unterstützt den druck erfolgte 1789 in G.s Schriften (Bd. 8,
160 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

S. 193-197). Er läßt gegenüber der Nieder- »Einsamen« umhüllen, welcher dem »Vater der
schrift von 1778 einige Abweichungen erken- Liebe« (Y. 44) zugleich nun als dessen Dichter
nen, die belangvollste in der Schluß strophe, identifiziert wird (Str.9). Es sind aber hym-
wo sich die ursprüngliche Fügung >>Uner- nisch jubelnde Aussagesätze, in die das Ge-
forscht die Geweide« abgeändert findet in: dicht im folgenden einmündet: Sie bezeichnen
»mit unerforschtem Busen«. - Die folgenden eine Wanderung des »Einsamen«, die hoch em-
Ausführungen beziehen sich auf den Text des por führt und bei der sich der Wandernde auf
Erstdrucks (FA I, 1, S. 322-324). seinem Weg durch unwirtliches Gelände si-
Die elf Strophen des Gedichts (88 Verse) cher geleitet sehen kann; und sie bezeichnen
sind stärker reflektierend als beschreibend. So schließlich einen Gipfelaufenthalt, der erlebt
auch findet sich der im Titel bezeichnete wird von einem dank- und andachtsvoll Be-
Landschaftsbezug nur bedingt konkretisiert; friedeten: Ein großer und weiter Blick tut sich
als zugeordnet erweist er sich vielmehr der auf, erfassend die »Reiche und Herrlichkeit«
Notierung eines existentiell belangvollen Vor- der Welt (Y. 86).
gangs, dem Krisenüberwindung das Gepräge Eröffnet wird das Gedicht durch eine Stro-
gibt. Die zweite Strophe spricht von göttlicher phe, die das »Lied«, welches sie ankündigt,
Disposition der Lebensbahnen, vom »Glück- mit einem nach Beute Ausschau haltenden,
lichen«, der die seine leichthin durchläuft, dabei ruhig dahingleitenden Geier vergleicht.
vom Unglücklichen, der »vergebens« sich Unter dem 1. 12. 1777 findet sich die G .sche
sträubt und sich nicht zu fassen weiß. Wird auf Tagebuchnotiz: »Dem Geyer gleich«; Eintra-
diese beiden Spezies ein sondernd-registrie- gungsort war Elbingerode. Und 45 Jahre spä-
render Blick geworfen, so in der dritten Stro- ter schrieb G. in der Campagne in Frankreich,
phe auch auf solche, die sich womöglich als er erinnere sich, daß am ersten Tag seiner
soziale Gruppen deuten lassen. Die Rede ist Harzreise von 1777, am Ettersberg, im »dü-
von »rauhem Wild«, zusammengedrängt im stern und von Norden her sich heranwälzen-
»Dickicht« lebend, und von den »Reichen«, de- den Schneegewölk [ ... ] hoch ein Geier« über
ren Orte die »Sümpfe« sind. Und vor Augen ihm geschwebt sei (WA 1,33, S. 215). Zugleich
stehen desgleichen die der höfischen Welt Zu- heißt es hier, er habe »jene Ode, die unter dem
gehörigen: als »Troß / [ ... ] / Hinter des Für- Titel: Ha r zr eis e im W i n t e r so lange als
sten Einzug«. Sodann aber fällt ein sich Verein- Räthsel« unter seinen »kleineren Gedichten
zelnder in Betracht, geratend ins »Abseits«, Platz gefunden« (ebd.), an diesem ersten Tag
ohne eine Spur zu hinterlassen; und ein einzel- bereits begonnen. Demnach dürfte für den
ner ist es auch, dessen im folgenden (Str. 6) Textanfang gelten, daß G. ihn fügte, ohne da-
gedacht wird. Freilich findet sich bei diesem bei schon der Klimax sicher sein zu können, zu
nun die Perspektive verändert: Anstelle des der das Gedicht schließlich führt. Denn zu-
sondernd-registrierenden ist nun ein binnen- grunde liegt dieser Klimax jene Brockenbe-
perspektivischer Blick anzutreffen. Er gilt der steigung, die G. zwar von vornherein im Sinn
existentiellen Not eines selbstsüchtig Gewor- hatte, von der er jedoch vorab keineswegs
denen, »der sich Menschenhaß / Aus der Fülle wußte, ob sie sich würde realisieren lassen.
der Liebe trank« (Y. 37f.). Und angerufen wird Und daß es nachgerade unmöglich sei, im win-
in der siebenten Strophe der »Vater der Liebe«, terlichen Dezember auf den Berg zu gelangen,
daß der ihm sich zuwende und seine Not löse. bekam G. an den folgenden Tagen von etlichen
Dabei weitet sich die Bitte um Zuwendung Harzbewohnern immer wieder zu hören. Der
insofern noch aus, als in der achten Strophe Brief an Charlotte von Stein (10.12. 1777), der
von »Brüdern der Jagd« die Rede ist, denen dies mitteilte, konnte gleichwohl - und vor
ihrerseits ein Segen zuteil werden möge. Auf allem - berichten, daß der sehnliche Wunsch
den in Not Verharrenden indes kommt der bit- aufs schönste in Erfüllung ging: »Mit mir ver-
tende Ruf dann wieder zurück; »Goldwolken« fährt Gott wie mit seinen alten heiligen, und
und »Wintergrün« sollen schützend einen ich weis nicht woher mir's kommt. Wenn ich
Harzreise im Winter 161

zum befestigungs Zeichen bitte dass möge das Einen Gedichtkommentar hat, im Jahre
Fell trocken seyn und die Tenne nass so ists so, 1820, G. selbst verfaßt. Dazu angeregt wurde
und umgekehrt auch, und mehr als alles die er durch Zusendung einer Interpretation, die
übermütterliche Leitung zu meinen Wün- aus der Feder des Prenzlauer Schulmannes
schen. das Ziel meines Verlangens ist erreicht, Karl Ludwig Kannegießer stammte und deren
es hängt an vielen Fäden, und viele Fäden Explikationen er nicht unkorrigiert bestehen
hingen davon, Sie wissen wie simbolisch mein lassen mochte. In diesem Kommentartext Über
daseyn ist - - Und die Demuth die sich die Goethe 's Harzreise im Winter sprach G. von
Götter zu verherrlichen einen Spas machen, den »allerbesondersten Umständen« (WA I,
und die Hingebenheit von Augenblick zu Au- 41.1, S. 330), auf die das Gedicht sich beziehe;
genblick, die ich habe, und die vollste Erfül- indem G. an seine Reise erinnerte, ging er auf
lung meiner Hoffnungen. / Ich will Ihnen ent- den von ihm aufgesuchten »Unglücklichen«
decken (sagen Sies niemand) dass meine Reise Friedrich Victor Leberecht Plessing ein, ohne
auf den Harz war, dass ich wünschte den Brok- ihn mit Namen zu nennen; der Dichter wende
ken zu besteigen, und nun liebste bin ich heut sich teilnehmend und für ihn bittend diesem
oben gewesen«. Der feierliche Jubel, der die ins Abseits geratenen Selbstquäler zu. Im übri-
Gedichtstrophen zehn und elf kennzeichnet, gen deutete G. hinsichtlich der achten Strophe
offenbart vor dem Hintergrund dieser Brief- auf die herzogliche Jagd, die während seines
stelle einiges von seiner Bewandtnis. Das bio- Rittes zum Harz »in gewisser Gegend« (WA I,
graphische Moment, daß G. dem Gelingen des 41.1, S. 335) stattfand. Und schließlich brachte
Besteigungsplanes eine zeichenhafte Bedeu- er die beiden letzten Strophen in Verbindung
tung beimaß, reflektiert sich im lyrischen Aus- zu seiner Brockenbesteigung, zur beobachte-
druck eines Erfülltseins, das sich auf wahr- ten »herrlichen Erscheinung farbiger Schatten
genommenem Kontakt mit Göttlichem grün- bei untergehender Sonne«, zum erwogenen
det. Dabei artikuliert sich dies letztere in einer Metallreichtum des Bergs und seiner »Brüder«
Sprache, die schließlich ganz ins Pontifikale (ebd., S. 337).
einmündet. Biblischem neigt bereits die sie- Dieser G.sche Selbstkommentar hat langhin
bente Strophe zu, wo vom »Psalter« die Rede richtungweisend gewirkt. Es schien lediglich
ist und es hernach heißt: »Öffne den umwölk- legitim, Lücken auszufüllen, die er ließ, sowie
ten Blick / Über die tausend Quellen / Neben ihn seinerseits auszulegen. Dem entspricht,
dem Durstenden / In der Wüste«; vgl. vor al- daß der Text in einem unmittelbaren Sinn bio-
lem Jesaja 35, 5r.: »Alsdann werden der Blin- graphisch interpretiert wurde. Entschiedene
den Augen aufgetan werden [ ... ] Denn es wer- Skepsis dem G .schen Selbstkommentar gegen-
den Wasser in der Wüste hin und wieder flie- über machte erstmals Heinrich Henel geltend,
ßen und Ströme im dürren Lande«. Dann aber, der 1973 darauf verwies, daß es doch dienli-
nachdem »Psalmen« und »Altar« in die zehnte cher sei, zuvörderst die G.schen Reisebriefe an
Strophe Eingang fanden, spricht die elfte von Charlotte von Stein heranzuziehen. Henel ta-
»Geheimnißvoll offenbar« und vom Schauen stete den biographischen Ansatz zwar nicht an,
auf die »Reiche und Herrlichkeit« der Welt; gewann ihm nun aber eine größere Ergiebig-
und wenn sich durch die Einbindung dieser keit ab. So begriff er die Rede des Gedichts als
zwei biblischen Kryptozitate die pontifikale diejenige eines Wanderers, den innere Not
Höhe der Strophensprache insgesamt be- treibe und dem es um die Befragung eines
stimmt, so zugleich auf eine eigenständig be- Orakels gehe; und eben jenes Zeichen, das er
deutende Weise. Vom theologisch-exegeti- sich ersehne, manifestiere sich ihm schließlich
schen Bezug auf die Lehre des Evangeliums im erfahrenen Geleitschutz bei der Gipfelbe-
(u.a. Römer 16, 25; Kolosser 1, 26) löst die steigung. Einige Jahre später dann hat sich
erste Zitatstelle sich ebenso ab, wie sich die einem solchen Grundverständnis des Gedichts
zweite von dem der Verführung zum Bösen auch Albrecht Schöne verpflichtet gezeigt. Da-
emanzipiert (Matthäus 4, 8f.). bei konkretisierte er insofern, als er die Ora-
162 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

kelbefragung in einen direkten Zusammen- gelangte er zu dem Ergebnis, daß der hymni-
hang mit der Regierungstätigkeit rückte, auf sche Text den Vorgang einer Selbstvergewisse-
die sich einzulassen G. vorerst noch schwan- rung artikuliere, in der G. die theoretisch-
kend gewesen sei; und daß sich aber das Ge- ideale Dimension seines Dichtertwns von der
dicht insgesamt durch solchen Orakelbezug lebenspraktischen Dimension entschieden ab-
identifiziert finde, mache schlagend die Geier- gehoben und damit das Hauptdilemma der frü-
anrufung der Eingangsstrophe deutlich. Diese hen Weimarer Jahre reflektiert habe.
Anrufung sah Schöne im Kontext jener rö- Vom Schöneschen Biographismus grenzte
misch-antiken Vorstellung, derzufolge dem sich, und konsequenter noch, auch Klaus Wei-
Geier die Bedeutung eines Auguralvogels bei- mar ab, der sich im ersten Teil seiner Inter-
gemessen wurde. hn übrigen ging Schöne in pretation ausschließlich den sprachlichen Bil-
seiner auf Biographisch-Faktisches rekurrie- dern der Hymne zuwandte, Seitenblicke auf
renden Interpretation so weit, daß er den un- biographische Zeugnisse zunächst also unter-
glücklich ins Abseits Geratenen, von dem das ließ und sie sich erst dann nicht mehr versagte,
Gedicht spricht, bündig auf den Namen Ples- da der hermeneutische Befund bereits vorlag.
sing brachte. Dieser Befund aber lautete, daß G. das Dich-
Die Einwände, die fortan erhoben wurden, ten selbst thematisiert habe: Vorgeführt werde
bezogen sich denn auch in erster Linie auf jene Operation poetischer Technik, die auf
diesen biographischen Faktizismus Schönes. Aufspaltung des einheitlichen Text-Ichs in
Beachtung fand der sondernd auf Gruppen ge- »Lied« und »Dichter« hinauslaufe, und ebenso
richtete Rundwn-Blick des Gedichts, welcher vorgeführt werde hernach jene Wiedervereini-
im Kontrast zu ihnen hernach einen verlore- gung, die im Zuge der Bilderarbeit erfolge.
nen einzelnen erfaßt und sodann aber einem Wenn freilich ein biographisches Ich und des-
Binnenblick weicht, erweisend die Symptome sen Heilung von Klaus Weimar bei alledem
einer existentiellen Gefahrdung. Die wie- noch mitgedacht wurden, so lehnte David E.
derum, so konnte sich geltend machen lassen, Wellbery eine solche Rückbindung ganz und
bezeichnen einen solchen (genialen) einzel- gar ab. In seinem konsequent struktural-
nen, dessen Lebenssehnsucht dem Schicksal semiotischen Kommentar faßte er das lyrische
eines abseitig-verlorenen Daseins entschieden Ich als ein allgemeines; er sah im Text ein
widerstrebt und der freilich auch im be- Ritual der Individualität sich vollziehen; und
schränkt Gruppenhaften keineswegs aufzuge- dieses Ritual, von integrierender Bewandtnis,
hen vermag. Und von da aus wurde die er- sei so geartet, daß es dem Ich soziale Identität
wünschte und verwirklichte Bergerklimmung zukommen lasse: Es weise ihm einen Ort im
im Sinne eines Rettenden gedeutet, das, wahr- umgreifenden symbolischen Gefüge zu. Er-
genommen als Erfahrung liebend sich zuwen- möglicht aber finde sich diese den Gedichttext
dender Gottheit, existentielle Befestigung kennzeichnende Transformation eben da-
ebenso stiftet wie einen neuen, innigenden durch, daß die Ausrichtung des Begehrens
Weitblick, der sich von betrachtender Distan- durch die Erfahrung des Erhabenen sublimiert
ziertheit befreit und den Zuwendung nun sei- werde; die Religion der Furcht wandele sich in
nerseits bestimmt (v gl. Leistner). In vergleich- eine des Dankes; zur Vereinigung bringe sie
barer Weise den Text als Ausdruck von Selbst- Liebe - das mütterliche - und Gesetz - das
reflexion begreifend, ging im folgenden auch väterliche Prinzip.
Jochen Schmidt an das Gedicht heran. Dabei Wolf von Engelhardt indessen hat den bio-
sah er den eingangs benannten Geier - im graphischen Ansatz neuerlich geltend ge-
Gegensatz zu Schöne - dem bei Pindar anzu- macht, wobei er gar den G.schen Selbstkom-
treffenden Adler verwandt; die gesamte erste mentar wieder respektiert wissen wollte. Und
Strophe erwies sich ihm als durch Pindars den Geier wünschte er weder als Auguralvogel
Dritte Nemeische Ode bis ins einzelne inspi- noch als Pindarschen Adler begriffen zu sehen,
riert. Und auf diesen Bezug sich gründend, vielmehr als eine Warte, von der aus das Ge-
Ilmenau 163

dicht ruhend auf die Natur, die Menschenwelt stenz im Übergang zur Klassik: Harzreise im Winter.
und des Dichters Wanderung schaue. Entspre- In: DVjs. 57 (1985), S. 615-655. - Schöne, Albrecht:
Götterzeichen. Harzreise im Winter. In: ders.: Göt-
chend wies er den Text als einen durchweg in
terzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Ein-
sich ruhenden vor, der das neue Naturgefühl blicke in alte Goethetexte. München 1982, S. 15-52.
G.s bezeuge und dabei biographisch authen- - Wellbery, David KlWeimar, Klaus: Johann Wolf-
tisch noch und gerade in den beiden Schluß- gang von Goethe, Harzreise im Winter. Eine Deu-
strophen sei: Der Wanderer erfahre dankbar' tungskontroverse. Paderborn u.a. 1984.
ein Numinosum, das ihm unerwartet und un- Bernd Leistner
verdient geschenkt wurde - und eben dies
gelte adäquat für den Harzreisenden G., der
mit einem vorbedachten Plan keineswegs um-
gegangen sei. Hans-Edwin Friedrich schließ-
lich, die Hymne nun wieder im Sinne eines
Reflexionsprotokolls begreifend, interpre-
tierte den Text als Antwort auf die Problem- Ilmenau
exposition des Werther. Der Enthusiast und die
Materie, lautet der Titel seiner Arbeit; und
hinsichtlich des Hymnentextes befand er, daß Das Gedicht entstand zum 26. Geburtstag des
der sich auf die Formulierung eines Pro- Herzogs Carl August am 3.9. 1783 und wurde
gramms melancholie-überwindender Weltzu- zunächst wohl nur einem engeren Personen-
wendung hinbewege. Als bedeutsam arbeitete kreis um den Adressaten zugänglich gemacht.
Friedrich in diesem Zusammenhang die Eine frühe handschriftliche Fassung unter-
G.sche Adaption der Perikope Matthäus 4, 8r. scheidet sich von der späteren Druckfassung
heraus. vor allem durch die Stropheneinteilung und
Vertonungen der Hymne bzw. einiger ihrer die abweichende Interpunktion sowie einige
Strophen stammen von Johann Friedrich unterschiedliche Lesarten (in FA I, 1,
Reichardt, Johannes Brahms, Wilhelm Lang- S.263-268; MA 2.1, S.82-87). Gedruckt
hans und Rudolf Pannwitz. wurde das Gedicht zuerst in der Gedicht-
sammlung der Werke von 1815. Dort steht es
am Beginn der Rubrik An Personen (FA I, 2,
Literatur: S. 334-340). Diese Fassung als die erste öffent-
Beck, Eva: Zur handschriftlichen Überlieferung der liche liegt der folgenden Interpretation zu-
Harzreise im Winter. In: GoetheJb. 98 (1981), grunde.
S. 259f. - Engelhardt, Wolf von: Goethes Harzreise
Unter G.s sogenannten Gelegenheitsgedich-
im Winter 1777. In: GoetheJb. 104 (1987),
S.192-211. - Friedrich, Hans-Edwin: Der Enthu- ten nimmt Ilmenau eine herausragende Stel-
siast und die Materie. Von den Leiden des jungen lung ein. Zwar repräsentiert es, wie andere
Werthers bis zur Harzreise im Winter. Frankfurt/M. Produkte dieses Genres, Grundzüge der histo-
u.a. 1991. - Henel, Heinrich: Der Wanderer in der risch-biographischen Situation des Dichters -
Not: Goethes Wanderers Sturmlied und Harzreise im im wesentlichen bezogen auf Weimar, den Hof
Winter. In: DVjs. 47 (1975), S. 69-94. - Kannegießer,
und seine Persönlichkeiten, an deren erster
Karl Ludwig: Über Göthe's Harzreise im Winter.
Neudruck durch WolfgangHelwig. In: N.E JbGG. 24 Stelle Herzog Carl August steht -, doch tritt in
(1962), S. 228-255. - Leistner, Bernd: >Trägst du ihn diesem langen Poem eine komplexe Thematik
hoch empor<. Zu Goethes Gedicht Harzreise im Win- in differenzierter Weise in den Vordergrund,
ter. In: ders.: Spielraum des Poetischen. Berlin, Wei- wie man sie in anderen Gelegenheitsgedichten
mar 1985, S. 59-94. - Lindemann, Gisela: Über die kaum findet. Der Text gibt sich weniger als
Erledigung des bösen Schattens beim Schreiben. Zu
höfisch-konventionelle Huldigung an einen
Goethes Harzreise im Winter. Ein Versuch. In: Ar-
nold, Heinz Ludwig (Hg.): Johann Wolfgang von spätabsolutistischen Herrscher, obgleich der
Goethe. München 1982, S.45-55. - Schmidt, Jo- Anlaß, aus dem er entstanden ist, der 26. Ge-
chen: Goethes Bestimmung der dichterischen Exi- burtstag des Herzogs, dies hätte nahelegen
164 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

können. Er präsentiert vielmehr eine umfas- noch in die Werkausgabe von 1806 entscheiden
sende Rückschau G.s auf die sieben Jahre sei- konnte, deutet auf die Brisanz des Inhalts
nes Projektes der Fürstenerziehung, dessen ebenso hin wie auf den dezenten Umgang des
Abschluß angezeigt scheint. Dichters mit Fragen, die den befreundeten
Entsprechend kennzeichnet Ilmenau ein Herzog und sein Verhältnis zu ihm betreffen.
Schwellenbewußtsein, das den Abschluß einer Im engeren Sinne ist das ein Akt der persönli-
Lebensphase thematisiert und einen Ausblick ehen Diplomatie, wobei dieses Moment das
auf die Zukunft unternimmt. Diese Ambiva- Gedicht selbst in starkem Maße prägt. Ilmenau
lenz ist charakteristisch für die Struktur des kann als Zeugnis für die schwierige Verbin-
gesamten Gedichts, ebenso wie der offenkun- dung von persönlicher Integrität in der höfi-
dige Zug zur poetischen Verklärung von Ver- schen Sphäre einerseits und künstlerisch-ge-
gangenheit und Zukunft. Der Autor, der die nialischem Anspruch andererseits verstanden
lyrische Verdichtung einer schwierigen inne- werden; darin repräsentiert es G.s Zentral-
ren wie äußeren Situation vornimmt, sieht problem seiner frühen Jahre in Weimar. Mit
sich den Anforderungen des aristokratischen dem Ort Ilmenau ist zugleich eine Gegend an-
Lebens nicht unterworfen, sondern als frei gesprochen, in der sich das wild-genialische
schaltendes Genie, das im vollen Bewußtsein Treiben der ersten Jahre in starkem Maße ab-
seiner Originalität auf die politische Sphäre gespielt hat und in der G.s erste große politi-
einwirken wollte. Er gesteht ein, daß nicht sche Aufgabe angesiedelt war, die Wiederinbe-
alles Angestrebte umgesetzt werden konnte, er triebnahme des Ilmenauer Bergwerks sowie
kennzeichnet den Herzog, die Hauptperson die sozialen Verbesserungen für einen verarm-
seiner Bemühungen, als problematische Ge- ten und vernachlässigten Landstrich. Der
stalt, und er entwirft die Vision von einem Übergang von imaginärer Unbedingtheit und
Weimarer Herzogtum als vorbildlichem Selbstverwirklichung zu realer politischer Ra-
Staatsgebilde mit einem vorbildlichen Herr- tionalität und Selbstverpflichtung verdichtet
scher. sich für G. in Ilmenau wie in keinem anderen
Ilmenau bringt auf den unterschiedlichsten Ort seiner Umgebung. In dieser Tatsache ist
Ebenen jene Ungewißheit und Unentschieden- sicherlich eine Initialzündung für G.s in späte-
heit zum Ausdruck, die G.s Lebenslage wie ren Jahren explizit entwickelte Ethik des Ent-
sein Denken zu Beginn der 80er Jahre des 18. sagens zu erblicken.
Jhs. bestimmt haben. Die genialische Unbe-
dingtheit des jungen Dichters wird von den Ilmenau ist in mehrere Strophen gegliedert,
Zwängen und Notwendigkeiten der höfischen wobei die Druckfassung 21 Strophen bringt,
Sphäre eingeschränkt und kann doch nicht während die Manuskriptfassung nur vierzehn
ganz zurückgenommen werden. Im Gedicht Strophen setzt, was insgesamt auf eine ent-
fingiert G. eine Kompromißhaltung, die den schiedene formale Durcharbeitung des Ge-
wirklichen Verhältnissen zur Zeit der Entste- dichtes durch den Autor in späteren Jahren
hung ebensowenig entsprochen haben dürfte, schließen läßt. So gewinnt der Text größere
wie das im Schlußteil gezeichnete Bild eines Übersichtlichkeit, büßt aber, wenn auch nur in
gereiften Herzogs noch Ausdruck eines Wun- geringfügigem Maße, seine von der Hand-
sches gewesen ist. Ilmenau schwebt so in ei- schrift her übermittelte genialische Direktheit
gentümlicher Form zwischen Problematisie- im Formalen ein. Das Gedicht ist durchgehend
rung und Verklärung, aber gerade dieser gereimt; Paarreim, Kreuzreim und umschlie-
Grundzug, verbunden mit einer unvergleich- ßender Reim wechseln sich ab. Der stete
lichen Komplexität in der Gestaltung, machen Wechsel der Aussageebenen, von der Natur-
die Einzigartigkeit dieses Kunstwerks aus. beschwörung über Ausrufe- und Fragesequen-
zen, wörtlicher Rede in narrativischer Wieder-
Die Tatsache, daß sich G. weder für eine Auf- gabe bis hin zur grundsätzlichen biographi-
nahme des Textes in die Schriften von 1789 schen und gesellschaftspolitischen Reflexion,
Ilmenau 165

Ilmenau
166 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

bedingt eine extreme Bewegtheit des Textab- berwort der Sturm und Drang-Epoche getrof-
laufs, welche mit der Stimmung des Gedichts fen, welche visionär aufscheint. Es handelt
aufs Engste korrespondiert. So kann die for- sich um ein nächtliches Gelage, wie es in den
mal relativ freie und doch durch die konse- Jahren 1776/77 in der Gegend von Ilmenau
quent durchgehaltenen Reime kohärente Ge- des öfteren stattgefunden haben dürfte. Ganz
staltung von Ilmenau als zentraler und auf der Natur und der genialischen Gestimmtheit
überragende Weise gelungener Grundaspekt sind die Teilnehmer hingegeben, die Szenerie
des lyrischen Sprechens, wie es sich hier dar- ist ausgestattet mit allen Bestandteilen eines
bietet, verstanden werden. idyllisch-erhabenen Idealortes : »Hütten, dicht
mit Reis bedecket« cv. 57), hoher Fichtenwald,
Der Text setzt mit der Beschwörung des Ortes Felsenwände, ein kleiner Wasserfall, auf dem
ein. Das sprechende Ich findet sich inmitten Feuer wird ein »rohes Mahl« bereitet cv. 40),
der Natur, und der Ausruf »Anmutig Tal!« cv.
1) die Flasche wird im Kreis herumgereicht. Die
gibt den Auftakt zu einer die beiden ersten in den sieben Strophen erreichte Verdichtung
Strophen ausfüllenden Einstimmung auf die von Naturbeschwörung und Vergangenheits-
Begegnung des Sprechers mit dieser Land- schau erscheint so eindringlich wie subtil ge-
schaft. Das ist die Situation, von der aus die staltet und entwickelt damit ihre spezifische
Erinnerung einsetzt und die zuletzt einen Suggestivkraft. Diese Eindringlichkeit wird
neuen, ermutigenden Ausblick gewähren soll. noch verstärkt in der Beschreibung einzelner
»0 laß mich heut' an deinen sachten Höhn, / Gestalten, die sich an diesem Ort befinden.
Ein jugendlich, ein neues Eden sehn!« cv.
9f.). »Die markige Gestalt aus altem Helden-
Damit ist die poetische Absicht deutlich ausge- stamme« cv. 62) dürfte wohl Karl Ludwig von
sprochen, und dieser Anspruch setzt sich fort, Knebel bezeichnen, und »der andre, der sich
dehnt sich in der dritten Strophe auf die sozia- nieder / An einen Sturz des alten Baumes
len Verhältnisse aus: »Laßt mich vergessen, lehnt, / Und seine langen feingestalten Glie-
daß auch hier die Wel t / So manch Geschöpf in der, / Ekstatisch faul, nach allen Seiten dehnt«
Erdefesseln hält« cv.
13f.). Die Hügel, das Tal, cv. 69-72) ist mit Sicherheit eine Charakte-
die gesamte Natur sollen dem lyrischen Ich zu risierung Karl Siegmund von Seckendorffs,
einer Verjüngung verhelfen, die auf ein neu es bei des Gefährten aus den ersten Weimarer
Leben abzielt. So vollzieht sich die Einstim- Jahren, die für G. besondere Bedeutung hat-
mung auf die sich anschließende Traumse- ten. G. zeichnet sie mit wenigen starken Stri-
quenz, die den Hauptteil des Gedichts bildet. chen in ihrer unterschiedlichen Wesensart:
Der Übergang von der Naturbeschwörung zur Knebel markig, derb und vital, Seckendorff
traumhaften Vision der Vergangenheit ist feingliedrig, vergeistigt, musisch. Beide Figu-
kaum wahrnehmbar, eins spielt ins andere, ren repräsentieren in ihrer Verschiedenheit
und mit einem Mal befindet man sich in einer das Spannungsfeld der Sturm und Drang-At-
Szenerie, in der dem Ich frühere Zeiten aufer- mosphäre in seinen Extrempunkten und treten
stehen. »Wo bin ich? ist's ein Zaubermärchen- daher nicht zufällig nacheinander auf.
Land? / Welch nächtliches Gelag am Fuß der Von ihnen wendet sich der Blick zum Ende
Felsenwand?« cv. 55f.), heißt es in Strophe des Tales, wo in einer Hütte ein »Jüngling«
sechs, und das verklärende Befremden, das cv. 79) Ruhe sucht. Damit ist der junge Herzog
sich angesichts dieser Schau einstellt, wird im angesprochen. Vor der Hütte sitzt eine weitere
folgenden vielgestaltig ausgeführt: »Ist es der Gestalt, die den Schlaf dieses Jünglings be-
Jäger wildes Geisterheer? / Sind's Gnomen, wacht. Mit ihr ist der junge Fürstenerzieher
die hier Zauberkünste treiben? / [ ... ] / Soll selbst gemeint.
ich verirrter hier in den verschlungnen Grün- Fragend tritt das lyrische Ich an den vor der
den / Die Geister Shakespear's gar verkörpert Hütte Wachenden heran: »Was ist's, daß du in
finden?« cv. 47ff.). Sinnen dich verlierest, / Und nicht einmal
Mit dem Namen Shakespeare ist das Zau- dein kleines Feuer schürest?« (Y. 90f.). Die
Ilmenau 167

Antwort auf diese Frage bildet eine hellsich- Charakter, der sich erst noch herausbilden
tige Beschreibung von G.s Lage, wie er sie muß und der nur allmählich Abschied nehmen
rückblickend auf die Zeit um 1776 beurteilt. kann von seiner ursprünglichen Heftigkeit und
Interessant erscheint dabei das Ineinander seinen jugendlichen Irrtümern. »Ein edles
von Schicksalsglaube, wie er für den G. der Herz, vom Wege der Natur / Durch enges
frühen 80er Jahre kennzeichnend wird, und Schicksal abgeleitet, / Das, ahnungsvoll, nun
Enttäuschung, ja Resignation angesichts des auf der rechten Spur / Bald mit sich selbst und
Scheiterns der genialischen Ansprüche. So bald mit Zauberschatten streitet, / Und was
heißt es: »Ich bin dir nicht im Stande selbst zu ihm das Geschick durch die Geburt ge-
sagen / Woher ich sei, wer mich hierher ge- schenkt / Mit Müh' und Schweiß erst zu er-
sandt; / Von fremden Zonen bin ich her ver- ringen denkt« rv. 122-127). Das Bild von der
schlagen / Und durch die Freundschaft fest- Raupe, die, nachdem sie ihre harte Schale zer-
gebannt« rv. 96-99). Gleich darauf, nach ei- brechen konnte, zum Schmetterling geworden
nem Vergleich mit Prometheus, dem ebenfalls ist, gibt die Zielrichtung an, auf die hin das
Grenzen gesetzt gewesen seien, folgen die be- Porträt des Herzogs angelegt ist (vgl.
rühmten Verse: »Ich brachte reines .Feuer vom V. 130-135). »Noch ist bei tiefer Neigung für
Altar; / Was ich entzündet, ist nicht reine das Wahre / Ihm Irrtum eine Leidenschaft«
Flamme. / Der Sturm vermehrt die Glut und rv. 138f.), heißt es weiter unten, und die fol-
die Gefahr, / Ich schwanke nicht, indem ich genden Charakterisierungen bringen all die
mich verdamme« rv.108-111). Gerade dieser Sorgen und Ärgernisse zur Sprache, die G. im
letzte Vers ist sprechend, suggeriert er doch Rückblick auf die Entwicklung des Fürsten be-
Standhaftigkeit bei allem Selbstzweifel und schäftigt haben. Die Rede ist von »Vorwitz«,
bezeichnet G.s ausharrende Haltung. von »schmerzlich überspannter Regung«, >>Un-
Die vierzehnte Strophe bringt dann gleich- mutiger Bewegung«, der Herzog wird bezeich-
sam die Engführung des Themas, die Themati- net als »düster wild an heitren Tagen, / Unbän-
sierung des Genieproblems in der höfischen dig ohne froh zu sein« rv. 140-149).
Umgebung. Der individualistische Freiheits- All dies lastet auf der Gestalt vor der Hütte
gesang, mit dem G. Ruhm und Begeisterung wie ein »schwerer Traum« rv.154), und dieser
ernten konnte, stieß im Milieu aristokrati- Traum soll verschwinden. Zugleich ver-
scher Umgangsformen hart an seine Grenzen. schwindet damit die Traumszenerie selbst, in
Der Dichter des Gölz von Berlichingen sieht der sich das Vorstehende abgespielt hat. Der
sich dem Zwang einer Gesellschaft ausgesetzt, Wachende vor der Hütte und der lyrische Spre-
in der seine Träume nicht fruchten können. cher, dem diese Visionen erschienen sind, fal-
Das Resultat ist emotionales Schwanken, das len ineins: »Verschwinde Traum! Wie dank'
schwer auszuhalten ist: »Doch ach! ein Gott ich, Musen, euch! / Daß ihr mich heut auf
versagte mir die Kunst, / Die arme Kunst, einen Pfad gestellet, / Wo auf ein einzig Wort
mich künstlich zu betragen. / Nun sitz' ich hier die ganze Gegend gleich / Zum schönsten Tage
zugleich erhoben und gedrückt, / Unschuldig sich erhellet« rv. 156-159). Die alte Zeit der
und gestraft, unschuldig und beglückt« Schwankungen, der Irrungen und Exzesse soll
rv. 116-119) - so die Drucke von 1815 und endgültig vorüber sein; jetzt soll die schon
1827; seit der Weimarer Ausgabe vermuten die eingangs beschworene neue Zeit anbrechen,
Herausgeber aufgrund der Handschrift einen vielmehr, sie ist schon angebrochen: »Das
Druckfehler und ändern das zweite >>unschul- ängstliche Gesicht ist in die Luft zerronnen, /
dig« in >>und schuldig« ryYA I, 2, S. 145 u. 332). Ein neues Leben ist's, es ist schon lang be-
gonnen« rv. 164f.).
Sodann kommt die vor der Hütte wachende
Gestalt auf das Hauptziel seiner Sorgen und In diesem Sinne spricht G. nun von den wirt-
Nöte zu sprechen, auf den Herzog. Von ihm schaftlichen und sozialen Verbesserungen, die
wird ein vielschichtiges Porträt gezeichnet, ein er in seiner auf Ilmenau bezogenen Tätigkeit
168 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

vorgenommen und eingeleitet hat. Bei alldem gilt, die Realitäten zu erkennen, und die geben
dürfte der Dichter vornehmlich an die Restau- auch für einen spätabsolutistischen Herrscher
rierung des stillgelegten Kupfer- und Silber- kaum Anlaß zum Überschwang. Noch immer
bergwerks gedacht haben, das ein halbes Jahr versucht G. zwei auf den ersten Blick sich fun-
nach der Entstehung des Gedichts neu eröffnet damental widerstreitende Bereiche miteinan-
worden ist. G. stand der Bergwerkskommis- der in Einklang zu bringen. Er betrachtet sich
sion vor; etliche Jahre später mußte er das als den Vorreiter einer politischen Haltung,
klägliche Scheitern des Projekts erleben. Daß die weder im ideell Unbedingten scheitern,
aber seine Bemühungen auf dem sozialpoliti- noch an den Verkrustungen des ancien regime
schen Sektor gerade in der Zeit um 1783 be- zugrunde gehen will. Dazu bedarf es eines
sonders intensiv gewesen sind und daß diese Herrschers, der mehr ist als absolutistisch-
Bemühungen explizit auf den Bereich Ilmenau aufgeklärt. Die »jugendliche Utopie einer Ge-
ausgerichtet waren, kennzeichnet einen wei- meinschaft, jenseits von gesellschaftlicher
teren Aspekt, der Ilmenau zu einem Symbol Stellung und politischer Macht« (Sengle 1993,
des Umbruchs werden läßt. Sein Ehrgeiz auf S. 15f.) ist unwiderruflich zerbrochen, aber
politischem und verwaltungstechnischem Ge- eine neue, tragfähige Haltung ist noch nicht in
biet bringt G. von der ursprünglichen genia- Sicht. So muß es zunächst beim Wunschbild
lischen Überspanntheit ab und fUhrt ihn zu den bleiben, das G. in Ilmenau zeichnet. Dieser
Tugenden, die dieser neuen Situation eher ent- Wunsch geht einher mit einer Ermahnung. Es
sprechen: Pflicht und Entbehrung. Es liegt, wird vom Herzog selbst abhängen, wie sich
wie schon angedeutet, nahe, den Ursprung von seine eigene Zukunft und die seines Landes
G.s späterer Entsagungsethik in diesen Jahren gestalten. Der Zeitpunkt, an dem G. dies aus-
um 1783 zu erblicken. Das Gedicht Ilmenau spricht, ist geprägt von tiefer Ungewißheit, der
selbst kann als erste umfängliche Manifesta- Ort, Ilmenau, ein Symbol für das Alte und das
tion dieser Wendung begriffen werden. Was Neue gleichermaßen, ein Ort, an dem sich der
sich in späteren Jahren zu einer ganz bewuß- Umbruch, der ansteht, verdichtet.
ten Haltung gegenüber Leben und Schreiben
bei G. ausformen und etwa in den Wanderjah- Die mittleren Verse, in denen G. unverkennbar
ren das dichterische Konzept durchgreifend von sich selbst spricht, offenbaren das Be-
bestimmen wird, hat hier seinen Keim. Aus wußtsein eines mehr als nur teilweisen Schei-
dem Schwanken und Zweifeln jener frühen terns. Sie lassen auch Resignation erkennen,
Zeit entsteht eine Haltung, die sich mehr und fordern jedoch ebenso deutlich zum Durch-
mehr zu einer Ethik der Lebensklugheit aus- halten und Umgestalten auf.
wachsen wird. Das abschließende Fürstenlob, Was hat G. für sich als Universalgenie von
gleichsam als Glückwunsch zum 26. Geburts- Carl August erwartet? Bleibt er auch nach 1783
tag für den jungen Herzog auf die Zukunft hin jener »Don Quichotterie« (Sengle 1993, S. 36)
ausgesprochen, steht ganz im Zeichen dieser treu, mit der er als Bürgerlicher Einfluß auf
Maximen; durch solcherart begriffene Verant- die Geschäfte eines absolutistischen Staatsge-
wortlichkeit soll das Herzogtum Sachsen-Wei- bildes und auf seinen Regenten zu nehmen
mar zum Vorbild der gesamten Epoche wer- versucht? Ilmenau läßt diese Frage offen. Die
den. Geschichte von G. und Carl August ging wei-
ter. Der Geburtstag des Herzogs im Jahre 1783
Auch in den letzten Versen bleibt jener beinahe bildete nur einen Haltepunkt, an dem Zwi-
ermahnende Ton bestehen, der einer unkriti- schenbilanz zu ziehen war. Wirklich abge-
schen Lobeshymne wenig angemessen wäre. schlossen dürfte das Projekt der Fürstenerzie-
Die seit 1775 in Angriff genommene Fürsten- hung wohl erst 1786 gewesen sein, mit G.s
erziehung ist am 3.9. 1783 weder vollendet Abreise nach Italien.
noch abgeschlossen. Aber die genialische Bei aller Verklärung von Vergangenheit und
Frühzeit soll ein- für allemal vorbei sein. Es Zukunft trifft Ilmenau doch das Grundpro-
Auf Miedings Tod 169

blem der Zeit, ein Meisterstück diplomati- Literatur:


scher Klugheit und dichterischer Deutlichkeit CONRADY, Bd. 1, S. 366ff. - Düntzer, Heinrich: Goe-
gleichermaßen. Das Gedicht führt ins Zen- thes Gedichte Auf Miedings Tod und Ilmenau. In:
trum der Spannungen und Probleme, die auch ZfdPh. 27 (1895), S.64-109. - Geerdts, Hans-Jür-
aus anderen Dokumenten jener ersten zehn gen: Goethes erste Weimarer Jahre im Spiegel seiner
Weimarer Jahre im Leben G.s sprechen und Lyrik. In: GoetheJb. 93 (1976), S.51-59. - GUN-
DOLF, S. 255-261. - Immig, Rudolf: Ilmenau am 3.
weist voraus auf G.s künftige Haltung, nicht
September 1783. Interpretation. In: Die Pädagogi-
nur in politischer Hinsicht, sondern in umfas- sche Provinz. 9 (1955), S. 609-618. - Lauffs, Man-
sendem Sinne ethisch und ästhetisch. fred: ,Er war mir August und Mäzen<. Annäherung
an ein Gedicht über soziale Verhältnisse und ein
In der G.-Forschung wurden Ilmenau selten freundschaftliches Verhältnis. In: Arnold, Heinz
eingehende Interpretationen zuteil. Zumeist Ludwig (Hg.): Goethe. Text und Kritik. Sonderheft.
München 1982, S.54-83. - Mayer, Hans: Goethe.
wurde weder die biographische noch die äs-
Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt/M. 1973. -
thetische Schlüsselstellung des Textes deutlich Sengle, Friedrich: Das Genie und sein Fürst. Die
herausgearbeitet. Entsprechend finden sich Geschichte der Lebensgemeinschaft Goethes mit
bis in die 50er Jahre des 20. Jhs. hauptsächlich dem Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Ei-
Interpretationen, die Ilmenau als Erlebnisge- senach. Ein Beitrag zum Spätfeudalismus und zu
dicht im Horizont genialischer Gestimmtheit einem vernachlässigten Thema der Goethe-For-
schung. Stuttgart, Weimar 1993. - Ders.: Goethe und
deuten (vgl. Suphan 1893, Düntzer 1894, Im-
Sachsen-Weimar-Eisenach. Zu der Frage, was das
mig 1955). Die spezifische Problematik des Genie dem Kleinstaat verdankte. In: ders.: Neues zu
Gedichtes wurde kaum hervorgehoben, viel- Goethe. Essays und Vorträge. Stuttgart 1989,
mehr wurde es als gelungene Wiedergabe ei- S. 9-23. - Suphan, Bernhard: Ilmenau. In: Deutsche
nes biographischen Ereignisses verstanden. Rundschau. 77 (1893), S.272-287. - Tümmler,
Erst Friedrich Gundolf (1916) gelang eine Hans: Und der Gelegenheit schafr ein Gedicht.
Goethes Gedichte an und über Personen seiner Zeit
Vertiefung des Blicks, indem er Ilmenau als
und seines politischen Lebenskreises. Bad Neu-
das »sinnf<iJligste Literaturdenkmal für die stadt/Saale 1984.
Momente der Sammlung und Selbstbesin-
nung« des frühen WeimarerG. begriff (S. 258). Christian Schäif
Noch Hans Mayer (1973) allerdings liest das
Gedicht als Grundlegung der Resignation, wie
sie G. nach 1780 befallen haben soll, als das
Dokument eines politisch und biographisch
zunächst Gescheiterten (S. 21 ff.). Manfred
Lauffs (1982) gelangt zu einer differenzierte-
ren Analyse und Darstellung der Zusammen-
Auf Miedings Tod
hänge, die in poetischer und inhaltlicher Hin-
sicht das Gedicht prägen und es zweifelsohne
zu einem spannungsgeladenen Manifest exi- Am 27.1. 1782 starb Johann Martin Mieding,
stentieller Selbstbefragung bei höchstem äs- "Theatermeister« und Bühnenbildner am her-
thetischen Formbewußtsein werden lassen. zoglichen Liebhabertheater zu Weimar. Es war
Auch Karl Otto Conrady (1982) berücksichtigt Sonntagabend, als die Nachricht bekannt
diese Aspekte in seiner Werkbiographie; die wurde. Die Vorbereitungen für eine Auffüh-
Bedeutung von Ilmenau gerade im Deutungs- rung zum Geburtstag der Herzogin Luise am
horizont der Werkbiographie ist hier wohl 30. Januar liefen auf Hochtouren. Plötzlich
erstmals voll zur Darstellung gebracht wor- stellte man fest, daß die Hauptperson fehlte,
den. Auf das Verhältnis G.s zum Herzog, auch das »Factotum«, wie es in G.s Gedicht heißt
im Hinblick auf Ilmenau, geht in jüngster Zeit (V. 102). Dieses war die Situation, mit der Auf
insbesondere Friedrich Sengle (1989, 1993) Miedings Tod einsetzt; mitten ins tätige Leben
ein. griff der Tod nach dem unentbehrlichen Hand-
170 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

werker, und gerade an diesem Umstand wird Gedicht spricht sie die Dankesworte an Mie-
die Bedeutung Miedings unmittelbar deutlich. dings Grab, die das Poem abschließen. G.
zeichnet anläßlich dieses Trauerfalls ein Bild
G. schrieb den Text im Februar/März 1782. Er des Musenhofes, in dessen Mittelpunkt das
erschien im März desselben Jahres in dem in Liebhabertheater steht. »0 Weimar! dir fiel
zwölf Exemplaren verbreiteten, handschrift- ein besonder Los: / Wie Bethlehem in Juda,
lichen Tüifurter Journal. Der Erstdruck er- klein und groß!« cv.
39f.). Diese Formulierung
folgte 1789 in Göthe 's Schriften, Band acht, als mochte noch als ironische Übertreibung aufge-
Abschluß der Vermischten Gedichte. Zweyte faßt werden, das Gedicht nährt jedoch insge-
Sammlung unmittelbar hinter Hans Sachsens samt das Verständnis von der Bedeutsamkeit
poetische Sendung, mit dem zusammen es Weimars als eines Ortes, den die Musen in
durch ein eigenes Titelblatt von den übrigen besonderer Weise bedenken.
Gedichten abgehoben ist (in FA I, 1,
S. 362-368). In dieser Fassung fehlt die wich- Das Gedicht besteht aus 24 unterschiedlich
tige sechste Strophe (»0 Weimar! dir fiel ein langen Strophen, wobei anfangs der sechszei-
besonder Los !«). In den späteren Werkaus- ligen Strophe ein deutliches Übergewicht zu-
gaben (1808: Bd. 8; 1817: Bd. 9; 1828: Bd. 13) kommt. Insgesamt richtet sich die Länge der
steht der Text nicht mehr in dem Band mit den Strophen nach den thematischen Schwerpunk-
Gedichten, sondern bei den Puppenspielen ten, die in ihnen zur Sprache kommen. Das
und Maskenzügen, also den Werken »im )Hans bedeutet, Form und Inhalt stehen, wie meist in
Sachsischen< Stil« (Eibi, S. 1028). G.s sogenannten Gelegenheitsgedichten, in ei-
Der Text wird im vorliegenden Fall nach der ner grundsätzlich flexiblen Beziehung. Formal
Hamburger Ausgabe zitiert, die ihre Text- auffallig ist allerdings der strikt durchgehal-
grundlage im Nachdruck des Tiifurter Jour- tene Paarreim, welcher der Diktion einen ein-
nals von 1782 hat und damit als einzige neuere fachen, fließenden Ablauf gewährt. Die Ver-
Ausgabe der Erstveröffentlichung folgt (HA 1, knüpfung der soliden Simplizität und des
S.114-120). kunstvollen Gestaltens, die das Gedicht in-
haltlich ausbreitet, scheint so auch auf der for-
Im April schrieb G. aus Ilmenau an Karl Lud- malen Ebene eine Korrespondenz zu finden.
wig von Knebel: »Ich bin mir noch keiner so
schönen Sensation bewußt, als dieses Gedicht Die ersten 26 Verse schildern die Verbreitung
in unserm Kreis gemacht hat, und wünsche der Nachricht von Miedings Tod. Krank sei er
daß es bey dir auch so anschlagen möge« (an öfter gewesen, heißt es, doch vermochte kei-
Knebel, 17.4. 1782). Es erscheint verständlich, nes dieser Leiden ihn wirklich von der Ausfüh-
daß dieses Gelegenheitsgedicht sich allgemei- rung seiner Arbeit abzuhalten. Die Zuverläs-
ner Beliebtheit im Umkreis des Weimarer Ho- sigkeit dieses Mannes, verbunden mit einem
fes und des Liebhabertheaters erfreuen unbeirrbaren Tätigkeitswillen, wird bereits in
konnte. G. ehrt damit einen einfachen Hand- unmittelbarem Zusammenhang mit der Todes-
werker, dessen Tüchtigkeit er ebenso hervor- nachricht hervorgehoben. Das überraschende
hebt wie seine Leidenschaft bei der Arbeit und Fehlen des pflichtbewußten Mannes gibt An-
für das Theater. Er verknüpft diesen durchaus laß zu mancherlei Überlegung, und so leitet
mit feinem, wohlwollendem Humor gestalte- denn die fünfte Strophe von der Betroffenheit
ten Preisgesang mit einer atmosphärischen zur Betrachtung über: »Laßt seinen Sarg eröff-
Skizze des Theatermilieus und des Liebhaber- net, tretet her, / Klagt jedem Bürger, der gelebt
theaters im besonderen. Als Höhepunkt läßt er wie er, / Und laßt am Rand des Grabes, wo wir
die hochverehrte Corona Schröter auftreten, stehn, / Die Schmerzen in Betrachtung über-
die er 1776 als herausragende Sängerin und gehn« cv. 35-38).
Schauspielerin, sofort nach der Einrichtung In der sechsten Strophe folgt der schon an-
des Theaters, nach Weimar geholt hatte. Im gesprochene Vergleich Weimars mit Bethle-
Auf Miedings Tod 171

hem, gewiß ein Bonmot, über das man in den Rang eines mimetischen Arrangeurs,
schmunzeln konnte, denn gleich darauf wird der arbeitet, wie die Natur erschafft: »Wie die
der Ruhm Weimars auf eine eigentümliche Natur manch widerwärt'ge Kraft / Verbindend
Ambivalenz zurückgeführt: »Bald wegen Geist zwingt, und streitend Körper schafft, / So
und Witz beruft dich weit / Europens Mund, zwang er jedes Handwerk, jeden Fleiß, / Des
bald wegen Albernheit. / Der stille Weise Dichters Welt entstand auf sein Geheiß«
schaut und sieht geschwind, / Wie zwei Ex- 0l. 93-96). Daher, meint der Dichter, sei ihm,
treme nah verschwistert sind« 0l. 41-44). Die Mieding, der Titel »Direktor der Natur« ange-
Verbindung von Geist und Albernheit weist auf messen 0l. 98).
eine Zeit zurück, von der G. im Jahre 1782
hoffte, sie möge überwunden sein. Im Aus- Mit dieser Schaffenskraft, heißt es weiter, geht
leben genialisch-exzessiver Gestimmtheit, wie eine bemerkenswerte Einfachheit und Be-
man sie in den ersten Jahren nach G.s Ankunft scheidenheit einher, die »manchen Ehren-
in Weimar pflegte, lag zwar viel Anspruch auf mann« 0l. 107) beschämen muß und die letzt-
kulturelle Höchstleistungen, nicht immer je- lich in der für Mieding alltäglichen und unauf-
doch der notwendige Ernst zu ihrer Umset- hebbaren materiellen Kargheit seines Daseins
zung. Die auch daraus resultierende Berühmt- begründet ist. »Zwn Gütersammeln war er
heit des Herzogtums, die im wesentlichen auf nicht der Mann; / Der Tag verzehrte, wie der
die Berühmtheit G.s zurückzuführen war, Tag gewann« 0l. 117 f.). Hierauf zieht G. eine
konnte daher durchaus als zwiespältig erschei- Art Fazit aus diesem Leben eines redlichen
nen. Dem hypertrophen Kraftgeniekult, der Mannes, der »vertröstet lebte und vertröstet
letztlich nur eine vorübergehende Subkultur starb« 0l. 122). An Mieding, dem Handwerker,
bei Hofe ausbilden konnte, steht die Redlich- offenbart sich das kärgliche Leben der arbei-
keit und Beflissenheit eines Mannes gegen- tenden Schichten, vor allem angesichts höfi-
über, der mit handwerklichem Können und schen Prunks und adligen Müßiggangs. G.s
grundehrlicher Bescheidenheit seine Arbeit Gedicht auf Mieding ist eine Reflexion über
auszuführen wußte, wie es im Gedicht heißt: die Existenzformen des »einfachen Volkes«,
»Mit Lust zum Werke mehr als zwn Gewinn« ein Zug, der schwärmerisch bereits im Ge-
0l. 65). niekult angelegt war und nun viel deutlicher
von G. als soziale Realität gesehen wird. So
Darauf wird Miedings Wirken im engeren heißt es in dem schon zitierten Brief an Kne-
Sinne geschildert, immer in bezug zwn Thea- bel: »wir habens so weit gebracht, daß oben
teralltag insgesamt, zwn Termindruck, zu per- immer in einem Tage mehr verzehrt wird, als
sonellen Engpässen und individuellen Feh- unten in einem organisirt / beygebracht wer-
lern, die jedoch den Theatermeister nicht aus den kann« (an Knebel, 17.4. 1782). Nicht zu-
dem Konzept bringen können. Alles hand- fallig kommt G. gleich darauf auf sein Gedicht
werkliche Geschick und die Vielfalt der unter- AufMiedings Tod zu sprechen. Mieding ist für
schiedlichen Arbeiten, die im Vorfeld einer ihn ein Repräsentant der kleinbürgerlichen
Aufführung zu erledigen sind, führen letztlich Klasse, die ein Großteil der Produktivkraft er-
doch darauf hin, daß der Bühnenbildner we- bringt und doch immerfort vertröstet bleibt,
sentlich zur Erschaffung jener Scheinwelt bei- materiell wie ideell.
trägt, die sich durch die Schauspieler, den Text
und das Bühnenbild aufbaut. »So, treu dem Es erscheint charakteristisch für G.s Einstel-
unermüdlichen Beruf, / War er's, der Held lung zu diesen Fragen, daß er an dieser Stelle
und Schäfer leicht erschuf. / Was alles zarte sogleich übergeht zur Theaterrealität und ih-
schöne Seelen rührt, / Ward treu von ihm, ren Protagonisten, daß er unmittelbar die Welt
nachahmend, ausgeführt« 0l. 85-88). des Scheins heraufbeschwört, wo die Refle-
Mieding in seiner umfassenden Wirksam- xion über die Lebenswirklichkeit des Betrau-
keit für die Illusionswelt Theater rückt endlich erten eine gewisse Bitterkeit erzeugen könnte.
172 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

Der Dichter ruft das Schauspielervolk an, das lebte am 6.4. 1779 mit der Uraufführung der
im Grunde ganz der Natur verhaftet ist, jedoch Iphigenie in der Prosafassung sein wichtigstes
in anderer Weise als die seßhafte, arbeitende Ereignis. Doch schon im Jahre 1782, als G. Auf
Bevölkerung. Die Schauspieler bringen, »ge- Miedings Tod schrieb, erlahmte das Interesse
schleppt von Eseln und umschrien von Narrn« G.s und des Herzogs an der Schauspielerei.
(\T. 128), die Verklärung in die Welt, durch sie 1784 legte G. die Theaterleitung zunächst nie-
wird »in Herrlichkeit der Welt die Welt ent- der. So kann das Gedicht auch als eine Rück-
zückt« (\T. 132). G. beschreibt die Komödianten schau auf eine bewegende Epoche in Weimar
als ganz eigenen Menschenschlag, welcher der verstanden werden und als Ehrung für die
Metamorphose und der Illusion angehört. Ge- ebenso faszinierende wie stolze Hauptperson
rade diese Gestalten sollen Mieding die letzte dieser Aktivitäten, für Corona Schröter. In ihr
Ehre erweisen, denn sie gehören wie er zur sieht der Dichter das klassizistische Ideal ver-
Basis des Theaters, auch dort, wo sie auf den körpert. Sie ist für ihn Inbegriff jener absichts-
verfeinerten Geschmack abstoßend wirken losen Schönheit, in der sich die Autonomie des
und zärtere Gemüter schockieren mögen. Daß Ästhetischen zum Ausdruck bringt: »Sie tritt
G. hier die Schauspielerwelt als illusionären herbei. Seht sie gefällig stehn! / Nur absichts-
Bodensatz der hohen dramatischen Kunst in los, doch wie mit Absicht schön. / Und hocher-
einer Vielzahl von Versen erstehen läßt, hat staunt seht ihr in ihr vereint / Ein Ideal, das
mehrere Gründe und repräsentiert nicht zu- Künstlern nur erscheint« (\T. 181-184).
letzt eine poetologisch tragende Funktion für
die Struktur des Gedichts. Das Theatervolk Der Dichter läßt Corona durch die trauernde
bildet gleichsam den Übergang vom redlichen Menge schreiten, sie trägt den Trauer-
Handwerk in die Sphäre künstlerischer Kön- schmuck, den sie ins Grab wirft. »Und durch
nerschaft, und sie suggeriert zudem, daß die- den schwarzen, leichtgeknüpften Flor / Sticht
ser Übergang fließend ist, daß auf dem Thea- eine Lorbeerspitze still hervor« (\T. 193f.),
ter alles zusammengehört, alles ineinander heißt es, und in dieser Lorbeerspitze, die von
wirken muß, um die Spitze, das Höchstmaß, der Erscheinung des ästhetischen Ideals zur
um zuletzt die Kunst entstehen zu lassen. Die- Ehre des Toten ins offene Grab gelegt wird,
ser Höhepunkt wird im Auftritt Corona Schrö- kommt die Verknüpfung von dichterischem In-
ters erreicht. »Es gönnten ihr die Musen jede genium, idealischer Verkörperung und hand-
Gunst, / Und die Natur erschuf in ihr die werklicher Leistung zum Ausdruck, eine Kern-
Kunst. / So häuft sie willig jeden Reiz auf aussage des Gedichtes.
sich, / Und selbst dein Name ziert, Corona, Coronas Dankesworte besiegeln eindrucks-
dich« (\T. 177-180). voll die imaginäre Zeremonie, indem sie noch
einmal Miedings Kunst, seine Leidenschaft
Corona Schröter war ein ebenso tragendes und Tüchtigkeit preisen, nun aber auf einer
Element im herzoglichen Liebhabertheater beinahe mystisch überhöhten Sprachstufe :
wie auf einer ganz anderen Ebene Mieding. G. »Dir gab ein Gott in holder, steter Kraft / Zu
war es gelungen, kurz nach der Übernahme deiner Kunst die ew'ge Leidenschaft«
der Bühnenleitung die ihm seit seiner Leip- (\T. 203f.). Mit Coronas Auftreten kommt es zur
ziger Studienzeit persönlich bekannte Schau- ästhetischen Verklärung des Toten und seines
spielerin und Sängerin nach Weimar abzuwer- Sterbens in diametraler Entgegensetzung zum
ben. Ihr Wunsch, vor kleinerem Publikum zu Anfang des Gedichts, wo die alltägliche Ge-
spielen, sowie eine auf Lebenszeit in Aussicht schäftigkeit der handwerklichen Vorbereitun-
gestellte Gage, ließen Corona Schröter ein- gen der Theateraufführung geschildert wird.
willigen. Sie kam im November 1776 in Wei- Der Text umfaßt demnach bildlich und sprach-
mar an und wurde zu einem festen Bestandteil lich alle Ebenen der theatralischen Sphäre und
der Hofgesellschaft. Mit ihr und unter G.s Lei- fügt Miedings Bedeutung vielschichtig darin
tung blühte das Liebhabertheater auf und er- ein. Dennoch kommt es abschließend nicht
Jägers Nachtlied 173

etwa zur reinen Überhöhung der Gestalt des gers Abendlied, Bestandteil einer ungedruck-
Toten in der Ansprache der Schauspielerin. ten Oper, die damals der Herzogin Anna Ama-
Vielmehr endigt G. das Gedicht mit einem lia vorlag. G.s Text indes orientiert die Situa-
Hinweis auf die Bürde, die das Leben für die- tion des Ich so gründlich anders, daß ein Ver-
sen Mann gewesen ist, und würdigt ihn in der gleich sich nicht lohnt. Unter dem Titel Jägers
Form, die ihm angemessen ist, nach einem Nachtlied erschien das Gedicht in Christoph
durch Krankheit und materielle Kargheit ge- Martin Wielands Merkur Anfang 1776; G.
zeichneten Leben: »Fest steh' dein Sarg in nahm es in gleicher Gestalt in die handschrift-
wohlgegönnter Ruh! / Mit lockrer Erde deckt liche Sammlung von Gedichten auf, die er
ihn leise zu, / Und sanfter als des Lebens liege 1777/78 anfertigte. Für die Sammlung der Ge-
dann / Auf dir des Grabes Bürde, guter Mann!« dichte von 1789 wurde der Titel verändert zu
(V. 211-214). Jägers Abendlied; der Text erfuhr Retouchen
an der ersten und - sprachlich reizvoll ver-
fremdet - an der vierten Strophe. Völlig umge-
Literatur: arbeitet aber wurde die dritte Strophe. Wenn
Biedrzynski, Effi: Goethes Weimar. Das Lexikon der G. hoffte, er habe »eine Art« gefunden, »die
Personen und Schauplätze. Zürich u.a. 1992. - Beut- allzu individuellen und momentanen Stücke
ler, Ernst: Corona Schröter. In: ders.: Essays um einigermaßen genießbar zu machen« (an Her-
Goethe. Bd. 2. Wiesbaden 1947, S. 180-232. - Dünt- der, 1.3. 1788), so ist ihm hier die Dämpfung
zer, Heinrich: Goethes Gedichte Auf Miedings Tod des »Individuellen und Momentanen« zu gut
und Ilmenau. In: ZfdPh. 27 (1895), S. 64-109. - Eibl,
gelungen; wenn nun das Ich »die Welt durch-
Komm. in FA I, 1, S. 1027-1028. - EISSLER, Bd. 1,
S.393-395. - Von der Hellen, Eduard (Hg.): Das streift I Voll Unmut und Verdruß«, weil es
Journal von Tiefurt. Mit einer Einleitung von Bern- »dich lassen muß« (Jägers Abendlied; FA I, 1,
hard Suphan. Weimar 1892. - Redslob, Edwin: Co- S. 301), so wird der besondere psychische Vor-
rona Schröter. In: ders.: Schicksal und Dichtung. gang, den die erste Fassung ins Zentrum des
Goethe-Aufsätze. Berlin, New York 1985, S. 59-74. - Gedichts stellte, unkenntlich gemacht hinter
Segebrecht, Wulf: Das Gelegenheitsgedicht. Ein
einem Klischee der Liebeslyrik. Ob G. beim
Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen
Lyrik. Stuttgart 1977. Umarbeiten in Italien die seelische Lage, die
das Gedicht gestaltet, zu fern gerückt war, oder
Christian Schärf ob hier jene Diskretion waltet, die in vielem
über dem ersten Weimarer Jahrzehnt liegt,
muß wohloffenbleiben. - Wichtig unter dem
Gesichtspunkt der Bedeutung stiftenden En-
semblebildung ist der Ort, den G. in der
Sammlung von 1789 dem Gedicht zuweist und
den es fortan behält: nach Wandrers Nachtlied
(bzw. ab 1815 nach Ein gleiches) und vor An
Jägers Nachtlied den Mond. Die Ensemblebildung ist ein Ge-
sichtspunkt, den die Frankfurter Ausgabe be-
rücksichtigt; im übrigen sind die Hamburger
Wüßte man nicht, daß Jägers Nachtlied in die und die Münchner Ausgabe die einzigen, die,
ersten Weimarer Wochen gehört, es wäre an indem sie beide Fassungen nebeneinander-
ihm abzulesen; es trägt die Spur eines krisen- steIlen, der Bedeutung der ersten gerecht wer-
haften Übergangs, besonders in der von G. den, die sonst bloß als Vorstufe oder Variante
später veränderten dritten Strophe, und anti- figuriert. Die erste Fassung (nach FA I, 1,
zipiert wie im Traum Töne und Themen, die in S.225) liegt auch der folgenden Darstellung
Gedichten der Folgezeit erst ihre ganze Bedeu- zugrunde. - Vertont wurde das Gedicht von
tung entfalteten. Deutlich ist der Bezug auf nicht weniger als 33 Komponisten, darunter
Moritz August von Thümmels Gedicht Des Jä- G.s Musikerfreunde Philipp Christoph Kayser,
174 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

Johann Friedrich Reichardt und Carl Friedrich erste Strophe spricht das Gespannte (2. Fas-
Zelter. Die heute bekannteste Vertonung von sung; FA I, 1, S. 300) und Rastlose des Jägers
Franz Schubert ist strophisch komponiert, so aus, dem nun als Gegensatz ihr Bild als etwas
daß etwa die Opposition von »still und wild« ruhig Lichtes vorschwebt; in der zweiten Stro-
(1. Str.) und »still und mild« (2. Str.) musika- phe die ausführliche innige Vorstellung ihres
lisch eingeebnet wird, und läßt dazu die dritte Für-sieh-Seins, wandelnd im »lieben Tal«,
Strophe weg, so daß die innere Spannweite »still und mild«, unbedürftig - und der
des Gedichts bei ihm nicht wirklich gestaltet Wunsch, daß auch sein Bild ihr einmal vor-
wird. komme; »schnell verrauschend« weist auf das
Einen Übergang motivgeschichtlicher Art Unstete seines Wesens hin und wohl auch dar-
markiert die Figur des Jägers als Rolle des Ich auf, daß zu der Zeit an Bleiben in Weimar
in einem Liebesgedicht. In der vorangehenden kaum schon gedacht war. In der dritten Stro-
Lyrik des 18. Jhs. ist diese Stelle vom Hirten phe nun denkt sich das Ich sein eigenes Bild,
oder Schäfer besetzt, entsprechend der hier wie es ihr erscheinen mag, in der dritten Per-
maßgebenden antiken Bildungstradition, ent- son: »Des Menschen, der. .. « - also ein Sich-
sprechend auch der geselligeren und spiele- selber-Gegenübertreten des Ich, ein Versuch,
risch-behaglicheren Konzeption des Liebens. sich zu sehen mit den Augen des anderen, der
G.s Gedicht, das demgegenüber eine Figur des unversehens in die intimste Selbstaussprache
Volkslieds aufnimmt, bildet gleichsam den übergeht: als ob die Vorstellung, mit den Au-
Auftakt zur Inflation des Jägermotivs in der gen dieses »still und milden« Du auf sich sel-
Romantik. Den Jäger empfiehlt, daß er als ber zu blicken, helfen würde, ein schmerzhaft-
Einzelgänger zur Figuration von Individualität schwieriges Eigenes zu erkennen und sich zu
sich eignet; daß sein Tun mit Wagnis und Ge- gestehen: »dem [ ... ] Sein Herze schwillt zur
fahr verbunden ist, zeigt einen anderen exi- Last«. So kann, dank der gewonnenen Distanz
stentiellen Stellenwert des Gestalteten an; zu sich selbst, in der vierten Strophe, die in die
sein Umherstreifen verbindet ihn mit G.s erste zurücklenkt, die Beschwichtigung ein-
Lieblingsfigur, dem Wanderer. treten im Gedenken, wobei nun auch die
Volksliedhafter Einfachhheit entspricht die Schlüsselwörter erscheinen, die in der Folge-
Form: Es handelt sich um die Chevy-Chase- zeit erst ihre volle Resonanz gewinnen wer-
Strophe so wie im ersten Teil von Aufdem See. den: Du bist wie der Mond - Du Mond bist wie
Ganz anders aber wirkt hier die Aktualisierung sie, wird An den Mond besagen. Von beiden
desselben metrischen Schemas: Durch den zumal geht ein »stiller Friede« aus, wie ihn
Satzrhythmus und durch die Häufigkeit be- auch Wandrers Nachtliedwenig später anrufen
tonter schwerer Silben wirken die Verse ge- wird. Zum dritten Mal in dem kurzen Gedicht
dehnter, zögernder - gleichsam unterwegs zu erscheint »still«, ein Wort, das man in der frü-
dem »trochäischen Charakter« der wichtigsten hem Lyrik G.s kaum findet, das fortan aber,
Gedichte, die danach im Umkreis der Lida- etwa an entscheidenden Stellen der Briefe an
Lyrik auf Charlotte von Stein bezogen ent- Frau von Stein, immer tiefere Bedeutung ge-
stehen. Im Gegensatz zu diesem Habitus des winnt.
Einfachen steht die hochkomplexe innere Jägers Nachtlied (FA I, 1, S. 225) als ein Ge-
Struktur des Gedichts. Wenn G. einem Sänger dicht des Übergangs zu zeigen, wie es die erste
bedeutete, daß die erste und dritte Strophe Fassung nahelegt, ist das Ziel der vorliegen-
»markig, mit einer Art Wildheit« vorzutragen den Interpretation. Die früheren Liebesge-
seien, die zweite und vierte dagegen »weicher« dichte G.s artikulieren den Bezug von Ich und
(BA 1, S.795) - wenn also das im Volkslied Du viel einfacher. »Mädgen das wie ich Emp-
häufige Dialogische nachwirkt, so ist es doch findet« (Mit einem gemalten Band; FA I, 1,
hier verinnerlicht im Gedenken der Ich-Figur S. 127), Jetzt fühlt der Engel, was ich fühle
allein, in ihrer Reflexion über das mehrfach (ebd., S. 130) - fraglos ist die Gewißheit der
ungleiche Gegenüber der zwei Personen. Die Übereinstimmung in einem gemeinsamen
Jägers Nachtlied 175

Fühlen. Das möglicherweise narzißtisch Illu- poetischen Bild des Mondes an - als etwas
sionäre daran - das Herz »möchte gern ge- Klares, Ruhiges, das irgendwie mit Gewinnen
kannt sein, überfließen / In das Mitempfinden und Anerkennen von Distanz zu tun hat, weil
einer Creatur« (Briif an Lottchen; ebd., es »oben«, über dem rastlosen Treiben situiert
S. 181) - bleibt unerkannt. Jägers Nachtliedist ist. Und wenn zuerst das Zurücknehmen des
der erste Text, wo die Andersheit des Du und Herzens als Verzicht im Vordergrund steht, so
des Ich zum Angelpunkt einer liebenden Be- deutet sich wenig später an, welchen Gewinn
ziehung wird und die innere Dynamik des Ge- die neuartige Struktur der Empfänglichkeit
dichts in Gang setzt, wobei das Ich schließlich erst möglich machen wird. Von der winter-
auch sich selber gegenübertritt und dem Du lichen Harzreise schreibt G. an Frau von Stein:
etwas verdankt, was ihm zuvor mangelte. Die »in der freywilligen Entäuserung was da für
Übereinstimmung im gemeinsamen Fühlen, in Lieblichkeit für Glück drinne steckt«, wo nun
den vorherigen Gedichten, verbürgte das alle Menschen in ihrer Eigenart hervortreten
Herz, das »erschwillt« (Prometheus-Drama; FA (9.12.1777); in Italien dann ins Tagebuch: Er
I, 4, S.418), und das insgesamt Leben und verhalte sich still, damit »die Gegenstände
Dichten der Geniezeit trug; »innre Glut« keine erhöhte Seele finden, sondern die Seele
(Wandrers Sturmlied; FA I, 1, S.144) des erhöhen« (24.9. 1786). Der Weg zu G.s Klassik
»schwellenden« (Seifahrt; ebd., S.207), des zeigt sich hier; eindrucksvoll aber ist, wie die
»heilig glühenden« Herzens (Prometheus; dichterische Gestaltungsweise im Jägerlied
ebd., S.204) - der Formeln sind viele - ver- unbewußt vorwegnimmt, was später erst als
bürgte den unmittelbaren Zusammenhang mit strenge und beglückende Aufgabe erkannt
dem »inneren glühenden, heiligen Leben« der wird.
Natur (Werther; FA I, 8, S. 106), mit allen Ma- Die Frage, um die in der älteren Forschung
nifestationen des Göttlichen überhaupt, und gestritten wurde, ob das Gedicht noch an Lili
verbürgte zugleich die Lebendigkeit des eige- Schönemann oder schon an Charlotte von
nen Schaffens. Stein gerichtet sei, interessiert heute kaum
Auf diesem Hintergrund erst läßt sich die noch; sie ist relevant nur, insofern ganz ver-
tiefe Krise und Ratlosigkeit ermessen, die zu schiedene Möglichkeiten des Verhaltens und
Wort kommt im Selbstbild dessen, »der in aller liebenden Bezogenseins auf ein Du, wie sie
Welt / Nie findet Ruh noch Rast; / Dem wie zu den Vorgang eines Gedichts mitstrukturieren,
Hause, so im Feld / Sein Herze schwillt zur diesen zwei Gestalten sich zuordnen. Der
Last«. Das gläubige Unterwegssein des Wand- Streit klingt noch nach in Emil Staigers Dar-
rers erscheint jetzt als ziellose Unrast, und vor stellung, der seltsamerweise den Text von
allem: Was zuvor rur den höchsten Sinn ein- 1789 unmittelbar auf die Situation von 1775/76
zustehen vermochte, versagt, ja es ist frag- bezieht - »lassen« mußte G. damals Lili -, und
würdig geworden. Hat er je dabei etwas an- nun recht gewaltsam die von ihm wohl an-
deres erfahren als nur das eigene Selbst, be- visierte neuartige Beziehungsstruktur an Ver-
fangen in »Traumglück« und »Traumgefahr«, gangenheit zurückbindet. Erich Trunz ordnet
wie es wenig später mit Härte genannt wird von Beobachtungen am Text her das Gedicht
(Warum gabst du uns die Tiifen Blicke; FA I, 1, der Lida-Lyrik zu, was seither nicht mehr in
S. 230)? - Jedenfalls: Der verzichtenden Ab- Frage gestellt wurde. In der neueren For-
sage an das schwellende Herz ist es zu danken, schung gehört Jägers Abendlied nicht zu den
daß nun die Andersheit des Du erstmals als Texten, die immer neu diskutiert werden. Die
etwas Verheißungsvolles in den Blick treten differenzierteste Darstellung der psychischen
kann. Voraussetzung daftir ist das Still-Wer- Dynamik, die sich zwischen G. und Frau von
den, das Zurücktreten in sich selbst, das Stein entfaltete und in die Gestaltung der in
psychischen Raum schafft für Empfänglich- dieser Zeit entstehenden Texte hineinwirkte,
keit. Das noch kaum erkennbare Neue: "Weiß ist die psychoanalytisch orientierte von Kurt
nicht wie mir getan« kündigt sich nur erst im Robert Eissler.
176 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

Literatur: im Schlußvers als vierfüßiger erscheint. Am


EISSLER. - 98-99. - STAIGER, Bd. 1,
KOMMERELL, S.
Anfang des Gedichts wird seine Eindringlich-
S. 328-330. - Trunz, Komm. in HA 1, S. 540. keit noch verstärkt durch die schwebende Be-
tonung des wiederholten »Warum«. Die Basis
Verena Ehrich-Haifeli
der Gesamtstruktur sind vier durch Kreuzreim
verbundene Verse. Alle fünf Strophen stellen
Multiple dieser Basis dar (8, 12, 8, 16, 8).
Elementare musikalische Mittel unterstützen
den Rhythmus: Assonanz, Alliteration, Ana-
phern. Solch spontaner Gefühlsausdruck bil-
Warum gabst du uns die det eine spannungsvolle Einheit mit der
Schärfe permanenter Reflexion. Auch die Le-
Tiefen Blicke xik faßt Heterogenes zusammen: colloquiale
Wörter, ungewöhnliche Metaphern, Neologis-
men. Die Syntax bietet trotz grundsätzlicher
Für das Prinzip der modemen LiteratUlwis- Neigung zur Parataxe schwierige, zum Teil
senschaft, das Subjekt eines Textes könne und schwer verständliche Strukturen. Eine innere
müsse vom biographischen Autor abgegrenzt Gliederung bewirken die leitmotivisch wie-
werden, ist dieses Gedicht ein Prüfstein. G. derkehrenden Wörter »Blick« (V 1, V. 23,
selbst hat die Verse, die er am 14.4. 1776 an V. 31), »Glück« (V 3, V. 16, V. 19, V. 21, V. 22,
Charlotte von Stein sandte, in seine Gedicht- V. 51), »Schicksal« (V 5, V. 25, V. 51); struktur-
sammlungen nicht aufgenommen. So wurden bildend sind auch die durch Majuskeln hervor-
sie erst im Rahmen der Erstveröffentlichungen gehobenen Adjektive (V 1, V. 15, V. 18, V. 31).
von G.s Briefen an Frau von Stein durch Adolf Die auffallende Absenz visueller Vorstellungen
Schöll (1848-1851) bekannt. Von der G.-For- erklärt sich gerade aus der Dominanz des Mo-
schung wurde das Gedicht weithin als Bau- tivs »Sehen«, das sich auf die eine Funktion
stein für die Rekonstruktion des realen Ver- konzentrieren muß, die gegenseitige Wahr-
hältnisses in Anspruch genommen. Ich möchte nehmung des liebenden Paars zu bezeichnen.
hier zunächst den Versuch machen, den Text, In einer Art Dual wendet sich dieses zunächst
ohne auf die biographische Situation zu re- an eine leitende Instanz, die es »Schicksal«
kurrieren, als Evokation einer bestimmten nennt und die ihm eine besondere Fähigkeit
Form von erotischer Beziehung zu analysieren; verliehen hat: Ahnung einer offenbar in einer
in einem zweiten Schritt soll dann untersucht noch unklaren Weise gemeinsamen Zukunft,
werden, was dem Verständnis zuwächst, wenn Einblick in die beiderseitigen Herzen mittels
man diese Evokation in den Kontext der Bio- der Gefühle - die zu Instrumenten des Sehens
graphie G.s, seiner übrigen Werke und werden! - mit dem Ziel der Wahrnehmung
schließlich der psychohistorischen Situation eines »wahren Verhältnisses«, das sich von der
stellt. Zugrunde gelegt werden muß eine Fas- sonderbaren Verworrenheit anderer Beziehun-
sung des Textes, welche die Original-Ortho- gen abhebt. Durch die Evokation dieser dra-
graphie wiedergibt, da diese Deutungshin- stisch »Gewühle« genannten Verwirrungen
weise enthält; das ist der Fall in der Frank- wird der Beziehung des Paars ebenso eine ne-
furter Ausgabe und der Münchner Ausgabe; gative Folie gegeben wie durch das Kontrast-
letztere Ausgabe (MA 2.1, S. 20-23) wurde für bild einer wahnhaften Seligkeit, wie sie im
diese Untersuchung zugrunde gelegt. Glauben an eine problemlose Verwirklichung
Die eigentümliche Intensität des Gedichts dieser Beziehung bestünde. Deren Problema-
verdankt sich zunächst dem Rhythmus, der tik wird vielmehr so sehr erkannt, daß die
melancholischen Innigkeit des Trochäus, der Frage an das Schicksal fast wie ein Vorwurf
hier als fünffüßiger, in einigen ausgezeichne- klingt. In der zweiten Strophe wird die Folie
ten Versen (V 23, V. 39, V. 47) als sechsfüßiger, illusionärer Erotik weiter ausgemalt: Sie ist
Warum gabst du uns die Tiefen Blicke 177

»Tfarumgabst du uns die Tiefen Blicke« (am 14.4.1776 an Frau von Stein)
178 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

gekennzeichnet durch Erkenntnisblindheit, thos von den zerschnittenen Doppelmenschen


Richtungslosigkeit, Abhängigkeit von plötzli- in Platons Symposion; ebensowenig wird die
chen Ereignissen. Der Nerv solcher Erotik ist Erinnerung an ein früheres Leben durch deut-
die willkürliche Verformung des Objekts: ))In liche Hinweise auf die platonische Konzeption
dem Andern sehn was er nie war«. Durch das der Anamnesis oder auf bestimmte Seelen-
Auslöschen der Andersheit wird die Bezie- wanderungslehren unterstützt, wie G. auch in
hung zu einer Kombination von ))Traumgefahr« einem wahrscheinlich in den gleichen Tagen
und ))Traumglück«, je nachdem, ob das ver- entstandenen Brief an Christoph Martin Wie-
formte - d.h. meist: verklärte - Bild durch das land das Phänomen der Seelenwanderung nur
reale Verhalten des Objekts gestört wird oder in ganz allgemeinen Wendungen heranzieht,
nicht. Es ist auffallend, wie nah das ))wahre um sich die Gewalt der Anziehung durch die
Verhältnis« sprachlich an das illusionäre her- Geliebte zu erklären. Eben dadurch gewinnt
angerückt wird: Auch hier gibt es ja ))Traum die Berufung auf die Erinnerung eine stille
und Ahndung«, aber sie werden durch das Selbstverständlichkeit, harmoniert mit den
reale Zusammensein als Erkenntnis einer sub- einfachen Schichten des Ausdrucks und kann
stantiellen Beziehung ausgewiesen. Bevor in als überpersönliche Erfahrung rezipiert wer-
der Mitte des Gedichts (Y. 25) die Schilderung den. Die beiden erinnerten Erscheinungsfor-
des ))wahren Verhältnisses« einsetzt, wird der men einer überwältigend nahen Geliebten un-
Folie noch eine paradoxe Spitze gegeben, in- terscheiden sich darin, daß die zweite eine
dem sie emphatisch als ))glücklich« angerufen sexuelle Beziehung einschließt. Die Kopula
wird. Die substantielle Beziehung dagegen ))oder« ebnet diesen Unterschied ein: Es zählt
wird mit ))leider« eingeführt, und das ))Ach«, einzig die seelische Vertrautheit, die nun in
das Vers 27 eröffnet, verstärkt die Komponente der vierten Strophe evoziert wird im Bild einer
des Leidens, das ihr inhärent ist. Das Gedicht unio mystica. Das ))Sehen« wird hier wirksam
hat sich bisher in einer Gegenwart bewegt, die als die fast übernatürliche Fähigkeit der Lie-
für das Paar auf die Zukunft hin gespannt ist. benden, das Wesen des nunmehr allein spre-
Hier im Zentrum, wo diese Zeitstufe durch die chenden männlichen Ich zu erfassen: ))Konn-
Wahl des Wortes ))Gegenwart« für die Präsenz test mich mit Einem Blicke lesen« (Y. 31). Sol-
des geliebten Objekts noch einmal betont ches Verstehen hat die Macht, das männliche
wird, erscheint auch die Dimension der Zu- Ich, das sich als ruhe- und orientierungslos
kunft noch einmal, ebenso wie die Instanz, von bekennt, zu heilen. Hier erfahrt das Bild der
der sie abhängt: ))Sag was will das Schicksal Geliebten eine Verklärung, die durch die Pro-
uns bereiten?« (Y. 25). An diesem Wendepunkt jektion in die Vergangenheit legitimiert ist.
aber geschieht zweierlei: Das Subjekt des Tex- Eine pseudoreligiöse Sentimentalisierung
tes spaltet das geliebte Objekt sprachlich von wird vermieden durch das spielerische Ele-
sich ab, so daß es zum Adressaten der Rede ment des erinnerten Zusammenlebens ())ver-
wird, und es wendet sich zur Vergangenheit als gaukeltest«). Zugleich treten an der Schwe-
dem Ursprung der engen Bindung: ))Ach du ster-Geliebten starke mütterliche Züge her-
warst in abgelebten Zeiten / Meine Schwester vor: ))Fühlt' sein Herz an deinem Herzen
oder meine Frau« (Y. 27f.). Im Modus der schwellen, / Fühlte sich in deinem Auge gut«
Wirklichkeit wird für die Zusammengehörig- (Y. 41 f.). In dieser Nähe von Herz und Auge hat
keit eine in sich differenzierte Metapher ein- die intensive Durchdringung von Gefuhl und
geführt, die von Positionen größter Nähe, die Reflexion, die das Gedicht prägt, ihren Ur-
eine Frau für einen Mann haben kann - Mut- sprung. Die Ausführlichkeit der Beschreibung
ter, Schwester, Geliebte, Gattin - zwei aus- spiegelt die ))Seligkeit« der einstigen Verwirk-
wählt. Bedeutsam ist dabei das sehr Allge- lichung der Beziehung, deren Vollkommenheit
meine des Ausdrucks: Es gibt keine direkten in der letzten Strophe der )meue Zustand«
Anspielungen auf die überlieferten Modelle harsch entgegengesetzt werden muß: Die ge-
solcher Zusammengehörigkeit wie den My- genwärtige Beziehung ist nur ein Schatten der
Warum gabst du uns die Tiefen Blicke 179

erinnerten. Dieses Wissen macht das äußere Liebe durch die exponierte Situation der ver-
und innere Leben der Gegenwart zu einem heirateten Frau wird nicht in den Text inte-
gebrochenen. Indes hat das Subjekt des Textes griert. Auch zeigen die Briefe trotz jener
einen Prozeß durchlaufen. War die Beziehung selbstkritischen Bemerkung einen herzlichen
in der Schilderung des einstigen Zustandes in Austausch in der Lebenspraxis, der von der
der Weise vereinseitigt worden, daß das weib- Konzentration auf die Bedürfnisse des Mannes
liche Ich nur in seiner Bedeutung für das im Text sehr abweicht. Die Verschmelzung von
männliche erschien, so wird das Empfinden Gattin-, Schwester- und Mutterbildern im Ge-
des Kontrasts zwischen altem und neuem Le- dicht erhält durch den Blick auf G.s enge
ben in einem fUr beide gültigen Modus formu- Schwester- und gebrochene Mutterbeziehung
liert, und am Schluß wird das Gedicht wieder eine nuancierende Tiefendimension. Im Kon-
zur Sprache des Paars, das zumindest auf die- text von G.s Werk stellt das Gedicht den ersten
ser Ebene seine Einheit wiedergewinnt als großen Schlüsseltext für das Schwester-Motiv
eine gleichsam durch die Erinnerung erhär- dar. Im gleichen Jahr entsteht der Einakter Die
tete. Entscheidend verändert hat sich durch Geschwister, in dem der topische Trick nur
den Prozeß des Gedichts die Bedeutung von vorgetäuschter Verwandtschaft eine virtuelle
»glücklich«, das jetzt nicht mehr den illusio- Erfüllung inzestuösen Begehrens erlaubt. Un-
nären Eros meint, sondern die unauflösliche beachtet ist bisher der enge Bezug des Ge-
Bindung trotz der mit ihr verbundenen Lei- dichts zu einem anderen aus der gleichen
den. »Schicksal« meint jetzt weniger eine Phase geblieben. In Hans Sachsens poetische
übergeordnete Instanz als die dem Paar aufer- Sendung stellt G. maskenhaft seine Berufung
legte Form der Liebe, die gegenüber ihrem zum Dichter dar. Die Schwestergestalt ist hier
Urbild immer unvollkommen bleiben muß. aufgespalten in die der Muse und die der Ge-
Wie erweitert sich nun das Verständnis die- liebten, welche das Feuer der Kreativität
ser Beziehungsstruktur durch die Einbezie- wachhalten soll. Der Kanon ihrer Aufgaben
hung der biographischen Situation? Zualler- entspricht dem der Schwester-Gattin im Ge-
erst macht sie deutlich, daß, was sich im sug- dicht Tfarum gabst du uns [ ... ], in dem die
gestiven Indikativ des Textes als gemeinsame Musenfunktion nur implizit gegenwärtig ist.
Erfahrung ausgibt, im Leben viel eher eine Zu wenig gewürdigt wurde auch der psycho-
Forderung war: Im April 1776, in den AnHin- historische Stellenwert des Gedichts. In der
gen der Bekanntschaft, hätte sich Charlotte Reihe der literarischen Evokationen von nar-
von Stein gewiß nicht in das »Wir« des Textes zißtischen Spiegel beziehungen, die von Platon
eingeschlossen. Sie schrak vor der Bezeich- bis zu Robert Musil reicht, ragt das Gedicht
nung »Frau« im Gedicht zurück und hat dieses heraus als Exponent jenes historischen Mo-
auch nicht, wie G. wünschte, in ihre Hand- ments, in dem das sich eben konstituierende
schrift übertragen (an Charlotte von Stein, individuelle Ich sich sogleich in einer Verein-
16.4.1776). Die Kenntnis der Briefe erhellt samung findet, die es in die Suche nach einer
den Begriff »Schicksal« als eine Umschreibung vollkommenen Entsprechung treibt. Das Sub-
für eine Instanz, für die oft auch die Formel jekt des Gedichts zeigt sich hier als Verwandter
»die Götter« eintritt, und warnt so vor einem von Figuren, insbesondere aus der romanti-
Rekurs auf die antiken Schicksalsgottheiten. schen und der fin-de-siecle-Literatur. In die-
Als eine Art Kommentar fungieren Äußerun- ser die deutsche Dichtung übergreifenden Per-
gen wie die Frage G.s an sich selbst, ob er spektive, die es in das Netz der Motive Spie-
Charlotte wirklich liebe oder sie als einen gel-Doppelgänger-Narziß einbezieht, erhält
Spiegel benütze (8.11.1777). Sind dies zwei- das Gedicht die Bedeutung einer Kristallisa-
fellos wertvolle Interpretationshilfen, so läßt tion eines umfassenden Phänomens auf klein-
der Blick auf die Biographie aber auch die stem Raum.
Autonomie der im Text geschilderten Bezie- Die großen G.-Darstellungen haben - von
hungsstruktur erkennen. Die Störung dieser Friedrich Gundolf über Emil Staiger zu Karl
180 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

Otto Conrady - das Gedicht vor allem als Ele- Literatur:


ment des Komplexes »Frau von Stein« behan- CONRADY, S. 551-540. - EISSLER, S. 225-254. - Gra-
delt. Von den Untersuchungen dieses Kom- ham, Ilse: Transmigrations : Some Thoughts on
plexes ist die fesselndste die von Kurt Robert Goethe's Warum gabst du uns die lüifen Blicke. In:
Eissler, welche die Übertragung der Liebe zu GLL. 24 (1970), S. 42-55. - GUNDOLF, S. 282-285. -
Cornelia auf Charlotte als eine Übertragung im Kaufmann, Hans: Goethes Gedicht an Frau von Stein
vom 14. April 1776. In: WB. 10 (1964), S. 559-571. -
psychoanalytischen Sinn sehr sorgfältig prüft Kuhn, Hugo: mzrum gabst du uns die tiifen Blicke.
und das Verhalten Charlottens als eine intui- In: Dichtung und Volkstum. 41 (1941), S. 406-424. -
tive Therapie interpretiert, die G. erfahren STAIGER, Bd. 1, S. 518-527. - Timms, Edward: The
ließ, daß partielle Versagung keinen Objekt- Matrix of Love: Warum gabst du uns die tiifen
verlust zu bedeuten braucht. Von den zugleich Blicke. In: GLL. 56 (1982/85), S. 49-65.
biographisch und textanalytisch orientierten Renale Böschenslein
Einzelstudien bietet die - marxistisch inspi-
rierte - von Hans Kaufmann einen interessan-
ten Ansatz, indem sie das Moderne der Part-
nerbeziehung betont, die Frau von Stein zur
Teilhaberin an G.s politisch-sozialen Bemü-
hungen machte. Die Struktur der Beziehung
wird in einen mnfassenden Kontext gestellt in An den Mond
dem gewichtigen Beitrag von Ilse Graham, die
sie als Beispiel des Subjekt-Objekt-Verhältnis-
ses bei G. untersucht. In gewisser Weise war Die erste Fassung seines zweiten Mondlieds
ihr in dieser Fragestellung Hugo Kuhn voran- nach An den Mond (1768/69) ist von G. nicht
gegangen, der in der Art der Evokation dieser veröffentlicht worden. Sie wurde als Hand-
Liebe einerseits das Streben nach Objektivie- schrift bei der Herausgabe der Briefe G.s an
rung im Schauen des Wahren, andererseits Frau von Stein entdeckt und 1848 von Adolf
doch letztlich das Verharren im subjektiven Ich Schöll im ersten Band der Briefe nach dem
sah. Graham dagegen nimmt einen im Prozeß Brief G.s vom 19.1. 1778 abgedruckt. Nur ist
des Gedichts gewonnenen Ausgleich zwischen diese Zuordnung keineswegs gesichert. Den-
Subjekt und Objekt an, im Sinne der von G. in noch nahm man an, das Gedicht beziehe sich
den Aufsätzen zur wissenschaftlichen Metho- auf den Tod der Christiane von Laßberg, die
dik formulierten Prinzipien. Aufschlußreiche sich am 16.1. 1778 in der Um nahe G.s Garten-
Einzelbeobachtungen, wie sie Grahams Auf- haus ertränkt hatte, obwohl es im Text dafür
satz auszeichnen, bietet auch die Analyse von keinen anderen Anhalt gibt als die aufeinander
Edward Timms, der an der dargestellten Be- bezogenen Worte »Fluß« und »Tod«, und au-
ziehung den Mutter-Aspekt der Geliebten her- ßerdem nur das unsichere Zeugnis Fritz von
vorhebt. Er findet eine sinnvolle Methode der Steins aus späterer Zeit.
Einbeziehung des nicht abzuweisenden Bio- Plausibler ist es, das Gedicht in den zeit-
graphischen, indem er G.s Briefe nicht als lichen Zusammenhang einer Komposition des
Sprungbrett für die Erschließung des realen G.schen Jugendfreundes Philipp Christoph
Verhältnisses, sondern als Text benutzt, der Kayser zu stellen. In einer Sammlung von des-
wie ein poetischer zur ErheBung eines benach- sen Liedern und Melodien des Kammerherrn
barten Werks dienen kann - eine Methode, mn Sigmund von Seckendorff, die der Weimarer
so einleuchtender, als im Text selbst das se- Hofoboist Johann Michael Wiener für G. zwi-
hende Erkennen des Geliebten sich als ein schen Oktober 1777 und März 1778 anfertigte,
»Lesen« darstellt. steht die erste Fassung unter Nummer 68.
Doch ist die Melodie Kaysers, zwischen 1775
und 1776 entstanden, ursprünglich für ein
strukturgleiches Mondgedicht Heinrich Leo-
An den Mond 181

pold Wagners geschrieben worden, das in Kay- nen, um ihrer »Manier« willen den ersten Vers
sers 1777 publizierten Gesängen enthalten ist. aus "Füllest wieder's liebe Tal« in »Füllest wie-
G. gab der Handschrift der ersten Fassung der Busch und Tal« zu ändern, denn es ging ihr
Kaysers Noten bei: so erschien beides in Wie- ja gerade darum, sich deutlich auf G.s Text zu
ners handschriftlicher Sammlung. Es ist daher beziehen, um ihn dann in ihrer "Manier« um-
wahrscheinlich, daß die erste Fassung nach zudichten. So ist Oskar Walzei, Heinrich Spieß
Jägers Abendlied von Ende 1775 in der ersten und JosefKörner zuzustimmen, daß die zweite
Hälfte 1776 geschrieben worden ist, als G. Fassung vor September 1786 verfaßt worden
Kaysers Komposition von Wagners An den ist. Und man kann hinzufügen, daß sie wahr-
Mond bereits kannte. G.s Handschrift ist in scheinlich zwischen 1784 und August 1786 ge-
der Weimarer Ausgabe r.yYA I, 1, S. 393) und in schrieben wurde. - 1789 ließ G. die zweite
der Frankfurter Ausgabe (FA I, 1, S. 234f.) ab- Fassung im achten Band seiner Schrifien er-
gedru"kt, nach der hier zitiert wird. Außer scheinen. Die einzige Handschrift ist die
deren Kopie in Wieners Sammlung gab es Ko- Druckvorlage dieser Ausgabe. Der Text der
pien Johann Gottfried Herders, des Fräuleins zweiten Fassung ist in der Weimarer Ausgabe
von Göchhausen und Charlotte von Steins. r.yYA I, 1, S. 10Of.) und in der Frankfurter Aus-
Im Herbst 1781 fertigte Herder seine Kopie gabe (FA I, 1, S. 30 1f.) abgedruckt.
der ersten Fassung an. Die zweite lag also mit
großer Wahrscheinlichkeit noch nicht vor. Zwi- Das Gedicht in der Erstfassung besteht aus
schen 1781 und 1784 hielt G. die bedeutenden sechs vierzeiligen Strophen, den Typ Chevy-
Gedichte der Zeit handschriftlich im Tiifurter Chase erinnernd, abwechselnd vier- und drei-
Journal fest, darunter ist das Mondlied in der hebig, aber auftaktlos, Kreuzreim mit männ-
zweiten Fassung nicht. - Auf einem Bogen ha- lichen Endungen. Abweichungen vom metri-
ben sich zwei Gedichte erhalten, die von Char- schen Schema treten ab Vers 7 durchweg auf:
lotte von Stein niedergeschrieben und auch Nicht alle vier bzw. drei Hebungen tragen den
verfaßt worden sind. Das eine enthält im Titel vollen Ton. Drei Akzentuierungen bestimmen
die Formulierung »Im September 1786«, das den Text: erstens die Apostrophe "An den
andere heißt An den Mond nach meiner Manier Mond«, der mit der "Liebsten Auge« vergli-
(abgedruckt in: Fränkel, Bd. 2, S. 485). Es ist chen wird, während in dem frühen gleichna-
zu vermuten, daß es auch um etwa jene Zeit, migen Gedicht der Mond als "Schwester von
also kurz nach der heimlichen Abreise G.s nach dem ersten Licht« selbst "forschend« blickt
Italien, entstanden ist, zumal das erste eine (FA I, 1, S. 94), so daß beide analoge Wirkun-
ähnliche Haltung wie das Mondgedicht ver- gen auf das sprechende' Ich< haben, und zwar
mittelt. Nun ist angenommen worden, daß die insoweit es der ,Linderung<, der ,Lösung< sei-
Verse der Frau von Stein die ,Vorlage< für G.s ner Seele bedarf; zweitens der Zuruf "ihr«, die
zweite Fassung gewesen seien. Doch ist »in den »wie ein Gespenst« an den Fluß bannen,
meiner Manier« sicherlich nicht ein Hinweis der durch sein 'bewegliches Herz< vor allem
auf die Schreibart der Frau von Stein, sondern charakterisiert wird, und zwar so, daß er so-
auf ihre Gefühls- und Gedankenintention in wohl ,Tod< "in öder Winternacht« wie »Früh-
bezug auf G. Denn die Strophen sind ja sehr lingslebens Pracht« erfährt; drittens Evokation
deutlich Mitteilungen über ihre innere Situa- dessen ("wen<), der "selig« genannt wird, weil
tion, und die einzige ganz eigenständige Stro- er abseits von der »Welt« und den "Menschen«
phe, die dritte, ist unter ästhetischen Gesichts- "einen Mann am Busen hält«, so daß er "mit
punkten unbeträchtlich. Die erste Strophe hin- dem« ,Unbewußtes< und ,Verachtetes< »ge-
gegen hat mit dieser spezifischen Situation am nießt«, und zwar als etwas, das »in der Nacht«
wenigsten zu tun: Sie ist eine Art Einstim - und durch das "Labyrinth der Brust« »wan-
mung, und sie dient als Hinweis auf G. Hätte delt«. Die drei Akzentuierungen weisen auf
damals nur die erste Fassung vorgelegen, so drei Sphären hin, die durch »Mond«, "Fluß«
hätte Frau von Stein nichts veranlassen kön- und "selig« charakterisiert sind.
182 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776~1786

Die Zweitfassung folgt der äußeren Struktur Zusammenhänge hinweisen: Strophe 1 und 2
nach der ersten. Nun neun Strophen: Die Stro- ist im engeren Sinne Apostrophe »an den
phen 1, 2 und 8 sind nur wenig gegenüber der Mond«; Strophe 3, isoliert stehend, ist Ich-
ersten Fassung verändert. An die Stelle der Aussage; Strophen 4 und 6 (plus 7) sind Apo-
Strophe 3 der ersten Fassung treten die Stro- strophe an den Fluß; Strophe 5 von den Fluß-
phen 3 bis 6. Strophe 7 ist gegenüber Strophe 4 Anreden eingeschlossene Ich-Apostrophe;
der ersten Fassung erheblich verändert. Stro- Strophen 8 und 9 Anrede an den, der »selig«
phe 9 cv. 33f.) zeigt eine Veränderung gegen- genannt wird. Diese Schemata werden durch
über Strophe 6 cv.21f.) der ersten Fassung. Klang, Reim und grammatisch-syntaktische
Unverändert bleiben nur die Verse 2 bis 4,5,6, Spezifika differenziert.
8, 29, 30, 32, 35, 36. Neun Verse sind verän- Vorstellungsfelder zur Natur und zum Ver-
dert, sechzehn neu hinzugekommen, also 25 hältnis Ich-Welt sowie semantische Korre-
des Gesarntbestandes von 36 sind verändert spondenzen machen in ihrem Verhäl tnis zuein-
bzw. neu gegenüber der ersten Fassung. Es gibt ander den Sprachprozeß des Gedichts erkenn-
prozentual geringere Abweichungen vom me- bar als eine Bewegung, die von der Evozierung
trischen Schema als in der ersten Fassung: von Naturvorgängen, die mit »Ich« in Verbin-
V. 12, V.14~20, V. 23 ff. , V. 27, V.29~32, V. 34ff.; dung stehen, immer mehr wegstrebt zu Ich-
wie in der ersten Fassung ruht nicht auf allen Aussagen. Von dort strebt sie unter Aufnahme
Hebungen der volle Ton. sowohl der Naturevokationen wie der Ich-Aus-
Apostrophen wie die des Gedichttitels fin- sagen (und ihres Verhältnisses zur »Welt«)
den sich, vermittelt in Aussage- und Aufforde- wiederum weg zu Aussagen des Verhältnisses
rungssätzen, bis auf die Strophen 3 und 5 in eines oder eines jeden, für den das Prädikat
allen Strophen, insofern die Strophen 7 und 9 »selig« gilt, gegenüber »Welt« und »Men-
grammatisch mit den vorherigen direkt zu- schen«.
sammenhängen. Die Ausrufesätze in Strophe 5
kann man als Anrede an »ich« lesen; nur Stro- Beide Fassungen stehen bereits in einer
phe 3 besteht aus zwei >reinen< Aussagesätzen, Selbstrezeption G.s. So gibt es Zusammen-
die so etwas wie eine Information des »Ich« hänge mit dem frühen Mondgedicht, mit
enthalten. Die Strophen 1 und 2 nehmen di- Herbstgifühl und mit Jägers Abendlied. Doch
rekt und inhaltlich die Gedichtüberschrift auf, gibt es auch Wirkungen auf die distanzierteren
aber sie sparen gerade das durch die Anrede Mond-Gedichte des späten G.: VOllmondnacht
des Titels zu erwartende >Du< aus. Das ge- im West-iistlichen Divan, Um Mitternacht,
schieht bis auf Strophe 7 cv. 25) durchweg. In Dämmrung senkte sich von oben in den Chine-
den Strophen 1 und 2 korrespondieren syn- sisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten und
taktisch V. 1/2 mit V. 3/4 und mit V. 5/6. Die schließlich Dem aufgehenden VOllmonde.
Strophen 1 und 2; 4, 6 und 7; 5 und die Stro- Während die erste Fassung lange Zeit nur im
phen 8 und 9 haben je einen spezifischen engsten G.-Kreis bekannt war, wird die zweite
Adressaten. Die Strophen 4 und 6 korrespon- Fassung bereits von einer Reihe von Zeitge-
dieren strukturell und semantisch in den er- nossen G.s vertont: so von ear! Friedrich Zel-
sten Versen, verändern sich dann aber merk- ter, Friedrich Heinrich Himmel, Andreas
lich. Nur in den Strophen 4 und 5 stehen je- Romberg und lohann Friedrich Reichardt. Sie
weils mehrere selbständige Sätze. Die Stro- orientieren sich arn Strophenscherna, während
phen 6 und 7 sind ein einziger Satz; darin u.a. Ferdinand Hiller, Vaclav lan Tomasek,
korrespondieren sie wiederum mit den Stro- Friedrich von Dalberg, Kar! Reinthaler, vor
phen 8 und 9, die ebenfalls einen einzigen Satz allem aber Franz Schubert das Schema aufzu-
bilden. Die Syntax ist nur an wenigen Stellen lösen suchen; das gilt insbesondere für die
durch einige Inversionen auffallend. zweite von Schuberts beiden Kompositionen
Die verschiedenen syntaktischen Korre- des Gedichts. Daneben kennen wir aus dem
spondenzen können auf folgende semantische Anfang des 19. Jhs. vereinzelte literarische Re-
An den Mond 183

zeptionszeugnisse: so Marianne von Wille- dung zwischen den Hauptmotiven des Ge-
mers Briefvom 2.11. 1828, Joseph von Eichen- dichts und dem Thema der Zeit hat Harold
dorffs Gedicht Schweigt der Menschen laute Jantz hingewiesen. Doch sind alle diese Hin-
Lust aus dem Taugenichts (1826), schließlich weise zu intensiver Interpretation nicht ge-
Ludwig Tiecks Novelle Der Mondsüchtige von nutzt worden.
1831. Als erste hat Marianne Thalmann 1927 auf
Diesen produktiven Rezeptionen stehen Strukturen des Gedichts aufmerksam ge-
nennenswerte reflexive nicht zur Seite. Die macht. Auf die beschränkt sich die Verfasserin
ersten Generationen derer, die sich wissen- allerdings im Sinne des sich entwickelnden
schaftlich mit den beiden Fassungen des Strukturalismus. Einiges davon wird weiter-
Mond-Gedichts beschäftigten, traten ihm als geführt in einem Aufsatz von Kenneth G. Ne-
Textkritiker und Sachkommentatoren gegen- gus 1982. Schon 1928 hatte Georg Mayer ver-
über. Nach der Veröffentlichung der ersten sucht, etwas zum Semantischen der Struktur
Fassung durch Schöll begann die Lektüre des zu sagen. Die meisten sogenannten Gesamt-
Gedichts als Dokument, das sich auf den Tod interpretationen erschöpfen sich aber in in-
der Christiane von Laßberg beziehen soll. Die haltlichen Paraphrasen. Darauf hat auch Pos-
Arbeiten von Wilhelm Büchner, Franz Jelinek ner aufmerksam gemacht, der Exempel lite-
und Karl Rhode setzten die dokumentaristi- rarischer Interpretationsweisen linguistisch
sche und biographistische Beschäftigung fort: charakterisiert. Amtzen hat 1987 die Sprach-
Ist der »Mann« der ersten Fassung Herder oder lichkeit des Textes zu erfassen versucht, die
der Herzog, der »Freund« der zweiten eben- erst jenseits eines Verständnisses beginne, das
falls Herder oder G. selbst, der von Frau von das Gedicht als redundanten Diskurs liest.
Stein angesprochen wird? Als zweite zentrale
Frage galt in dieser Zeit die, ob G. die zweite Die beiden Fassungen von An den Mond unter-
Fassung vor oder nach der Version der Frau scheiden sich so erheblich voneinander, daß in
von Stein geschrieben hatte, so schon bei Wahrheit von zwei Gedichten zu sprechen ist.
Heinrich Düntzer und noch bei Julius Peter- Sind die sechs Strophen der ersten Fassung
sen. Als dritte wird schließlich die nach der von drei Akzentuierungen gekennzeichnet, die
Entstehung der beiden Fassungen gestellt, bei sich auf jeweils zwei Strophen verteilen, so ist
Düntzer, Hermann Henkel, Jelinek, Petersen, die zweite Fassung ein lyrischer Prozeß, ja ein
Walzei, Spiridon Wukadinowicz, Körner, Jo- Sprachprozeß, der eine einzige, wenn auch in-
hannis EIerna, Wolfgang Vulpius und John R. termittierte Bewegung bedeutet.
Williams. Ist die dritte Frage von diesen noch Die ersten heiden Strophen der ersten Fas-
die beträchtlichste, so sind weder sie noch die sung geben eine Vorstellung der Analogie von
anderen bis heute verbindlich beantwortet Natur und »Liebster« in bezug auf »Seele«,
worden. Die Kontroversen hinsichtlich der äußerem und innerem Lebensraum (Schick-
Fragen hat Williams 1975 dargestellt. sal) des lyrischen Sprechers. Jeweils zwei
Thematische oder motivische Beziehungen Verse entwickeln den Zusammenhang zwi-
dieser Gedichte zu anderen G.-Gedichten oder schen »Mond«, dem lyrischen Sprecher und
zur Lyrik anderer Autoren sind anfänglich der »Liebsten«. Die ersten beiden Verse ent-
auch nur aus biographischem Interesse aufge- werfen die Metapher des Monds als ein >Han-
zeigt worden: so bei Jelinek, z.T. bei Körner. deIn<, das die Eingangsvorstellung von An den
Näher an der Sache war dann die Frage nach Mond / An Luna umkehrt: Nicht der Nebel
der Stellung des Gedichts in den von G. be- legt sich um den Mond, sondern der Mond
sorgten Sammlungen: so bei Körner. Auf den vermag mit diesem als »Nebelglanz« das »Tal«
Zusammenhang mit anderen Mond-Gedichten zu füllen. Auf diese Weise wird Landschaft auf
G.s haben Joachim Müller, Heinrich Meyer diskrete Weise (»still«) >synthetisiert< (»fül-
und Helmut Amtzen, auf den zu Gedichten lest«) und so zum »lieben Tal«. In analoger
Klopstocks Meyer und Amtzen, auf die Verbin- Weise vollzieht sich in Vers 3 und 4 die Wir-
184 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

kung des Mondes als ,Lösung< auf »meine »dieses Herz« mit »meine [ ... ]«, »mein [ ... ]«,
Seele ganz«. Vers 5 und 6 kehren einerseits zur »mein«. Wir können nur sagen, daß diese Stro-
Landschaft zurück, die aber nun »mein Gefild« phen in einem kontrastiven Verhältnis stehen
ist, das weniger ein Eigentum meint als verin- zu den ersten beiden. An die Stelle der Selbst-
nerlichte Natur. Und wie hier eine Analogisie- aussage tritt objektivierende Rede, an die
rung von Innen und Außen, von »Seele« und Stelle von »meine Seele«, »mein Gefild«,
»Gefild« in bezug auf den lyrischen Sprecher »mein Geschick« tritt »dieses Herz« und »Ge-
stattfindet, so in Vers 7 und 8 in Analogisie- spenst«, an die Stelle von »der Liebsten Auge«
rung von »Mond« und »Liebster«, vermittelt tritt »du« und »ihr«, an die Stelle von »Mond«
durch »Blick« und »Auge«. Entsprechend kor- tritt »Fluß«. Aber so anders dieses »Herz« er-
respondieren »mein Gefild« und »mein Ge- scheint, nämlich »beweglich« und »im Brand«,
schick«. so anders erscheinen »du« und »ihr«, nämlich
Völlig anderes intendieren die Strophen 3 ,kennend< und ,festhaltend< , und so anders
und 4. An die Stelle von »füllen«, »lösen«, »Fluß«, nämlich »vom Tode« 'schwellend< und
»lindernd breiten«, »mild«, die sämtlich als »an den Knospen« 'quellend<. Strophe 3 und 4
harmonisierende Wirkungen auf das zu ver- geben die Vorstellung von einem gegenüber
stehen sind, was Repräsentant des Sprechers Strophe 1 und 2 völlig gegensätzlichen Verhält-
ist (»Seele«, »Gefild«, »Geschick«), tritt nun nis von Natur, »du« und »ihr« in bezug auf
ein Gegensatz: das als »beweglich« bekannte »dieses Herz im Brand«. Durch dieses gegen-
»Herz«, das zum »Gespenst« wird auf der einen sätzliche Verhältnis geschieht plötzliche Ver-
Seite, das »du«, das »ihr«, der »Fluß«, das änderung: »du« verändert sich zu »ihr«, »die-
,Bannen< als Fixieren und in den Bann neh- ses Herz« zu »Gespenst«, »Fluß« schwillt ein-
men auf der anderen. Die biographischen Er- mal »vom Tode«, quillt dann »an den Knos-
klärungen für »du« und »ihr« führen nicht pen«, bezeugt also »Frühlingslebens Pracht«.
weit. Doch kann auch keinesfalls eine rasche Die fünfte und sechste Strophe kehren nicht
interne Identifikation zwischen »Mond«, einfach zur Sphäre der ersten beiden Strophen
»Liebster« und »du« oder gar »ihr« vorgenom- zurück. In ihnen erhalten sich aber dank der -i-
men werden. »Du« und »ihr« konstituieren und -a-Assonanzen die , Energien< des ersten
sich neu, nur sehr schwach kann »du« über die und des zweiten Teils, und die -e-Assonanzen
Apostrophe »an den Mond« und über »füllest«, stellen eine spezifische Verbindung zum zwei-
»lösest«, »breitest« mit »Mond« in Verbindung ten Teil her, während das -u- in den beiden
gebracht werden. Wichtiger ist, daß im Kon- Reimen der letzten Strophe für die ,Eigentüm-
text der Strophe »du« und »ihr« in Beziehung lichkeit< dieses Teils steht. Die Strophen keh-
zueinander stehen, z. T. in einer kontrastiven, ren nicht zur Selbstaussage des lyrischen Spre-
z. T. in einer der Erweiterung. chers zurück, sie bleiben bei der objektivieren-
Der Bivokalismus der Reime in Strophe 3 den Rede des zweiten Teils. Sie kehren nicht
und 4 fällt auf: -a- erhält sich zwar in beiden zum Sprechen von der »Liebsten Auge« zu-
Strophen, aber nur jeweils zweimal, -i- be- rück, sie sprechen von »Mann«, sie kehren
gegnet nur zweimal in Strophe 4. Die -a-Asso- nicht zu »Mond« zurück, sie sprechen vom
nanzen der Reime in Strophe 1 stellen die »Labyrinth der Brust« »in der Nacht«. Doch
Beziehung zwischen dem Bereich des »Monds« erinnern sie - natürlich nicht etymologisch -
und dem des lyrischen Sprechers her. Hier ist in »selig« »Seele«, in »Welt« und »Menschen«
es die Beziehung zwischen »dieses Herz« und »du« und »ihr«, aber nun als deutliches Negati-
»Fluß«. Nur durch diese sprachlich/lyrischen vum, wenn auch die Negation »ohne Haß« ge-
Verweise wird ein Zusammenhang geschaffen schieht, erinnern sie in »Labyrinth der Brust«
zwischen dem ,Personal< der ersten beiden »meine Seele« und »dieses Herz«. Es ist die
und dem dieser Strophen. Aber semantisch Vorstellung von einer Synthese, die aber nur
stehen »du« und »ihr« so wenig unmittelbar gelingt durch Verschließen »vor der Welt«,
mit »Mond« und »Liebster« in Verbindung wie durch Wechsel von »der Liebsten« zum
An den Mond 185

»Mann«, durch Entfernung von »Mond« und dann >früher< bedeutet. Auch die -a-Assonan-
»Fluß« und Hinwendung zum »Labyrinth der zen sind zu beachten. »Qual« klingt schon in
Brust«. den ersten Strophen an und hat durchgehende
Die drei Sphären, die existentiellen Räume Bedeutung für die Strophen 1 bis 5. Doch geht
stehen semantisch unverbunden nebeneinan- es im ersten Reimpaar gerade um die Aufhe-
der als generelle Disposition für Leben unter bung von »Quai«. »Qual« ist also im Gedicht
sehr verschiedenen Voraussetzungen. Nur ly- nicht nur dies: Es ist »Pein« wie auch Opposi-
risch, nur sprachlich, nur als Gedicht werden tion zu »Melodien«, »Frühlingspracht«,
sie zum Zusammenhang. Nur darin geben sie »Freude«, »selig« und ist auch Reimwort zu
etwas von einer subkutanen Verbindung unter- »einmal« und »Tal«.
einander preis. Was »Mond« hier ist, sagen die Strophen 1
und 2. Es ist ein Vermögen, das »Qual« auf-
Wenn richtig ist, daß die zweite Fassung als ein hebt. Es ist zugleich etwas sinnlich Wahr-
ganz anderes Gedicht zu gelten hat und daß es nehmbares und etwas unsinnlich Mentales,
hier um einen Sprachprozeß als Bewegung verbunden durch den Parallelismus der Verse,
geht, dann muß dies nicht notwendig bedeu- der Sätze, der Reime: sehr deutlich »Nebel-
ten, es handele sich dabei um eine Linearität, glanz« - »meine Seele ganz«. Es kommt also
die von der ersten bis zur letzten Zeile sich nicht ein Bild vom Mondschein >zur Anschau-
fortsetze. Vielmehr fällt auf, daß es eine An- ung<, sondern die Gedichtzeilen evozieren
zahl von Kernwörtern gibt (»Mond« / »Seele« / eine Vorstellung, die es als homogene nur im
»Herz« / »Fluß« etc.), von denen das Wort Gedicht gibt, obwohl und weil sie sich ganz
»Qual« noch einmal besonders akzentuiert er- und allein sprachlich herstellt. Auch in der
scheint. Diese Akzentuierung ist nicht zu be- zweiten Strophe geht es um das In-Beziehung-
obachten, wenn man das Wort diskursiv ver- Setzen von sprachlich Evoziertem: von »Blick«
steht: Es steht dann ja nur in einer Art Par- (des Mondes) und »Freundes Auge«. Darin be-
enthese zu der Anrede an den Fluß. Doch be- ginnt ein Teil der Bewegung des Gedichts hin
zieht es sich sprachlich auf eine ganze Anzahl zu »einen Freund am Busen hält«, ein Teil der
von Wendungen der Strophen 1 bis 4: in Stro- Bewegung über »Qual« hinaus. In den Stro-
phe 1, vermittelt über den Reim: »Lösest end- phen 4 und 6 (plus 7) wird - wie in 1 und 2 der
lich auch einmal/Meine Seele ganz«; in Stro- »Mond« - der »Fluß« apostrophiert. Hier geht
phe 2, vermittelt über das Vorstellungsfeld: es aber nicht um Aussage eines Vermögens,
»mein Geschick«; in Strophe 3, vermittelt über sondern um Aufforderungen und direkte An-
eine semantische Korrespondenz: »trüber rede. Es ist eine Wendung zu vermuten, die
Zeit« - »Schmerz«; in Strophe 4, vermittelt durch Strophe 3 markiert wird. Der einheit-
über die Negation einer semantischen Opposi- liche Reimvokalismus in den Strophen 1 und 2
tion: »Nimmer werd' ich froh«. Das Wort innerhalb einer Strophe wird in den Strophen
»Qual« als Kernwort des Gedichts evoziert ei- 3 und 4 allmählich aufgelöst, wenngleich noch
nen schrecklichen, schwer belasteten Zustand erinnert. Die in den beiden ersten Strophen
und bei G. zudem noch oft einen andauernden, noch gelingende Verbindung von Natur und
ja für die menschliche Existenz überhaupt kon- Bewußtsein gelingt nicht mehr. In den dunk-
stituierenden Zustand. Doch steht es auch mit len Reimen stellt sich konkret die Verzweif-
positiv aufgeladenen Kernwörtern in kon- lung dar, die der semantischen Analyse bloß
trastierender Verbindung: »Melodien«, »Früh- als gemäßigte Resignation erschiene.
lingspracht«, »Freund«, »selig«. Außerdem ist Eine Negativität erscheint, die in Strophe 5
es Reimwort; seine Konsonanzen müssen auch vollkommen wird. Waren die Anfangsstrophen
als Konsonanzen von Bedeutungen gelesen von Worten der Bewältigung von »Qual« be-
werden. Reime auf -al- finden sich zweimal im stimmt, so tritt nun in den Reimen »Qual« und
Gedicht, zweimal erscheint darin das Wort »nimmer es vergißt« hervor. Und aus dem »ein-
»einmal«, das zunächst primär >in Zukunft<, mal« des zu erhoffenden Zukünftigen wird das
186 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

»einmal« des Verlorenen, Vergangenen. in seiner eigenen Subjektivität, als selbst Spre-
Warum? Die Strophe 5 kennt als Objekt nur chendes .• Rauschen< ist vom Bewußtsein be-
»es«, das allein bestimmt wird durch den Rela- griffene Metapher, die die eigene Weise des
tivsatz »was so köstlich ist«. Die dem »es« zu- Sprechens von .Fluß< andeutet (natura loqui-
gehörigen Verben sind »besaß« und »vergißt«. tur). So kann das .Rauschen< »meinem Sang«
»Qual« entsteht durch das Nichtvergessen von wirklich »Melodien« zuflüstern. Es kann so-
»es« als Besitz. Die Spannung der Strophe, auf wohl in seinem Schrecken wie in seiner Idylle
die die erste Strophe zustrebt, von der die Musik und Sprache sein. Strophe 7 steht hier
letzten wegstreben, liegt in der Opposition von in einem ganz anderen Zusammenhang als die
Sein als verlorenem Besitz versus Bewußtsein entsprechende Strophe 4 der ersten Fassung.
des Nichtvergessenkönnens des Besitzes. Im .Rauschen< verbinden sich die Gegensätze:
Wie kommt es dazu? Gegenüber den Stro- so in »wütend überschwillst« und »Frühlings-
phen 1 und 2, in denen sich Bewußtsein und pracht«, so in »schwlllt« und »qulllt«. In der
Natur parallelisierten und verbanden, steht Strophe 7 verbinden sich die -a- und die
Strophe 3 isoliert. Gleichzeitig finden sich in -i-Reime. Die Hauptakzente der Strophen 6
ihr viele Sprachelemente des ganzen Gedich- und 7 tragen »Melodien« und »Frühlings-
tes wieder, wirken hier aber wie lyrische Ver- pracht«: Naturlaut und Naturerscheinung als
satzstücke: »Herz« : »Schmerz«, »froh und trü- eigenes, artikuliertes Bewußtsein.
ber Zeit«. So stellt Strophe 3 die Stufe eines Und die beiden letzten Strophen? Es ist nun
gängigen, konventionellen lyrischen Spre- eine neue Stufe des Bewußtseins erreicht, aber
chens dar als Repräsentant konventionellen noch keine Lösung, wie sie bereits in Strophe
Bewußtseins, als schlechte, private Subjektivi- 1 erhofft wird. In den leichten Varianten zu
tät, als Stimmung. Diese Stimmung ist Re- den Strophen 5 und 6 der ersten Fassung zeigt
sümee und Konsequenz der scheinbar selbst- sich der deutliche Rückbezug auf die beiden
verständlichen Bewußtseinserfüllung und Anfangsstrophen. »Seele« wird in »selig«
Synthese in Strophe 1 und 2. Es kommt zum klanglich aufgenommen. Aber das deutet auf
Scheitern und zur Regression, zur Bewußt- Verwandlung hin. Statt der Hoffnung, daß
seinsentfremdung. »meine Seele« in Natur aufgehe, erscheint die
Die neue Naturanrede in Strophe 4 ist Aus- Gewißheit des .absoluten< Prädikats »selig«
druck gescheiterter Vermittlung. In deren Per- als universelle Bestimmung des Verhältnisses
spektive steht »Qual«: aus den Versen 1 und 2 von Person und »Welt«. Dabei geht es aber
wird Vers 13; aus den Versen 3 und 4 wird Vers gerade nicht um ein Aufgehen im Ganzen (wie
14. Verzweiflung entsteht aus der Analogie von in Strophe 1), sondern um Abkehr nicht von
fließendem Fluß und Zeitfluß. »Qual« ist je- Natur, wohl aber von »Welt«. »Welt« ist nicht
doch nicht nur im Verrinnen, sondern vor al- allein die Gesellschaft, sondern die Totalität
lem im Sinnloswerden aller Aspekte mensch- der Empirie. »Welt« ist das Gegenteil dessen,
licher Beziehung. was Strophe 9 sagt .• Genießen< ist bei G. die
In Strophe 6 verändert sich die Perspektive volle, die sinnlich-geistige Erfahrung. Was
des Gedichts um eine Nuance, die hier das man »genießt«, öffnet sich durch Enjambe-
Entscheidende ist. »Rausche« ist nicht einfach ment in Strophe 9. Es weist zurück auf das,
synonym zu »fließe«, und es steht geradezu »was so köstlich ist!«, auf »es«. Nun ist es das,
oppositionell zu »verrauschte«. »Rausche« ist »was, von Menschen nicht gewußt / Oder nicht
einmal als Ausdruck Klanglichkeit an »fließen« bedacht« wird. Diese Verben sind keine Syn-
und erstes Moment der Sprache. Dieses Mo- onyme, sie sagen vielmehr das, was sich dem
ment wird auf »Fluß« bezogen, der nun nicht allgemeinen Bewußtsein entzieht, sowie auch
mehr Bewußtseinssymbol ewigen Verrinnens das, dem sich das allgemeine Bewußtsein ent-
ist, sondern ein für sich anerkanntes Phäno- zieht. Es bereitet nicht mehr als Nichtzuver-
men. »Ich« erblickt den Fluß aber nicht anders, gessendes »Qual«, sondern als Gewußtes und
sondern spricht anders von ihm, entdeckt ihn Bedachtes im Gegenteil Genuß. Der für Men-
Wandrers Nachtlied / Ein gleiches 187

sehen konstitutiv gewordene Gegensatz zwi- sen, Julius: Goethes Mondlied. In: DVjs. 1 (1925).
schen Sein und Wissen ist aufgehoben. Beides Bd. 1, S.269-280. - Posner, Roland: Sprachliche
Mittel literarischer Interpretation, zweihundert
ist wiederum vermittelt, aber nicht als etwas
Jahre Goethe-Philologie. In: Eroms, Hans Werner
begrifflich Fixierbares. Es ist, »was [ ... ] / u.a. (Hg.): Vielfalt der Perspektiven. Wissenschaft
Durch das Labyrinth der Brust / Wandelt in und Kunst in der Auseinandersetzung mit Goethes
der Nacht«. Werk. Passau 1984, S.179-206. - Rhode, Karl:
Das Gedicht evoziert in seiner Sprachbewe- Neues zur Geschichte des Liedes An den Mond. In:
gung nach- und nebeneinander das Verhältnis ChrWGV 19 (1905), S. 15f. u. S. 50-55; 22 (1908),
S. 12-15 u. S.29-51. - Spieß, Heinrich: Nochmals
von Ich als Bewußtsein zu Natur als Metapher
Goethes Mondlied. In: ZfdPh. 55 (1928), S. 74-88.-
der Bewußtseinsprojektion, als Metapher der Ders.: Philipp Christoph Kayser und Goethes Noten-
Entfremdungsqual und als Metapher, ja als heft vom Jahre 1778. In: JbGG.17 (1951),
,Realität< eines neuen, nämlich unentfremde- S. 152-155. - Thalmann, Marianne: Goethe An den
ten Bewußtseins, das »ich« machen kann. Aber Mond. Eine Lesartenstudie. In: ZfDkde. 41 (1927),
dieses Verhältnis wird noch einmal überstie- S.497-501. - Vulpius, Wolfgang: Zur Entstehung
des Liedes ,Füllest wieder 's liebe Thai ... c. In:
gen durch das Verhältnis des Ich zu sich selbst
JbGG. N. F. 29 (1967), S. 281-285. - Walzei, Oskar:
und zu »Freund«, dem konkreten anderen, also Goethes Mondlied. In: ZfdA. (1927), S. 191-210. -
durch Abschließung und Öffnung. Das nennt Williams, John R.: Goethe's An den Mond: Contro-
das Gedicht 'Seligkeit<. versy and Criticism. In: GLL. N. S. 28 (1975),
S. 548-560. - Wukadinowicz, Spiridon: Das Weima-
rer Mondlied von Frau von Stein. In: ders.: Goethe-
probleme. Halle 1926, S. 9-55.
Literatur:
Helmut Amtzen
Arntzen, Helmut: Unerkanntes Bekanntes. Zur Re-
zeptionsgeschichte und zur Interpretationsmöglich-
keit von Goethes Gedicht An den Mond. In: Literatur
für Leser (1987), H. 1, S. 1-25. - Büchner, Wilhelm:
Goethes Gedicht »An den Mond«. In: Preuß.Jbb. 85
(1896), S. 181-192. - Düntzer, Heinrich: Charlotte
von Stein, Goethe's Freundin. Ein Lebensbild, mit
Benutzung der Familienpapiere entworfen. 2 Bde. Wandrers Nachtlied / Ein
Stuttgart 1874, hier: Bd. 1. 1742-1795. - Ders.: Goe-
the's lyrische Gedichte. 2 Bde. Elberfeld 1858, hier:
gleiches
Bd. 1, S. 122-125. - EIerna, Johannes: Zur Inter-
pretation von Goethes An den Mond. In: Neoph. 46
(1962), S.51-50. - Henkel, Hermann: Zu Goethes Die im ersten Weimarer Jahrftinft entstande-
Lied An den Mond. In: GoetheJb. 18 (1897),
nen einstrophigen Gedichte Wandrers Nacht-
S. 275-275. - Jantz, Harold: Goethe's Lyric, An den
Mond: Its Structure and Unity. In: GQu. 26 (1955), lied: »Der du von dem Himmel bist« und das
S.25-52. - Jelinek, Franz: Ueber Goethes Lied An durch die nachträglich hinzugeftigte Über-
den Mond. In: ChrWGV 2 (1888), S. 10-15. - Körner, schrift Ein gleiches ebenfalls als Nacht-
Josef: Goethes Mondlied. Ein Deutungsversuch. (Abend-) Lied des Wanderers bezeichnete
Berlin 1956. - Mayer, Georg: Die innere Entwick- Über allen Gipfeln hat G. ftir die Gruppe Lie-
lung in Goethes Lied an den Mond. In: Neue Jahr-
der der Werkausgabe 1815 (Bd. 1) zusammen-
bücher für Wissenschaft und Jugendbildung 4
(1928), S.721-725. - Meyer, Heinrich: Der Mond gestellt. Sie erschienen dort - in auffallendem
und Goethe. Zur Schematik des Interpretierens. In: Unterschied zur Einzelanordnung der übrigen
Studium g~nerale 18 (1965), S.580-599. - Müller, Gedichte - gemeinsam auf einer Seite. So ent-
Joachim: Uber einige lyrische Gedichte von Goethe. stand eine Verbindung, die zunächst weder
In: ders.: Wirklichkeit und Klassik. Beiträge zur entstehungs- noch druckgeschichtlich gegeben
deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis
war, jedoch ftir die weitere Druckgeschichte
Heine. Speyer, München 1957, S. 198-244. - Negus,
Kenneth G.: Goethe's An den Mond and the Lyrical und im Zusammenhang damit auch ftir Rezep-
Idiom of the German Evening Poem. In: University tion und Interpretation der Folgezeit Bedeu-
ofDayton Review 15 (1982), Nr. 5, S. 51-47. - Peter- tung gewann.
188 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

Wandrers Nachtlied durch diesen rhythmisch wie inhaltlich nach-


drücklichen Halbvers deutlich, worum es
wirklich geht. Angeredet wird der Friede
Wandrers Nachtlied: »Der du von dem Himmel selbst, nur er ist »von dem Himmel«, er soll
bist« ist auf einem farbig umränderten Oktav- auch von selbst kommen. Von einer Gottheit ist
blättchen unter G.s Briefen an Charlotte von keine Spur.
Stein überliefert, mit der Unterschrift »Am Diese Abweichung von der christlichen Pra-
Hang des Ettersberg d. 12. Febr. 76 G.«. Mit xis ist für die Interpretation wichtiger als ein
dem handschriftlich nicht belegten, ein Gebet vage biographisch begründetes Pauschalver-
bezeichnenden Titel Um Friede erschienen die bot, dem zufolge »christliche Deutungen des
Verse 1780 in dem von Johann Kaspar Lavaters angerufenen Friedens in dieser Epoche G.s
Freund Johann Konrad Pfenninger in Zürich fernzuhalten« seien (STAIGER, S.447). Das
herausgegebenen Christlichen Magazin (3, 1), Fernhalten des Christlichen sollte man auch
als Wandrers Nachtlied zuerst 1789 in den nicht zu weit treiben. Wenn schon das Dichten
Schriften (Bd. 8). Im Druck lauten Vers zwei: und Trachten G.s als eines »dezidirten Nicht-
»Alles Leid und Schmerzen stillest«, Vers kristen« (an Lavater, 29.7. 1782) einen Haupt-
sechs: »Was soll all der Schmerz und Lust?« - pfeiler der neuzeitlich säkularisierten Weit-
in der Handschrift steht: »Alle Freud und sicht bildet, so bedeutet Säkularisation doch
Schmerzen stillest« und »Was soll all die Quaal nicht etwa den Verzicht auf vertraute Bibel-
und Lust?«. Alle autorisierten späteren Drucke sprache, Gesangbuchsrhythmen und alte
behielten die Version von 1789 bei. Im folgen- Glaubensmotive. Im Gegenteil, erst die Frei-
den wird danach zitiert (wie MA 2.1, S. 13). heit, diese Fonnen und Fonneln als Mittel zu
G. soll einmal gesagt haben, von allen sei- nicht-religiösen Zwecken zu verwenden, voll-
nen Gedichten sei trotz ihrer Vielfalt doch kei- endet den Prozeß der Säkularisation. Die Tra-
nes, das in einem lutherischen Gesangbuch dition, die dann zur Verfügung steht, hilft dem
stehen könnte (Eckennann, 24.1. 1827). Die- Dichter, Gemütsverfassungen zu ergründen
ses erste Wandrers Nachtlied stand aber da- und zu gestalten, die religiösen Zuständen
mals schon seit fünfzehn Jahren im Gesang- analog sind, ja geistesgeschichtlich wie indivi-
buch der Bremer Gemeinde und hat dort bis duell - G.s Pietismus! - ihre Wurzeln darin
1871 seinen Platz behauptet. - Nicht von unge- haben mögen, mittlerweile aber zu eigenen
fähr, denn das Gedicht ist eindeutig ein Gebet Wirklichkeiten wurden. Solchen geistigen Zu-
und auf den ersten Blick auch ein christliches, ständen können ein altgewohnter Ton, ein
ist doch »der Friede Gottes, welcher höher ist Sinn für seelische Verwicklungen, die Praxis
denn alle Vernunft« (Philipperbrief 4, 7) ein zutraulicher Hilfebeschwörung in der Not auf
Kernbegriff christlichen Glaubens. So konnte den Grund kommen und zum Ausdruck ver-
die Mutter Frau von Steins auf die Rückseite helfen. So enthält das Gedicht eine alle stille-
der Handschrift gleich eine andere HauptsteIle ren Register der traditionellen Frömmigkeit
des Evangeliums zum Thema Frieden schrei- ziehende Privatandacht. Dennoch scheint es,
ben: »Den Frieden laße ich euch, meinen Frie- dem Gemeindebrauch getreu, eher auf allge-
den geb ich euch« (Johannes 14,27). meiner Ebene einzusetzen, indem es die cha-
Also, hier irrt G.? Vielleicht doch wieder nur rakteristische Wirkung des seelischen Frie-
auf den ersten Blick. Eher irrte man in Bre- dens auf den Bedürftigen feiert, der nicht wei-
men, denn anders als ein christliches Gebet ter identifiziert wird, oder höchstens als einer,
richtet sich das vorliegende nicht an Gott. Die- der aus unbekannten Gründen »doppelt elend«
sen Eindruck erweckt neben einer innig from- (Y. 3) ist. Zwar wurde bereits in der Über-
men Diktion - vor allem im ersten Vers, der an schrift ein Sprechender genannt. Aber auch
das Vaterunser anklingt - die Aussparung des diesen müden Wandrer könnte, wer G.s Hym-
Appells »Süßer Friede!« (Y. 7) fast bis zum nik der frühen 70er Jahre und die biographi-
Schluß des Gedichts. Dann allerdings wird schen Hintergründe nicht kennt, für eine all-
Wandrers Nachtlied / Ein gleiches 189

Ihite <!3dmm(Ung. ISt

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r:trocEn~t nid)t, teocFnd nid]r,
«;t~t~nCII btc el\ligen 2ic6e!
2fcf)! nur Mm ~Rf6gctrocfntten 'Xu~t
$3ie öbe, wie tobt Me ®clt i~m tl'fdJeint!
~rDdnet nidlt, tl'ocEn~t nid]t,

..t~t'änm ungfiicflid)cr .. ieoe!

ru3anbrus ffiad)t(ieb.
~~r bu \Ion bem J?lIllmel 6i~,
Hk~ 2c1b unb ed)mrrAfll ~j((ejt,
~ eil, i)rr boppdt efenb ijt,

~~ppcft mit @rquld!ung füfhft,


"lld)! id) 6in bel! ~tei6tntl mübe!
:mllt! foU RU ber eld]mfri unb 1?ujt1
~ii!ier ~riebe ~
Ollnn, Qcf) fomm in meint ~rull !

Druck von 1789


190 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

gemein allegorische Figur halten. Der Blick- holprigen Landstraßen des 18. Jhs. entgegen-
winkel mußte durch den Leser nur leise ver- stellten, konkret nachfühlbar gemacht wer-
schoben werden, da wurde sie auch gleich eine den, indem Rede wie Räder über dazwischen-
christliche. So hat Zacharias Wemer, im Be- geworfene, auch zur Syntax quer liegende
griff, nach Rom und zu seiner Bekehrung auf- »Stock, Wurzeln, Steine« rollen müssen.
zubrechen, an G. geschrieben: »Es vergeht Was hat es aber mit dem Rätsel »doppelt
kein Tag, wo mir nicht aus Ew. Exzellenz >Pil- elend« cv. 3) auf sich, das im allgemein gefaß-
gers Nachtliede< der Vers schmerzlich einfällt: ten Eingang des Gedichts dennoch auf etwas
>Ach, ich bin des Wanderns müde!<<< (an G., Besonderes, ebenfalls Tiefgefühltes - ein per-
20.10.1809). Man könnte meinen, wer mit sönliches Geheimnis etwa - zu weisen schien?
dem Text so frei umgeht, schöpft seinen Trost Man schaut sich nach einem Bezugswort für
nicht eigentlich aus dem angeblich zitierten »doppelt« um; doch das einzige, was der Ein-
Gedicht. Gleichwohl sind gerade die falschen gang bietet, ist die Doppelformulierung »Leid
Zitate aufschlußreich. Die Pilgenahrt ist ein und Schmerzen« cv. 2). Das sind aber praktisch
altes Gleichnis für Lebensweg und -ziel des deckungsgleiche, als getrennte Quellen des
Christen. Es mag schwer halten, zu diesem Elends jedenfalls schwer zu unterscheidende
Ziel zu gelangen, aber selbst wenn der Pilger Begriffe. In der Urfassung jedoch nannte die-
»des Wanderns müde« wird, rührt dies nicht ser Vers »Alle Freud [Hv. v. Vf.] und Schmer-
an dessen Sinn. Bei G. dagegen ist ein Wand- zen« (FA I, 1, S. 229). Auf diese Verbindung
rer »Ach! [ ... ] des Treibens [Hv. v. Vf.] müde« zweier entgegengesetzter Empfindungen, die
cv. 5). Schon die Wahl des Wortes deutet Zwei- der Friede »stillen« soll cv.2), könnte sich
fel am Sinn dieses Tuns an, das die anschlie- »doppelt elend« sehr wohl zurückbeziehen.
ßende Frage in seine Bestandteile zerlegt oder Wenn man diese Formulierung nicht einfach
vielmehr kritisch an seinen Früchten erkennt: auf sich beruhen lassen will, ließe sie sich
»Was soll all der Schmerz und Lust?« cv. 6). vielleicht mit Hilfe der fallengelassenen Les-
Hier geht es nicht bloß um eine Müdigkeit des art erklären - die freilich paradox besagt,
Körpers bei Tagesende, sondern um einen tie- elend machen könne auch die Freude: Wir
feren Überdruß. tauschen also ein Rätsel gegen ein anderes aus.
Die Verse fünfund sechs, die diese Folge von An Zweierkonstellationen bringt die Druck-
Ausruf und rhetorischer Frage enthalten, sind fassung sonst nur in »Schmerz und Lust« cv. 6)
das Herz des Gedichts. Diese beiden kurzen, etwas Ähnliches. Als Umschreibung des »Trei-
tiefgefühlten Sätze holen das scheinbar all- bens« cv. 5) mutet dies freilich gar nicht so
gemein Formulierte des Anfangs auf die Ebene paradox an. »Lust« cv.
6) läßt sich nämlich ge-
des Besonderen und Konkret-Persönlichen zu- rade am Hof als etwas Oberflächliches oder
rück. Formal bilden sie eine Parenthese, die Triviales verstehen, dessen man schnell satt
den einen, in sich schlüssigen Satz unter- ist. Darüber liefert G. eine deutliche Glosse,
bricht, aus dem das Gedicht sonst besteht. In- als er im vertrauten Brief eine Folge von Bal-
haltlich bilden sie eine Episode, ein ungedul- lett, Redouten und Aufzügen schildert und
diges Selbstgespräch oder ein Stoßgebet mit- dazu bemerkt: »Ich unterhalte dich von nichts
ten im Gebet, auf jeden Fall einen unmittel- als Lust. Innwendig siehts viel anders aus,
baren Ausbruch der seelischen Unruhe, die welches niemand besser als wir andern Leib
Ausgangslage und Rohstoff des Gedichts war. und Hofmedizi wissen können« (an Karl Lud-
Das ausformulierte Gebet genügt nicht, das wig von Knebel, 3.2.1782). Schon der Neuling
Gefühl fordert ein anderes Ventil und spricht dürfte derlei bald genug mit kritischer Distanz
sich unmittelbar aus. Die Wirkung dieses syn- gesehen haben: »Armuth des Hof treibens,
taktisch nicht eingegliederten Einwurfs erin- überhaupt der Sozietät« heißt es im Tagebuch
nert mit anderem Vorzeichen an die erste Fas- am 7.10.1777. So ließe sich das Nachtlied auf
sung von An Schwager Kronos, wo die Hin- einer Ebene als Reaktion des Bürgers und
dernisse, die sich einer Wagenfahrt auf den Dichters G. auf dieses für ihn ungewohnte
Wandrers Nachtlied / Ein gleiches 191

Hoftreiben interpretieren, das als eine Kombi- lieh, denn aus dieser Zeit stammen so manche
nation von »Schmerz« - etwa durch zwischen- dankbare Reflexion G.s über das ihn leitende
menschliche Reibereien der ersten Zeit - und Schicksal und vor allem die Einsicht - zugleich
einer ihm letztlich nicht viel bekömmlicheren Trost und Herausforderung -, daß Götter ihre
»Lust« bestand. Für den entwurzelten Außen- Lieblinge immer alles in höchster Intensität
seiter schlimm genug. Aber diese gesellschaft- durchstehen ließen: »Alle Freuden die unend-
liche Kritik, wenn das in der Druckfassung lichen / Alle Schmerzen die unendlichen ganz«
tatsächlich mitschwingt, dürfte selber eine ge- (WA IV, 3, S. 165).
sellschaftliche Fassade sein. Denn in der Ur-
fassung hört sich die Klage radikaler, existen-
tieller an. Nicht bloß die als höfische Routine
abzuschreibende »Lust« soll der herbeige- Ein gleiches
sehnte Friede »stillen«, sondern auch »Freud«,
weil sie - rätselhafterweise - zusammen mit
dem Schmerz »doppelt elend« macht. Entspre- Die Strophe »Über allen Gipfeln / Ist Ruh«
chend ernsthafter ist auch Vers sechs der Ur- dürfte am 6.9. 1780 entstanden sein. G. ver-
fassung. Die Frage lautet dort: »Was soll all die brachte den Abend und die Nacht in der Jagd-
Quaal [Hv. v. Vf.] und Lust«. Das klingt ohne hütte auf dem bei Ilmenau gelegenen Gickel-
Fragezeichen bedrückter, resignierter, viel- hahn, auf deren Bretterwand er die Verse mit
leicht ist jener Grundimpuls gemeint, der G. - Bleistift schrieb. Die Inschrift wurde durch
so ein Brief später im Jahr - auch bei glück- Verwitterung und Übermalungen von fremder
licher Lage »doch nicht ruhig« sein lasse, denn Hand schon im 19. Jh. entstellt; die Jagdhütte
»des Menschen Treiben ist unendlich bis er brannte im August 1870 ab. Bei einem Besuch
ausgetrieben hat« (an die Mutter, 6.11. 1776). auf dem Kickelhahn am 27.8. 1831 hat G. die
Positiv wie negativ sind hier viel gewichtigere »alte Inschrift [ ... ] recognoscirt« und sie bei
Begriffe im Spiel. diesem Anlaß in seinem Tagebuch dem 7.9.
Wenn es sich also in diesem Nachtlied nicht 1783 zugeschrieben, an dem er sich jedoch auf
nur um Tagesmüdigkeit und auch nicht bloß einer Reise in den Harz befunden hatte.
um den Überdruß am künstlichen Hofleben Überliefert sind titellose Abschriften des
handelt, wenn vor beiden Gefühlsextremen Gedichts von Johann Gottfried Herder und
eine nirwana-artige Ruhe gesucht wird, so Luise von Göchhausen; in beiden heißt es in
dürfte zumindest momentan jene Kraft nach- Vers eins anstelle von »Gipfeln« »Gefilden«.
gelassen haben, die beim übermütigen Wand- Eine Abschrift Charlotte von Steins enthält an-
rer der Hymnik (Der Wandrer, Wt:mdrers dere, auch die Verseinteilung betreffende Ab-
Sturm lied) das Erleben bewältigte, und die weichungen. Mit wiederum unterschiedlichen
beim Liebhaber und Naturbetrachter Freude Varianten erschien 1801 der nicht autorisierte
und Schmerz zu einer das Lebensgefühl inten- Erstdruck in The monthly magazine, dem mit
sivierenden Einheit verschmelzen konnte, weiteren Abweichungen 1803 der Abdruck in
etwa in Mir schlug das Herz und Im Herbst August von Kotzebues Zeitschrift Der Freimü-
1775. Das ist eine genaue Umkehrung des frü- tige, oder Berlinische Zeitung für gebildete,
heren Zustands: Gehörte damals selbst der unbefangene Leser folgte. Erst in der Gedicht-
Schmerz paradoxerweise zu den Ursachen des sammlung der Werkausgabe von 1815 (Bd. 1)
Hochgefuhls, so gehört jetzt selbst die Freude publizierte G. selber das Gedicht, es als Ein
paradoxerweise zu den Ursachen des Elends. gleiches an Wandrers Nachtlied anschließend.
Psychisch hat das eine eigene Logik; dichte- In dieser Fassung, die auch im folgenden zi-
risch erweitert es die Palette der G.schen Ly- tiert wird (wie MA 2.1, S.53), erschien das
rik; menschlich nimmt es für sich ein, wie Gedicht in allen weiteren autorisierten Druk-
alles, was welthistorische Menschen eben als ken. Schon 1814 hatte Carl Friedrich Zelter
Menschen zeigt. Eine Momentaufnahme frei- die Verse vertont und sie damit, wie G. meinte,
19Z Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

»lieblich beruhigend in alle Welt getragen« (an einer Welt, die man bald verlassen will, spricht
Zelter, 4.9. 1831). man wohl kaum in diesem Ton. Die Abend-
Es wäre sicher gut, wenn man diesem be- stille wird mit ruhigen Sinnen wahrgenom-
rühmten Gedicht über die Ruhe etwas mehr men und evoziert. Die stille Landschaft hat
Ruhe gegönnt hätte. Die romantischen Um- gewirkt.
stände der Entstehung nebst der leichten Er- Das sollte sie auch. Von der bevorstehenden
lernbarkeit der wenigen einfachen Verse - die Übernachtung auf dem Gickelhahn schrieb G.
gleichwohl von jeher gern falsch zitiert wer- vor Ort: »Auf dem Gickelhahn [ ... ] hab ich
den - hat ihm eine übennäßige Aufmerksam- mich gebettet, um dem Wuste des Städgens,
keit und eine ungebührliche Sonderstellung den Klagen, den Verlangen, der Unverbesserli-
unter G.s Gedichten eingetragen, ebenfalls in chen Verworrenheit der Menschen auszuwei-
der Lyrik-Diskussion überhaupt, wo es zum chen« (an Charlotte von Stein, 6.9. 1780). Ge-
Inbegriff des Lyrischen erhoben wurde. So er- sucht wurde also die Ruhe vor den anderen.
schöpfend repräsentativ jedoch kann kein Ein- Wie sie sich einfand, wird im Gedicht nach-
zelexemplar einer Gattung sein, die den viel- vollzogen, indem der Betrachter seine Wahr-
faltigen Ausdruck jeweils spezifischen nehmungen nachzeichnet. Dies ist freilich
menschlichen Gefühls umfaßt. Zudem zeigt keine leichte Aufgabe, denn nichts rührt sich,
dieses Gedicht eine zart empirische Nüchtern- nichts sticht hervor; die Abendstille ist eben
heit, die für Lyrik eher untypisch ist. Übrigens das Vorbeisein von Bewegung und Tageslaut:
war seine Popularität zweischneidig: Kein an- Ohne »einige Vapeurs«, die von den Meilern
deres deutsches Gedicht wurde so oft par- der Kohlenbrenner aufsteigen, »wäre die
odiert und zu allen möglichen Zwecken von ganze Scene unbeweglich« (ebd.). Was bleibt,
der Politik bis hin zur Werbung eingespannt. sind die Grundzüge der Landschaft, aus denen
Freilich hat der Mißbrauch dem Original kaum auch das Licht fast gewichen ist: »Es ist ein
Abbruch getan. Die Parodien erledigen sich ganz reiner Himmel [ ... ]. Die Aussicht ist gros
dank ihrer Witzlosigkeit zumeist selbst - auch aber einfach« (ebd.). Und etwas später am
Brechts Liturgie vom Hauch, die die Ruhe des Abend heißt es, »die Gegend« sei »so rein und
Nachtlieds mit politischem Quietismus ver- ruhig, und so uninteressant als eine grase
wechselt, ist weit unter dem Niveau seiner schöne Seele wenn sie sich am wohlsten be-
besseren politischen Lyrik. Die Kenntnis- findet« (ebd.). Man stutzt. Wieso soll ausge-
nahme dieser ganzen »kritischen« Rezeption rechnet das Uninteressante im Gedicht erfaßt
ist als Gegengewicht zu G.s anspruchslosem werden? Die Antwort liegt im Gleichnis: Ein
Gebilde nicht unbedingt zu empfehlen. solcher Zustand eines solchen Wesens, an dem
Nicht G. hat dem Gedicht eine Sonderstel- sich kein Mißklang, keine einseitige Bestim-
lung zugeteilt, er hat es eher vernachlässigt, mung merken ließe, wäre auch eine Erfüllung;
wie die Druckgeschichte zeigt. So erlangte das mit Schiller zu reden, eine »Ruhe der Voll-
Gedicht erst 1831 besondere Bedeutung für endung« (Über naive und sentimentalische
ihn, als er den letzten Vers der Inschrift auf Dichtung; SNA ZO, S. 47Zf.). Zwei Jahrzehnte
den eigenen Tod bezog. Der späte Besuch auf später wird die frühromantische Ästhetik
dem Gickelhahn mußte die landläufige Asso- Friedrich Schlegels gerade »das Interessante«
ziation Ruhe/Tod nahelegen, wozu im Gedicht - das Frappierende, Ausschweifende, Exzen-
sonst nichts zwingt. Höchstens das halb feier- trische - auf den Schild heben. So enthält G.s
liche »Warte nur, balde« (V. 7) könnte auf To- Brief im Keim den positiven Pol seines späten
deserwartung oder gar -wunsch deuten, eben- Urteils, das Klassische sei das Gesunde, das
sogut freilich auf das nonnale menschliche Romantische das Kranke (Eckennann, Z.4.
Schlafbedürfnis. Anders nämlich als im ersten 18Z9). Was wichtiger ist, das Gedicht verkör-
Nachtlied weist hier nichts auf Lebensüber- pert ihn bereits.
druß : Der innere Friede wird nicht erfleht, Wie »schreibt« man aber die Ruhe? Bekannt-
eine ruhige Stimmung ist schon gegeben. Von lich mittels des langen »u« im Wort selbst, der
Wandrers Nachtlied / Ein gleiches 193

Konsonanten von "Hauch« usw. - von solchem eine eigene Dynamik haben, sonst fangt es -
Wortzauber hat die Kritik genügend ge- nochmals mit Schiller zu reden - nur eine
schwännt. Die gepriesenen Effekte sind je- »Ruhe der Trägheit« ein (SNA, ebd.), zählt
doch weitgehend schon in der Sprache gege- Gegenstände stückweise auf. Hier aber lösen
ben, »Ruhe« samt Vokal dürfte auch in anderen sich die Erscheinungen ab in einer konsequen-
Zusammenhängen beruhigen, die »Hauch«- ten Bewegung auf den Beobachter zu: von den
Konsonanten dürften auch sonst zarte Luft- Hügeln am fernen Horizont über die nahen, als
laute andeuten. Zwar steigern sich solche Ef- getrennte Wipfel wahrgenommenen Bäume
fekte bei der Lyriklektüre, wo man den Klang bis zum Astwerk, wo die Vögel hausen, und
der Wörter gern auskostet. Doch liegen die schließlich zum Menschen. Bestimmend ist
dem Gedicht eigentümlichen Wirkungen jen- hier vor allem das Auge des Zeichners, der G.
seits solcher Werte in der Handhabung von in dieser Zeit intensiv war, er mußte das Ge-
Wortfonn und -folge dort, wo eine Wahl mög- schaute nur in einer poetischen Folge verket-
lich war. So ist der alles bestimmende Vokal ten. Daß diese Folge mit dem Menschen
das »e«, das in »Ruh« weggelassen, in »spü- schließt, muß nicht unbedingt daran liegen,
rest« und »Vögelein«, »Walde« und »balde« daß er das unruhigste Naturwesen sei, wenn
ein- oder angefügt wurde. Es gestaltet Sprech- schon das menschliche Herz vier Jahre später
duktus und Fluß des ganzen Gedichts, macht im Vergleich zum Urgestein der »beweglichste,
die Aussage gemessener, die Übergänge flie- veränderlichste, erschütterlichste Theil der
ßender. In den überlieferten Abschriften ste- Schöpfung« genannt wird (Über den Granit.;
hen die Alternativen; ob authentisch G.sche WA 11, 9, S. 173). Auch nicht daran, daß das
oder ob Abschreibe- bzw. Hörfehler, sie ma- Gedicht die Naturreiche in der Reihenfolge
chen deutlich, an welch minutiösen sprach- ihrer Entstehung exemplifiziert: Mineral-
lichen Entscheidungen und kleinsten Zeitein- reich, Pflanzenreich, Tierreich, Mensch. Man
heiten - von etwas so Grobem wie »Metrik« darf das als Beigabe genießen, ohne dem na-
kann keine Rede sein - die dichterisch nachge- turwissenschaftlichen Anfanger von 1780 eine
schaffene Ruhe hängt. Absicht zutrauen zu müssen, die allenfalls
Dem sekundiert die endgültige Verseintei- beim Gesamtschau haltenden alten G. zu ver-
lung, die am Schluß der Verse eins und drei muten wäre. Bei diesem frei gezeichneten
eine Pause einlegt und das Verb jeweils auf- Abendbild liegt vielleicht der Gedanke näher,
schiebt. »Gipfel« und »Wipfel« bekommen auf daß nur der Mensch, ob Zeichner, Dichter
diese Weise jeder für sich einen Vers ohne oder bloßer Naturbetrachter, ein über die
Verb, sie stehen uns mithin »unbeweglich« vor Schöpfung wachendes, reflektierendes Be-
Augen. Man muß nur den Effekt eines Anfangs wußtsein besitzt. Darauf weisen die beiden
mit Verb vergleichen: »Wie herrlich leuchtet«, Grundmotive des Gedichts: daß nur der Spre-
»Fetter grüne«. Auch die endlich eintretenden chende von Ruhe weiß, und daß er sich als
Verben stören das große Stilleben nicht, denn letzter zur Ruhe legen wird.
es handelt sich in Vers zwei um das allersta- Was hat es schließlich mit der Hüttenwand-
tischste »Ist« und in Vers vier um »Spürest«, inschrift auf sich? Sie galt lange als Beleg für
das ein kaum merkliches Erkennen des kaum G.s spontanes Schaffen. Es ist ja denkbar, daß
Merklichen bedeutet. Der einzige Vers, der er - wie so oft - auch diesmal einen plötzlichen
einen ganzen Satz enthält und sich auch rhyth- Einfall festgehalten hat. Die Tagesstimmung
misch frei bewegen kann, gibt gleichwohl hatte es ja in sich: »Wenn nur meine Gedan-
nichts Bewegliches wieder oder doch nur die- cken zusammt von heut aufgeschrieben wä-
jenige Bewegung, die rituell beruhigt: den lul- ren«, heißt es im schon zitierten Brief an Char-
lenden Rhythmus eines Wiegenlieds, das auch lotte, »es sind gute Sachen drunter«. Aber
durch die archaische Wortfonn ,Nögelein« dann fällt das lösende Wort: Früher am Tag hat
(y. 6) evoziert wird. G. die benachbarte Hennannsteiner Höhle be-
Doch muß auch ein Gedicht über die Ruhe sucht und ein 1776 von ihm dort eingemei-
194 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

ßeltes "S« - wie »Sonne«, das Zeichen für Frau dicht auf das andere zu beziehen, ja schlicht-
von Stein in G.s Tagebuch - »so frisch noch wie weg als »Antwort« darauf zu deuten: dort die
von gestern« gefunden und »geküsst und wie- erflehte, hier die eingetretene Ruhe. Das Ei-
der geküsst« (an Charlotte von Stein, 6.9. gentümliche des jeweiligen Gedichts - ist die-
1780, vgl. auch 8.8. 1776). Im Frühjahr 1776 ser Friede ohne weiteres dieser Ruhe gleich-
hatte er ihr geschrieben: »Ich bitte dich doch zusetzen? - ergibt sich aber nicht unbedingt
Engel komm ia mit auf Ettersburg. Du sollst solchen Versuchen, über Jahre hinweg ein ein-
mir da mit einem Ring ins Fenster, oder Blei- faches Gleichgewicht zu konstruieren. Nicht
stifft an die Wand ein Zeichen machen dass du so ist die lyrische Verallgemeinerung des
da warst« (4.3.1776). Liebende sind bekannt- Menschlichen aufzufassen, daß Unterschiede
lich so: Sie wollen sich und ihr Glück ver- eingeebnet werden sollen.
ewigen, sie schreiben in die Welt sich ein, Übrigens hat G.s Rezeption von Über allen
gegen die Vergänglichkeit an; Dichter erst Gipfeln eine eigentümlich nüchterne Note.
recht. Nach der Brockenbesteigung 1777 wird Die Titelwahl, nicht etwa »Wandrers Nacht-
G. wieder »ein Zeichen ins Fenster« des Torf- lied 2«, sondern bloß Ein gleiches, klingt -
hauses schneiden, »zum Zeugniss meiner ausgerechnet für dieses lyrische Juwel - ent-
Freuden Trähnen« (an Charlotte von Stein, schieden prosaisch, ja lässig bis wegwerfend.
11.12. 1777). Den Brauch hatte er gerade auch Zusammen mit der seltsam hinausgeschobe-
am Tag des zweiten Nachtlieds im Kopf. So war nen Veröffentlichung gibt das ein kleines Rät-
sein an die Hüttenwand geschriebenes Ge- sel auf.
dicht kein Todes-, sondern eminent ein Le- Für Komponisten besaßen beide Gedichte
benszeichen. eine außerordentliche Anziehungskraft. Sie
Kaum eine Veröffentlichung zu G.s Lyrik stehen - wiederum gemeinsam, aber bei Be-
kommt ohne dieses Gedicht aus, wobei oft vorzugung des zweiten - an der Spitze der
ohne konkretes Ergebnis weihevoll geraunt Vertonungen G.scher Lyrik. Für Über allen
wurde. Genauere Untersuchungen bieten An- Gipfeln lassen sich mehr als 200, für Der du
dreas Heusler und Hans Glinz, eine gesunde von dem Himmel bist mehr als 150 Komposi-
Skepsis gegenüber Lauteffekten findet sich bei tionen zählen. Mit knapp 100 folgt Mignons
L. P Johnson. Den Gebrauchs- oder eigent- Kennst du das Land.
licher den Mißbrauchswert eines allzu vertraut
gewordenen lyrischen Textes hat Wulf Sege-
brecht in aufschlußreicher Weise dokumen-
Literatur:
tiert, freilich auch noch aufgrund dieser dubio-
sen Entwicklung Möglichkeit und Wünschbar- Glinz, Hans: Sprache, Sein und Denken. In: DU. 6
keit der heutigen Einfühlung in Abrede ge- (1954), S.56-67. - Heusler, Andreas: Versge-
stellt (S. 60f.). Der emblematische Mißbrauch schichte. Bd. 3. Berlin 1929, S.388-389. - Ders.:
Goethes Verskunst. In: ders.: Kleine Schriften. Ber-
von G.s Gedicht geht übrigens inzwischen wei- lin 1943, S.462ff. - Heller, Peter: Gedanken zu ei-
ter, etwa im Titel von Thomas Bernhards Stück nem Gedicht von Goethe. In: Versuche zu Goethe.
Über allen Gipfeln ist Ruh. Ein deutscher Fs. Erich Heller. Heidelberg 1976, S. 76-120. - John-
Dichtertag (Frankfurt/M. 1981). son, L. P.: ffizndrers Nachtlied. In: GLL. XXXVI
G.s Zusammenstellung der beiden Nacht- (1983), H. 1/2. Special Goethe Number, S. 34-48. -
lieder bedeutet eher den Anfang der Rezeption Segebrecht, Wulf: J. W. Goethes Gedicht Über allen
Gipfeln ist Ruh und seine Folgen. Zum Gebrauchs-
als den Abschluß der Produktion. Er konnte wert klassischer Lyrik. Texte, Materialien, Kom-
1815 als später Leser eigener Gebilde die ver- mentar. München 1978. - STAIGER, Bd. 1. - Trunz,
schiedenartigen Anlässe ignorieren bzw. ver- Erich: Goethes lyrische Kurzgedichte. In: JbGG. 24
gessen, um deren Ergebnisse einander anzu- (1964), S.5-9. - Wilkinson, Elisabeth M.: Goethes
gleichen. Die häufigen, diesem Wink des Lyrik. In: Goethe, Dichter und Denker. Frankfurt/
Dichters folgenden Doppelinterpretationen M. 1974, S. 16-21, S. 25-27.
haben entsprechend die Tendenz, das eine Ge- Terence James Reed
Gesang der Geister über den Wassern 195

rückgreift -, und als Wüste konnte das Schwei-


Gesang der Geister über den zer Hochgebirge durchaus gelten. Daß die Gei-
Wassern ster dieser Wüste G. dennoch ausgerechnet
»lieblich« zusingen konnten, liegt wohl - das
ist von grundsätzlicher Bedeutung - an der
selbständigen Erfahrungsweise eines Reisen-
Das Gedicht entstand auf der zweiten Schwei- den, der die Bergeinsamkeit schon eindrucks-
zer Reise zwischen dem 9. und 14.10. 1779 in voll, aber nicht unbedingt »schreckhaft« fand.
Lauterbrunnen. Vom 9. bis 11. Oktober hielten Wenige Zeilen vor der soeben zitierten Brief-
sich die Reisenden in der Gegend von Lauter- stelle heißt es: »Kein Gedancke, Keine Be-
brunnen auf, am Staubbach, dessen Wasserfall schreibung noch Erinnerung reicht an die
eine Höhe von 500 Metern hinunterstürzt. Am Schönheit und Grösse der Gegenstände, und
14. Oktober legte G. die Strophen mit der ihre Lieblichkeit in solchen Lichtem Tages-
Überschrift Gesang der lieblichen Geister in zeiten und Standpunckten«. Das Schöne und
der Wüste einem Brief an Charlotte von Stein das Erhabene, für die damalige Ästhetik ein
bei. In dieser Fassung sind die Verse auf zwei selbstverständliches Entweder/Oder, sind hier
Stimmen verteilt: erster Geist: Vers 1-4, Vers glücklich vereint. Ausschlaggebend hierbei
8-17, Vers 25f., Vers 28f., und Vers 52f.; zwei- war, daß man bei aller Kenntnis von Bild und
ter Geist: alle übrigen Verse. Dieselbe dialogi- Theorie an Ort und Stelle vor den Erschei-
sche Einteilung findet sich in einer titellosen nungen selbst stand und bestand. Als es tiefer
Abschrift Herders und in einer weiteren Luise in die Berge ging und G. trotz der Notwendig-
von Göchhausens, die Vor'm Staubbach über- keit kluger Vorsorge - führte er doch den Her-
schrieben ist. Im Gedichtverzeichnis der Bar- zog Carl August, der noch keinen Nachfolger
bara Schulthess steht »am Staubbach« (WA I, gezeugt hatte! - im November partout den
1, S. 565, Nr. 5). Das Gedicht wurde ohne die Gang über den Furkapaß unternehmen wollte,
dialogische Einteilung als Gesang der Geister ließ er sich durch die obligate Furcht aus
über den WtJssem zuerst 1789 gedruckt (Schr!f ästhetischer zweiter Hand nicht irremachen:
ten, Bd. 8) und in dieser Gestalt in alle späte- »Wenn es dort schon so aussähe wie man es
ren G.schen Gedichtsammlungen übernom- uns hier mahlt so wärs ein Stieg in die Hölle.
men. Im folgenden wird der Text nach der Man kennt aber schon die Poesie der Leute auf
Weimarer Ausgabe (WA I, 2, S. 56f.) zitiert. den Sophas und in den Cabriolets« (an Char-
Im Bericht vom 14. Oktober heißt es: >,von lotte von Stein, 2.11. 1779). Er darf übrigens
dem Gesange der Geister hab ich noch wun- aus eigener Erfahrung Mut schöpfen: <<wenn es
dersame Strophen gehört, kann mich aber möglich ist im Dezember auf den Brocken zu
kaum beyliegender erinnern«. Wer G.s Dicht- kommen, so müssen auch Anfangs November
weise kennt - er mußte oft das ihm tagsüber im uns diese Pforten der Schröcknisse auch noch
Freien Eingefallene abends festzuhalten su- durchlassen« (ebd.).
chen -, wird das nicht weiter rätselhaft finden Die Brockenbesteigung im Winter 1777 war
und gleich zur Hypothese einer »älteren Kon- für G. eine »simbolische« Bewährungsprobe
zeption« im Umkreis des Mahomet-Themas gewesen (an Charlotte von Stein, 10.12. 1777).
(Burdach, S.88f.) greifen wollen. Auch der Die Schweizer Reise war in anderem Sinn
ursprüngliche Titel ist so rätselhaft nicht, schicksalhaft. Zum einen hatte G. soeben als
weist auf jeden Fall nicht unbedingt nach neugebackener Geheimrat »mit dem 50ten
Osten. Wüsten gehören im 18. Jh. zu den im- Jahre die höchste Ehrenstufe die ein bürger in
mer wieder bemühten Phänomenen des Teutschland erreichen kan« betreten: Ihm feHlt
»furchtbar« oder »schreckhaft« Erhabenen - so der Spruch ein, man komme nie so weit, wie
noch in Schillers Essay Vom Erhabenen (1795), dann, wenn man nicht wisse, wohin es geht -
der u.a. auf Kants Beobachtungen über das »Sagte ein groser Kletterer dieser Erde« (an
Gifühl des Schönen und Erhabenen (1764) zu- Charlotte von Stein, 7.9. 1779). Also schon ein
196 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

Gipfel und Aussichtspunkt. Dazu ging es jetzt zelerscheinungen werden von vornherein dem
über Stationen seiner Vergangenheit, die die nicht unmittelbar wahrnehmbaren Gesamt-
Briefe an Charlotte festhalten. »Wir streichen phänomen des Wasserkreislaufs zugeordnet
wie ein stiller Bach immer weiter gelassen in und einer These dienstbar gemacht, die sie
die Welt hin [ ... ]. Auf diesem Weege rekapitu- zieren und exemplifizieren sollen. Sie wirken
lir ich mein ganz vorig Leben sehe alle alte dadurch notwendig blasser. Man stelle nur ne-
bekannte wieder, Gott weis was sich am Ende ben den Eingang: »Des Menschen Seele /
zusammen summiren wird« (24.9. 1779). Den Gleicht dem Wasser« (V. lf.) die Anfangsverse
Tagen im Frankfurter Vaterhaus - »den Abend von Mahomets Gesang: »Seht den Felsen-
unsrer Ankunft wurden wir von einem Feuer- quell, / Freudehell, / Wie ein Sternenblick; /
zeichen empfangen, das wir uns zum aller- Über Wolken« (WA I, 2, S.53, V. 1-4). Auch
besten deuteten« (20.9. 1779) - folgt ein Wie- dort wird an der gleichen Stelle (2. Strophe)
dersehen mit früheren Geliebten. Bei Friede- der Wasserkreislauf evoziert, aber in einer
rike Brion in Sesenheim wird er ohne Ressen- bildlichen und rhythmischen Sprache: »Jüng-
timents aufgenommen und findet sein lingfrisch / Tanzt er aus der Wolke« (V. 8f.),
»Andencken« in ihrem Kreis »so lebhaft«, daß neben der der Gesang der Geister nüchtern-
er scheidend das Gefühl hat, »in Friede mit prosaisch wirkt. So leitet dieses Gedicht die
den Geistern dieser ausgesöhnten in mir le- Reihe abstrakt weltanschaulicher Oden ein,
ben« zu können (25.9. 1779). In Straßburg die durch Grenzen der Menschheit und Das
sucht er Lili Schönemann auf, sie hat mitt- Göttliche weitergeführt wurde. Freilich spielt
lerweile »alles was sie brauchte« - bedeutsame der Staubbach, der als möglicher Titel so hin
Vergangenheitsform ! - Mann, Kind, Haus, und wieder spukt, eine zentrale Rolle. Be-
Rang. Fazit: »Meine entfernten Freunde und zeichnend aber ist, wie selbst die wechselnden
ihr Schicksaalliegen nun vor mir wie ein Land Erscheinungsformen des aus großer Höhe fal-
in dessen Gegenden man von einem hohen lenden Wassers nicht jeweils um ihrer selbst
Berge oder im Vogelflug sieht« (26.9. 1779). willen geschildert, sondern quasi in logische
Als letztes vor der Schweizer Grenze besucht Strukturen gefaßt werden: »Strömt [ ... ] / Der
G. noch das Grab der verstorbenen Schwester reine Strahl, / Dann stäubt er lieblich«
Cornelia, ein düstererer Beitrag zum Schick- (V. 8-11); »Ragen Klippen / Dem Sturz entge-
salsüberblick. Dann geht es in die Berge. Die gen, / Schäumt er unmuthig« (V. 18-20). Die
Strecke nach Lauterbrunnen führt über den Realität geht in der Kausalität auf.
Thuner See. Auf dem Schiff liest G. - gleich- Dabei leuchtet die allegorische Gleichung
sam im Hinblick auf ihm Bevorstehendes - den >Menschenseele gleich Wasser< nicht ohne
zwölften Gesang der Odyssee in Bodmers weiteres ein. Sie wird im weiteren auch nicht
Übertragung (9.10. 1779; Crüger, S.233f.), präzisiert oder systematisch ausgebaut. Falls
der von Skylla und Charybdis, von Klippenge- in der ersten Strophe die Seelenwanderung
fahr und zerstiebendem Wasser handelt. In gemeint ist, die seit Warum gabst du uns die
dieser Phase des Homerischen Epos erzählt Tiifen Blicke zumindest als Metapher bei G.
übrigens Odysseus selbst seine Abenteuer dem lebendig war, so wird dieses Motiv in den fol-
König Alkinoos: wiederum ein Rück- und genden Strophen ganz fallengelassen, andere
Überblick mit Tiefenperspektive. So scheint werden kurz aufgegriffen. So lassen sich zu
alles an dieser Reise einer Aussage von höhe- den anschließend genannten Phänomenen -
rer Warte über menschliches Schicksal vorge- dem »unmuthigen« Schäumen von Strophe
arbeitet, scheinen Berge und Wasser eine da- drei, oder der Ruhe, mit der der »glatte See«
für geeignete Sprache bereitgestellt zu haben. (V. 25) in der vierten Strophe die Gestirne wi-
Schon diese Unterscheidung von Sinn und derspiegelt - Parallelen im menschlichen See-
Mittel weist in Richtung Allegorie. Der Gei- lenleben denken. Der Wind, der als »lieblicher
stergesang hat es denn auch eher auf Bedeu- Buhler« (V. 29) das Wasser wieder in »schäu-
tung als auf Beschreibung abgesehen; die Ein- mende Wogen« (V. 31) schlägt (Str. 5), könnte
Gesang der Geister über den Wassern 197

sehr wohl den seelischen Störfaktor Liebe dem Titel Briife aus der Schweiz. Zweite Ab-
meinen, würde er nicht in den Schlußversen teilung.
dem Schicksal des Menschen überhaupt Damit dürfte eine Lage zyklisch wiederge-
gleichgesetzt. Verblüffend ist die Implikation, kehrt sein, die man aus G.s Leipziger Rokoko-
daß Schicksal immer nur »lieblich« sei, was zeit kennt: Noch einmal kann in Briefen ausge-
aber gewiß nicht besagt, daß Liebe die einzige drückt werden, was sich im Gedicht noch nicht
Schicksalskraft wäre. Insgesamt zeichnet sich gestalten läßt. Auch hier kündigt sich die
in dieser Abfolge kein konsequentes Schicksal nächste Phase hörbar an, etwa in der beweg-
ab: Völlig anders als in Mahomets Gesang ten, doch tiefbehaglichen Sprache eines Beob-
führt die Wasserbahn an kein Ziel. So fehlen achters, für den die Berge wie gewachsene
der letzten Strophe, die den gedanklichen Er- Kreaturen sind: »Man ahndet im Dunkeln die
trag des Gedichts als Reprise des Themas in Entstehung und das Leben dieser seltsamen
Dur bringt, die Rückverbindung an ein schlüs- Gestalten. Es mag geschehen seyn wie und
siges Argument und damit die rhetorisch alles wann es wolle, so haben sich diese Massen
abrundende Überzeugungskraft. Ob die wei- nach der Schweere und Aehnlichkeit ihrer
teren »wundersamen Strophen«, die G. von Theile gros und einfach zusammengesezt. Was
den Geistern noch vorgesungen, aber von ihm für Revolutionen sie nachhero bewegt, ge-
dann vergessen wurden, diese Lücken gefüllt trennt, gespalten haben, so sind auch diese
hätten? auch nur einzelne Erschütterungen gewesen
Gesang der Geister ist im engeren Sinn das und selbst der Gedanke einer so ungeheuren
einzige dichterische Ergebnis der zweiten Bewegung giebt ein hohes Gefühl von ewiger
Schweizer Reise, bleibt aber als solches hinter Festigkeit. Die Zeit hat, auch gebunden an die
dem zurück, was der - metaphorische wie ewige Geseze, bald mehr bald weniger auf sie
buchstäbliche Höhenausblick erwarten gewirkt. [ ... ] Man fühlt tief, hier ist nichts
ließe. Es handelt sich um eine Entstehungsge- willkürliches, alles langsam bewegendes ewi-
schichte, aus welcher nichts dem Schicksals- ges Gesez« (an Charlotte von Stein, 3.10.
moment Entsprechendes entstand. Die hohen 1779). Das ist bereits die morphologische
Erwartungen sind aber nicht allein in den bio- Sichtweise des klassischen Dichters, die übri-
graphischen Tatsachen der Reise, sondern gens das statisch Erhabene des 18. Jhs. in das
auch in der Art begründet, wie sie G. doch dynamisch Evolutionäre des 19. verwandeln
schriftlich eingefangen hat, denn seine Be- wird. Und im selben Brief fällt ein Wort, das
richte an Frau von Stein, als Zirkularschreiben zwischen der Maßstäbe setzenden frühen Ly-
für die Weimarer Freunde bestinnnt, sind auf rik und der künftigen eine zarte Brücke
bestem Wege, selber Dichtung zu sein: »Der schlägt. Müßte G. in einer Gebirgsgegend
wichtigste Theil unserer Schweizerreise ist wohnen, so wollte er »mit iedem Morgen Nah-
aus einzelnen im Moment geschriebenen rung der Grosheit aus ihr saugen«. »Nahrung
Blättchen und Briefen, durch eine lebhafte Er- saugen«: ein Nachhall der ersten, ein Vorhall
innerung komponirt. Wieland deklarirt es für der noch ausstehenden zweiten Fassung von
ein Poema« (an Johann Heinrich Merck, 7.4. AufdemSee.
1780). Mit diesem Urteil wollte Wieland gar Die von Burdach aufgeworfene These einer
nicht für das schlichte Erlebnis schwännen. früheren Konzeption - und zwar im Zusam-
Gleich darauf schrieb er selber in bezug auf menhang mit dem stilistisch ganz anders be-
den Furka-Passus, den G. bei Hof vorgelesen schaffenen Mahomets Gesang, oder gar als
hatte: »Mir war die schlaue Ku n s t in der zum gleichnamigen Drama zugehörig - hat
Komposition noch lieber, wovon [die zuhöre- sich weitgehend (Trunz, S. 557; STAIGER, Bd 1,
rinnen] nichts sahen. Es ist ein wahres Poem, S. 101f.; Reinhardt, S. 577; Eibl, S. 1033) als
so versteckt auch die Kunst ist« (an Merck, vollendete Tatsache oder zumindest als erwäh-
16.4. 1780). Das »Poem« hat G. schon bald nenswerte Möglichkeit erledigt. An Belegen
bearbeitet, es erschien aber erst 1796 unter hat es Burdach selber fehlen lassen. Die ihm
198 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

»evident« scheinende These (S. 87) blieb rein knüpfte er erst in Weimar an die aufklärerische
spekulativ. Sie dürfte sich angesichts der kon- Tradition anthropologischen Nachdenkens an.
kreten Daten der Entstehung auf der Schwei- Mit diesem durch seine veränderte Situation
zer Reise erübrigen. Sonst sind sich die Inter- ausgelösten Neuansatz stellte er geradezu sich
preten einig in der Zuordnung und Bewertung selbst - d.h. sein vorweimarisches Selbst - in
des Gedichts als eines noch tastenden Beitrags Frage. Die frühen Hymnen schienen grund-
zu G.s weltanschaulicher und ethischer Neu- sätzliche Lebensfragen bereits gelöst oder
orientierung im ersten Weimarer Jahrzehnt, doch übers Knie gebrochen zu haben: Die in
an der auch in den Oden Grenzen der Mensch- historischem, mythologischem oder mytho-
heit und Das Göttliche gearbeitet wurde. poetischem Kontext dargestellten großen
Männer, in die sich der Dichter hineinproji-
zierte - Mahomet, Prometheus, der von
Literatur: Schwager Kronos triumphal durchs Leben
Burdach, Konrad: Vorspiel. Gesammelte Schriften Kutschierte -, führten aus Eigenem und zu ei-
zur Geschichte des deutschen Geistes. 3 Bde. Halle/ genen Zwecken ihr aus der Menge heraus-
Saale 1925-1926. Bd. 3: Goethe und sein Zeitalter. ragendes Leben. Die Ausdrucksweise ist da-
Halle 1926, S.82-90. - Crüger, Johannes (Hg.): nach, Ausruf und Herausforderung überwie-
Gottsched und die Schweizer, Joh. J. Bodmer und J. gen, Fragen sind höchstens rhetorischer Art:
Breitinger. Dannstadt 1965, S.233-234. - Eibl,
»Ich dich ehren? Wofür?« (Prometheus; FA I, 2,
Komm. in FA 1,1, S. 1030-1033. - Reinhardt, Komm.
in MA 2.1, S. 576f. - STAIGER, Bd. 1. - Tecchi, Bona- S. 300, V. 37). Das massive Selbstvertrauen äu-
ventura: Sette liriche di Goethe. Bari 1949, ßert sich nicht nur als prometheischer Trotz:
S. 92-108. - Trunz, Komm. in HA 1, S. 557f. Ganymeds Selbsthingabe weiß ebensowenig
Terence James Reed von Sich-Bescheiden, geschweige denn von
Selbstzweifel. Auch hier strebt eine starke
Subjektivität ihr eigenes Ziel an, hier die unio
mystica mit dem »alliebenden Vater« (Gany-
med; FA I, 1, S. 331, V. 31). Dieser Ton hielt
noch in der frühen Weimarer Zeit kurz an:
Seifahrt, Menschengifühl, Eislebens Lied. Da-
Grenzen der Menschheit neben taucht im Tagebuch die Formel aus dem
achten Psalm auf (Y. 5): »Was ist der Mensch,
daß du seiner gedenkst?« (7.11.1776 u. 10.12.
Das wohl zwischen 1779 und 1781 entstandene 1777), freilich eher als ein dankbares Stoß-
Gedicht ist in der Vorlage für den Erstdruck in gebet denn als wühlende Frage. Der Psalm
eigenhändiger, auffallend sorgfältig ausge- verherrlicht ja den Menschen, vielleicht ur-
führter Handschrift und - mit der Überschrift sprünglich nur den hochgestellten: »Du hast
Ode - in einer Abschrift von Herder über- ihn wenig niedriger gemacht denn Gott« (Y. 6).
liefert. Es erschien zuerst 1789 in den Schrif- Bei G. beginnt aber auch eine nicht mehr auf-
ten (Bd. 8), zwischen PrometheuslGanymed trumpfende, eine in sich gekehrte Befragung
und Das Göttliche. Diese bedeutungsvolle An- des Schicksals: GewIß ich wäre schon; Dem
ordnung wurde in allen autorisierten Werk- Schicksal; Beherzigung. Der herausragende
ausgaben beibehalten. Im folgenden wird, Mensch muß gleichsam hinter der Kulisse ab-
dem Erstdruck folgend, die Frankfurter Aus- warten, ob er überhaupt wieder als der alte
gabe (FA I, 1, S. 332f.) zitiert. wird auftreten können.
Die Frage »Was ist der Mensch?« scheint Der Neuansatz bringt in seinen Hauptstük-
sich der junge G. kaum gestellt zu haben. Der- ken, den vier Oden in freien Versen Grenzen
art allgemeine Überlegungen waren ihm der Menschheit, Das Göttliche, Meine Göttin
fremd, Unsicherheit kannte er anscheinend und Gesang der Geister über den Wassern einen
nur auf persönlicher Ebene, in der Liebe. So eigenen Stil mit sich. Die alte stark gestische
Grenzen der Menschheit 199

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Herders Abschrift
200 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

Sprache, die aus intuitiv ergriffenen archetypi- bilder gekleidet - fühlt sich doch der Spre-
schen Figuren und Situationen geflossen war, chende in bereitwilligem Mündigkeitsverzicht
ist verebbt. Wo früher »mit dem Feuerblick des dem Göttlichen gegenüber als Kind: »Kind-
Moments« (an Auguste von Stolberg, 14.9. liche Schauer / Treu in der Brust« (Y. 9f.). Fast
1775) Wahrheit konkret erfaßt und durch eine karikierend wird gezeigt, wie der zu hoch hin-
sprachlich hoch charakteristische Präsenz ver- aufstrebende Mensch haltlos in der Luft hän-
bürgt wurde, verkündet nunmehr eine fast ent- genbleibt, der erdgebunden bleibende dage-
persönlichte Stimme allgemeine Lehren. Im gen überhaupt nirgends hinreicht.
vorliegenden Gedicht geht es zwar nicht ohne Nach der dritten Strophe wechselt das Bild
ein Ich ab, dieses ist jedoch der blasse Singular gründlich: Von der rein räumlichen Diskre-
einer anthropologischen Verallgemeinerung, panz zwischen menschlichem Scheitel und
es beruft sich nicht auf wirkliches bzw. imagi- göttlicher Sternenhöhe zur eher zeitlichen ei-
niertes Erlebnis oder doch nur auf ein Erleb- nes von den Göttern gelassen betrachteten
nisdestillat, das den festen frommen Brauch Stroms, dessen sukzessive Wellen den Einzel-
gezeitigt hat: »Wenn« - d.h., wann auch immer menschen heben und verSChlingen; um
- »der uralte, / Heilige Vater« (Y. 1f.) seine schließlich zum Bild von Ring und Kette über-
Blitze sendet, wird in fast übertriebener Devo- zugehen, das zugleich etwas von räumlicher
tion der letzte »Saum seines Kleides« (Y. 8) und zeitlicher Dimension hat. Jeder Bildwech-
geküßt, denn es gehört sich so. sel markiert eine Stockung, nach der neu ange-
Gerade mit »denn«, mit »wenn/dann« und setzt werden muß, um den Rede- und Argu-
»falls dies/so das« wird hier durchgehend ge- mentationsfluß wieder in Gang zu bringen.
arbeitet. Kein anderes G.sches Gedicht hatte Das erweckt den Eindruck von etwas mühsam
bisher eine so aufdringlich logische Struktur. zusammengesuchten Gleichnissen, auf jeden
Es handelt sich freilich um einen frühen Geh- Fall ist das Fehlen eines sich konsequent ent-
versuch in der Gedankenlyrik, wo man sich in faltenden Gesamtbildes symptomatisch dafür,
den Sprüngen und Würfen des spontanen Ge- daß auch ein fester gedanklicher Faden fehlt.
fühls nicht frei bewegen kann, falls ein zusam- Als einzige Konstante - sie ist übrigens dieser
menhängender Sinn zustande kommen soll. ganzen Odengruppe eigen - sticht der zwei-
Selten jedoch liegt das Gerippe abstrakter Be- hebige Takt hervor, der eingangs den Sturm
weisführung so offen zutage wie in dieser und langsam-majestätisch evoziert und auch dem
den genannten benachbarten Oden. Das muß Begriff der »wohlgegründeten, / Dauernden
auch bei Gedankenlyrik nicht sein. Sie kann Erde« (Y. 25f.) rhythmisch angemessen ist,
durchaus im Konkreten wurzeln und damit ge- sonst aber zur metrisch wie gedanklich wenig
sättigt sein. Die weltanschaulichen Gedichte dynamischen Bewegung des Gedichts beiträgt.
des reifen G. entwachsen zusehends der Situa- Der Dichter geht gleichsam in Hemmschuhen.
tion, aus der Erkenntnis gewonnen wird (Im Dabei lassen sowohl die abstrakte Beweisfüh-
ernsten Beinhaus) oder auf die sich die Er- rung als auch die Bilder an Deutlichkeit zu
kenntnis anwenden lassen soll (Im Grenzenlo- wünschen übrig. Vor allem, wie soll es der
sen sich zufinden), sie machen abstrakte Be- Mensch schließlich halten, und was ist eigent-
griffe zu lebendigen Kräften, die in drama- lich verboten? Was bedeutet hie das haltlose
tischer Wechselwirkung das Menschenleben Schweben, da das sture Erdgebundensein?
gestalten (Dauer im Wechsel, Urworte. Or- Geht es im ersten Fall um die Hybris schlecht-
phisch). An Konkretem bieten Grenzen der hin, um philosophisches Spekulieren, oder um
Menschheit allerdings eine Reihe von Bildern. das mystische Einsseinwollen mit den Göt-
Nach dem für göttliche Macht emblematischen tern? Könnte mit einer Horaz-Reminiszenz
Sturm, der es jedoch wie in Klopstocks Früh- (Carmina I, 1: sidera vertice = mit dem Schei-
lingsfeyer letztlich mit dem Menschen gut tel die Sterne; vgl. G. an Ernst Theodor Lan-
meint, wird das Größenverhältnis zwischen ger, Anfang 1770) der übermäßige Dichterehr-
Gott und Mensch in allegorische Kinderbuch- geiz anvisiert sein? Geht es im zweiten Fall um
Grenzen der Menschheit 201

den Willen zur Unabhängigkeit von Gott oder wo es hieß: »Reihen sie [die Götter] dauernd /
gar um das Leugnen jedweder Transzendenz? An ihres Daseins«. Da nun aber die Druck-
Sollen dadurch sowohl Prometheus als auch fassung - »reihen sich« - diesen Sinn durchaus
Ganymed zurückgenommen werden, wie die noch zuläßt, behält er den Vorrang.
Anordnung im Druck vermuten läßt? Sind die Es muß nicht von einem Druckfehler die
im Prometheus implizierte Infragestellung der Rede sein - übrigens erst recht nicht von ei-
Unterwürfigkeit auch im Säkularen oder das in nem unangemessen von der Druckfassung aus
Ganymed beanspruchte unmittelbare Einssein beurteilten »änderungsbedürftigen« Urtext
mit der Natur mitbetroffen? Und weiter: Wel- ryvA I, 2, S. 314). Hätte G. eine radikale Sin-
ches positive Verhalten müßte aus dem unge- nesänderung für den Druck durchführen wol-
nau bis widersprüchlich formulierten Doppel- len, so hätte er doch wohl ganze Arbeit ge-
verbot folgen? Wie hoch darf man noch hin- macht. »Reihen sich« bringt freilich eine neue
auswollen, um nicht erdgebunden zu stagnie- Nuance. Nicht nur, daß G. »die totale Abhän-
ren? Wie fest soll man dennoch stehen, um gigkeit von den ,Göttern<, die in der 'sie<-
nicht zum Spiel der Winde zu werden? Und Formulierung steckt, tilgen wollte« (Eibi,
welches wären Zweck und Sinn des Kompro- S. 1046), sondern daß mit der Tilgung des
misses? »sie« die Götter überhaupt keine agierenden
Die Lehre bleibt obskur. Man soll Grenzen Wesen mehr sind. Abgesehen nämlich von den
einhalten, erfährt aber nicht genau, wo sie »Segnenden Blitzen« (Y. 5) - aber das mag
verlaufen. Man weiß weder, was dies für Göt- nur Metapher sein, denn wo der Blitz ein-
ter sind, noch woher sie ihre Autorität bezie- schlägt, wird der Boden tatsächlich aufgrund
hen. Es ergibt sich eine bei allem Anschein von chemischer Wirkung fruchtbarer-,
logischer Argumentation undurchdachte ist von der Ausübung göttlicher Macht keine
Frömmigkeit, gleichsam eine Frömmigkeit um Spur. Die Götter drohen bei Verletzung der
der Frömmigkeit willen. So hätte der weltan- Verbote keine Strafe an, nicht sie lassen uns
schauliche Neuansatz hier zum Rückfall in alte von den Wellen verschlingen. Einen eigent-
Denkschablonen geführt. lichen Kontakt zwischen Gott und Mensch
Die einzig mögliche Öffnung auf Neuland scheint es nicht zu geben. Die Grenzen der
bietet die letzte Strophe: »Ein kleiner Ring / Menschheit - des Menschseins - wären also
Begrenzt unser Leben, / Und viele Geschlech- auch die Grenzen göttlicher Wirkung: Die
ter / Reihen sich dauernd / An ihres Daseins / Götter definierte mithin allein die mensch-
Unendliche Kette« (Y. 37-42). An wessen Da- liche Ehrfurcht.
sein aber? Der genannten Geschlechter oder So ist die Kontroverse um Pronomina und
der Götter? Ersteres ergibt den nicht eben viel- Possessiva, die die Rezeptionsgeschichte so
sagenden, für ein hochrhetorisches Gedicht stark mitbestimmt hat, alles andere als ein
eher schwachen Schluß, daß sich die Ge- trockener Philologenstreit. Liest man die
schlechterfolge auch als eine Kette denken Schlußstrophe im ursprünglich gemeinten,
lasse. Falls dies als eine Art Unsterblichkeit noch in der Druckfassung wahrscheinlich blei-
gefeiert werden sollte, so wäre eher «Doch benden Sinn, so wird bei allen Unterwürfig-
viele Geschlechter« und vielleicht noch »An keitsgesten des Menschen gegenüber den Göt-
unsers Daseins« zu erwarten gewesen. Der tat- tern eine Abhängigkeit der Götter von den
sächliche Wortlaut scheint dagegen zum einen Menschen angedeutet. Das göttliche Dasein
mit »Und« die vertraute Diskrepanz zwischen mag zwar die menschliche Existenz übergrei-
menschlicher und göttlicher Dimension, Ring fen und überdauern, es bleibt gleichwohl auf
und Kette, als selbstverständlich hinzuneh- sie angewiesen, muß sich eben als Kette aus
men, zum anderen den Gegensatz >>Unser Le- den Ringen konstituieren. Es bleibt aber bei
ben« (Y. 38) - »ihres Daseins« (Y. 41) heraus- der Andeutung. Die Untersuchung wird fort-
streichen zu wollen. Dieser Kontrast war ein- geführt in Das Göttliche, wo die Sache anders
deutig der Sinn der handschriftlichen Fassung, herum angepackt wird.
202 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

Literatur: Differenz zwischen Mensch und Tier galt. Ein


Conrady, Kar! Guo: Zwei Gedichte Goethes kritisch edles, hilfreiches Benehmen des Menschen
gelesen. In: ders.: Literatur und Gennanistik als werde unseren Glauben an die >>unbekannten /
Herausforderung. Frankfurt/M.1974, S. 158-174.- Höhern Wesen« (V. 7f.) erhärten. So wären die
Eibl, Komm. in FA I, 1, S. 1046. - Segebrecht, Ur- Götter in einer Weise vom Menschen abhän-
sula: Besonnene Bestandsaufnahme. In: Segebrecht, gig, die ein Licht auf den Schluß von Grenzen
Wulf (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Bd. 5.
der Menschheit wirft.
Stuttgart 1984, S.25-52. - STAIGER, Bd. 1,
S. 545-549. - Tecchi, Bonaventura: Sette Liriche di Solch anthropomorphischer Gottesbegriff
Goethe. Bari 1949, S. 75-89. war im 18. Jh. bereits gang und gäbe, beson-
ders unter den in religiösen Fragen radika-
Terence James Reed leren französischen Aufklärern, am einpräg-
sam-witzigsten in Montesquieus Spruch:
Wenn die Dreiecke einen Gott hätten, würde
er unbedingt drei Seiten haben. Auch bei G.
kommt diese reduktive Sicht gelegentlich vor:
»Wie einer ist, so ist sein Gott, / Darum ward
Gott so oft zu Spott« (Zahme Xenien, FA I, 2,
Das Göttliche S.649). Das gilt aber einem Gott, der dem
Menschen, wie er ist, zum Bilde geschaffen
wurde, nicht dem Menschen, wie er sein soll-
Wahrscheinlich 1783 entstanden, erschienen ein einengend statischer Gottesbegriff. Hier
die Strophen zuerst im handschriftlich ver- jedoch ist die Sicht dynamisch und alles an-
breiteten TüifurterJournal (40. Stück, Novem- dere als reduktiv. Entgegen dem in Grenzen
ber 1783). Den Erstdruck brachte, ohne G.s der Menschheit erteilten Verbot soll man sich
Vorwissen, Friedrich Heinrich J acobi 1785 in mit den Göttern messen, oder genauer, da man
der auch die Prometheus-Hyrnne enthaltenden von ihnen keine sichere Kunde hat, mit den
Publikation Über die Lehre des Spinoza in »unbekannten / Höhern Wesen, / Die wir ahn-
Briifen an den Herrn Moses Mendelssohn den« (V. 7-9). Das mag vage klingen, bedeutet
(G.an Jacobi, 11.9. 1785). Erst in den Schrif- gleichwohl mehr als ein vermeintliches Wis-
ten (Bd. 8, 1789) erschien das Gedicht mit sen, das die Einbildungskraft einschränkt.
Titel. Dieser Text liegt dem Artikel zugrunde Denn gerade dort, wo dogmatische Gewißheit
(Text in FAI, 1, S. 333-335; Variante Vers 10 fehlt, können die Forderungen an den ah-
anhand von MA 2.1, S. 90f.) nungsfähigen Menschen nach oben offen, die
Der Titel ist irreführend, insofern er eine Grenzen der Menschheit fließend sein.
Behandlung des Göttlichen als Hauptthema So ist wieder umgekehrt der Mensch von
verspricht. Stattdessen geht es von Anfang an den Göttern abhängig oder doch vom intuitiv
ostentativ um den Menschen und sein ethi- erfaßten Göttlichen. Ohne diese Ahnungen
sches Verhalten, das entweder durch das Gött- würde er sich nie über sich selbst hinaus, zur
liche mit verwirklicht werden oder umgekehrt Selbstüberwindung, angespornt fühlen. In
diesem erst einen begrifflichen Inhalt geben diesem Punkt ist der in allen Textzeugen vor
soll. Funktion wie Definition verweisen das dem Druckmanuskript von 1788/89 enthaltene
Göttliche in den zweiten Rang. Das Gedicht zehnte Vers »Ihnen gleiche der Mensch« ent-
beginnt mit einem fast gebieterischen Aufruf scheidend. Er fehlt in allen von G. autorisier-
an den Menschen, sein ethisches Potential zu ten Drucken, wurde freilich von den meisten
erfüllen, da er sich von allen anderen Lebewe- Herausgebern, die ein Versehen vermuteten,
sen sonst in nichts unterscheide, nicht einmal, wieder eingesetzt (WA, HA, MA). Energisch
wie sich in letzter Zeit erwiesen hatte, durch protestierte dagegen von der Hellen (JA 2,
das Fehlen des berühmten Zwischenkiefer- S. 293). Eibl ließ die Möglichkeit bewußter,
knochens, das seit langem als entscheidende von G. veranlaßter Tilgung offen (S. 1048).
Das Göttliche 203

Die Lesart ist tatsächlich wichtig, denn mit Freilich müssen auch die erhabensten Ah-
diesem Vers - wer an den »ganzen« Text ge- nungen ihren Ursprung im Irdischen haben.
wohnt ist, mag das zunächst nicht merken - So ist das Göttliche schließlich doch eine
geht das Moment ethischen Nacheiferns menschliche Projektion. Das muß dem Han-
verloren. Das Gedicht handelt nur mehr von delnden aber nicht bewußt sein: Die ethische
einer menschlichen Praxis, die nebenbei Praxis erfolgt auf anderer Ebene als die an-
zur Quelle des Gottesbilds werde: eine Ein- thropologisch-psychologische Reflexion. So
weg-, keine Wechselbeziehung. Aber gerade konnte G. selber in diesen Jahren bei aller
die Wechselwirkung war das Subtil-Anre- intellektuellen Klarheit über die Psychologie
gende an der Erstfassung, die paradoxe Mög- des Glaubens seine eigenen Götter wiederholt
lichkeit nämlich, ein nur Geahntes zum Maß- um Beistand anrufen. In der konkreten Situa-
stab menschlicher Handlungen zu nehmen. tion handelt, wer glaubt, nicht bloß hypothe-
Mit der Logik dieses Vorgangs hat sich die tisch »als ob«, sondern er steht am Ende für das
Kritik unnötig schwer getan: Sie ist so abwegig Geahnte ein, sozusagen auf Gott-komm-raus.
nicht, ja sie ist recht eigentlich die Algebra Das ist ein wesentlich dramatischer Prozeß, zu
allen Fortschritts. Einmal den Anfang ge- dem nicht von ungefahr G.s Iphigenie auf Tau-
macht, stärken sich Glaube und Handlung ge- ris den aufschlußreichsten Kommentar bietet.
genseitig und verwandeln langsam Welt und Auch im Gedicht wird mit einem dramatischen
Weltbild. Gegensatz gearbeitet. In den Strophen drei bis
Das ist ein circulus virtuosus, für den im 18. sechs werden die nicht menschlichen Kräfte -
Jh. Parallelen nicht weit zu suchen sind. Die die bei G. ausnahmsweise »unfühlende« Natur
aufklärerische Geschichtsschreibung etwa (V. 12f.), die auf »Bös' und Gute« (V. 15) gleich-
zählt Episoden aus der Vergangenheit auf, in gültig herabschauenden Himmelskörper, die
denen Glück und Freiheit der Menschen ge- blinde Fortuna - aufgezählt und auf den Be-
fördert wurden, was einen »Plan der Natur« griff der »ewigen, ehrnen I Großen Gesetze«
(Kant) beweisen soll, dessen Ziel es sei, die (V. 31 f.) gebracht, unter deren Herrschaft »wir
Bestimmung des Menschen zu verwirklichen. alle I Unseres Daseins I Kreise vollenden«
Dies soll ihm dazu Mut machen, sich weiter für (V. 33-35) müssen. Die Formulierung erinnert
die gute Sache einzusetzen, was weitere Siege sowohl an die geschlossenen Ringe von Gren-
zur Folge haben dürfte, so daß sich wieder zen der Menschheit als auch wieder an Iphige-
Glaube und Handlungswille stärken. Ob es ei- nie aufTauris, wo »ehern« immer die unerbitt-
nen solchen Plan wirklich gibt, muß ebenso lichen Schicksals kräfte meint. Genauso wie im
dahinstehen wie die Existenz der »unbekann- Drama das Edle über das Eherne siegt, wird
ten höhern Wesen«. Gleichwohl ist das Ahnen auch hier dem ehern Verhängten das »Unmög-
dort wie hier nicht illusorisch, sondern pro- liche« (V. 37) entgegengestellt, das der Mensch
visorisch, eine hoffnungsvolle Hypothese. So eben doch fertigbringt, um die Kreise der Na-
nennt der alte G. das Ahnen eines der »Fühl- turnotwendigkeit zu sprengen: Er unterschei-
hörner [ ... ], mit denen der Mensch in's Uni- det, wählt, richtet, schafft Dauerhaftes, be-
versum tastet« (an Christian Dietrich von But- lohnt, straft, heilt, rettet - kurz, er erschafft
tel, 3.5. 1827). Wer in diesem Geist lebt, wird sich eine menschliche Welt. Bleibt allerdings
ständig bei der Stange und über den jeweiligen die Frage (Conrady, S. 18Of.), wem dies alles
Ausgang in Atem gehalten. Dies knüpft an ei- erreichbar ist - waren doch dem Gros der
nen anderen Strang des ethisch-religiösen Menschheit um 1780 schon gesellschaftlich
Denkens der Zeit an, dem tätige Wahrheits- allzu enge Grenzen gesetzt, als daß ihm solche
suche wertvoller ist als träger Wahrheitsbesitz, Verfeinerungen freistünden.
in Ungewißheit zu streben fruchtbarer, als sich Gegen den Schluß zu ändert sich der Ton.
beruhigt auf ein geistiges Faulbett zu legen. Aus Aufruf ist allmählich Anspruch geworden,
Der Theologe Lessing (Eine Duplik, § 1) aus ahnungsvollem Streben ein triumphales
reicht G.s Faust die Hand. Pochen aufs Errungene: »Nur allein der
204 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

Mensch« rv. rv.


36), »Er allein« 42). Zwar sollte lege, auch ist die Druckchronologie nicht
er von Anfang an ein Vor-Bild der Götter wer- leicht durchschaubar (vgl. Christ). G.s Ver-
den, die Anregung dazu jedoch aus seinen Ah- legenheit ist aber wiederum nicht recht be-
nungen vom Göttlichen schöpfen. Von einer greiflich: Wieso mußten die Leser darauf ver-
solchen reziproken Wirkung »jener geahnde- fallen, heide Gedichte seien vom selben Au-
ten Wesen« rv.
59) ist keine Rede mehr; schon tor? Sie scheinen es denn doch nicht getan zu
das Wort »jener« zeugt von Abstand. Der ethi- haben (Scholz, S. LXXX). Gingen doch die
sche Zirkel ist gebrochen. Gedichte inhaltlich so stark auseinander, daß
1785 wurde das Gedicht in die von Jacobi sowohl Jacobi (an Hamann, 28.2. 1786) als
angeschürte Kontroverse über Lessings angeb- auch Herder - so eine zeitgenössische Anmer-
lichen Spinozismus verwickelt, was für die kung zu Edel sei der Mensch - das Gedicht
spätere Druckform vielleicht und für G.s Dich- sogar als »Anti-Prometheus« bezeichnet haben
ten überhaupt wichtig war. Kronzeuge in J aco- sollen (Eibi, S. 1047).
bis Bericht über sein Gespräch mit Lessingwar Auf jeden Fall hat Jacobi selber das Gedicht
G.s noch unveröffentlichtes Prometheus-Ge- in diesem Sinn gelesen, das heißt, als Gegen-
dicht, das Lessing - unbegreiflicherweise - als stimme zum Monismus Spinozas. Darum hat
spinozistisch verstanden und gutgeheißen ha- er es zur Bestätigung der eigenen Position als
ben sollte. Daß Jacohi es in seiner Schrift ab- Vorsatz zu seiner Schrift gebracht. Er hat ent-
gedruckt hat, kann G. also kaum überrascht sprechend alles durch Sperrdruck hervorge-
haben - war das Gedicht doch, wie Jacobi hoben, was seinen dualistischen Vorstellungen
sagte, »als Beleg hier kaum entbehrlich« (zi- irgend entsprach: hie kennen, da ahnden und
tiert nach Scholz, S. 76). G. kannte auch längst glauben; hie Natur und Glück, da das Unmög-
den Lessing-Bericht, hatte sich auf eine Spi- liche. Damit hat Jacobi den Sinn des Gedichts
noza-Kontroverse regelrecht gefreut und Jaco- gewiß nicht voll erfaßt - aber doch auch nicht
bis Schrift noch vor Erscheinen in Händen ge- ganz verfehlt. Denn einen für G. uncharak-
habt (an Jacobi, 12.1. 1785 und 9.6. 1785). teristischen Dualismus enthält es schon. Sich
Überraschender dagegen für G. war, daß Ja- auf diese Weise für christlich-polemische
cobi auch das noch unbetitelte Edel sei der Zwecke eingespannt zu sehen, mag für G. das
Mensch abdruckte, und zwar an recht sicht- Ärgerlichste von allem gewesen sein und Mah-
barer Stelle als Vorsatz seines Buches, oben- nung genug, sich vor weiterer theologisieren-
drein nicht anonym, wie bei Prometheus, son- der Vereinnahmung sicherzustellen. Ominö-
dern mit dem Autorennamen, »damit man ia serweise hatte übrigens auch der andere erz-
bey dem noch ärgerlichem Prometheus mit christliche Freund, Lavater, das Gedicht mit
Fingern auf mich deute« (an Jacobi, 11.9. Begeisterung aufgenommen (an G., 10.12.
1785). Das heißt, »ärgerlicher« für ein recht- 1783). So mag G. die Schlüssel stelle rv. 10)
gläubiges Publikum; »Aergernis« in diesem 1788 darum entfernt haben - falls er es tat-
Sinn war bereits ein Schlüsselbegriff in der sächlich getan hat -, weil sie den Anschein
Diskussion Jacobis und Lessings über das Ge- erwecken konnte, die »höhern Wesen« würden
dicht (Scholz, S. 75). als wirklich vorausgesetzt. Der erst jetzt for-
So bestand das Ärgernis für G. erst in der mulierte Titel dürfte ebenfalls dazu gedient
ihn identifizierenden Verbindung der beiden haben, diese »Wesen« eindeutig in den ent-
Gedichte. »Das Beste wäre gewesen du hättest persönlichten Begriff des Göttlichen aufzulö-
pure den Prometheus drucken lassen«, schrieb sen. Jacobi hingegen wollte partout »eine
er später (an Jacobi, 26.9. 1785). Das klingt Wahrheit, die nicht m ein Geschöpf, sondern
übrigens nicht so, als hätte dieser, wie er spä- deren Geschöpf ich wäre« (Scholz, S. 52).
ter behauptete, G. zwischen Druck und Er- Noch aus seinem späten Wort, es gebe einen
scheinen des Buchs freigestellt, heide Ge- »Gott und nicht bloß ein Göttliches« (Nicolai,
dichte vertilgen zu lassen (Jacohi an Hamann, S. 312), hört man einen Seitenhieb gegen G.
28.2. 1786). Dafür fehlen die brieflichen Be- heraus.
Zueignung 205

Mit G.s Zurechtrückung war es jedoch lange Literatur:


nicht getan, er ergriff damit gleichsam nur den Christ, Kurt: »Der Kopf von Goethe, der Leib von
Zipfel des Problems. Tatsache war, daß er sich Spinoza und die Füße von Lavater.« Goethes Ge-
auf ein ihm eigentlich nicht zusagendes spe- dichte Das Göttliche und Prometheus im Kontext
kulatives Terrain weit vorgewagt hatte. Zwar ihrer Erstveröffentlichung durch Jacobi. In: JbGGes.
betonte er in Briefen an Jacobi die eigene 109 (1992), S.11-21. - Conrady, Karl Otto: Zwei
Gedichte Goethes kritisch gelesen. In: ders.: Lite-
Diesseitigkeit, Gott habe ihn »mit der Phisick
ratur und Germanistik als Herausforderung. Frank-
geseegnet«, Jacobi hingegen »mit der Meta- furt/Mo 1974, S. 175-185. - Eibl, Komm. in FA 1,1,
phisick gestraft« (5.5. 1786), er halte es mit S. 1047-1048. - Kant, Immanuel: Idee zu einer all-
den Einzeldingen, suche das Göttliche in gemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht
Pflanzen und Steinen, »schweige« gerne, (1784). In: Cassirer, Ernst (Hg.): Immanuel Kants
»wenn von einem göttlichen Wesen die Rede Werke. Bd. 4. Berlin 1922. - Lessing, Gotthold
Ephraim: Eine Duplik. In: Göpfert, Herbert G.
ist«, habe nie »an Metaphysische Vorstellungs-
(Hg.): Lessing. Werke. Bd. 8. Hg. v. Helmut GÖbe!.
art Anspruch gemacht« (9.6. 1785). Diese Be- München 1979. - Meinecke, Friedrich: Lebenströ-
teuerungen ließen sich aber mit der engagier- ster. JbGG. XVI (1954), S. 198-203. - Nicolai, Heinz:
ten Spinoza-Lektüre und erst recht mit den Goethe und Jacobi. Studien zu ihrer Freundschaft.
Oden dieser Phase schwerlich vereinbaren, in Stuttgart 1965. - Scholz, Heinrich (Hg.): Die Haupt-
denen G. weitgehend vom Konkreten abge- schriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi
und Mendelssohn. Berlin 1916.
kommen war. Das hat zwar Jacobi eigentümli-
cherweise nie gegen ihn geltend gemacht. G. Terence James Reed
konnte aber wohl nicht umhin zu merken, wie
sehr sein existentielles Bekenntnis und seine
dichterische Praxis jetzt auseinanderklafften.
Auch hatte die Spinoza-Kontroverse gezeigt,
wie wenig geistiger Gewinn, wie viel mensch-
licher Verlust - der Tod Mendelssohns! - mit
abstrakten Debatten verbunden sein konnte.
Zueignung
So hat letztendlich Spinoza G. den Weg zu sich
selbst zurück gewiesen, wenn schon als Aus-
klang dieser Tragikomödie der Irrungen G. Entstanden als Einleitung zu dem Fragment
den Philosophen falsch verstanden hat. Dafür gebliebenen Epos Die Geheimnisse - »zum
freilich schöpferisch, etwa indem er dessen Eingang bestimmt, statt der hergebrachten
scientia intuitiva dem eigenen »schauen« Anrufung und was dazu gehört« (G. an Johann
gleichsetzte und daraus Mut schöpfte, sein Gottfried und Caroline Herder, 8.8. 1784)-,
»ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu wurde das Gedicht bei seiner Erstveröffentli-
widmen« (an Jacobi, 5.5. 1786); oder indem er chung 1787 an die Spitze der bei Göschen er-
aus Spinozas im selben Brief genanntem scho- scheinenden Schriften gesetzt; es steht dort
lastisch-trockenem formalen Wesen - »essen- am Anfang des ersten Bandes, der den Werther
tia formali« - der Dinge kurz danach den dyna- enthält, und konnte dadurch als auf das poeti-
mischen Gedanken einer »wesentlichen Form« sche CEuvre insgesamt bezogen gelten. 1806,
entwickelte, »mit der die Natur gleichsam nur in der ersten der bei Cotta erschienenen Aus-
immer spielt und spielend das manigfaltige gaben, wurde diese Hervorhebung wieder zu-
Leben hervorbringt« (an Charlotte von Stein, rückgenommen; das Gedicht ist hier in den
9.7. 1786). Hier fehlt der U rpflanze nur noch ongmaren Entstehungszusammenhang zu-
der Name. Eine neue Sicht- und Dichtweise rückgeordnet und - ohne Titel - als erster
bahnt sich an. Man steht an der Schwelle der Abschnitt der Geheimnisse gedruckt. In der
Italienreise, die den Dichter in so mancherlei 1815 begonnenen Werkausgabe stellte G. es an
Hinsicht sich selber zurückgeben wird. die Spitze der Gedichtsammlung und ließ es
damit zugleich wieder das Gesamtwerk eröff-
206 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

nen. Diese Anordnung wurde bis zur Ausgabe Änderungen vor, die vor allem Metrisch-
letzter Hand beibehalten. Rhythmisches betrafen und einen ruhigeren,
Die Entstehungsgeschichte verknüpft das gemessenen Sprechton sicherten. Gänzlich
Gedicht mit einem ausgreifenden biographi- umgeformt, wenngleich kaum im Inhaltlichen
schen Kontext. Am 8.8. 1784 reiste G. als Ge- berührt, wurde nur die Strophe zehn. Der Text
heimsekretär mit Carl August nach Braun- ist seit dem Erstdruck nicht mehr verändert
schweig; widerstrebend begleitete er den Her- worden; er wird hier nach der Weimarer Aus-
zog im Dienst eines politischen Unterneh- gabe (WA I, 1, S. 3-7) zitiert.
mens, des Fürstenbundes, dem er seine Das Gedicht, als Eingang zu den Geheimnis-
Zustimmung eigentlich versagte. Ungern ent- sen auf ein - zumindest dem Plan nach - gro-
fernte er sich ohnehin von Weimar, an das ihn ßes, grundsätzlichen Menschheitsfragen ge-
die derzeit besonders intensive Beziehung zu widmetes Epos bezogen, gibt in seinem Kern
Charlotte von Stein fesselte und wo er in Aufschluß darüber, was nach G.s Meinung
fruchtbarem geistigen Austausch mit Herder Dichtung in Hinsicht auf das Leben der Men-
stand, der sich inmitten der Arbeit an seinen schen zu leisten imstande ist. Insofern bringt
Ideen befand. Ein Achsenbruch am Reisewa- es, ohne daß irgendeine direkte Beziehung
gen nötigte dazu, in Dingelstädt einen Tag zu zum Epos ablesbar ist, auf vermittelte Weise
verweilen. Daß G. diese Zeit nutzte, um den die innere Beziehung zu dessen Anliegen zum
Eingang zu dem geplanten Epos zu schreiben, Ausdruck: Dem menschheitsgeschichtlichen
zeigt an, um welche Thematik seine Gedanken Horizont, den das Epos ausbreiten sollte, ent-
kreisten, was ihn eigentlich beschäftigte. Das spricht das die übliche Anrufung von höheren
Ergebnis des Versuchs, »wie es mit ienem ver- Wesen ersetzende Bekenntnis- und Pro-
sprochnen Gedichte [Die Geheimnisse; d. Vf.] grammgedicht mit seiner Frage nach dem, was
gehn mögte« (an J. G. und Caroline Herder, Dichtung ist und vollbringen soll. Ungeachtet
8.8. 1784), sandte er noch am gleichen Tag den des Anflugs von Traditionalität, die die allego-
Herders in Weimar, verbunden mit der Bitte, risierende Gestaltungsweise dem Gedicht ver-
es »aufs baldigste« an Charlotte von Stein zu leiht, erweist es sich durchgehend als Spie-
übermitteln. Wiederholt hob er die Bedeutung gelung höchst individueller und unmittelbarer
hervor, die die Beziehung zu dieser Frau für Verhältnisse und Probleme. In ihm vollzog G.
die Entstehung und Stimmung des Werkes eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit
hatte: »Wenn ich das Gedicht anfange so ge- sich und der Welt. Zurückblickend auf die Wi-
schieht es nur um deinetwillen«, hieß es am dersprüche und Konflikte seiner bisherigen
24.7. 1784, noch bezogen auf das Projekt des Existenz, fragte er nach den Konsequenzen für
Epos; am 11. August, drei Tage nach der Ent- Gegenwart und Zukunft. Die Antwort ist einer
stehung der Zueignung, schrieb er der Ge- Instanz übertragen, die, als höheres Wesen er-
liebten: »Du wirst dir daraus nehmen was für scheinend, tatsächlich doch nur die Bewußt-
dich ist, es war mir gar angenehm dir auf diese seinsprozesse und Überzeugungen des Dich-
Weise zu sagen wie lieb ich dich habe«. ters selbst zum Ausdruck bringt.
G. empfand das Gedicht, das in einem Zug Eröffnet wird die Zueignung durch ein für
unterwegs entstanden war, als noch der Über- G. charakteristisches, in seinem Bezug auf
arbeitung bedürftig; darauf ist bereits im Be- konkrete eigene Erfahrungen ganz individuel-
gleitbrief an die Herders vom 8. August ver- les, zugleich symbolträchtiges und bedeu-
wiesen: »Es ist noch nicht alles wie es seyn soll tungsschweres Naturerlebnis. Das lyrische
ich hatte kaum Zeit die Verse abzuschreiben«. Ich, aus »leisem Schlaf« (V. 2) mit »frischer
Herder fertigte - vermutlich bevor er das Ge- Seele« (V. 4) erwacht, genießt - berganschrei-
dicht wie erbeten an Charlotte von Stein wei- tend - Erquickung und Beglückung in der
terleitete - eine Abschrift an und überlieferte Morgenfrühe. Da erhebt sich Nebel und deckt
so die sonst nicht erhaltene Erstfassung. G. als »trüber Flor« (V. 14) die Gegend. Die Sonne
nahm für den Erstdruck eine Menge kleinerer wiederum dringt hindurch und blendet mit
Zueignung 207

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Zueignung (Erstdruck)
208 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

ihrem jähen Glanz den Wanderer, der ihr »den gung auf bloß Individuelles. Aber auch eine
ersten Gruß zu bringen« ry. 21) gedachte. Als definitive Entscheidung, in der Frauengestalt
er die Augen »kühn« ry. 26) wieder öffnet, er- entweder die Muse der Dichtung oder die Göt-
scheint, »mit den Wolken hergetragen / Ein tin der Wahrheit zu sehen, läßt sich nicht
göttlich Weib« (Y. 29f.). Mit seinem Leben bis rechtfertigen. Angemessener scheint es, der
in die Kindheit hinein vertraut, erinnert sie inneren Bewegung des Gedichts folgend anzu-
ihn an die Befriedungen, die sie ihm in Situa- nehmen, daß das zunächst als Muse zu erken-
tionen der Unrast und des Leidens schenkte; nende, dann aber sich als Göttin der Wahrheit
beglückt erkennt er sie wieder, offenbar als die darstellende allegorische Frauenbild in schwe-
Muse seiner früheren Dichtung. Diese enthu- bender Bedeutung das schwierige Verhältnis
siastisch-hingebungsvolie, Übereinstimmung von Dichtung und Wahrheit zum Ausdruck
beanspruchende Wiedererkennung indessen bringt. Dies war übrigens nicht nur G.s Pro-
wird durch ihre Gegenrede problematisiert, blem in diesen Jahren, sondern wurde - in
eine einfache Anschließung an das Frühere Anknüpfung an eine bis in die Antike zurück-
verweigert. Wenn dem damals jungen Men- reichende allegorisierende Darsteliungstradi-
schen inzwischen größere Klarheit zugewach- tion - auch von Dichtem wie Schiller, Novalis
sen ist, so muß er auch die irrigen Ansprüche und Hölderlin, von Philosophen und Ästhe-
des früheren Zustands abtun. Er wird aufge- tikern mit gleicher Intensität und ähnlicher
rufen, sich selbst in Relation zu anderen Men- Tendenz diskutiert.
schen zu sehen und sich so zu befähigen, mit Für den Dichter der Zueignung sind Dich-
der Welt in Frieden zu leben. Diese Ermah- tung und Wahrheit nicht getrennt voneinander
nung nimmt er an: Nicht um seiner selbst wil- zu denken. Wahrheit ist gewiß das Ursprüng-
len will er mit dem Pfund seines Dichtertums lichste, aber ihre menschlichste Erscheinungs-
wuchern, sondern: »Für andre wächs't in mir weise ist in der Poesie gegeben, denn in reiner
das edle Gut« ry. 69), und: »Warum sucht' ich Gestalt ist sie dem Menschen weder zugäng-
den Weg so sehnsuchtsvoll, / Wenn ich ihn lich noch wäre sie ihm zuträglich. Das wird im
nicht den Brüdern zeigen soll?« ry. 71f.). Die- Gleichnis verdeutlicht: Wie später auch zu Be-
ses Bekenntnis löst die Spannung, die die ginn des zweiten Faust-Teils (Anmutige Ge-
Wechselrede erfüllte. Der morgendliche Wan- gend, Y. 4695-4727) führt der Versuch des
derer ist einer kostbaren Gabe wert geworden: Menschen, Sonne direkt zu schauen, zur Blen-
Die Nebelstreifen verwandeln sich in einen dung seiner Augen. Der Schleier der Dichtung
reinen und zarten Schleier, den ihm das gött- verhüllt das Licht der Wahrheit nicht, sondern
liche Frauenbild darreicht; der Dichter emp- macht dem Menschen überhaupt erst den Blick
fängt »Aus Morgenduft gewebt und Sonnen- darauf möglich. Aber es ist doch auch ein
klarheit, / Der Dichtung Schleier aus der Hand Blick, der durch den Schleier hindurch eine
der Wahrheit« ry. 95f.). Distanz bewahrt und ein letztes Geheimnis
Verständlicherweise haben diese Verse - unangetastet läßt. Das Gedicht ist damit
Kulminationspunkt des Gedichts - die Inter- gleichsam auch die Eröffnung des Weges zur
preten besonders beschäftigt. Daß in der Frau- symbolisierenden Kunst G. s.
engestalt auch Charlotte von Stein ein poe- Die Fähigkeit freilich, diese widerspruchs-
tisches Denkmal gesetzt ist, wie es frühere, volle Einheit erkennend wie gestaltend zu nut-
biographisch orientierte Interpreten beson- zen, ist von Individuum zu Individuum und
ders betonten, läßt sich angesichts der Zeug- von Lebensalter zu Lebensalter unterschied-
nisse, der persönlichen Aussagen in den Brie- lich ausgebildet. Der Rückblick auf das bishe-
fen, der Anklänge an biographische Gegeben- rige Leben erschließt dem lyrischen Ich der
heiten und geistige Beziehungen, auch der Zueignung Gewinne und Verluste. Es gehört
vergleichbaren Motive in anderen Werken, dazu, daß im Zuge der Annäherung an Wahr-
kaum abweisen, doch verbietet sich jede un- heit die Einsamkeit des Erkennenden unter
mittelbare Identifizierung und damit Einen- den Menschen gewachsen ist. Gleichwohl ist
Der Fischer 209

gerade die Einsicht in die soziale Verpflichtung rischem Schaffen; sie darf zu Recht an der
und Funktion seines Tuns die Voraussetzung Spitze der Gedichtsammlung erscheinen. Und
für die Einweihung in das Geheimnis der Poe- insofern hier die existentielle Problematik des
sie, die von der göttlichen Erscheinung voll- Dichters und der Funktion von Dichtung über-
zogen wird. In diesem gegenwärtigen Augen- haupt thematisiert wird, ist das Gedicht auch
blick der Erkenntnis und Berufung wird auch prädestiniert für die Stellung, die sein Schöp-
der Ausblick ins Künftige möglich: Der Dich- fer ihm gab, indem er es seinem Gesamtwerk
tung Schleier wird weiterhin Sänftigung, Lin- voranstellte.
derung, Heilung bringen, den Tag »lieblich«
und die Nacht »helle« ry. 104) machen. Und so
kann sich der Dichter in der Schluß strophe an Literatur:
die »Freunde« ry. 105) wenden, für die auch Boyd, James: Notes to Goethe's Poems. Vol. 1. Ox-
das Epos vorrangig bestimmt war. Für sie hat ford 1948, S.212-221. - GUNDOLF, S.288-295. -
er die Wahrheit gesucht, die darin poetisch Klaarmann, Rudolf: Goethes Zueignung von 1784.
vermittelt wird. In der Vereinigung mit ihnen In: Preuß.Jbb. 197 (1924), S. 31-46. - Nägele, Rai-
nimmt er Dichtung als Lebenshilfe, als Quelle ner: Das Imaginäre und das Symbolische. Von der
Anakreontik zum Schleiersymbol. In: Hoffmeister,
der Beglückung und als Bürgschaft für Unver-
Gerhart (Hg.): Goethezeit. Studien zur Erkenntnis
gänglichkeit in Anspruch und verheißt sie den und Rezeption Goethes und seiner Zeitgenossen. Fs.
»Brüdern« ry. 72). Freilich ist in dieser Schluß- Stuart Atkins. Bern, München 1981, S.45-63. -
wendung die Beziehung von Dichtung und STAIGER, Bd. 1, S.478-487. - Walzei, Oskar: >Der
Wahrheit wieder femgerückt, gleichsam unter Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit •. In:
einen Schleier gelegt. Die Rede ist von einer Euphorion. 33 (1932), S. 83-105.
Kunst, die gar nicht so sehr Erkenntnisme- Hans-Dietrich Dahnke
dium, sondern vor allem Zufluchtsstätte und
Trostmittel ist, eine der Heilkräfte, die die
Natur dem Menschen als ihrem Geschöpf mit
auf den schwierigen Lebensweg gegeben hat.
Das Gedicht gehört zu jenen Werken, in de-
nen sich das neue Selbstverständnis und Poe-
siekonzept ausspricht, das G. in seinem ersten
Der Fischer
Weimarer Jahrzehnt entwickelte. Die deutlich
in Erscheinung tretenden Züge von Selbstver-
gewisserung und Selbstkontrolle wie von Ori- Die Ballade Der Fischer ist 1778 entstanden.
entierung auf ein festes Maß, das in der Bezie- Genauere Daten zur Entstehung sind nicht zu
hung auf die Mitwelt gegeben wird, schlagen ermitteln; gelegentlich wurde ein Zusammen-
sich auch in der poetischen Sprache nieder. hang mit dem Selbstmord Christiane von Laß-
Die Wahl der strengen, wenngleich groß- bergs in der 11m gesehen, über den G., den
räumigen Form der Stanze ist zunächst natür- Bildbereich des gef<ihrlich anziehenden und
lich der Entstehung als Eingang zu den Ge- verlockenden Wassers benützend, im Brief an
heimnissen zuzuschreiben. Aber es geht hier Charlotte von Stein vom 19.1. 1778 spricht; er
nicht um die bloße Ausfüllung eines äußer- bittet Frau von Stein, nicht an die 11m zu ge-
lichen metrischen Schemas. G. nutzte die hen, und schreibt weiter: »Diese einladende
Stanze in seiner Lyrik zu großen Reflexionen Trauer hat etwas gef<ihrlich anziehendes wie
und Bekenntnissen, zu Lebensbilanzen und das Wasser selbst, und der Abglanz der Sterne
-ausblicken. Die strenge Form diente der Ge- des Himmels [ ... ] lockt uns«. Handschriftliche
winnung von Maß und Begrenzung, der äuße- Zeugnisse aus der Entstehungszeit sind nicht
ren wie dann auch der inneren Befriedung. In erhalten; überliefert ist Der Fischer in der Vor-
diesem Sinne zeigt sich die Zueignung als Er- lage, die G. für die Gedichtsammlungen im
öffnung einer bedeutsamen Linie in G.s ly- 1789 erschienenen achten Band der Schriften
210 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

erstellte. Auf dieser Vorlage beruhen die fol- Assonanz verbunden. In den Reimen der ein-
genden Ausführungen (nach MA 2.1, S. 42). zelnen Strophen sind unterschiedliche Vokal-
Für die späteren Ausgaben wurde die Ballade qualitäten vorherrschend; so wird etwa die
nur geringfügig verändert; seit den Neuen dritte vom hellen Vokal i und zugleich von der
Schriften ist sie der Gruppe Balladen und Ro- Negation >>nicht« dominiert, die zweimal als
manzen zugeordnet, die später lediglich mit Reim, zweimal als Anapher und ein weiteres
Balladen überschrieben ist. Eine vom Text in Mal innerhalb einer Verszeile wiederkehrt und
den Schriften leicht abweichende Fassung ver- noch durch Binnenassonanzen mit »sich«,
öffentlichte Siegmund von Seckendorff in sei- »dich«, »liebe« und »tiefe« verknüpft ist. In der
ner 1779 in Weimar erschienenen Sammlung Verbindung von rhythmischer Variation und
Volks- und andere Lieder; diese Fassung über- Spiel der Reime und Assonanzen entsteht ein
nahm Johann Gottfried Herder unter dem Ti- bezauberndes Klanggebilde, das in sich bedeu-
tel Das Lied vom Fischer in den gleichfalls tungstragend ist.
1779 erschienenen zweiten Teil seiner Volks- Mit einer eher distanziert vorgetragenen
lieder. epischen Darstellung setzt die Ballade ein; es
Die Ballade umfaßt vier metrisch identi- wird erzählt, wie ein Fischer am Wasser sit-
sche, achtzeilige Strophen, in denen jambische zend seiner Tätigkeit nachgeht, wobei seine
Vier- und Dreizeiler mit männlicher Kadenz hohe Konzentration: »ruhevoll«, »kühl bis ans
regelmäßig wechseln; die Strophen sind Ver- Herz hinan« hervorgehoben wird. Mit dem
dopplungen der vor allem in der englischen Auftauchen der Nixe aus dem Wasser über-
Volksballadentradition verbreiteten vierzeili- nimmt G. eine aus der Volksballadentradition
gen Chevy-Chase-Strophe. G. nützt das Me- vertraute Figurenkonstellation : Ein Mensch
trum in rhythmischer Vielfalt; so läßt er etwa erfährt die Begegnung eines zu ihm sprechen-
auf den ruhigen Fluß der fünften Zeile: »Und den nichtmenschlichen Wesens. Die zweite
wie er sitzt und wie er lauscht« den bewegten und die dritte Strophe gehören der Nixe und
Rhythmus der siebten Zeile folgen: »Aus dem ihrer durch Anklage und Verlockung bestimm-
bewegten Wasser rauscht«, in dem die Bewe- ten Rede an den Fischer, deren Kennzeichen
gung des Wassers beim Auftauchen der Nixe das Prinzip der Umkehrung ist. In Vertau-
ihren Ausdruck findet, oder er füllt mehrfach schung der üblichen Blickrichtung erscheint
den unbetonten Auftakt mit einem bedeu- der »tiefe« Himmel unten; das Versprechen der
tungstragenden Wort - z.B. in Vers vier »kühl«, Heilung ist mit einer Bewegung nach unten -
in Vers elf »lockt« oder in Vers 31 »halb« - und »Du stiegst herunter« (Y. 15) - verbunden, der
gibt ihm damit Gewicht. Überaus kunstvoll Tod hingegen mit der Bewegung nach oben -
wird auch das in der ersten Strophe voll ver- »hinauf in Todes Glut« (Y. 12); im Neologismus
wirklichte Reimschema des zweimaligen »wellenatmend« (Y. 19) erhält das Wasser die
Kreuzreims variiert. So bleibt in der zweiten Qualität der Luft, dem Tau wird das Epitheton
Strophe die erste Verszeile reimlos - sie kehrt »ewig« (Y. 24) beigegeben. Solche Umkehrung
jedoch leicht verändert in der vierten Strophe macht die Rede der Nixe verdächtig, und so
wieder. Die drei weiteren Vierzeiler sind erweist sich auch ihr Versprechen einer Ge-
durch Reim, die vier jeweils kreuzgereimten sundung als Betrug: Der Fischer geht, der Ver-
Dreizeiler insgesamt durch Assonanz mitein- lockung erliegend, in den Tod. In direkter
ander verbunden; in der dritten Strophe wird Wiederaufnahme der ersten Zeile der Ballade
das Kreuzreimpaar gen au wiederholt. Die im kehrt die vierte Strophe zum epischen Bericht
Spiel der Reime hergestellten Bezüge werden zurück; lapidar wird das Ende des Fischers
durch die Klanggestalt des Gedichts weiter erzählt. In der vielzitierten Zeile »Halb zog sie
verstärkt. So antwortet »sehnsuchtsvoll« in ihn halb sank er hin« (Y. 31) wird deutlich, wie
Zeile drei der vierten Strophe auf »ruhevoll« in in diesem Geschehen Verlockung durch die
der dritten Zeile der ersten; beide Worte sind Nixe und Begehren des Fischers zusammen-
durch gleichen Reim und die vorangehende kommen.
Der Fischer 211

Das Gedicht gehärt zu den bekanntesten Fragwürdig wird die traditionelle Deu-
Balladen G.s. Es war und ist in Anthologien tungslinie auch durch die Einsicht in die Er-
weit verbreitet, wurde häufig vertont, so etwa zählstruktur der Ballade (vgl. Laufhütte ). Der
von Johann Friedrich Reichardt und earl Erzähler nimmt eine kühl-distanzierte Hal-
Friedrich Zelter, von Franz Schubert, Hector tung ein und läßt außerdem keinen Zweifel
Berlioz, Hugo Wolf und Richard Strauss; und daran aufkommen, daß der Fischer den Tod
es hat zu zahlreichen Deutungen herausgefor- findet; vor allem aber ist die in den beiden
dert. Dabei wurde Der Fischer immer wieder mittleren Strophen ausgesprochene Verlok-
als naturmagische Ballade verstanden; er gilt kung Figurenrede, Rede der Nixe an den Fi-
zusammen mit dem vier Jahre später geschrie- scher, die nicht umstandslos als Aussage des
benen Erlkönig als paradigmatischer, diese Gedichts genommen werden darf. Diese Rede
Balladenart konstituierender Text, in dem die spielt zudem, vor allem in den beiden letzten
menschliche Erfahrung des Numinosen in der Zeilen der dritten Strophe: »Lockt dich dein
Natur gestaltet sei, als furchterregende und eigen Angesicht / Nicht her in ewgen Tau?«,
erschreckende oder - wie im Fischer - als auf den Mythos von Narcissus an, der sich an
faszinierend-überwältigende. In dieser bis in einer Quelle in sein Spiegelbild verliebt; der
die Gegenwart wirksamen Deutungstradition Kern der Nixenrede ist narzißtische Verlok-
wird das dem Fischer widerfahrende Gesche- kung. Das in der Ballade dargestellte Gesche-
hen als ein letztendlich glückhaftes Aufgehen hen ist damit vor allem ein psychischer Vor-
in der Natur verstanden, als Heilung, wie sie gang; es wird erzählt, wie der Fischer nar-
die Nixe verspricht. Die Ballade sei - so die zißtische Verschmelzungswünsche erfährt und
weitere Deutungslinie - als Kritik an der Auf- ihnen erliegt. Diese Einsicht eröffnet - über
klärung, vorrangig an deren Naturverständnis mögliche biographische Bezüge hinaus - un-
zu verstehen, als Darstellung von Gefühls- und terschiedliche Deutungsmäglichkeiten, die
Seelenkräften, welche die Aufklärung nicht nicht zuletzt davon bestimmt sind, wie die Tä-
beachtet habe, und von Naturkräften, die ra- tigkeit des Fischers am Anfang der Ballade
tionalem Zugriff sich entzögen. Solchen an verstanden wird, als lediglich auf Nutzen aus-
traditionellen literaturhistorischen Schemata gehende Ausbeutung von Natur (vgl. Stoye-
und traditionellen Gattungsbestimmungen der Balk, Isselstein Arese), für die der Fischer ge-
Ballade orientierten Deutungen ist mit Max wissermaßen bestraft wird, oder als elemen-
Kommerell entgegenzuhalten, daß für G. das tare, den Lebensunterhalt sichernde Arbeit,
naiv-magische Weltbild der Volksballade nur- die mit tragischer Notwendigkeit den zerstö-
mehr Erinnerung ist, mit der er »wie mit ei- rerischen Eingriff in die Natur bedeutet (vgl.
nem sinnreichen Aberglauben« spielt (S. 348). Wild). Jedenfalls wird im Fischer das mensch-
Dafür sprechen auch G.s eigene Äußerungen liche Verhältnis zur Natur poetisch reflektiert;
zum Fischer. Zu Johann Peter Eckermann be- er ist damit auch ein Zeugnis für den Wandel
merkte er am 3.11. 1823, in der Ballade sei in G.s Naturverständnis am Ende der 70er
»bloß das Gefühl des Wassers ausgedrückt, das Jahre, der mit dem Beginn seiner naturwissen-
Anmutige, was uns im Sommer lockt, uns zu schaftlichen Bemühungen einhergeht. Solche
baden«; und anläßlich einer Übersetzung der Einordnung der Ballade schließt andere Deu-
Ballade ins Französische durch Mme de Stael tungsmöglichkeiten nicht aus. So läßt sie sich,
soll G., wie Kar! August Böttiger berich- von der Wassermetaphorik ausgehend, die G.
tet, gesagt haben, die »Todes Gluth« in der häufig in entsprechenden Kontexten verwen-
zweiten Strophe sei nichts anders als »die det, auch als eine poetische Reflexion des Ver-
Kohlengluth in der Küche, an welcher die Fi- hältnisses von Verstand, Einbildungskraft und
sche gebraten würden« (GRÄF 3, 1, S.401) - Wirklichkeit, als Reflexion auf Kunst und
wobei diese ironisch übertreibende Äußerung Künstlertum lesen. Weiter werden in der Be-
wohl auch gegen die Übersetzerin gerichtet gegnung des männlichen Fischers mit einer
war. zugleich verlockenden und bedrohlichen
212 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

weiblichen Figur die Beziehungen zwischen Gesangsinterpretationen folgen, stellen eine


den Geschlechtern und, verbunden mit dem Normalisierung dar, die das dialogische Mo-
Motivkomplex von Eros und Tod, männliche ment zum Nachteil des balladesken Erzählens
Wünsche und Ängste zum Thema des Ge- betont.
dichts. Diese unterschiedlichen Möglichkei- Der Erlkönig verdankt seinen Namen einem
ten des Verstehens gegeneinander auszuspie- Irrtum. Johann Gottfried Herder übersetzte
len, wäre falsch, um so mehr, als ihr gemein- eine dänische Volksballade als Erlkö'nigs Toch-
samer Bezugspunkt die narzißtische Verlok- ter, und dabei wurde aus dem dänischen 'eller-
kung ist. konge<, d.i. Elfenkönig, eine Lesart, die durch
die niederdeutsche Bedeutung Eller = Erle be-
günstigt war. Diese Verbindung scheint 1780 in
Literatur: G.s Gesang der Elfen (Um Mitternacht; WA I,
GRÄF 3, 1, S. 401. - Isselstein Arese, Ursula: >Dem 4, S. 101) ausdrücklich gewußt, wenn die Elfen
Vater grauset's'. Zur Lektüre von Goethes Der Fi- »aufWiesen, an den Erlen« tanzen. Die däni-
scher und Erlkönig. In: Annali. Istituto Universitario sche Ballade (HSW 25, S. 443f.), auf die auch
Orientale. Studi tedeschi. 22 (1979), Nr. 2, S. 7-49.- Heinrich Heine hinweist (in Elementargeister,
KOMMERELL, S. 360f. - Laufhütte, Hartrnut: Die
deutsche Kunstballade. Grundlegung einer Gat- 1835), hat eine Verführung zum Thema. Am
tungsgeschichte. Heidelberg 1979. - Stoye-Balk, Eli- Vorabend seiner Hochzeit reitet Herr Oluf
sabeth: Weltanschauliche Aspekte der Goethe-Bal- übers Land, um seine Hochzeitsleute aufzu-
laden Der Fischer und ErlkO'nig. In: ZfG.3 (1982), bieten. Erlkönigs Tochter lädt ihn »in den Rei-
S. 293-302. - Wild, Reiner: Der Narziß und die Na- hen« (y. 6), um mit ihr zu tanzen, bietet erst
tur. Bemerkungen zu Goethes Ballade Der Fischer. güldne Sporen, ein Hemd von Seide und einen
In: LenzJb. 1 (1991), S. 168-187.
Haufen Goldes dafür. Als er sich immer noch
Reiner Wild weigert, wird er zu »Seuch und Krankheit«
(y. 20) verflucht und wird ihm ein Leids getan:
»Sie thät einen Schlag ihm auf sein Herz, I
noch nimmer fühlt' er solchen Schmerz«
(y. 21-22). Die Schlußworte der Ballade sind
markant genug: »und er war todt« (Y. 42).
Erlkönig Die Nähe zur Volksdichtung, als deren vor-
nehmste Gattungen Lied und Ballade gelten,
wird nicht verleugnet, eher betont, wenn der
Die Ballade eröffnet, von Dortehen gesungen, Erlkö'nig zuerst im Zusammenhang mit dem
G.s Singspiel Die Fischerin, das mit dem Un- Singspiel Die Fischerin erscheint. Die von G.
tertitel »Auf dem natürlichen Schauplatz zu sehr geschätzte Form des Singspiels bot viel
Tiefurth vorgestellt. 1782.« als Separatdruck Raum für gesprochenen Dialog und Improvisa-
in Weimar 1782 publiziert wurde. Mit leichten tion. Es wurde aus Anlaß eines Gartenfests der
Veränderungen, die vor allem die Interpunk- Herzoginmutter Anna Amalia am 22.7. 1782
tion betreffen - so wurden die Reden des Erl- erstmals vorgestellt. Den Einfluß von Herders
königs durch Anführungszeichen markiert-, Sammlung Volkslieder (1778179) hat G. selbst
nahm G. sie in die Schriften (Bd. 8,1789) auf. betont, indem er ihr mehrere Lieder für sein
In den Neuen Schriften (1800) findet sie sich Libretto entnahm (Der Wassermann, Wer soll
unter der Rubrik Balladen und Romanzen, seit Braut sein?), sich auch beim »berupften« Her-
der Sammlung von 1815 zwischen Der untreue der (an Caroline Herder, 17.7. 1782) mit dem
Knabe und Der Fischer unter den Balladen. Einladungsbrief entsprechend entschuldigte.
Für die Interpretation ist die Fassung des Erst- Der lockere Umgang mit dem geistigen Eigen-
drucks in Die Fischerin vorzuziehen (MA 2. 1, tum gehört schließlich zum Programm der
S.338f.). Die späteren Drucke (FA I, 1, Volksdichtung - das Lied verdanke sich, so
S. 303f. u. FA I, 2, S. 107f.), denen auch die Herder, nicht so sehr einem individuellen
Erlkönig 213

Schöpfer, sondern lebe im Ohr des Volks, auf schauerlichen Motive, hebt sie aber nicht ganz
den Lippen und der Harfe lebendiger Sänger. auf. Dortchen, die erst ängstlich, dann ärger-
G. selbst hatte sich 1771 im Elsaß als Lieder- lich auf die Rückkehr der Fischer, darunter
sammler »aus denen Kehlen der ältsten Müt- ihres Verlobten, wartet, gaukelt später, Rache
tergens« betätigt (an Herder, Herbst 1771). für die eigene Ungewißheit übend, unmutig-
Herder wiederum übernahm einige G.-Lieder übermütig den Männern vor, sie sei ertrunken.
anonym in seine späteren Sammlungen. Das dänische Lied vom Wassermann gibt dem
Die Begegnung mit Herder 1770 in Straß- losen Spiel ein ernsthaft-magisches Relief.
burg war es auch, die G. bestärkte, Gefühl, Das Singspiel, dessen kontextuelle Bedeutung
Leidenschaft, Phantasie unmittelbar als Basis für die Ballade neuerdings besonders betont
der Poesie anzuerkennen. »Mein ganzes Ich ist wird (vgl. Belgrad/Fingerhut), geht gut aus.
erschüttert«, heißt es in einem Brief an Herder Die Suche nach der vermeintlich Ertrunkenen
(Sommer 1771), darin griechische Nacktheit, ist die Keimzelle des Stücks. Einmal als Motiv:
also Unmittelbarkeit des Ausdrucks, gegen am 17.1.1778 war Christiane von Laßberg, die
»spanische Tracht und Schminke« gesetzt wer- Tochter eines weimarischen Obersten, bei G.s
den. Wie »Gedank' und Empfindung Gartenhaus mit dem Werther in der Tasche tot
den Aus d ru c k bildet«, habe er von ihm aus der 11m geborgen worden, ein Freitod aus
gelernt (an Herder, 10.7.1772). Herders Brief- enttäuschter Liebe. G. schreibt an Frau von
wechsel über Ossian entwickelt die neue Poetik Stein über die Wirkung auf seine Diener und
als Volkstradition, hebt hervor, »daß Nichts in warnt auch die Freundin: »schonen Sie sich
der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe hat, und gehn nicht herunter [an den Fluß; d.
als Lieder des Volks«: »je älter, je Volksmässi- Verf.J. Diese einladende Trauer hat was ge-
ger, je lebendiger; desto kühner, desto werfen- fahrlich anziehendes wie das Wasser selbst,
der«. Die Wirkung dieser Poesie schließt kei- und der Abglanz der Sterne des Himmels der
nen aus: >>Und wer ist's, ders nicht verstünde, aus beyden leuchtet lockt uns« (19.1. 1778).
der nicht eben daher auf eine dunkle Weise, Theatralisch war die Suche zugleich der Höhe-
das lebendige Poetische empfande?« (HSW 5, punkt des Spiels, wie eine Anmerkung G.s
S. 186f.). In dieser Weise »kühn geworfen, ab- bezeugt: Die Zuschauer waren so gesetzt, »daß
gebrochen und doch natürlich, gemein, volks- sie den ganzen schlängelnden Fluß hinunter-
mäßig« (ebd. S. 189) läßt sich auch G.s Ballade wärts vor sich hatten« (WA I, 12, S. 105). Auf
verstehen, als Kunst im Volkston, als erreichte das Rufen des Chors hin (»Und zündet Schlei-
Einheit von Volks- und Kunstpoesie. Wenig sen, I Und brennet Fackeln I Und Feuer an!«;
überzeugend wird sie einmal der einen, dann MA 2.1, S. 348, V. 18ff.) loderten überall flak-
der anderen zugeschlagen. Die Behandlung kernde Feuer auf, die perspektivisch auf die
der Natur als eines unverfügbaren Gegenbe- Landschaft bezogen waren. G.: »Selten hat
reichs mit eigenen Kräften und Strebungen man eine schönere Wirkung gesehen« (WA I,
stellt sich gegen das rationalistische, von theo- 12, S. 105).
logischen Denkmotiven inspirierte Konzept ei- Biographisch scheint die Ballade auch einen
ner >natura pura<. Die Erlkönig-Ballade folgt, starken Impuls durch G.s Nähe zu Fritz, dem
formsemantisch gesehen, einem Doppelrno- dritten Sohn der Familie von Stein, erhalten zu
tiv: der Beschwörung der Natur als »Kraft, die haben, dessen jugendliche Anmut (»ein gar
Kraft verschlingt«, und dem »Widerspiel« des gutes schönes Kind«; an Catharina Goethe,
Kunstanspruchs, der »zerstörenden Kraft des 7.12.1785) ihn faszinierte und der von 1783 bis
Ganzen« ein Werk entgegenzusetzen, das sol- 1786 unter seiner Obhut lebte. 1776 schreibt
che Kräfte zu bannen vermag (vgl. G.s Sulzer- G. an die Mutter, an Charlotte von Stein: »Es
Rezension 1772; WA 1,37, S. 210). ist ein liebes Geschöpf wie ich eins für mich
Die Erlkönig-Ballade wird im Singspiel von haben mögte, und dann nichts weiter geliebt.
Dortchen gesungen, und zwar gleich zur Eröff- ich bin des Herztheilens überdrüssig«
nung. Die folgende Handlung sänftigt die (16./17.7.1776). Diese und andere Zeugnisse
214 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

- man vergleiche den Brief an Charlotte von Gundolf hat als das Neue an G.s Lyrik hervor-
Stein vom 20.9.1783 - legen eine erotische, gehoben, daß hier die unsichtbare Natur sicht-
gar sexuelle Dimension nicht direkt nahe. bar gemacht ist, »nicht nur an Körpern, son-
Gleichwohl sind entsprechende Gesten in der dern die Bewegung selber ward Melodie,
Ballade immerhin stark betont, was die auto- Stimme, Wort«; die »Distanz zwischen Symbol
biographische Deutung ein wenig relativiert. und Erregung, die bei aller früheren Lyrik be-
Einengung bedeutet immer auch Sinnver- steht«, sei bei G.s besten Gedichten aufge-
schiebung (vgl. Ekmann). Auch auf den Ein- hoben: »das Gefühl braucht keinen Bildleib,
fluß von Shakespeares Ein Sommemachts- sondern hat gleich einen Klangleib« (S. 101f.).
traum hat man hingewiesen, der sich durch Ein treffender Hinweis, der die übliche Rede
Wielands Oberon (1779) verstärkt haben mag vom Eidetiker G. einzuschränken vermag und
(vgl. Sintenis); ob das Motiv des indischen auf G.s Schrift Ballade. Betrachtung und Aus-
Knaben, der Überon, dem Fürsten des Elfen- legung zurückverweist. Darin heißt es: »Die
und Geisterreichs, von Titania vorenthalten Ballade hat etwas Mysterioses, ohne mystisch
wird, für eine Einflußthese ausreicht, sei da- zu sein [ ... ] Das Geheimnißvolle der Ballade
hingestellt. entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger
G.s Ballade übernimmt die Grundstruktur, [ ... ] bedient sich daher aller drei Grundarten
die bedrohliche Begegnung mit der anderen der Poesie« (WA I, 41.1, S. 223).
Welt, der Welt des Anderen, und einige zen- Die Dialogform hat G. gleichfalls dem
trale Motive von Erlkönigs Tochter. Herr Oluf Volkslied abgesehen, das kühn Geworfene,
»reitet spät und weit«, heißt es in der ersten Sprunghafte erscheint nun vor allem als lako-
Zeile. Elfentanz und versuchte Verführung fol- nische, überraschende Führung der Hand-
gen. Auch die Form hält sich an die Vorlage: lung; der Erzähler tritt nur in der ersten und
der durchgängig gebrauchte Paarreim, die letzten Strophe hervor, ansonsten entwickelt
männliche Kadenz, der vierhebige Jambus, sich das Geschehen als Personenrede. Anders
der beim Tanzangebot an üluf in den Daktylus als in der Vorlage, gibt es zwei Reiter: Der
übergeht: »Tritt her in den Reihen und tanz Vater hält den Sohn, eine ungeheure Zuspit-
mit mir« (V. 6). Bei G. heißt es dann: »Und zung der Verführungssituation, wird doch die
wiegen und tanzen und singen dich ein« Sicherheit, welche die bürgerliche Familie ih-
(MA 2.1, S. 339, V. 8). Die unregelmäßige Un- rem Nachwuchs verheißt, sarkastisch an die
termischung der Jamben mit entgrenzenden Naturmächte verloren. Eine Radikalisierung
Daktylen bei G. deutet man also zu einseitig, ist auch darin gelegen, daß G. den Erlkönig
nimmt man sie nur als eine metrische Illustra- anstatt seiner Tochter auftreten läßt. Liebe
tion des Reitens. Emil Staiger, der auf die Pa- wird mehrfach zweideutig. In der Oluf-Bal-
rallele in Gottfried August Bürgers Lenore ver- lade ging es um die Konkurrenz von ehelicher
weist, hat freilich den Ritt durch die finstere Liebe und nicht-lizenziertem Eros, hier tritt
Nacht als ein Leitmotiv der Epoche des Sturm noch die sexuelle Inversion hinzu, der Erl-
und Drang herausgearbeitet: »Die ange- könig wird durch die schöne Gestalt des Kna-
spornte Lebenskraft, die forcierte Bewegung, ben gereizt und ist zu Gewaltanwendung, zu
für die der Wald und die Heide, bei Bürger Vergewaltigung bereit, ein Skandalon, das
sogar der Himmel, ihrerseits in Bewegung ge- schwer zu entwörtlichen ist.
raten und ein bedrohliches Aussehen gewin- Die Interpreten haben diese Deutlichkeit
nen, erscheint als Wesenszug eines Ge- des Textes mehrheitlich als Problem empfun-
schlechts, das mit Gewalt aus der nüchternen den und ihre Mittel dazu eingesetzt, dies zu
Ruhe der Aufklärung zu entfliehen begehrt vertuschen. Vom Fieber des vom Tode gejagten
und selbst ein grausiges Irrsal dem Aufenthalt Kindes ist die Rede, nicht in G.s Text, aber in
in enträtselten Räumen vorzieht« (S. 344). zahlreichen Interpretationen. Gundolf spricht
Von einem besonderen Rhythmusgefühl von den »dunklen Urschauern«, der »Verlaut-
zeugt auch die Zäsurengestaltung. Friedrich barung der chaotischen Urnatur«, immerhin
Erlkönig 215

mit einer kulturkritischen Pointe, dem Hin- Merkelbach G. als einen vom Zwiespalt ge-
weis auf die »Verdrängung der Naturschauer plagten Dichter vorzustellen sucht. Die breit
aus Kult und Mythus«; das lasse den vorita- geführte literaturdidaktische Diskussion ist
lienischen G. als Kritiker »eines schon völlig vor allem ideologiekritisch ausgerichtet: Wo
vergesellschafteten Zeitalters« erscheinen der Triumph der feindlichen Naturkräfte nur
(S.506f.). gefeiert werde, sei der Protest kaum mehr hör-
Gern wird allegorisch gelesen. Erich Trunz bar, aber die erzielte Demutshaltung fatal. Fast
hebt auf die Gegensätze ab, welche die Ballade entspannt wirkt es dagegen, wenn der Erl-
als Gestalten gegeneinander stellt. Der Vater, könig als klassisches Horror-Gedicht charak-
als »der verstandeskühle, dem Tag angehö- terisiert wird. Das klingt schnoddrig, sagt aber
rende Mensch des Lebens« (S.481), stehe, vielleicht mehr als der eingebürgerte Begriff
»historisch gesprochen« (ebd.), für den Auf- der , naturmagischen < Ballade. Man hat mit
klärer. Das Kind gehört, mit dem Künstler und Recht davor gewarnt, aus der Form unmittel-
der Frau, zu den für Magie empfindlichen bar ein heidnisches All-Verbundensein G.s mit
Menschen. Eine Parteinahme wird vermieden: der Natur abzuleiten, und auf die dichterische
das Ende der Ballade gebe »dem Kinde recht, Arbeit hingewiesen. Über die Aussage-Inten-
und dennoch ohne den Vater überzeugen zu tion der Ballade ist damit noch nichts ent-
können« (ebd.). Der Erlkönig wird so als eine schieden: Gibt der Erzähler dem Kind recht
Erscheinung der Natur genommen, die zu dem (Trunz), will er es in die Gesellschaft inte-
Menschen »lockend, bezaubernd, beglückend griert wissen (Fritsch), oder kritisiert er das
und tötend« (ebd.) in Beziehung trete, eine Kind aufs schärfste (Freund)?
Deutung, die von dem von Georg Christoph Auf ein zentrales Formmotiv ist zu achten:
Tobler verfaßten Fragment Natur aus dem Der Text ist ein Gewebe von Stimmen, minde-
Tiifurter Journal 1783 inspiriert erscheint. stens vier lassen sich unterscheiden (vgl. von
Darin heißt es: »Sie baut immer und zerstört Bormann). Das Gegeneinander mehrerer
immer [ ... ] Die Menschen sind all in ihr und Stimmen freilich ist für uns nur vernehmlich,
sie in allen. Mit allen treibt sie ein freund- wenn wir dem Knaben folgen. Denn der Vater,
liches Spiel, und freut sich, je mehr man ihr »zu vernünftig brav« (Mann, S. 140), sieht und
abgewinnt. Sie treibts mit vielen so im verbor- hört nichts. Ihm schweigt jene Wirklichkeit,
genen, daß sies zu Ende spielt, ehe sies mer- welche die Aufklärung als unvernünftig aus-
ken. Auch das Unnatürlichste ist Natur. Wer sie grenzte, als das Andere der Vernunft für nich-
nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo tig erklärte. »Nebel«, »dürr«, »grau« (MA 2.1
recht« (HA 13, 45f.). S. 338, V. 8; S. 339, V. 4 u. V. 12) - die ,Erklä-
Die Interpretationen seit den 70er Jahren rungen< des Vaters sind so eindeutig leer, daß
arbeiten mit zeitgenössischen Theoremen, es wenig sinnvoll erscheint, ihn wie Björn Ek-
wobei die Tendenz zunimmt, den Text selber mann als Perspektivpunkt des Verständnisses
so schnell wie möglich auf eine begriffliche zu wählen. Der Hinweis auf den möglichen
Bedeutung zu bringen. Gegensatzpaare sollen biographischen Hintergrund entscheidet
ihn fangen helfen: Emotionalität versus Reali- nichts: G.s Verhältnis zu Fritz von Stein kehrt
tätsprinzip, soziale Anarchie versus Ordnung, in allen drei Figuren wieder, im Vater, im
wirklichkeitsauflösende (Erlkönig) versus rea- Erlkönig, im Sohn. In der Deutung Staigers ist
litätssichernde Sprache (Vater) (vgl. Fritsch das übersehen, wenn er in der Figur des
1976); Sturm und Drang versus Klassik, unge- Erlkönigs nur »die Gier eines elbischen
zügelte Triebkräfte versus Ordnungsplanung, Mannes« (S. 345) wahrnimmt, den Vater
destruktive Einbildungskraft versus Geist der klar und beherrscht nennt, den von G. so ein-
Aufklärung, bürgerliche Mittelschicht versus dringlich beschworenen Gegenbereich auf
Adel und Großbürgertum (vgl. Freund 1978). Polizeisprache herunterbringt: »dies Verderb-
Jedenfalls erscheint G. in diesen Deutungen liche, aller das Leben der Menschen erhal-
als Parteigänger des Vaters, während Valentin tenden Ordnung Fremde« (ebd.). Diese Deu-
216 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

tung zeigt sich vom Ende der Ballade unbe- men des Erlkönigs und den Erscheinungen der
lehrt. Töchter leugnet der Vater den Bereich des Un-
Jörn Stückrath (1987) sucht, zunächst mit bewußten, des Begehrens, des Imaginären,
Hilfe eines »elementaren Figurenkonzepts«, des Sexus. Das Kind hat rein zu sein und koste
herauszufinden, was in der Auseinanderset- es sein Leben. Es hat ja auch wirklich eine
zung mit dem Text konsensfahig sei: »daß das kulturelle Revolution bedeutet, als Freud die
Kind sich bedroht und verletzt fühlt von einer Sexualität der Kinder und Heranwachsenden
männlichen Person, die es begehrt und mit zum Thema machte, was zugleich ein anderes
Versprechungen lockt ... Es ist bang, ängst- Licht auf den Komplex> Verführung< warf.
lich, hilflos seinen Wahrnehmungen ausge- Gegenwärtig scheint die Vielstimmigkeit
setzt«; der Appell an Hilfe bleibe unbeantwor- des Textes ernster genommen zu werden; ent-
tet (S. 478). Im Hinblick auf die älteren Inter- sprechend darf die Interpretation diese nicht
pretationen stellt Stückrath wiederum fest, eindeutig machen wollen. Neuere Theoriean-
wie erstaunlich vage und abstrakt sie gegen- sätze haben auf die Schwierigkeit aufmerksam
über den in der Ballade konkretisierten Äng- gemacht, das Andere der Vernunft zur Aner-
sten und potentiellen Wünschen des Knaben kennung zu bringen - Ausgrenzung oder Ver-
bleiben; eine Angst vor Bedeutungsvarianten einnahmung seien die Reaktionen. G.s Ballade
kennzeichne sie. ist dafür ein Kronbeispiel, geht sie doch, mit
Was verspricht der Erlkönig eigentlich? Ver- diesem Ansatz gesprochen, von der Angst-
lockungen, schöne Spiele, Blumen, Kleider - spannung aus, die zwischen der Vernunft und
das klingt harmloser, als es gemeint ist. Die der von ihr beherrschten inneren und äußeren
Versprechungen gelten dem Heranwachsen- Natur besteht: »Diese wird im vernunftorien-
den, um den sehr ausdrücklich vom >Mit- tierten Selbstbewußtsein und erst recht im
schnacker< Erlkönig selbst geworben wird. philosophischen Diskurs verleugnet. Die reale
Die Töchter werden als Mittel der Verführung, Angst, die den vorrationalen Menschen in sei-
wohl auch zur Kaschierung des direkten Ha- nem Verhalten zu Naturmächten, zu überwälti-
benwollens eingesetzt. Der Knabe nimmt rich- genden eigenleiblichen Regungen und zu po-
tig wahr, daß es um ein geschlechtlich getöntes tentiell bedrohlichen Gegenübern erftillt,
Begehren geht. Der Erlkönig weiß, sozusagen weicht einer irrationalen inneren Angst vor
mit Freud, daß dieses in der Adoleszenz noch dem Verdrängten, die nur aufhebbar scheint
in beide Richtungen spielt, vielleicht auch des- um den Preis des Untergangs des Selbst, in
halb das Doppelangebot (»mit mir«/ »meine welchem der Mensch sich in Besitz genommen
Töchter«; MA 2.1, S. 338, V. 9 u. S. 339, V. 6). zu haben vermeint« (Böhme/Böhme, S. 18). So
Können wir aber vom Begehren des Erlkönigs stünde, produktionsästhetisch gesprochen,
auf das des Jungen schließen, wie es manche der Erlkö"nig in der Nachfolge der Leiden des
Interpretationen tun? Nicht ohne weiteres. jungen Werthers (1774), indem er Spannungen
Der Text erlaubt nur, von einer gesteigerten zu ihrem Ausdruck verhilft, die das Subjekt,
Wahrnehmungsfahigkeit des Knaben für das bliebe es sprachlos, zu sprengen vermöchten.
Begehren des andern auszugehen. Der Erlkö-
nig ist, auch durch den Ausgang, als Realität
gesetzt, wie in der Volksdichtung üblich. Das Literatur:
sollte man nicht als Projektion des ängstlichen Belgrad, Jürgen/Fingerhut, Karlheinz: Willst feiner
Knaben, als Fieberphantasie oder ähnliches Knabe du mit mir gehn? Rezeption und Interpreta-
entmächtigen, dazu gibt es keinen Anhalt. Ge- tion, Phantasiearbeit und archäologische Methode -
wiß deutet die Empfanglichkeit des Sohnes aufgezeigt an G.s Erlkönig. In: DD.97 (1987),
S. 436-461. - Böhme, Hartmut/Böhme, Gernot: Das
auch auf eigene ungeklärte Gefühle. Aber wie
Andere der Vernunft. Frankfurt/M. 1985. - Bor-
sollten die sich auch klären, unter der Obhut mann, Alexander von: »Gebundenen Sinn zu verän-
einer solch dürren, grauen Vernunftposition! dern«. Franz Hebels Überlegungen zur Habitus-In-
Er bleibt ohne die erflehte Hilfe. Mit den Stim- terferenz und das Problem >gelingender< Interpreta-
Der Sänger 217

tion. In: Hoberg, Rudolf (Hg.): Texterfahrungen. Fs. mit der Überschrift Der Sänger versehen, die
Franz Hebel. Frankfurt/M. 1986, S.28-35. - Bra- den Romanfassungen fehlt - wurde es erstmals
ches, Ernst: Erlkönig ontraadseld [E. enträtselt].
im 1800 erschienenen siebten Band der Neuen
Overveen 1982. - Ekrnann, Björn: Verfremdung in
der Erlebnislyrik. In: Text und Kontext. 15 (1987), Schriften gedruckt; es eröffnet dort die Ab-
S.97-108. - Freund, Winfried: Die deutsche Bal- teilung Balladen und Romanzen (FA I, 1,
lade. Theorie, Analysen, Didaktik. Paderborn 1978.- S. 659f.). Diese Stellung nimmt es auch in der
Fritsch, Gerolf: Die deutsche Ballade zwischen Her- ersten Werkausgabe bei Cotta ein (Bd. 1,
ders naturaler Theorie und später Industriegesell- 1806); in den beiden weiteren Werkausgaben
schaft. Stuttgart 1976. - GUNDOLF, S.98-106 u.
(Bd. 1, 1815; Bd. 1, 1827) ist es an die zweite
S.504-513. - HSW 5 und 25. - KOMMERELL,
S. 350-355. - Mann, Golo: Die Urballade. In: Reich- Stelle der Abteilung gerückt, die nunmehr nur
Ranicki, Marcel (Hg.): 1000 Deutsche Gedichte und noch mit Balladen überschrieben ist. Für die
ihre Interpretationen. Bd. 2. Frankfurt/M. 1994, Veröffentlichungen in den Werkausgaben wur-
S.139-141. - Merkelbach, Valentin: Goethes Erl- den weitere kleinere, vornehmlich stilistische
könig - museales Erbstück oder was sonst noch? Änderungen vorgenommen, während bei den
Ästhetische, ideologische und didaktische Aspekte
späteren Drucken der Lehrjahre der Text von
eines Balladen-Evergreens. In: 00.83 (1985),
S. 313-326. - Sintenis, F.: Zum Erlkönig. In: Goe- 1795 weitgehend erhalten blieb; die Ballade
theJb. 22 (1901), S.258-262. - STAIGER, Bd. 1, ist so in zwei voneinander etwas abweichen-
S. 328-349. - Stückrath, Jörn: Wider den Relativis- den Texttraditionen überliefert. In den neue-
mus im Umgang mit Literatur. Ein Vorschlag zur ren G.-Ausgaben wird bei der Wahl der abge-
inhalts bezogenen Erschließung narrativer literari- druckten Fassungen unterschiedlich verfah-
scher Texte am Beispiel von Goethes Erlkönig. In:
ren; so hat die Frankfurter Ausgabe bei den
00.97 (1987), S. 468-524. - Träger, Christine: Die
Ballade als Modellfall genretheoretischer Erörte- Gedichten die Fassung von 1800, die Ham-
rung bei Goethe. In: GoetheJb. 94 (1977), S. 49-68. burger Ausgabe die von 1815; beim Wilhelm
- Trunz, Komm. in HA 1, S. 565-566. - Zons, Raimar Meister bringen die Münchner Ausgabe und
Stefan: Ein Familienzentrum: Goethes Erlkönig. In: die Frankfurter Ausgabe die handschriftliche
Fugen. Deutsch-Französisches Jahrbuch für Text- Fassung der Theatralischen Sendung und bei
analytik (1980), S. 125-131.
den Lehrjahren den Text von 1795, die Ham-
Alexander von Barmann burger Ausgabe hingegen bietet die Lehrjahre
in der Fassung der Ausgabe letzter Hand. Die
Ballade wurde mehrfach vertont. Dem Erst-
druck in Wilhelm Meisters Lehrjahren war,
ohne Namensnennung, die Vertonung von Jo-
hann Friedrich Reichardt beigegeben; weitere
Vertonungen gibt es u.a. von Carl Friedrich
Der Sänger Zelter, von Franz Schubert, Robert Schumann
und Hugo Wolf.
Die von G. für den Sänger gewählte Stro-
phenform ist zweiteilig, einem vierzeiligen
Die Ballade Der Sänger ist in ihrem Ursprung Aufgesang folgt ein dreizeiliger Abgesang. Der
eine Liedeinlage im Wilhelm Meister; sie ent- Aufgesang hat Kreuzreim und zeigt einen re-
stand wahrscheinlich 1783 während der Arbeit gelmäßigen Wechsel von Vierhebern mit
am vierten Buch von Wilhelm Meisters Thea- männlicher Kadenz und Dreihebern mit weib-
tralischer Sendung, in dessen zwölftes Kapitel licher Kadenz; der Abgesang besteht aus ei-
sie aufgenommen wurde. Mit einigen Ände- nem vierhebigen Reimpaar mit männlicher
rungen übernahm G. das Gedicht in Wilhelm Kadenz und - als abschließender Zeile - ei-
Meisters Lehrjahre (12. Buch, 11. Kapitel); im nem reimlosen dreihebigen Vers. Das Metrum
Erstdruck des Romans 1795 wurde es erstmals ist durchweg jambisch. Die Zweiteiligkeit der
veröffentlicht (MA 5, S. 127f.). Als selbstän- Strophenform wie auch die Möglichkeit, im
diges Gedicht - erneut leicht verändert und Aufgesang nach der zweiten Zeile eine Zäsur
218 Lyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts. 1776-1786

zu setzen, hat G. in den einzelnen Strophen Im Wilhelm Meister ist die Ballade der Figur
des Sängers mehr oder weniger streng rea- des Harfners zugeordnet, er singt sie bei sei-
lisiert. nem ersten Auftreten; sie läßt sich damit als
Diese siebenzeilige Strophenform gehört zu eine Selbstcharakterisierung des Harfners ver-
den häufigsten der deutschen Lyrik, und sie stehen. So wird sie auch von den anderen Fi-
hat eine wechselvolle Geschichte. Sie kommt guren des Romans verstanden, voran von Wil-
bereits in der mittelalterlichen Dichtung, in helm Meister; und immerhin wird die Bitte
Minne- und Vagantenlyrik, vor; vor allem aber des Sängers im Gedicht um einen »Trunk des
ist sie, nach dem Vorbild Martin Luthers, nach besten Weins«, wie es in der Lehrjahre-Fas-
dem sie gelegentlich auch Lutherstrophe ge- sung heißt 0f. 13), im Roman für den Harfner
nanntwird, im 16. und 17. Jh. im evangeli- erfüllt. Auffällig ist allerdings die Diskrepanz
schen Kirchenlied, im 18. Jh. insbesondere im zwischen dem am Königshof selbstbewußt auf-
pietistisch geprägten Gemeindegesang weit tretenden, die materielle Entlohnung zurück-
verbreitet. Im letzten Drittel des 18. Jhs. wird weisenden Sänger der Ballade und der Bettler-
sie, zunächst mit parodistischer Tendenz etwa Gestalt des Harfners im Roman; die Breite der
in der Bänkelsangtradition, in die weltliche Möglichkeiten einer freien Dichterexistenz ist
Lyrik übernommen. Für Bänkelsang und für darin angedeutet. Diese Spannung eignet auch
Romanzen und Balladen nützt sie dann G.; als dem aus dem Romankontext gelösten, selb-
eine altdeutsche Strophenform wird sie in der ständigen Gedicht, das vornehmlich als ein
Romantik und das 19. Jh. hindurch, vornehm- poetologisches zu lesen ist; darin liegt ein wei-
lich als Form für Balladen und für gesellige terer Grund für die ihm zugewiesene heraus-
Lieder, oft gebraucht. gehobene Stellung in den Gedichtbänden der
Dem Formsignal des Altertümlichen, des Werkausgaben. Die selbstbewußte Geste des
Archaischen entspricht das mittelalterlich an- Sängers ist eine Proklamation seiner Unab-
mutende Kolorit der vorgestellten Szene des hängigkeit und ebenso seiner Gleichrangigkeit
Sängers am Königshof mit »Rittern« 0f. 23) mit dem König, den er schließlich um den
und »schönen Damen« 0f. 9). Ihm entspricht »besten« Wein in einem Becher aus »purem
auch die knappe, auf das Wesentliche konzen- Golde« 0f. 34f.) bittet. In dieser Geste ist aber
trierte Erzählweise, die zum Allgemeinen, gleichermaßen festgehalten, daß der Sänger
zum Typischen tendiert. Die Tendenz der Typ i - außerhalb der Gesellschaft steht, außerhalb
sierung ist in der Fassung der Lehrjahre noch des Hauses 0f. 38), das er, so läßt sich am
deutlicher ausgeprägt als in den Versionen der Schluß des Gedichtes denken, wieder verläßt.
Lyrik-Bände und auch der Theatralischen Sen- Ambivalent ist damit auch die zentrale, in eine
dung; so wird etwa in der Lehrjahre-Fassung leichte, fast heitere Metapher gekleidete poe-
aus der Mehrzahl der »Ritter« und der »Schö- tologische Aussage des Gedichts: »Ich singe,
nen« der pointierende Singular »Der Ritter« wie der Vogel singt, / Der in den Zweigen
und »die Schöne« 0f.17f.). Im Wechsel zwi- wohnet« 0f. 29f.). Sie ist Erklärung von Unab-
schen Erzählung und Figurenrede von König hängigkeit und Freiheit; diese aber bedeuten
und Sänger erreicht G. zudem eine auf den sozialen Ausschluß, Vereinzelung und Einsam-
einen Moment einer durchaus dramatischen keit. Und wenn in den beiden folgenden Zei-
Szene konzentrierte Darstellung. Der Sänger len, im »Lied«, das sich selber »Lohn« ist
ist so, einige Zeit vor den gattungstheoreti- 0f. 31f.), die Selbständigkeit der Kunst ange-
schen Bemühungen G.s und Schillers, auch ein sprochen, das Postulat ihrer Autonomie ange-
Beispiel für G.s Bestimmung der Gattung Bal- spielt ist, so nennt die Ballade auch den Preis,
lade als einer Mischform der drei Grundfor- den der Sänger, der Dichter und Künstler da-
men des poetischen Sprechens; darin ist auch für bezahlen muß: daß er »kein Amt und keine
die herausgehobene Stellung begründet, die Ehre [ ... ] im Weltwesen« (KoMMERELL,
G. dem Gedicht in den Lyrikbänden seiner S. 402) hat, dadurch allerdings auch nicht fest-
Werke zunächst gegeben hat. gelegt wird. So ist in Der Sänger auf eine eher
Der Sänger 219

spielerische Weise ein Thema gestaltet, das G. Literatur:


immer wieder und in unterschiedlichen Gat- KOMMERELL, S. 376-377, 402 u. 415.
tungen und Formen bearbeitet hat, so in Tor-
quato Tasso, in Faust II oder in anderen Ge- Reiner Wild
dichten, und das zugleich ein zentrales Thema
der Poetik und Ästhetik der Moderne ist.
220

Lyrik der klassischen Zeit. sich allgemein als Tendenz zur Objektivierung
kennzeichnen. Deren Voraussetzung ist eine
1787-1806 Haltung der Distanz, die bei der Lyrik ihren
Ausdruck u.a. in dem Bemühen G.s zur Grup-
pierung der Gedichte, zur Bildung von En-
sembles findet. Die Gedichte werden nach
Tendenz zur Objektivierung Kriterien wie Ähnlichkeit von Form, Motivik
oder Stoff, wie narrative Folge oder dramati-
sche Steigerung geordnet; es entsteht ein den
In den anderthalb Jahren des italienischen einzelnen Text übersteigender Verweisungszu-
Aufenthalts hat G. vergleichsweise wenige Ge- sammenhang. Damit werden die ursprünglich
dichte geschrieben. Die literarische Produk- biographischen Kontexte der Entstehung
tion in Italien ist vor allem von dem Bemühen durch textuelle Bezüge ersetzt oder jedenfalls
bestimmt, bisher unvollendete Werke fertigzu- ergänzt und erweitert. In den späteren Werk-
stellen und fUr den Druck in den seit 1787 ausgaben ist diese Tendenz zur Bildung von
erscheinenden Schriften, der ersten von G. Ensembles noch stärker ausgeprägt. So bietet
selbst veranstalteten Sammelausgabe seiner der siebte Band der Neuen Schriften die Grup-
Werke, vorzubereiten. Im Bereich der Lyrik pen Lieder, Balladen und Romanzen, Elegien I
gilt Vergleichbares; G. besorgte die Vorlage fUr und Elegien Il, Epigramme, Venedig 1790,
die Ausgabe seiner Gedichte im achten Band Weissagungen des Bakis und Vier Jahrszeiten;
der Schriften, der 1789 erschien. Er enthält in in den Gedichtbänden der Werkausgaben bei
zwei Sammlungen unter der gemeinsamen Cotta bleibt diese Einteilung mit leichten Ver-
Überschrift Vermischte Gedichte neben bereits änderungen erhalten und wird durch weitere
zuvor gedruckten Gedichten eine nicht geringe Gruppen ergänzt.
Zahl von Erstveröffentlichungen, von Gedich- Die Neigung zur Ensemble-Bildung hat es
ten etwa aus der Frankfurter Zeit wie Gany- bei G. schon früher gegeben, vom Liederbuch
med und An Schwager Kronos oder aus dem Annetteund den Oden an Behrisch angefangen
ersten Weimarer Jahrzehnt wie An den Mond, bis zur Zusammenstellung der handschriftli-
Harzreise im Winter und Gesang der Geister chen Sammlung seiner Gedichte von 1778;
über den nassem. Mit diesem Band erst wird nunmehr allerdings bestimmt sie in zuneh-
ein großer Teil der Lyrik G.s, deren Kenntnis mendem Maße bereits die Produktion neuer
bisher auf den Kreis der Freunde und Bekann- Texte. Die Venezianischen Epigramme, die Xe-
ten beschränkt geblieben war, öffentlich be- nien oder die Sonette sind von vornherein als
kannt. Im Zeitraum zwischen 1787 und 1806 Ensembles, als Sammlungen mit zyklischer
hat G. dann noch zwei weitere Sammelaus- Struktur, geplant. Wirksam ist die Tendenz
gaben seiner Lyrik veröffentlicht, im siebten auch bei den Römischen Elegien, weniger al-
Band der Neuen Schriften, der 1800 erschien, lerdings bereits bei der Entstehung der einzel-
und im 1806 erschienenen ersten Band der nen Gedichte als vielmehr bei deren Zusam-
Werke, der ersten Ausgabe bei Johann Fried- menstellung Ende 1790. Die Römischen Ele-
rich Cotta. gien sind mit G.s Aufenthalt und seinen Erfah-
Für die Veröffentlichung in den Schriften hat rungen in Italien eng verbunden; entgegen der
G. seine früheren Gedichte überarbeitet und Überschrift, die G. ihnen gegeben hat, sind sie
teilweise stark verändert. Diese Arbeit an der jedoch erst nach der Rückkehr aus Italien ent-
eigenen Lyrik blieb nicht ohne Wirkung auf standen. Die erneute lyrische Produktivität,
die weitere lyrische Produktion; vor allem die zu den Römischen Elegien hinfUhrt, setzte
aber paßt sie sich in G.s Entwicklungsprozeß im Sommer 1788 ein; zu ihren Bedingungen
in Italien und in die Veränderungen ein, die er gehört neben der Möglichkeit der Rückwen-
dort erfuhr und die zu den Voraussetzungen dung und damit dem Moment der Erinnerung
der klassischen Periode gehören. Sie lassen an Italien der Beginn der Beziehung zu Chri-
Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806 221

stiane Vulpius im Juli 1788. Im Sommer und Versiegen der lyrischen Produktion
Friihherbst 1788 schreibt G. einige Liebesge-
dichte; in einem dieser Gedichte, in Süsse Sor- Keineswegs jedoch beginnt mit den Römi-
gen, nützt er bereits, auf die Römischen Ele- schen Elegien eine Phase vermehrter lyrischer
gien vorausweisend, die antike Form des Disti- Produktion. Im Anschluß an sie entstehen
chons. Die Römischen Elegien selbst und die zwar, insbesondere während G.s Aufenthalt in
Gedichte aus ihrem Umkreis sind zwischen Venedig im Friihjahr 1790, die Venezianischen
Oktober 1788 und April 1790 entstanden. Kon- Epigramme, gegen Ende des Jahres 1790 aber
stitutiv für die Entstehung war die Erfahrung, versiegt die lyrische Produktion nahezu völlig.
daß in der Beziehung zu Christiane Vulpius die In den nächsten Jahren entstehen wiederum
in Italien erreichte Befreiung der Sinnlichkeit nur wenige Gedichte; die meisten davon sind
und der Sexualität auch nach der Rückkehr zudem Gelegenheitsgedichte im engeren
verwirklicht werden konnte. Die Liebe zu Sinne des Begriffs, Stammbuchverse vor al-
Christiane Vulpius eröffnete die Möglichkeit lem, die auch nicht veröffentlicht wurden.
der poetischen Erinnerung an Italien; in sol- Ebenso blieben die Römischen Elegien und die
cher Vergegenwärtigung der Italienerfahrung Venezianischen Epigramme vorerst unveröf-
und vor allem in der dichterischen Verarbei- fentlicht. Eine Reihe von Erfahrungen in den
tung der Erfahrung der Antike wurde zugleich ersten Jahren nach Italien bündeln sich zu ei-
die indirekte Aussprache der aktuellen Bezie- nem Motivkomplex, in dem der lyrische Still-
hung möglich. Darin markieren die Römi- stand in den friihen 90er Jahren seine Ursache
schen Elegien einen Wandel in G.s lyrischer hat. Dazu gehört die Enttäuschung dariiber,
Produktion. Seine bisherige Lyrik war, seit der bei der zweiten Reise nach Italien die Erfah-
Straßburger Zeit und bis in das erste Weimarer rungen der ersten nicht wiederholen zu kön-
Jahrzehnt, in einem weiten Maße von dem nen. »Das ist Italien nicht mehr, das ich mit
Versuch der unmittelbaren Aussprache des Schmerzen verließ«, heißt es in den Veneziani-
Subjekts bestimmt; vor allem in der älteren schen Epigrammen (Nr.4), in denen der end-
Literaturwissenschaft wird diese Art des lyri- gültige Abschied von der Italienerfahrung der
schen Schreibens unter den Begriff der Erleb- ersten Reise thematisiert ist, die kurz zuvor in
nislyrik gefaßt. Die Lyrik G.s nach Italien fügt den Römischen Elegien noch poetisch wieder-
sich solcher Zuordnung nicht mehr; zu den holt werden konnte. Die Enttäuschung über
bestimmenden Merkmalen seines lyrischen die Reaktion der Freunde und Bekannten, die
Schreibens seit den Römischen Elegien gehö- mit Unverständnis auf die Veränderungen rea-
ren vielmehr Distanz und eine hohe künst- gierten, die G. in Italien erfahren hatte, bildet
lerische Bewußtheit in der Gestaltung der ein weiteres Motiv; hinzu kommen das Ge-
Texte. Damit werden biographische Deutungs- fühl, nicht verstanden zu werden und isoliert
versuche, wie sie für die vorangehende Lyrik zu sein, die Kränkung über den nur geringen
G.s immerhin legitim sein mögen, fraglich. Erfolg der Werkausgabe beim Publikum und
Zwar sind auch weiterhin biographische An- die Erfahrung des Unverständnisses, der Ab-
lässe für nicht wenige Gedichte anzunehmen wehr und auch der Häme, auf die in Weimar
und oft auch belegbar, die Gedichte gehen je- die Beziehung zu Christiane Vulpius stieß. Von
doch nicht darin auf, Ausdruck subjektiven Er- kaum zu überschätzender Bedeutung war
lebens zu sein, und übersteigen solches Er- schließlich die Erfahrung der Französischen
leben und solche biographischen Anlässe und Revolution. Die Äußerungen des Unmuts über
Motive. Ihr Kunstcharakter ist dem subjektiv- die Ereignisse in Frankreich in den Veneziani-
persönlichen Ausdruck stets vorrangig. schen Epigrammen sind die ersten poetischen
Zeugnisse, in denen G. auf die Revolution rea-
giert; sie dokumentieren seine Ablehnung der
Revolution von Anfang an. G. war mit der Re-
volution und ihren Auswirkungen politisch, in
222 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

seiner Tätigkeit als Weimarer Minister, befaßt, beit mit Schiller sind ein Höhepunkt in G.s
und er erfuhr sie in der Teilnahme am Feldzug lyrischem Schaffen. Ohne die Erfahrungen der
gegen Frankreich 1792 und an der Belagerung frühen 90er Jahre zu überspielen oder zu ver-
und Rückeroberung von Mainz 1792/93 militä- drängen, kann G. nun poetisch wieder an Ita-
risch, als Krieg. Für seine lyrische Produktion lien anknüpfen. So werden jetzt die Römi-
waren diese Erfahrungen nicht günstig; G. schen Elegien und die Umezianischen Epi-
nutzte für sein unmittelbar eingreifendes, gramme veröffentlicht; sie erscheinen 1795 in
durchaus agitatorisches und gegenrevolutio- Schillers Zeitschrift Die Horen und in dessen
näres Schreiben in diesen Jahren vorrangig Musen-Almanach. Beide Periodika wurden für
das Drama. Die auf die Französische Revolu- die nächsten Jahre zu den vorrangigen Pu-
tion reagierenden Dichtungen G.s haben je- blikationsorten der Gedichte G.s; war mit dem
doch nicht nur eine politische Dimension; sie achten Band der Schriften seine bisherige Ly-
bilden vielmehr ein literarisches Experiment, rik allgemein zugänglich, so boten Schillers
in dem das in Italien gewonnene Literatur- Zeitschriften jetzt seine aktuellen Texte. Die
und Kunstverständnis, das durch die revolu- neue lyrische Produktion G.s steht zunächst im
tionären Ereignisse in Frage gestellt worden Zeichen der Antike. Die ersten in einer Zeit-
war, überprüft, in dem die Beziehung zwischen schrift Schillers veröffentlichten Gedichte G.s
Literatur und Zeitbegebenheiten reflektiert sind die beiden Episteln, zwei Hexameter-Ge-
und Möglichkeiten angemessener poetischer dichte poetologischen Inhalts, mit denen das
Antworten auf die Herausforderungen der Zeit erste und das zweite Stück der Horen eröffnet
erprobt werden. Der Ertrag dieses Experi- wird. Hexameter und elegisches Distichon bil-
ments bestimmt nachhaltig G.s Kunstver- den die vorherrschenden Versformen in G.s
ständnis und seine poetische Produktion seit Lyrik des klassischen Jahrzehnts. In ihrer Ar-
der Mitte der 90er Jahre und mithin in dem tifizialität signalisiert die antike Form dich-
etwas mehr als zehn Jahre währenden Zeit- terische Bewußtheit und Distanz; auch kann
raum der Zusammenarbeit mit Schiller zwi- sie als ein Ausdruck der eher gelassenen Hal-
schen 1794 und 1805, der den Höhepunkt der tung verstanden werden, die G. seit der Mitte
Weirrtarer Klassik, das eigentlich klassische der 90er Jahre zu den Zeitereignissen wieder
Jahrzehnt der deutschen Literatur, bildet. einnehmen konnte. Die Orientierung an der
Antike bleibt jedoch nicht auf den Bereich der
Form beschränkt; antike Literatur wird viel-
Orientierung an der Antike mehr zu einer Herausforderung, der sich G.,
im Verbund mit Schiller und im beständigen
Gerade in der Lyrik markiert die im Sommer Gespräch mit ihm, als moderner Dichter stellt,
1794 beginnende Zusammenarbeit mit Schil- im Bewußtsein also der fundamentalen Diffe-
ler eine deutliche Zäsur. Im Sommer 1794 war renz zwischen Antike und Modeme. G.s Lyrik
zudem mit dem 9. Thermidor (27.7. 1794) die in antiker Form ist deshalb auch keineswegs
jakobinische Phase der Revolution zu Ende ge- bloße Nachbildung einer weiterhin als vor-
gangen; die revolutionäre Entwicklung kam in bildlich verstandenen Antike, sondern der
eine Phase relativer Beruhigung. Ein Jahr spä- Versuch, als Moderner erneut zu erreichen,
ter wurde der Frieden von Basel geschlossen; was an der Antike als musterhaft gilt. Das
in seiner Folge blieben der nord- und mittel- Bewußtsein von Differenz und Distanz ist Be-
deutsche Raum und mit ihm das Herzogtum standteil von G.s Hinwendung zur Antike und
Weimar bis 1806 vom fortdauernden europäi- eine Voraussetzung des Gelingens seiner klas-
schen Kriegsgeschehen verschont. Diese Frie- sischen Lyrik. In die Auseinandersetzung mit
denszeit gehört zu den Bedingungen des klas- der antiken Literatur ist deshalb deren Fort-
sischen Jahrzehnts, in dem es nun zu einer wirkung, die Wirkungsgeschichte, einbezo-
erstaunlichen lyrischen Produktion kommt; gen, und sie verbleibt auch keineswegs im All-
jedenfalls die ersten Jahre der Zusammenar- gemeinen; vielmehr orientiert sich G. stets
Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806 223

sehr konkret an einzelnen Autoren und ihrem heit, die etwa in Der neue Pausias und sein
Werk oder an spezifischen Genres der Antike. Blumenmädchen, einer dialogisch gestalteten
Außerdem wird der Literatur und der Kunst in Liebeselegie, auch explizit ausgesprochen
der klassischen Orientierung an der Antike wird. Auch in den beiden großen naturwissen-
eine spezifische und zugleich umfassende, schaftlichen Gedichten der Zeit, in Die Meta-
über den ästhetischen Bereich hinausweisende morphose der Pflanzen, einem Gedicht in Di-
Geltung verliehen. Zum klassischen Pro- stichen, und dem HexametergedichtMetamor-
gramm gehört der - von Schiller und anderen phose der Tiere, orientierte sich G. an der An-
explizit formulierte - Anspruch gesellschaft- tike, am Genre des Lehrgedichts und im
lich-kultureller Wirksamkeit der ästhetischen besonderen am römischen Dichter Lukrez.
Bemühung; die Vorbildlichkeit der Antike hat Beide Gedichte verweisen zudem auf G.s na-
lebenswirkliche Bedeutung. In den Eingangs- turwissenschaftliche Studien und auf die hohe
versen der Elegie Herrmann und Dorothea, Bedeutung, die ihnen seit dem italienischen
die Ende 1797 entstand, hat G. dies ausgespro- Aufenthalt zukommt.
chen: »Also das wäre Verbrechen, daß einst
Properz mich begeistert; / Daß Martial sich zu
mir auch, der Verwegne, gesellt? / Daß ich die Die Balladen
Alten nicht hinter mir ließ, die Schule zu hü-
ten; / Daß sie nach Latium gern mir in das Mit der literarischen Bewußtheit, die G.s und
Leben gefolgt?«. G. spielt hier auf die Römi- ebenso Schillers klassische Dichtung kenn-
schen Elegien, für die Properz und die beiden zeichnet, ist der Anspruch verbunden, muster-
anderen römischen Elegiker Catull und Tibull hafte Texte zu schaffen. Deutlich wird dies
die Vorbilder waren, und auf die veneziani- nicht zuletzt in den 1797 entstandenen Bal-
schen Epigramme an, bei denen er sich an den laden G.s und Schillers, die vorrangig Ende
Epigrammen Martials orientierte. Die Epistu- dieses Jahres im Musen-Almanach für 1798
lae des Horaz bilden das Muster, dem G. in veröffentlicht wurden und einen Höhepunkt
seinen Episteln folgt; wiederum Martial gab deutschsprachiger Balladendichtung darstel-
mit seinen Xenien die Anregung für das große, len. Das gemeinsame »Balladenstudium« (an
im Musen-Almanach für 1797 veröffentlichte Schiller, 22.6. 1797) zeigt zudem, daß ein al-
Gemeinschaftswerk der Distichen, der Xenien lein auf die Orientierung an der Antike fi-
G.s und Schillers, in denen sie sich im Selbst- xiertes Verständnis der Weimarer Klassik nicht
gefühl der eigenen Überlegenheit polemisch- gerecht wird. Die Balladen sind nicht zuletzt
satirisch mit dem literarischen Leben ihrer literarische ExperiInente, in denen poetolo-
Zeit auseinandersetzten und einigen Skandal gisch erarbeitete Gattungsbestimmungen er-
hervorriefen. In den nach 1796 entstandenen probt werden und die ihrerseits die ästheti-
Elegien, die seit dem siebten Band der Neuen sche Reflexion vorantreiben. Die formale Viel-
Schriften in den Werkausgaben stets unter der falt der Balladen G.s von 1797 vom Schatz-
Überschrift Elegien II zusammengestellt sind, gräber und der Legende über Die Braut von
orientierte sich G. an einzelnen Genres der Corinth und Der Gott und die Bajadere zum
Antike, an der Trauerelegie in Euphrosyne, an Zauberlehrling und zu den Müllerin-Balladen
der Liebeselegie in Alexis und Dora oder vom Ende des Jahres läßt dies deutlich wer-
Amyntas, wobei G.s Sprachgebrauch schwankt den. Zudem gestaltete G. auch in den Bal-
und er gelegentlich statt von Elegien auch von laden, jedenfalls in Die Braut von Corinth und
Idyllen spricht. Zur Modernität dieser Elegien Der Gott und die Bajadere, ein Thema, das die
gehört das in ihnen immer wieder themati- anderen Dichtungen dieser Zeit und nicht nur
sierte Wechselspiel von Dauer und Augenblick seine Lyrik zutiefst prägt; es kann als die mög-
als einer modemen Erfahrung von Zeit und licherweise zentrale Problemstellung des klas-
Zeitlichkeit; es gehört dazu wiederum die den sischen Weimarer Jahrzehnts bezeichnet wer-
Gedichten immanente poetologische Bewußt- den: Immer wieder wird danach gefragt, wie
224 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

sich Sittlichkeit des Individuums und Ordnung Für den ersten, 1815 erschienenen Band der
menschlichen Zusammenlebens vereinen las- zweiten Werkausgabe bei Cotta bildete er eine
sen; zum Prüfstein dafür wird für G., ob Liebe eigene Rubrik Gesellige Lieder; im Gedicht-
und privates Glück möglich sind. So gestalten band der ersten Werkausgabe bei Cotta von
die Dichtungen dieser Zeit immer wieder Be- 1806 waren die entsprechenden Texte noch
dingungen und Möglichkeiten oder die Ver- zusammen mit anderen unter der Überschrift
hinderungen von Liebe und Glück im Zusam- Lieder versammelt. Gesellige Lyrik hatte G.
menleben der Menschen. In dieser Problem- schon immer geschrieben; zudem eignet ei-
stellung haben für G. zudem die Erfahrung der nem großen Teil seiner Gedichte überhaupt
Französischen Revolution und die Herausfor- eine auf Geselligkeit und Kommunikation ver-
derung, die dieses Geschehen fur ihn dar- weisende Dimension, etwa im Spiel mit inter-
stellte, eine allgemeine, über die unmittelbare textuelIen Bezügen. Im klassischen Jahrzehnt
Zeiterfahrung hinausweisende Gestalt gewon- und in den Jahren danach gewinnt diese Lyrik
nen. für G. jedoch zusätzliche Bedeutung. Kulti-
vierte Geselligkeit und die in ihr realisierte
»gesellige Bildung« (Unterhaltungen deut-
Gesellige Lieder scher Ausgewanderten; MA 4.1, S. 448) waren
für G. auch eine Antwort auf die Erfahrung der
In den ersten Jahren der Zusammenarbeit mit Französischen Revolution und auf den kultu-
Schiller läßt sich in G.s Lyrik eine Vorrang- rellen Zerfall, den er als Folge der Revolution
stellung einzelner Genres wie Elegie oder Bal- diagnostizierte; ihm sollten in der Geselligkeit
lade feststellen. Gegen Ende des Jahrhunderts kulturelle Werte und zivilisierte Formen
und in den Jahren nach 1800 wird die lyrische menschlichen Zusammenseins entgegenge-
Produktion vielfältiger. So gehören zu den stellt werden. Deshalb gehören zu den Ge-
etwa 100 zwischen 1798 und 1806 entstande- selligen Liedern dieser Zeit nicht allein heiter-
nen Gedichten - neben einigen Gelegenheits- frohe Trinklieder wie das Tischlied: »Mich er-
gedichten im engeren Sinne - satirische Ge- greift, ich weiß nicht wie, / Himmlisches Be-
dichte, die als eine Fortsetzung der Xenien- hagen«, sondern durchaus anspruchsvolle,
Polemik verstanden werden können, eine sozusagen kulturell fordernde Gedichte wie
Reihe von Naturgedichten und Balladen, nicht Dauer im Wechseloder Weltseele, die G. in den
wenige Liebesgedichte und die Weissagungen späteren Werkausgaben auch unter die Rubrik
des Bakis, eine eher hermetische, möglicher- Gott und Welt stellte.
weise auch höchst ironische Sammlung von
Distichen, deren Deutung in der Forschung
umstritten ist. Einen nicht geringen Teil neh- Romantische Form: die Sonette
men die Geselligen Lieder ein, sangbare Texte,
die für die Weimarer Geselligkeit wie etwa das G.s Lyrik der 90er Jahre, die Gedichte in anti-
»Mittwochs kränzchen« vom Winter 180111802 ken Formen und dabei insbesondere die Römi-
geschrieben wurden, zugleich jedoch mit ihrer schen Elegien, aber auch seine Balladen wur-
Veröffentlichung ein Angebot an das Publikum den vor allem von der jüngeren Generation
waren, eine vergleichbare kultivierte Gesellig- begeistert aufgenommen. Nicht zuletzt galt
keit zu pflegen; die meisten der geselligen dies fur die jungen, in Jena versammelten Ro-
Lieder G.s aus dieser Zeit wurden von Carl mantiker. G. begegnete dem frühromantischen
Friedrich Zelter vertont. Eine erste Sammlung Kreis durchaus mit Wohlwollen und Sympa-
solcher Lyrik veröffentlichte G. unter der thie; mit Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
Überschrift Der Geselligkeit gewidmete Lieder gab es engere Kontakte, bei August Wilhelm
in dem von ihm und Christoph Martin Wie- Schlegel holte sich G. Rat in Fragen antiker
land herausgegebenen, im Oktober 1803 er- Metrik. Seine erst allmählich sich ausbildende
schienenen Taschenbuch auf das Jahr 1804. Abneigung gegen die Romantik war anfänglich
Römische Elegien 225

auch kaum literarisch motiviert; den Anstoß Schlacht von Jena und Auerstedt führte. Das
dazu gaben vielmehr die bildende Kunst, vor klassische Weimarer Jahrzehnt war zu Ende.
allem die Malerei der Romantik und die im-
mer deutlicher hervortretende christliche Ten-
denz. Im literarischen Bereich hingegen und Literatur:
gerade auch in der Lyrik hat die Frühromantik Barner, Wilfried u.a. (Hg.): Unser Commercium.
G. durchaus beeinflußt. So übernimmt er, nach Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart
anfänglichem Zögern, die von den Romanti- 1984. - Beißner, Friedrich: Geschichte der deut-
kern wiederentdeckte und rasch zum Mode- schen Elegie. Berlin 51965. - Dietze, Walter: Poesie
Genre gewordene Form des Sonetts. War G.s der Humanität. Anspruch und Leistung im lyrischen
Werk Johann Wolfgang Goethes. Berlin 1985. - Mül-
erstes, vermutlich 1800 entstandenes, mit dem
ler-Seidel, Walter: Die Geschichtlichkeit der deut-
Gattungsnamen überschriebenes Sonett noch schen Klassik. Stuttgart 1983. - Wild, Reiner: Goe-
eine ironisch-spöttische Auseinandersetzung thes klassische Lyrik (in Vorbereitung). - Wünsch,
mit der Künstlichkeit dieser Form, so wird im Marianne: Der Strukturwandel in Goethes Lyrik.
zweiten, 1802 in ein Theatervorspiel einge- Stuttgart 1975.
fügten Sonett Natur und Kunst sie scheinen Reiner Wild
sich zufliehen die Herausforderung der stren-
gen Form zum Thema. Um die Jahreswende
1807/1808 entstehen dann die Sonette, ein Zy-
klus von siebzehn Liebesgedichten. In ihnen
demonstriert G. poetische Meisterschaft; er
nützt gekonnt die neue Form, zitiert sie ge-
wissermaßen und gibt dem Zyklus damit eine Römische Elegien
romantischer Dichtung durchaus entspre-
chende ironische Dimension. Zentrales
Thema der Sonette ist das Wechselspiel von Die Rö"mischen Elegien entstanden zwischen
Leidenschaft und deren Bändigung, die in der Herbst 1788 und Frühjahr 1790; erste Zeug-
strengen Form ihren Ausdruck hat; damit setzt nisse sind von Ende Oktober 1788 zu finden.
G., in ironischer Brechung allerdings, in der Zu ihrer Produktion haben eine Reihe von An-
romantischen Form fort, was auch seine Ge- regungen und Anlässen beigetragen. Am Ende
dichte in antiker Form bestimmte. Gleichwohl der Italienischen Reise erzählt G., wie er sich
markieren die Sonette den Abschluß einer beim Abschied von Rom an Ovid und dessen
Epoche; antike Formen spielen von nun an Verbannung aus Rom erinnerte, und er zitiert
keine Rolle mehr in G.s Lyrik. Am 9.5. 1805 einige Verse aus der dritten Elegie des ersten
starb Schiller; die Zusammenarbeit mit ihm Buches von Ovids Tristia; in einem Entwurf
wurde abrupt beendet. Zur Totenfeier Schil- zum Schluß der Italienischen Reise schreibt er
lers im August 1805, bei der das Lied von der dazu, daß er sich »jenen fremden Ausdruck
Glocke szenisch aufgeführt wurde, schrieb G. eigner Empfindung [ ... ] anzueignen« suchte,
das Gedicht Epilog zu Schillers >Glocke<, eine sich jedoch scheute, »auch nur eine Zeile zu
in Stanzen, also in einer strengen, jedoch schreiben, aus Furcht, der zarte Duft inniger
nicht-antiken Form gehaltene Totenklage, in Schmerzen möchte verschwinden« 0NA I, 32,
der sich klassisch-distanzierte Sprache mit S. 428). Mit dem Verweis auf Ovid deutet G.
dem Pathos der Trauer verbindet. Gleichsam die Möglichkeit an, die Erfahrung in Italien
als Vermächtnis Schillers nimmt G. den letzten und die Trauer darüber, Rom »ohne Hoffnung
Vers des Liedes von der Glocke auf und macht der Rückkehr zu verlassen« (ebd.), in der Form
das Wort Friede zu einem Leitwort des Ge- der antiken Klageelegie zu bearbeiten. Diese
dichts. Die Hoffnung auf Frieden allerdings Möglichkeit hat G. jedoch verworfen; im Ent-
erfüllte sich nicht; knapp ein Jahr später be- wurf zum Schluß der Italienischen Reise heißt
gann der vierte Koalitionskrieg, der zur es: »Ich ermannte mich zu einer freieren poeti-
226 Lyrik der klassischen Zeit. 1787~1806

schen Tätigkeit« (ebd.). So orientierte er sich Doch nicht allein solches Abraten der Freunde
an der Tradition der römisch-antiken Liebes- dürfte G. dazu gebracht haben, auf die Ver-
elegie; die Erfahrung Roms und der Antike öffentlichung der Elegien vorerst zu verzichten
verbindet sich mit der Erfahrung erfüllter ~ lediglich die Elegie Amor bleibet ein Schalk,
Liebe. Im Juli 1788, wenige Wochen nach der die dreizehnte in der späteren Veröffentli-
Rückkehr aus Italien, hatte G. Christiane Vul- chung, erschien im Juli 1791 unter dem Titel
pius kennengelernt; in der Beziehung zu ihr Elegie. Rom 1789 in der Deutschen Monats-
wurde es ihm möglich, die in Italien erfahrene schrift. Eine nicht geringe Rolle dürfte bei die-
Befreiung auch nach der Rückkehr nach Wei- sem Verzicht G.s Enttäuschung nach der Rück-
mar Wirklichkeit werden zu lassen. Ein erstes kehr aus Italien gespielt haben, die Erfahrung
Zeugnis für G.s Versuch, diese Liebeserfah- der Isolierung und das Gefühl, nicht verstan-
rung in die Formen antiker Lyrik zu fassen, ist den zu werden. Bereits der Wechsel von den
das aus zwei Distichen bestehende, vermutlich Römischen Elegien zu den venezianischen Epi-
im Sommer 1788 entstandene Gedicht Süsse grammen war in einer Enttäuschung begrün-
Sorgen. Ende Oktober 1788 hatte G. von Karl det gewesen; an den Herzog hatte er aus Vene-
Ludwig von Knebel einen Sammelband mit dig geschrieben, daß seiner »Liebe für Italien
Gedichten von Catull, Tibull und Properz er- durch diese Reise ein tödtlicher Stos versetzt«
halten; vom »Kleeblat der Dichter« spricht G. worden sei (an Carl August, 3.4. 1790), und im
im Brief an Knebel vom 25.10. 1788, in der vierten der venezianischen Epigramme heißt
fünften der Römischen Elegien werden die es: »Das ist Italien nicht mehr, das ich mit
drei römischen Elegiker die »Triumvirn« Schmerzen verließ«. Zum Wechsel von den
cv. 20) genannt, und die Wiederbegegnung mit Römischen Elegien zu den venezianischen Epi-
ihrer Lyrik, die G. seit seiner Jugend kannte, grammen hat zudem die Erfahrung der Franzö-
gab den entscheidenden literarischen Anstoß. sischen Revolution erheblich beigetragen;
In den Briefen der folgenden Monate ist von während sie in den Epigrammen mehrfach
den Elegien häufig die Rede. Am 3.4. 1790 thematisiert wird, ist das politische Zeitge-
jedoch, wenige Tage nach der Ankunft in Vene- schehen überhaupt aus den Römischen Elegien
dig, schreibt G. an Carl August und in ähn- ausgeschlossen, worin sie sich im übrigen von
lichem Wortlaut auch an Herder: »Ich fürchte den Gedichten der römischen Elegiker unter-
meine Eie g i e n haben ihre höchste Summe scheiden.
erreicht und das Büchlein möchte geschloßen Erst durch die Zusammenarbeit mit Schiller
seyn. Dagegen bring ich einen Libellum E p i - wurde die Publikation der Rämischen Elegien
g r a m m at u m mit zurück«. In die Umeziani- möglich. Seit Oktober 1794 war G. mit der
schen Epigramme ist einiges eingegangen, was Überarbeitung befaßt. Dabei griff er auf eine
zunächst im Umkreis der Römischen Elegien Handschrift zurück, die er vermutlich Ende
entstanden war; das gilt für die beiden Ge- 1790 aus den ~ nicht erhaltenen ~ Einzelhand-
dichte Ach! mein Hals ist und Wonniglich ist's, schriften der Elegien zusammengestellt, »ge-
die Geliebte, wahrscheinlich auch für das Lob- faltet und gelegt« hatte, wie er am 1.1. 1791 an
gedicht auf den Herzog Carl August Klein ist Knebel schrieb. Diese Handschrift enthielt 22
unter den Fürsten Germaniens, das seit den Elegien; aus dem Korpus ausgeschieden hatte
Neuen Schriften den venezianischen Epigram- G. bereits die beiden priapeischen Gedichte
men zugehört. Hier ist mein Garten bestellt und Hinten im
G. hat die Elegien, die er in seinen Briefen Winkel des Gartens. Bei der Vorbereitung des
immer wieder als Erotica bezeichnete, den Druckes nahm G. einige zumeist stilistische
Freunden mitgeteilt; Knebel, der Herzog, Änderungen bei einzelnen Gedichten vor. Er
Wieland und Herder wurden mit ihnen be- entfernte, nach brieflicher Diskussion mit
kannt gemacht. Vor allem Herder, wie G. am Schiller, die beiden Elegien Mehr als ich ahn-
1. 1. 1791 an Knebel schreibt, aber auch der dete und Zwei gifährliche Schlangen aus der
Herzog rieten von einer Veröffentlichung ab. Sammlung, in der sie an zweiter und sechzehn-
Römische Elegien 227

. • :.Jo J

Briifan Herder vom 3.4. 1790


228 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

ter Stelle gestanden hatten; dafUr rückte die der Präsentation der Römischen Elegien unter-
bisherige Nummer IV an die zweite Stelle, und schiedlich. Die Hamburger Ausgabe bringt
der vierte Platz blieb wie der sechzehnte leer. den Text nach der Ausgabe letzter Hand; die
Nach der so überarbeiteten Handschrift wurde Münchner Ausgabe und die Frankfurter Aus-
die Druckvorlage mit einer neuen Durchzäh- gabe bieten einen Paralleldruck, bei dem die
lung der zwanzig Elegien erstellt; Ende Juni Druckfassung der Horen und die Fassung der
1795 erschien die Sammlung im sechsten sogenannten Grundschicht der Handschrift
Stück von Schillers Zeitschrift Die Horen. H50, die älteste erhaltene Fassung also, gegen-
Nach der Herstellung der Druckvorlage ließ G. übergestellt sind. Dabei verzichtet die Münch-
die Handschrift binden. In dieser Gestalt ist ner Ausgabe beim Paralleldruck auf die beiden
sie erhalten; in der G.-Philologie wird sie als ausgeschiedenen Elegien - sie folgen mit den
HSO bezeichnet. Die beiden ausgeschiedenen beiden priapeischen Gedichten den Römi-
Elegien sind, mit Elegie I und Elegie II über- schen Elegien -, während die Frankfurter Aus-
schrieben, zusammen mit den beiden priapei- gabe sie, nach der Handschrift H5t, darin auf-
schen Gedichten als Elegie III und Elegie IVin nimmt und die beiden Priapea dann an-
einer gleichfalls von G. geschriebenen - als schließt. In der Frankfurter Ausgabe (FA I, 1,
HSt bezeichneten - Sammelhandschrift über- S. 1083ff.) und in der Münchner Ausgabe
liefert; gedruckt wurden diese vier Gedichte (MA 3.2, S.444ff.) sind ausfUhrliehe Darstel-
erstmals in der Weimarer Ausgabe, zunächst lungen der Textgeschichte zu finden.
und mit einigen Auslassungen vermeintlich
anstößiger Stellen 1887 im Anhang von Band Bereits mit dem Titel Elegien setzt G. ein Si-
1, VOllständig erst 1914 in Band 53 der ersten gnal; mit ihm sind Gattung und Form benannt,
Abteilung. Den folgenden AusfUhrungen lie- und er verweist auf die fUr die Römischen Ele-
gen der Horen-Druck und HSt zugrunde (nach gien grundlegende Beziehung zur Antike. Die
MA 3.2, S. 38-82). Gedichte sind in elegischen Distichen ge-
Mit dem Druck in den Horen war die end- schrieben, der Verknüpfung also von dakty-
gültige Gestalt der Römischen Elegien er- lischem Hexameter und daktylischem Penta-
reicht; sie blieb, von leichteren, vorwiegend meter, und damit in dem fUr die antike Elegie -
metrisch motivierten Änderungen abgesehen, wie auch für das antike Epigramm - charak-
bei denen G. u.a. den Ratschlägen August Wil- teristischen Versmaß. Darin hatte sich G. be-
helm Schlegels folgte, auch in den Werkaus- reits vor der Reise nach Italien in einigen Epi-
gaben erhalten. In der Handschrift trugen die grammen versucht, mit den Römischen Ele-
Gedichte zunächst den Titel Erotica Romana; gien jedoch eignete er sich das antike Versmaß
er wurde gestrichen und durch Elegien. Rom endgültig an. Das elegische Distichon prägt im
1788 ersetzt. In den Horen sind sie mit Elegien Jahrzehnt nach 1794/95 einen großen Teil sei-
überschrieben und so auch, mit dem Zusatz I - ner Lyrik; dazu komplementär nützt G. in sei-
zur Unterscheidung von den weiteren, mit II nen Versepen Reineke Fuchs und Herrmann
überschriebenen Elegien - in den Werkaus- und Dorothea sowie im Achilleis-Fragment
gaben. Die von G. im Brief an Schiller vom 7.8. den epischen Hexameter. Sein Schreiben in
1799 geprägte Bezeichnung Römische Elegien antikem Metrum ordnet sich in das allge-
erscheint in den Werkausgaben seit 1806 le- meine, nicht zuletzt durch Friedrich Gottlieb
diglich im Inhaltsverzeichnis. In der Hand- Klopstock initiierte Bemühen ein, die antiken
schrift und im Druck in den Horen ist den Versmaße in die deutsche Dichtung zu über-
Elegien ein Motto aus Ovids Ars amatoria vor- tragen, was seit den 80er Jahren insbesondere
angestellt, das in den Werkausgaben fehlt; seit durch die Übersetzungen und die theoreti-
der Ausgabe von 1815 haben sie als Vorspruch schen Arbeiten zur deutschen Prosodie von
den Zweizeiler »Wie wir einst so glücklich Johann Heinrich Voß stark vorangetrieben
waren! / Müssen's jetzt durch euch erfahren«. wurde. Großen Einfluß auf G. hatten vor allem
Die gegenwärtigen G.-Ausgaben verfahren bei die Überlegungen von Karl Philipp Moritz;
Römische Elegien 229

eine unmittelbare Einflußnahme von Moritz, nität dem antiken Vorbild nahezukommen,
der sich im Winter 1788/89 in Weimar auf- nicht die Antike zu wiederholen, sondern als
hielt, ist nicht auszuschließen. Überdies hat G. Moderner zu erreichen, was an ihr musterhaft
auch mit Knebel, der in dieser Zeit an seiner erschien. Deshalb werden in den Römischen
Übersetzung der Elegien des Properz arbei- Elegien auch die Antike selbst und vor allem
tete, über metrische Fragen gesprochen. Ge- die Begegnung mit ihr zum Thema. In der
genüber den strengen Regeln, etwa von Voß, siebten Elegie mit den Eingangsworten »0 wie
hat sich G. stets die Freiheit der eigenen Ge- fühl ich in Rom mich so froh!« hat die Motiv-
staltung bewahrt, und er hat auch Verstöße verknüpfung von befreiender Erfahrung der
gegen die Regeln hingenommen; für die Veröf- Antike und Anspruch des modemen Dichters
fentlichungen in den Werkausgaben ließ er auf Ebenbürtigkeit einen ihrer Höhepunkte;
sich von Johann Heinrich Voß dem Jüngeren, der »Wandrer« ry. 16) aus dem »Norden« ry. 2)
von Wilhelm von Humboldt und vor allem von wird in Jupiters »Haus« ry. 12) aufgenommen:
August Wilhelm Schlegel beraten, ohne dann »Welche Seligkeit ward mir Sterblichem!«
den Ratschlägen immer zu folgen. Schon in ry. 11). Doch bereits die erste Elegie handelt
den Römischen Elegien erreichte G. so in der von der Begegnung mit der Antike. Der in Rom
gelungenen Verbindung von geregelter ankommende Reisende verwendet in seiner
Strenge der antiken Metrik und natürlichem Anrede an die Stadt die in der lateinischen
Rhythmus des deutschen Sprachflusses eine Preisdichtung gebräuchliche Verschränkung
Geschmeidigkeit der lyrischen Sprache, wie von Rom/urbs und Welt/orbis ry. 13f.), und er
sie in den bisherigen Versuchen in antikem nützt das gleichfalls aus der Antike bekannte
Versmaß nicht erreicht worden war - und auch palindromische Wortspiel Roma/ Amor ry. 6,
später nur von wenigen Autoren erreicht oder V. 12 u. V. 13f.), das auch in den weiteren Ge-
gar übertroffen wurde. Doch nicht allein in der dichten mehr oder weniger versteckt auf-
Fonn orientiert sich G. an der Antike. Vorbild taucht. In ihm ist eng verknüpft mit dem Motiv
für die Römischen Elegien sind die Liebes- der Antike zugleich das Motiv der Liebe ange-
elegien des klassischen Roms der Augustei- schlagen; Antike und Liebe erschließen sich in
schen Zeit; G. tritt in einen Wettstreit mit den wechselseitiger Erfahrung.
drei herausragenden römischen Elegikern,
mit Tibull, Catull und - vor allem - mit Pro- Seit der Mitte des 19. Jhs., als auch in den
perz; hinzu kommen Ovid und, in einem spe- Elegien des Properz zyklische Strukturen ent-
ziellen Sinne, die Cannina Priapeia. Weniger deckt wurden, werden die Römischen Elegien
allerdings ist hier von Übernahmen oder von als ein Zyklus verstanden; aus jüngerer Zeit
Einfluß zu sprechen, eher von Reminiszenzen, sind insbesondere die Überlegungen von Do-
von Anspielungen, Angleichungen, Erinne- minik Jost und Gerhard Kaiser von Interesse.
rungen im Bewußtsein des historischen, ins- Einigennaßen problematisch sind dabei je-
besondere des literaturhistorischen Abstan- doch die zudem in ihren Ergebnissen sehr un-
des; zum Anspielungs- und Erinnerungs- terschiedlichen Versuche, der Sammlung eine
Raum der Römischen Elegien gehört deshalb Handlung zu unterlegen, die in eine Erzählung
auch die nach-antike Tradition der Elegie, überführbar wäre, oder in ihr eine Struktur
voran die der neulateinischen Dichtung des aufzudecken, die in Zahlenverhältnissen und
16. und 17. Jhs. Die offenen und die mehr oder Symmetriebeziehungen fonnuliert werden
weniger verschlüsselten Anspielungen sind könnte. Bei solchen Versuchen, eine ver-
konstitutive Elemente der Sammlung; nicht gleichsweise strenge Ordnung zu erkennen,
zuletzt markieren sie gleichennaßen Nähe und werden die nicht geringen Eingriffe, die G. bis
Distanz von Antike und einer der Antike sich zur Drucklegung vornahm, zu wenig beachtet.
zuwendenden Klassik. So sind die Römischen Vor allem stellt sich das Problem, welche der
Elegien vor allem der Versuch des modemen Sammlungen als ein solcher Zyklus verstan-
Dichters, im Bewußtsein der eigenen Moder- den werden soll: die zwanzig Elegien der Ho-
230 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

ren-Fassung als die einzig autorisierte Samm- Erfüllte Liebe heißt in den Römischen Elegien
lung oder die zweiundzwanzig Elegien der erotische Sinnlichkeit und gelebte Sexualität:
Handschrift in ihrer anfcinglichen Anordnung? »Und die erwärmte Nacht wird uns ein glän-
Oder sollen auch die beiden priapeischen Ge- zendes Fest« (IX, V. 6). Deutlicher noch als in
dichte einbezogen werden - etwa, wie vorge- der veröffentlichten Sammlung ist dies in den
schlagen wurde, als Eingangs- und Abschluß- beiden ausgeschiedenen Elegien ausgespro-
gedichte? Zyklischen Charakter erhalten die chen. In Mehr als ich ahndete wird von der
Römischen Elegien, die sicher ursprünglich ersten Begegnung mit der römischen Gelieb-
nicht als Zyklus konzipiert waren, vielmehr ten und von den »Freuden des echten nacketen
durch die thematische und motivliehe Ver- Amors« (Y. 31) erzählt; in Zwei gifährliche
knüpfung der Gedichte, in der variierenden Schlangen wird die sexuelle Freizügigkeit der
Gestaltung mehrerer, die Sammlung tragender Antike gepriesen, die von den Geschlechts-
und zudem noch miteinander verknüpfter krankheiten der Moderne verschont geblieben
Themen- und Motivkreise. Dazu gehören die war. Unverhüllte Sexualität - durchaus im
im Roma-Amor-Palindrom der ersten Elegie wörtlichen Sinne - charakterisiert die bei den
bereits verbundenen Themen der Antike-Er- priapeischen Gedichte der Handschrift H51, in
fahrung und der erfüllten Liebe, deren Ver- denen G. sich an der lateinischen Sammlung
knüpfung insbesondere in der bekannten fünf- der Carmina priapeia orientierte und die von
ten Elegie Froh empfind' ich mich nun ge- vornherein nicht für die Veröffentlichung ge-
staltet ist. Die Lektüre der »Werke der Alten« dacht waren. Das erste Gedicht ist eine Anru-
(V, V. 3) ist mit der Liebe verbunden, zu der fung des Priapus; im zweiten läßt G. den phal-
»die Nächte hindurch« Amor anhält (V, V. 4), lischen Gott selbst sprechen und sich seiner
und Liebe und Dichtung kommen zusammen: Kraft rühmen. Wegen der »anstößigen Stellen«
»Oftmals habe ich schon in ihren Armen ge- hat G., wie er am 12.5. 1795 an Schiller
dichtet I Und des Hexameters Maß, leise, mit schreibt, auf die Veröffentlichung dieser Ge-
fingernder Hand, I Ihr auf den Rücken ge- dichte verzichtet; seine Bemerkung bezieht
zählt« (V, V. 15ff.). Weitere wichtige Themen sich auf die beiden aus der Handschrift H50
sind die - an Properz orientierte - Gegenüber- ausgeschiedenen Elegien, und Schiller spricht
stellung von privater Liebe und Monumentali- in seinem Antwortbrief vom 15.5. 1795 von der
tät der Stadt Rom, die insbesondere an der »Schamhaftigkeit«, der dieses »Opfer« wohl zu
Architektur, den »Paläst' und Kirchen, Ruinen bringen sei. Aber auch die zwanzig veröffent-
und Säulen« (I, V. 9) erfahren wird, und das lichten Römischen Elegien waren für nicht we-
Wechselspiel von Mitteilung und Verschwie- nige Zeitgenossen skandalös. In einem Brief
genheit gerade auch im Bereich des Privat- an Friedrich Schulz vom 27.7. 1795 berichtet
Intimen. Hinzu kommen die Konfrontation Karl August Böttiger aus Weimar: »Alle ehrba-
des »traurigen Nordens« und seiner »Nebel« ren Frauen sind empört über die bordellmä-
(Xv, V. 3) mit dem südlich-mediterranen ßige Nacktheit. Herder sagte sehr schön, er
»Glanz des hellen Äthers« (VII, V. 7), das Span- [G.; d. Vf.] habe der Frechheit ein kaiserliches
nungsverhältnis zwischen Natur und Kunst Insiegel aufgedrückt. Die H 0 ren müßten nun
und schließlich die Dichtung selbst. Dem mit dem u geschrieben werden«. Dabei lag der
Durchspielen der Themen und Motive kom- Skandal weniger in der erotischen Thematik
plementär sind die Variation einzelner Bilder selbst, die schließlich seit der Rokokodichtung
und Metaphern und vor allem die unterschied- zum Bestand der deutschen Literatur gehörte.
lich akzentuierten und gleichfalls variierten Als anstößig wurde vielmehr der Verzicht auf
Anspielungen auf antike Mythologeme; damit jegliche Moralisierung des Sexuellen empfun-
wird ein Verweisungszusammenhang geschaf- den, wie die briefliche Äußerung Frau von
fen, der die Gedichte miteinander verbindet Steins an Charlotte Schiller vom 27.7. 1795
und zugleich einen Bedeutungshorizont eröff- deutlich macht: »Wenn Wieland üppige Schil-
net, in dem Antike und Moderne sich begegnen. derungen machte, so lief es doch zuletzt auf
Römische Elegien 231

Moral hinaus, oder er verband es mit Ridi- Aussprechen erotischer Gegebenheiten oder
cules«. Vor allem aber wurden die Romischen sexueller Vorgänge, sie galten vielmehr dem in
Elegien biographisch gelesen. Der Sprecher den Gedichten postulierten, nicht zuletzt im
der Gedichte wurde mit G., die Geliebte mit Wechselspiel von Mitteilung und Verschwei-
Christiane Vulpius identifiziert; Böttiger gen gestalteten Anspruch, daß der poetisch
spricht es in dem bereits zitierten Brief dra- formulierte freie Umgang mit der Sexualität
stisch genug aus: »Die meisten Elegien sind auch im Leben verwirklichbar sei. Von den
bei seiner Rückkunft im ersten Rausche mit Vertretern der jüngeren Generation, von Wil-
der Dame Vulpius geschrieben. Ergo - «. Sol- helm von Humboldt etwa oder von August Wil-
chen biographischen Deutungen hat G. zwar helm und Friedrich Schlegel, wurden die Rä-
durchaus Vorschub geleistet, etwa durch das mischen Elegien deshalb auch mit Begeiste-
Spiel mit den Jahreszahlen, dennoch ist ein rung aufgenommen; es seien »keine Ergießun-
solches am Modell der Erlebnislyrik orientier- gen des Gefühls ins blaue hinein, sondern
tes Verständnis den Rämischen Elegien unan- individuelle Veranlassungen sind auf das geist-
gemessen. Denn die römische Erfahrung der reichste gewandt«, und es werde »die schöne
Befreiung von Sinnlichkeit und Sexualität und gebildete Sinnlichkeit durch edle Gesinnun-
der glückende Versuch, diese Befreiung mit gen gehoben«, heißt es in August Wilhelm
Christiane auch in Weimar zu leben, die bio- Schlegels Vorlesungen über schäne Litteratur
graphische Erfahrung also, die den Rämischen und Kunst (Seuffert, S.290). Schon Schiller
Elegien zweifellos zugrunde liegt, wird in den schrieb am 5.7. 1795 an den Herzog Friedrich
Gedichten nicht mehr gleichsam unmittelbar Christian von Augustenburg, daß er in den
ins Bild gesetzt, sondern durch die Literarisie- Rämischen Elegien »Zwar eine conventionelle,
rung von vornherein ins Kunstwerk transfor- aber nicht die wahre und natürliche Decenz
miert. Dies macht bereits die erste Elegie in [ ... ] verletzt glaube«. In der vorbehaltlosen
der bewußt gesetzten Anknüpfung an die an- Integration von Sinnlichkeit und Sexualität in
tike Dichtung deutlich; in der zweiten wird die das klassisch-humanistische Menschenbild
Abwehr unmittelbarer biographischer Bezüge liegt nicht zuletzt eine psychohistorisch und
selbst zum Thema. In dieser Elegie werden mentalitätsgeschichtlich bemerkenswerte Be-
zudem in den Änderungen, die G. für den deutung der Rämischen Elegien.
Druck vornahm, der Prozeß der Literarisie-
rung und insbesondere die Differenzierung Auch in der Forschung stand jedoch zunächst
von Sprecher-Ich und Autor deutlich sichtbar. und das ganze 19. Jh. hindurch die biographi-
Gleichwohl gehört die biographische Erfah- sche Lektüre im Vordergrund; so gab es einige
rung in spezifischer und transformierter Weise vergebliche Anstrengungen, G.s römische Ge-
zu den Romischen Elegien; darin ist auch be- liebte zu identifizieren. Sie verbanden sich mit
gründet, warum sie für viele der Zeitgenossen, der fortdauernden Abwehr der für anstößig
jenseits der voyeuristischen Entrüstung, skan- gehaltenen Stellen, die noch die Edition der
dalös waren. In einem Briefvom 25.3. 1797 an vier von G. nicht veröffentlichten Elegien in
Böttiger schreibt der Schriftsteller Johann der Weimarer Ausgabe bestimmte. Studien zu
Baptist von Alxinger: »Properz durfte es laut den möglichen Quellen G.s und erste Unter-
sagen, daß er eine glückliche Nacht bei seiner suchungen zum zyklischen Charakter der Rä-
Freundin zugebracht habe. Wenn aber Herr mischen Elegien schlossen sich an. Auch im 20.
von Goethe mit seiner Italienischen Maitresse Jh. spielt die Frage des Zyklus eine wichtige
vor dem ganzen Deutschland in den Horen den Rolle; in jüngerer Zeit aber wurde vor allem
con-cubitum exerziert, wer wird das billigen? und aus unterschiedlichen Perspektiven der
Das Ärgerliche und Anstößige liegt nicht in Kunstcharakter der Rämischen Elegien, die
der Sache, sondern in der Individualität«. Die hohe Artifizialität der Gedichte, herausgear-
Tabus, die G. mit den Rämischen Elegien ver- beitet. Das bedingende Moment dieses Kunst-
letzte, betrafen nicht so sehr das poetische charakters heißt Distanz. Sie ist bereits in der
232 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

Wahl der antiken Form wirksam und äußert Schlegel, August Wilhelm von: Vorlesungen über
sich dann in der Literarizität der Gedichte; die schöne Litteratur und Kunst. 2. Teil. 1802-1803.
Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jhs.
biographische, die reale Erfahrung wird in der
Bd. 18. Heilbronn 1884. - Wimmel, Walter: Rom in
bewußten Auseinandersetzung mit der antiken Goethes Römischen Elegien und im letzten Buch des
Literatur und der literarischen Tradition zur Properz. In: Antike und Abendland. 7 (1958),
Kunst. Distanz oder, anders formuliert, die Be- S.121-138.
wußtheit der Differenz bestimmt ebenso den Reiner Wild
zentralen Gehalt der Römischen Elegien. Sie
bieten die poetische Vergegenwärtigung eines
vergangenen Zustandes im Bewußtsein von
dessen Unwiederbringlichkeit; sie gestalten
die Erinnerung an ein vergangenes Glück und
gewähren zugleich - als Poesie - die Wieder-
kehr der Glückserfahrung. Darin erfüllen die Venezianische Epigramme
Römischen Elegien paradigmatisch die Mög-
lichkeiten der modemen Elegie; sie sind eine
Neuschöpfung - und nicht lediglich eine Nach- Der Zyklus von 103 Epigrammen, meistens als
ahmung - der antiken Gattung, und sie ge- Venezianische Epigramme bezeichnet, geht auf
winnen im Wechselspiel von Vergangenheit G.s zweiten Venedigaufenthalt zurück: G.
und Vergegenwärtigung zugleich ihr utopi- wollte der Herzoginmutter Anna Amalia, die
sches Moment, sind poetischer Entwurf ge- sich nach einem längeren Italienaufenthalt auf
glückten Lebens. dem Rückweg befand, bis Venedig entgegen-
reisen, um sie von dort nach Weimar zurück-
zubegleiten. Die Ankunft der Herzogin verzö-
Literatur:
gerte sich jedoch beträchtlich, so daß G. statt
Dessau Bernhardt, Eva: Goethe's Römische Elegien. des geplanten kurzen Aufenthalts 1790 fast
The lover and the poet. Bern u.a. 1990. - Bronner, zwei Monate in Venedig verbrachte. Unmittel-
Ferdinand: Goethes Römische Elegien und ihre
bar nach seiner Ankunft teilte G. Johann Gott-
Quellen. In: Neues Jb. für Philologie und Pädagogik.
63 (1893). Bd. 148, S. 38-50, S. 102-112, S. 145-150, fried Herder mit, daß er die Arbeit an den
S.247-265, S.305-316, S.367-371, S.440-469, Römischen Elegien, die ihn bis dahin beschäf-
S.525-451, S.572-588. - Hahn, Karl-Heinz: Der tigt hatten, eingestellt habe: »Es ist gleichsam
Augenblick der Ewigkeit. Goethes Römische Ele- keine Spur dieser Ader mehr in mir. Dagegen
gien. In: GoetheJb. 105 (1988), S. 165-180. - Hoff- bring' ich Euch ein Buch Epigrammen mit, die,
mann, Frank: Goethes Römische Elegien. Erotische
hoff ich, nach dem Leben schmecken sollen«
Dichtung als gesellschaftliche Erkenntnisform.
Stuttgart 1993. - Jost, Dominik: Deutsche Klassik: (3.4. 1790). Die folgenden Wochen erwiesen
Goethes Römische Elegien. München U.a. 21978. - sich in poetischer Hinsicht als außerordentlich
Kaiser, Gerhard: Wandrer und Idylle. Die zyklische fruchtbar; nach einem Monat war die Samm-
Ordnung der Römischen Elegien. In: ders.: Wandrer lung »schon auf 100 Epigramme angewachsen«
und Idylle: Goethe und die Phänomenologie der Na- (an Caroline Herder, 4.5. 1790). Nach der
tur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gott-
Rückkehr begann G., den »libellum Epigram-
fried Keller. Göttingen 1977, S. 148-174. - Killy,
Walther: Mythologie und Lakonismus in der ersten, matum« zusammenzufügen (an Knebel, 9.7.
dritten und vierten Römischen Elegie. In: Gymna- 1790). Weitere Stücke entstanden zwischen
sium. 71 (1964), S. 134-150. -Luck, Georg: Goethes Ende Juli und Anfang Oktober 1790, während
Römische Elegien und die augusteische Liebesele- sich G. als Begleiter des Herzogs im schlesi-
gie. In: Arcadia. 2 (1967), S. 173-195. - Oettinger, schen Feldlager erneut auf Reisen befand. Bis
Klaus: Verrucht, aber schön ... Zum Skandal um
zum Jahresende beschäftigte er sich mit der
Goethes Römische Elegien. In: DU. 35 (1983),
S. 18-30. - Rüdiger, Horst: Goethes Römische Ele- Zusammenstellung und Ordnung der Epi-
gien und die antike Tradition. In: GoetheJb. 95 gramme. Deren Anzahl belief sich mittler-
(1978), S.174-198. - Seuffert, Bernhard (Hg.): weile auf mehrere Hundert, wobei auch frü-
Venezianische Epigramme 255

here Stücke, die aus der Zeit der Elegien zeinen Phasen seiner Entstehung historisch
stammten, aufgenommen wurden. Dann ruhte zuzuordnen. Die wichtigsten Etappen der
die Arbeit an diesem Komplex aber zunächst. Textgeschichte lassen sich dank der jüngsten
Im Druck erschienen die Epigramme, abge- G.-Ausgaben mühelos nachvollziehen. Die
sehen von der Veröffentlichung von 24 Stücken Münchner Ausgabe bietet die 156 Epigramme
unter dem Titel Sinngedichte im Juni- und aus der wichtigsten Handschrift (H55), die das
Oktober-Heft der Berliner Deutschen Monats- letzte Manuskriptstadium vor der Veröffentli-
schrift 1791, erst fünf Jahre später. Als Schiller chung von 1795 dokumentiert, sowie die 1791
bei G. um einen Beitrag für seinen Musen- als Sinngedichte gedruckten 24 Stücke, die
Almanach anfragte, schlug dieser vor, »ein Bü- Sammlung aus den Neuen Schriften und Nach-
chelchen Epigrammen ein oder anzurücken. lese (MA 5.2, S.85-151) mit Konkordanzen
Getrennt bedeuten sie nichts, wir würden aber (ebd., S.509 u. S.512-517). Die Frankfurter
wohl aus einigen Hunderten, die mitunter Ausgabe gibt die Epigramme in der Musen-
nicht producibel sind, doch eine Anzahl aus- Almanach-Version und Nachlqß wieder (FA I,
wählen können die sich auf einander beziehen 1, S. 445-478). Im folgenden wird die Münch-
und ein Ganzes bilden« (an Schiller, 26.10. ner Ausgabe zitiert (MA 5.2, S. 125-148).
1794). Im Musen-Almanach für das Jahr 1796
erschienen dann 105 Epigramme Ende 1795 Entgegen dem Titel, der einen unmittelbaren
unter dem Titel Epigramme. Venedig 1790; Bezug zur Lagunenstadt suggeriert, stellen Ve-
vorangestellt waren zwei lateinische Mottos nedig und Italien nur einen der Themenkom-
von Martial und Horaz. Die Nennung des Au- plexe des Zyklus dar. Daneben stehen Epi-
tors unterblieb auf G.s ausdrücklichen gramme zur Politik, zu Religion und Kirche, zu
Wunsch. Seine endgültige Gestalt erhielt der Liebe und Erotik sowie zu literarisch-ästhe-
Zyklus 1800 im Zuge der Vorbereitung des sie- tischen Fragen. Von der früheren Italienbe-
benten Bandes der Neuen Schriften. Neben der geisterung, auf die ausdrücklich angespielt
Erweiterung einiger Epigramme wurde dabei wird, scheint nichts mehr geblieben: »Das ist
vor allem die metrische Form der Distichen, Italien, das ich verließ. Noch stäuben die
die auf Kritik gestoßen war und die G. selbst Wege, / Noch ist der Fremde geprellt, stell' er
als verbesserungs bedürftig empfand, noch sich, wie er auch will / [ ... ] / Schön ist das
einmal überarbeitet, wobei August Wilhelm Land; doch, ach! Faustinen find' ich nicht wie-
Schlegel zu Rate gezogen wurde. Neu hinzu der. / Das ist Italien nicht mehr, das ich mit
kam das Huldigungsgedicht an Carl August Schmerzen verließ« (4). Die Bewohner Vene-
(Nr.34 b), während die lateinischen Mottos digs werden zu »rot bemäntelten Fröschen«
wegfielen. Seit der Werk-Ausgabe von 1806 (25), die im Sumpf hausen; der Markuslöwe,
steht an ihrer Stelle der Vorspruch: »Wie man Symbol der Republik, schrumpft neben den
Zeit und Geld vertan, / Zeigt das Büchlein lu- beiden griechischen Löwenfiguren am Arsenal
stig an«. zum »geflügelten Kater« (20). Im - histori-
Die nicht in den Zyklus aufgenommenen schen wie individuell-privaten - Rückblick
Epigramme wurden in der Weimarer Ausgabe hält die Gegenwart nicht stand: »Wir sind alle
aus den Handschriften gesammelt in Nach- Pilger, die wir Italien suchen; / Nur ein zer-
trägen zu den Gedichten (WA I, 55) und als streutes Gebein ehren wir gläubig und froh«
Paralipomena (WA I, 5.2 u. 55) veröffentlicht, (21). Die gleichzeitigen Briefe bestätigen die
wobei einige, von den Nachlaßverwaltern un- Desillusionierung in ähnlicher Tonart (z.B. an
leserlich gemacht, aus anderen Handschriften Carl August und an Herder, 5.4. 1790). Von
und den verbliebenen Spuren rekonstruiert ungewohnter Schärfe sind auch die Distichen
werden konnten. Ein unlängst erschienener mit politischem und religiösem Inhalt. Die
Überblick über die in Weimar erhaltenen »Freiheits-Apostel« (50) werden ebenso verur-
handschriftlichen Quellen erlaubt es, die Ge- teilt wie die Herrscher, die nur den eigenen
nese des Zyklus nachzuvollziehen und die ein- Vorteil im Sinn haben. Bemerkenswert ist die
254 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

Einstellung zur Französischen Revolution: epigrammatischen Sprechens bezeichnet. G.s


Entgegen der entschiedenen Ablehnung in den Beschäftigung mit antiker Epigrammatik läßt
späteren Jahren erscheint G.s Haltung in den sich bis zum Beginn der 80er Jahre zurück-
Epigrammen durchaus ambivalent (57, 58). verfolgen; in dieser Zeit entstanden die ersten
Eindeutig dagegen sind die Invektiven gegen Hexameter und Distichen. Nach der Rückkehr
die Kirche, die sich ebenso gegen den Klerus aus Italien befaßte sich G. intensiv mit Grie-
wie gegen die Gläubigen richten (11). Einen chisch-Studien, unter anderem auch mit der
großen Teil der antireligiösen Distichen hat G. Anthologia Graeca, der umfangreichen
von der Veröffentlichung ausgeschlossen. Bei Sammlung griechischer Epigramme. Der ent-
den Liebesepigrammen, die den größten Teil scheidende Anreger für G.s Beschäftigung mit
des Zyklus ausmachen, zeigt sich eine dop- der Epigrammatik war Herder mit seinen
pelte Tendenz: Einerseits beziehen sie sich Nachdichtungen aus der Anthologie, vor allem
deutlich auf die in Weimar mit dem wenige aber mit seinen Anmerkungen über das grie-
Monate alten Sohn zurückgelassene Chri- chische Epigramm (1785/86), in denen er sich
stiane (51, 96, 98, 99, 101, 102), zum andern kritisch mit Gotthold Ephraim Lessing ausein-
bieten sie Gelegenheit zu mehr oder weniger andersetzte. Dieser hatte in aufklärerischer
expliziten erotischen Phantasien, die sich an Tradition das rationale Moment betont und
dem Gauklermädchen Bettine (56-45) und den schlaglichtartig erhellenden Witz, die
den venezianischen Prostituierten (67-72) Pointe, zum Wesensmerkrnal des Epigramms
entzünden. Über den ganzen Zyklus verteilt erklärt. Herder dagegen faßte, ausgehend von
finden sich schließlich Epigramme, die die der Anthologie, das Epigramm wesentlich wei-
Entstehung der Distichen thematisieren. Mo- ter und begriff es als Ausdruck der für die
mentane Eindrücke und Erlebnisse des Rei- Antike charakteristischen Humanität der Emp-
senden werden zum Auslöser von Beobachtun- findung. Dem pointierten stellte er das emp-
gen und Reflexionen, die sich ihres isolierten findungsvolle Epigramm gegenüber, womit
und fragmentarischen Charakters durchaus die Griechische Anthologie gleichberechtigt
bewußt sind. Als »abgeriß'nes Gespräch« (2) neben die bislang als maßgeblich geltenden
und flüchtige Berührung der Musen (81) wer- Epigramme Martials trat. Neben den griechi-
den sie bezeichnet, als scheinbar unwillkür- schen Vorlagen waren es jedoch vor allem la-
liche Hervorbringungen, deren Zunahme mit teinische Autoren, die G. als Quelle für seine
dem Schwinden der Reisemittel gleichen Epigramme dienten; direkte Entlehnungen
Schritt geht (46); der Dichter wird schließlich und Bezüge verweisen auf Catull und Properz,
zu einem neuen Midas, dem alles, was er be- vor allem aber auf Horaz, dessen erstes Sati-
rührt, nicht zu Gold, sondern zu einem Ge- renbuch eine analoge Disposition und Stim-
dicht wird (100). mung wie die Venezianischen Epigramme auf-
Der scheinbaren Anspruchslosigkeit sol- weist. Die metrische Gestalt des Zyklus ist das
chen Dichtens widersprechen jedoch die deut- Distichon, das ebenfalls von Herder als epi-
lichen Anspielungen auf die literarische Gat- grammatisches Versmaß eingebürgert worden
tung. Programmatisch evoziert das erste Epi- war. Überwiegend handelt es sich um einfache
gramm im Bild des reich geschmückten anti- oder Doppel-Distichen, während ein Viertel
ken Sarkophags, mit dem der Zyklus der Epigramme, die zum Teil aus dem Entste-
verglichen wird, die früheste Form antiker hungszusammenhang der Römischen Elegien
Epigrammatik, nämlich die Grabaufschrift. stammen, sechs und mehr Zeilen umfaßt.
Auf den literarischen Traditionszusammen- Die Anordnung der einzelnen Epigramme
hang verweist auch die Bezeichnung der Epi- innerhalb des Zyklus gehorcht keiner strengen
gramme als »Überschriften« (59) und der Ver- Regel, ist jedoch nicht zufcillig. In den Manu-
gleich des Zyklus mit einem Fläschchen »rei- skripten lassen sich fünf klar voneinander ab-
nen Arraks« (25), der metaphorisch die cha- weichende Ansätze zur Ordnung des Zyklus
rakteristische Konzentration und Verdichtung erkennen, die Vorstufen der Druckfassung dar-
Venezianische Epigramme 235

stellen (Schmid, S.35ff.). G. selber hat das Tendenz vor allem an der unzureichenden me-
Kompositionsprinzip anläßlich der Veröffent- trischen Form der Distichen fest. In der Folge-
lichung folgendermaßen charakterisiert: »Bey zeit galten die Epigramme durchgängig als pe-
der Zusammenstellung habe ich zwar die Zu- riphere, zweitrangige Produktion. Sie paßten
sammengehörigen hintereinander rangiert, nicht in das kanonische G.-Bild und wurden
auch eine gewisse Gradation und Mannigfal- mit Unverständnis aufgenommen, was im Ex-
tigkeit zu bewürken gesucht, dabey aber um tremfall sogar zu direkten Eingriffen in die
alle Steifheit zu vermeiden vorn herein, unter Handschriften führte, wobei einige unveröf-
das venetianische Lokal, Vorläufer der übrigen fentlichte Epigramme, die als zu anstößig
Arten gemischt« (an Schiller, 17.8. 1795). Ent- empfunden wurden, mit Radiermesser und
sprechend lassen sich in der losen Abfolge Schere buchstäblich getilgt wurden. In die
deutlich thematische Blöcke erkennen, ohne gleiche Richtung zielen auszugsweise Veröf-
daß dieses Ordnungsprinzip mehr als ein gro- fentlichungen, die den Zyklus zensierten und
bes Raster darstellt. Die einzelnen Abteilun- einen Teil der Epigramme unterschlugen. Ein
gen werden meist durch eine Gruppe von Di- ambivalentes Verhältnis verraten auch die Ret-
stichen eingeleitet, in denen die Entstehung tungsversuche, die längeren unpolemischen
der Epigramme und ihr Gattungscharakter re- Epigramme aus dem Zyklus auszukoppeln, sie
flektiert werden und eine vorwurfsvolle zu Kleinelegien zu erklären und nur ihnen den
Stimme erscheint (3, 26, 47, 59, 75, 77), gegen Charakter des literarischen Kunstwerks zuzu-
die der Dichter sich zur Wehr setzen muß erkennen, wie überhaupt der Vergleich mit
(Hexter, S. 526ff.). Daneben sind die einzel- den Römischen Elegien häufig dazu diente, die
nen Epigramme häufig paarweise angeordnet venezianischen Epigramme negativ dagegen
und beziehen sich - als Variation oder Gegen- abzusetzen und sie gleichsam zur Schwund-
satz - aufeinander. Auch dieses Strukturprin- stufe dichterisch gelungener Gestaltung zu
zip hat G. wohl bei Herder entlehnt, der in den verkleinern.
Zerstreuten Blättern (1785/86) seine Überset- Die wissenschaftliche Forschung zu den Epi-
zungen aus dem Griechischen nach eben die- grammen ist auffallend schmal und weist - von
sem Prinzip angeordnet hatte. wenigen Ausnahmen abgesehen - einen ge-
meinsamen Grundzug auf: Da der Zyklus nicht
Die venezianischen Epigramme fanden nur zu- in das gängige Deutungsmuster zu integrieren
rückhaltende Aufnahme beim Publikum und ist, neigen die Autoren dazu, ihn tendenziell
lösten wegen ihrer ungewohnten Schärfe und zu entschuldigen, statt sich mit ihm ausein-
teilweise krassen Direktheit Befremden und anderzusetzen. In der Regel wird dabei ein
Ablehnung aus. Unmittelbar nach dem Er- biographisches Erklärungsmodell herangezo-
scheinen des Musen-Almanach schilderte gen, nach dem sich G. unfreiwillig, angeblich
Wilhelm von Humboldt die ambivalente Reak- auf Anweisung des Herzogs, in Venedig aufge-
tion auf den Zyklus: »Der Musenalmanach ist halten habe, um Anna Amalia nach Weimar zu
jetzt in allen Händen [ ... ] Die härteste Kritik begleiten. Mißgestimmt ob der langen Warte-
muß sich Göthe gefallen lassen, besonders zeit und voller Ungeduld, endlich wieder zu
seine Epigramme, für die nun auch freilich der seiner jungen Familie und seiner wissen-
Standpunkt, aus dem sie beurtheilt werden schaftlichen Arbeit zurückzukehren, habe er
müssen, am schwersten zu finden ist, und die seinem Ärger in galligen Versen Luft gemacht
ich daher auch von einigen ebenso grundlos (z.B. Dietze, S. 182ff.). Ein solches Deutungs-
loben, als von andern tadeln höre [ ... ] In modell, dem das lyrische Ich und die Figur des
Rücksicht auf Göthe werde ich auch oft ge- Dichters in den Epigrammen umstandslos als
fragt, warum er soviel theils Schlechtes, theils direkte Selbstaussage G.s gelten, unterschlägt
Unvollendetes ins Publikum giebt« (an Schil- den gattungsspezifischen Charakter epigram-
ler, 29.12. 1795). Wie hier bereits anklingt, matischen Sprechens, das auf überspitzende
machte die Kritik sich neben der inhaltlichen Pointierung und Provokation angelegt ist.
236 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

Gleiches gilt von dem umgekehrten Versuch, tet« und dabei seine distanzierte, kritische Po-
in dem Zyklus die Spur eines aufrührerischen, sition niemals aufgibt; dies seien die typischen
subversiven G. zu entdecken und gleichzeitig Merkmale für »die Haltung des Flaneurs«
eine unbekannte bzw. unterschlagene Facette (S.129f.). Neben der eindeutigen Rückbin-
der Weimarer Klassik (Flavell, S. 36ff.). dung der Epigramme an die antike Tradition
Die Rolle der klassischen Epigrammatik in bildeten sie damit zugleich ein Vorspiel der
der deutschen Literatur des 18. Jhs. hat Ernst modemen Dichtung.
Beutler ausführlich dargestellt und dabei auf Ein umfassender Deutungsversuch der vene-
G.s intensive Beschäftigung mit der Antho- zianischen Epigramme steht noch aus. Daher
logie hingewiesen. Die in die venezianischen können nur einzelne Aspekte genannt werden,
Epigramme eingeflossenen lateinischen Quel- die bei einer künftigen Analyse des Zyklus zu
len sind durch Ernst Maaß ermittelt worden. berücksichtigen sind:
Das Problem der Komposition des Zyklus hat Entgegen dem gängigen Interpretationsmu-
erst relativ spät Aufmerksamkeit gefunden. ster, diese Epigramme als -Buch des Unmuts<
Der Versuch, jedes Epigramm einer bestimm- zu begreifen und auf die persönliche Verstim-
ten inhaltlich definierten Gruppe zuzuordnen mung des Autors zurückzuführen, ist zunächst
(Jarislowsky, S. 86ff.), um auf diese Weise das eine gen aue Darstellung des Aufenthalts in
Strukturprinzip zu ermitteln, ist wegen der Venedig nötig. Hinweise dazu liegen vor und
Mehrdeutigkeit einzelner Distichen proble- lassen erkennen, daß G. diese Zeit außer für
matisch und führt zu einer Verzettelung, die die Arbeit an den Epigrammen für kunst- und
über allgemeine Beobachtungen nicht hinaus- naturwissenschaftliche Studien intensiv ge-
führt. In jüngster Zeit hat Ralph Hexter auf das nutzt hat. Ausgehend von der Neueinschät-
Phänomen einer vorwurfsvollen »scolding zung des zweiten Venedigaufenthalts hat jeder
voice« hingewiesen, deren Erscheinen den Zy- Deutungsversuch der Tatsache Rechnung zu
klus strukturiert und thematische Blöcke von- tragen, daß G.s Epigrammdichtung vor dem
einander trennt. Eine grundsätzliche Neuein- Hintergrund seiner ausgedehnten Beschäfti-
schätzung des Zyklus hat Wolfgang Preisen- gung mit der literarischen Tradition zu sehen
danz vorgenommen, der dessen Eigenständig- ist und den bewußten Versuch darstellt, sich
keit und kategoriale Differenz zu den dieses Genre dichterisch anzueignen. Dabei
Römischen Elegien betont; >>nicht mehr eine orientierte sich G. trotz Herders Bemühungen
alles einzelne tragende und durchwaltende um eine Erweiterung des Gattungsbegriffs
Gefühlserfahrung bestimmt die dichterische vornehmlich an der polemisch pointierten
Situation, sondern die unbefangen den isolier- Epigrammatik Martials. Hinzu kommt der
ten Gelegenheiten geöffnete Situation des Umstand, daß das Epigramm wegen seiner
Wanderers« (S. 73). Die dem Epigramm inhä- Kürze und relativen Einfachheit seit Anfang
rente Tendenz zur Pointierung und Deutung der 80er Jahre innerhalb der Weimarer Hofge-
verhindert dabei eine impressionistische sellschaft die Funktion der Gelegenheitsdich-
Schilderung von äußeren Eindrücken, wirkt tung übernahm »als der sich allem anpassende
vielmehr im Sinne einer Konzentration und und schnell geschaffene Ausdruck für jede
Verschärfung, die dem isolierten Erlebnis deu- Stimmung« (Beutler, S. 81). Diese kommuni-
tenden Zeichencharakter verleiht. Die Hal- kative Funktion erfüllten zunächst auch ein-
tung des die fremde Stadt durchstreifenden zelne Epigramme, die als Briefbeilagen im
Beobachters, die sich in den Epigrammen ma- Freundeskreis zirkulierten, wo davon auszu-
nifestiert, ist fur Wolfdietrich Rasch das Neue gehen war, daß sie als Spiel mit klassischen
und Bedeutsame an dem Zyklus. Er beschränkt Mustern und Konventionen verstanden wur-
sich dabei auf die Distichen, die sich mit dem den und keinen Anstoß erregten. Um den Be-
Gauklermädchen Bettine befassen, und zug zur literarischen Tradition auch dem brei-
kommt zu dem Ergebnis, daß der Beobachter teren Publikum deutlich zu machen, hielt G. es
»die Wirklichkeit wie ein Schauspiel betrach- für ratsam, dem Zyklus für die Veröffentli-
Xenien 237

chung vorsichtshalber zwei lateinische Mottos Literatur:


voranzustellen, um »auf die Antiquität hinzu- Beutler, Ernst: Vom griechischen Epigramm im 18.
deuten« (an Schiller, 17.8. 1795). In diesem Jahrhundert. Leipzig 1909. - Dietze, Walter: Libel-
Zusammenhang hätte eine historische Würdi- lus Epigrammatum. In: Beyer, Manfred u.a. (Hg.):
gung zu berücksichtigen, wie weit die heutigen Ansichten der deutschen Klassik. Berlin, Weimar
Maßstäbe dessen, was als anstößig empfunden 1981, S. 182-208. - Flavell, M. Kay: The limits of
truth-telling. An examination of the Venetianische
wird, nicht überhaupt erst im vorigen Jahr-
Epigramme. In: OGS. 12 (1981), S. 36-68. - Hexter,
hundert entstanden sind. Ralph: Poetic reclamation and Goethe's Venetian
Die Distichen, in denen die Entstehung bzw. Epigrams. In: MLN.96 (1981), S.526-555. - Ja-
der Gattungscharakter der Epigramme thema- rislowsky, Johanna: Der Aufbau in Goethes Venetia-
tisiert werden, stellen einen wesentlichen nischen Epigrammen. In: JbGG. 13 (1927). S. 86-95.
Schlüssel zum Verständnis des Zyklus dar. Sie - Maaß, Ernst: Die Venetianischen Epigramme. In:
JbGG. 12 (1926), S. 68-92. - Preisendanz, Wolfgang:
machen deutlich, daß sich das epigrammati-
Die Spruchform in der Lyrik des alten Goethe und
sche Sprechen bewußt den äußeren Eindrük- ihre Vorgeschichte seit Opitz. Heidelberg 1952. -
ken überläßt, die den Beobachter zu Ge- Rasch, Wolfdietrich: Die Gauklerin Bettine in Goe-
staltung und reflektierender Verarbeitung thes Venetianischen Epigrammen. In: Corngold,
anregen. Solche isolierten Wahrnehmungsmo- Stanley A. u.a. (Hg.): Aspekte der Goethezeit. Göt-
mente sind ursächlich durch das großstädti- tingen 1977, S.115-136. - Schmid, Gerhard: Die
Handschriften zu Goethes Venezianischen Epigram-
sche Leben bedingt, das der Dichter als mü-
men. Prolegomena zur Analyse und Auswertung ei-
ßiger Passant durchstreift und auf das er in ner unausgeschöpften Quelle. In: Hahn, Karl-Heinz
knappster dichterischer Form reagiert. G. (Hg.): Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archiva-
selbst hat diesen Zusammenhang klar benannt lischer Überlieferung für das Verständnis von Lite-
und die Entstehung der Epigramme folgen- ratur und ihrer Geschichte. Weimar 1991, S. 35-43.
dermaßen erklärt: »Es sind dieses Früchte die Stifan Oswald
in einer großen Stadt gedeihen, überall findet
man Stoff und es braucht nicht viel Zeit sie zu
machen« (an Charlotte von Kalb, 30.4.1790).
Unter dieser Prämisse stellt sich auch die
Frage nach der Komposition in neuem Licht
dar. Eine Reihe isolierter, zufälliger Erlebnisse
und Reflexionen ist mit der organischen Form Xenien
des geschlossenen Kunstwerks nicht zu ver-
einen. Sie finden ihren adäquaten Ausdruck
vielmehr in einer Form der Anordnung, die Die im Zusammenwirken mit Schiller entstan-
den Zufall ihrer Entstehung nicht unter- denen Xenien wurden veranlaßt durch die kri-
schlägt, sondern als Gestaltungsprinzip ein- tischen Besprechungen der Horen. G. zeigte
bezieht. Ein Moment des Beliebigen und Frag- sich über das unbefriedigende Echo der Zeit-
mentarischen spielt dadurch zwangsläufig mit schrift noch weit stärker verärgert als deren
hinein, ohne daß dem Zyklus deswegen eine Herausgeber; die Idee, daß den Horen-Kriti-
bewußte Strukturierung abzusprechen wäre. kern streitbar entgegenzutreten sei, stammte
Im Unterschied zu manchen Kritikern ging G. von ihm. Erstmals findet sie sich im Brief an
jedenfalls davon aus, daß die Epigramme in Schiller vom 28.10. 1795 ausgesprochen. Sich
der von ihm getroffenen Auswahl und Anord- auf neuerlich polemische Äußerungen über die
nung »ein Ganzes bilden« (an Schiller, 26.10. Zeitschrift beziehend, empfahl G., daß Schil-
1794). ler doch am Ende des ersten Jahrgangs »ein
kurzes Gericht« (ebd.) einschalten möge; in
konzentrierter Weise solle der Herausgeber
dem Gesamt aller bislang laut gewordenen
Kritik entschieden Paroli bieten: »Wenn man
238 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

dergleichen Dinge in Bündlein bindet brennen diesem Erweiterungsvorschlag eilends und


sie besser« (ebd.; vgl. Matthäus 13,29). Schil- freudig zu (30.12. 1795); und nun, da man
ler reagierte auf diesen Impuls eher zurück- übereingekommen war, begann ein gemein-
haltend (an G., 1.11. 1795) - wodurch sich G. sames Hervorbringen, das bis zum Sommer
indes keineswegs beirren ließ. Am 21.11. 1796 währte und insgesamt mehr als 900
1795, soeben hatte er Friedrich Leopold von Stücke zeitigte. Im klaren war man sich von
Stolbergs Platon-Vorrede gelesen, schrieb er vornherein darüber, daß nicht jeder Einzeltext
an Schiller vom Erforderlichen »einer Art verwendbar sein würde; vor allem jedoch er-
Kriegserklärung gegen die Halbheit«; beun- wies sich schließlich die Anordnungsfrage als
ruhigt werden müsse sie »in allen Fächern«; schwierig. Im Juli wurde die Idee erwogen,
auch und gerade auf wissenschaftlichem Ge- das Gesamtkorpus in kleinere Gruppen zu tei-
biet sei ein entsprechender Vorstoß »nicht zu len und diese im Almanach verstreut zu plazie-
umgehen«. Damit aber waren es schon nicht ren. Hernach indessen verständigte man sich
mehr nur die Horen-Kritiker, die angegriffen darauf, nur die »unschuldigen« Epigramme ab-
werden sollten; und im übrigen sprach G. nun zusondern und sie in den vorderen, den als
in der ersten Person Pluralis. Der noch immer seriös bestimmten Teil des Almanachs zu neh-
auf Zurückhaltung bedachte Schiller, demon- men (an G., 1.8. 1796). Die größte einschlä-
strativ zu verstehen gebend, daß er das Perso- gige Gruppe umfaßt 103 Stücke und wurde mit
nalpronomen im Sinne eines Majestätsplurals dem Titel Tabulae votivae versehen. Den ei-
gelesen habe, ließ daraufhin wissen, es sei ihm gentlichen Xenien aber schlug man 414 Einzel-
recht, wenn G. etwas Derartiges unternehme, stücke zu; man disponierte sie, als eine Art
zudem verwies er auf jenes »jüngste Gericht«, Satyrspiel, für den hinteren Teil des Alma-
das er in seiner Abhandlung Die sentimentali- nachs. Die Redaktionsarbeiten besorgte, kor-
schen Dichter ja seinerseits veranstalte (23.11. respondierend mit G., Schiller vor allem im
1795) - aus Weimar allerdings wurde ihm hin- Laufe des August 1796. - Die Ausführungen
fort aufs neue bedeutet, daß es auf sein Mittun beziehen sich im folgenden auf die Weimarer
durchaus ankomme. Und im Brief vom 23.12. Ausgabe (JVA 1,5.1, S. 203-302).
1795 trug G. den konkretisierenden, durch die
Martialschen Xenia angeregten »Einfall« vor, Von den insgesamt 21 überlieferten Hand-
»auf alle Zeitschriften Epigramme, iedes in schriften ist zunächst die G.sche der soge-
einem einzigen Disticho, zu machen« und nannten »Ur-Xenien« hervorzuheben, sodann
diese im Schillerschen Musen-Almanach.für eine solche, in die Schiller und G. sowie des-
das Jahr 1797 zu publizieren. Einige Probe- sen Schreiber Johann Jakob Ludwig Geist ab-
stücke sandte er drei Tage später hinterdrein. wechselnd die im Januar 1796 entstandenen
Noch nicht durch die Mitteilung des »Ein- Distichen eintrugen, schließlich - und vor al-
falls«, wohl aber durch die unterbreiteten Ex- lem - jene 76 Seiten umfassende sogenannte
empel schwand Schillers Reserviertheit dahin. »Sammelhandschrift«, die, angefertigt ab
Am 29.12. 1795 bekundete er begeistertes Ein- Ende Juni von Geist, 676 Stücke enthält und
verständnis; zugleich schlug er vor, daß man als Grundlage für die Endredaktion diente.
durchaus in die Breite gehen und also auch Neben den Schillerschen und G.schen Briefen
über einzelne Werke »herfallen« sollte; und vom Oktober 1795 bis zum Spätsommer 1796
unverzüglich entwarf er eine Liste: »Welchen vermitteln die handschriftlichen Textzeugen
Stoff bietet uns nicht die Stolbergische Sipp- wesentliche Einblicke in die Beweggründe der
schaft, Rackenitz, Ramdohr, die metaphysi- Xeniendichter, in das Wechselspiel der Ab-
sche Welt, mit ihren Ichs und NichtIchs, sichten, Erwägungen, Balancebemühungen.
Freund Christoph Friedrich Nicolai unser ge- Ersichtlich ist, daß Schiller, obgleich der Zöge-
schworener Feind, die Leipziger Geschmacks- rer zunächst, sehr bald schon die Initiative
Herberge, Thümmel, Göschen als sein Stall- ergriff und auch einer polemischen Schärfe
meister, u. d. gl dark G. wiederum stimmte zuneigte, zu der sich G. nur in minderem
Xenien 239

/fi'

Briifan Schiller vom 28.10.1795


240 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

Grade verstehen mochte. Mehr noch als für G. men würde. Am 1.8. 1796 schrieb Schiller an
spielte für ihn ein entschiedenes literaturpoli- G.: »Auf Einem Haufen beysammen [ ... ] ver-
tisches Kalkül eine Rolle. Stärker als G. nahm lieren sie sehr vieles von ihrer Bitterkeit, der
er, der ambitionierte Journalherausgeber und allgemein herrschende Humor entschuldigt
philosophisch-ästhetische Autor, in der sich jedes einzelne, so wie Sie neulich schon be-
dissoziierenden geistig-literarischen Welt merkten und zugleich stellen sie wirklich ein
eine ausgesprochene Gegnerschaft wahr; im gewißes Ganzes vor«. Übrigens haben die Au-
Blickfeld fanden sich Feinde und feindliche toren ihre Anteile daran nie endgültig geson-
Gruppierungen, denen eine Schlappe beige- dert; G. nahm nur sechs Xenien in seine Werk-
bracht werden sollte. Die auch in den Texten ausgaben auf.
selbst sich niederschlagende Kriegsmetapho- Auch dies aber gehörte, und von Anfang an,
rik, von G. zuerst, von Schiller dann aber zur Disposition, daß die Xenien einem grö-
hauptsächlich beansprucht, läßt diese Absicht ßeren Publikum präsentiert werden sollten.
sehr deutlich hervortreten: die grimmig-lu- Schon am 23.12. 1795 empfahl G. eben nicht
stige eines Zu-Felde-Ziehens gegen Widersa- die Horen als publizistisches Medium, son-
cher. Bei G. wiederum läßt sich ein Wandel dern ausdrücklich den populäreren Musen-Al-
insofern bemerken, als er, ohne daß sich ihm manach. Und am 27.1. 1796 schrieb er davon,
der Aggressionsimpuls wirklich verloren daß es doch »eine herrliche Gelegenheit« sei,
hätte, mehr und mehr die Idee einer gelösten »die Sachen aus der Studierstube und Recen-
karnevalesken Inszenierung zu favorisieren sentenwelt in das weitere Publicum hinaus zu
suchte. Am 10.6. 1796 schrieb er an Schiller: spielen, wo dann einer oder der andere gewiß
»Hier folgen die versprochenen Epigramme, Feuer« fange, »der sonst die Sache hätte vor
es sind doch dreyßig an der Zahl! leider ist sich vorbeystreichen lassen«. Entsprechend
auch hier der Haß doppelt so stark als die war an ein Spectaculum, das eine große Zu-
Liebe«. G. selbst empfand es als wenig be- schauerschar vergnügen würde, ebenso ge-
friedigend, daß ihm militanter Ingrimm die dacht wie an den Effekt einer erwünschten
Bedienung des Spielkonzepts fortwährend Sympathisantengewinnung: Gemeinhin Indif-
verhinderte. »Xenien habe ich wieder einige ferente sollten zu einem Mitlachen animiert
Dutzend, nur gerade nicht von der nothwen- und damit auf die Seite derer gelockt werden,
digsten Gattung«. Mit diesem Satz, abge- die auf Kosten anderer ihres Metiers das spot-
schickt an Schiller zwölf Tage später, bezeich- tende Spiel veranstalteten. Und tatsächlich
nete G. das ihm in hohem Grade bewußte Miß- war die Sensation, die der Almanach nach sei-
verhältnis neuerlich. Und G. vermochte seine ner Auslieferung Ende September 1796 weit-
Bedenklichkeit auf Schiller immerhin zu über- hin machte, dann so groß, daß rasch zwei
tragen. Der G.schen Empfehlung, daß man Nachauflagen gedruckt werden mußten. Der
sich »bey aller Bitterkeit [ ... ] vor criminellen »Xenien-Almanach« vermochte das Interesse
Inkulpationen hüten« sollte (an Schiller, 10.6. der anonym gewordenen und partikularisier-
1796), stimmte er ausdrücklich zu (an G., ten literarischen Öffentlichkeit zu binden und
11.[12.]6.1796); es gab mildernde, den Perso- auf sich zu konzentrieren.
nenbezug transzendierende Überarbeitungen;
zudem wurde der G .schen Idee einer karneva- Eben das freilich, was dieses Interesse an sich
listischen Humorisierung insofern Genüge ge- zog, spiegelte in seiner Widersprüchlichkeit
tan, als man den Zyklus mit Distichen eröff- exakt diejenige, die hinsichtlich der Schreib-
nete, die eine Art Maskenzug beschreiben. Im impulse und Absichtsbestimmungen schon in
übrigen galt die Hoffnung, daß die zu einem den reflektierenden Briefen ihren Ausdruck
heiter-poetischen »Ganzen« komponierte gefunden hatte. Und wenn sich »Humor« ge-
Sammlung den zu verifizierenden höheren äs- wiß Geltung verschaffte, so indes keineswegs
thetischen Anspruch ebenso mitteilen wie sie als »allgemein herrschender«. Die Zahl der
den Einzeltexten ihre aggressive Schärfe neh- personalsatirisch gemünzten und dabei oft
Xenien 241

grob beschimpfenden, auch denunzierenden Schillerschen Musen-Almanachs.für das Jahr


Epigramme war trotz aller redaktionellen Fil- 1796 als auch Auszüge aus seiner Abhandlung
terung beträchtlich geblieben; das Agens einer Über das Studium der griechischen Poesie pu-
erbitterten Feindbekämpfung, bei der auf die bliziert hatte und damit als Parteigänger des
Wahl der Mittel wenig geachtet wird, trat Giebichensteiners erschien. Die einschlägigen
überdeutlich hervor. Was dem Humor-Konzept Distichen machten ihn zum ambitionierten
noch am ehesten entsprach, waren vor allem Scharlatan und inkompetenten »Geschwind-
etliche jener Spottdistichen, die auf Almana- schreiber« - Schiller trachtete einen ästheti-
che, Taschenbücher, Journale, aufs geistig-li- schen Schriftsteller zu erledigen, den er als
terarische Leben verschiedener deutscher ernstlich-lästigen Konkurrenten sah. Was aber
Städte bzw. Landschaften zielten. Überaus G. betrifft, so nutzte er die Xenien-Gelegen-
scharf hingegen schon die der sogenannten heit besonders für seine Auseinandersetzung
Glaubenspartei gewidmeten Epigramme: mit den Newtonianern; verbitterter Ingrimm
scharf in Hinblick aufs Essentielle der Pointie- und beschwörende Rhetorik in einem: »Hun-
rung, zum Teil aber auch in Hinblick auf ihre dertmal werd ich's euch sagen und tausend-
Nichtungsrigidität. Und beides, doch zuvör- mal: Irrthum ist Irrthum I«~ (Wiederholung; WA
derst das letztere, gilt namentlich für die sehr I, 5.1, S. 299).
vielen Xenien, die über Friedrich Nicolai und Das Spektrum der spöttisch-epigrammati-
dessen Parteigänger »herfallen«. Im elften schen Vorstöße differenziert und im einzelnen
Band seiner Beschreibung einer Reise durch zu beschreiben verbietet sich hier: Ihrem Vor-
Deutschland und die Schweiz hatte der Wolf- satz, umfassend sein zu wollen, kamen die
fianer Nicolai den Schillerschen Briefen Über Xeniendichter ziemlich nahe; und bedacht hat
die ästhetische Erziehung des Menschen eine man gar noch den 77jährigen Johann Wilhelm
ausführlich-abwertende Kritik zuteil werden Ludwig Gleim, dem man attestierte, »die
lassen - den Berliner Spätaufklärer als dumm- spannende Kraft und die Schnelle« eingebüßt
plumpen Empiriker zu brandmarken finden zu haben (Antwort; ebd., S. 255). Wenn Schil-
die Xenien kein Ende. Aufvergleichbare, dabei ler indes zwar auf Friedrich Ludwig Schröder
noch ärgere Weise wurde Johann Friedrich und August Friedrich Ferdinand Kotzebue,
Reichardt verfolgt. Ohne Ahnung, gegen wen nicht aber auf August Wilhelm Iffland zielte,
er polemisierte, war Reichardt - als Horen- so verschonte er den letzteren nur deshalb,
Kritiker - besonders mit dem Autor der Unter- weil G. ihn zu einem Weimar-Gastspiel einge-
haltungen deutscher Ausgewanderten ins Ge- laden hatte und ein Dauerengagement nicht
richt gegangen; er hatte den Text als Exempel ausgeschlossen schien. Johann Heinrich Voß
einer hämischen Kunst apostrophiert, deren wiederum, der gar belobigt wurde, stand als
Aufnahme in die Schillersche Zeitschrift das potentieller Bündnispartner vor Augen. Und
schlechthin Heuchlerische ihrer Programma- Herder blieb unangetastet auf Grund der
tik erweise. Die xeniastische Rache gestaltete Wohnnachbarschaft. Die gleiche Erwägung
sich maßlos: Reichardt wurde als Kläffer, Lüg- führte zur milden Behandlung Christoph Mar-
ner, Schmarotzer, als »demokratischer Spitz« tin Wielands, der sich lediglich als oftmals
(WA I, 5.1, S.235) verunglimpft. Und den als schmollende »zierliche Jungfrau« (Zeichen der
gefährlichen Anarchisten, als Revolutions- Jungfrau; ebd., S.216) benannt sehen und
freund Angeschwärzten rückten die Xenien in sich sagen lassen mußte, daß er selbst in sei-
die Nähe Carl Friedrich Cramers und auch nem Neuen Teutschen Merkur nur allzu selten
Georg Forsters, der seinerseits - und also noch anzutreffen sei (Merkur; ebd., S.242). Für
im Grabe - mit Hohn aufs zynischste bedacht derartige Befunde konnte der von G. und
wurde. Friedrich Schlegel wiederum wurde Schiller reklamierte frohe Humor gewiß in
nicht zuletzt eben deswegen verächtlich ins Anspruch genommen werden.
Visier genommen, weil er in Reichardts Zeit-
schrift Deutschland sowohl eine Kritik des
242 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

Das abschließende, von G. stammende Xenion xeniastische Erwiderung, den Mücken-Alma-


trägt den Titel An die Freier (ebd., S. 265). Es nach.für das Jahr 1797 präsentierte. Auch
lautet: »Alles war nur ein Spiel! Ihr Freier lebt Texte einer replizierenden spielerischen Prosa
ja noch alle, / Hier ist der Bogen und hier ist zu erschienen (anonym) auf dem Markt, z.B. Ein
den Ringen der Platz«. Noch einmal wurde paar Worte zur Ehrenrettung unsrer deutschen
damit jener Spielcharakter der Xenien betont, Martiale und Aeakus. Und Daniel Jenisch ver-
der doch de facto nicht gewahrt war; und an anstaltete einen Nachdruck der Almanachxe-
die Verspotteten erging die Offerte, der Spiel- nien und versah sie dabei mit hämisch auf G.
vorgabe gemäß sich nun zu revanchieren. Frei- und Schiller zurückdeutenden KOllllllentaren:
lich hätte es solcher Aufforderung kaum be- Litterarische SpüjJruthen oder die hochadli-
durft: Die Xenien-Veröffentlichung stellte eine gen und berüchtigten Xenien. August Friedrich
Provokation dar, die Erwiderungen zwangs- Crantz aber publizierte noch 1797 ein grim-
läufig erwirken mußte. Und ihre hervorru- mig-kritisches Resümee des Xenien-Streits,
fende Macht erwiesen die Xenien gleicher- das ihn seinerseits fortführte: Die Ochsiade
maßen darin, daß sich die meisten dieser Er- oder freundschaftliche Unterhaltungen der
widerungen einer xeniastisch-spielerischen Herren Schiller und Göthe mit einigen ihrer
Attitüde befleißigten. Gewiß gab es prosaisch- Herren Collegen.
rügende Rezensionen, auch jene ironisch- Von all diesen Gegenreaktionen kennzeich-
nonchalante Besprechung, mit der Fried- nete sich deren größter Teil durch den Ver-
rich Schlegel im Reichardtschen Journal such, den humoristisch drapierten Spieß nun
Deutschland Stellung nahm. Und Wieland umzudrehen und dabei dem Macht- und Be-
suchte sich zu behaupten, indem er einen um herrschungsanspruch, den man erhoben sah,
Überlegenheit bemühten sokratischen Dialog Paroli zu bieten. Und indem man das tat, ging
über die Xenien verfaßte (Neuer Teutscher man, aufs Ganze betrachtet, weit schärfer noch
Merkur); Nicolai legte eine vernunft- und mo- als mit Schiller mit G. ins Gericht. In letzterem
raldidaktisch gegründete Großauseinander- wurde bevorzugt der von aller Religiosität,
setzung mit den Xeniasten vor (Anhang zu Moral und gelehrtenrepublikanischer Seriosi-
Friedrich Schillers Musen-Almanach.für das tät verlassene Egoist und Hegemoniale er-
Jahr 1797; 217 Seiten); Reichardt, der sich blickt, der den anderen verführt bzw. gedun-
durch die Xenien geradezu existentiell bedroht gen habe. Charakteristisch auch, daß keines-
sah, reagierte mit einer von Schiller Rechen- wegs nur persönlich Angegriffene reagierten.
schaft fordernden Erklärung, publiziert in der Und im Zuge der Ausbreitung des Streitskan-
Abschiedsnullllller seiner Zeitschrift. In ein- dals meldeten sich immer mehr Animierte zu
schlägigen Versen aber, ob in gereimten oder Wort, die schreibend an einer Mode zu partizi-
in Distichen, ließen sich u.a. Gleim: Kraft und pieren trachteten. Der diffus gewordene, ins
Schnelle des alten Peleus und Matthias Clau- anonym Massenhafte gedriftete Literaturbe-
dius: Urians Nachricht von der neuen Aufklä- trieb, von G. und Schiller herausgefordert, be-
rung nebst einigen andem Kleinigkeiten ver- zeugte sich im Xenien-Streit auf exemplarische
nehmen, Johann Gottfried Dyk und Johann Weise. Gleichermaßen bezeugte sich im Tri-
Kaspar Friedrich Manso: Gegengeschenke an vialspöttischen vieler Streittexte eine regel-
die Sudelköche in Jena und Weimar, Ludwig rechte Vernutzung von aufklärerisch Tradier-
Fulda: Trogalien zur verdauung der Xenien, tem. In welchem Maße aber der Xenien-Streit
Gottlob Nathanael Fischer: Parodien auf die über sich hinaus wirkte, ist erkennbar an der
Xenien. Ein Körbchen voll Stachel-Rosen, Art, wie nachfolgende literarische Fehden aus-
Christi an Friedrich Traugott Voigt: Berlocken getragen wurden. Vor allem sind hier die Athe-
an den Schillerschen Musenalmanach auf das naeum-Polemiken zu nennen; zu erinnern sind
Jahr 1797, ein noch immer nicht Identifizier- auch die Merkeischen Frauenzimmerbriife so-
ter, der gegensatirische Dornenstücke, ein wie der Zank zwischen dem Freimüthigen und
weiterer, der die mit Abstand umfangreichste der Zeitung.für die elegante Welt.
Alexis und Dora 243

Entsprechend der weitreichenden Tradition Literatur:


einer germanistischen Literaturgeschichts- Bettex, Albert: Der Kampfum das klassische Weimar
schreibung, die der G.schen und Schillerschen 1788-1798. Zürich, Leipzig 1935. - Boas, Eduard:
Klassik kanonische Bedeutung zuerkannte, Schiller und Goethe im Xenienkampf. 2 Bde. Stutt-
wurden die Xenien langhin im Sinne einer gart, Tübingen 1851. - Kurscheidt, Georg/Oeliers,
ebenso berechtigten wie souveränen Kampf- Norbert: Zum Verständnis poetischer Texte aus Va-
rianten. Goethes und Schillers Tabulae votivae und
aktivität betrachtet, die gegen das Gemeine,
Xenien. In: editio. 4 (1990), S. 160-182. - Leistner,
Philiströse, Halbe und Unzulängliche Bernd: Der Xenien-Streit. In: Dahnke, Hans-Diet-
schlechthin gerichtet gewesen sei und die sich rich u.a. (Hg.): Debatten und Kontroversen. Lite-
durch die nichtswürdigen Erwiderungen le- rarische Auseinandersetzungen in Deutschland am
diglich habe bestätigt finden können. So galt Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin, Weimar
denn auch das Interesse, nicht zuletzt ein phi- 1989, S. 451-539. - Maltzahn, Wendelin von: Schil-
ler's und Goethe's Xenien-Manuskript. Zum ersten-
lologisch ausforschendes, zwar den Xenien an
mal bekannt gemacht von Eduard Boas und hg. von
und ftir sich, kaum aber dem Kontextualen. Wendelin von Maltzahn. Berlin 1856. - Samuel, Ri-
Und wenn Eduard Boas 1851 den »Xenien- chard: Der kulturelle Hintergrund des Xenienkamp-
kampf« unter Einschluß der meisten Anti-Xe- fes. In: PEGS.12 (1937), S.19-39. - Schleiffeie,
nien immerhin dokumentierte, so doch nur, Eberhard: Die Xenien, eine 'wahre poetische Teufe-
um den »verdorbenen Geschmack« (Bd. 1, lei< am Beginn der Kanonbildung. In: Gete-nenkanl
GoetheJb. Bd. 24. T6ky6 1982, S. 13-34. - Schmidt,
S. 1), auf den das G .sche und Schillersche Ge-
Erich u. a. (Hg.): Xenien 1796. Nach den Handschrif-
witter hemiedergegangen sei, auf schlagende ten des GSA. Weimar 1893. - Schwarzbauer, Franz:
Weise sinnfallig zu machen. Erst nach 1980 Die Xenien von 1796/1893. Zur Kritik eines maß-
traten Bestrebungen zutage, den Xenien und geblichen Kommentars. In: ZfdPh. 105 (1986), Son-
dem Xenien-Streit differenzierter nachzufra- derheft, S. 107-135. - Ders.: Die Xenien. Studien
gen. Unter rezeptionsgeschichtlichem Aspekt zur Vorgeschichte der Weimarer Klassik. Stuttgart,
Weimar 1992. - Sengle, Friedrich: Die Xenien Goe-
wurde hervorgearbeitet, daß sich mit den Xe-
thes und Schillers als Teilstück der frühen antibür-
nien der Beginn der Kanonbildung fixieren gerlichen Bewegung. In: IASL. 8 (1983), S. 121-144.
lasse, ja daß sie als Coup zu fassen seien, der - Ders.: Die Xenien Goethes und Schillers als Doku-
schließlich - und entscheidend - zur Geburt ment eines Generationskampfes. In: Barner, Wil-
der Klassik-Legende beigetragen habe. Hin- fried/Lämmert, Eberhard/Oeliers, Norbert: Unser
sichtlich des entstehungsgeschichtlichen Kon- Commercium. Goethes und Schillers Literaturpoli-
tik. Stuttgart 1984, S.55-77. - Wahl, Hans (Hg.):
textes aber rückte die Aufmerksamkeit für das
Ur-Xenien. Nach der Handschrift des GSA in Faksi-
gesamte literaturhistorische Beziehungsge- mile-Nachbildung. Weimar 1934.
flecht in den Vordergrund. Einschlägig philo-
logische Detailaufschlüsse wurden gewonnen; Bernd Leistner
Beachtung fanden das Ambivalente der Xe-
nien, die literaturpolitische Verhältniskonstel-
lation, in die hinein sie geschrieben wurden,
das in sich widersprüchliche Kalkül, welches
sich ihnen verband, zudem das Streitgesche-
hen insgesamt und damit zugleich das Korpus
der Anti-Xenien. Und dieses Streitgeschehen
Alexis und Dora
wurde gefaßt als ein literaturgeschichtliches
Phänomen, das auf »skandalöse« Weise den
Umbruch literarischer Kommunikationskon- Die Idylle wurde zuerst im Musen-Almanach
venienzen anzeigte, den Tod folglich auch je- fiir das Jahr 1797, dem 1796 erschienenen so-
ner Illusion, deren Name langhin als Parole genannten >Xenien-Almanach< gedruckt. Auf
hatte gelten können: Gelehrtenrepublik. diesen Erstdruck bezieht sich die folgende In-
terpretation (Text in FA I, 1, S.616-623). In
die Neuen Schriften (1800) ist das Gedicht in
244 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

einer unter metrischen Aspekten teilweise Finden und Verlieren das Glück einer Begeg-
überarbeiteten Fassung eingegangen. In dieser nung, die in der Luft liegt, insofern die beiden,
Gestalt hat G. es in der Sammlung von 1815 an denen es zuteil wird, seit langem in demselben
den Anfang der Rubrik Elegien 11 gestellt (Text Dunstkreis leben und einander sympathetisch
in FA I, 2, S. 174-179). Teile der Idylle wurden ins Auge gefaßt haben. Doch bedarf die Bezie-
von Johann Friedrich Reichardt, die letzten hung »der Gunst des Augenblicks«, um ihrer
vier Verse von Johannes Brahms (für Solo- wahren Natur innezuwerden. Daß Gelegen-
quartett und Klavier) vertont. heit Diebe mache, ist im Buch Suleika der
Gegenstand einer lyrischen Wechselrede, in
Das Gedicht ist im Mai 1796 in Jena entstan- der vierten der Römischen Elegien wird die
den, in jenem Haus, in das G. sich aus Weimar glücklich zutage fördernde als Göttin berufen.
zurückzog, um dichterisch zu arbeiten. Es ge- Indem sie sie schafft, ist in dem Gedicht Dora
hörte zu den Eigentümlichkeiten seiner von selbst - der Name ist die Kurzform von Theo-
Weib und Kind bestimmten Weimarer Häus- dora, d.i. Gottesgeschenk - diese Göttin Gele-
lichkeit, daß er in ihrem Umkreis nicht zu der genheit. Frederick P. Pickering identifiziert sie
Konzentration fand, deren er für die dichte- als die in den Emblembüchern des Barock be-
rische Produktion bedurfte. Das Gedicht be- rufene Göttin Fortuna occasio. Alexis' Abreise
kundet eben diese Spannung zwischen einer bringt Dora dazu, in der Atmosphäre wortlos-
glücklichen Liebe und der Notwendigkeit, sie anschauender Sympathie, die zwischen den
auf dem Festland zurückzulassen, um auf ho- beiden waltet, den Blitz der Liebesbegegnung
her See unsicheren, aber verheißungsvollen zu zünden: Sie stellt sich ans Gartentor und
Geschäften nachzugehen. Da die Liebe groß fängt den zum Schiff Gehenden ab, indem sie
ist, drückt sich das SchuldgefUhl dessen, der ihn mit einem Auftrag bedenkt. Daß Alexis auf
sich entziehen muß, um tätig sein zu können, diesem Hafenweg unbegleitet ist, rückt das
am Ende des Gedichts in einer Eifersuchtsvi- Symbolische des Arrangements ins Licht; mit
sion aus. Recht empfanden es die Zeitgenossen - G.
»Ich ging im Walde I So fUr mich hin, I Und kommt am 25.12. 1825 zu Eckermann darauf
nichts zu suchen I Das war mein Sinn«: In dem zu sprechen - als das Gegenteil eines realisti-
Gedicht von 1813, das Kar! Eibl ein »informel- schen Details.
les« Silberhochzeitsgedicht nennt (S. 930), hat Doras Reiseauftrag ist der Vorwand, unter
G. die vollendete lyrische Fassung jener Be- dem sie den Enteilenden ins Garteninnere
gegnung gegeben, die 1788 zu einer Verbin- lockt, um ihm die nur zu symbolischen Früchte
dung führte, von der Kurt Robert Eissler mit ins Körbchen zu lesen. »Die weichliche Feige,
Gründen sagt, »daß Christiane der einzige Typ die jeder Druck schon entstellet«, wird hier
von Frau war, die Goethe erfolgreich zu seiner zusamt dem goldenen Ball der Orange »mit
Frau machen konnte. [ ... ] Offensichtlich Myrthe bedeckt« (V 86ff.). Was dann ge-
zeigte das Mädchen so viele Qualitäten und schieht, von dem Himmelszeichen eines drei-
durchtränkte die Atmosphäre um sich herum fachen Donners bekräftigt, faßt sich in die
mit einem so herzlichen Klima, daß das, was Wendung von Amors Griff, der die beiden ge-
als vorübergehendes Vergnügen gedacht war, waltig zusammendrückt (V 95). Daß die Lie-
ein ernsthafter und notwendiger Teil seiner besvereinigung wirklich stattgefunden hat, er-
Existenz wurde« (S. 1418). gibt sich aus den genannten Versen; es ist die
Von dem so erfahrenen Glück ist, im achten innere Voraussetzung fUr den Eifersuchtsan-
Jahr der Beziehung, die Idylle Alexis und Dom fall, der dem Seefahrer auf dem Schiff die
durchwoben. In antikisierendem Gewand - Erinnerung an die Geliebte durchkreuzt.
die Szene ist eine Hafenstadt, die man sich,
den Namen der Liebenden nach, an einer der Das Gedicht ist die Entfaltung einer Reminis-
Küsten des klassischen Zeitalters denken kann zenz. Es gibt mit seinem elften Vers Alexis'
- beschreibt das Gedicht im Widerspiel von Erinnerungsrede das Wort und läßt es ihm bis
Alexis und Dora 245

zu Vers 194; erst die vier letzten Verse gehören Es ist dichterische Arbeit, die G. nicht selten
wieder dem Erzähler. Der von dem Schiff auf im Bild des Goldschmieds erschienen ist. Zu
hohe See Getragene vergegenwärtigt sich ein der Zeit, da das Gedicht entsteht, übersetzt er
Liebesglück, in dem Willkommen und Ab- gerade für Schillers Zeitschrift die Lebens-
schied insofern verschmolzen, als erst die Si- beschreibung eines genialen Goldschmieds,
tuation der Abreise Dora dazu brachte, jene der ihm als exemplarische Künstlergestalt vor
Gelegenheit herbeizuführen, die sich von Augen steht, Benvenuto Cellinis. Daß die Dora
selbst nicht ergab. ~Begegnen«, sagt G. in ei- zugedachte Kette sich neunfach um den Hals
nem seiner Altersgedichte, ~ist ein höchstes des Mädchens legt (Y. 118), hat die Aufmerk-
Liebeglück«, und deutet auf Selbst- und Welt- samkeit der Deuter erregt; es ist teils auf die
verwandlung kraft solcher Fügung: ~Und wie neun Monate der Schwangerschaft, teils auf
man kam, so ging man nicht zurück« (Y. 29f.). eine neunjährige Abwesenheit des Reisenden
Das Gedicht (von 1821) ist Freie Welt über- bezogen worden, das letztere gewiß zu Un-
schrieben (FA I, 2, S.524); so könnte Alexis recht. Daß die Verbindung im Gartenhaus mit
und Dora ~Das gelöste Rätsel« heißen, nach einer Schwangerschaft zusammengedacht
jenen Versen (25-30), in denen Alexis die Ge- wird, gehört zu den Christiane-Chiffren des
fühlsoffenbarung, die ihm auf dem Weg zum Gedichtes, dessen äußere Handlung die Ge-
Schiff, und das heißt: auf dem Weg zum Werk, schichte der Christiane-Beziehung gleichsam
zuteil wurde, mit der Lösung eines Rätselge- umkehrt: War es dort eine Heimkehr gewesen,
dichts vergleicht, das an sich erfreut, nämlich G.s Rückkehr aus Italien, an der sich die Be-
durch ~die seltne Verknüpfung der zierlichen ziehung der in einer Stadt seit langem Ein-
Bilder« (Y. 27), aber des lösenden Schlüssel- heimischen entzündete, so hier eine Abreise.
worts bedarf, um sich in seinem verborgenen
Sinn zu enthüllen und dergestalt »doppelt er- Das sich in dem elegischen Metrum des Disti-
freulich« (Y. 30) zu werden. In der Garten- chons wiegende Gedicht, das nur in seinem
laube, unter Zeus' Donner, entdeckt sich das Erstdruck den Untertitel Idylle trägt, während
Rätsel, das die durch ein Band unerklärter es in G.s späteren Sammlungen die auf die
Sympathie miteinander Verknüpften einander Römischen Elegien folgende Rubrik Elegien II
waren, und das Schlüsselwort, das Dora anführt, entstand in Schillers Nähe und für
spricht, heißt: »ewig«. Mit Recht hat ein früher Schillers Jahrbuch, den 1796 erscheinenden
Leser, Friedrich Schlegel, die Wirkung dieser Musen-Almanach für das Jahr 1797. Vier
Antwort, dieser Bekräftigung (Y. 101) als den Jahre später veröffentlichte der Autor in sei-
Höhepunkt des Gedichtes empfunden (an Au- nen Neuen Schriften eine metrisch revidierte
gust Wilhelm Schlegel, 6.6. 1796). Fassung (die Änderungen betrafen 55 Verse),
Der Liebende erneuert das Wort in Vers 109 für die er, wie auch in andern Fällen, den Rat
und ruft die Götter zu Zeugen einer Verbin- August Wilhelm Schlegels einholte. Die Re-
dung an, die sich hinter dem Rücken gesell- daktion, die alle in antiken Maßen gehaltenen
schaftlicher Konventionen vollzog: ~Er ist göt- Gedichte betraf, versuchte den von Johann
terbekräftigt der Bund!« (Y. 112) - der Bund, Heinrich Voß und August Wilhelm Schlegel
von dem die Eltern der beiden - wohlweislich aufgestellten strengen Grundsätzen bei der
fehlen sie bei Alexis ' Hafenweg ebenso wie bei Eindeutschung griechischer Versmaße gerecht
Doras Auftragserteilung - durchaus nichts zu werden; es ging um Akzentsetzung nicht
wissen. Die Juwelen, die der Seefahrer der nur durch Betonung (Hebung), sondern
Geliebten in Gedanken um den Hals legt, in gleichzeitig durch die Länge der Silben (vgl.
dreizehn Versen (Y. 115-128) die Verbindung BA 1, S.815f.). Schiller erhielt das am 14.5.
der Steine zum »schönen Gebild« (Y. 126) fei- 1796 vollendete Gedicht am 15. Juni und spen-
ernd, sind eine träumerische Vorwegnahme dete brieflich gefühlteste Zustimmung: ~Es
seiner Handelsgeschäfte und deuten auf das würde schwer seyn, einen zweyten Fall zu er-
Wesen der Arbeit, die ihn in die Feme treibt. denken, wo die Blume des Dichterischen von
246 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

einem Gegenstande so rein und so glücklich schlag, folgerichtig aus jener genußreich aus-
abgebrochen wird« (an G., 18.6. 1796). Ganz gemalten Vision künstlerischer Arbeit hervor-
offenbar fand er seine ein Jahr zuvor in Über geht, die die Juweliersszene bedeutet. Der
naive und sentimentalische Dichtung nieder- Liebende, von der sinnenhaften Erleuchtung
gelegte Auffassung der Gattung in G.s Text der Laubenbegegnung getroffen, hat seine
muster- und meisterhaft erfüllt. Zugleich stellt Reise ja nicht aufgegeben. Der Selbstvorwurf,
er die Eifersuchtsanwandlung in Frage, die der einer des Liebesverrats ist - des Verrats
nach der Juwelenphantasie Alexis' Liebeser- der Liebe ans dichterische Geschäft -, wird in
innerung überwältigt: »Daß Sie die Eifersucht Gestalt der Eifersuchtsheimsuchung auf die
so dicht daneben stellen, und das Glück so projiziert, welche der Fahrende zurückließ.
schnell durch die Furcht wieder verschlingen Der Konflikt, den die Schlußverse als unlösba-
laßen weiss ich vor meinem Gefühl noch nicht ren, obschon durch die Gunst der Musen ge-
ganz zu rechtfertigen, obgleich ich nichts be- milderten annoncieren - dies eben macht die
friedigendes dagegen einwenden kann. Dieses Elegie zum Idyll-, ist der von G.s Jenenser
fühle ich nur, daß ich die glückliche Trunken- Existenz; Eissler hat ihn prägnant beschrie-
heit, mit der Alexis das Mädchen verläßt und ben: »Goethes häufige und lange Aufenthalte
sich einschifft, gerne immer festhalten in Jena sind in Wirklichkeit Teil der vollkom-
möchte« (ebd.). menen Einrichtung seiner neuen Lebensum-
G. geht drei Tage später auf den Einwand stände. Er erzählte Christiane offen, daß er in
ein: »Für die Eifersucht am Ende habe ich Weimar nicht arbeiten konnte. [ ... ] Offenbar
zwey Gründe. Einen aus der Natur: weil wirk- machten Christianes und seines Sohnes Ge-
lich jedes unerwartete und unverdiente Lie- genwart das Arbeiten unmöglich. Daher zer-
besglück die Furcht des Verlustes unmittelbar teilte sich sein Leben in den latent homose-
auf der Ferse nach sich führt, und einen aus xuellen Kreis in Jena, wo er eine enge Freund-
der Kunst weil die Idylle durchaus einen pa- schaft mit Schiller unterhielt und sich gänzlich
thetischen Gang hat und also das leiden- dem Produzieren widmete, und in den Kreis in
schafftliche bis gegen das Ende gesteigert wer- Weimar, wo er >vergnügte Tage< hatte, wie sie
den mußte, da sie denn durch die Abschieds- so häufig in den Briefen von beiden genannt
verbeugung des Dichters wieder ins leidliche werden. Goethe hielt Christiane nicht vor, daß
und heitere zurückgeführt wird. So viel zur er in Weimar nicht arbeiten konnte - er war
Rechtfertigung des unerklärlichen Instinktes, sich voll bewußt, daß es an seiner Eigenheit
durch welchen solche Dinge hervorgebracht lag-, und Christiane sah darin [ ... ] keinen
werden« (an Schiller, 21.6. 1796). Der Satz Vorwurf gegen sich« (S. 1425).
deutet darauf, daß der Autor der Tiefengrün- Daß der Liebend-Geliebte flieht, ist die ero-
dung seines Textes nur zu genau inne war. tische Grundsituation G.s bis zu der Begeg-
Eckermanns späte Frage, ob ein »wirklich Er- nung mit Charlotte von Stein, welche stand-
lebtes« dem Ganzen zugrunde liege (25.12. hält, da sie sich nicht erfüllt, und eben darum
1825), mag ihm von daher seltsam genug vor- eines gereiften Tages nicht mehr standhält.
gekommen sein, um so mehr, als der »junge Die Beziehung zu Christiane hält stand, weil
Mensch«, den er in diesem Gespräch zur Be- und obwohl sie sich erfüllt, die Spannung des
gründung des Eifersuchtsmotivs heranzog, au- Wieder-weg-Wollens aber bleibt bestehen, in-
genscheinlich er selbst ist: »Ich habe selbst dem sie dem Verhältnis einbegriffen wird, als
einen jungen Menschen gekannt, der in lei- ein Pendeln zwischen zwei Polen, die mit den
denschaftlicher Liebe zu einem schnell ge- Namen Weimar und Jena umschrieben sind
wonnenen Mädchen ausrief: Aber wird sie es und den häuslichen Kreis, der sich als der
nicht einem anderen ebenso machen wie mir?« heteroerotische bestimmt, dem produktiven
(ebd.). gegenüberstellen, der der homoerotisch ak-
Diese Eifersuchtsphantasie ist eine Schuld- zentuierte ist; er scheint in Alexis und Dora in
projektion, die, als ein psychischer Rück- der zärtlich-verständnisvollen Fürsorge der
Alexis und Dora 247

Schiffsgenossen auf (Y. 108). Das Gedicht, das zurückgenommen, an dem die Elemente der
als Idylle eine Elegie und als Elegie eine Idylle Wirklichkeit zu Requisiten einer Traumszene
ist, beschreibt die Spannung als gebändigte werden. Aus dem Objektiven und Sozialen ist
und, bei aller Möglichkeit der Trübung, hoff- die Mitteilung ins Psychisch-Subjektive ver-
nungsvolle; dies eben macht die Heiterkeit der setzt.
Darstellung aus. Ebendies gibt den Versen ihren Schmelz,
Schiller hatte sie vOIWeggenommen, als er ihre Suggestion; es sind zugleich Elemente der
in Über naive und sentimentalische Dichtung Entpolitisierung. Die Höhe der Vollendung ge-
seine Vorstellung von diesem sentimentali- winnt sich auf dem Weg einer Verinnerlichung,
schen Genre in die Worte münden ließ: die die Spannung zwischen Liebesbeglückung
» Ruh e wäre also der herrschende Eindruck und dichterischem Geschäft mit jener Ruhe
dieser Dichtungsart, aber Ruhe der Vollen- ausmalt, die Schiller zum Kriterium der Gat-
dung, nicht der Trägheit; eine Ruhe, die aus tung erhoben hatte; sie speist sich aus der
dem Gleichgewicht nicht aus dem Stillstand Erfahrung eines privaten Gleichgewichtszu-
der Kräfte, die aus der Fülle nicht aus der stands, der gesellschaftlich prekär und see-
Leerheit fließt, und von dem Gefühle eines lisch gesichert ist. Die Revolution ist geschei-
unendlichen Vermögens begleitet wird« tert, Erfüllung muß von der individuellen
(SNA20, S.472f.). »Aber eben darum, weil Sphäre ausgehen; von dem Port dieser Erfah-
aller Widerstand hinwegfällt, so wird es hier rung, dieser Diagnose bricht G. im nach-ther-
ungleich schwieriger [ ... ], die Bewegung her- midorianischen Bund mit Schiller zu jener Er-
vorzubringen, ohne welche doch überall keine oberung der deutschen Literatur auf, die in der
poetische Wirkung sich denken läßt« (ebd.). gleichzeitigen Xenien-Dichtung bonapartisti-
G. schöpft sie aus einer psychischen Zone, die, sche Züge annimmt; von der Vereinigung der
zutage tretend, das Befremden des theoretisch Kräfte beflügelt, entschließt man sich mit ent-
vorausgreifenden Redakteurs erregt. schiedener Selbstvergewisserung, nach allen
Seiten aufzuräumen. Unmittelbar nach der
Der Ruhm des Gedichtes blieb nicht auf jenen ambivalenten Glücksberufung von Alexis und
befreundeten Kreis beschränkt, dem G. den Dora entsteht mit dem Spottgedicht auf die
Text schon vor der Drucklegung mitteilte (vgl. Berliner Literatur (Musen und Grazien in der
FA I, 1, S. 1193; vgl. auch Bode, Nr.886, 901, Mark) ein exemplarisches Zeugnis solcher Er-
920,944). Die Literaturgeschichte des 19. und oberungslust; im Verein der Freunde, für die
20. Jhs. hallt von ihm wider; man fand die im Gedicht die treusorgenden Schiffsleute ste-
Idylle, dieses von Christi an Friedrich Geßner hen, hat sich der Dichter auf hohe See begeben.
heraufgeführte und von Johann Heinrich Voß
mit deutlichem Wirklichkeitssinn aufgeladene
Genre bürgerlicher Selbstbehauptung und Literatur:
Selbstdarstellung im Zeichen antikischen Bode, Wilhelm (Hg.): Goethe in vertraulichen Brie-
Dichtgeistes, hier zu einer Vollendung ge- fen seiner Zeitgenossen. Bd. 2. Berlin und Weimar
bracht, die den Text als Gipfelwerk der Gat- 1979. - Borchmeyer, Dieter: Des Rätsels Lösung in
Goethes Alexis und Dora. In: Chiarini, Paolo (Hg.):
tung erscheinen ließ. Daß G. eine Form, die
Bausteine zu einem neuen Goethe. Frankfurtl
sich als poetisches Medium bürgerlichen M. 1987, S. 66-92. - Eibl, Komm. in FA I, 2, S. 930.-
Selbstbewußtseins und - bei Voß - kenntlicher EISSLER, Bd. 2, S. 1416-1445. - Jacoby, Daniel: Zu
sozialer Kritik entwickelt hatte, auf dem Weg Alexis und Dora von Goethe. In: Euphorion. 2
der Verinnerlichung gleichsam aufgehoben (1895), S. 806-812. - Kassewitz, Joseph: Darlegung
hatte, ist dabei weniger in Sicht gekommen. der dichterischen Technik und literarhistorischen
Stellung von Goethes Elegie Alexis und Dora. Leip-
Nicht mehr das bürgerliche Leben in dem
zig 1893. - Ockenden, Raymond C.: Goethe's Alexis
schmiegsam-verfremdenden Gewand des anti- und Dora: Idyll and Elegy. In: Oxford German Stu-
ken Metrums ist der Gegenstand der Darstel- dies. 15 (1984), S. 26-47. - Pickering, Frederick P.:
lung; dieser ist auf einen seelischen Vorgang Der zierlichen Bilder Verknüpfung. Goethes Alexis
248 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

und Dora, 1796. In: Euphorion. 52 (1958), arbeitete, fertiggestellt wurde es jedoch, nach
S.342-355. - Richter, Wemer: Alexis und Dora, Ausweis des Tagebuchs, erst am 13.6. 1798;
Phyllis und Demophoon. In: JbGG.5 (1918),
handschriftliche Zeugnisse aus der Entste-
S. 99-107. - Schallehn, Franz: Ursprung und Entste-
hung der Elegie Alexis und Dora. In: JbGG.16 hungszeit sind nicht überliefert. Für den
(1930), S. 166-182. - Schöne, Albrecht: Goethes Druck im 1800 erschienenen siebten Band der
Alexis und Dora - Rätsel, oder das Mißverständnis Neuen Schriften hat G., dabei Anregungen Au-
als rezeptionsgeschichtliche Kategorie. In: Fs. Ri- gust Wilhelm Schlegels aufnehmend, eine
chard Brinkmann. S. 201-243. Erw. u. d. T.: Alexis gründliche metrische Überarbeitung der Ele-
undDora. In: ders.: Götterzeichen Liebeszauber Sa-
gie vorgenommen.
tanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte. Mün-
chen 1982. - SNA 20. Das Gedicht ist in Distichen aus je einem
Hexameter und einem Pentameter, dem elegi-
Friedrich Dieckmann schen Versmaß der Antike, geschrieben. Es hat
erzählenden Charakter; dabei eignet dem Er-
zählten eine komplexe Zeitstruktur, die durch
unterschiedliche, miteinander verwobene
Sprecherrollen realisiert wird. Der Sprecher
des Gedichts, der hier mit dem Autor G. weit-
Euphrosyne gehend identisch ist, erscheint als ein Reisen-
der; ihm begegnet im Gebirge eine Vision, die
er zunächst ftir die Erscheinung einer »Göttin«
Die Elegie Euphrosyne wurde erstmals in oder einer der »Musen« hält (Y. 15). Doch sie
Schillers Musen-Almanach fiir das Jahr 1799 gibt sich zu erkennen und nennt sich »Eu-
gedruckt, der Ende 1798 erschien; dieser phrosyne« (Y. 30). Euphrosyne ist der Name
Druck liegt den folgenden Ausftihrungen zu- einer der drei Grazien und bedeutet Frohsinn;
grunde (nach MA 4.1, S. 906-911). Im Inhalts- zugleich ist es der Name einer Figur in einer
verzeichnis heißt es zu dem Gedicht: »Zum zeitgenössischen Zauberoper, die zu den letz-
Andenken einer jungen, talentvollen, für das ten Rollen Christiane Becker-Neumanns ge-
Theater zu früh verstorbenen, Schauspielerin hörte und in der G. sie zum letzten Mal auf der
in Weimar, Madame Becker, geborene Neu- Weimarer Bühne gesehen hat. Euphrosyne-
mann«. Christiane Becker-Neumann, die 1778 Christiane erzählt nun von der Probe zur Auf-
als Tochter eines Schauspielerehepaars gebo- ftihrung eines Shakespeare-Dramas in Wei-
ren wurde, war seit 1791 am Weimarer Theater mar, bei der sie - Vorausdeutung ihres Todes -
tätig; von Corona Schröter und G. selbst aus- ohnmächtig wurde; wörtlich gibt sie die dama-
gebildet, wurde sie zu einer der beliebtesten lige Rede des Reisenden - des Theaterleiters
Schauspielerinnen in Weimar. 1793 heiratete G. - wieder (Y. 63ff.). Danach wechselt das
die Fünfzehnjährige den Schauspieler Hein- Tempus der Rede vom Präteritum ins Futur
rich Becker, eigentlich: Blumenthai; sie war (Y. 104); Euphrosyne bittet darum, sie nicht zu
schon länger an einem Lungenleiden erkrankt vergessen, und spricht den Wunsch aus, der
und starb, erst neunzehnjährig, am 22.9. 1797. »Dichter« (Y. 125) möge sie »nicht ungerühmt
G. erfuhr davon während seiner dritten zu den Schatten hinabgehn« (Y. 121) lassen,
Schweizerreise; am 25.10. 1797 schrieb er an damit die von Dichtern gerühmten mythologi-
Karl August Böttiger, daß er die Nachricht von schen Frauen sie im Totenreich als ihresglei-
Christiane Becker-Neumanns Tod, der ihm chen empfangen. Auf die Rede Euphrosynes
»sehr schmerzlich« sei, »in den formlosen Ge- folgt ein eher knapp gehaltener Schluß. Her-
birgen« erhalten habe; er fährt fort: »Liebende mes, der Seelengeleiter, nimmt Euphrosyne-
haben Thränen und Dichter Rhythmen zur Christiane mit sich; im Blick auf das Gebirge
Ehre der Todten, ich wünschte, daß mir etwas und den kommenden Morgen nennt der Rei-
zu ihrem Andenken gelänge«. Es ist möglich, sende seine Empfindungen: »Trauer«, »Jam-
daß G. bereits in dieser Zeit an dem Gedicht mer« und »Wehmut« (Y. 149 u. V. 151).
Euphrosyne 249

G. nimmt in Euphrosyne das antike Vorbild Gegenwart wird nicht nur der Bitte Euphro-
der Trauerelegie auf; Anklänge gibt es insbe- synes entsprochen; damit erscheint zugleich,
sondere an die Elegie IV, 7 des römischen über die Klage um eine Tote hinaus, Dichtung
Dichters Properz, in der die Erscheinung der als Widerpart gegen Vergehen und Vergäng-
toten Geliebten imaginiert wird, die um rüh- lichkeit. Darin ist wohl auch ein weiteres
mendes Gedenken bittet. Mit der Gattung ist Spannungselement der Elegie begründet, das
das Thema der Vergänglichkeit gesetzt, die das bereits im Widerstreit zwischen Gattung und
Gedicht durchgängig bestimmt und das G. vor Titel des Gedichts - die Trauerelegie heißt
allem als Spannungsverhältnis zwischen un- Frohsinn - bezeichnet und an seinem Schluß
vergänglich erscheinender Natur und vergäng- in der Hoffnungsmetapher des kommenden
lichem Menschsein gestaltet; gleich zu Beginn Tages erneut realisiert ist: »und über dem
werden feststehendes Gebirge und flüchtige Wald kündet der Morgen sich an« 01. 152). In
Vision einander konfrontiert. Der Willkür- diesem poetischen Bild sind säkularisierte
lichkeit des Todes wird so die Gesetzlichkeit Auferstehungsmetapher, Hoffnungsmetapho-
der Natur entgegengesetzt. Zugleich nimmt G. rik der Aufklärung und die Vorstellung, im
das antike Motiv der Rühmung der Toten stets wiederkehrenden Gang der Natur Trost
durch die Dichter auf; es erscheint hier als zu finden, einprägsam verdichtet.
Appell der Toten selbst, dem in der Vergegen- G. hat diese Elegie - Karl Ludwig von Kne-
wärtigung der Toten als einer Sprechenden bel nennt sie im Brief an G. vom 12.1. 1799
Genüge getan wird. G.s Adaption der Antike »eines der naturseligsten zartesten Werke, die
eignet jedoch zugleich eine spezifische Moder- je von eines Dichters Seele durch die Feder
nität; wie die anderen Elegien der 90er Jahre geflossen sind« - sehr hoch geschätzt. Ihre
ist auch Euphrosyne im Bewußtsein der Diffe- poetische Qualität ist nicht zuletzt darin be-
renz von Antike und Modeme geschrieben. gründet, daß es G. gelungen ist, das Konkrete
Diese Modernität zeigt sich vor allem in der des Persönlich-Privaten, die Trauer um Chri-
Struktur von Erinnerung und Gegenwart, die stiane Becker-Neumann und das Gedenken an
das Gedicht prägt, und in der zentralen Bedeu- sie, mit Allgemeinem bruchlos zu verbinden.
tung, die dem Augenblick zukommt, in dem Man kann dies das Klassische des Gedichts
die Vergegenwärtigung geschieht. In der Rede nennen; Wilhelm von Humboldt schreibt im
Euphrosynes kommen Erinnerung und gegen- Brief an G. vom 18.3. 1799, daß die Elegie »die
wärtiger Augenblick zusammen; in ihr wird große Rührung, die sie hervorbringt, gerade
die Vergangenheit erzählt und ein auf Zukunft auf den schwer zu treffenden Punkt des echt
gerichteter Wunsch ausgesprochen, und sie Künstlerischen zurückbringt«, und nennt dies
bezeichnet zugleich den Moment des Todes - eine »echt antike Wendung«. G. selbst benennt
zweimal nennt Euphrosyne sich die »Schei- dieses kennzeichnende Moment des Gedichts,
dende« 01. 31 u. V. 116), am Ende ihrer Rede wenn erim Briefan Max Jacobi vom 16.8.1799
nimmt Hermes sie mit sich - und den Moment schreibt: Ȇberhaupt traf bey diesem Gedicht
der Produktion des Gedichts, um das Euphro- glücklicherweise zusammen daß das Poetische
syne bittet. Diese Vergegenwärtigung er- durchaus auf dem Wirklichen ruht, und dieses
scheint als szenische, als dramatische Darstel- doch nichts für sich selbst gilt, sondern erst
lung (vgl. Peters), in der eine Theaterprobe dadurch etwas wird daß es als Folie durch den
vorgestellt wird; in ihr wird - auch dies ein poetischen Körper durchscheint«.
Verweis auf die Differenz zwischen Antike und
Modeme und zugleich ein Hinweis auf die Literatur:
poetologische Ebene des Gedichts - ein Stück KOMMERELL, S.173-177. - Peters, Günter: Das
von Shakespeare, dem modemen Dramatiker Schauspiel der Natur. Goethes Elegien Die Meta-
schlechthin, geprobt. In der Vergegenwärti- morphose der Pflanzen und Euphrosyne im Kontext
gung der Toten und ihrer Rede, in der Integra- einer Naturästhetik der szenischen Anschauung. In:
Poetica. 22 (1990), S. 46-83.
tion der Vergangenheit in diesen Moment der Reiner Wild
250 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

macht (V. 21-42), erfolgreich gegen diesen


Amyntas Eingriff. Tatsächlich zwar sei der Efeu für den
Kräfteverfall des Baumes verantwortlich,
längst jedoch mit ihm so eins geworden, daß
In den Materialien Aus einer Reise in die eine Verletzung des Parasiten zugleich die der
Schweiz [. . .J im Jahre 1797 heißt es im Ab- Wirtspflanze bedeute - »O! verletze mich
schnitt Von Scha.flhausen nach Stäfa unter nicht!«, beginnt der Baum seine Klage. So ist
dem 19. September: »Ein Apfelbaum mit Efeu der »gefährliche Gast« zugleich »der Geliebte«
umwunden, gab Anlaß zur Elegie Am y n t a s« (V. 35; vielleicht Druckfehler für »der ge-
(MA 4.2, S. 708). Am 25.11. 1797 sandte G. die liebte«). In den beiden Schlußdistichen
Elegie an Schiller, der sie der »rein poetischen (V. 43-46) nimmt Amyntas mit einer Wendung
Gattung« zurechnete, »da sie durch ein so an Nikias offenbar seine eigene Rede wieder
simples Mittel, durch einen spielenden Ge- auf, wobei Anführungs- oder auch nur Gedan-
brauch des Gegenstandes das tiefste aufregt kenstriche zur gen auen Grenzmarkierung der
und das höchste bedeutet« (an G., 28.11. beiden Reden fehlen. Dabei bezieht er den
1797). Ende 1798 erschien das Gedicht mit Appell des Baumes auf seinen eigenen und
dem Untertitel Elegie in Schillers Musen-Al- bittet den Arzt, ihn so zu schonen wie er,
manach für das Jahr 1799. Christi an Gottfried Amyntas, den Baum geschont habe: »Süß ist
Körner meinte, als »köstliches Kabinetsstück jede Verschwendung! o! laß mich der schön-
für den ächten Kunstfreund« hätte es besser sten genießen! / Wer sich der Liebe vertraut
ungedruckt bleiben sollen, da das Publikum hält er sein Leben zu Rat?«. Die Wendung »zu
»für solche Produkte noch nicht reif genug« sei Rat halten« bedeutet: »sein Gut zusammen-
(an Schiller, 27.12.1798). Für die Aufnahme in halten und möglichst noch vennehren«;
Neue Schriften (Bd. 7,1800) bearbeitete G. die Amyntas sieht sich also in einer aporetischen
Elegie. Dabei entfiel der Untertitel, da das Situation: Seine Krankheit hängt mit einer
Gedicht in der Rubrik Elegien II erschien. Wei- Liebe zusammen, die seine Kräfte verzehrt -
tere Änderungen betrafen Vers drei, wo aus sich von der oder dem Geliebten zu trennen,
»die Kraft schon schwand mir dahin« »mir würde aber nach der Logik des Bildes den Tod
schwanden die Kräfte dahin« wurde, und Vers bedeuten. Unter zwei Fonnen des Todes
35: Aus »der Geliebte« wurde »der geliebte- möchte er die lustvollere wählen. Bei den o.g.
ste«. Die neueren Ausgaben folgen überwie- Reisematerialien findet sich als isolierte Notiz
gend dem Erstdruck, der auch hier zugrunde in der Handschrift Joharin Jakob Ludwig
liegt (nach MA 4.1, S. 904f.). Geists auch eine variante Fassung der Schluß-
Das aus 23 Distichen bestehende Gedicht ist verse: »Süß ist iede Verschwendung! Es ist die
Rollenlyrik. Das nur im Titel namentlich be- schönste von allen / Wenn uns das M[ädchen]
zeichnete lyrische Ich, das sich selbst »krank« gewährt alles zu opfern für sie« (GSA. Goethe
nennt (V. 2), richtet sich in einer Anrede an XXIX, H, Fo!. 57; in der zweiten Zeile weitere,
den Arzt Nikias gegen die Anwendung eines - fragmentarische Varianten: »Wenn man die
nirgends eindeutig bezeichneten - Heilmit- liebende Fraun«).
tels, das dieser ihm offenbar vorgeschlagen Der Eintrag im Reisetagebuch, der die Be-
hat. Er habe nicht mehr die Kraft, »dem Rate gegnung mit einem Naturphänomen zum »An-
zu folgen« (V. 3), und sei >>Unter das strenge laß« eines Gelegenheitsgedichts - im G.schen
Gesetz ehrner Gewalten gebeugt« (V. 12). Zur Sinne - erklärt, kann nicht darüber hinweg-
Veranschaulichung seiner Situation berichtet täuschen, daß das zentrale Bildmotiv des Ge-
er davon, was ihn ein Apfelbaum gelehrt, von dichts eine große literarisch-emblematische
dessen Stamm er den Efeu abtrennen wollte, Tradition besitzt, die G. kannte. Als Verbin-
da dieser die Fruchtbarkeit des Baumes beein- dung einer Platane oder Ulme mit einer Rebe
trächtige. Der Baum aber verwahrt sich mit läßt es sich bis auf die Anthologia Graeca (IX,
einer Rede, die fast die Hälfte der Elegie aus- 231; von Herder übersetzt) und Catull (Car-
Amyntas 251

Schillers Briifan Goethe vom 28.11.1797


252 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

men 62, V. 49-58) zurückführen; in Emblem- deutschen Übersetzungen stets in der antiken
büchern der Renaissance und des Barock be- Namensform - und Salomon Geßners Idylle
gegnet es von Beginn an, seit demjenigen des Amyntas zu erwähnen. Spätestens Schillers
Alciatus, das G. besaß, häufig. Alexander Ko- Abhandlung Über naive und sentimentalische
senina, der diese Tradition ausführlich dar- Dichtung verwendet »einen Ami n t a s« noch
stellt, möchte gleichwohl die Elegie, die in vor »einem D a p h n i s« als privilegiertes pars
enger zeitlicher Nachbarschaft zu G.s Symbol- pro toto für die Hirtenidylle (SNA 20, S. 469).
konzept entstand, als deren »exemplarische G. kannte mindestens die drei zuletzt genann-
Anwendung« verstehen (S.241). Es ist aber ten Texte. Offensichtlich wollte er sich also,
schwerlich nachzuvollziehen, wie der bei kurz nach Vollendung von Herrmann und Do-
Schaffhausen entdeckte umrankte Baum blo- rothea, mit Amyntas in eine sehr viel genauer
ßer Anlaß zur Wiedererinnerung an ein längst verstandene bukolische Tradition einfügen,
kodifiziertes Motiv und doch zugleich »leben- als dies mit dem bürgerlich-idyllischen Epos
dig-augenblickliche Offenbarung des Uner- geschehen konnte. Tatsächlich ist Amyntas
forschlichen« (WA I, 42.2, S. 152) sein kann. auch ein genaues Gegenbild zu jenem Her-
Auch formal folgt das Gedicht mit seiner ex- mann, bei dem die Wahl der Geliebten und der
pliziten Verallgemeinerung im Schlußdisti- Haushälterin allzugut übereinstimmen.
chon nicht Albrecht Schönes Bestimmung, G. Die meisten vorliegenden Interpretationen
verwandle die picturae von Emblemen in Sym- haben, ohne Rücksicht auf Gattungskonven-
bole, indem er dabei »die bedeutungsfixieren- tionen, das Gedicht biographisch erklärt. Bei
den subscriptiones der Emblematiker gleich- weitem überwog dabei die Meinung, es sei auf
sam vergißt« (S. 52). G.s Beziehung zu Christiane Vulpius zu bezie-
Das Bildmotiv wird überdies in ein kodifi- hen. Friedrich Gundolf etwa, der Amyntas als
ziertes System eingefügt: Auch in Theokrits »die menschlich rührendste« der G.schen Ele-
elftem Idyll spricht ein lyrisches Ich mit einem gien bezeichnet, liest sie als Antwort auf
Arzt Nikias und vertritt dabei die These, Dich- »Schillers vorwurfsvoll oder bedauernd fra-
tung sei das einzige mögliche Mittel gegen die genden Blick auf Goethes Hauswesen«, als
Liebe. G.s Amyntas scheint sich mit der Wen- »Bekenntnis eines selbstgewählten, aber nicht
dung »die Welle des Bachs halten Gesänge mehr selbstzulösenden Leidens« an »einer nur
nicht auf« (Y. 8) negativ darauf zu beziehen - noch zehrenden, nicht mehr steigernden
ein im immanenten Kontext des Gedichts eher menschlichen Bindung« (S. 425f.). Noch Kurt
rätselhafter Verweis, da man das »harte« Mittel Robert Eissler setzt diesen Bezug voraus, wird
(Y. 2), das Nikias vorgeschlagen hat, schwer- aber aus psychoanalytischer Perspektive der
lich mit Gesängen in Verbindung bringen Struktur des Gedichts besser gerecht. Dieses
wird. Mit der Wahl des Namens »Amyntas« offenbare »einen Mechanismus [ ... ], durch
geht G. aber weit über eine Anspielung auf den Goethe seine Kastrationsangst besiegte«
vereinzelte Gedichte hinaus zu einer entschie- (S. 1433). Die aporetische Wahl, die der Baum
denen Aussage über das literarische System, in zwischen zwei verschiedenen Formen des To-
das er die Elegie stellt. »Amyntas« heißen des - der Trennung vom Efeu und dem Kraft-
nämlich nicht nur Randfiguren in einem Idyll verlust durch den Efeu - treffen kann, liest
Theokrits und mehreren Eklogen Vergils, son- Eissler als Einsicht, »daß die Kastration unver-
dern auch Hauptfiguren in unzählbaren Texten meidlich ist, ob der Mann sich nun des Ge-
der daran anschließenden bukolischen Tradi- schlechtsverkehrs enthält oder sich ihm hin-
tion. Unter den Dichtungen, die mit G.s gibt. Warum sich also enthalten, da die Ent-
Amyntas neben dem Namen des Titelhelden haltsamkeit den Mann der Lust beraubt und
auch auffallende Übereinstimmungen in Mo- die Frau verwelken läßt?« (S. 1434).
tivkomplexen aufWeisen, sind u. a. die dritte Katharina Mommsen hat betont, daß ent-
Ekloge von Mantuanus (d.i. Baptista Spa- scheidende Merkmale der Beziehung zwi-
gnuoli), Torquato Tassos Aminta - in älteren schen Baum und Efeu nicht auf die zwischen
Die Metamorphose der Pflanzen 253

G. und Christiane Vulpius passen, da diese nie nen Musen-Almanach für das Jahr 1799. In
seine anderweitig benötigten Kräfte bean- leicht veränderter Fassung wurde sie 1800 im
sprucht habe (S. 128f.). Was ihn aber soviel siebten Band der Neuen Schriften abgedruckt.
Kraft gekostet habe, seien die Pflichten im Das zunächst im Kontext der Elegien stehende
Rahmen seiner Freundschaft mit Schiller ge- Lehrgedicht hat G. 1817 gemeinsam mit der
wesen. erstmals 1790 publizierten Abhandlung ver-
Statt dem im Gedicht inszenierten bedeu- such die Metamorphose der Pflanzen zu er-
tungsmächtigen »Natursymbol« mit einer ver- klären im ersten Heft Zur Morphologie wie-
eindeutigenden Interpretation zu begegnen, derveröffentlicht. Daß die Elegie hier im Auf-
scheint es angebracht, die sprachlichen Mittel satz Schicksal der Druckschrift erschien,
genauer zu untersuchen, mit denen dieses begründete er damit, daß »sie, im Zusammen-
»Natursymbol« inszeniert wird. Bemerkens- hang wissenschaftlicher Darstellung, ver-
wert ist dabei etwa, wie es dem Baum in seiner ständlicher werden dürfte, als eingeschaltet in
Rede gelingt, dem Efeu weibliche Attribute eine Folge zärtlicher und leidenschaftlicher
zuzuschreiben, oder auch, wie es Amyntas ge- Poesien« (FA 1,24, S. 420). 1827 gruppierte G.
lingt, sich selbst mit dem Baum zu identifizie- das Gedicht in der Ausgabe letzter Hand zu-
ren. Vers 43, »Halte das Messer zurück! 0 Ni- sammen mit wichtigen weltanschaulichen und
kias! schone den Armen«, vollzieht den Über- naturbetrachtenden Gedichten unter die Ru-
gang zwischen beiden Sphären auf schwer zu brik Gott und Welt. Er stellte ihm das vermut-
markierende Weise. lich 1798/99 entstandene Hexametergedicht
Metamorphose der Tiere nach und verband
beide durch drei kurze lyrische Reden, die er
Literatur: nach dem Vorbild der altattischen Komödie
EISSLER, S. 1455f. - GUNDOLF, S.422-426. - Kose- Parabase, Epirrhema und Antepirrhema über-
nina, Alexander: Lust und Leid durch tausend Ran- schrieb. Im folgenden wird die Fassung des
ken der Liebe. Goethes Amyntas und ein literarisch- Erstdrucks nach der Frankfurter Ausgabe
emblematisches Zitat. In: SchillerJb. 55 (1989),
(FA 1,1, S. 639ff.) zitiert.
S.240-260. - Mommsen, Katharina: Goethes Be-
gegnung mit Schiller in neuer Sicht. Zu Goethes Angeregt vor allem durch Karl Ludwig von
Gedichten Alexis und Dom, Amyntas, Eine nicht Knebels Übersetzung von Lukrez' Lehrepos
hält mich zurück und Schillers Klage der Ceres, Die De rerum natura, plante G. um 1798/99, eine
Begegnung. In: LGS. 1 (1980), S. 116-159. - Schäne, modeme Lehrdichtung zu schaffen, die die
Albrecht: Emblematik und Drama im Zeitalter des gesamte Naturlehre seiner Zeit umfassen
Barock. München 21968. - Stockhammer, Robert:
sollte (v gl. Briefwechsel mit Knebel, Juni 1798
Spiraltendenzen der Sprache. Goethes Amyntas und
seine Theorie des Symbols. In: Poetica. (1995), bis April 1799, und Tagebuch, 18.1. 1799).
H. 1/2, S. 129-154. Schiller teilte seine Ansicht, daß es für die
Gattung des Lehrgedichts in neuerer Zeit
Robert Stockhammer
keine qualitativ überzeugenden Beispiele
gebe. Er bestärkte G. in seinem Vorhaben,
durch Schaffung einer neuen literarischen
Form »die Natur in ihrer reichen Mannichfal-
tigkeit, Bewegung und Zusammenwirkung der
Die Metamorphose der Phantasie nahe zu bringen« (an G., 30.i.
1798). G. beabsichtigte demnach die Erneue-
Pflanzen rung der für die Poetik der Aufklärung zen-
tralen Gattung des Lehrgedichts. Obwohl er
aufgrund des Gelingens der Metamorphose der
Die im Sommer 1798 entstandene Elegie (Ta- Pflanzen an die Möglichkeit eines großes »Na-
gebucheintrag vom 17./18 . Juni) erschien im turgedichtes in unsern Tagen« glaubte (an
Erstdruck in dem von Schiller herausgegebe- Knebel, 22.1. 1799), blieb sein Plan unausge-
254 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

führt. 1827 erschien das Hexametergedicht den Phänomenen zugrundeliegende Gesetz


Metamorphose der Tiere; das große Lehrepos nicht auf einmal, in einem Moment erfassen,
blieb Fragment. Aber nicht nur unter dem gat- sondern nur stufenweise auffinden und dar-
tungsgeschichtlichen Aspekt der Lehrdich- stellen lasse, müsse die Einsicht sukzessiv,
tung ist die Elegie zu betrachten; wie Günter sprich >genetisch, entwickelt werden.
Peters gezeigt hat, ist sie auch im Zusammen- Im Mittelteil zeigt das Gedicht die Stadien
hang mit den etwa gleichzeitig entstandenen, des individuellen Pflanzenwachstums von der
»thematisch-motivisch ineinander verknüpf- Keimung bis zum Fruchten auf. Unter dem
ten« Elegien zu deuten (S. 50). Einfluß der Feuchte des Bodens, der »Reize
des Lichts« (V. 13) sowie einer im Samen ent-
Die Metamorphose der Pflanzen enthält die haltenen »Kraft« (V. 15) entwickelten sich aus
von G. durch das Studium von Entwicklung den einfachsten Formen auf epigenetische
und Ausgestaltung pflanzlicher Individuen ge- Weise immer komplexere Blattgebilde, bis in
wonnene morphologische Lehre in gedrängter der Blüte die vollkommenste Gestalt erreicht
Form, wobei das erkannte botanische Bil- werde. Bestimmendes Moment dieses Prozes-
dungsgesetz auf die Genese einer menschli- ses sei ein »Trieb« (V. 23), ein >inneres Stre-
chen Liebesbeziehung übertragen wird. Auch ben', sich zu vervollkommnen. Damit sich das
das Distichenschema mit seinem regelmäßi- vegetative Gebilde zur Blüte verfeinern könne,
gen Wechsel von Hexameter und Pentameter müsse »die Fülle des Triebs« (V. 32) durch die
und den trotz grundSätzlichem Gleichmaß Natur in engere Bahnen gelenkt und somit
durchgeführten Variationen entspricht dem eingeschränkt werden. Nach dieser Vorstel-
Lebensgesetz der stetigen Umgestaltung auf lungwerden die Kräfte, die sich im keimenden
der Basis eines einheitlichen Grundmusters. Samen zu entfalten beginnen, in einer zweiten
Die individualisierende Form der Ansprache Phase der Entwicklung auf die Fortpflanzungs-
an die Geliebte wie auch die bei der Beschrei- organe gelenkt, wo sie sich in den neuen
bung des Naturvorganges verwendeten Meta- Keimanlagen sammeln. Die fertige Blüte
phern aus dem menschlichen Bereich verdeut- deute auf das künftige Schaffen der Natur hin,
lichen die über die Vermittlung der naturwis- da in ihr bereits in »schwellenden Früchten«
senschaftlichen Lehre hinausgehende, auf (V. 58) der Drang zu neuem Leben inbegriffen
eine »Lebenslehre« zielende Intention des Ge- sei.
dichtes (Peters, S. 62). Seine erste Adressatin Der als Vervollkommnung beschriebene
ist, wie G. in Schicksal der Druckschrift bestä- Entwicklungsweg der Pflanze wird als Zyklus
tigt, Christiane Vulpius. begriffen, bzw. als Teil einer zeitlichen Anein-
anderreihung von Zyklen, einer wachsenden
Die Elegie beginnt mit einer Anrede an die »Kette« (V. 61) aus individuellen Bildungs-
geliebte Frau, die angesichts der verwirrenden prozessen, in denen die typischen Entwick-
Vielfalt der pflanzlichen Erscheinungen ihres lungsstadien in variierter Form rhythmisch
Gartens in die morphologische Betrachtungs- wiederkehren: »Und hier schließt die Natur
weise eingeführt werden soll (V. 1-4). Der den Ring der ewigen Kräfte, / Doch ein neuer
Lehrer und Liebhaber macht die Geliebte dar- sogleich fasset den vorigen an; / Daß die Kette
auf aufmerksam, daß dem empirischen Beob- sich fort durch alle Zeiten verlänge, / Und das
achter die Natur in ihrer Vielfalt leicht als Ganze belebt so wie das Einzelne sei«
chaotische erscheine. Er kündigt an, ihr die (V. 59-62). So wird gegen Ende des mittleren
überwältigende Mannigfaltigkeit der Natur Teiles wieder auf die Kräfte zurückgelenkt,
durch die Vermittlung eines »geheimen Ge- wodurch die Entwicklung als eine geordnete
setzes« (V. 6) in ihrem Zusammenhang ein- begründet wird. Diese Kräfte erscheinen als
sichtig zu machen (V. 5-10). Mit der den ersten das Wesentliche der Natur; sie bleiben als Ent-
Teil der Elegie abschließenden Passage wird wicklungspotenz immer erhalten und sind auf
das weitere Vorgehen begründet: Da sich das die Fortpflanzung und Höherentwicklung des
Die Metamorphose der Pflanzen 255

Lebens ausgerichtet. Demnach besitzt die Na- hergestellt: Keim und Bekanntschaft, Sproß
tur selbst ein Telos. Das Motiv des Ringes und Gewohnheit, Blüte und Freundschaft so-
(V. 59) veranschaulicht die durch »innere wie Frucht und Liebe werden parallelisiert.
Zweckmäßigkeit« begründete Einheit der Na- Außerdem wird die Metamorphose der Pflan-
tur (Kant: Kritik der Urteilskraft, § 66). zen zum Symbol für die Entwicklung der Liebe
Im dritten Teil des Gedichtes soll die Meta- als gesellschaftliche Kraft (V. 75-80). Der
morphosenlehre fruchtbar gemacht werden, Schluß impliziert, daß die in der Natur ent-
indem sie auf andere Gebiete, vor allem auf haltenen, immerwährend aufstrebenden
das individuelle menschliche Leben, übertra- Kräfte zu einer qualitativen Stufung führen,
gen wird. Zunächst wird die Geliebte aufge- die durch die aufsteigende Reihe der Lebewe-
fordert, das Erkannte an konkreten Beispielen sen bis zum Menschen reicht. Darüber hinaus
zu überprüfen. Anschließend wird behauptet, sollen diese Kräfte im Menschen, durch des-
daß die genetische Entwicklung des pflanzli- sen feinste Regungen, gewissermaßen subli-
chen Individuums paradigmatisch für alle na- miert werden. Gemäß seiner natürlichen Be-
türlichen Bildungsprozesse sei. »Jede Pflanze stimmung könne sich der Mensch über die
winket dir nun die ewgen Gesetze, / Jede bestehenden Grenzen der äußeren Natur hin-
Blume sie spricht lauter und lauter mit dir. / ausbewegen und sich in der seelischen sowie
Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Let- in der gesellschaftlichen Dimension in dem
tern, / Überall siehst du sie dann, auch in ver- gewonnenen Raum ausweiten. Er verwirkli-
ändertem Zug« (V. 65-68). Auf allen Stufen des che, diesem inneren Streben nachgebend, in
Lebens ließen sich Analogien aufdecken, etwa einer innigen Liebesbeziehung und einer har-
in der Wandlung der Raupe zum Schmetter- monischen Gesellschaftsordnung das »ge-
ling. Sogar des Menschen Leben sei von dem- heime Gesetz« (V. 6) der Natur und vollende
selben Gesetz beherrscht. Dessen Bestimmung sie damit und zugleich sich selbst.
sei es, seine Metamorphose selbstbewußt und So wird der angesprochenen Geliebten mit-
selbstverantwortlich zu gestalten: »Bildsam geteilt, daß das Geheimnis der Natur mit dem
ändre der Mensch selbst die bestimmte Ge- Geheimnis der Liebe identisch sei, was durch
stalt« (V. 70). Der Mensch - auf der höchsten die in Aussicht gestellte ,Erhöhung< geradezu
Stufe der Lebewesen - könne und solle die zur Verheißung wird: »Freue dich auch des
eigene Entwicklung und das soziale Umfeld heutigen Tags! die heilige Liebe / Strebt zu der
bestimmend beeinflussen, selbst die Kraft in höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf, /
Bahnen lenken und nach dem Vorbild der Na- Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmo-
tur als Bildner wirken. Als Künstler wird der nischem Anschaun / Sich verbinde das Paar
Mensch in Analogie zur Natur gesehen. Prinzi- finde die höhere Welt« (V. 77-80). Es soll sich
piell vermöge er Gestalten zu verändern, ja zu ihr eine neue Dimension des Lebens eröffnen,
vervollkommnen. Damit wird dem Menschen die durch die Liebe erreicht werden kann. Wie
nahegelegt, die in der Natur zu beobachtende schon im Werther wird auch hier die Liebe als
Vervollkommnungstendenz aufzugreifen und besonders wertvolle Naturkraft aufgefaßt. Sie
fortzusetzen. In ähnlicher Weise wird auch in ermögliche es dem Individuum, seine Kräfte
dem etwa gleichzeitig entstandenen Gedicht in gewisser Weise zu 'transzendieren<. Aus
Euphrosyne die »Entwicklung der Künstlerin dieser Perspektive wird verständlich, weshalb
als Wachsen ihrer Kunst« und das Kunstschaf- die Natur in diesem Gedicht durch Ausdrücke
fen als gesteigertes Leben begriffen (Peters, wie »mit mächtigen Händen« (V. 33), »die gött-
S.60). liche Hand« (V. 50) und »der Göttin heilige
Am Schluß der Metamorphose-Elegie wird Lettern« (V. 67) gleichsam als göttliches Wesen
eine Analogie zwischen der natürlichen Au- dargestellt wird.
ßen- und der menschlichen Innenwelt, zwi-
schen den Stufen des pflanzlichen Werdens Gerade aufgrund der anthropomorphisieren-
und dem ,Wachsen< menschlicher Gefühle den Metaphorik wurde Die Metamorphose der
256 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

Pflanzen vom zeitgenössischen Publikwn eher genzpunkt in einer Naturästhetik der szeni-
im Kontext der literarischen »Mode, die Pflan- schen Anschauung« finden (S.50), erschließt
zenhochzeiten in Linnes Sprache und Lehre zu seine Analyse die künstlerische Absicht, »Na-
besingen« (Schuster, S. 100) als in Korrespon- turerkenntnis als symbolisches Drama zu in-
denz mit G.s Abhandlung über die Pflanzen- szenieren« (ebd., S. 67). Nach dieser Deutung
metamorphose gesehen. Karl Bapp hat zuerst bildet die »didaktische Naturpoesie von der
auf den entstehungsgeschichtlichen Zusam- Metamorphose der Pflanzen auch eine Kunst
menhang mit dem »Plan eines großen Natur- der Symbolik« (ebd., S. 82).
gedichtes in der Art des Lukrez« (Bapp, S. 63)
aufmerksam gemacht. Durch Günther Müllers Besonders der Schluß der Elegie legt eine poe-
>morphologische< Interpretation wurde die tologische Deutung nahe. Analogisiert man
maßgebliche Bedeutung der naturwissen- das »Paar« (V. 80) mit den Begriffen >Natur-
schaftlichen Methode und Lehre G.s für die forschung< und >Dichtung<, so kann auf das
dichterische Gestaltung nachgewiesen. Der Programm einer Synthese dieser beiden Be-
»genetischen Betrachtungsweise« (Müller, reiche geschlossen werden, der das Gedicht
S. 253) entspreche hier formal sowohl das Me- selbst exemplarisch entsprechen soll. In dem
trwn, das »dieselbe Grundform in seinen Aufsatz Schicksal der Druckschrift erläutert G.
wechselnden Gestalten zu klanglich rhythmi- diesen Zusammenhang: »Nirgends wollte man
scher Erscheinung« bringe, als auch die Ge- zugeben, daß Wissenschaft und Poesie verein-
samtstruktur des Textes (ebd., S. 260). Müller bar seien. Man vergaß daß Wissenschaft sich
betont allerdings auch, daß die Elegie »kein aus Poesie entwickelt habe, man bedachte
Lehrgedicht [ ... ] im Sinn einer Versifizierung nicht daß, nach einem Umschwung von Zeiten,
abstrakter Gedankengänge, sondern eine beide sich wieder freundlich, zu beiderseiti-
reine Dichtung« sei (ebd., S. 257). Im Hinblick gem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wie-
auf die naturwissenschaftliche Lehre räwnen der begegnen könnten« (FA 1,24, S. 420). Die
Gertrud Overbeck und Erich Trunz dem Meta- »höhere Einheit« von Wissenschaft und Poesie
mOlphose-Gedicht »eine Sonderstellung« ein besteht nach G.s klassischer Poetologie darin,
(Trunz, S.569). Daß es vornehmlich auf die daß die auf naturwissenschaftlichem Wege ge-
Erkenntnis der Natur des Menschen abziele, fundenen Ideen zur Bestätigung einer harmo-
wird unter Hinweis auf die »>anthropomor- nischen Weltdeutung genutzt werden. Der
phe< Beschreibung des Naturvorgangs« von Wert des Symbols ergibt sich für ihn aus der
Klaus Prange hervorgehoben (S. 126). Ebenso Funktion, >Brücken< zwischen den verschie-
konstatieren Esther Hudgins, Karl Richter und denen Bereichen der Wirklichkeit zu schlagen
Klaus Oettinger die Verklammerung von »Na- und so einen kohärenten, erweiterungsfahigen
tur- und Selbsterkenntnis« (Richter, S. 159). Weltentwurf zu konstituieren, der dem Men-
Für Hudgins vermittelt das Gedicht die »Lehre schen Lebensperspektiven eröffne. G. tritt mit
der Liebe als universelle Schöpfungskraft« diesem Gedicht nicht zuletzt für eine Natur-
(S.298). Oettinger spricht davon, daß die forschung ein, deren vordringliches Interesse
»Lehre zwn Liebesspiel« wird (S. 76). Richter in einer naturphilosophischen Bestimmung
interpretiert das Gedicht, G.s Kommentar in des Menschen als Naturwesen besteht.
Schicksal der Druckschrift folgend, vorzugs-
weise im Sinne einer »Synthese von Literatur
und Naturwissenschaft« und verweist von da- Literatur:
her auf die implizite »Thematisierung der Bapp, Kar!: Goethe und Lukrez. In: JbGG. 12 (1926),
Symbolsprache« (Richter, S. 163ff.). Ein über- S. 47-67. - Düntzer, Heinrich: Goethe's lyrische Ge-
dichte. 3., neubearb. und erweiterte Aufl. 13 Bde.
zeugender Versuch, das Gedicht im Kontext
Bd. 11 (1897). Leipzig 1896-98, S. 160-167. - Hud-
der ihm nahestehenden Elegien zu deuten, ge- gins, Esther: Das Geheimnis der .Lucindec-Struk-
lingt Peters. Ausgehend von der These, daß tur: Goethes Die Metamorphose der Pflanzen. In:
»Poesie und Wissenschaft [ ... ] ihren Konver- GQu. 49 (1976), S. 295-311. - Kant. Inunanuel: Kri-
Cupido, loser eigensinniger Knabe 257

tik der Urteilskraft. Hg. von Kar! Vor!änder, Ham- Singspiels Claudine von Villa Bella ein, das er
burg 71990. - Müller, Günther: Goethes Elegie Die zwischen November 1787 und Februar 1788 in
Metamorphose der Pflanzen. In: DVjs. 21 (1943),
Rom neu bearbeitete. Dort singt es der edle
S. 67-98. - Ders.: Johann Wolfgang von Goethe. Die
Metamorphose der Pflanzen. In: Wiese, Benno von Räuber Rugantino als nächtliches Ständchen.
(Hg.): Die deutsche Lyrik. Fonn und Geschichte. Diese Fassung des Singspiels wurde 1788 im
Interpretationen. Bd. 1. Düsseldorf 1956, fünften Band der Schriften veröffentlicht. In
S. 251-271. - Oettinger, Klaus: Unschuldige Hoch- der Rubrik Bericht erscheint das Gedicht dann
zeit. Zu Goethes Elegie Die Metamorphose der mit der Zeitangabe Januar (1788) im Dritten
Pflanzen. In: DU. 38 (1986), H. 1, S. 69-78. - Over-
Teil der Italienischen Reise. Als eigenständiges
beck, Gertrud: Goethes Lehre von der Metamor-
phose der Pflanzen und ihre Widerspiegelung in Gedicht nahm G. Cupido jedoch in keine der
seiner Dichtung. In: PEGS. N.S.31 (1961), von ihm veranstalteten Gedichtsammlungen
S. 38-59. - Peters, Günter: Das Schauspiel der Na- auf; als solches wurde es erst 1833 unter der
tur. Goethes Elegien Die Metamorphose der Pflanzen Rubrik Lieder für Liebende zusammen mit an-
und Euphrosyne im Kontext einer Naturästhetik der deren Gedichten aus Singspielen in Band 47
szenischen Anschauung. In: Poetica. 22 (1990),
der Ausgabe letzter Hand veröffentlicht, wobei
S. 46-83. - Prange, Klaus: Das anthropologisch-päd-
agogische Motiv der Naturauffassung Goethes in diese Zusammenstellung möglicherweise
dem Lehrgedicht Metamorphose der Pflanzen. In: noch mit G.s Wissen vorgenommen wurde.
LWU.8 (1975), S. 123-133. - Richter, Kar!: Wissen- Die vorliegende Interpretation bezieht sich auf
schaft und Poesie >auf höherer Stelle< vereint. Goe- den Erstdruck in Claudine von Villa Bella, den
thes Elegie Die Metamorphose der Pflanzen. In: Se- die Frankfurter Ausgabe mit der aus »rhythmi-
gebrecht, Wulf (Hg.): Gedichte und Interpretatio-
schen Erwägungen« vorgenommenen Ände-
nen. Bd. 3. Stuttgart 1984, S. 156-168. - Schuster,
Julius: Ein Linnesches Dichtungsmotiv und Goethes rung »Geräthe« in »Gerät« (y. 9) bringt (FA I, 1,
Metamorphosen-Elegie. In: Forschungen und Fort- S.373f.).
schritte. 5 (1929), S. 99-100. - Trunz, Komm. in HA Die Forschung sieht in diesem Gedicht viel-
1, S. 569-573. fach eine Spiegelung der Begegnung mit der
»schönen Mailänderin« in Rom, jedoch ist G.s
MaikeArz
eigene Schilderung der Entstehungsbedingun-
gen in der Italienischen Reise zumindest um-
fassender: »Wenn man vorstehendes Liedehen
nicht in buchstäblichem Sinne nehmen, nicht
jenen Dämon, den man gewöhnlich Amor
nennt, dabei denken, sondern eine Versamm-
Cupido, loser eigensinniger lung tätiger Geister sich vorstellen will, die

Knabe das Innerste des Menschen ansprechen, auf-


fordern, hin und wieder ziehen, und durch
geteiltes Interesse verwirren; so wird man auf
eine symbolische Weise an dem Zustande teil-
Das Gedicht entstand um die Jahreswende nehmen, in dem ich mich befand« (MA 15,
1787/88, wahrscheinlich im Januar 1788 in S. 567). Cupido ist ein wichtiges Erinnerungs-
Rom; eine handschriftliche Überlieferung aus element des Italienaufenthaltes und gewinnt
dieser Zeit existiert nicht. In einem Brief vom im Kontext der Abfassung des Dritten Teils der
9.2. 1788, der in die Italienische Reise aufge- Italienischen Reise im Jahr 1829 erneut Bedeu-
nommen wurde, nennt G. es sein »Leiblied- tung, wobei die Beschreibung der Entste-
ehen« und äußert die Hoffnung, daß es von den hungszusammenhänge durchaus eine iro-
Daheimgebliebenen »oft zu meinem Andenken nisch-distanzierte Haltung des späten G. si-
gesungen werde« (MA 15, S. 610). G.s Hoch- gnalisiert. Eckermann berichtet von ausführli-
schätzung des Gedichts zeigt sich auch daran, chen Gesprächen über Form, rhythmische
daß er es in verschiedene Kontexte einfügte. Besonderheit und Gefühlshaltung des Ge-
So baute er es zunächst in den zweiten Akt des dichts am 5., 6. und 8.4. 1829; G. erwähnt die
258 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

EinfUgung in das Singspiel Claudine von Villa Strophen ausgefUhrt und mehrfach ironisch
Bella: »Ich habe es jedoch dort zerstückelt, so gebrochen. Mit »Herd« (Y. 7) und »Hütte«
daß man darüber hinauslieset und niemand (Y. 12) nimmt G. Metaphern auf, die in be-
merkt was es heißen will. Ich dächte aber, es sonderer Weise charakteristisch fUr seine
wäre gut! Es drückt den Zustand artig aus und frühe Lyrik sind. Die emphatische Besetzung
bleibt hübsch im Gleichnis; es ist in Art der dieser Bildbereiche in den Gedichten Prome-
Anakreontischen« (zu Eckermann, 5.4. 1829). theus und Wandrers Sturmlied nimmt hier ei-
Cupido besteht aus drei vi erz eiligen Stro- nen leichten und ironischen Charakter an. Die
phen mit rein weiblichen Kadenzen. Die Vers- Verniedlichung erreicht ihren Höhepunkt in
zeilen haben durchweg fUnf Hebungen, die der letzten Strophe; in »Seelchen« (Y. 11)
SenkungsfUliung ist unterschiedlich, weist spricht sich das gleiche empfindsame Selbst-
aber eine gewisse Regelmäßigkeit auf. Die er- mitleid aus, das bereits in der Bezeichnung
sten drei Verszeilen sind - mit Ausnahme einer »mich Armen« (Y. 8) seinen Ausdruck findet.
doppelten SenkungsfUliung nach der vierten Das Entweichen der Seele aus dem Körper,
Hebung - alternierend. Die letzten Verse jeder eine metaphorische Umschreibung des Todes,
Strophe sind länger als die übrigen; Vers vier wird zur scherzhaft beschworenen Gefahr des
enthält eine dreimalige, Vers dreizehn eine Liebestodes. Der Begriff »Gerät« (Y. 9) ist
zweimalige doppelte SenkungsfUliung. Die mehrdeutig: In der bildlichen Logik des Ge-
letzte Verszeile der zweiten Strophe ist mit dichts bezeichnet er das Hausgerät, im über-
fUnfzehn Silben die längste und erhält rhyth- tragenen Sinne aber auch die Ordnung der
mische Ausdruckskraft durch viermalige dop- inneren Ökonomie und - in einer spezielleren
pelte SenkungsfUliung; die ausdrucks starken Bedeutung - das Schreibgerät; die im 18. Jh.
Verben »verbrennet« und »senget« geben die- durchaus vertraute sexuelle Konnotation er-
ser Verszeile auch ein besonderes emotionales weitert den erotischen Anspielungshorizont.
Gewicht. Die einzigen durch Reim aufeinan- Kurt Robert Eissler, der G.s Italienaufent-
der bezogenen Verszeilen (Y. 3/5, V. 4/10) be- halt als sexuelles Initiationserlebnis deutet,
zeichnen jeweils gegensätzlich aufeinander spricht die Vermutung aus, das Gedicht signa-
bezogene Positionen von Ich und Du. Die rhe- lisiere »den Beginn von Goethes Liebesaben-
torische Emphase des Gedichts wird durch teuer mit Faustina« (S. 1161). Mit der Selbst-
eine Tendenz zur Verdopplung verstärkt: »ver- deutung G.s, das Gedicht sei in der »Art der
stellt und verschoben« (Y. 9), »blind unp irre« Anakreontischen«, ist der Forschung eine
(Y. 10), »Flamm' auf Flamme« (Y. 7). Das En- Richtung vorgegeben, die den Text über bio-
jambement zwischen der elften und zwölften graphische Deutungsmuster hinaus in den um-
Verszeile und die Wiederholung des Verbs fassenderen Kontext einer literarischen Form-
»entfliehen« im letzten Vers bilden den Impuls tradition stellt. Herbert Zeman betont den Zu-
zur Flucht aus einer Situation, die mit der sammenhang des Gedichts mit einer »Ana-
Vokalassonanz des elliptischen Satzes »Nächte kreon-Renaissance« zwischen 1780 und 1785
gequälet« (Y. 6) eindrucksvoll charakterisiert im »geselligen und gelehrten Weimarer und
wird, auch formal ab. Tiefurter Kreis der Herzoginmutter Anna
Das Gedicht beginnt mit einer kleinen Amalia« (S. 224). Er verweist auf Motivkorre-
Schimpfrede, einem Anruf des römischen Lie- spondenzen Cupidos und des ebenfalls in Ita-
besgottes, der den Vokalbogen des Namens lien entstandenen Gedichts Amor als Land-
Cupido wirkungsvoll appellativ einsetzt. Die schaftsmaler mit der antiken anakreontischen
Anrede weitet sich aus zum imaginierten Ge- Odentradition (ebd., S.230). Das Gedicht
genspiel von Ich und Du; dreimal steht »Du« weist mit dem GefUhl des Beherrschtwerdens,
am Beginn einer Verszeile. Das Bild des Hau- dem Verlust jeglicher Behaglichkeit, mit
ses, in dem Cupido seine Herrschaft entfaltet, Schlaflosigkeit, Verwirrung und Fluchtimpuls
ist eine traditionelle Metapher fUr den eine Reihe von traditionellen Elementen der
menschlichen Körper; es wird in den drei Liebesklage auf. Das Rokokohaft-Spielerische
Cupido, loser eigensinniger Knabe 259

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»Cupido«-Erstdruck in »Claudine von Villa Bella«


260 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

wird durch die Anrede des Liebesgottes si-


gnalisiert und am Ende des Gedichts durch die
Kophtisches Lied / Ein
Diminutivfonn »Seelchen« und »Hütte« - für andres
kleines Haus - nochmals bekräftigt. Die An-
rede des kleinen Gottes wird sprachlich stim-
mig realisiert; kurze Sätze, die das Ende der
Verszeile größtenteils nicht überschreiten, und Der Titel der beiden kophtischen Lieder er-
die Tempuswahl des Perfekts vennitteln den klärt sich daraus, daß G. dem sogenannten
Eindruck einer gewissen Kindlichkeit der Stil- Großkophta als der Hauptfigur eines geplan-
haltung. Der Liebesgott richtet keine wirk- ten Singspiels diese Lieder in den Mund ge-
liche Zerstörung oder Verwundung an - nicht legt hatte. Hinter dieser Figur stand der Aben-
einmal das traditionelle Requisit des Pfeils teurer Alexander Graf von Cagliostro
wird hier genannt -, sondern schafft nur Ver- (1743-1795), der sich der leichtgläubigen Um-
wirrung, die in den Verben »verstellt und ver- welt als Großkophta, d.h. als Großmeister ei-
schoben« ihren sprachlichen Ausdruck findet. ner von ihm selbst 1780 erfundenen ägypti-
Auch das 'ungeschickte Lännen< Cupidos schen »Maurerei« darstellte.
ry. 11) erweist ihn als zwar lästigen, aber nicht Als J ohann Kaspar Lavater 1781 nach Straß-
bedrohlichen kleinen Dämon. Besonders burg fuhr, um Cagliostros Vorführungen zu be-
deutlich wird der spielerische Charakter des staunen, bat ihn G. dringend, ihm Näheres
Gedichts in der Aufnahme der seit der Antike über das Wesen dieses merkwürdigen Mannes
vertrauten Metapher der Liebesglut. In der mitzuteilen. Aus Lavaters Antwortbrief (3.3.
Logik der Bildlichkeit des Hauses, die das Ge- 1781) geht hervor, daß dem Physiognomiker
dicht konsequent entfaltet, wird die ,Liebes- vor allem die Widersprüchlichkeit des Mannes
glut< materialisiert und in der Flamme des aufgefallen war: »Cagliostro ist ein höchst ori-
Herdes konkretisiert; sie wird von den Holz- gineller, kraftvoller, unerhabner und in gewis-
vorräten gespeist, die Cupido, der unvernünf- sem Betracht unaussprechlich gemeiner
tige »Meister im Hause« ry. 4), verbrennt. Mensch«. Bei aller Faszination war G. vom
Der spielerischen Liebeslyrik des Rokoko betrügerischen Verhalten Cagliostros fest
entsprechend ist die Liebesklage ohne Tragik, überzeugt. Er erblickte in ihm ein für das Zeit-
und sie enthält durchgängig einen Grundton alter charakteristisches Phänomen: »Was die
von Ironie, der im selbstironischen Bild des an geheimen Künste des Cagliostro betrift, bin
der Erde sitzenden Sprechers ry. 6) seinen ich sehr mistrauisch gegen alle Geschichten
Höhepunkt findet. Die Klage in genußvoll- [ ... ] Glaube mir, unsere moralische und politi-
empfindsamem Ton richtet sich nicht an ein sche Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kel-
Liebesobjekt; mit dem Du des Gedichts wird lern und Cloaken miniret« (an Lavater, 22.6.
vielmehr in der traditionellen Allegorie des 1781). Cagliostros Rolle in der berüchtigten
antiken Liebesgottes ein noch nicht objektfi- Pariser Halsbandaffäre 1785, die dem Ruf des
xiertes, abstraktes Gefühl der Liebe angespro- französischen Königshauses erheblich scha-
chen. dete und so gewissennaßen zur Vorgeschichte
der Französischen Revolution gehört, sowie
der darauf folgende Prozeß 1785/86 scheinen
Literatur: G.s Interesse noch gesteigert zu haben. Im
EISSLER, Bd. 2, S. 1158-1179. - Zeman, Herbert:
Jahre 1787 suchte er in Palenno die Mutter
Goethes anakreontische Lyrik der Weimarer Zeit. und die Geschwister Cagliostros auf und ver-
In: ZfdPh. 94 (1975), S. 203-235. öffentlichte später den Bericht dieses Besu-
Inge Wild
ches in dem erstmals 1792 bei Johann Fried-
rich Unger veröffentlichten Aufsatz Des Joseph
Balsamo, genannt Cagliostro, Stammbaum.
Mit einigen Nachrichten von seiner in Palermo
Kophtisches Lied / Ein andres 261

noch lebenden Familie. Cagliostro wird hier als Für beide Gedichte gilt, daß die Fassung aus
»eins der sonderbarsten Ungeheuer [ ... ], wel- dem Jahre 1796 auch später ungeändert blieb,
che in unserm Jahrhundert erschienen sind« als G. sie in die Neuen Schriften 1800 aufnahm
(BA 14, S. 826), bezeichnet. und 1815 unter die Geselligen Liedereinord-
Zu dieser Zeit faßte G. den Entschluß, Ca- nete. Hier finden sie sich auch in der Ausgabe
gliostro und die Halsbandaffare » zur 0 per a letzter Hand. Das Singspielfragment Die My-
Buffa zu machen« (an Philipp Christoph stifizierten mit der ersten Fassung der beiden
Kayser, 14.8. 1787). Der Plan wurde in Angriff Lieder wurde 1894 in der Weimarer Ausgabe
genommen, aber nicht vollendet. Als Ergebnis (WA I, 17, S.374-394) zum ersten Mal ver-
blieb zunächst das Fragment des Singspiels öffentlicht.
Die Mystifizierten. In diesem Fragment waren Beide kophtische Lieder sind ausgespro-
schon die beiden kophtischen Lieder enthal- chene Rollengedichte. Hier spricht weder der
ten, die Johann Friedrich Reichardt 1789 als Verfasser noch ein unbestimmtes lyrisches Ich,
Baßarien in Musik setzte. 1791 arbeitete G. das sondern eben der Großkophta selbst, der seine
in Versen geschriebene Singspiel zum Prosa- zynische Weltauffassung und Menschenver-
lustspiel Der Grqßkophta um, das am 17.12. achtung als »Lebensweisheit« verkündet. Aus
1791 in Weimar uraufgeführt wurde. Die bei- dieser Rolle sind sowohl die Überheblichkeit
den Arien bzw. Lieder fanden aber in diesem des Sprechenden als auch sein Versuch zu ver-
Lustspiel keinen Platz. Statt dessen ließ G. sie stehen, mit den Mitteln einer gebieterischen
in Schillers Musen-Almanach für das Jahr Rhetorik die Zuhörer in seinen Bann zu zwin-
1796 als Kophtische Lieder 1 und 2 mit ge- gen und sie so zu beherrschen.
wissen textlichen Änderungen veröffentli-
chen.
Das erste kophtische Lied erhielt einen völ- Kophtisches Lied: »Lasset Gelehrte
lig anderen Aufbau. Ursprünglich bestand es
sich zanken und streiten«
aus nur einer Strophe von insgesamt dreizehn
Versen. Die ersten zehn Verse wurden nun auf
drei Strophen verteilt (vier + drei + drei), die Das Gedicht gibt sich als Weisheitslehre. Un-
letzten drei Verse der ursprünglichen Fassung ter Berufung auf höchste Autoritäten soll die
dagegen als Schlußrefrain in jeder Strophe Wahrheit der Botschaft abgesichert werden.
wiederholt. Dazu dienen in der ersten Strophe die Wieder-
Zum zweiten kophtischen Lied hatte Schil- holung des Wortes »alle« sowie der Superlativ:
ler vom Komponisten Reichardt die Partitur »Alle die Weisesten aller der Zeiten«; so auch
erhalten, die zusammen mit dem Text im Mu- in der zweiten Strophe der Hinweis auf »Mer-
senalmanach gedruckt wurde. Die gedruckte lin«, den Zauberer und Wahrsager der Artus-
Partitur ist mit der Bemerkung versehen: »Für sage, den der Großkophta im Grabe gespro-
Fischers kräftige Baßstimme komponiert« so- chen haben will, und schließlich in der dritten
wie mit der Angabe: »Nicht zu lebhaft, doch Strophe die Heranziehung des »heiligen Wor-
stark deklamiert. Bloß vom Generalbaß be- tes« indischer und ägyptischer Geheimlehren.
gleitet«. Den Text hatte G. an drei Stellen ge- Dieser letzte Hinweis entsprach ganz dem
ändert: ),Ja gehorche meinen Wincken« ägyptisierenden Bühnenbild des Singspiels,
(1. Vers, handschriftliche Fassung) zu »Geh! das dem Logenwesen und Freimaurertum der
gehorche meinen Winken« (1. Vers, gedruckte damaligen Zeit entlehnt war.
Fassung, 1796) und »An des Glückes groser Durch die Regelmäßigkeit der daktylischen
Wage / Steht die Zunge niemals ein« (4. und 5. Rhythmen sowie durch den dreimal wieder-
Vers, handschriftliche Fassung) zu »Auf des holten Refrain wird den »Kindern der Klug-
Glückes großer Wage / Steht die Zunge selten heit« eingehämmert, daß sie dem Rat »aller«
ein« (4. u. 5. Vers, gedruckte Fassung, 1796) Autoritäten der Weisheit folgen und die unver-
(WA 1,1, S. 130f.; WA 1,17, S. 379). besserlichen Toren als Narren behandeln sol-
262 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

len - »wie sich's gehört«. Dabei geht es keines- bensweisheit des Autors verkündigt, sondern
wegs um ein harmloses, närrisch-karnevali- das Ausgesagte charakterisiert in erster Linie
stisches Treiben, sondern darum, sich auf Ko- den Sprechenden als den Rollenträger des
sten der Minderbegabten Vorteile zu sichern. Gedichts.
Diese Lehre wurde im ursprünglichen Kontext Die an den jungen Schüler gerichteten im-
der Mystifizierten vom Großkophta noch ein- perative der ersten drei Verse werden durch
deutiger ausgesprochen: »Licht dringt in der die folgenden gleichsam begründet. Diese
Menschen Auge / Nicht in das Gehirn hinein. / Verse (V. 4-10) sind durch zwei emblematisch
Halte den Verstand in Ruh / Daß der Kluge mit anmutende Bilder - die Waage der Fortuna
dem Dummen / Immer spiele blinde Kuh« sowie das Hammer-Amboß-Bild - umrahmt,
(WA I, 17, S. 59tf.). Diese dem Geist der Auf- die nicht nur durch den Reim (V. 5 u. 10),
klärung und der Humanität Hohn sprechende sondern auch rhythmisch durch den männli-
Botschaft war für G. mit der Gestalt Caglio- chen Ausgang dieser Verse korrespondieren.
stros unlöslich verbunden und findet sich denn Zwischen diesen beiden Bildern befinden sich
auch im Lustspiel Der GrqJJkophta. Hier gibt vier alternative Begriffspaare : steigen - sin-
in der fünften Szene des dritten Aktes der ken' herrschen - dienen, gewinnen - verlie-
gelehrige Schüler auf die Frage des Meisters: ren, leiden - triumphieren, die die Bedingun-
»Wer ist der Klügste?« die »richtige« Antwort: gen des menschlichen Lebens charakterisie-
»Der in allem, was ihm begegnet, seinen Vor- ren. Den Bildern und den Alternativen ge-
theil findet« (ebd., S.181). Gerade dieses meinsam ist die Vorstellung der Konkurrenz
Thema der »Klugheit« im Sinne des Groß- und des Lebenskampfes in einer Welt stän-
kophta verbindet die beiden kophtischen Lie- diger Veränderlichkeit. Dies bedeutet aller-
der inhaltlich miteinander und auch mit den dings nicht, daß der Mensch der Gewalt der
dazugehörigen Bühnenstücken Die Mystifi- Glücksgöttin hilflos ausgeliefert ist, im Ge-
zierten und Der GrqJJkophta. genteil. Um dieses Mißverständnis zu vermei-
den, hat G. an die Stelle der traditionellen
Fortuna-Attribute, der Kugel und des Rades,
deren Bewegungen der Mensch nicht beein-
Ein andres: »Geh! gehorche llleinen flussen kann, das ungewöhnliche Bild der
Waage als Attribut der Fortuna gesetzt. Was
Winken«
gemeint ist, geht aus dem Hammer-Amboß-
Bild des Schlußverses eindeutig hervor und
Auch in diesem Lied informiert der Groß- läßt sich als eine Variante der antiken Vor-
kophta seine Zuhörer, in diesem Fall einen stellung: »Suae Quisque Fortunae Faber«, zu
jungen Schüler, über die Beschaffenheit der deutsch: »Jeder ist seines Glückes Schmied«,
Welt. Zugleich schreibt er ihm die adäquate auslegen. An dieser Stelle darf vielleicht an ein
Verhaltensweise vor. Mit einer imperatori- Emblem erinnert werden, das diesen lateini-
schen Gebärde setzt das Gedicht ein, sprach- schen und deutschen Spruch als Motto enthält,
lich durch die verbalen Imperativformen am und dessen Bild in der Henkel/Schöne-Samm-
Anfang der ersten drei Verse unterstrichen. So lung, Spalte 1806, so beschrieben wird: »For-
stellt sich der Sprechende von Anfang an dem tunafigur über einen Amboß gehalten«. Das
Angesprochenen als eine absolute Autorität Hammer-Amboß-Bild konnte schon in Em-
dar, die keinen Widerspruch duldet. Das An- blembüchern der Renaissance »Handeln und
fangswort »Geh!« deutet zudem eine szenische Dulden« bezeichnen (ebd., Spalte 1410, Bor.
Situation an, die zwischen etwas Vergange- S. 57). Im 18. Jh. läßt sich darüber hinaus ge-
nern: »Lerne zeitig klüger sein« und etwas nau die gleiche Bedeutung wie im kophtischen
Künftigem: »Gehorche meinen Winken« ein- Lied belegen, so bei Voltaire: »J'ai peur que
gebunden ist. Anders als in G.s philosophi- dans ce monde on ne soit reduit a etre enclume
schen Altersgedichten wird hier also keine Le- ou marteau; heureux qui echappe acette al-
Kophtisches Lied / Ein andres 263

ternative!« (Larousse, S.506) und ebenfalls logie hatten sie auch wirklich nichts zu bieten.
bei Chamfort: »Savez-vous pourquoi [ ... ] on Charakteristisch für das noch andauernde
est plus honnete, en France, dans la jeunesse, Desinteresse ist beispielsweise die Tatsache,
et jusqu' a trente ans que passe cet age ? C'est daß in der Hamburger Ausgabe nur das zweite
que ce n'est qu'apres cet age qu'on s'est de- kophtische Lied enthalten ist, während das
trompe; que ches nous il faut etre enclume ou erste, größere Lied nicht einmal im Kommen-
marteau« (S. 199). Durch G.s Gedicht ließ sich tar erwähnt wird.
im Wilhelminischen Zeitalter der dem Kaiser Dabei sind diese beiden Gedichte für eine
nahestehende Direktor der Berliner Kunst- historische Betrachtung nicht ohne Interesse.
Akademie Anton von Werner zu folgendem Le- Sie sind ja in Italien vom »klassischen« G.
bensmotto anregen: »Eins bist du dem Leben geschrieben und verhalten sich, wenn nicht
schuldig / Handle oder trag in Ruh / Bist du kontrapunktisch, dann doch komplementär zu
Ambos, trag geduldig / Bist du Hammer, dem, was man meistens mit G.s Klassik ver-
schlage zu« (Freie Bühne, S. 966). bindet. Die elementare Gewalt einer amorali-
Wie das erste ist auch das zweite kophtische schen Skrupellosigkeit übte offensichtlich auf
Lied mit dem Lustspiel Der Gnf3kophta in- G. auch in seiner klassischen Periode eine fas-
haltlich engstens verbunden. So sind die al- zinierende Wirkung aus. G.s Haltung Caglio-
ternativen Begriffspaare der Verse sechs bis stro gegenüber war gewiß illusionslos kritisch,
neun fast wörtlich in die fünfte Szene des drit- aber dennoch vielschichtig. Elsie Butler hat
ten Aktes des Lustspiels eingegangen: »Ziehen auf gemeinsame Züge zwischen Faust und Ca-
sie Vortheil aus der Thorheit [ ... ] Jeder mag gliostro hingewiesen. Näherliegend ist wohl
lieber befehlen als dienen, lieber sich tragen doch die Verwandtschaft zwischen dem Groß-
lassen als tragen. Jeder fordert reichlich Ach- kophta, wie er sich in den beiden Liedern
tung und Ehre, und gibt sie so spärlich als vorstellt, und dem »Lügengeist« Mephistophe-
möglich zurück. Alle Menschen sind Egoisten« les. Die Rolle des Großkophta in den beiden
(WA I, 17, S. 182). So unverhüllt gibt sich das kophtischen Liedern, die Diskrepanz vor al-
Gedicht nicht, aber hinter dem Schlüsselbe- lem zwischen der pathetisch-feierlichen Er-
griff des »klüger sein« im dritten Vers steht habenheit seiner Ausdrucksweise und dem
letztlich die gleiche Einstellung. Auf Men- blanken Egoismus der faktischen Aussage, ist
schenbeherrschung und Machtgewinn läuft in der Anlage von der Rolle Mephistos etwa in
auch dieses Gedicht hinaus. der Gesprächsszene mit dem Studenten in
Zu G.s Lebzeiten war das Interesse der Fausts Studierstube nicht wesensverschieden.
Komponisten fur die geplante »kophtische« Nur gibt sich der Großkophta pathetisch, Me-
Oper recht groß. Mit Johann Friedrich Kranz phisto dagegen ironisch -sarkastisch. Die hin-
und besonders mit dem Frankfurter Jugend- ter Masken und in Rollen versteckte Men-
freund Philipp Christoph Kayser, der seit dem schenverachtung ist ihnen ebenso gemeinsam
Ende der 70er Jahre an der Vertonung von G.s wie der damit verbundene zynische Egoismus.
Liedern und Singspielen arbeitete, hatte G. zu Auch diese Dimension ist ein Teil der G.schen
diesem Zweck Kontakt aufgenommen. Als es Klassik, dem Dichter selbst nicht fremd, der
1788 zum Abbruch der Freundschaft mit Kay- von den Zeitgenossen gelegentlich Cophta ge-
ser kam, war der bedeutendere Komponist Jo- nannt wurde.
hann Friedrich Reichardt sofort bereit, den
Plan zu verwirklichen. Beim Aufenthalt in Wei-
mar Ende November 1789 setzte er die beiden Literatur:
kophtischen Lieder als Baßarien in Musik.
Blumenthai, Lieseloue: Goethes Grrflkophta. In:
Zum Prosalustspiel Der Grqßkophta schrieb er
WB.7 (1961), S. 1-26. - Butler, Elsie: Goethe and
später Ouvertüre und Bühnenmusik. Cagliostro. In: PEGS. 16 (1947), S. 1-28. - Cham-
Seitdem blieb es um die beiden kophtischen fort, Sebastian Roch Nicolas: Maximes Et Pensees,
Lieder still. Einer idealisierenden G. -Philo- Caracteres Et Anecdotes. Chronologie, preface,
264 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

notes et index par Jean Dagen. Paris 1968. - Elster, Die spätere Fassung wirkt niedlicher, fast bie-
Ernst: Über eine ungedruckte Operndichtung Goe- dermeierlich. Sie ist es jedoch, in der das Ge-
thes. In: Forschungen zur deutschen Philologie.
dicht allgemein rezipiert worden ist und die
Festgabe für Rudolf Hildebrand. Leipzig 1894,
S.277-290. - Freie Bühne für modernes Leben. II. deshalb im folgenden zur Textgrundlage der
Jg. Berlin 1891. - Henkel, ArthurlSchäne, Albrecht: Interpretation gemacht werden soll.
Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. G. hat das Liedehen Christiane gesandt, der
und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967. - Larousse, er sonst keine Gedichte zu senden pflegte. Mit
Pierre: Grand dictionnaire universei du XIX" siede. ihr hatte er 25 Jahre zuvor einen Hausstand
Bd. 7. Paris 1870.
begründet. Das gen aue Datum freilich war der
Bengt Algot Sorensen 12.7. 1788 gewesen. Erst 1806 hat er diese
Verbindung, die in Weimar auf allgemeines
Unverständnis traf, ja Anstoß erregte, legali-
siert. Christiane, aus einer verarmten Beam-
tenfamilie stammend, verdiente den Lebens-
unterhalt für sich und einige Geschwister als
Arbeiterin in Friedrich Justin Bertuchs Kunst-
Gefunden blumenmanufaktur in Weimar, so wurde sie
auch »das Blumenmädchen« genannt. G. war
im Herbst 1789 aus der Stadtwohnung am
Das Gedicht ist als Brief G.s an seine Frau Frauenplan ausgezogen und hatte für sich und
Christiane geb. Vulpius aus der Haltestation Christiane im Jägerhaus vor dem Frauentor an
Stadt-11m zwischen Weimar und IImenau über- der Marienstraße zwei Wohnungen eingerich-
liefert, ohne Überschrift, mit Datum vom 26.8. tet. Erst 1792 zog G. mit der Familie wieder ins
1813 und der Adresse »Frau von Goethe«. Im Haus am Frauenplan ein. Das hübsche Haus
Brief vom 28.8. 1813 an Christiane schreibt G. : mit Garten ist gleichwohl weniger auf das Jä-
»Daß ich unterwegs heiter war saht ihr aus den gerhaus zu beziehen, wo Christiane 1789 den
Verslein«. Die handschriftliche Fassung hat Sohn August Walther geboren hatte, sondern
nur eine leichte Korrektur, was zu der von wohl auf das Gartenhaus, wo G. sie zunächst
dieser Bemerkung gestützten Auffassung, es untergebracht und der Gesellschaft bewußt
sei ein Gelegenheitsgedicht aus einem Gusse, entzogen hatte. Daß Christiane gerne gärt-
beigetragen hat: Über ursprünglichem nerte, bezeugen ihre Briefe, was dem Bildbe-
»pflanzts im« (durchgestrichen) steht nun reich des Gedichts eine zusätzliche Intimität
»Und trugs zum Garten« cv.
15), was die meta- verleiht.
phorische Lesart begünstigt. Die persönlichen Anspielungen des Ge-
Das Gedicht wurde zuerst in der Sammlung dichts sind wichtig, können sie doch vor einer
von 1815 unter der Rubrik Lieder gedruckt vorschnell kritischen Beurteilung des Bildma-
(FA 1,2, S. 20). G. hat es für die Druckfassung terials bewahren. So fand die erste Begegnung
bearbeitet (Varianten in WA I, 1, S. 373f.). Für mit Christiane im Park an der 11m statt, wo sie
»stillen Ort« cv.18) stand »kühlen Ort«. Der dem einflußreichen Staatsminister G. ein Bitt-
Schluß war persönlicher, bezüglicher fornlU- gesuch ihres verschuldeten Bruders August
liert: »Nun zweigt und blüht es / Mir immer Vulpius überbrachte. G.s Entscheidung für den
fort«. Die spätere Fassung mildert einmal »Ehestand« mit Christiane wird allgemein in
mehr die besitzanzeigende Geste, wendet das Zusammenhang mit seiner Enttäuschung über
Bild zurück ins Emblematische, Objektive. die gesellschaftliche Kälte gesehen, die er
Der Unterschied der beiden Fassungen erhellt nach seiner Rückkehr aus Italien in Weimar
vor allem in der vierten Strophe. Gestisch empfand. Die Entfremdung im Verhältnis zu
stark und sinnlich betont heißt es in der Hand- Charlotte von Stein, die G. die abschiedslose
schrift: »Mit allen Wurzeln / Hob ich es aus / Flucht nach Italien nicht verzeihen mochte
Und trugs zum Garten / Am hübschen Haus«. und sich auch durch seine Beziehung zu Chri-
Gefunden 265

stiane gekränkt fühlte, nötigt G. zu KlarsteI- dieselbe Situation, nur daß das Blümchen aus-
lung und Unterscheidung: »Und welch ein Ver- drücklich auf seine Wurzeln verweist (»Im tie-
hältniß ist es? Wer wird dadurch verkürzt? wer fen Boden / Bin ich gegründet«; V. 13f.) und
macht Anspruch an die Empfindungen die ich daraus die Forderung ableitet, verpflanzt zu
dem armen Geschöpf gönne? Wer an die Stun- werden - das bleibt in allen Varianten erhal-
den die ich mit ihr zubringe?« (an Charlotte ten. Die Blümchenrede nimmt genau die
von Stein, 1. 6. 1789). Das ist verteidigend ge- zweite Hälfte des Gedichts in Anspruch. Ob
redet, gibt aber doch die Grenze des Verhält- das Ich dem folgt oder nicht, bleibt unent-
nisses zu Frau von Stein an: Unumwunden schieden, was der Titel Im Vorübergehn
nimmt G. für sich als 40jährigen das Recht auf ebenso offen läßt. Die Version Gifunden geht
ein unsublimiertes, ein sinnliches Liebesver- weiter, läßt das Ich schon auf eine zweizeilige
hältnis in Anspruch. Die Entscheidung fur Frage reagieren und erzählt die Geschichte zu
Christiane ergab sich sozusagen aus dieser Le- Ende. Von der Hellen, der das Gedicht, wohl
bensphase, >stimmte< einfach, worauf der Ti- aufgrund seiner entschlüsselbaren Bezüglich-
tel des Gedichts Gifunden nachdrücklich hin- keiten, als Parabel bezeichnet, hebt Georg El-
weist und wofür auch die Entschiedenheit lingers Hinweis (1885) auf G.s Anlehnung an
spricht, mit der G. alle Vorhaltungen zurück- Gottlieb Konrad Pfeffels Gedicht Nelke hervor,
wies. Es ist die >Entscheidung< für ein zen- das 1783 in dessen Fabeln erschien (Komm. in
tripetales Dasein, wobei der Wortlaut seines JA 2, S. 344). Auffällig ist der gleiche Rhyth-
Glücksprogramms, im Brief an Herder (11.9. mus und die Moral: Das Blümchen bittet, nicht
1790) formuliert, wiederum deutlich macht, gepflückt zu werden, bis es schließlich ver-
daß es weniger um Entscheidungen als um welkt im Beet steht. So läßt sich G.s Lied auch
Prozesse geht: »Auch bei mir hat sich die vis als Antwort auf die von ihm ein wenig noch
centripeta mehr als die vis centrifuga ver- mitgelebte Anakreontik verstehen: Das Ver-
mehrt. Es ist all und überall Lumperei und pflanzen bietet eine erwachsene Lösung ge-
Lauserei, und ich habe gewiß keine eigentlich genüber der juvenilen Alternative von Pflük-
vergnügte Stunde, bis ich mit Euch zu Nacht ken und Verwelken. Ein Blick auf Die Meta-
gegessen und bei meinem Mädchen geschlafen morphose der Pflanzen (1799), darin Chri-
habe. Wenn Ihr mich lieb behaltet, wenige stiane ausdrücklich figuriert, und nicht nur als
Gute mir geneigt bleiben, mein Mädchen treu »G.s tüchtige Gartengefährtin« (Trunz,
ist, mein Kind lebt, mein großer Ofen gut S.584), macht es möglich, das Verpflanzen
heizt, so hab' ich vorerst nichts weiter zu wün- auch als Tribut an »den Ring der ewigen
schen. Der Herzog ist sehr gut gegen mich, Kräfte« aufzufassen: »Daß die Kette sich fort
und behagt sich in seinem Elemente«. durch alle Zeiten verlänge / Und das Ganze
belebt, so wie das Einzelne, sei« (FA I, 2,
Es steckt mehr Reflexion in diesem Text, als S. 197, V. 61f.).
die Lesart >Gelegenheitsgedicht< uns weisma- Das Gedicht Gifunden wird allgemein als
chen will. Unter dem Titel Im Voriibergehn ist Gegentext zum Lied Heidenröslein von 1771
eine Variante zu Gifunden überliefert, im (FA I, 2, S. 14) interpretiert, das wiederum auf
Druck zuerst 1827 erschienen, aber vermutlich älteres Liedgut zurückgeht. Bei Paul Schede
ein früherer Versuch am Stoff (FA I, 2, Melissus heißt es, um 1600: »Ich thu ein Rose
S. 475f.). Eduard von der Hellen: »Wie sollte loben / [ ... ] Wolt mich mit ihr verloben«. G.s
G. darauf verfallen sein, ein so vollkommenes Knabe ist sehr viel moderner, setzt (wie etwa
Gedicht hinterdrein derartig zu parodieren?« Bertolt Brecht) männlich-zynisch voraus, daß
(Komm. in JA 1, S. 307). Als Parodie ist der es den Frauen immer Spaß macht (»mußt' es
Text also kaum zu werten, eher als Vorform: eben leiden«; V. 19) bzw. daß in Naturdingen
»Ich ging im Felde / So für mich hin, / Und Macht dem Willen vorgeht. Im Vergleich zu
nichts zu suchen, / Das war mein Sinn« diesem Vergewaltigungslob ist Gifunden ein
(V. 1-4). Die folgenden Strophen entwickeln Muster an Zartheit der Empfindung, eine tief-
266 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

reichende Korrektur der männlichen Haltung, perioden und Geschmacksrichtungen weiter-


wie sie auch die Entwicklung der Faust-Dich- lebt« (S.505f.). Damit ist der Anspruch der
tung bezeugt. »Nichts zu suchen« ist eine an- Volksliedform gen au umschrieben, wozu die
dere Haltung, nämlich das absichtslose ein wenig nachlässige, aber gestisch starke
Schlendern des Bürgers, dem sich auch die Metrik gehört, man vergleiche Vers 14 in der
Wahrnehmung des Naturschönen ergibt; dem- ersten Fassung: »Hob ich es aus«.
gegenüber hinterließ das Ausreiten der jungen Gleichwohl ist die Überzeitlichkeit nicht
Edelleute, die auf »aventiure« aus waren, in ganz selbstverständlich gegeben. Zweifellos
den frühen Volksliedern regelmäßig gebro- hat das Gedicht die Kultivierung von Männ-
chene Herzen. G.s frühe Lieder radikalisier- lichkeit zum Thema, wie sie gleichzeitig in der
ten noch den >männlichen< Ansatz der Volks- romantischen Deutung vom Rittertum er-
liedtradition, deuteten das Geschlechterver- scheint. Das wird gewiß aktuell bleiben. We-
hältnis, das Brechen und Stechen mit unver- niger vermutlich der Vergleich von Frau und
kennbarer Lust an der Gewalt. Gefunden ließe Blume. Der Naturvergleich kommt nicht ohne
sich so als Wiedergutmachung an diesem poe- historische Kontextuierung aus. »Welken« ist
tischen Material verstehen. als soziales, nicht als Naturschicksal zu lesen,
der geschlechtliche Umgang vor der Ehe (»bre-
Ohne den biographischen Bezug und mit den chen«) ist heute weniger tabuisiert als zur
Augen des 20. Jhs. betrachtet, verfielen die G.-Zeit, führt nicht >naturgemäß< zum Ver-
den Text bestimmenden Bilder gewiß der Kri- gehen des sich hingebenden Mädchens. Der
tik: die Frau als in den Garten versetzte biographische Kontext läßt das Provokative am
Pflanze, die, regelmäßig begossen, zweigt und Gedicht hervortreten: daß G. traditionelle,
fortblüht - ist das nicht ein allzu einseitiges also Natur-Bilder der Ehe auf sein >wildes<
Bild von Innigkeit? Die textlichen und bio- Verhältnis bezieht, also die Ehe unbürgerlich
graphischen Bezüge des Gedichts, aber auch als gegenseitiges Treueverhältnis gesehen ha-
seine Machart, als ob es ein Produkt der blo- ben möchte. Das »Ringlein«, das in den Lie-
ßen Natur sei (Kant), lehren uns anders lesen. dern von Adelbert von Chamisso eine so große
Die mittlere Strophe bringt den Vorhalt der Rolle spielt, ist hier deutlich ausgelassen. Die
Frau; die Frageform appelliert an das Gewis- Form, welche das Lied der Volks- oder Natur-
sen des Mannes und an seine Verantwortung, poesie zuweist, hält dazu an, Natur anders als
sozusagen an das Wissen von den Gretchen- »Kraft, die Kraft verschlingt«, anzusehen; das
Schicksalen: »Soll ich zum Welken / Gebro- Lied weigert sich, das Naturverhältnis des
chen sein?« cv. 11). Welken ist ein sehr zurück- Menschen nur als Raub oder rape zu denken.
haltender Ausdruck für das soziale Schicksal Vielmehr stellt es einen Typus von Verständi-
»gefallener« Frauen im 19. Jh. Die Frage gibt gung vor, in dem es auf Zeichen und Winke
dem Ich, das wir als männlich nehmen dürfen, ankommt, auf das Hören auch einer »feinen«
die Entscheidung in die Hand, gibt unumwun- Stimme. So wäre es keine falsche Lesart, auch
den zu, daß die Frau in einer Zwangslage (Fon- an das »Blümchen« Poesie zu denken, das
tane) ist, fordert Ritterlichkeit. Wolfgang heute mehr denn je im Schatten steht, allen-
Leppmann: »Ist in der Achse des Gedichts, der falls noch in der Reklame genutzt (gebrochen)
Frage, nicht das ganze Spannungsfeld zwi- wird und seine feine Stimme nur wenigen hör-
schen Töten und Lebenlassen, zwischen In- bar zu machen weiß.
stinkt und Moral, zwischen nomadischer und
seßhafter Kultur und auch zwischen gedanken-
los zerstörerischer Jugend und bewahrendem Literatur:
Mannesalter umrissen?« Leppmann findet,
Bonnann, Alexander von: Gebundenen Sinn zu ver-
wie andere auch, alle Information zum Ge- ändern. In: Hoberg, Rudolf (Hg.): Texterfahrungen.
dicht »Beiwerk« und meint, daß es, vollkom- Fs. Franz Hebel. Frankfurt/M. 1986, S.28-32. -
men in seiner Art, »außerhalb aller Literatur- Christiansen, Annemaric: GijUnden. In: dies.:
Der Musensohn 267

Zwölf Gedichte Goethes. Interpretationen und Hin- Maler auftreten ließ, präsentiert er ihn hier als
weise für den Unterricht. Stuttgart 1973, S. 11-19. - Musiker, als fahrenden Spielmann, der den
CONRADY, Bd. 1, S. 487-497. - Dietze, Walter: Poesie
Kreis der Jahreszeiten und des einfachen Le-
der Humanität. Anspruch und Leistung im lyrischen
Werk Johann Wolfgang Goethes. Berlin 1985. - bens abschreitet, bis er in der letzten Strophe
Leppmann, Wolfgang: Vollkommen in seiner Art. In: als Liebling der Musen wieder 'heimgeholt<
Reich-Ranicki, Marcel (Hg.): 1000 Deutsche Ge- wird. Von der Bewegung des Sprechers in der
dichte und ihre Interpretationen. Bd. 2. Frankfurt/ ersten Strophe ausgehend, dem es ,in den
M. 1994, S. 304-306. - Sommerfeld, Martin: Goethe Gliedern zuckt<, belebt sich in der zweiten
in Umwelt und Folgezeit. Leiden 1935, S. 170-174. -
Strophe auch die Natur, deren Schöpfungskraft
Trunz, Komm. in HA 1, S. 585-587 u. S. 615-616. -
Von der Hellen, Komm. in JA 1, S. 307-308 u. JA 2, zur kreativen Potenz des Sprechers, den »Lie-
S.344. dern« (V. 10), in unmittelbare Beziehung ge-
setzt wird. Im Wechsel der Jahreszeiten, vom
Alexander van Barmann
Frühling über den Winter und wieder zum
Frühling zurück, blühen unversehrt die poeti-
schen Blumen des Sängers. Der Gedanke von
der Unvergänglichkeit der Dichtung findet sei-
nen spielerischen Ausdruck in einem sprach-
Der Musensohn lichen Paradoxon von stilisierter Einfachheit:
»Da blüht der Winter schön!« (V. 15).
Nach der poetischen Ausgestaltung eines
Der Musensohn wurde zuerst im 1800 erschie- solchen »Traums« (V. 12) von der schöpferi-
nenen siebten Band von Gäthe 's neuen Schrif- schen Kraft der Phantasie führt Strophe vier
ten gedruckt. Der Erstdruck liegt der folgen- den Spielmann aus der »Weite« (V. 15) und
den Interpretation zugrunde (FA 1,1, S. 644f.). »Breite« (V. 14) wieder zurück zu seinem ei-
Die Entstehungszeit ist umstritten; es gibt gentlichen Beruf, dem Aufspielen zum Tanz in
keine handschriftliche Überlieferung. Der einer altdeutschen, ländlichen Szenerie »bei
Auffassung, das Gedicht sei 1799 entstanden, der Linde« (V. 19), die an das Bauernlied der
steht die Annahme einer viel früheren Entste- Szene Vor dem Tor in Faust I erinnert. Die
hung um 1774 und der Überarbeitung für die Entfernung des Musensohns von seinem ei-
Publikation in den Neuen Schriften gegenüber. gentlichen Zuhause, die erst in der letzten
Das Gedicht wurde mehrmals vertont, u. a. von Strophe ausgesprochen wird, zeigt sich hier
Johann Friedrich Reichardt, Karl Friedrich bereits in der distanzierenden Charakterisie-
Zelter und zweimal von Franz Schubert. rung von Bursche und Mädchen, die an der
Die fünf sechszeiligen Strophen des Ge- Belebung durch die Kunst nur vorübergehend
dichts sind Schweifreimstrophen aus jambi- im ländlichen Tanz Anteil haben. In Abgren-
schen Dreihebern; auf zwei gereimte Verszei- zung von einer solchen Funktionalisierung von
len mit weiblicher Kadenz folgt eine dritte Kunst spricht der Künstler in der letzten Stro-
Zeile mit abschließender männlicher Kadenz, phe die Musen an, indem er - in eigenwilliger
die ihren Reimpartner jeweils in der sechsten Auflösung der poetischen Formel vom Lieb-
Verszeile findet. Dies bewirkt eine deutliche ling der Musen - die Adressatinnen des ein-
Zweiteilung und zugleich eine rhythmische leitenden »Ihr« und den Bezugspunkt zu
Strukturierung der Strophen. Die männlichen »Liebling« erst im vierten Vers der Strophe mit
Kadenzen bezeichnen den Abschluß einer Be- einem nochmaligen »Ihr« als Musen explizit
wegung und ein Innehalten wie beim Ende anredet (V. 28). Im folgenden Vers benennt
einer Tanzfigur. Mit dieser rhythmisch beweg- dann ein drittes »ihr« die Geliebte, von der
ten Strophe greift G. auf eine beliebte Form in sich der Künstler in seinem Umherschweifen
der Rokokolyrik des 18. Jhs. zurück. so weit entfernt hat und an deren Busen er sich
Im Unterschied zu frühen Rollengedichten ausruhen möchte.
G.s, in denen er den Künstler mehrmals als
268 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

l)er ~nufenfo1)n.

~urcfj 5eH) unI> Wall) bU fc9tvdftn.


mein .eiebcgen roegtupfcifen,
60 91.'9t'lJ bon Drt AU ,ort!
Uni) nad) bem .Iade r'-'get,
UnI) n0c9 i)e," jJj'nnJj &cl1.ICget
6id) alles an mir fort.

3c9 lann fit raum erlt)artel'l


1)i I.' rrffe !;BCu m' im Gjarten,
1)ie erffe ~[üt9' am !Baum.
eie !IrüBen meme Eieber,
UnI) Pommt i>er Winter loieber.
Ging' id) n0t:9 jenen Xraum.

3~ fing' i9" in ber Weite,


2Iuf ~ifl.'s 20n9' unb ~reitt.
1)a b!ü9t bcr 2ßinter fdjön'
2Iurf;> biefe 2)Cüt9c fOjIDinl)et,

Erstdruck
Der Musensohn 269

Das Gedicht gestaltet das romantische Verse des Gedichts Der Musensohn, wobei der
Phantasma von der Belebung der Welt durch dritte Vers vom ursprünglichen Text abweicht:
die Kunst. G. greift dabei auf die einfachen »So ging's den ganzen Tag«. Was im Gedicht
Formen und sprachlichen Bilder der Volkspoe- im Präsens steht, »So geht's von Ort zu Ort!«
sie zurück, die er seit seiner Begegnung mit (Y. 3), wird hier - wohl aus dem Gedächtnis
Herder in Straßburg vielfach erprobt hatte. zitiert - als autobiographische Erinnerung ju-
Die Reflexion auf das eigene schöpferische Ta- gendlich -genialischer Schöpferkraft folgerich-
lent im Medium des poetischen Textes, die in tig ins Präteritum überführt. Das dichterische
einigen frühen Gedichten, z.B. den Hymnen Talent wird während der Frankfurter Genie-
des Sturm und Drang, den Charakter einer phase als »Natur« betrachtet, der Dichter ist
existentiellen Grenzerfahrung hatte, wird hier Medium elementarer schöpferischer Kraft:
in die Figurenrede eines Spielmanns über- »Ich war so gewohnt mir ein Liedchen vorzu-
führt. Dichten bekommt so den Charakter ei- sagen, ohne es wieder zusammen finden zu
ner sozial unverbindlichen und unbeschwer- können, daß ich einigemal an den Pult rannte
ten Rolle. Die jüngere Forschung ist sich darin und mir nicht die Zeit nahm einen quer liegen-
einig, daß das Gedicht nicht unmittelbarer den Bogen zurecht zu rücken, sondern das Ge-
Ausdruck von Subjektivität ist und damit nicht dicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von
zur >Erlebnislyrik< gezählt werden kann. Ge- der Stelle zu rühren, in der Diagonale her-
rade der jugendlich-heitere Ton, der in der unterschrieb« (ebd., S.716f.). In dieser be-
älteren Forschung vielfach zur Annahme einer rühmten Passage vermischen sich eindrucks-
frühen Entstehungszeit führte, wird jetzt als voll die erinnerten Erfahrungsweisen der
Ausdruck klassischer Mäßigung und eines iro- Sturm und Drang-Jahre und der abgeklärte
nisch-distanzierten Umgangs mit dem eigenen Umgang mit dem eigenen Talent, dessen Her-
Talent und der künstlerischen Rolle gesehen. vorbringungen selbstironisch als >Liedchen <
Im Kontext der Gedichte der 90er Jahre, die bezeichnet werden. Nimmt man als Entste-
vielfach für gesellige Anlässe geschrieben hungszeit des Gedichts 1795 an, dann ist der
wurden, kann das Gedicht auch als Ironisie- Musensohn, der sich in der Natur bewegt und
rung der eigenen Rolle als >Hofpoet< gesehen dabei sein >Liedchen wegpfeift<, also dichtet,
werden. In der letzten Strophe des Musen- ein eindrucksvolles Bild für die klassische
sohns wird das Ich jedoch durch einen klas- Sublimierung der Genieästhetik des Sturm
sisch-antiken Anspielungshorizont über Funk- und Drang. Die freien Rhythmen sind zu
tion und Tätigkeitsbereich volkstümlicher »Takt« (Y. 4) und »Maß« (Y. 5) geformt, und im
oder höfischer Kunst hinausgehoben; es wird >treiben< der letzten Strophe, welches das
sich selbst als »Musensohn« und »Liebling« >schweifen< der ersten Strophe aufnimmt,
(Y. 27) zum Objekt der poetischen Reflexion. klingt die poetische Besessenheit des Wande-
Im Sechzehnten Buch von Dichtung und rers in Wandrers Sturmlied nur noch schwach
Wahrheit zitiert G. die ersten drei Verse des nach. Sie ist gebändigt durch den Gedanken an
Gedichts in aufschlußreichem Kontext (v gl. die Liebe, die damit implizit und im Einklang
MA 16, S. 716f.). Einer Reflexion über seine mit G.s Lebensphilosophie als menschliche
Anverwandlung der Philosophie Spinozas und poetische Kraftquelle benannt wird.
während der Frankfurter Geniejahre folgen
Gedanken über »das mir inwohnende dich-
terische Talent«, das ihn in jenen Jahren stark Literatur:
beschäftigte: »Die Ausübung dieser Dichter- Eibl, Komm. in FA I, 1, S. 1212. - Trunz, Komm. in
gabe konnte zwar durch Veranlassung erregt HA 1, S. 608.
und bestimmt werden; aber am freudigsten
Inge Wild
und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wi-
der Willen hervor« (ebd., S. 716). Darauf fol-
gen ohne Angabe des Titels die ersten drei
270 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

dieser und der nächsten Verszeile vermitteln


Meeres Stille / Glückliche den Eindruck atemloser Beklemmung. Gebun-
Fahrt den ist die Wahrnehmung einer Flaute an ei-
nen Schiffer, dessen >bekümmertes< Umher-
schauen emotionale Bewegung in das statische
Naturbild bringt. Auf diese Figur mag man
In der neueren Forschung wird als Entste- auch die Assoziation des Todes und der Weite
hungszeit der beiden Gedichte, die G. seit der beziehen, die ungeheuer auch in übertrage-
Erstveröffentlichung immer zusammenstellte, nem Sinne ist.
überwiegend der Sommer 1795 angenommen, Das Gegengedicht Glückliche Fahrt, das be-
jedoch wird eine frühere Entstehung nicht reits durch den daktylischen Takt des Titels
ausgeschlossen. Eine handschriftliche Über- Aufbruch signalisiert, löst den Stillstand des
lieferung existiert nicht. Zuerst gedruckt wur- unbewegten Meeres in rasche rhythmische Be-
den die Gedichte in Schillers Musen-Alma- wegung auf. Die zweihebigen Verse beginnen
nach für das Jahr 1796; dem Gedicht Glück- mit einem Auftakt; nach der ersten Hebung
liche Fahrt war ohne Namensnennung die Ver- folgt eine doppelte Senkungs füllung, nach der
tonung von Johann Friedrich Reichardt zweiten Hebung schließt der Vers mit weib-
beigegeben. Der Text des Erstdrucks liegt der licher Kadenz, mit Ausnahme der Verse vier
folgenden Interpretation zugrunde (MA 4.1, und zehn, denen die letzte unbetonte Silbe
S.666). 1800 nahm G. das Gedicht unter die fehlt. Die meisten Verse haben zwischen zwei-
Rubrik Lieder in Gäthe 's neue Schriften, Band ter und dritter Senkung eine Zäsur und lassen
sieben, auf (FA I, 1, S. 650). Die Gedichte ha- sich damit auch als Abfolge von Amphibra-
ben viele weitere Komponisten zu Vertonun- chien rhythmisieren. Diese Verse bilden also
gen angeregt. Ludwig van Beethoven schrieb mit zwei Takten, in denen jeweils eine Hebung
1815/16 sein op. 112 für Chor und Orchester; von zwei Senkungen umgeben ist, die einset-
Franz Schubert vertonte 1815 Meeresstille als zende Wellenbewegung des Wassers formal
Klavierlied. Die bekannteste Komposition, die ab. Lediglich sechs Verse des Gedichts sind
den rhythmischen Gegensatz beider Gedichte durch Reime aufeinander bezogen: die Verse
markant hervorhebt, ist wohl Felix Mendels- vier und zehn, die zudem die einzigen beiden
sohn-Bartholdys Konzert-Ouvertüre op. 27 aus Verse mit männlicher Kadenz sind, die Zeilen
den Jahren 1833/34. zwei und acht und die Verse fünf und sieben.
Der Achtzeiler Meeres Stille aus trochäi- Deren Reime »Winde«l»Geschwinde« umrah-
schen Vierhebern mit alternierend weiblicher men Vers sechs, der mit der Wiedereinführung
und männlicher Kadenz besteht aus zwei des Schiffers das Zentrum des Gedichts dar-
Quartetten, von denen nur das zweite kreuz- stellt. Diese drei Zeilen mit deutlicher Domi-
gereimt ist; im ersten Quartett reimen nur die nanz des hellen i-Vokals bilden die größte
Verszeilen zwei und vier. Bereits die Über- Schnelligkeit der wiedergewonnenen Bewe-
schrift stimmt mit einem zweifüßigen Tro- gung lautlich ab. Aufbruch signalisiert auch
chäus auf den getragenen Takt des Gedichtes die Folge kurzer, parataktischer Sätze und die
ein. Jeweils zu Beginn einer Verszeile respon- rasch dahinfließende Kette von Verben.
dieren »tiefe Stille« (V. 1) und »Todes-Stille« Die Belebung der Natur ist personifiziert in
(V. 6) auf den Gedichttitel; Vers sechs setzt den der Allegorie des griechischen Windgottes
stärksten bedrohlichen Akzent. Nach der ein- Aeolus, dessen Erscheinen in der fast preziö-
leitenden Zustandsbeschreibung wird durch sen Vokal reihe u - ä - 0 - u - Ö - e im dritten
»ohne« (V. 2) und die dreimalige Variation von Vers, die zu langsamem Sprechen zwingt, laut-
»Keine«, »keiner« und »keine« im zweiten lich realisisiert wird. Im »ängstlichen Band«
Quartett eine Mangelsituation sprachlich rea- sind die Anspielung auf den mit einem Leder-
lisiert. Die doppelte Negation »keine Luft von band verschlossenen Windsack des griechi-
keiner Seite« (V. 5) und das Fehlen des Verbs in schen Gottes - rationalem Verständnis als Pro-
Meeres Stille / Glückliche Fahrt 271

jektion des Schiffers deutbar - und die meta- dem Bild eines göttlichen Retters ist hier un-
phorische Umschreibung einer seelischen verkennbar und verstärkt sich durch die noch-
Bedrückung poetisch verdichtet. Im onomato- malige Heraufbeschwörung der Szene auf dem
poetischen »Säuseln« cv. 5) der Winde wird die See Tiberias als nächtliches Trawnbild (v gl.
mythologische Reminiszenz wieder auf die ebd., S. 590).
Ebene realistischer Naturbeschreibung zu- Diese suggestive Schilderung der Gescheh-
rückgeführt, wobei der Schiffer als Teil des nisse ist der Grund für den vielfach angenom-
Naturbildes zu einer Tätigkeit im Einklang mit menen konkreten Entstehungsanlaß des Dop-
den Elementen gelangt. Diese Einheitserfah- pelgedichts, das für Herbert Rosendorfer »eine
rung von Mensch und Natur findet ihren for- lyrische Essenz des Erlebten« ist (S. 22). In der
malen Ausdruck im viermaligen anaphori- neueren Forschung wird eine solche Deutung
schen Einsatz und im analogen Satzbau mit als Erlebnislyrik problematisiert. Zudem wird
dreimaligem reflexivem »sich« der Verszeilen in der Italienischen Reise zwar von einer Ge-
fünf, sechs, acht und neun, die nur durch den fahrdung durch Windstille, vor allem jedoch
anspornenden Zuruf »Geschwinde! Ge- durch Strömung erzählt. Den ambivalenten
schwinde!« cv. 7) unterbrochen sind. Im Para- Charakter dieser Gefahr schildert G. auch in
doxon der sich nahenden Ferne ist das wahr- einem Brief aus Neapel vom 27.-29.5. 1787 an
nehmende Ich schon mitgedacht, das sich in den Herzog Carl August: »Die Sirenenfelsen
der letzten Verszeile explizit und nur dieses hinter Capri aber haben uns den unvergeßlich-
eine Mal in beiden Gedichten ausspricht. Der sten Eindruck gelaßen, an denen wir beynahe,
Sprecher, der in Meeres Stille nur eine passive auf die seltsamste Art, bey völlig heitrem Him-
Beobachterrolle hatte, bekommt im Anblick mel, und vollkommner Meeres Stille, eben
seines Lebenselementes, des festen Landes, durch diese Meeresstille zu Grunde gegangen
Kontur. wären«. Der Zusammenhang des Doppelge-
Häufig wird angenommen, daß die Gedichte dichts mit diesem G. tiefbeeindruckenden Er-
auf ein Erlebnis G.s während des Italienauf- lebnis läßt sich in einem anderen Sinne als
enthaltes zurückgehen. Auf der Rückfahrt von dem eines unverstellten biographischen Be-
Messina nach Neapel geriet das Schiff, auf zugs herstellen. So geht Hans Blwnenberg von
dem G. sich in Gesellschaft des Malers Chri- der metaphorischen Verwendung dieser Erfah-
stoph Heinrich Kniep befand, vor den Felsen rung aus: »Es ist wirklich das, was er eine
hinter Capri in eine gefahrliche Strömung, der Schiffer- und Fischergeschichte nennen wird,
angesichts vollkommener Meeresstille nicht eine heimliche Identifizierung mit dem Odys-
gegengesteuert werden konnte. G. beschreibt seus der Sirenenepisode« (S. 56).
diese beängstigende Situation und die knappe G. nimmt zwei seit der Antike wirksame
Rettung durch das Aufkommen einer Brise in Metaphern auf, die Schiffahrt als Bild des
der Italienischen Reise, »Sicilien«, Montag den menschlichen Lebens und die Meerestille als
14.5. 1787 (MA 15, S. 586-591). Die ausführ- Bild von Stillstand des Lebensglücks. In Mee-
liche Schilderung dieser Gefahr wird mit stei- res Stille und Glückliche Fahrt werden diese
gendem Spannungsbogen und dramatischen Metaphern miteinander kontrastiert und ge-
Effekten gestaltet. In den Ablauf der Ereig- rade dadurch eng aufeinander bezogen. Die
nisse greift G. in bemerkenswerter Weise ein. Gedichte gestalten das für G. ungemein be-
Er spricht den Passagieren Mut zu, indem er deutsame Ethos des tätigen Menschen, der in
die Rettung der verzagten Jünger vor dem der Natur seine Kräfte entfalten will und Ge-
Sturm auf dem See Tiberias in Erinnerung ruft genkräfte der Natur und der >inneren Natur<
und Vertrauen auf die Gottesmutter und ihren des Menschen besiegen muß. Die Metapher
Sohn empfiehlt: »Diese Worte taten die beste der Schiffahrt hat seit der Antike auch eine
Wirkung« (ebd., S.589). Die Identifizierung poetologische Dimension. Nimmt man 1795
G.s, der zuvor seinen Abscheu gegen jede Un- als Entstehungszeit der Gedichte an, so lassen
ruhe und Anarchie bekundet hatte (ebd.), mit sie sich beziehen auf die Freundschaft mit
272 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

Schiller seit 1794, die G. aus einem Geruhl der fürs Jahr 1795 von Johann Heinrich Voß er-
Isoliertheit nach der Rückkehr aus Italien be- schienen war. G. hörte das von Kar! Friedrich
freite und nach einem Stocken der lyrischen Zelter vertonte Gedicht im April 1795 im Haus
Produktion, einer kreativen ,Flaute<, zu einem des Justizrats Gottlieb Hufeland in Jena. In
schöpferischen Neubeginn führte. einem Brief vom 13.6.1796 an Friederike He-
lene Unger beschreibt er den tiefen Eindruck,
den die Musik Zelters auf ihn machte: »Die
Literatur: trefflichen Compositionen des Herrn Zelter
Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Para- haben mich in einer Gesellschaft angetroffen,
digma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/M. 1979. - die mich zuerst mit seinen Arbeiten bekannt
Rosendorfer, Herbert: Johann Wo Ifgang von Goethe: machte. Seine Melodie des Liedes: ich
Meeresstille und Glückliche Fahrt. In: Riedler, Ru- den k e dei n hatte einen unglaublichen
dolf (Hg.): Wem Zeit ist wie Ewigkeit. Dichter, In- Reitz für mich, und ich konnte nicht unter-
terpreten, Interpretationen. München, Zürich 1987, lassen, selbst das Lied dazu zu dichten, das in
S. 18-23.
dem Schillersehen Musenalmanach steht«. G.s
Inge Wild Gedicht wurde seinerseits mehr als achtzigmal
vertont, u. a. von Ludwig van Beethoven, Franz
Schubert, Robert Schumann und Hugo Wolf.
Die vierzeilige Strophenform mit zwei
durch Kreuzreim verbundenen Paaren von
Verszeilen stark unterschiedlicher Länge, jam-
bischen Fünfhebern mit weiblicher Kadenz
Nähe des Geliebten und jambischen Zweihebern mit männlicher
Kadenz, steht in einer formalen und themati-
schen Tradition, die Ewald von Kleists Lied
Nähe des Geliebten entstand im April 1795 in eines Lappländers (1757) begründet hatte.
Jena; handschriftliche Entwürfe sind in einem Friederike Brun übernahm die Strophenform
Notizheft aus der Mitte der 90er Jahre über- und das Motiv der Anrede eines fernen Sehn-
liefert. In Schillers Musen-Almanach für das suchtsobjekts von Friedrich von Matthisson
Jahr 1796 wurde das Gedicht erstmals ge- (1761-1831), zu dessen Freundeskreis sie ge-
druckt; beigegeben war, ohne Angabe des hörte. Ihr Gedicht spielt vor allem auf Mat-
Komponisten, die Vertonung von Johann thissons Andenken von 1792/93 an, in dem
Friedrich Reichardt. Der Erstdruck liegt der »Ich denke dein« dreimal am Beginn einer
folgenden Interpretation zugrunde (MA 4.1, Strophe steht (v gl. Meyer, S. 141ff.).
S. 667). In kurzem zeitlichen Abstand dazu er- In Friedrike Bruns Liebesklage verbindet
schien das Gedicht im Leipziger Taschenbuch sich hohes Gefühlspathos mit den Elementen
für Frauenzimmer zum Nutzen und vergnügen einer empfindsamen Gedankenlyrik. Die For-
auf das Jahr 1797 und in Göthe 's neue Schri:f mel »Ich denke dein« bildet als mehrmaliger
ten, Band sieben, aus dem Jahr 1800 unter der identischer Stropheneinsatz das Erinnerungs-
Rubrik Lieder (FA I, 1, S. 647). Die in der For- pathos formal ab. Das Gedicht erreicht seinen
schung mehrfach geäußerte Meinung, G. habe stärksten emotionalen Ausschlag in der zwei-
das Gedicht zuallererst in das Arienbuch zur ten Strophe, die mit dem umfassenden Begriff
Oper Claudine von Villa BeUa für Aufführun- »Weltmeer« und in der Evokation des Tobens
gen des Singspiels in Berlin und Weimar 1795 der Elemente Wasser, Himmel und Erde ver-
aufgenommen, ist nicht verifizierbar, da beide bindet, wobei im Stöhnen und Beben des Ufers
Textbücher verschollen sind. bereits das Todesthema der letzten beiden
G.s Text ist die Kontrafaktur eines Gedichtes Strophen vorweggenommen wird (vgl. Eibl,
der damals populären Dichterin Friederike S. 1213f.). Über den eigenen Tod hinaus wird
Brun (1765-1835), das im Musen-Almanach in antikisierendem Ton dem fernen Geliebten
Nähe des Geliebten 273

Unvergessenheit garantiert. Während eines Mit dem Bild des Wanderers in der zweiten
Rom-Aufenthalts schrieb Friederike Brun eine Strophe entfernt sich G.s Gedicht vom Bildbe-
noch stärker antikisierende Variante, die 1796 reich traditioneller Sehnsuchtstopoi der Lie-
in Schillers Horen erschien. beslyrik. Seit den Hymnen der Frankfurter Ge-
G. nimmt formale, bildliehe und themati- niezeit ist der Wanderer für G. häufig Meta-
sche Vorgaben des Brunschen Textes auf, so die pher für den suchenden und in einem weiteren
Bildbereiche von Meer und Hain, stimmt je- Sinne schöpferischen Menschen. Hier ist er
doch den getragenen Ton und die dramati- Bild des femen Geliebten, das in der Imagina-
schen Effekte deutlich herab. Er verkürzt die tion und dem sehnsuchtsvollen Ausblick der
Anzahl der Strophen auf vier; stärkere Prä- Liebenden erschaffen wird; damit wird der
gnanz und sprachliche Durchformung zeigen Liebe schöpferische Potenz zuerkannt. Mit
sich in der mit Ausnahme von Vers elf kon- »Ich sehe dich« cv. 5) und »Ich höre dich«cv.9)
sequent durchgeführten Mittelzäsur der Lang- werden Sinneseindrücke benannt, die dem Er-
zeilen, die fünfinal durch den wirkungsvollen innerungsbild des Geliebten unmittelbare Prä-
»wenn«-Anschluß erfolgt, den Brun nur drei- senz verleihen; im Binnenreim wird die enge
mal einsetzt. Ein sechstes »wenn« leitet die Beziehung von >ich< und >dich< formal abge-
zweite Kurzzeile der dritten Strophe ein. Das bildet. Der suggestive Charakter dieser An-
pathetische »Ich denke dein« verwendet er nur rede erinnert an »lch sah dich« aus dem Ge-
zweimal in der Eingangsstrophe, um dann zu dicht Mir schlug das Herz; geschwind zu
größerer Intimität der Anrede überzugehen. In Pferde (1775), in dem der junge G. die un-
den Strophen zwei und drei wird die Erinne- mittelbare Aussprache des Subjekts im lyri-
rungsformel durch konkrete Sinneseindrücke schen Text besonders wirkungsvoll erprobt
ersetzt, die das Bild des Geliebten vergegen- und damit ein neues lyrisches Sprechen in-
wärtigen. Die Verbindung von Nah- und Fern- itiiert hatte. Nähe des Geliebten >zitiert< mit
einstellung beim Sehen (»Ich sehe dich, wenn dem zweimaligen »Ich denke dein« den älteren
auf dem femen Wege«; V. 5) bildet die Dialek- lyrischen Ton, um ihn dann mit der neuen,
tik von emotionaler Nähe und realer Feme subjektiven Ausdrucksform zu kontrastieren.
sprachlich eindrucksvoll ab. Das imaginierte Bereits in der ersten Verszeile wird das Schei-
Hören des Geliebten verschwimmt mit dem nen der Sonne auf das Subjekt bezogen. In der
>dumpfen Rauschen< des Meeres zu einem letzten Strophe erreicht diese Unmittelbarkeit
letztlich allerdings vagen Erinnerungsein- ihre größte Intensität im Zusammenspiel von
druck. Dem folgt konsequenterweise der Ich und Du (»Ich bin bei dir«h>Du bist mir
Rückzug des Ich in nächtliche Stille, als wolle nah,,; V. 13f.), das in chiastischer Verschrän-
es sich des akustischen Eindrucks vergewis- kung Nähe und Feme aufzuheben scheint. Im
sern. Der Hain - bei Brun in der Verbindung Naturbild der sinkenden Sonne wird diese
mit dem >Flöten< der Nachtigall ein empfind- Imagination jedoch beendet und übergeführt
samer Topos - wird bei G. zum Ort der Selbst- in den Sehnsuchtsappell »O! wärst du da!«
erfahrung. Die größere Unmittelbarkeit von cv. 16), sprachlich realisiert in einer aus-
G.s Text zeigt sich auch in seinem Verzicht auf drucksstarken Vokalkette und der Alliteration
die Partizipialkonstruktionen der Brunschen der letzten beiden Wörter. Das Leuchten der
Fassung, die als Reimpaare (tönend/stöhnend, Sterne, in der Erstfassung in Schillers Musen-
rötend/flötend) dort besonderes Gewicht er- Almanach mit einem einschränkenden nur
halten. In G.s Gedicht stehen bis auf die vor- versehen, wird durch eine Änderung ab dem
letzte Verszeile mit der futurischen Formulie- siebten Band (1800) der Neuen Schriften in
rung »bald leuchten« und dem Sehnsuchtsap- hoffnungsvolle Beziehung zum Ich des Ge-
pell der letzten Verszeile alle Verben im Prä- dichts gesetzt: »leuchten mir die Sterne [Hv. v.
sens; auch dies ist ein sprachliches Signal für Vf.]« cv. 15). Damit schließt sich der Bogen
die Kraft der Imagination, die das Sehnsuchts- zum subjektzentrierten Naturverständnis der
objekt vergegenwärtigt. ersten Verszeile.
274 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

In der Deutungsgeschichte dieses Gedichts von August Wilhelm Schlegel (1800) dar, fügt
diente die Brunsche Fassung immer als Hin- sich stilistisch und argumentativ in den Rah-
tergrund, vor dem sich die größere sprachliche men der Sonettdiskussion wn 1800; zwn zwei-
und thematische Prägnanz von G.s Version ten findet sich G.s Sonett Natur und Kunst sie
wirkungsvoll abhob. Im Unterschied zu Bruns scheinen sich zujliehen, das als Weiterführung
Gedicht, in dem unentschieden ist, ob es sich dieses Gedichts, als Antwort oder Palinodie zu
um ein männliches oder weibliches Ich han- betrachten ist, schon 1802 dem Lauchstädter
delt, erweist der Titel Nähe des Geliebten G.s Vorspiel 1#ls wir bringen eingereiht, ohne zu
Text eindeutig als Rollengedicht mit einem diesem Zwecke gedichtet zu sein (FA I, 2,
weiblichen Sprecher-Ich, auch dies bereits ein S. 838f.). Textgrundlage der vorliegenden In-
Element der Distanzierung. Allerjüngste Deu- terpretation ist der Druck in der Sammlung
tungen, die das Gedicht als versteckte Liebes- von 1815, in der es als erster Text unter Epi-
erklärung G. s an den Freund Schiller verste- grammatisches steht (FA I, 2, S. 408).
hen wollen, überzeugen wenig (vgl. Momm- Das Sonett hatte der Aufklärung als allzu
sen). Obwohl im 19. Jh. noch eine Reihe von künstliche Form gegolten. Es war Gottfried
Nachdichtungen in der charakteristischen August Bürger, der es, nach den großen Sonet-
Strophenform folgen, gilt G.s Gedicht als Hö- ten des Barockzeitalters, der deutschen Dich-
hepunkt einer Entwicklungsreihe (v gl. Meyer, tung wiedererwarb, wenn auch mit einer ein-
S.146). schränkenden Poetik: es sei »eine sehr be-
queme Form, allerlei poetischen Stoffvon klei-
nerm Umfange, womit man sonst nichts
Literatur: anzufangen weiß, auf eine sehr gefällige Art an
Eibl, Komm. in FA I, 1, S. 1213-1214. - Meyer, Her- den Mann zu bringen« (Bürger, S. XVI f.).
man: Vom Leben der Strophe in der neueren deut- Gleichwohl haben Schiller, Novalis, Tieck und
schen Lyrik. In: ders.: Zarte Empirie. Studien zur August Wilhelm Schlegel seinen Sonetten
Literaturgeschichte. Stuttgart 1963, S.113-159. - höchste Achtung bezeugt. Friedrich Schlegel
Mommsen, Katharina: Goethes Gedicht Nähe des gilt das Sonett mit seiner »unendlichen Duali-
Geliebten. Ausdruck der Liebe für Schiller, Auftakt
tät« (zitiert nach Fechner, S. 337) als »die voll-
der Freundschaft mit Zelter. In: GoethcJb. 109
(1992), S. 31-44. kommenste Form für ein romantisches Frag-
ment« (ebd.), und August Wilhelm Schlegel
Inge Wild versucht, die Poetik des Sonetts über die Be-
liebigkeit einer rhetorisch praktischen Gat-
tung zu erheben, ihm eine innere Form zuzu-
weisen. Im Sonett Dichtersinn heißt es: »Des
Dichters Werk soll seinem Schöpfer lohnen«
(zitiert nach Fechner, S. 132). Entsprechend
Das Sonett beruft sich auch G. auf »das Werk« cv. 8), den
Akzent von der Brauchbarkeit auf die Auto-
nomie hin verlagernd. Die Romantik hat sich
dem Dichterfürsten mit der höchsten Ehr-
Das Gedicht wurde zuerst gedruckt im ersten furcht genaht, und das mit Absicht im Sonett,
Band der Werke von 1806, danach am 5.1. 1807 einer Form, die ihr den eigenen Ton erlaubte.
im Morgenblatt bei Cotta im Rahmen eines »Die Goethen nicht erkennen, sind nur Go-
kleinen Aufsatzes von der Hand des Redak- then«(zitiert nach Fechner, S. 135), heißt es in
teurs Friedrich Haug, darin »die Form des ita- August Wilhelm Schlegels Sonett Goethe, das
lischen Sonetts« als fürs Deutsche ungeeignet sogar Stab- und Ablautreim zu G.s Lob ein-
befunden wurde. Man nimmt an, daß es früher setzt: »Uns sandte, Goethe, dich der Götter
entstanden ist, wofür zwei Gründe sprechen: Güte«. In dem programmatischen Text Das So-
Einmal stellt es eine Antwort auf Das Sonett nett hat August Wilhelm Schlegel die Forde-
Das Sonett 275

rungen des ftinfftißigen Jambus und des Die Beschränkung (Kunst) wird nicht ohne
durchgehend weiblichen Reims ebenso beach- weiteres gutgeheißen, sondern gewaltigen Be-
tet, wie er Gleichheit und Doppelung der wegungen (Natur) zugeordnet, woftir reißende
Quartette dem freieren Wechsel der Terzette Natur, Liebestoben, Krieg und Revolutionen
gegenüber stellt. Inhaltlich scheint er die Zu- stehen mögen. Daß G. im zweiten Quartett
kunft der Fonn prophetisch zu diagnostizie- ironisch arbeitet, also das Vokabular der Ge-
ren, wenn er ihr »die zartesten und stolzesten genpartei benutzt, um einen zunächst entge-
der Lieder« (zitiert nach Fechner S. 134) zu- gengesetzten Sinn sicherzustellen, läßt sich
weist: Liebe und Krieg werden die zentralen aus seiner Romantikkritik wahrscheinlich ma-
Themen des deutschen Sonetts sein. Schlegels chen. Der DulWir-Gegensatz des ersten Quar-
Das Sonett schließt mit den Versen: »Doch, tetts ist aufgegeben, es gibt nur noch ein »sie«.
wem in mir geheimer Zauber winket, / Dem Vers sieben mag gewiß auf die von G. skeptisch
leih' ich Hoheit, Füll' in engen Gränzen, / Und beurteilten poetologischen Höhenflüge der
reines Ebenmass der Gegensätze« (ebd.). jungen Dichter, die Literatur und Leben zu-
gleich zu revolutionieren dachten, bezogen
G.s Annäherung an das Sonett gibt ohne Um- werden. Die von ihnen angetragene Sonett-
schweif den Einfluß von außen zu: das erste fonn steht ftir ein mögliches Zusammentreffen
Quartett hebt den Druck hervor, welchen die in der Idee des vollendeten Werks, auch für
Romantiker, nicht zuletzt durch ihre Wid- dessen Überlegenheit: es ist ein Bereich, der
mungssonette, auf G. ausübten, sich dieser »ungebundne Geister« nicht einläßt. Die Ter-
Fonn zu bequemen. G.s erste Reaktion ist Ab- zinen bleiben beim Vorbehalt, dem Einwand,
wehr, ist Ironie: eine heilige Pflicht zu Tritt die strenge Fonn erlaube nicht den freien Aus-
und Schritt ist - außerhalb von Preußen - Un- druck. Es ist wichtig wahrzunehmen, daß G.
sinn. Zwar ist Ludwig Uhlands Ich hatt einen hier eine ihm angetragene Spielart des Mei-
Kameraden noch nicht gedichtet, aber der sterlichen ablehnt, die ihm beflissen unter-
Jambus »nach Tritt und Schritt« (V. 3) war ge- stellt wird: Reimen / Leimen / Künstlichkeit,
wiß schon davor militärisch konnotiert. Die der Stolz, ein Maß gewandt zu meistem, die
weiteren Ausdrücke »wie vorgeschrieben« Bereitschaft, vom Ganzen aufs Stückwerk um-
(V. 4) und »bestimmt bewegen« (V. 3) stützen zuschalten, das deutet auf Kunstgewerbe,
die Erfahrung der Beschränkung. Ironie ist es nicht auf Kunst. Hölderlins Wertung im Hy-
auch, wenn G. den Neuerern der Dichtkunst perion »Handwerker siehst du, aber keine
das begütigende »wie wir« (V. 3) in den Mund Menschen« meint »die Unmenschlichkeit des
legt: als ob der individuelle Künstler, der .meister'lichen Menschen« (Bohrer, S. 11),
Mensch als je besondere, reiche Einheit vielfa- und Das Sonett zeigt den Romantikern in
cher, innig verbundner Kräfte, von G. selbst als fonnsemantischer Argumentation, daß ihre
Genie oder Daimonion begriffen, sein Schaf- Berufung auf eine Dichtart, die »ewig nur wer-
fen einem Muster, einem »wie wir«, unter- den, nie vollendet sein kann« (Athenäums-
stellen wollte. Das zweite Quartett wird ge- Fragment 116; KA I, 2, S. 183), sich mit der
wöhnlich noch den Gegenstimmen, also den Zumutung des Sonetts kaum verträgt.
Romantikern, zugeschrieben, wofür allenfalls
der begründende Anfang »denn eben« spricht; Insofern ist die Palinodie »Natur und Kunst sie
eher könnte man es als Übernahme der Argu- scheinen sich zu fliehen« (FA I, 2, S.838f.)
mentation 'von außen' durch das lyrische Ich eine wichtige Weiterftihrung in G.s Aneignung
deuten, zeigt es doch eine Annäherung des- dieser Fonn. Sie übersteigt die Kritik am Tritt
selben an das so bestimmt vorgetragene Fonn- und Schritt in Das Sonett und wendet den
gebot, die über auferlegte Pflicht hinausgeht. polemischen Gestus ins Zeigen, macht vor, wie
Im Sonett Natur und Kunst ist das zum gern es gehen könnte.
zitierten Vers geronnen: »In der Beschränkung Dieses Sonett hat einen wichtigen Platz im
zeigt sich erst der Meister« (V. 13). Vorspiel Was wir bringen (FA I, 6, S. 265-300)
276 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

inne, das G. zur Eröffnung des neuen Schau- Zyklus, »voll von Bewußtheit und wacher
spielhauses zu Lauchstädt (1802) in wenigen Selbstkritik« (Trunz, S. 632), machen den Ge-
Tagen gedichtet, d.h. gutteils zusammenge- gensatz von strenger Fonn und unbändiger
stellt hat; das Sonett hatte er vorrätig, es wird Freiheitslust ausdrücklich zum Thema. Im So-
auf 1800 datiert. Deutlich reagiert es (V. 3) auf nett XN (FA I, 2, S. 258) läßt er Die Zwei-
die vorher ausgesprochene Ablehnung dieser felnden fragen: »Was quält ihr euch und uns?«
»künstlichen« Fonn, widerruft die Absage. G. (V. 9). Das verweist auf die Skepsis gegenüber
hat es einer Nymphe (Natur) in den Mund der »lästigen« Fonn, der »Grille« (V. 1), auf die
gelegt, der Merkur die Versöhnung mit dem G. reimt: »ohnmächtig bleibt der Wille« (V. 4).
Knaben (Kunst) befiehlt, ein Theater for- Die Auskunft ist wiederum der Anspruch an
dernd, das beiden Ansprüchen gerecht wird: die Fonn: nur für höchste Gegenstände, die
»Nun werdet ihr, / Natürliches und Künstli- sich nicht ennäßigen lassen, ist sie geeignet.
ches, nicht mehr / Einander widerstreben, Die Liebenden antworten in dem letzten Ter-
sondern stets vereint; / Der Bühne Freuden zett: »Das Allerstarrste freudig aufzuschmel-
mannigfaltig steigern« (FA 1,6, S. 297, V. 1-4). zen / Muß Liebesfeuer allgewaltig glühen«
Der Fonn des Sonetts wird eine Dialektik zu- (V. 13f.). Entsprechend führen die Sonette
geschrieben, die den unausgesprochen blei- hohe Gegensätze durch, freilich in einem oft
benden Gedanken voraussetzt, daß es hohe, humorvollen Ton, der an die Lyrik des West-
bedeutende, nicht herabsetzbare Gegensätze östlichen Divan erinnert, sozusagen über allen
sein müssen, die sich in ihr begegnen. Viel- Streit und den tragischen Ton Werners hinaus
leicht war es diese TextsteIle im Vorspiel, das ist, selbst wo er durch Dialektik gerechtfertigt
Sonett also, welche die zunächst uneinge- wäre. Dem liegt die Einsicht zugrunde, daß es
schränkte Zustimmung von Hegel und Schel- das >reine< Gefühl kaum gibt, daß es vielfach
ling, die der Aufführung beiwohnten, auslöste. vennittelt ist: »Ganz ungebunden spricht des
Die sentenzhaft zugespitzten Fonnulierungen Herzens Fülle / Sich kaum noch aus« (V. 5 f.).
verweisen auf den Einfluß der Gespräche mit Gleichwohl ist das nur ein Aspekt, der andere
Schiller. bleibt gültig: daß »Sonettenwut« das Indiz für
»Raserei der Liebe« (Nemesis) ist, die mäßi-
G. deutet im zweiten Quartett eine biographi- gende Kraft der Fonn wird berufen (»ge-
sche Lösung des Problems an. Wenn das Eine waltsame Befriedigung mildernd«; Trunz,
sich nicht dem Andern aufopfern läßt, geht S. 543)), durchaus mit Bezug auf Schiller. Ob
vielleicht ein Hin und Her: erst Natur, dann die Sonette bereits einem Entsagungskonzept
Geist-Fleiß-Kunst, dann »wieder« Natur. Das eingeschrieben sind, ist ein wenig strittig. Das
könnte auch als ein Bekenntnis zur Symbolik dritte deutet auf die rhetorische Leistung der
gelesen werden, läßt sich das Lauchstädter Sonettfonn, dem Gefühl überlegen zu sein,
Vorspiel doch als Parergon zum Faust II be- nicht von dessen Ausdruck abzuhängen: »Wie
greifen. Es gehört gewiß zur Logik dieses aber mag ich dich, mein Herz, versöhnen, /
Dreischritts, daß Vers acht nicht als einfache Daß ich im wicht'gen Fall dich nicht befrage?«
Rückkehr gedacht werden kann, auch wenn da So ist auch das Motto zu verstehen, das G. dem
»wieder« steht - was wiederkehrt, ist nie ein Zyklus in den Werken 1815 mitgab: »Liebe will
erstes. Die Terzette arbeiten diese dialektische ich liebend loben, / Jede Fonn sie kommt von
Figur heraus, die G.s Kunst- und Staats arbeit oben« (FA I, 2, S. 250). Damit ist die Vorgege-
verbindet - Freiheit ohne Gesetz ist eine Schi- benheit des Sonetts, zunächst durchaus anstö-
märe. Hegels Äußerungen zum Sonett befin- ßig, von G. positiv aufgefaßt, als ein Fonnzug,
den sich in gutteils wörtlicher Übereinstim- in dem die Semantik dieser Gattung und ihrer
mungmit G.s Fonnulierungen. sehr besonderen Dialektik mitgründet.

G.s Sonette, ein 1807/08 unter dem Eindruck


von Zacharias Werners Sonetten entstandener
Dauer im Wechsel 277

Literatur: Am 15.8. 1803 bedankte sich G. bei Reil ftirdie


Bohrer, Kar! Heinz: Deutsche Romantik und Franzö- Zusendung des Werks: »Erlauben Sie daß ich
sische Revolution. Die ästhetische Abbildbarkeit des einen Versuch beylege, wie ich das was Sie p.
historischen Ereignisses. In: ders.: Das absolute 58ff. so schön vortragen, poetisch auszuspre-
Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt/ chen gewagt habe«. G. wurde besonders von
M.1994, S.8-31. - Bürger, Gottfried August: Reils Überlegungen zur Wandelbarkeit
Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Grisebach. Ber-
!in 1889. Bd. 1 (Vorrede zur Göttinger Ausgabe von menschlicher Identität angesprochen: »Den-
1789). - Fechner, Jörg-Ulrich (Hg.): Das deutsche noch ist dies Ich, das in unserem Bewußtseyn
Sonett. Dichtungen, Gattungspoetik, Dokumente. mit so vieler Beharrlichkeit fortdauert, in der
München 1969. - KORFF, Bd. 2, S.436ff. - Mönch, Wirklichkeit ein höchst veränderliches Ding.
Walther: Das Sonett. Heidelberg 1955. - Schlegel, [ ... ] In der That eine seltsame Erscheinung,
Friedrich: Fragmente. In: KA I, 2, S. 165-255. - dieser feste Glaube, daß wir immer dieselbe
Schlütter, Hans-Jürgen: Goethes Sonette. Anregung
- Entstehung - Intention. Bad Homburg, Ber!in, Person bleiben, da uns doch von der Erfahrung
Zürich 1969. - Spuler, Richard: Three sonnets by die handgreiflichsten Beweise des Gegen-
Goethe: an investigation of dialectics, poetic stance, theils aufgedrungen werden. [ ... ] Der Orga-
and the symbol. In: NGS. 12 (1984), S.201-212. - nismus wechselt den Stoff, transitorisch und
Trunz, Komm. in HA 1, S. 632-638. fortschreitend, er zerstört ununterbrochen und
Alexander von Barmann schafft wieder, was er zerstört hat« (zitiert
nach Eibl, S. 1082f.). Dieser Gedanke der Me-
tamorphose ist so sehr G.s Lebensphilosophie
verwandt, daß er davon unmittelbar zu eigener
sprachlicher Gestaltung angeregt wurde.

In der Ausgabe letzter Hand (1827) steht


Dauer im Wechsel Dauer im Wechsel zwischen den Gedichten
Weltseele, unter dem Titel Weltschöpfung 1804
erstmals gedruckt, und Eins und Alles, das erst
Das Gedicht entstand im August 1803 und 1821 entstanden war. Gemeinsam ist diesen
wurde erstmals gedruckt im von Christoph Gedichten der Impetus zur philosophischen
Martin Wieland und G. herausgegebenen Ta- Durchdringung und poetischen Formung na-
schenbuch auf das Jahr 1804; eine hand- turhafter und geschichtlicher Prozesse. G.s
schriftliche Überlieferung existiert nicht. In Nachdenken darüber wurde wesentlich durch
der Werk-Ausgabe von 1806ff. (A) ordnete G. die Beschäftigung mit der Naturphilosophie
es den Liedern, in der Werk-Ausgabe von Schellings initiiert, in dessen Jenaer Kreis er
1815ff. (B) den Geselligen Liedern zu. Diese zwischen 1798 und 1803 verkehrte. Die Poeti-
Fassung liegt der folgenden Interpretation zu- sierung von Philosophie und Sinngebung
grunde (FA 1,2, S. 78f.). Auch in der Ausgabe menschlicher Existenz aus der Unvergänglich-
letzter Hand, die in Vers 24 die möglicher- keit von Kunst spiegelt nicht zuletzt die prä-
weise von G. autorisierte Korrektur »sich mit gende und fortdauernde Wirkung der Zusam-
Gemsenfreche maß« vornahm, blieb es in die- menarbeit mit Schiller.
ser Gruppe, wurde jedoch zusätzlich in die Die achtzeilige Strophenform ist eine Ver-
Rubrik Gott und Welt gestellt (FA I, 2, dopplung der »Romanzenstrophe« aus trochäi-
S.493f.). schen Vierhebern mit alternierend weiblicher
Dauer im Wechsel wurde angeregt durch die und männlicher Kadenz, verbunden durch
1803 erschienene Abhandlung des Psychiaters Kreuzreim. G. verwendet die besonders im
und Medizinprofessors Johann Christi an Reil letzten Drittel des 18. Jhs. verbreitete Strophe
(1759-1813): Rhapsodien über die Anwen- von den frühen Gedichten bis zur Alterslyrik,
dung der psychischen KUTTT'lethode auf Geistes- häufig als Form des geselligen Liedes. Die
zerrüttung (Halle 1803, ND Amsterdam 1968). Argumentationsstruktur des Gedichts bewahrt
278 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

die Einheit des Vierzeilers; jede der fünf Stro- Nach diesem Ausgreifen wenden sich Stro-
phen weist eine deutliche Mittelzäsur auf. phe drei und vier der ,hautnahen< Beobach-
Am Gedichteingang steht der konjunkti- tung physischer, ja physiologischer mensch-
visch fonnulierte Wunsch, die Zeit möge still- licher Wandlungsprozesse zu, wobei sich der
stehen; durch das »Ach« des zweiten Verses geschulte Blick des Naturforschers G. zeigt.
bekommt er besondere Emphase. In der Die Konzentration auf das Individuum findet
scheinbaren Beschränkung auf »nur Eine ihren sprachlichen Ausdruck im elliptischen
Stunde« (V. 2) ist der Wunsch nach ewiger Satz »Du nun selbst!« (V. 17), der in seinem
Dauer des Augenblicks verborgen. Das Ge- appellativen Ton zu höchster gedanklicher
dicht bezieht seine innere Spannung aus der Konzentration auffordert. Im ersten Vierzeiler
Konfrontation von Werden und Vergehen. Der der dritten Strophe ist zwar nur von der phy-
Frühling, im Bild des »vollen Blütenregens« siologischen Veränderung des wahrnehmen-
(V. 3) sprachlich verdichtet, wobei schon das den Auges die Rede, implizit wird damit je-
Kompositum »Blütenregen« Blühen und Ver- doch auch die ,Felsenfestigkeit< der wahrge-
gehen eng zusammenbindet, geht über in den nommenen Mauem und Paläste in Frage ge-
Herbst; das grüne Laub wird - mit einer ein- stellt und so eine Prozeßhaftigkeit von
drucksvollen Farbbezeichnung - »falb« (V. 8). Geschichte und menschlicher Gestaltungspro-
Dieser naturhafte Prozeß, traditionell Meta- zesse angenommen. Auch im folgenden ist das
pher menschlicher Lebenszeit, ist reflexiv an Vergehen menschlicher Lebenszeit eng an
die Person des Sprechers gebunden (V. 5f.). konkrete Körpererfahrungen gebunden.
Das resignative Räsonnement eines isolierten »Weggeschwunden« (V. 21) sind Lippe und
Ich wird ab der zweiten Strophe durch Anrede Fuß, jedoch nur in ihrer jugendlichen Erschei-
eines fiktiven Gesprächspartners generali- nungsfonn, die mit Liebe und körperlicher
siert. Folgerichtig wandelt sich der konjunk- Gewandtheit konnotiert wird. Der Neologis-
tivische Wunsch der ersten Strophe zum impe- mus »Gemsenfreche« (V. 24), der an die
rativisch fonnulierten und durch Interjekti- sprachschöpferische Potenz von G.s Lyrik des
onszeichen bekräftigten Rat, den Augenblick Stunn und Drang erinnert, ist in diesem Kon-
zu nutzen. Die Reflexion über den Verfalls- text ein stimmiges ,Selbstzitat< jugendlicher
prozeß erweitert sich zur Einsicht in den un- Lebens- und Sprachhaltung. Eindrucksvoll ist
aufhörlichen und gleichzeitigen Ablauf natür- die Betrachtung der Hand, die als »geglieder-
licher Reifungs- und Entwicklungsprozesse. tes Gebilde« (V. 27) nahezu mit Individualität
Die flüchtige Freude am kühlenden Schatten, ausgestattet wird und als Signum der Persön-
die in der ersten Strophe noch in Frage gestellt lichkeit folgerichtig zur Reflexion über den
worden war, wird nun festgehalten und im Namen führt. Die modeme Vorstellung vom
Ergreifen der reifen Frucht materialisiert. prozessualen Charakter individueller Identität
Auch der zweite Vierzeiler dieser Strophe ver- wird im Bild einer unaufhörlichen Wellenbe-
bleibt im Bildbereich von Natur, jedoch wird wegung ausgesprochen (V. 31f.). Mit dem Bild
der Anspielungshorizont erweitert durch Zitat des Wassers als Urelement des Lebens greift
des topischen Satzes aus den Fragmenten des G. auf alte Vorstellungen zurück, die als Teil
Vorsokratikers Heraklit, man steige nicht einer seit der Antike tradierten Lehre von den
zweimal in denselben Fluß, der seinerseits be- vier Elementen immer Teil seiner persönli-
reits eine metaphorische Verknappung der chen Lebensphilosophie waren.
Heraklitschen Philosophie ist, alles Sein be- Die letzte Strophe enthält zwei weitere Im-
finde sich in ewigem Fluß von Werden und perative, »laß« (V. 33) und »danke« (V. 37). Der
Vergehen. Die persönliche Einsicht, durch das Rat an den fiktiven Gesprächspartner nimmt
zweite »Ach« des Gedichts (V. 15) emphatisch so den Charakter einer mit emphatischem
aufgeladen, wird so durch die Aufnahme histo- Sprachgestus vorgetragenen Lebensweisheit
risch und philosophisch legitimierter Erfah- an. Die Vorstellung, den Anfang mit dem Ende
rungsweisen bekräftigt. zu verbinden (V. 33f.), also die geschlossene
Dauer im Wechsel 279

cM.v

j,.

Aus Goethes Bibliothek: Klangfiguren E.FF Chladnis


280 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

Form des Kreises dem linearen Fließen der


Zeit entgegenzustellen, hat G. mehrmals aus-
Weltseele
gesprochen, so in Maximen und Riflexionen:
»Der ist der glücklichste Mensch, der das Ende
seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung Das Gedicht wurde zum erstenmal in dem von
setzen kann« (MuR, 140). Das Gedicht endet Christoph Martin Wieland und G. herausgege-
mit einem poetologischen Bekenntnis. Der benen Taschenbuch auf das Jahr 1804 ge-
Vergänglichkeit natürlich-organischen Lebens druckt, und zwar mit der Überschrift Welt-
wird die Unvergänglichkeit der Kunst als Ver- schöpfung. Zwei Jahre später, in der Ausgabe
heißung (V. 38) entgegengestellt, die als utopi- der WerkeG.s bei Cotta 1806, erschien es unter
sche Hoffnung an die Person des Sprechers dem veränderten Titel Weltseele, der seitdem
gebunden bleibt, sich in seiner Individualität beibehalten wurde. 1815 wurde es in die Ge-
als Einheit von Fühlen und Denken und daraus selligen Lieder der Cottaschen Werkausgabe
resultierender schöpferischer Kraft verwirk- eingereiht. Hier blieb es auch in der Ausgabe
licht. letzter Hand 1827 stehen, aber G. stellte es
zugleich auch unter die naturwissenschaftlich-
Die Aufnahme dieses philosophischen und weltanschaulichen Gedichte der Gruppe Gott
poetologischen Gedichtes in die Geselligen und Welt. Die folgenden Zitate beziehen sich
Lieder von 1815 verweist auf den hohen Stel- auf die Weimarer Ausgabe (WA I, 1, S. 128f.).
lenwert von Geselligkeit. Vor dem Hinter- Die Entstehungszeit des Gedichts läßt sich
grund der ihn zutiefst verstörenden Französi- nur ungefähr belegen. Der einzige Hinweis
schen Revolution und der Napoleonischen G.s ist in einem Brief an Carl Friedrich Zelter
Kriege hatte Geselligkeit für G. die Funktion, (20.5. 1826) enthalten. Auf die Frage Zelters,
dem Zerfall der alten europäischen Ordnung wann und unter welchen Umständen das Ge-
bleibende kulturelle Werte und zivilisierte dicht entstanden sei, antwortete G.: »Es ist
Formen menschlichen Zusammenseins entge- seine guten dreißig Jahr alt und schreibt sich
genzustellen; aus diesem Anspruch erklärt aus der Zeit her, wo ein reicher jugendlicher
sich der dialogische, ja appellative Charakter Mut sich noch mit dem Universum identifi-
des Gedichts. Die Dialektik von ,Dauer< und zierte, es auszufüllen, ja es in seinen Teilen
,Wechsel< ist damit auch poetische Abbildung wieder hervorzubringen glaubte«. Die chrono-
einer historisch bewegten Zeit. logische Angabe bleibt natürlich wegen des
zeitlichen Abstandes mit einer gewissen Un-
sicherheit behaftet. Gerade die 90er Jahre wa-
Literatur: ren bekanntlich für G. eine Zeit intensiver und
Davis, William Stephen: Subjectivity and Exteriority allseitiger naturwissenschaftlicher Studien.
in Goethe's Dauer im Wechsel. In: GQu. 66 (1995), Mehrfach versuchte er in Gedichten wie etwa
S. 451-466. - Eibl, Komm. in FA I, 2, S. 1081-1084.- Die Metamorphose der Pflanzen (1798) zwi-
Staiger, Emil: Die Zeit als Einbildungskraft des schen Poesie und Naturwissenschaft zu ver-
Dichters. Zürich und Leipzig 31965, S. 101-144. mitteln, ja der Brief an Karl Ludwig von Kne-
Inge Wild bel vom 22.3. 1799 zeigt, daß G. der Meinung
war, seine naturwissenschaftlichen Ideen lie-
ßen sich am besten in einer lyrischen Form
mitteilen: »Jenes große Naturwerk habe ich
auch noch nicht aufgegeben. Mir däucht ich
könnte den Aufwand von Zeit und Kräften die
ich an jene Studien gewendet nicht besser nut-
zen als wenn ich meinen Vorrath zu einem
Gedicht verarbeite«. Dieser Plan eines großen
Naturgedichts wurde nicht verwirklicht, das
Weltseele 281

Gedicht Weltseele gehört aber entschieden in Das Gedicht Weltseele stellt eine Kosmogo-
diesen Zusammenhang. nie dar, wie der ursprüngliche Titel Weltschöp-
Was Friedrich Wilhelm Joseph Schelling für Jung ja auch erkennen ließ. Der Schöpfungs-
dieses Gedicht bedeutet hat, ist umstritten. vorgang wird geschildert als ein kontinuier-
Schon 1798 hatte G. Schellings Ideen zu einer liches Durchströmen aller Stufen des Kosmos
Philosophie der Natur und im gleichen Jahr und der Erde mit Leben. Dem liegt offensicht-
auch die Schrift Von der Weltseele gelesen. lich das neuplatonische Bild der Emanation
Gleichzeitig lernte er Schelling persönlich und der emanierenden Weltseele zugrunde,
kennen und empfahl daraufhin dessen Beru- die nach Plotin vom »Schöpfer« in den Kosmos
fung nach Jena. Im betreffenden Brief an den entsandt wurde. In der ersten Strophe ergeht
ministeriellen Kollegen Voigt (21.6. 1798) der Auftrag des Schöpfers an die zugleich die-
fügte er der Empfehlung die Bemerkung nenden als auch weltschöpferischen Geister,
hinzu: »Ich würde bey meinen Arbeiten durch die von ihm durchgehend mit »ihr« angespro-
ihn sehr gefördert seyn«. Die Isolation, in die chen werden. Diese Geister werden in der For-
G. durch seine Ablehnung der mechanistisch- schungsliteratur gemeinhin als »Monaden«
atomistischen und einseitig empirischen Na- aufgefaßt. Man könnte sie aber mit ebensoviel
turauffassung der zeitgenössischen Wissen- Recht »Cherubim, Aeone und dergleichen
schaft geraten war, hoffte er durch die Zusam- weltschöpferische Urgeister« nennen, wie G.
menarbeit mit Schelling überwinden zu kön- es nach dem Bericht Friedrich Christoph För-
nen. Gemeinsam waren ihnen vor allem der sters 1826 scherzhaft getan haben soll (GRÄF 3,
tragende Gedanke eines beseelten organi- 2, 1, S. 369). Das Gedicht selbst gibt uns über
schen Weltaufbaus und damit auch der An- den mythologischen Rahmen keinen konkre-
schluß an die neuplatonische Tradition. In die- ten Aufschluß. Daß es die Weltseele sein
ser Tradition spielte der Begriff der Weltseele sollte, die in der ersten Strophe die Monaden
seit jeher - etwa bei Platon, Plotin, Ficino, »zum Aufbruch vom Mahle« ruft (Hölscher-
Giordano Bruno, Shaftesbury und vielen an- Lohmeyer, S. 6; ähnlich auch Müller, S. 17), ist
deren - eine zentrale Rolle. Dennoch geht aus eine zwar konkrete, aber doch sehr hypotheti-
brieflichen Äußerungen G.s aus dieser Zeit sche Konstruktion.
hervor, daß zwischen dem Dichter und dem Dem Thema gemäß ist der Ton des Gedichts
Philosophen eine letzte Differenz unüber- feierlich, der Stil erhaben: vorangestellte Ge-
brückbar blieb. Im Brief an Schiller (19.2. nitive, ungewöhnliche Wortbildungen. Stilge-
1802) lobte G. Schellings Klarheit und Tiefe schichtlich wird an Friedrich Gottlieb Klop-
und fügte dann hinzu: »Ich würde ihn öfters stock angeknüpft, was dadurch besonders
sehen, wenn ich nicht noch auf poetische Mo- deutlich wird, daß G. hier eines der auffal-
mente hoffte und die Philosophie zerstört bey lendsten Merkmale von Klopstocks hymni-
mir die Poesie [ ... ]. Indem ich mich nie rein schem Stil übernimmt, nämlich die Umwand-
speculativ erhalten kann, sondern gleich zu lung eines intransitiven Verbs in ein transi-
jedem Satze eine Anschauung suchen muß und tives: »Schon schwebet ihr in ungemess'nen
deßhalb gleich in die Natur hinaus fliehe«. Die Fernen I Den sel'gen Göttertraum« (V. 5f.).
weit verbreitete Ansicht, daß G. den Titel des Vorgebildet war diese transitive Anwendung
Gedichts WeltschöpJung in Weltseele 1806 un- des Verbs »schweben« in Klopstocks Messias
ter dem Eindruck von Schellings Schrift Von (Elfter Gesang, V. 1541): »Komm, beflügle den
der Weltseele (1798) änderte, läßt sich nicht Schwung, den Harfenklang, den du schwe-
beweisen und ist aus verschiedenen Gründen best I Wer du auch bist«.
nicht einmal wahrscheinlich. Das deutsche Gerade der Vergleich mit Klopstocks Hym-
Wort »Weltseele« war in der damaligen Philo- nen und auch mit den freien Rhythmen des
sophie und Literatur nicht selten, und G. jungen G. macht andererseits deutlich, daß
selbst war mit dem Begriff seit der Jugend hinter Weltseele ein ganz anderer, eben ein
vertraut. klassischer Formwille steht. Die strikte Regel-
282 Lyrik der klassischen Zeit. 1787~ 1806

mäßigkeit der vierzeiligen Strophen und der Erdkörper« bezeichnete; weiter geht es über
zwischen fünf und drei Hebungen wechseln- die Planeten, dann durch die Luft und die
den Verspaare wird noch durch das metrische Wolkenbildung als den »wandelbaren Flor«
Schema verstärkt, dessen alternierende Regel- zur anorganischen Welt, zum Wasser und
mäßigkeit die vielen Elisionen (»heil'gen«, schließlich zur »überbunten Pracht« der orga-
»Weit' und Weitr'« u.ä.) notwendig machte. nischen Natur und zu deren Gipfel: dem er-
Die enge syntaktische Verbindung zwischen sten, in Liebe verbundenen Menschenpaar.
dem ersten und zweiten bzw. zwischen dem Die Meinungen über den Rang des Gedichts
dritten und vierten Vers bewirkte in den bei- gehen weit auseinander. Schon Ottilie von G.
den Hälften der Strophen einen größeren fand es zwar »wunderbar schön«, aber auch
Sprachbogen, der aber durch die Pause nach »geheimnisvoll« und »rätselhaft« und ver-
dem männlichen Ausgang des zweiten und des suchte vergeblich, den Schwiegervater zur nä-
vierten Verses abgebrochen wird. Dieser regel- heren Erklärung zu bringen (GRÄF 3, 2, 1,
mäßige Wechsel zwischen Strömen und Stok- S.369f.). G.s Freund, der Komponist earl
ken bestimmt den Rhythmus des ganzen Ge- Friedrich Zelter, hatte es am Tage nach seiner
dichts und entspricht auf der Ebene des Inhalts Hochzeit 1806 in Musik gesetzt und damit
dem Wechsel zwischen Streben und stufenwei- seine Anerkennung ausgedrückt. Die G.-Phi-
ser Erfüllung. Wie wichtig dabei der Zeit- lologen verhielten sich aber reservierter. Der
aspekt ist, geht aus den zahlreichen Zeitadver- Kommentator der Jubiläums-Ausgabe etwa,
bien und Zeitkonjunktionen hervor: «S c h 0 n Eduard von der Hellen, vermißte 1902 im Ge-
schwebet ihr« (V. 5), »D an n treibt ihr euch« dicht eine »klare Plastik«. Diesen Mangel des
(V. 9),» Nun alles sich« (V. 21), »N u n glühen Gedichts führte er darauf zurück, daß G. hier
schon« (V. 27), »Wie regt sich bai d« (V. 29), mit »fremden Vorstellungen« (JA 2, S. 351) ar-
»N u n als das erste Paar« (V. 32), »Und bai d beite, wobei von der Hellen an Schelling
verlischt ein unbegränztes Streben« (V. 33) dachte. Auch der Herausgeber der Hamburger
[Hv. v. Vf.]. Dieses Fortschreiten des rhyth- Ausgabe, Erich Trunz, äußerte seine Vorbe-
misch und inhaltlich gegliederten Schöpfungs- halte (HA 1, S.530). Indem er Weltseele mit
vorgangs findet seinen Abschluß und seine Er- anderen naturwissenschaftlich-weltanschauli-
füllung in der letzten Strophe, in der das lie- chen Gedichten dieser Zeit (Dauer im Wechsel,
bende Menschenpaar das Leben dankbar an- den beiden Metamorphose-Gedichten) ver-
nimmt und zugleich an das All weitergibt. glich, kam er zu dem Urteil: »Auch künstle-
Auch Klopstocks FrühlingsJeyer enthielt risch wurde ihnen die hohe Reife der frühen
eine Kosmogonie: »Da der Hand des Allmäch- und der späten Weltanschauungsgedichte
tigen / Die größeren Erden entquollen! / Die nicht zuteil« (ebd.). Demgegenüber steht Höl-
Ströme des Lichts rauschten, und Siebenge- scher-Lohmeyers Untersuchung aus dem Jahre
stirne wurden« (V. 9~ 11), aber eine ausgespro- 1985, die mit dem begeisterten Bekenntnis
chen christliche. G.s Weltseele dagegen ist schließt: »Hier redet das Universum selber
ohne jede Spur des christlichen Schöpfungsbe- [ ... ] ; niemals wieder hat sich Goethe zu dieser
richts; selbst Antikes findet sich nur spärlich Unmittelbarkeit entschlossen. Das Gedicht ist
und indirekt, wenn man vom Schlüsselbegriff ein Unicum« (S. 13).
der Weltseele absieht. Das Gedicht bezieht Die Zugehörigkeit des Gedichts Weltseele
sich vielmehr auf G.s naturwissenschaftliche zur Gruppe Gott und Welt, die G. für die Aus-
Vorstellungen und Erkenntnisse, wie Dorothea gabe letzter Hand zusammenstellte, ist ein-
Hölscher-Lohmeyer im einzelnen nachgewie- leuchtend. Die meisten dieser Gedichte stüt-
sen hat. Die Emanation geht vom Licht der zen und ergänzen sich. Unmittelbar vor Welt-
siderischen Welt aus, setzt sich über die selbst- seele steht beispielsweise das Gedicht Wieder-
leuchtenden Fixsterne und die feurig-flüssi- finden, in dem ebenfalls eine Kosmogonie
gen Kometen fort, die G. 1807 in den Aufzeich- dargestellt wird. Im zweitfolgenden Gedicht
nungen zur »Bildung der Erde« als »werdende nach Weltseele findet sich das Gedicht Eins und
Epilog zu Schillers Glocke 283

Alles, in dem das Wort Weltseele an zentraler


Stelle steht. Zugleich aber läßt dieser Kontext
Epilog zu Schillers Glocke
die Eigenart unseres Gedichts deutlicher her-
vortreten. Weltseele unterscheidet sich zu-
nächst von den meisten anderen Gedichten Am 1.6. 1805, 23 Tage nach Schillers Tod,
dieser Gruppe dadurch, daß hier keine Le- schrieb G. an Carl Friedrich Zelter: »Ich
bensweisheit unmittelbar verkündet wird. Das dachte mich selbst zu verlieren, und verliere
Gedicht stellt statt dessen den Prozeß der nun einen Freund und in demselben die Hälfte
Weltschöpfung in zeitlichen und räumlichen meines Daseins«. Er denke daran, »das An-
Etappen und Phasen beschreibend dar. Noch denken des Abgeschiedenen auf der Bühne zu
wichtiger ist die folgende Eigenart des Ge- feiern«. Das geplante Totenfestspiel, zu dem
dichts: Gegen seine sonstige Gepflogenheit Zelter die Musik liefern sollte, kam über einen
beschritt G. hier den Weg vom »Allgemeinen« Entwurf (WA I, 16, S.562-569, danach in
des göttlichen Ursprungs zum »Besonderen« neueren Ausgaben, zuletzt in MA 6.1,
der irdischen Welt. Dieses »Allgemeine« blieb S.904-908 und FA I, 6, S. 1467-1472) nicht
unanschaulich und ohne nähere Kennzeichen, hinaus. Bei der Gedächtnisfeier, die G. für den
mußte so bleiben, bestimmte aber zugleich die toten Freund am 10.8. 1805 in Lauchstädt ver-
Perspektive der folgenden Strophen. In den anstaltete, wurden zunächst die drei letzten
verwandten Gedichten Wiedeifinden und Eins Akte von Maria Stuart gespielt, danach Schil-
und Alles verfuhr G. anders, indem er hier den lers Lied von der Glocke mit verteilten Rollen
Ausgangspunkt im »Besonderen« wählte, d.h. deklamiert, schließlich G.s Epilog von der
in den Gefühlen und Gedanken der Menschen, Schauspielerin Amalie Becker vorgetragen.
um von hier ins Kosmische und Universale Das Gedicht war Ende Juli 1805 entstanden
emporzusteigen. Durch die 'olympische< und am 31. Juli bereits in einer Abschrift an
Sicht, die die ganze Anlage des Gedichts Welt- Johann Friedrich Cotta geschickt worden, der
seele beherrscht, wird der Mensch aus der Di- es in sein Taschenbuch für Damen aufdas Jahr
stanz als »das erste Paar« betrachtet, der Gipfel 1806 aufnahm, nach G.s Wunsch: »wie man es
der Schöpfung zwar, aber zugleich auch das mit Dedicationen zu thun pflegt, dem Calen-
letzte Glied einer Kette von Naturphänome- der vorgesetzt«. Bei den ersten Wiederholun-
nen. Die Anlage des Gedichts mußte zu dieser gen des Vortrags am 19.8. 1805 in Lauchstädt
objektivierenden Distanz führen, die vielen und am 10.5. 1806 in Weimar dürfte der Text
Lesern den Zugang erschwert und zu so unge- unverändert geblieben sein - wahrscheinlich
wöhnlich divergierenden Werturteilen geführt in der Fassung, die im September 1805 im
hat. Taschenbuch für Damen erschienen war und
die zu G.s Lebzeiten nicht mehr gedruckt
wurde -, wie sie auch in allen kritischen
Literatur: G.-Ausgaben bis heute fehlt. Die Vorlage für
GRÄF 3, 2, 1. - von der Hellen, Komm. in JA 2. - den Erstdruck ist nicht überliefert; die etwa
Hölscher-Lohmeyer, Dorothea : 'Verteilet euch nach zwanzig Textvarianten (neben mehr als 30 Ab-
allen Regionen<. Über Goethes Weltseele. In: Borch- weichungen in Orthographie und Interpunk-
meyer, Dieter (Hg.): ,Weimar am Pazifik<. Fs. W. tion) gegenüber dem folgenden Druck lassen
Vordtriede. München 1985, S. 1-13. - Jäckle, Erwin: es ausgeschlossen erscheinen, daß sie auf
Goethes Morphologie und Schellings Weltseele. In:
DVjs. 15 (1937), S.295-330. - Müller, Joachim: Schreiberfehler oder Eingriffe des Setzers zu-
Weltseele. Eine lyrisch-philosophische Triade Goe- rückgehen, so daß mit dem Erstdruck die erste
thes. In: Abhandlungen der Sächsischen Akademie Fassung des Gedichts vorliegt. Die zweite Fas-
der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-histori- sung wurde 1808 in Goethe's Werke (Bd. 8,
sche Klasse. Bd. 70. H.3. Berlin 1984. - Trunz, S.351-356) aufgenommen, und zwar nach
Komm. in HA 1, S. 530f. dem Text von G.s Hand, wie er sich im Goethe-
Bengt Algot Sf'Jrensen und Schiller-Archiv erhalten hat (zehn Octav-
284 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

blätter, auf jedem Blatt eine Stanze; Facsimile richtete Schiller gleichsam ein Denkmal, das
in: Suphan). Am 9.5. 1810 ließ G. den Epilog für Mit- und Nachwelt das Bleibende des Da-
auf dem Weimarer Theater erneut sprechen; hingegangenen bewahren sollte. Es entstand
die letzte Stanze veränderte er, und eine wei- der Typus des leidenden und siegreich kämp-
tere kam als Schluß strophe hinzu. Beide wur- fenden Idealisten, der sich über die Widrig-
den wenig später, am 25. Mai, im Morgenblatt keiten von Zeit und Umwelt, vor allem über
für gebildete Stände gedruckt. Bei der Ge- die physischen Gefährdungen der eigenen Exi-
dächtnisfeier zum zehnten Todestag Schillers stenz erhebt und, aufsteigend ))In's Ewige des
ließ G. am 10.5. 1815 den Epilog in wieder Wahren, Guten, Schönen« 01. 30), dennoch Be-
veränderter Form auf dem Weimarer Theater sitz der Welt bleibt - wenigstens als Muster
vortragen: Die nun sechste Stanze und die des Vollendeten. Der stilisierenden Typisie-
letzte, nun dreizehnte, waren hinzugekommen rung, durch die Schiller ))objektiv« gemacht
und einzelne Verse der ursprünglichen Fas- werden soll, entspricht die von G. für das Ge-
sung aktualisiert worden. Aus ))Bewegt sich dicht gewählte Stanzenform, die er für seine
neu das Land und segenbar« der ersten Fas- Dichtungen nur selten - etwa fur das epische
sung war beispielsweise ))Bewegte sich das Fragment Die Geheimnisse, die Gedichte Zu-
Land und segenbar« 01. 2) geworden. In dieser eignung und Urworte. Orphisch sowie die Zu-
letzten, der vierten Fassung erschien das Ge- eignung zum Faust - benutzte und die er ein-
dicht am 13.3. 1816 im Morgenblatt für ge- mal ))gar zu obligat und gemessen periodisch«
bildete Stände, im folgenden Jahr in Goethe 's genannt hatte (an Schiller, 21.2. 1798), weil sie
Werke (Bd. 9, S. 395-401) und 1828 in der Aus- sich sowohl zur epischen Darstellung eignet -
gabe letzter Hand (Bd. 13, S. 167-173). Die Schiller hatte deshalb von ihr bei seiner Ae-
Weimarer Ausgabe (WA I, 16, S. 163-168) neis-Übersetzung Gebrauch gemacht - als auch
übernahm denselben Text, der dann auch die die Schilderung in sich geschlossener Ereig-
Grundlage für die meisten neueren Ausgaben nisse, Ansichten und Gedanken gestattet, die
bildet, die sich durch unterschiedlich starke sich gemeinsam einer ))Ieitenden Idee« unter-
Eingriffe ())Modernisierung«) allerdings mehr ordnen. Das eine Stanze abschließende Reim-
oder weniger vom Original entfernt haben paar ermöglicht die - oft sentenz hafte - Zu-
(z.B. HA 1, S. 256-259; GA 2, S. 95-98, BA 2, sammenfassung (Conclusio) der vorangehen-
S.92-95). Die Münchner Ausgabe (MA 6.1, den Verse: ))Ach! was zerstört ein solcher Riß
S. 90ff.) und die Frankfurter Ausgabe (FA 1,6, den Seinen! / Nun weint die Welt und sollten
S.890ff.) enthalten nicht, entgegen den aus- wir nicht weinen?« 01. 15f.). Oder: ))Und hin-
drücklichen Angaben, den Text des Erst- ter ihm, in wesenlosem Scheine, / Lag, was
drucks, sondern den der Ausgabe von 1808, uns alle bändigt, das Gemeine« (Y. 31f.). Daß
also den der zweiten Fassung. Die folgenden Schiller in seiner - von G. überaus geschätzten
Bemerkungen beziehen sich auf den Erstdruck - Tragödie Die Jungfrau von Orleans die von
von 1805, der zehn Strophen in achtzeiliger Gott verlassene HeIdin ihren Schmerz in Stan-
Stanzenform umfaßt, sowie auf die Zusätze zen aussprechen läßt 01. 2518-2541), hat viel-
und Veränderungen von 1810 und 1815 in den leicht G. mitbestimmt, seinem Klage- und Lob-
Fassungen des Morgenblatts. gesang auf den Freund diese Form zu geben.
Über die Wirkung, die G.s Epilog bei der
Daß G. durch Schillers Tod aufs tiefste er- Schiller-Gedächtnisfeier am 10.8. 1805 in
schüttert war, so daß er glaubte, er müsse ))eine Lauchstädt auf die Zuhörer ausübte, gibt es
neue Lebensweise anfangen« (an Zelter, 1.6. unterschiedliche Berichte: In August von Kot-
1805), macht seine Absicht verständlich, in zebues Freimüthigem wurde am 24. August
dem geplanten Festspiel ))weniger das, was wir mißbilligend bemerkt, die ganze Feier habe
verloren haben, als das, was uns übrig bleibt, nicht gefallen und so auch nicht der Epilog, ))in
darzustellen« (an Cotta, 1.6. 1805); und auch dem von dem Weimarischen Fürstenhaus ge-
im Epilog ist diese Absicht erkennbar: G. er- rade so viel vorkam, als von Sc hilI er«; und
Epilog zu Schillers Glocke 285

auch andere Blätter wie die Zeitung für die gänzungen der Jahre 1810 und 1815 mißbil-
elegante Welt und der Europäische Aufseher ligt: »Es hätte [ ... ] dem Epilog sicherlich nicht
zeigten sich reserviert oder ablehnend. Nach geschadet, wenn er immer auf dem alten Fuße
der Veröffentlichung des Gedichts gab es wei- [sc. in der Fassung von 1808; d. Vf.] geblieben
tere, teilweise hämische Kritik: »Wer, nach ei- wäre, nie eine Bereicherung erlitten hätte«
nem Witzworte von V 0 I t air e, einen großen (S. 31). In der Tat sind die Änderungen nur aus
Mann auch in seinem Schlafrock gern sieht, den aktuellen Anlässen heraus verständlich
der kann dieses Vergnügen in dem Gedichte und verwischen ein wenig die Spuren, die zu
geniessen, mit dem Hr. v. G ö t h e des unsterb- der ursprünglichen Fassung hinfUhren. Es
lichen Sc hili e r sAndenken [ ... ] hat feyern scheint, als sei 1810 das ursprünglich abschlie-
lassen« (Neue Leipziger Literaturzeitung vom ßende Reimpaar: »O! möge doch den heilgen,
2.5. 1806). In einem Bericht der Allgemeinen lezten Willen / Das Vaterland vernehmen und
Zeitung vom 27.8.1805 heißt es: »Das Ganze erfüllen I«~ (V. 79f.) nicht mehr verständlich ge-
that volle Würkung. [ ... ] Es bemächtigte sich wesen; an seine Stelle ist nun der historische
eine süsse, unnennbare Wehmuth der Gemü- Rückblick getreten: »Und was an ihm die Mit-
ther«. Dem entspricht die Jahrzehnte später welt sonst getadelt, / Es hat's der Tod, es hat's
mitgeteilte Darstellung eines Augenzeugen, die Zeit geadelt« (1810: V. 7f.). Die nun ab-
der sich erinnerte, der Schluß der Feier habe schließende Stanze mahnt Lebende und Nach-
die Zuschauer sehr ergriffen. »Das gefüllte lebende: »So feyert ihn! denn was dem Mann
Haus saß noch einige Augenblicke in tiefe, das Leben / Nur halb ertheilt, soll ganz die
rührende Stille versunken« (Scheidernantel, Nachwelt geben!« (1810: V. 15f.). 1815 drängte
S. 162). - In der G.-Literatur des 19. und 20. es G. - aus deutlich aktuellem Anlaß -, an
Jhs. wurde der Epilog selten gründlich behan- Schillers Auseinandersetzung mit historischen
delt; er galt in der Regel nur als Beleg für das Stoffen zu erinnern, und zwar in nicht recht
freundschaftliche Verhältnis der beiden Wei- geglückten Versen: »Ihm schwollen der Ge-
marer Dichter. Walter Benjamin ist dem Grund schichte Flut auf Fluten, / Verspülend, was ge-
für G.s Verbundenheit mit Schiller vielleicht tadelt, was gelobt, / Der Erdbeherrscher wilde
sehr nahe gekommen: »Der außerordentliche Heeresgluthen, / Die in der Welt sich grimmig
Charme und die Gewalt von Schillers Person ausgetobt« (1815: V. 41-44). Die angefügte
haben sich [ ... ] Goethe in ihrer ganzen Größe Schluß strophe : »So bleibt er uns« verbindet
erschlossen, und er hat nach dessen Tode in Leben, Tod und Nachwirkung Schillers, be-
seinem Epilog zu Schillers Glocke ihnen ein wundernd und hoffend zugleich: »Er glänzt
Denkmal gesetzt« (S. 728f.). Eine längere Ab- uns vor, wie ein Komet entschwindend, / Un-
handlung über den Epilog veröffentlichte 1894 endlich Licht mit seinem Licht verbindend«
Heinrich Düntzer. Er skizzierte dessen Entste- (1815: V. 103f.).
hungs- und Wirkungsgeschichte, musterte kri-
tisch die spärliche Forschungsliteratur (Vie- G. hat Schillers Lied von der Glocke (1799) als
hoff, Franz Kern, Loeper, Schröer, Kettner), eine eigentümliche poetische Leistung, die
beschrieb den Inhalt der einzelnen Stanzen sich durch die geschickte Verbindung von epi-
und deutete deren »Gehalt« an; auch fehlt es schen, lyrischen und dramatischen Elementen
nicht an Einwänden gegen Einzelheiten des auszeichnet und zudem seines Dichters >Welt-
Gedichts und gegen die späteren Zusätze ins- anschauung<, u.a. seine Kritik an der Französi-
gesamt: »Leider ist in folge zweier spätern schen Revolution, aufs deutlichste zu erken-
wiederholungen der einheitlich gedachte und nen gibt, durchaus geschätzt und hat es mögli-
ausgeführte epilog durch zusätze und eine ein- cherweise schon vor Schillers Tod fUr eine
schiebung verlezt und der frühere schluss [ ... ] Darstellung auf der Bühne bestimmt (vgl.
durch andere wenig glückliche verse verdrängt Deetjen).
worden« (S. 99). Auch Bernhard Suphan hat in Der Epilog feiert nicht nur den Menschen
seinem Kommentar zum Epilog (1905) die Er- und Dichter Schiller im allgemeinen, sondern
286 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

auch den Verfasser des Lieds im besonderen, Versicherung, Schiller sei >>unser« gewesen,
der am Schluß Eintracht, Freude und Frieden dem »lauten Schmerz« (Y. 26) entgegenwirken
unter den Menschen beschwört: »C 0 neo r - soll. Und G. spricht aus, was er später immer
dia soll ihr Name seyn, / [ ... ] / Freude dieser wieder, bewundernd und betroffen zugleich,
Stadt bedeute, / Fr i e d e sey ihr erst Ge- dem Freunde nachsagte - daß er unbegreiflich
läute!«. Daran knüpft G. an: »Und so ge- schnell in seiner Entwicklung fortgeschritten
schah's!« (Y. 1). Und auf die Friedenssehn- sei: »Indessen schritt sein Geist gewaltig fort«
sucht Schillers, die mit der Hoffnung auf eine (Y. 29). Die nächsten drei Stanzen werfen ein
ästhetisch gebildete und daher gesittete Welt Licht auf den Dichter Schiller: In seinem 1797
verbunden war, bezieht sich vermutlich der erworbenen Gartenhaus hält er, offenbar bei
vielberätseIte Schluß der Fassungen von 1805 der nächtlichen Arbeit am Wa lIens tein, Zwie-
und 1808 mit der Erinnerung an Schillers »Ei- sprache mit den Sternen, er verkehrt Tag und
nen Wunsch« (y. 78), seinen »heilgen, lezten Nacht - »sich und uns zu köstlichem Gewinne«
Willen« (y. 79) (1808: »heiligen, letzten Wil- (Y. 37). Er ist erfüllt von »Muth« (Y. 43) und
len«). 1810 konnte das >,vaterland«, das poli- »Glauben« (Y. 45), daß sein großes Werk ge-
tisch ohnmächtig geworden war, nicht mehr linge: »Damit das Gute wirke, wachse,
aufgefordert werden, es möge diesen Willen fromme, / Damit der Tag dem Edlen endlich
»vernehmen und erfüllen« (Y. 80), zumal anzu- komme« (Y. 47 f.). Schillers poetische Domäne,
nehmen war, daß den Zuhörern und Lesern das Drama, erfährt anschließend eine zurück-
des Epilogs in dieser und der folgenden Zeit haltende, etwas gequälte Würdigung: »Und
Schillers letzter Wille noch weniger bekannt manch sein tiefes Werk hat reichgestaltig
war als fünf Jahre zuvor. [1808: »Und manches tiefe Werk hat, reich-
Der Epilog gliedert sich in vier Teile. Ein- gestaltig«; d. Vf.]/ Den Werth der Kunst, des
leitend wird die nahe Vergangenheit idyllisie- Künstlers Werth erhöht« (Y. 53f.). Wichtiger
rend vergegenwärtigt, die dem »Land«, näm- als die von Schiller geschilderten Einzel-
lich dem Herzogtum Sachsen-Weimar, »fri- schicksale und Weltbewegungen sind für G.
sches Glück« bescherte: den, wie es in Anspie- die Impulse, die sie hervorbrachten: »Er wen-
lung auf den Schluß der Glocke heißt, vom dete die Blüte höchsten Strebens, / Das Leben
»friedenreichen Klange« (Y. 1) begleiteten Ein- selbst, an dieses Bild des Lebens« (Y. 55f.). Die
zug des Erbprinzen Carl Friedrich und seiner letzten drei Stanzen sind wieder, nun aber we-
Gemahlin Maria Paulowna am 9.11. 1804 in niger allgemein als im zweiten Teil des Ge-
Weimar. Dem wird in der zweiten Stanze das dichts, dem großen Menschen gewidmet, und
Unfaßbare der Gegenwart, der durch zwar dem leidenden, den die Freunde unter-
»schreckhaft mitternächt'ges Läuten« (Y. 9) halten und erquickt und dem sie >>noch am
angezeigte »Verlust« (Y. 14) des Freundes, der Abend vor den lezten Sonnen / Ein holdes
Tod des »Lebenswürdgen« (Y. 15), schroff ent- Lächlen glücklich abgewonnen« hätten
gegengestellt. Dem poetischen Bericht über (Y. 71 f.). Diese Anspielung gilt wahrscheinlich
die genau ein halbes Jahr auseinanderliegen- Schillers letztem Theaterbesuch; am 1.5. 1805
den Ereignisse folgt in den beiden folgenden sah er Friedrich Ludwig Schröders Lustspiel
Stanzen die Klage G.s, der im Namen aller Die unglückliche Ehe aus Delikatesse. Am
Zurückgebliebenen spricht, wenn er in beiden Ende dann: Tod und Trauer. »Nun schröckt uns
Strophen mit »Denn er war unser!« einsetzt. Er das, wofür uns längst gegraut« (Y. 76).
charakterisiert den Toten, wie er ihn erinnert:
als »hohen Mann« (Y. 18), der »bequem gesel- G. fühlte sich durch Schillers Tod verwaist. Er
lig« (Y. 17) war, »heiter« (Y. 20) in seinem hat immer wieder versucht, die Individualität
»Ernst« (Y. 19), »geistreich« (Y. 21) und des Freundes zu erfassen, ihn als »ungemein«
»fruchtbar [ ... ] in Rath und That« (Y. 23). Die sich und andern zu bewahren. Wie sehr er
Stilisierung ins menschlich Außergewöhnli- dabei schon im Epilog um die Verdeutlichung
che schafft Distanz, die zusammen mit der des schwer Deutbaren bemüht war, zeigt zum
Legende 287

Beispiel die Beschreibung der Eigenschaften handschriftlicher Gestalt mit einer Einleitung. Wei-
Schillers, für die er neue Adjektive ersann: mar 1905.
»lebenswürdig« 0!. 13), »sichersteIlig« 0!. 21), Norber! Oellers
»vollgehaltig« 0!. 49); mit Neologismen hatte
es begonnen: »Segenbar« wird das Land ge-
nannt 0!. 2), »lebensrege« der Drang 0!. 5). Die
Wortschöpfungen signalisieren auch, daß G.
durch den Freund zu poetischen Erfindungen
angeregt worden ist, die diesem nun als dan-
kendes Gedenken zukommen sollen. Dabei Legende
wird erkennbar, was durch spätere Äußerun-
gen immer wieder bestätigt wird: G. schätzte,
ja verehrte in Schiller nicht so sehr dessen Das Gedicht ist Ende Mai, Anfang Juni 1797
poetisches Vermögen, als vielmehr seine entstanden. Es ist in einer Handschrift von G.s
menschliche Größe, seine Willenskraft, sei- Sekretär Johann Ludwig Geist überliefert,
nen Ideenreichtum, seine intellektuelle Sou- welche die Vorlage für den Erstdruck in Schil-
veränität, seine »erhabene Natur« (zu Ecker- lers Musen-Almanach.für das Jahr 1798 war.
mann, 11.9. 1828). »Schiller hatte sich noch an Dieser Druck liegt den folgenden Ausführun-
das Edle gehalten; um ihn zu überbieten gen zugrunde (nach MA 4.1, S. 864-866). Der
mußte man nach dem Heiligen greifen«, Stoff ist in volkstümlicher Tradition verbrei-
schrieb G. am 7.3.1808 an Friedrich Heinrich tet; eine besondere Quelle für G.s Gedicht ist
Jacobi und am 9. 11. 1830 an Zelter: »Schillern nicht bekannt, muß wohl auch nicht angenom-
war eben diese echte Christus-Tendenz einge- men werden. Die Legende ist in Knittelversen,
boren, er berührte nichts Gemeines ohne es zu vierhebigen Versen mit freier Füllung der Sen-
veredeln«. kungen, geschrieben; sie sind durch Paarreim
G.s im Epilog entworfenes Schiller-Bild, Jo- verbunden, wobei weibliche und männliche
hann Heinrich von Danneckers Schiller-Büste Kadenzen in unregelmäßiger Folge wechseln.
und Ernst Rietschels für Weimar bestimmtes Mit der formalen Gestaltung rückt G. die Le-
G.-Schiller-Denkmal haben, indem sie oft gende in die Nähe der Volkstradition; zugleich
leichtfertig benutzt wurden, zur unangemes- verweist die Form auf die deutsche Dichtung
senen Monumentalisierung Schillers im 19. der frühen Neuzeit, in der der Knittelvers die
und 20. Jh. erheblich, wahrscheinlich sogar dominante Versform war. In dieser Form ist
entscheidend beigetragen. eine ironische Distanz zwn Erzählten gesetzt;
herabgestimmt werden im spielerischen Um-
gang mit Legendenstoff und Formtradition
gleichermaßen die legendarisch-heilige Er-
Literatur: zählung - immerhin wird hier von Christus
und seinem Jünger Petrus erzählt - und die
Benjamin, Walter: Goethe. In: ders.: Gesammelte didaktische Dimension solcher Legenden, die
Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann traditionell als Exempla Verwendung fanden;
Schweppenhäuser. Bd. 2.2. Frankfurt/M. 1977,
S. 705-739. - Deetjen, Werner: Goethe und das Lied die in den Schlußzeilen formulierte Moral
von der Glocke. In: JbGG.3 (1916), S.265-266. - spricht der »Herr« mit »Heiterkeit« 0!. 60). Al-
Düntzer, Heinrich: Goethes Epilog zu Schillers lerdings behält die in der Legende dargestellte
Glocke. In: ZfdPh. 26 (1894), S. 81-105. - Scheide- Lehre durchaus ihre Ernsthaftigkeit; dabei ist
mantel, Eduard: Goethes Totenfeier für Schiller in die überkommene Mahnung, die richtigen
Lauchstädt 1905. In: Beiträge zur Literatur- und Zeitpunkte zu nützen und auch auf geringe
Theatergeschichte. Fs. Ludwig Geiger. Berlin 1918,
S. 159-162. - Suphan, Bernhard (Hg.): Zum 9. Mai Dinge zu achten, durch die Verbindung mit
1905. Die Huldigung der Künste / Demetrius: Mar- Geld und Mühe oder Arbeit deutlich bürger-
fa's Monolog / Der Epilog zu Schillers Glocke in lich getönt.
288 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

Mit der Wahl von Form und Stoff verweist G. schen Der Zauberlehrling und Der Gott und
auf eigene frühere Produktion; er greift zurück die Bajadere (Text in FA I, 2, S.144-150),
auf seine an Hans Sachs orientierten Dichtun- ebenso in der Ausgabe letzter Hand.
gen, die Kurzdramen, Farcen und Gedichte der Die Braut von Corinth gehört demnach von
frühen 70er Jahre. Auch hat G. die Legende bei ihrer Entstehungszeit her in den Zusammen-
den Werkausgaben nicht in die Gedichtbände hang des sogenannten »Balladenjahrs«, also
aufgenonunen, vielmehr das Gedicht, seit der des gemeinsamen Interesses von G. und Schil-
ersten bei Johann Friedrich Cotta erschiene- ler an der Form der Ballade als eines Mittels
nen Ausgabe der Werke, zu den im Stil von zur Popularisierung von literarischer Kunst.
Sachs gehaltenen Werken gestellt. Es wurde Wenn man »den Leuten, im Ganzen genom-
dort in die Abteilung Parabeln aufgenonunen; men, durch die Poesie nicht wohl, hingegen
ihm folgt das 1776 entstandene Gedicht Hans recht übel machen kann«, dann müsse man,
Sachsens poetische Sendung. Im Kontext der wenn »das eine nicht zu erreichen« sei, den
Balladenproduktion von 1797 erscheint die anderen Weg einschlagen. »Man muß sie in-
Legende - sie ist nach dem Schatzgräber die conunodieren, ihnen ihre Behaglichkeit ver-
zweite der in diesem Jahr entstandenen Bal- derben, sie in Unruhe und in Erstaunen setzen.
laden - damit auch als ein Experiment: G. Eins von beiden, entweder als ein Genius oder
erprobt, in Zusanunenarbeit mit Schiller, die als ein Gespenst muß die Poesie ihnen gegen-
Möglichkeiten dieser Gattung. Und immerhin über stehen. Dadurch allein lernen sie an die
bietet dann Schillers Musen-Almanach für das Existenz einer Poesie glauben und bekommen
Jahr 1798, der Balladen-Almanach, in den Bal- Respect vor den Poeten« (Schiller an G., 17.8.
laden G.s und Schillers auch eine bemerkens- 1797). Es sind dies Sätze, die zur frühesten
werte formale, stilistische und thematische Rezeption von G.s Ballade gehören. National-
Vielfalt. pädagogische Tendenzen sind jedoch nur ein
begrenzter Teil jenes gemeinsamen Interesses,
Reiner Wild dessen Resultate sich nach den Persönlichkei-
ten ihrer Urheber wie nach ihrer Geschichte
beträchtlich voneinander unterscheiden. G.
hat davon gesprochen, daß er den Stoff zu
dieser Ballade Jahrzehnte mit sich herumtra-
gen habe (vgl. seinen Aufsatz Bedeutende För-
dernis durch ein einziges geistreiches Wort von
Die Braut von Corinth 1823; WA 11,11, S. 60).
Als Quelle des Gedichts wird allgemein das
Buch der Wunder des griechischen Schriftstel-
Nach G.s Tagebuch ist die Ballade vom 4.-5.6. lers Phlegon Aelius Trallianus (2. Jh. n. Chr.)
1797 in Jena entstanden; ihr folgte vom 7.-9. genannt, wahrscheinlich in der Fassung des
Juni Der Gott und die Bajadere. G. meldete die Anthropodemus plutonicus, das ist Eine neue
Vollendung der Braut von Corinth, der »gro- Weltbeschreibung von allerlei wunderbaren
ßen Gespensterromanze«, am 6. Juni brieflich Menschen von Johannes Praetorius (Magde-
an Christiane Vulpius und brachte Schiller das burg 1666). Es enthält die Geschichte eines
Manuskript am Abend des gleichen Tages. jungen Griechen namens Machates, der von
Beide Balladen wurden in Schillers Musen- dem wiedergängerischen Geist der Tochter
Almanach für das Jahr 1798 veröffentlicht, seines Wirtes aufgesucht wird und ihm
dessen Publikationsdatum der 2.10. 1797 war. schließlich zum Opfer fallt. G. war dieses Buch
Auf die Fassung dieses Erstdrucks bezieht sich bekannt. Er hat es auch für die Wtllpurgisnacht
die folgende Interpretation (Text in FA I, 1, des Faust I als Quelle benutzt. Die Geschichte
S. 686-692). In der Sammlung von 1815 steht von Machates wird gleichfalls erzählt in Hund-
das Gedicht unter der Rubrik Balladen zwi- tägige Erquickstund, das ist, schöne lustige
Die Braut von Corinth 289

moralische und historische Abbildungen [. . .J »Grundgesinnung« der Ballade bezeichnet,


in zwei Theilen (Frankfurt 1651). G. hat die »daß das Christentum sich aus einem falschen
Ballade »ein vampyrisches Gedicht« genannt Drange nach Heiligung gegen die natürlichen
(Tagebuch, 4.6. 1797). Im 18. Jh. waren Vam- Mächte des Bluts versündigt hat« (S.58ff.).
pirsagen aus dem Gebiet des Balkan bekannt. Eine solche Dichotomie von heidnisch und
Aber das Wiedergänger-Motiv war G. natür- christlich gehörte zwar in das Denken der
lich auch vertraut durch die literarisch einfluß- Zeit, wie Schillers Gedicht Die Gälter Grie-
reichste Ballade seiner Jugendzeit, Bürgers chenlandes (1788) und die Debatte darüber
Lenore (1773). zeigen, aber führt doch auch wieder zu Verein-
G.s Ballade fand vom Tag ihres Erscheinens fachungen anderer Art. Dagegen wendet sich
an eine widersprüchliche Aufnahme. Zwar Walter Müller-Seidel, der die ideellen Bezie-
wurde die künstlerische Meisterschaft aner- hungen zur Philosophie des deutschen Idea-
kannt, aber die zeitgenössischen Ansichten di- lismus hinsichtlich der Selbstbestimmung und
vergierten zwischen kritischer Ablehnung des Autonomie des Menschen herausstellt, was
Sujets und seiner Behandlung auf der einen ihn zugleich zu genaueren Beobachtungen
Seite und großem Beifall auf der anderen. über die Rollen und Handlungsweisen der El-
Herder, der die Ballade von Schiller im Manu- ternpaare und deren Schuld veranlaßt. Von G.s
skript zu lesen bekommen hatte, spottete Entscheidung, den Schauplatz von Tralles
scharfsichtig über den »Heidenjüngling mit nach Korinth zu verlegen, geht Ilse Graham
seiner christlichen Braut, die als Gespenst zu aus, mit Bezug auf den 1. Korintherbrief des
ihm kommt und die er, eine kalte Leiche ohne Paulus und dessen Geschlechtsfeindlichkeit,
Herz, zum warmen Leben priapisiret - das die auf den Urgrund der Ballade verweise,
sind Heldenballaden!« (an Knebel, 5.8. 1797). nämlich auf die Angst des Mannes vor der
Karl August Böttiger lobte sie, aber resümierte Frau, vor dem »Weiblichen«, das »als todes-
zugleich: "Während die eine Partei sie die trächtiges, vampyrhaftes Phänomen [ ... ] das
ekelhafteste aller Bordellszenen nennt und die Geistige zu entmannen droht« (Graham,
Entweihung des Christentums hoch aufnimmt, S.269). In jüngeren Deutungen schließlich
nennen andere sie das vollendetste aller klei- tritt das Interesse am Vampirischen der Braut
nen Kunstwerke Goethes« (an Matthison, stärker in den Vordergrund und damit der psy-
18.10. 1797). chologische Faktor einer Liebestragödie (vgl.
In der Forschung ist diese Kritik zwar ver- Schemme) ebenso wie feministische Aspekte.
stummt. Dafür aber trat der scheinbare Wider- Von ihrer Fabel her erscheint die Ballade
spruch des dunklen, gespensterhaften Stoffes leicht verständlich. Ein noch dem antiken Göt-
zu dem von der Literaturwissenschaft selbst terglauben anhängender junger Athener
geschaffenen Bilde eines klassizistischen, auf kommt nach Korinth, um die ihm von Kindheit
Harmonie und Schönheit eingeschworenen G. her versprochene Braut als Frau heimzufüh-
in den Vordergrund. Am einfachsten hat es ren. Aber die Familie des Mädchens ist in-
si-ch dabei die rein sozialkritische Interpreta- zwischen zum Christentum übergetreten, und
tion gemacht, die in der Ballade »ein ganz die Mutter hat zum Dank für die eigene Gene-
aufklärerisches Plädoyer gegen den lebens- sung von einer Krankheit die Tochter dem
feindlichen, asketischen Aspekt des Christen- neuen Gott geweiht, also offensichtlich zur
tums« und »progressiv-emanzipatorische« Nonne bestimmt. In der Einsamkeit des Klo-
Kritik an einer »prüde im Christentum ver- sters ist das Mädchen gestorben und kommt
ankerten Bürgermoral« sieht (Freund). Vom nun als gespenstische Wiedergängerin ins El-
geistesgeschichtlichen Standpunkt eines hu- ternhaus zurück, um mit dem ihr einstmals
manistischen »Geistes der Goethezeit« hat bestimmten Bräutigam, dem statt ihrer eine
Hermann August Korffvor allem den »Gegen- jüngere Tochter vermählt werden soll, eine
satz zwischen christlicher und heidnisch-anti- Liebesnacht zu feiern und ihn dann mit vampi-
ker Lebensauffassung« darin betont und als rischer Macht zu sich in den Tod zu holen. Von
290 Lyrik der klassischen Zeit. 1787~ 1806

der Mutter, die Zeugin der Liebesszene wird, Braut und Bräutigam sich ja überhaupt nicht
erbittet sie für beide den Scheiterhaufen als vor der Begegnung. Ihre Verbindung ist denn
sichtbaren Ort ihres Liebestodes auf dem Weg auch nicht eine der gesellschaftlichen Sitte,
zu »den alten Göttern« cv. 57). sondern wörtlich des »Blutes«. Damit wird auf
Die Gestaltung der Ballade bewegt sich je- eine Urschuld sehr viel größeren Ausmaßes
doch vom Geschichtlichen über das Unheim- hingedeutet, die Ursache des Todes der Kinder
liche ins Geheimnisvolle, so daß zu fragen ist, sein könnte. So ist also über Grahams Inter-
ob Schillers Bemerkung, »im Grunde wars nur pretation hinaus die Frage zulässig, ob nicht
ein Spaß von G ö t he einmal etwas zu dichten, hinter der geschichtlichen Oberfläche der Bal-
was ausser seiner Neigung und Natur liegt« (an lade und des »Spaßes« am Stoff Spuren von
Körner, 12.2. 1798), ein Mißverständnis oder jener tabubrechenden Liebe zwischen Ge-
aber das Resultat ablenkender Information schwistern zu finden sind, die auch andere
durch den Autor ist, der immerhin später sein Werke G.s direkt oder verhalten darstellen.
langes Interesse am Stoff bekundet hat. Insbesondere ist an Mignon, den Sproß einer
G. hat dem Gedicht eine ebenso kunstvolle Geschwisterliebe, in Wilhelm Meisters Lehr-
wie für eine lange Erzählung wirkungsvolle jahre zu erinnern, die gleichfalls vampirische
Form gegeben durch eine siebenzeilige Stro- Züge aufweist und von der es an einer Stelle
phe, in der die siebente Zeile den Reim der heißt, sie habe Wilhelm Meister »angefaßt und
zweiten und vierten wiederholt, die fünfte und in den Arm gebissen« (MA 5, S. 327).
sechste jedoch von fünffüßigen Trochäen zu Über solche im Bereich des nur Vermutbaren
dreihebigen verkürzt ist und diese beiden liegenden Beobachtungen hinaus zeigt sich je-
Verse durch gleichen Reim sowohl zur Span- doch, daß die Braut von Corinth nicht nur mit
nungssteigerung wie auch zum Träger beson- der ihr zeitlich nahestehenden Ballade Der
ders markanter Mitteilungen und Gedanken in Gott und die Bajadere verwandt ist, sondern
rhythmisch wechselnder Gestalt gemacht wer- ebenso mit jenen früheren Balladen G.s, in
den. Darüber hinaus aber gelingt jene, viele denen die Zerstörung des Mannes durch die
Leser seiner Zeit provozierende Darstellung Frau und die Erfüllung der Liebe im Tode zum
des Liebesaktes auf eine derart meisterhafte Thema werden (Erlkönig, Der Fischer).
Weise, daß sie einen bloßen »Spaß« G.s un-
wahrscheinlich macht.
Das Unheimliche verschwindet hinter dem Literatur:
Realismus der Darstellung; nicht nur der
Jüngling, sondern auch die Mutter und die Freund, Wilfried: Die deutsche Ballade. Theorie,
Analysen, Didaktik. Paderborn 1978. ~ Graham,
Leser werden nicht sogleich gewahr, daß die
Ilse: Die Theologie tanzt. Goethes Balladen Die
»Braut« eine Tote ist. Damit aber bewegt sich Braut van Karinth und Der Gott und die Bajadere.
die Ballade in den Bereich des Geheimnis- In: dies.: Schauen und Glauben. Berlin 1988,
vollen, denn provozierender noch als die pla- S. 255~284. ~ Heilbrunn, L.: Die Braut von Karinth.
stische Darstellung des Liebesaktes ist die zu- Frankfurt/M. 1926. ~ KORFF, Bd. 2, S. 58~70. ~
tiefst peinlich wirkende Tatsache, daß die Leitzmann, Albert: Die Quellen von Schillers und
Goethes Balladen. Bonn 21925. ~ Müller-Seidel,
Mutter Zeugin dieses Vorgangs wird. Daraus
Walter: Johann Wolfgang Goethe, Die Braut von
ergeben sich seltsame Konstellationen. Die Karinth. In: Hinck, Walter (Hg.): Geschichte im Ge-
Mutter ist schuldig am Tod der Tochter, indem dicht. Frankfurt/M. 1979~86. Auch in: Müller-Sei-
sie sie als Opfer für die eigene Genesung ins del, Walter: Die Geschichtlichkeit der deutschen
Kloster brachte. Die Väter sind, wie Müller- Klassik. Stuttgart 1985, S. 119~124 u. S. 515. ~
Seidel hervorgehoben hat, ihrerseits schuldig, Schemme, Wolfgang: Goethe. Die Braut von Ka-
rinth. Von der literarischen Dignität des Vampirs. In:
indem sie die Kinder von Geburt an fürein-
ww. 5 (1986), S. 555~546. ~ Schulz, Gerhard: »Lie-
ander bestimmten, ohne nach deren Willen besüberfluß«. Zu Goethes Ballade Die Braut von
und Neigung zu fragen. Denn um einen »Lie- Carinth. In: JbFDtHochst. (1996). ~ Wright, Eliza-
bestod« handelt es sich nur bedingt, kennen beth: Ambiguity and Ambivalence: Structure in
Der Gott und die Bajadere 291

Goethe' s Die Braut von Karinth and Der Gott und die verbringt, erzählt wird. Den Schluß allerdings
Bajadere. In: PEGS. 51 (1981), S. 114-132. hat G. deutlich verschärft. Bei Sonnerat wird
Gerhard Schulz gesagt, daß der Gott nur so tat, »als ob er tot
wäre«, G. hingegen stellt seinen Tod nach-
drücklich heraus 0/.58ff.); bei G. »springt« die
Bajadere »in den heißen Tod« 0/.92) und muß
also bei der Prüfung, die der Gott ihr auferlegt,
bis zum Äußersten gehen, was ihr bei Sonne rat
erspart bleibt, bei dem der Gott, »eben wie sie
Der Gott und die Bajadere sich in die Flamme stürzen wollte«, wieder
erwacht und seinen »Betrug« gesteht, sie dann
»zum Lohn ihrer Treu [ ... ] zum Weibe« nimmt
G. schrieb diese Ballade zwischen dem 6. und und in das »Paradies« führt (Leitzmann,
dem 9.6. 1797 in Jena; handschriftliche Zeug- S.37f.). G. hat für seine Gestaltung der in-
nisse aus dieser Zeit sind nicht überliefert. dischen Legende eine eigene, von ihm auch
Erstmals gedruckt wurde sie in Schillers Mu- nur in diesem einen Fall verwendete zwei-
sen-Almanach für das Jahr 1798, dem Bal- teilige Strophenform geschaffen. Ihr erster
laden-Almanach, der bereits Ende 1797 er- Teil wird von der in der deutschen Lyrik häu-
schien; beigegeben war die Vertonung von Carl figen, auch von G. oft genutzten achtzeiligen
Friedrich Zelter. Dieser Druck liegt den fol- Strophenform gebildet, die eine Verdopplung
genden Ausführungen zugrunde (nach MA 4.1, des gleichfalls sehr beliebten Vierzeilers aus
S.872-874). Für die späteren Werkausgaben trochäischen Vierhebern mit Kreuzreim und
wurde sie nur geringfügig verändert; in den abwechselnd weiblicher und männlicher Ka-
Ausgaben folgt das Gedicht jedoch stets auf die denz darstellt; die mögliche Differenzierung
Ballade Die Braut von Corinth, die unmittel- der beiden Vierzeiler wird von G. in Der Gott
bar vor Der Gott und die Bajadere entstanden und die Bajadere durchaus genutzt, allerdings
und gleichfalls im Musen-Almanach für das nicht streng durchgeführt. Der achtzeiligen
Jahr 1798, allerdings noch räumlich getrennt, Strophenform fügt G. drei Verszeilen an; sie
veröffentlicht worden war. Beide Gedichte, die sind gleichfalls vierhebig, jedoch durchweg
als die beiden bedeutendsten der 1797 ent- mit zweisilbigen Senkungen versehen und also
standenen Balladen G.s bezeichnet werden daktylisch, und sie beginnen - von der vierten
dürfen, sind formal und gehaltlich eng mitein- Strophe abgesehen - mit einem Auftakt. Die
anderverwandt. ersten heiden dieser Zeilen sind paargereimt
Im Untertitel wird die Ballade Indische Le- und enden mit weiblicher Kadenz, die dritte
gende genannt. G. hat sich bereits früh für schließt mit männlicher Kadenz und nimmt
indische Kultur und Literatur interessiert; in den entsprechenden Reim des vorangehenden
dem Aufsatz Bedeutende Fö"rdernis durch ein Vierzeilers auf. Der metrisch und rhythmisch
einziges geistreiches Wort von 1823 nennt er vom Vorangehenden deutlich unterschiedene
u.a. die Ballade Der Gott und die Bajadere als Dreizeiler, dem ein refrainartiger Charakter
ein Beispiel dafür, daß er manchen Stoff lange zukommt, wird so an den ersten Teil rück-
mit sich herumgetragen habe, ehe er ihn ge- gebunden. Die durch die Reimbindung und
staltete (WA II, 11, S.60), und so sind Anre- durch den metrischen und rhythmischen
gungen aus verschiedenen Quellen denkbar. Wechsel bewirkte Spannungssteigerung zum
Hauptquelle dürfte jedoch die 1783 in deut- Ende der Strophe hat in allen neun Strophen
scher Übersetzung erschienene Reisebeschrei- ihre inhaltliche Entsprechung; durchweg bie-
bung Reise nach Ostindien und China [. . .J ten die drei letzten Zeilen eine Steigerung des
vom Jahr 1774 bis 1781 von Pierre Sonnerat Erzählten. In der vierten Strophe sind die ab-
(1749-1814) sein, in der die Legende vom schließenden drei Zeilen durch ihre Auftakt-
Gott, der die Nacht mit einem Tempelmädchen losigkeit besonders hervorgehoben. Sie bilden
292 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

gleichzeitig einen Wendepunkt im erzählten den Gedichten, zur Klassik der 90er Jahre
Geschehen; in ihnen wird der Entschluß des passe; dabei haben häufig ein verengter, auf
Gottes berichtet, die Bajadere zu prüfen, und die Beziehung zur Antike fixierter Klassikbe-
es werden die im folgenden erzählten Statio- griff und eine gleichfalls restringierte Balla-
nen der Prüfung vorweggenommen: die »Lust« dendefinition den Blick auf Besonderheit und
der Liebe, das »Entsetzen« über den Tod des Qualität beider Texte verstellt. Auch stand we-
Geliebten und die »Pein« des Flammentodes niger die Auseinandersetzung mit dem Text als
(V. 44). Das in dieser komplexen lyrischen vielmehr die Einordnung der Balladen in grö-
Fonn dargestellte Geschehen ist weitgehend ßere, literatur- und geistesgeschichtliche oder
Erzählung; der größte Teil der Ballade ist Er- gattungstheoretische Zusammenhänge im Vor-
zählerbericht. Durch die Wahl des Präsens im dergrund. In jüngerer Zeit hat die Differenz
Erzählerbericht allerdings und im dramati- der Geschlechterrollen in der Prüfung der Ba-
schen Mittel der Figurenrede, als Dialog zwi- jadere durch den - männlichen - Gott einige
schen Gott und Bajadere, als Rede der Baja- Aufmerksamkeit gefunden. Davon spricht
dere oder der Priester, wird das Dargestellte schon Bertolt Brecht in seinem Sonett Über
vergegenwärtigt und gleichsam unmittelbar Goethes Gedicht ,Der Gott und die Bajadere<
vorgestellt; nicht zuletzt in den daktylischen von 1938, dessen erste Strophe lautet: »0 bitt-
Dreizeilern ist solche Unmittelbarkeit immer rer Argwohn unsrer Mahadös / Die Huren
wieder gestaltet. So ist Der Gott und die Baja- möchten in den Freudenhäusern / Wenn sie
dere auch ein gelungenes Beispiel für die Mi- die vorgeschriebne Wonne äußern / Nicht ehr-
schung der »drei Grundarten der Poesie« lich sein. Das wäre aber bös« (Brecht 1988,
(MA 13.1, S.505), die nach G.s Auffassung S.272). G. stelle zwar, schreibt Brecht in ei-
zentrales Kennzeichen der Ballade ist. nem Selbstkommentar, in Der Gott und die
Bei den Zeitgenossen fanden Der Gott und Bajadere »die freie Vereinigung von Liebenden
die Bajadere und Die Braut von Corinth, die in als etwas Göttliches, d.h. Schönes und Natür-
den Zeugnissen fast immer zusammen ge- liches« dar, mit seinem eigenen Gedicht aber
nannt werden, eine durchaus geteilte Auf- melde er »einen Einspruch an gegen das Opfer,
nahme. Während die einen, etwa Wilhelm von das hier verlangt wird, bevor der Preis zuer-
Humboldt, die hohe künstlerische Qualität teilt werden soll« (Brecht 1993, S. 453).
lobten, stießen bei anderen die religionskriti- Die Ballade erzählt einen Mythos; er wird,
sche und antichristliehe Haltung beider Ge- worauf Hartmut Laufhütte aufmerksam ge-
dichte und vor allem die Verknüpfung dieser macht hat, vom Erzähler mit priesterlicher At-
Kritik, die in der Braut von Corinth als ra- titüde und dem Anspruch auf mythische Ver-
dikale Anklage, in Der Gott und die Bajadere bindlichkeit vorgetragen. Damit ist eine iro-
eher versteckt und unpolemisch vorgetragen nisch-spielerische Distanz gesetzt, die aller-
wird, mit Erotik und Sexualität auf Abwehr dings den Ernst des Dargestellten keineswegs
und Ablehnung. So schreibt z.B. Herder am in Zweifel stellt und vor allem einen kritisch-
5.8. 1797 an Karl Ludwig von Knebel, in die- umwertenden Umgang mit christlichen Tradi-
sen beiden Balladen G.s spiele »Priapus eine tionen und Glaubensvorstellungen möglich
grosse Rolle, einmal als Gott mit einer Baja- macht. Die Anspielung auf die Menschwer-
dere, so daß sie ihn Morgens an ihrer Seite dung Christi am Beginn der Ballade ist deut-
todt findet; das zweite Mal als ein Heidenjüng- lich; zugleich jedoch gehören zum Menschsein
ling mit seiner christlichen Braut, die als Ge- des Gottes Liebe und Sexualität. Weiter wird
spenst zu ihm kommt und die er, eine kalte in der Figur der Bajadere auf Maria Magda-
Leiche ohne Herz, zum wannen Leben priapi- lena, die große Sünderin des Neuen Testa-
siret - das sind Heldenballaden !«. In der For- ments, angespielt; die Himmelfahrt am Schluß
schung wurde immer wieder die Frage disku- aber ist - gegen das Zitat aus dem Lukas-
tiert, ob und wie die Gattung der Ballade, zu- Evangelium in der drittletzten Zeile - durch-
dem in solcher Ausprägung wie in diesen bei- aus unchristlich: Denn nicht durch Reue oder
Der Zauberlehrling 293

Buße, sondern wegen ihrer Liebe wird die


Bajadere in den Himmel erhoben. Diese Liebe
Der Zauberlehrling
bewährt die Bajadere insbesondere auch gegen
die vom Chor der Priester reklamierte
»Pflicht« cv.81 und 85) und also gegen sozial Die Ballade Der Zauberlehrling ist Anfang Juli
gesetzte Nonnen. Die Ballade wird so, weit 1797 entstanden; aus der Entstehungszeit gibt
über die Religionskritik hinaus, zur Darstel- es keine handschriftliche Überlieferung. Erst-
lung sich bewährender Menschlichkeit; zu ihr mals gedruckt wurde das Gedicht im bereits
aber gehört Sexualität, »des Lagers vergnüg- Ende 1797 erschienenen Musen-Almanach für
liche Feier« cv.
53), die hier ihre göttliche Le- das Jahr 1798 von Schiller; dieser Druck liegt
gitimation erhält. Humanität schließt die An- den folgenden Ausführungen zugrunde (nach
erkennung von Sinnlichkeit und Sexualität MA 4.1, S.874). Für die späteren Drucke
ein; deren Verleugnung ist eine Vergewalti- wurde es nur geringfügig verändert. Das Motiv
gung der Natur des Menschen. Darin auch fü- des Zauberers, der der Geister nicht mehr
gen sich Der Gott und die Bajadere und Die Herr wird, weil er das Zauberwort vergessen
Braut von Corinth in das Programm der Klas- hat, ist weit verbreitet; G. selbst verwendete
sik ein, sind Gestaltungen klassischer Grund- es, in durchaus ernstem Kontext, bereits in
überzeugungen G.s in einer nicht-antiken Gat- Wilhelm Meisters Theatralischer Sendung und
tung. Daß der Darstellung solcher Mensch- dann im neunten Kapitel des dritten Buches
lichkeit allerdings ein männlich dominiertes von Wilhelm Meisters Lehrjahren. Als beson-
Geschlechterverhältnis eingeschrieben ist, dere Quelle für den Zauberlehrling gilt eine
verweist auf die immanenten Widersprüche Episode aus der Satire Der Lügenfreund und
klassischer Humanität. der Ungläubige des griechischen Autors Lu-
kianos (um 120-185), die G. aus der 1788 er-
schienenen Übersetzung Christoph Martin
Literatur: Wielands kannte. Dort erzählt Eukrates von
Brecht, Bertolt: Werke. Hg. von Werner Hecht u.a., einem Zauberer, der Gegenstände wie etwa
Bd. 11: Gedichte 1. Berlin u.a. 1988. - Ders.: Bd. einen »Besen« oder einen »Stößel aus einem
22.1: Schriften 2. Berlin u.a. 1995, S.455. - KOM- hölzernen Mörser« in einen »Bedienten« ver-
MERELL, S. 564-571. - Laufhütte, Hartmut: Fonnu- wandeln konnte. Eukrates versucht dies auch,
lierungshilfe für Haustyrannen? Goethe: Der Gott läßt den verwandelten »Stößel« Wasser holen,
und die Bajadere. In: Gedichte und Interpretation.
kann ihn aber nicht zurückverwandeln; als er
Bd. 5: Klassik und Romantik. Hg. von Wulf Sege-
brecht. Stuttgart 1984, S. 114-145. - Leitzmann, Al- den Stößel »mitten entzwey« haut, hat er »für
bert (Hg.): Die Quellen von Schillers und Goethes Einen Wasserträger nur ihrer zwey«. Endlich
Balladen. Bonn 1911. - Liebmann, Uta: .Gehorsam< hilft der Zauberer, und Eukrates entflieht un-
und .Sklavendienste<: Komplementarität der Ge- erkannt (Lukian von Samosata, S. 44f.).
schlechterrollen in Goethes Ballade Der Gott und die G.s Umsetzung der Erzählung in die Ballade
Bajadere. In: Monatshefte. 76 (1984), H. 2, S. 51-44.
hat, bereits bei den Zeitgenossen, mannigfa-
- Mecklenburg, Norbert: Balladen der Klassik. In:
Müller-Seidel, Walter: Balladenforschung. König- che und verschiedenartige Auslegungen ge-
stein (Ts.) 1980, S. 187-205. - Richter, Elise: Eine funden; sie wurde auf den Streit um die Xenien
neue Quelle zu Goethes Der Gott und die Bajadere. bezogen, dann auf die Französische Revolu-
In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen. tion und deren Folgen, später, im 19. und 20.
Bd.161 (1952),S.166-172.-Wright,Elizabeth:Am- Jh., auf andere politische Sachverhalte sowie
biguity and ambivalence: structure in Goethe's Die
vor allem auf die Beziehung der Menschen zu
Braut von Karinth and Der Gott und die Bajadere.
In: PEGS. 51 (1981), S. 114-152. Wissenschaft und Technik. Zweifellos erlaubt
der Zauberlehrling solch unterschiedliche Be-
Reiner Wild züge; die mannigfaltigen Möglichkeiten der
Bezugnahme zeigen sich nicht zuletzt darin,
daß die beiden Verse »Die ich rief die Geister /
294 Lyrik der klassischen Zeit. 1787-1806

Werd ich nun nicht los« geradezu sprichwört- Lehrlings ihren adäquaten Ausdruck, wobei
lichen Charakter erhalten haben und dies auch ein leichter Hauch von Komik in der Darstel-
bereits bei den Zeitgenossen. Als wichtiges lung nicht zu übersehen ist. Erst in den Worten
Thema der Ballade allerdings läßt sich das des Meisters in der abschließenden Strophe
Verhältnis von Meisterschaft und Dilettantis- finden Aufregung und Verzweiflung ihre Be-
mus bestimmen und mithin ein Thema, das ruhigung; diese Worte und darin das Wort
um die Entstehungszeit der Ballade eine nicht Meister selbst bilden den Schluß der Ballade.
geringe Rolle im BriefWechsel zwischen G. Das in ihr erzählte Geschehen wird in drama-
und Schiller spielte. tischer Vergegenwärtigung präsentiert. Die
Zugleich ist der Zauberlehrling, der wie die Ballade besteht allein aus Figurenrede; mit
anderen Balladen des Balladenjahres auch als der einen Ausnahme der Schlußstrophe des
ein exemplarischer Text dieser Gattung ge- Meisters spricht durchweg der Zauberlehr-
dacht war, eine Demonstration poetischer ling, wobei das Verhältnis von Meisterschaft
Meisterschaft. Bemerkenswert kunstvoll ist und Dilettantismus, oder angemaßter Meister-
zunächst die Strophenform. Kennzeichnend schaft, sich auch im Kontrast der lapidaren
ist der Wechsel zwischen acht- und sechszei- Kürze der Meisterworte mit dem Wortschwall
liger Strophe. Dabei ist die achtzeilige Strophe des Lehrlings zeigt. Und in der Figurenrede
eine Kombination zweier in der deutschen Ly- des Lehrlings sind zudem erzählender Bericht
rik häufiger Vierzeiler, des beliebten, auch von des Geschehens und beschwörende oder auf-
G. oft benützten trochäischen Vierhebers mit geregte Reaktion darauf auf die beiden Stro-
Kreuzreim und weiblicher Kadenz und der vor phenformen verteilt, wenn auch nicht in allzu
allem in volkstümlichen Traditionen verbrei- strenger Durchführung.
teten Liedstrophe des trochäischen Dreihe- So bietet die Ballade nicht zuletzt ein Mu-
bers mit Kreuzreim und abwechselnd weib- sterbeispiel für die Gattungsbestimmung, die
licher und männlicher Kadenz. Zur sechszei- G. und Schiller im gemeinsamen Briefge-
ligen Strophe - einer eigenen Erfindung G.s - spräch erarbeiteten und die G. später in seine
gehört gleichfalls ein Vierzeiler, bestehend aus berühmt gewordene Definition von der Bal-
zweihebigen trochäischen Versen mit weibli- lade als dem »lebendigen Ur-Ei« der Dichtung
cher Kadenz, dem ein wiederum trochäischer faßte, bei der sich der Dichter "aller drei
und weiblich endender Zweizeiler mit nun al- Grundarten der Poesie« bediene, »lyrisch,
lerdings vier Hebungen angeschlossen ist; episch, dramatisch beginnen und, nach Be-
durch das Reimschema abbcac, das die beiden lieben die Formen wechselnd, fortfahren«
Schlußzeilen mit der ersten und der vierten könne (WAl, 41.1, S. 223f.).
Zeile verbindet, sind die beiden Teile der Stro-
phe miteinander verknüpft. In Verbindung mit
dem trochäischen Rhythmus vermittelt die Literatur:
stete Abnahme der Hebungen in den drei auf-
einanderfolgenden Vierzeilern den Eindruck Christiansen, Annemarie: Der Zauberlehrling von
Johann Wolfgang von Goethe. In: Hotz, Karl (Hg.):
einer zunehmenden und unaufhaltsamen Be- Gedichte aus sieben Jahrhunderten. Interpretation.
schleunigung, die in der Vierhebigkeit des Bamberg 1987, S.39-46. - Lukian von Samasota:
abschließenden Zweizeilers, auf den Anfang Lügengeschichten und Dialoge. Aus dem Griechi-
der Strophenkombination zurückverweisend, schen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläute-
gleichsam wieder aufgefangen wird. In dieser rungen versehen von Christoph Martin Wieland.
kunstvollen lyrischen Form erhalten die zu- Närdlingen 1985.
nehmende Aufregung und Verzweiflung des Reiner Wild
Der Zauberlehrling 295

Titelblatt (Erstdruck des »Zauberlehrling<<)


296

Althertum in den Rhein- und Maingegenden


Von den Sonetten zum (ab 1816) und Zur Naturwissenschaft über-
West-östlichen Divan. haupt, besonders zur Morphologie (ab 1817)
sowie der zwanzigbändigen Neuausgabe sei-
1806-1819 ner Werke (1815-1819).
Gleichwohl war dies die Lebensphase von
G.s umfangreichster Gedichtproduktion: in
ihr entstand fast ein Drittel seiner Lyrik. Wäh-
Gesellige Poesie rend aber frühere Epochen seines lyrischen
Schaffens zumeist durch deutliche inhaltliche
Erschienen G. im Rückblick die »zwanzig und formale Zäsuren markiert waren, sind
Jahre« seit seiner Italienreise (1786-1805) als hier eher gleitende Übergänge - womöglich
»Eine Reihe völlig schön / Wie die Zeit der schon seit der Rückkehr von der Italienreise
Barmekiden« (FA 1,3.1, S. 11), so gehörten die (so Müller-Seidel, S.264-269) - zu beobach-
folgenden anderthalb Jahrzehnte zu den pro- ten. Waren antikisierende Formen wie Elegien
blematischsten seiner Biographie: Politisch und Epigramme schon um die Jahrhundert-
waren sie geprägt durch den Zusammenbruch wende - und nicht etwa erst nach Schillers Tod
des Heiligen Römischen Reichs deutscher Na- - zugunsten von zumeist strophischen Reim-
tion, das Übergreifen der Napoleonischen gedichten zurückgetreten, so blieben diese,
Kriege aufG.s unmittelbaren Lebenskreis und die sich stetig vermehrenden Widmungs- und
schließlich die Suche nach einer neuen Frie- Stammbuchverse und die ab 1815 hervortre-
densordnung. Privat durch seinen Eintritt ins tenden Serien von Spruchgedichten, auch über
siebente Lebensjahrzehnt, dem einerseits der den West-östlichen Divan hinaus die Haupt-
Tod Schillers (1805) und der seiner Mutter formen seiner Alterslyrik: »Es sind fast alles
(1808), andererseits die Eheschließung mit Gelegenheitsgedichte an Bekannte, Fürsten,
seiner langjährigen Lebensgefährtin Chri- Badebekanntschaften; konventionell, freund-
stiane Vulpius (1806) und eine ganze Reihe von lich, liebenswürdig; oder es sind Sprüche,
erotischen Eskapaden mit erheblich jüngeren kurze kleine Betrachtungen zum Weltlauf,
Frauen (Silvie von Ziegesar, Amalie von Le- dem das Ich sich selbstbewußt entgegensetzt«
vetzow, Bettine Brentano, Minna Herzlieb) (Trunz, S. 147). - Andererseits fehlt es in die-
vorausgingen und das mit dem Tod Christianes ser Zwischenphase keineswegs an Nachzüg-
(1816) und dem definitiven Verzicht auf ein lern der in der Zusammenarbeit mit Schiller
Wiedersehen mit dem Modell der >Suleika< besonders gepflegten Formen, wie dem gro-
des West-östlichen Divan, Marianne von Wil- ßen Hexametergedicht Metamorphose der
lerner, endete. Schriftstellerisch waren sie ge- Tiere (1806), den Balladen Der getreue Eckart,
kennzeichnet durch das Zurücktreten seiner Der Totentanz, Die wandlende Glocke (1813)
dichterischen Produktivität nach dem Ab- und Ballade (1813/1816) sowie den Stanzen
schluß des Faust I (1806) und der Wahlver- einer Reihe von offiziellen Widmungsgedich-
wandtschaften (1809) und nach dem Abbruch ten (1808-1816), des Tagebuchs (1810) und
der Arbeit an der Pandora (1808) und an einer der Urworte. Orphisch (1817).
ersten Version der Wanderjahre (1807-1812) Tatsächlich gibt es in G.s Lyrik dieser Peri-
zugunsten naturwissenschaftlicher, autobio- ode nur zwei grundlegende formale Neuerun-
graphischer und redaktioneller Projekte: der gen: das Sonett und das Ghasel. Wie G. die
Farbenlehre (1810) und ihrer Nachträge; der italienische Strophenform der Stanze (Otta-
autobiographischen Schriften Aus meinem Le- verime) in den 70er Jahren von Christoph
ben. Dichtung und Wahrheit (ab 1809) und Martin Wie land und Wilhelm Heinse über-
Italienische Reise (ab 1813) und der >Biogra- nommen hatte, so nun das von Dante und Pe-
phischen Skizze< Philipp Hackert (1811); trarca geprägte Sonett in einer Art Ansteckung
schließlich der Zeitschriften Über Kunst und durch die romantische »Sonettenwut« (FA I, 2,
Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819 297

S.256), von deren Inkubationszeit vor allem sich in mindestens der Hälfte aller Divan-Ge-
die um 1802 verfaßten Gedichte Das Sonett dichte; ja mehr als ein Viertel von ihnen zeigt
und Natur und Kunst sie scheinen sich zu flie- sie miteinander verbunden in Gestalt von vier-
hen (ebd., S. 408f. u. S. 838f.; vgl. auch ebd., zeiligen Reimstrophen aus trochäischen Vier-
S.752ff. u. FA I, 6, S.332) zeugen, die aber hebern, wie sie vor allem für das Buch Suleika
ihren Höhepunkt in dem 1807/08 verfaßten und das Buch des Paradieses charakteristisch
Zyklus der Sonette fand und schließlich 1810 sind (vgl. Helm). War das zögernde (Wieder-)
und 1812/13 mit drei Widmungsgedichten in Aufkommen ähnlicher Reimgedichte bereits
Sonettform (FA I, 2, S.431, S.579 u. S.574) um die Jahrhundertwende zu beobachten, so
endete. Wie er sich allerdings selbst auf dem findet sich bezeichnenderweise ihre kanoni-
Höhepunkt seines Klassizismus völlig der sche Form erstmals um 1806 in den beiden
Odenstrophen enthalten hatte, so ist G. den Widmungsgedichten An Silvien: »Wenn die
Frühromantikern - mit Ausnahme der Terzi- Zweige Wurzeln schlagen, / Wachsen, grünen,
nen von Im emsten Beinhaus war's und des Früchte tragen; / Möchtest du dem Angeden-
Eingangsmonologs des Faust 11 - auch nicht in ken / Deines Freunds ein Lächeln schenken«
ihrer Adaptation komplizierterer Vers- und (FA I, 2, S. 341). Und Derselben: »Und wenn
Strophenformen aus den romanischen Lite- sie zuletzt erfrieren, / Weil man sie nicht wohl
raturen gefolgt. verschanzet, / Will sich's alsobald gebühren, /
Die orientalische Versart des Ghasels hat Daß man hoffend neue pflanzet« (ebd.,
G. 1814 durch Joseph von Hammers (später: S.342). Ein Genre, das nach dem West-öst-
Hammer-Purgstall) Übersetzung des Iizwän lichen Divan schließlich einen Großteil von
des persischen Lyrikers Hafiz kennengelernt G.s später Lyrik ausmachen wird.
und sie in einigen Gedichten und Gedichtent- Damit formal eng verwandt, allerdings zu-
würfen seines West-östlichen Divan frei - d.h. meist kürzer und metrisch unregelmäßiger ge-
ohne eröffnendes Reimpaar und zu Kreuzrei- fügt, ist der mit den später in den Zahmen
men tendierend - nachgebildet: Nachbildung, Xenien publizierten Stammbuchversen Wär'
An Schach Sedschan und seines Gleichen, nicht das Auge sonnenhaft und Der Griechen
Hö"chste Gunst, In tausend Formen magst du Mythentum und Fabel (ebd., S.645f. u.
dich verstecken, Ob der Koran von Ewigkeit S. 1182) bis ins Jahr 1805 zurückverfolgbare
sey?, Sie haben wegen der Trunkenheit, Wo G.sche Gedichttyp der Reimsprüche, der in
man mir Guts erzeigt uberall, Hafts dir sich der Sammlung von 1815 bereits die Rubriken
gleich zu stellen, Sprich! Unter welchem Him- Gott, Gemüt und Welt, Sprichwörtliches und
melszeichen und Mit der Teutschen Freund- (zumindest teilweise) Epigrammatisch (ebd.,
schaft (FA I, 3.1, S.32, S.47f., S.101f., S. 379-426) füllt und der im Buch der Sprüche
S. 104f., S. 107f., S.597-600, S.605f. u. des West-östlichen Divans den Gegenpol zu
S. 610). Regelrechte Ghaselen, wie nach ihm den Liedern des Buchs Suleika bildet. Später
besonders Friedrich Rückert und August von finden sich diese lakonisch-beiläufigen Tages-
Platen, hat G. nie geschrieben; ja selbst in produkte, die immerhin fast ein Sechstel der
lockerer Abwandlung hat er sie seit Anfang G.schen Lyrik ausmachen, vor allem in den ab
1816 nicht mehr verwendet. 1820 publizierten Zahmen Xenien gesammelt,
Bilden solche ghaselenartigen Gedichte deren Titel-Anspielung auf die gemeinsam mit
selbst im West-östlichen Divan eine seltene Schiller verfaßten epigrammatischen Xenien
Ausnahme, so dominiert in diesem vielmehr (1796) neben dem ihnen gemeinsamen
ein Gedichttyp, wie er bereits für G.s Jugend- Spruchförmigen zugleich ihre Differenz ak-
lyrik charakteristisch war: vierhebige Verse in zentuiert: »Wir sind vielleicht zu antik gewe-
alternierendem, vorzugsweise auftaktlosem sen, / Nun wollen wir es moderner lesen«
Metrum, zumeist durch Paar- oder Kreuzreim (FA I, 2, S.630). Ihre Form wird man aller-
verbunden und in vierzeiligen Strophen orga- dings schwerlich als >modem< bezeichnen
nisiert. Jedes dieser Charakteristika findet können, gab es für sie doch kaum irgendwel-
298 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

che zeitgenössischen Pendants. Vielmehr hatte Vielzahl von Stammbuch-, Widmungs- und an-
sich G. zu ihr - zunächst wohl im Zusammen- deren Gelegenheitsgedichten; sei es als re-
hang mit seinen, romantische Impulse aufneh- plikhafte Bekräftigung oder Infragestellung
menden, Vorarbeiten zu einem Lyrischen gängiger Überzeugungen und Normen in den
Volksbuch für die Deutschen ryYA I, 42.2, Spruchsammlungen. Ihren >Sitz im Leben<
S.413-417) - vor allem durch seine 1807 bis hatten solche Formen in der Geselligkeitskul-
1813 nachweisbare Lektüre altdeutscher, spä- tur jener Zeit, wie etwa in G.s »Mittwochs-
ter auch orientalischer Sprichwort-Sammlun- kränzchen« (1801102), für das einige Der Ge-
gen anregen lassen: »Diese Worte sind nicht selligkeit gewidmete Lieder (FA I, 2, S. 70-72,
alle in Sachsen, / Noch auf meinem eignen S.79f. u. S.83f.) in G.s und Wielands Ta-
Mist gewachsen, / Doch, was für Samen die schenbuch auf das Jahr 1804 verfaßt worden
Fremde bringt, / Erzog ich im Lande gut ge- waren, die dann in der Sammlung von 1815
düngt« (FA 1,2, S. 406f.). Ja, es läßt sich Wort mit den inzwischen entstandenen Strophenge-
für Wort auf solche »Sprüchwörter« beziehen, dichten vanitas! vanitatum vanitas!, Rechen-
die »statt vieles Hin- und Herfackelns, den schaft, Ergo bibamus, Die Lustigen von Wei-
Nagel gleich auf den Kopf treffen«, was G. über mar, Gewohnt, getan, OJfne Tafel, Kriegs-
seine frühe Rezeption Hans Sachs' bemerkt: glück, Die Weisen und die Leute und einigen
»Ein didaktischer Realism sagte uns zu, und anderen unter der Rubrik Gesellige Lieder
wir benutzten den leichten Rhythmus, den sich (ebd., S. 70-102) vereinigt wurden.
bequem anbietenden Reim bei manchen Gele-
genheiten. Es schien diese Art so bequem zur
Poesie des Tages und deren bedurften wir jede
Stunde« (Dichtung und Wahrheit; FA I, 14, Dialogische Lyrik
S.276 u. S.779). Mit der praktischen Kon-
sequenz: »Es schnurrt mein Tagebuch / Am Doch über solche Geselligkeit hinaus ist G.s
Bratenwender: / Nichts schreibt sich leichter Lyrik gerade in dieser Periode in hohem Maße
voll / Als ein Kalender« (FA I, 2, S. 649). Aus dialogisch orientiert. Dies ist keineswegs eine
dieser journalartigen Offenheit für die >Poesie ganz neue Tendenz; denn beginnend mit dem
des Tages<, verbunden mit der Fähigkeit, »von großen lugendgedicht Der "Wandrer (FA I, 1,
dreytausend Jahren / Sich [ ... ] Rechenschaft S.208-214) gibt es bereits früher eine ganze
zu geben« (FA 1,3.1, S. 59), resultiert die nicht Anzahl von Gedichten in Dialogform : einer-
harmonisierbare »Vielstimmigkeit der Goe- seits polemische, wie Kenner und Künstler
theschen Spruchlyrik«. Sie »präsentiert ein (ebd., S.217f.), die nun in den Dialogen zwi-
breites Spektrum subjektiver Haltungen und schen »A« und »B« in der Sammlung Epigram-
Einstellungen, von ruhiger Besima:lichkeit bis matisch (FA I, 2, S.409f., S.418f. u. S.426)
zum bitteren Sarkasmus, von heit'el'er Gelas- oder des Dichters mit »Anecdotenjägern«
senheit bis zum bissigen Ingrimm, vom wohl- (FAI, 3.1, S.41f.) und anderen ungenannten
wollenden Zuspruch bis zur Provokation. Widersachern im West-östlichen Divan, beson-
Duldsamkeit wechselt mit ätzender Mitwelt- ders im Buch des Unmuths, eine Fortsetzung
und Zeitverachtung, bedachtsame, erbauliche und zugleich ein Ende finden; andererseits
Sprüche, die sich als Lebenshilfe anbieten, erotische Dialoge zwischen »Edelknabe« und
stehen unter solchen, die von radikaler Nega- »Müllerin« (FA I, 1, S. 671 f.) oder erweitert
tivität geprägt sind« (Preisendanz 1991, zwischen »Jüngling«, »Zigeunerin«, »Dichter«
S.80). und »Müllerin« (ebd., S.677-679) oder auch
Was beide Gedichttypen außer ihren vers- einfach zwischen» Er« und »Sie« (ebd., S. 615 f.
technischen Übereinstimmungen miteinander u. S.623-631; FA I, 2, S.129-131 u. S.409).
verbindet, ist vor allem ihr >geselliger< Rede- Doch neu an den ursprünglich in ein Dialogge-
gestus: sei es als Adressierung im Rahmen der dicht zwischen »Mädchen« und »Dichter«
gesellschaftlichen Konventionen, wie in einer mündenden Sonetten (FA I, 2, S.250-260) ist
Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819 299

nun, daß nicht nur ein Gedicht - Das Mädchen Liebenden gewechselten Chiffembriefe: so ist
spricht (IV) - ganz aus weiblicher Sicht formu- das Divan-Gedicht Dir zu eriif.fnen (FA I, 3.1,
liert ist, sondern daß dieses noch durch eine S.214) nur die stilistische Bearbeitung und
Folge von Gedichten übertroffen wird, die als einheitliche Versifikation der ersten Hälfte von
versifizierte Briefe der Geliebten stilisiert Mariannes Chiffembrief vom 18.10. 1815
sind: Die Liebende schreibt, Die Liebende (ebd., S. 600f.), der - abgesehen vom Datum
abermals und Sie kann nicht enden (VIII-X). und der arabischen Unterschrift Sulaiha - aus-
Diese Tendenz kulminiert und endet zu- schließlich aus verschlüsselten Zitaten aus
gleich im West-östlichen Divan, in dem es Hammers Hafis-Übersetzung (FA I, 3.2,
nicht nur zahlreiche Dialoge, etwa zwischen S. 1746f.) besteht.
dem Dichter und Hafis oder dem Schenken Noch nicht miteinander vermittelt, ist sol-
oder der Houri und vor allem zwischen Hatem che doppelte Intertextualität bereits in G.s So-
und Suleika, sowie eine Anzahl von Gedichten netten zu beobachten, die einerseits direkt auf
aus der Sicht des Schenken und Suleikas gibt, das Vorbild Petrarca verweisen - so das Sonett
sondern wo Suleika selbst (in dem Dialogge- XVI aufPetrarcas Sonett I 3 -, andererseits aus
dicht Kaum dqß ich dich wieder habe; FA I, 3.1, Briefzitaten Bettine Brentanos gespeist sind
S.91f.) als Dichterin auftritt, von der Hatem (vgl. FA I, 2, S. 979-986). Nach dem West-öst-
zu rühmen weiß: »Selbstgefühltes Lied ent- lichen Divan aber zeigt G.s Lyrik nur noch
quillet, / Selbstgedichtetes dem Mund. / / Von selten ein solches kunstvoll-dialogisches In-
euch Dichterinnen allen / Ist ihr eben keine eins von literarischen und persönlichen An-
gleich« (ebd., S. 87). Doch die Dialogizität des spielungen. Statt dessen äußert sich die >Ge-
Buchs Suleika betrifft nicht nur den formalen selligkeit< seiner Alterslyrik zunehmend in
Aspekt der lyrischen Zwiesprache zwischen quasi-improvisatorischen Gelegenheitsge-
Hatem und Suleika, sondern auch die funda- dichten - vergleichbar den mehr als die Hälfte
mentalere Dimension der Integration >frem- seiner Lyrik ausmachenden Vers de circon-
der Rede< (vgl. Bachtin). Zum einen dank sei- stance Stephane Mallarmes -, die ihre Her-
ner zahlreichen intertextuellen Bezüge zur ori- kunft aus der gerade durch seine vermeint-
entalischen Poesie - analog denen der Römi- liche Erlebnisdichtung obsolet gewordenen
schen Elegien zu Properz und Ovid, der Tradition der >Casualcarmina< zu Festen, Jubi-
Venezianischen Epigramme und der Xenien zu läen und anderen gesellschaftlichen Anlässen
Martial oder der Sonette zu Petrarca und sei- deutlich erkennen lassen.
nen Nachfolgern -, deretwegen G. ursprüng-
lich für den West-östlichen Divan den Titel
Versammlung deutscher Gedichte mit stetem
Bezug auf den Divan des persischen Saengers Gelegenheitsdichtung, »sich
Mahomed Schemseddin Hafts erwogen hatte
symbolisch auflösend«
(FA I, 3.1, S.457). Zum anderen, weil einige
der bedeutendsten Gedichte Suleikas - die
Lieder an den Ostwind und an den Westwind Die mit dem Abschluß des Faust Ibeginnende
(ebd., S. 93-96) und wohl auch Hochbeglückt und mit dem Erscheinen des West-östlichen
in deiner Liebe und Sag du hast wohl viel ge- Divan endende Lebensphase G.s war in jeder
dichtet? (ebd., S. 76 u. S. 79) - von deren rea- Hinsicht eine Übergangsperiode. Schillers
lem Vorbild, Marianne von Willemer, stam- Tod, das Erscheinen von Winckelmann und
men und von G. nur redigiert worden sind sein Jahrhundert und die Letzte Kunstausstel-
(v gl. ihre Briefe an Herman Grimm, 5.4. 1856 lung. 1805 (WA I, 36, S. 265-267) bedeuteten
u. 21.1. 1857). Was aber beide Spielarten eine tiefe Zäsur für das klassizistisch-pädago-
>fremder Rede< miteinander verbindet und die gische Programm der >Weimarischen Kunst-
Kohärenz von G.s und Mariannes lyrischer freunde <. Was nun begann, war eine zumeist
Diktion stiftet, das sind die zwischen beiden verdeckte Auseinandersetzung mit der in der
300 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

bildenden Kunst wie in der Literatur immer röthe« 1 [»Goethe«] - statt faktisch: »Hatern«
machtvolleren Romantik, die 1817 in dem - (V. 9/11) - jenes biographische Substrat des
von G. inspirierten - Pamphlet J.H. Meyers Rollenspiels von Hatem und Suleika in ein
Neu-deutsche religios-patriotische Kunst poetisches Faktum verwandelt, so geschieht
(WA I, 49.1, S.21-60) kulminierte. Doch G. dies in den Sonetten mit dem zunächst sekre-
verschloß sich keineswegs global vor den »bar- tierten Schluß sonett Charade: einem Rätsel-
barischen Avantagen« (WA I, 45, S. 177) der gedicht über den Namen »Herzlieb« (FA I, 2,
nach-antiken Kunst: dem Kölner Dom und an- S.260). Was verdeckte Bezüge auf andere
deren künstlerischen Zeugnissen des Mittel- Adressatinnen keineswegs ausschließt: indem
alters an Rhein und Main, der altniederländi- G. beispielsweise in den Sonetten ganze Brief-
schen und altdeutschen Malerei in Sulpiz passagen Bettine Brentanos zitiert und para-
Boissen'~es Heidelberger Sammlung, der phrasiert oder indem er in dem Divan-Gedicht
Edda, dem Nibelungenlied und anderen Wer- Geheimstes (FA I, 3.1, S.41f.) das Verbot der
ken der mittelhochdeutschen Literatur, Ca- Kaiserin Maria Ludovica von Österreich
m5es und Calderon, bis hin zu Zeitgenössi- (1787-1816), sie jemals wieder zu be dichten,
schem wie Caspar David Friedrichs und Phi- zugleich befolgt und durchbricht. Was aber die
lipp Otto Runges Bildern, der Volksliedsamm- dritte potentielle Adressatin der Sonette, die
lung Des Knaben Wunderhorn und Lord damals 22jährige Silvie von Ziegesar, angeht,
Byrons Dichtungen. So sind G.s Sonette und so eröffnen die ihr gewidmeten Verse (FA I, 2,
dann der West-östliche Divan durchaus als pro- S.341f.) die bald immer breiter anschwel-
duktive Reaktionen einerseits auf die frühro- lende Reihe von Einzelgedichten An Personen
mantisehe Begeisterung flir die italienische (in der Ausgabe letzter Hand: Inschriften,
Lyrik der frühen Neuzeit, andererseits auf den Denk- und Sendeblätter) , deren Spektrum ei-
Orientalismus der Hochromantik zu verste- nerseits durch die hochoffiziellen Huldigungs-
hen; ersteres freilich unter Absehung von der gedichte an Kaiser und Kaiserinnen Im Namen
artistischen Vielfalt jener romanischen Stro- der Bürgerschaft von Carlsbad (ebd.,
phenformen, letzteres in prononciertem Wi- S.429-441; vgl. Segebrecht, S.299-314), an-
derspruch zur Indien -Verherrlichung Fried- dererseits durch die ganz privaten - dem Pu-
rich Schlegels, Joseph Görres' und ihrer Mit- blikum als ,Silberhochzeits<-Gruß und als
streiter. Grabschrift flir Christiane unkenntlichen -
Zugleich waren beide Sammlungen aber Gedichte Gifunden und Den 6. Juni 1816
auch durch ganz private 'Gelegenheiten< mo- (FA 1,2, S. 20 u. S. 614) begrenzt wird.
tiviert. Denn wie ein Großteil des Buchs Su- Doch wie sich diese Spannweite seit dem
leika nicht nur durch Hammers Hafis-Über- West-östlichen Divan immer mehr zu heiter-
setzung, sondern auch durch G.s Liebesver- geselligen Kurzgedichten verengte, aus deren
hältnis zu Marianne von Willemer inspiriert Plateau allerdings die 1823/24 nach dem Ende
war, so waren auch die Sonette das Produkt von G.s letzter Badereise und seiner hoff-
eines sowohl dichterischen wie erotischen nungslosen Liebe zu Ulrike von Levetzow ver-
Wettstreits mit Zacharias Wemer, Johann Die- faßte Trilogie der Leidenschaft (ebd.,
derich Gries und Friedrich Wilhelm Riemer S. 456-462) als spätes Pendant zu den Sonetten
um die Gunst der achtzehnjährigen Pflege- und zum Buch Suleika einsam herausragt, so
tochter des Jenaer Verlegers Karl Friedrich hat G. seit der von ihm gemiedenen Flut pa-
Ernst Frommann, Minna Herzlieb, von der G. triotischer Lieder der Befreiungskriege keine
später gestand, daß er sie »einmal mehr als produktiven Anregungen mehr von der zeit-
billig geliebt« habe (an Christiane Vulpius, genössischen deutschen Poesie empfangen.
6.11. 1812; ähnlich an Carl Friedrich Zelter, Sein lyrisches Spätwerk steht fast so bezie-
15.1. 1813). Und wie er in dem Divan-Gedicht hungslos zu ihr wie die letzten Gedichte Höl-
Locken! haltet mich gifangen (FA I, 3.1, derlins, mit denen es - ungeachtet ihrer ge-
S. 87f.) mittels des virtuellen Reims »Morgen- gensätzlichen Adressiert- bzw. Nicht-Adres-
Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819 301

siertheit - die Tendenz zur Miniaturisierung seine genaue Kontrafaktur in einem entspre-
des friiheren Formen- und Themenschatzes chenden Vierzeiler (Verweile nicht und sei dir
gemein hat. selbst ein Traum) der Gruppe Sprichwörtlich
Dieser bis heute nur ganz selektiv wahr- (FA I, 2, S. 405); einer der Höhepunkte des
genommenen Alterslyrik G.s war der West-ost- Buchs Suleika, das Gedicht Wiedeifinden
liche Divan vorausgegangen, der nicht nur ein (FA I, 3.1, S. 96f.), kehrte in der Gruppe Gott
Sammelbecken seiner lyrischen Produktion und Welt der Sammlung von 1827wieder (FA I,
zwischen 1814 und 1819, sondern dariiber hin- 2, S. 490f.) und riickte damit in die Nachbar-
aus eine >Versammlung< - so die wörtliche schaft der anderen, von G. gelegentlich als
Bedeutung von arabisch-persisch diwän - sei- »sibyllinische Blätter« bezeichneten »Gedichte
nes poetischen Repertoires an der Schwelle über die Natur« (an Boisseree, 1.6. 1822) aus
des Greisenalters darstellt: anakreontische jener Epoche: Metamorphose der Tiere, Die
Reimgedichte und auf den Sturm und Drang Weisen und die Leute, Proa:mion, Entoptische
zuriickgehende freie Rhythmen, ghasel artige Farben, Herkömmlich, Epirrhema und Ante-
Formen und reimlos-trochäische Balladen, pirrhema, Was es gilt. Dem Chromatiker und
Dialoggedichte und monologische Reflexio- Allerdings. Dem Physiker, mit dem Zyklus Ur-
nen, gesellige Lieder und Spruchgedichte, worte. Orphisch als ihrem Höhepunkt, dem
dazu eine Fülle bis dahin unerprobter Formen bald darauf die großen weltanschaulichen Ge-
wie gleich im Eröffnungsgedicht Hegire (FA I, dichte Howard's Ehrengedächtnis und Eins
3.1, S. 12f.). Zu einer solchen umfassenden undAlles zur Seite traten (FA I, 2, S. 489-512).
>Versammlung< konnte der Divan werden, in- Ja, über diese hinaus gelang G. schließlich in
dem er nicht nur durch die überraschende Re- der Schlußszene des Faust II mittels »scharf
zeption der nahöstlichen Poesie und durch die umrissener christlich-kirchlicher Figuren und
seit Jahrzehnten erstmalige Rückkehr G.s in Vorstellungen« (zu Eckermann, 6.6. 1831) ein
die Landschaft seiner Jugend inspiriert war, anschaulich-konkretes Gegenstück zu dem so
sondern nicht minder durch die schon mehr lyrischen wie abstrakten Schluß des Divan-
als fünfjährige Arbeit an seiner Autobiogra- Gedichts Höheres und Höchstes (FA I, 3.1,
phie und speziell durch die intensive Wieder- S. 133): »Und nun dring ich aller Orten /
lektüre und Neuordnung seines gesamten lyri- Leichter durch die ewigen Kreise, / Die durch-
schen CEuvres bei der Vorbereitung der zwan- drungen sind vom Worte / Gottes rein-leben-
zigbändigen Ausgabe seiner Werke. Weiträu- digerweise. / / Ungehemmt mit heißem
mige Retrospektive und Aufbruch zu neuen Triebe / Läßt sich da kein Ende finden, / Bis
Ufern, intertextuelles Spiel und unmittelbare im Anschaun ewiger Liebe / Wir verschweben,
Erlebnispoesie halten sich so in einer span- wir verschwinden« (ebd., S. 133). Doch wie
nungsvollen Balance: und dies nicht nur im seine einzelnen Bücher gern in arabeskenhafte
Divan als ganzem, sondern auch in seinen ver- Schlußvignetten auslaufen, so endet auch der
schiedenen Büchern, ja selbst in einzelnen Ge- West-östliche Divan als ganzer nicht mit sol-
dichten, besonders des Buchs des Sängers und chem >Höheren und Höchsten<, sondern mit
des Buchs Suleika. einem graziösen Gute Nacht.' (ebd., S.136).
Doch zugleich war der West-östliche Divan, Und nach dessen Abschluß entstehen nicht nur
wie allein schon das Kapitel Künftiger Divan einige Spruchgedichte und Dedikationsverse,
(FA I, 3.1, S.214-228) in den Noten und Ab- darunter eine Reihe von charmanten Hudhud-
handlungen, aber auch seine späteren Erwei- Gedichten (ebd., S.612-614), sondern wäh-
terungen erkennen lassen, eine durchaus of- rend der nächstjährigen böhmischen Bade-
fene Sammlung: Noch vor seiner Publikation reise nochmals fünf, überwiegend heiter-dia-
erhielt der Spruch Dschelal-eddin Rumi logische Gedichte zum Buch des Paradieses
spricht (Verweilst du in der Welt, sie flieht als (ebd., S. 434 u. S. 437-443), zu denen G. - als
Traum) aus dem Buch der Betrachtungen Epilog zum West-östlichen Divan, doch zu-
(ebd., S.48) in der Werkausgabe von 1815 gleich als Vorblick auf seine späteste Lyrik -
502 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

gegenüber Zelter nicht ohne Verwunderung eine Anzahl jüngerer Schriftsteller wie Lud-
bemerkt: »Indessen sammeln sich wieder neue wig Tieck, Friedrich Schlegel und Novalis
Gedichte zum Divan. Diese Mohamedanische diese Form angeeignet, bis sie nach 1800 zu
Religion, Mythologie, Sitte geben Raum einer einer verbreiteten Mode wurde. Das Interesse
Poesie wie sie meinen Jahren ziemt. Unbe- am Sonett stand im Zusammenhang mit der
dingtes Ergeben in den unergründlichen Wil- Konzeption einer christlich-romantischen Tra-
len Gottes, heiterer Überblick des bewegli- dition seit dem Mittelalter als Gegensatz zur
chen, immer kreis- und spiralartig wiederkeh- klassisch-antiken. Romanische Formen wie
renden Erde-Treibens, Liebe, Neigung zwi- Stanzen, Terzinen, Ganzonen, Glossen und
schen zwei Welten schwebend, alles Reale eben auch Sonette wurden um 1800 in zuneh-
geläutert, sich symbolisch auflösend. Was will mendem Maße verwendet, ein solcher Ge-
der Großpapa weiter?« (an Zelter, 1.5. 1820). brauch zugleich aber auch von Autoren, die
So produktiv der Lyriker G. auch bis in seine einem klassizistischen Geschmack verbunden
letzten Lebensjahre blieb, einen weiteren >Di- waren, scharf angegriffen. Führend in diesem
van< hat er nicht mehr versammelt. Streit gegen die »romantische« Literatur
wurde Johann Heinrich Voß, der versuchte, G.
auf seine Seite zu ziehen.
Literatur: Als Reaktion auf August Wilhelm Schlegels
Helm, Karin: Goethes Verskunst im West-östlichen Gedichte (1800), die zahlreiche Sonette ent-
Divan. Diss. Göttingen 1955 (Masch.). - Kayser, hielten, hatte G. ein Sonett geschrieben, das
Wolfgang: Beobachtungen zur Verskunst des West- die Form mit der Form selbst zu kritisieren
östlichen Divans (1953). In: ders.: Die Vortragsreise. schien. Es endet mit dem auf das Sonett bezo-
Studien zur Literatur. Bern 1958, S. 149-168. - Mül- genen Verdikt: »Nur weiß ich hier mich nicht
ler-Seidel, Walter: Goethe und das Problem der Al-
terslyrik. In: Lazarowicz, KlauslWolfgang Krohn bequem zu betten, / Ich schneide sonst so gern
(Hg.): Unterscheidung und Bewahrung. Fs. Her- aus ganzem Holze, / Und müßte nun doch auch
mann Kunisch. Berlin 1961, S.259-276. - Preisen- mitunter leimen« (MA 6.1, S. 47).
danz, Wolfgang: Die Spruchform in der Lyrik des Veröffentlicht wurde dieses Sonett G.s zu-
alten Goethe und ihre Vorgeschichte seit Opitz. Hei- erst in der Gottaschen Werkausgabe von 1806
delberg 1952. - Ders.: Die Spruchform in der Lyrik und erhielt den Beifall von Voß. Friedrich
Goethes. In: GoetheJb. 108 (1991), S. 75-84. - Sege-
brecht, Wulf: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag Haug druckte es am 5.1. 1807 und Voß dann
zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. noch einmal am 8.5. 1808 im Morgenblattfor
Stuttgart 1977. - Trunz, Erich: Goethes späte Lyrik gebildete Stände ab. Zu diesem Zeitpunkt hatte
(1949). In: ders.: Ein Tag aus Goethes Leben und G. jedoch die Sonettform bereits für sich ent-
Werk. München 1990, S. 147-166. deckt, und zwar wesentlich durch die Anre-
Hendrik Birus gungen, die er von Zacharias Werner erfuhr,
der im Winter 1807/08 in Weimar und Jena zu
Gast war und G. Sonette vorlas, die diesen zu
eigener Produktion anregten. Auch G.s Ver-
trauter Friedrich Wilhelm Riemer beteiligte
sich damals am Schreiben von Sonetten. In
dieser Situation ist der Zyklus von siebzehn
Sonette Sonetten entstanden. Am 22.6. 1808 sandte G.
sechs Sonette mit teilweise von der Druck-
fassung abweichenden Überschriften aus
Mit seiner Sonettdichtung betrat G. kontrover- Karlsbad an Garl Friedrich Zelter nach Berlin.
ses literarisches Territorium. Seit der Wieder- Sie bilden in ihrer erzählerischen Abfolge ei-
entdeckung und Wiederbelebung der Sonett- nen in sich abgeschlossenen kleinen Zyklus: 1.
form durch Gottfried August Bürger und Au- Mächtiges Überraschen (I), 2. Freundliches Be-
gust Wilhelm Schlegel um 1790 hatten sich gegnen (11), 5. Wachsende Neigung (V), 4. Ge-
Sonette 303

wöhnung (III), 5. Entsagen (VI), 6. Jähe Tren- tatsächlich ein Geschenk an Wilhelmine Herz-
nung (VII). Der ganze Zyklus der fünfzehn lieb begleitet hat, ist eine mehrfach geäußerte,
Sonette wurde in der Sammlung von 1815 un- schöne, wenngleich unbewiesene Behaup-
ter der Überschrift Sonette zwischen den Ru- tung.
briken Vier Jahrszeiten und Kantaten mit dem Unmittelbare Einwirkung auf die Sonette
Motto »Liebe will ich liebend loben, / Jede haben auch einige von einer tiefen Neigung
Form sie kommt von oben« erstmals gedruckt sprechende Briefe Bettine Brentanos gehabt,
(Text in FA I, 2, S. 250-259). Die beiden letzten die sie G. nach zwei Begegnungen im Jahre
Sonette (XVI und XVII) wurden erst 1827 in 1807 schrieb. Davon zeugen insbesondere
der Ausgabe letzter Hand hinzugefügt (Text in Mächtiges Überraschen (I), Das Mädchen
FA I, 2, S.259f.). Folgende Sonette aus dem spricht (IV), Sie kann nicht enden (X) und
Zyklus wurden vertont: Freundliches Begeg- Abschied (VII). In allen Fällen hat G. Bilder
nen von Richard Strauss, Die Liebende schreibt und Episoden verwendet, die sich mehr oder
u.a. von Johannes Brahms, Felix Mendels- weniger wörtlich auch in diesen Briefen fin-
sohn-Bartholdy und Franz Schubert, Warnung den. Die Sonette I und VII hat G. Bettine Bren-
u.a. von Brahms. tano in einem blauen Umschlag gesandt, wor-
auf sich wiederum das Sonett X bezieht.
G.s Sonette sind Liebesdichtung in der Tradi- Schließlich ist noch der Name Silvie von
tion romanisch-romantischer Sonettdichtung Ziegesars im Zusammenhang mit den Sonet-
seit Dante und Petrarca. Empfindung und ten genannt worden. Ihr scheint G. in der Zeit
Kunstübung verbinden sich untrennbar im der Sonette gleichfalls zugeneigt gewesen zu
Ausdruck der Liebe in einer vorgegebenen sein. Aber gerade die Dreizahl der Namen
Form. Darin lag auch der besondere Reiz des macht zugleich deutlich, daß hier von Liebes-
Sonetts für G., weshalb denn eine auf das> Er- erlebnissen im herkömmlichen Sinn als An-
lebnis< als Anstoß für G.s Dichten ebenso wie stoß zu literarischer Produktion nicht zu reden
auf den »Klassiker« G. gerichtete Forschung ist. Emotionale Grundlage der Sonette ist die
die Sonette mit Zurückhaltung, wenn nicht gar Erfahrung eines alternden Mannes, für den die
mit Kritik aufgenommen hat. Zuneigung einer jungen Frau neu belebend
Persönliche Liebeserfahrung G.s hat aller- und verjüngend wirkt. Das kommt insbeson-
dings durchaus emotionale Anregungen für dere im ersten Sonett als Ouvertüre des gan-
die Sonette gegeben. Einer einzigen geliebten zen Zyklus zum Ausdruck. Teil dieser Erfah-
Frau allerdings sind sie nicht zugedacht. Am rung ist aber auch die Beglückung durch den
offenbarsten ist der Bezug auf Wilhelmine dichterischen Ausdruck in einer Form, die ei-
(Minna) Herzlieb (1789-1865), die als Pflege- ner großen Tradition angehört.
tochter des Verlegers Carl Friedrich Ernst
Frommann in Jena lebte, in dessen geselligem Eine G .-Philologie, die den Bruch mit Konven-
Haus G. zur Zeit der Sonettdichtung im Win- tionen in der Jugendlyrik und den >>natürli-
ter 1807/08 oft zu Gast war. Auf sie bezieht sich chen«, personenbezogenen Ausdruck darin zu
unmittelbar das letzte Sonett (XVII); Lösung ihrem Maßstab machte, hat den Sonetten gern
der Charade sind die Wörter »Herz« und den Vorwurf der Künstlichkeit gemacht. Cha-
»Lieb«. Allerdings ist auch dieses Gedicht zu- rakteristisch daftir ist Friedrich Gundolfs Ur-
gleich Kunstübung, denn es ist im Wettbewerb teil: »Die Sonettenform hatte mit Minna Herz-
mit Scharaden-Sonetten von Werner und Rie- lieb nicht eine >prästabilierte Harmonie< wie
mer mit den gleichen Lösungswörtern ent- die römische Elegieform mit römischem Bo-
standen; das Sonett Werners war von diesem den und Leib, so daß in den Sonetten das
am Abend vor der Entstehung des G.schen Gattungs- und Bildungsmäßige überwog, die
Sonetts im Hause Frommann vorgelesen wor- Sonettenform als solche selbständig wurde,
den (abgedruckt im Kommentar der FA I, 2, d.h. das Ganze eben doch nur Kunstspiel, be-
S. 986f.). Daß das Sonett Christgeschenk (XII) wußtes Kunsthandwerk, nicht gewachsene,
504 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

gemußte und durchgefühlte Kunst blieb, unbe- Wink gewärtig / Melodisch klingt die durch-
schadet der abstrakt sprachtechnischen Mei- gespielte Leier, / Ein Liebesopfer traulich dar-
sterschaft« (GUNDOLF, S. 57S). zubringen« (III, V. 9ff.).
Ein solches Urteil übersieht, daß G. seit den Die Sonette Das Mädchen spricht (IV) und
SOer Jahren in immer steigendem Maße darum Wachstum (V) bezeichnen dann genauer den
bemüht war, neue Ausdrucksformen zu finden. Unterschied der Liebenden im Einklang der
Seine Originalität und sein Rang bestehen Emotionen. Das Marmorbild des Geliebten
nicht zuletzt darin, daß er sich nie wiederholt identifiziert seinen Ruhm und sein Alter, der
hat. Das führte nach der Lyrik der Sturm und Bezug auf »Töchterchen« und >>Vater« (V, V. 5f.)
Drang-Jahre zunächst zum Interesse an klassi- verwandelt den Unterschied ins Familiäre,
schen Formen, danach aber auch zur roman- wobei in einer für G. charakteristischen Wen-
tisch-romanischen Form des Sonetts und wei- dung hin zur Universalität des Weiblichen die
ter zur Adaption orientalischer Formen im Frauenrollen von Tochter, Schwester und Für-
West-östlichen Divan. Einige der Sonette be- stin als Flucht- oder Schutzrollen für die Ge-
reiten deutlich die Dialog-Gedichte zwischen liebte bezeichnet werden. Dabei muß freilich
Liebendem und Liebender im Divan vor (XlV, offen bleiben, ob die Geliebte geschützt wer-
XV). Andere sind, wie dort auch, aus der Rolle den soll oder der Liebende sich selbst schüt-
der Frau geschrieben, so Das Mädchen spricht zen will.
(IV), Die Liebende schreibt (VIII), Die Lie- Mit den folgenden vier Sonetten (VI-IX) hat
bende abermals (IX) und Sie kann nicht enden G. einige seiner schönsten Liebesgedichte ge-
(X), während wieder andere nicht eindeutig schrieben. Der Wunsch der Liebenden nach
dem einen oder anderen Partner zuzuweisen Ewigkeit ihrer Liebe bei gleichzeitiger Hin-
sind, so Reisezehrung (VI) und Abschied (VII). nahme der Tatsache, daß man dennoch der
Die Sonette bilden nicht den epischen Zu- Zeit unterworfen ist, kann kaum anschaulicher
sammenhang eines Zyklus, aus dem sich die und bewegender gesagt werden als in den er-
Geschichte einer Liebe ablesen ließe, und sie sten zwei Zeilen des Sonetts Abschied (VII).
sind auch nicht von vornherein als Zyklus ent- Aus ihnen geht die einfache Erkenntnis hervor,
worfen. Grundlegend stellt Meredith Lee dazu daß Unendlichkeit nicht für diese Welt ist.
fest: »Goethe wrote the sonnets and joined Ihrer jedoch, und sei es auch nur für einen
them in sequence without a fixed notion of kurzen Augenblick, teilhaft geworden zu sein,
cyclical structure«, ordnete sie jedoch in einer erfüllt mit einem Gefühl des Glücks, das der
Weise »to enhance the continuity [ ... ] and to Dankbarkeit nahe verwandt ist, und zwar der
minimize disruptive contradictions« (S. 75). Dankbarkeit wie auch der Freude darüber, daß
sich solches Glück in der Form eines Sonetts
Nach der im Symbolisch-Mythologischen an- festhalten läßt und darin eine eigene, dau-
gesiedelten Ouvertüre von Mächtiges Überra- ernde Schönheit erhält. Auf solche Vollendung
schen (I) folgt zunächst konsequent die Über- durch das Schreiben und das Geschriebene be-
tragung dieser Situation auf die konkret ziehen sich deutlich die Sonette VIII bis X.
menschliche Sphäre und mit der Anspielung Wie tief die Sonette in G.s Denken dieser
auf die »lieben Frauen / Der Dichterwelt« (II, Zeit fundiert sind, zeigen Anspielungen auf
V. 7f.) bereits auch diejenige auf den Bereich die Farbenlehre bei der Beschreibung des
historisch-literarischer Tradition. Mit dem »Blauen« und dessen Verhältnis zu den »Fin-
dritten Sonett beginnt schlüssig das Thema sternissen« in Abschied (VII, V. 7f.) sowie bei
kritischer Reflexion über das Sonettschreiben, dem Ausdruck der Hoffnung, die Liebe möge
das als das eigentliche Resultat des »neuen »in die Feme reichen« (VIII, V. 11), eine An-
Lebens« (I, V. 14) zu verstehen ist und sich spielung auf den damals in Naturwissenschaft
dann durch den gesamten Zyklus hindurch- und Naturphilosophie gebrauchten Ausdruck
zieht (XI, XlV, XV). Entscheidend ist die Er- der »actio in distans«, die nach Schellings De-
kenntnis: »Siehst du, es geht! Des Dichters finition in Von der Weltseele (179S) auf einer
Sonette 505

idealistischen Vorstellung des Raums beruht. daß G.s Sonette durchaus aus seiner früheren
G. hatte zur Zeit der Arbeit an den Sonetten, dichterischen Tätigkeit hervorwachsen und
also Anfang 1808, auch seine Ballade Wirkung deren Positionen nicht entgegengesetzt sind.
in die Ferne geschrieben. Denn das alte Dilemma bleibt. Auf die Mah-
Der selbstironischen Auseinandersetzung nung des »Mädchens« (XV) folgt in den Ter-
mit der Sonettform und der Sonettmode seiner zetten die Antwort des »Dichters«: er ver-
Zeit gelten dann insbesondere die Sonette Ne- gleicht sich mit dem Feuerwerker, der sich im
mesis (XI), Die Zweifelnden (XIV) und der Umgang mit dem »Element« »mit allen seinen
Dialog von Mädchen und Dichter (XV), ohne Künsten« am Ende in die Luft sprengt (Xv,
daß diese Gedichte aufhören, Liebesgedichte V. 14). Auch die romanisch-romantische Form
zu sein. Das etwas grobschlächtig ironische des Sonetts bot letztlich keinen Schutz dage-
und satirische Nemesis, in dem der einstige gen. Was übrig blieb, war ein Kompromiß, der
Gegner und nunmehrige Adept der Sonetten- Versuch zum »Heilen« durch das »Zauberwort«
mode mit »Sonettenwut und Raserei der der Poesie (Xv, V. 8), das nicht den transzen-
Liebe« (XI, V. 14) bestraft wird, findet subtile denten Sinn der Welt öffnet, sondern Akzep-
Ergänzung durch das Sonett Warnung (XIII): tierung des Gegensätzlichen in der Welt for-
Zweck und Ziel des Schreibens ist die Erhö- dert. G. hat das von seinen literarischen An-
rung durch die Geliebte, woraus sich der Maß- fängen an als persönliche Therapie immer
stab für die Beurteilung des Wertes der Dich- wieder praktiziert.
tung am »jüngsten Tag« ergeben werde (XIII,
V. 14). Daß alle siebzehn Sonette nicht von gleichem
Insgesamt drückt G. das ästhetische Ziel sei- künstlerischen Rang sind, ist in der Forschung
ner Sonettdichtung aus in dem Wunsch, »das oft betont worden. Hermann August Korff
Allerstarrste freudig aufzuschmelzen« (XlV, nennt sie »eine Folge von Etüden in Sonetten-
V. 15), dessen Sinn aber in dem zweiten Quar- form« von »sehr unterschiedlichem künstleri-
tett des folgenden Sonetts in der Mahnung des schen Wert« (S. 91 f.). Unter der Forschungsli-
Mädchens: »Der Dichter pflegt, um nicht zu teratur sind insbesondere die Kommentare in
langeweilen, / Sein Innerstes von Grund aus kritischen Ausgaben jüngeren Datums hervor-
umzuwühlen; / Doch seine Wunden weiß er zuheben, allen voran die ausgewogene, ein-
auszukühlen, / Mit Zauberwort die tiefsten dringliche und präzise Darstellung von Erich
auszuheilen« (Xv, V. 5-8) wieder in Frage ge- Trunz: »Höchste Übersicht über das Leben als
stellt wird. Auf denselben Gedanken bezieht Ganzes« drücke sich in »eminent geistiger
sich auch die einzige direkte Äußerung G.s zu Form« aus, und »Leidenschaft und Entsagung«
den Sonetten, und zwar in den Paralipomena verbänden sich darin als Grundthemen mit
zu den Annalen von 1807, wo es ausgehend »wacher Selbstkritik« und der »Freude am
von den »ruhigen geselligen Freuden in Jena« handwerklichen Können« (S.652-658). Kar!
verhalten heißt: »Gewohnheit, Neigung, Eibl stellt in seinem Kommentar den Zyklus zu
Freundschaft steigerten sich zu Liebe und Lei- Recht in den Kontext von dessen Entstehungs-
denschaft, die, wie alles Absolute, was in die und Rezeptionsbedingungen. Für ihn sind die
bedingte Welt tritt, vielen verderblich zu wer- Sonette »Vortrags stücke, deren kunstreiche
den drohte. In solchen Epochen jedoch er- und überraschende Wendungen mit dem
scheint die Dichtkunst erhöhend und mil- Kunstverstand eines kultivierten Kreises rech-
dernd, die Forderung des Herzens erhöhend, nen. [ ... ] die Räson der Gedichte besteht ge-
gewaltsame Befriedigung mildernd. Und so rade darin, daß, was als bloße Leidenschaft
war diesmal die von Schlegel früher meister- individuell und unartikuliert bliebe, durch die
haft geübte, von Werner in's Tragische gestei- >erhöhende< und >mildernde< Kraft der Form
gerte Sonettenform höchst willkommen« in den Kontext geselliger Kultur hinüberge-
(MA 14, S. 678). tragen und damit intersubjektiv gemacht wird«
Bedenkt man diese Sätze, dann zeigt sich, (S.978).
306 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Literatur: mel« herrscht in Europa (an Meyer, 18.5.


CONRADY, Bd. 2, S. 557-542. - Eibl, Komm. in FA I, 2, 1814): Das Ende des napoleonischen Zeital-
S.978f. - Fischer, Kuno: Goethes Sonettenkranz. ters erschüttert den Kontinent. Die Auswir-
Heidelberg 1895. - Graham, Ilse: Strange Encounter. kungen sind auch in Weimar zu spüren: »In
The Cyde of Sonnets 1807/08. In: dies.: Goethe. unserer Gegend hatte der Krieg, die allge-
Portrait of the Artist. Berlin 1977, S. 54-60. - GUN- meine Bewegung der Gemüther, und mancher
DOLF, S. 576-579. - Kaiser, Gerhard: Literatur und
andere ungünstige Umstand zusammenge-
Leben. Goethes Sonettenzyklus von 1807/08. In:
lbFDtHochst. (1982), S. 57-81. - Kleßmann, Eckart: wirkt, und den schönen Kreis, wovon Weimar
Die Liebende abermals. In: Reich-Ranicki (Hg.), und Jena die beyden Brennpuncte sind, wo
S. 269-272. - KORFF, Bd. 2, S. 91 f. - Kunert, Günter: nicht aufzulösen, doch seine Bewegungen zu
Natur und Kunst. In: Reich-Ranicki (Hg.), hemmen, zu stören vermocht, und ich sah
S.255-258. - Ders.: Das Sonett. In: Reich-Ranicki mich fast auf mich selbst zurückgedrängt.
(Hg.), S. 259-242. - Lee, Meredith: Studies in Goe-
Diese Zeit benutzte ich um mich in mir selbst
the's Lyric Cydes. Chapel Hili 1978. - Müller, Joa-
chim: Goethes Sonette. Lyrische Epoche und mo- historisch zu bespiegeln« (an Schlosser,
tivische Kontinuität. Berlin 1966. - Nürnberger, Hel- 23.125.11. 1814). Tatsächlich ist es für den
muth: Mächtiges Überraschen. In: Reich-Ranicki 65jährigen G. eine Zeit des Rückblicks. Seit
(Hg.), S.261-264. - Reich-Ranicki, Marcel (Hg.): 1809 schon schreibt G. an Dichtung und Wahr-
Johann Wolfgang Goethe. Verweile doch. 111 Ge- heit - die ersten Bände waren 1811 bis 1813
dichte mit Interpretationen. Frankfurt/M., Leipzig
erschienen; ab Dezember 1813 beschäftigt ihn
1992. - Schlütter, Hans Jürgen: Goethes Sonette.
Anregung, Entstehung, Intention. Bad Homburg, die Ausarbeitung der Italienischen Reise. Ab-
Berlin, Zürich 1969. - Schreiber, Mathias: Das Mäd- gesehen von dem aus aktuellem Anlaß verfaß-
chen spricht. In: Reich-Ranicki (Hg.), S. 275-276. - ten Schauspiel Des Epimenides Erwachen ist
Schulz, Gerhard: Abschied. In: Reich-Ranicki (Hg.), neue poetische Produktion nicht in Sicht, als
S.265-268. - Ders.: Die deutsche Literatur zwi- im Frühjahr 1814 eine schöpferische Phase
schen Französischer Revolution und Restauration. 2.
einsetzt, die überraschenden und reichen lyri-
Teil. München 1989, S. 692-696, S. 722-725. - Spu-
ler, R.: Three Sonnets by Goethe. An Investigation of schen Ertrag bringt.
Dialectics, Poetic Stance, and the Symbol. In: New »In schrecklichen und unerträglichen Zei-
German Studies. 12 (1984), S.201-212. - Trunz, ten, denen ich persönlich nicht entfliehen
Komm. in HA 1, S. 652-658. - Wolff, Hans M.: Goe- konnte, floh ich in jene Gegenden, wo mein
the in der Periode der Wahlvenvandtschafien. Mün- Schatz und auch mein Herz ist. Nur kosten und
chen 1952.
nippen konnt ich an Kewsers [d.i. Chisers; d.
Gerhard Schulz Vf.] Quell, wobey denn doch eine wünschens-
werthe Verjüngung erreicht ward«, heißt es
mit Bezug auf die Entstehung des West-öst-
lichen Divan in einem späteren Brief an den
Grafen Uwarow (18.5. 1818), und in den Tag-
West-östlicher Divan und Jahreshiften 1813 stellt G. rückblickend
fest: »Wie sich in der politischen Welt irgend
ein ungeheures Bedrohliches hervorthat, so
warf ich mich eigensinnig auf das Entfern-
Zur Entstehung teste«. Wendete er sich damals zunächst China
zu, das er sich »gleichsam aufgehoben und ab-
gesondert [hatte; d. Vf.], um mich im Fall der
Der zuerst 1819 veröffentlichte West-östliche Noth, wie es auch jetzt geschehen, dahin zu
Divan ist G.s letzte große Gedichtsammlung. flüchten« (an Knebel, 10.11. 1813), rückte bald
Er enthält einen Großteil der lyrischen Pro- darauf der nähere Osten ins Zentrum seines
duktion vor allem aus den zwei ertragreichen Interesses. Spuren orientalischen Lebens wa-
Jahren 1814 und 1815; seine Entstehung fällt ren mit den vordringenden russischen Trup-
in eine Zeit äußerer Unruhen. »Kriegsgetüm- pen damals weit in die westliche Welt bis zu G.
West-östlicher Divan 507

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308 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

gelangt - in Gestalt eines Kamels auf dem den Tag- und Jahresheften 1815, »so wirkten
Marktplatz zu Dresden (an Christiane, 25.4. sie doch jetzt zusammen desto lebhafter auf
1813), eines »mahometanischen Gottesdien- mich ein, und ich mußte mich dagegen pro-
stes« im Hörsaal des protestantischen Gym- ductiv verhalten, weil ich sonst vor der mächti-
nasiums in Weimar (an Trebra, 5.1. 1814) oder gen Erscheinung nicht hätte bestehen können.
von »Cosacken [ ... ] zu Tische« am Frauenplan [ ... ] Alles was dem Stoff und dem Sinne nach
(Tagebuch, 13.1. 1814). bei mir Ähnliches verwahrt und gehegt wor-
»Indessen schien der politische Himmel sich den, that sich hervor, und dieß mit um so mehr
nach und nach aufzuklären, der Wunsch in die Heftigkeit, als ich höchst nöthig fühlte mich
freie Welt, besonders aber in's freie Geburts- aus der wirklichen Welt, die sich selbst offen-
land, zu dem ich wieder Lust und Antheil fas- bar und im Stillen bedrohte, in eine ideelle zu
sen konnte, drängte mich zu einer Reise« (Tag- flüchten, an welcher vergnüglichen Theil zu
und Jahreshifte 1815): Im Sommer 1814 - Na- nehmen meiner Lust, Fähigkeit und Willen
poleon ist vorläufig nach Elba verbannt - fährt überlassen war«.
G. nach Westen. Anregende Besuche bei den Die in diesem Zusammenhang entstehen-
Brüdern Boissen~e und dem Orientalisten Pau- den Gedichte bilden von Anfang an eine auf
lus in Heidelberg sowie die erste Begegnung den östlichen Dichter bezogene Gruppe: Zu
mit Marianne Jung (später verheiratete Wille- den ersten »Gedichten an Ha fi s« (an Chri-
mer) in Wiesbaden verbinden sich in diesen stiane, 28.7.1814; Tagebuch, 30.7.1814) ge-
Wochen mit G.s imaginärem Aufbruch ins hören unter anderem die später im Buch des
Morgenland: »Heitere Luft und rasche Bewe- Sängers versammelten Gedichte Erschaffen
gung gaben sogleich mehreren Productionen und Beleben (Divan-Nachweise im folgenden
im neuen östlichen Sinne Raum. Ein heilsamer immer nach FA I, 3.1, hier S. 18), Elemente
Badeaufenthalt, ländliche Wohnung in be- (S. 17), Phaenomen (S. 19), Derb und Tüchtig
kannter von Jugend auf betretener Gegend, (S.22f.), All/eben (ebd., S.23f.) und Selige
Theilnahme geistreicher liebender Freunde Sehnsucht (S. 24f.), die einer neu erwachten
gedieh zur Belebung und Steigerung eines Schaffens- und Liebeslaune Ausdruck geben,
glücklichen Zustandes, der sich einem jeden sowie die später in das Buch Hafts aufgenom-
Reinfühlenden aus dem Divan darbieten muß« menen Beyname, Fetwa, Der Deutsche dankt
(Tag- und Jahreshifte 1815). (S. 28-30), die sich direkt mit dem persischen
Den entscheidenden Impuls zu den »Pro- Dichter beschäftigen. Schon Ende Juli notiert
ductionen im neuen östlichen Sinne« ver- G. »Divan. geordnet« (Tagebuch, 31. 7. 1814),
dankte G. einem Geschenk seines Verlegers Ende August sind »die Gedichte an Ha fi s«
Cotta, zwei handlichen Bändchen, die ihn als bereits »auf 30 angewachsen und machen ein
Reiselektüre auf seiner Fahrt »in's freie Ge- kleines Ganze, das sich wohl ausdehnen kann,
burtsland« (ebd.) begleiteten: der Diwan wenn der Humor wieder rege wird« (an Rie-
(arab. : Versammlung, hier: Gedichtsamm- mer, 29.8.1814).
lung) des persischen Dichters Mohammed Zurückgekehrt von der seine Schaffens-
Schemsed-din Hafis in der gerade erschiene- kräfte neu belebenden Sommerreise an Rhein,
nen neuen Übersetzung des österreichischen Main und Neckar und noch immer unterwegs
Orientalisten Joseph von Hammer. Der Beginn auf der imaginären Fahrt ins Morgenland, fin-
des West-östlichen Divan läßt sich auf den det sich G. am Ende des Jahres 1814 »verjüngt
Zeitpunkt dieser literarischen Begegnung mit und zu früherer Thatkraft wiedergeboren« (an
dem persischen Dichter datieren - ein Erleb- Schlosser, 23./25. 11. 1814) in Weimar wieder:
nis, das G. spontan zu eigener Schöpfung sti- »Ich segne meinen Entschluß zu dieser Hegire,
mulierte: »Wenn ich früher den hier und da in denn ich bin dadurch der Zeit und dem lieben
Zeitschriften übersetzt mitgetheilten einzel- Mittel-Europa entrückt, welches für eine
nen Stücken dieses herrlichen Poeten nichts große Gunst des Himmels anzusehen ist« (an
abgewinnen konnte«, heißt es rückblickend in Knebel, 8.2. 1815). Mit dem französischen
West-östlicher Divan 309

Wort für das arabische »higra«, das die Flucht außerdem die ersten vier Bände der von Ham-
des Propheten Mohammed aus Mekka nach mer herausgegebenen Fundgruben des Ori-
Medina im Jahre 622 und den Beginn der isla- ents. »So habe ich mich die Zeit her meist im
mischen Zeitrechung bezeichnet, überschreibt Orient aufgehalten, wo denn freylich eine rei-
G. dann auch das Weihnachten 1814 entstan- che Erndte zu finden ist«, resümiert er im Ja-
dene Eingangsgedicht des West-östlichen Di- nuar, und »geht man [ ... ]«, einmal ernstlich
van, das von »Sinn und Absicht des Ganzen hinein, so ist es vollkommen als wenn man in's
sogleich genugsame Kenntniß« gibt (Morgen- Meer geriethe. Indessen ist es doch auch ange-
blattfor gebildete Stände vom 24.2. 1816; FA I, nehm, in einem so breiten Elemente zu
3.1., S. 549) und dessen erste Strophe lautet: schwimmen und seine Kräfte darin zu üben.
»Nord und West und Süd zersplittern, / Ich thue dieß nach meiner Weise, indem ich
Throne bersten, Reiche zittern, / Flüchte du, immer etwas nachbilde und mir so Sinn und
im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten, / Form jener Dichtarten aneigne« (an Knebel,
Unter Lieben, Trinken, Singen, / Soll dich 11.1. 1815). Die intensive Beschäftigung mit
Chisers Quell verjüngen« (S. 12). dem Orient reißt in den nächsten Monaten
Im Dezember hat G. die seit dem Frühsom- nicht ab, G. setzt sich sogar mit den Grund-
mer entstandenen Texte durchgesehen und zügen von Sprache und Schrift auseinander,
neu geordnet. Unter dem Titel Versammlung studiert orientalische Handschriften (an Voigt,
deutscher Gedichte mit stetem Bezug auf den 10.1. 1815) und übt die Schriftzeichen: »Wenig
Divan des persischen Saengers Mahomed fehlt, daß ich noch arabisch lerne, wenigstens
Schemseddin Hafis legt er nun ein numeriertes soviel will ich mich in den Schreibezügen
Reinschriftenkonvolut an, das Mitte Dezem- üben, daß ich die Amulette, Talismane, Abra-
ber schon 53 Gedichte enthält. Die Verallge- xas und Siegel in der Urschrift nachbilden
meinerung der Bezeichnung »Gedichte an Ha - kann. In keiner Sprache ist vielleicht Geist,
fis» zu »Deutscher Divan« (Tagebuch, 14.12. Wort und Schrift so uranfänglich zusammen-
1814) entspricht der seit Anfang Dezember gekörpert« (an Schlosser, 23.1. 1815).
1814 sich ausweitenden Beschäftigung mit der Einen Überblick über die verschiedenen
Welt des Orients: »lch habe mich nämlich, mit Quellen seiner Beschäftigung mit dem Orient
aller Gewalt und allem Vermögen, nach dem gibt G. selber in den Tag- und lahreshiften
Orient geworfen, dem Lande des Glaubens, 1815: »lch rief die Moallakats hervor, deren
der Offenbarungen, Weissagungen und Verhei- ich einige gleich nach ihrer Erscheinung über-
ßungen [ ... ]. Ich habe mich gleich in Gesell- setzt hatte. Den Beduinen-Zustand bracht' ich
schaft der persischen Dichter begeben, ihren mir vor die Einbildungskraft; Mahomets Le-
Scherz und Ernst nachgebildet. Schiras [der ben von 0 eIs n e r, mit dem ich mich schon
Heimatort Hafis'; d. Vf.], als den poetischen längst befreundet hatte, förderte mich aurs
Mittelpunct, habe ich mir zum Aufenthalte ge- neue. Das Verhältniß zu von Die z befestigte
wählt, von da ich meine Streifzüge [ ... ] nach sich; das Buch K abu s eröffnete mir den
allen Seiten ausdehne« (an Schlosser, 23.1. Schauplatz jener Sitten in einer höchst bedeu-
1815). Neben der Hafis-Übersetzung Joseph tenden Zeit der unsrigen gleich, wo ein Fürst
von Hammers liest G. nun auch einzelne Aus- gar wohl Ursache hatte seinen Sohn in einem
züge aus dem Werk des persischen Dichters weitläufigen Werke zu belehren, wie er allen-
FirdausI und vor allem SacdIs populäre Werke falls bei traurigstem Schicksale sich doch noch
Golestän (Rosengarten) und Bustän (Obstgar- in einem Geschäft und Gewerbe durch die
ten) in der barocken Übersetzung von Adam Welt bringen könne. Medschnun und
Olearius sowie zentrale Werke der Orienta- Lei I a, als Muster einer gränzenlosen Liebe,
listik seiner Zeit: William Jones' Poesis Asia- ward wieder dem Gefühl und der Einbildungs-
tica, Thomas Hydes Historia Religionis vete- kraft zugeeignet; die reine Religion der Parsen
rum Persarum und Edward Scott Warings aus dem späteren Verfall hervorgehoben und
Reise nach Sheeraz. Mit Gewinn studiert G. zu ihrer schönen Einfalt zurückgeführt; die
310 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

längst studirten Reisenden, Pietro della Valle, Während dieser dem Orient gewidmeten
Tavernier, Chardin absichtlich durchgelesen, Monate wächst die Sammlung west-östlicher
und so häufte sich der Stoff, bereicherte sich Gedichte stetig und erreicht schließlich ein
der Gehalt, daß ich nur ohne Bedenken zu- neu es Stadium mit der Ende Mai vorgenom-
langen konnte, um das augenblicklich Be- menen neuerlichen Umordnung und Numerie-
durfte sogleich zu ergreifen und anzuwenden«. rung des alten Reinschriftkonvoluts, die in ei-
Unerwähnt blieben hier die für den Divan nem auf den 30.5. 1815 datierten Verzeichnis,
ebenfalls bedeutende Beschäftigung mit Olea- dem sogenannten Wiesbadener Register, fest-
rius' SacdI-Übersetzungen und seinen gesam- gehalten wurde. Die bis dahin weitgehend
melten Reisebeschreibungen in den Orient so- chronologisch erfolgte Numerierung des Deut-
wie die intensive Nutzung von Herbeiats Bi- schen Divan wird hier durch eine stärker the-
bliotheque Orientale und das Studium des Ko- matisch-motivisch orientierte Anordnung er-
rans. Außerdem konsultierte G. orientalisti- setzt, die bestimmte prägnante Gedichtpaare
sche Berater: »D i e z war die Gefälligkeit oder -gruppen aus der alten Reihung jedoch
selbst, meine wunderlichen Fragen zu beant- beibehält. Bis zu diesem Zeitpunkt sind be-
worten; L 0 r s b ach höchst theilnehmend reits einhundert Gedichte entstanden - kür-
und hülfreich; auch blieb ich durch ihn nicht zere Spruchgedichte gar nicht mitgezählt. Eine
ohne Berührung mit Sylvestre de Sacy; Rekonstruktion dieser entstehungsgeschicht-
und obgleich diese Männer kaum ahnen noch lich bedeutsamen Stufe des sogenannten
weniger begreifen konnten was ich eigentlich Wiesbadener Divans bietet die Frankfurter
wolle, so trug doch ein jeder dazu bei mich Ausgabe (FA 1,3.1, S. 451-548).
aurs eiligste in einem Felde aufzuklären, in Entscheidenden Zuwachs erhält die Samm-
dem ich mich manchmal geübt, aber niemals lung noch einmal am Ende dieses Sommers,
ernstlich umgesehen hatte. Und wie mir die den G. erneut unterwegs an Rhein, Main und
von Hammersche Übersetzung täglich zur Neckar verbringt. Dem Wiedersehen mit Ma-
Hand war, und mir zum Buch der Bücher rianne von Willemer, den gemeinsam in der
wurde, so verfehlte ich nicht aus seinen Fund- Gerbermühle bei Frankfurt verbrachten Som-
gruben mir manches Kleinod zuzueignen« merwochen und schließlich der Trennung von
(Tag- und Jahreshifte 1815). Von den Gedich- ihr nach den Abschiedstagen Ende September
ten' die während dieser Studien entstehen, in Heidelberg verdanken sich die großen Lie-
weisen die meisten deutliche Bezüge zu den besgedichte des Divan. Marianne Jung, die
genannten Quellen auf. Bei dem im Dezember 1784 geborene Tochter eines österreich ischen
enstandenen Der Winter und Timur (S.70) Instrumentenmachers, war als Schauspielerin
zum Beispiel handelt es sich um die rhythmi- nach Frankfurt gekommen und lebte seit 1800
sierte Übersetzung der lateinischen Fassung im Hause des früh verwitweten Bankiers Jo-
eines Auszugs aus der berühmten arabischen hann Jacob von Willemer, einem alten Frank-
Timur-Biographie des Ibn cArabsah, die G. bei furter Freund der Familie Goethe Zunächst als
William Jones fand; die ebenfalls im Dezem- eine Art Adoptivtochter und Schwester für
ber entstandenen Gedichte FünfDinge (S. 44) Will emers Tochter Rosine, war die nun 30jähr-
und Fünf andere (ebd.) aus dem Buch der Be- ige Marianne im Oktober des vergangenen
trachtungen beruhen auf Passagen aus dem Jahres Frau von Willemer geworden. Schon
Pand-näme des persischen Mystikers CAttar, im Sommer 1814 und wieder 1815 verbrachte
die G. aus den Fundgruben des Orients kannte. G. viel Zeit bei den Willemers und mit Ma-
Die wahrscheinlich Anfang 1815 entstandene rianne, die ihm als Suleika zur Geliebten sei-
Ballade Siebenschläfer (S. 133-136) schließ- nes West-östlichen Divan wurde, während er
lich geht auf eine englische Nacherzählung der selbst hier unter dem Namen Hatem auftritt:
gleichnamigen Legende zurück, die G. eben- »Da du nun Suleika heißest / Sollt ich auch
falls in den Fundgruben des Orients gelesen benamset seyn, / Wenn du deinen Geliebten
hatte. preisest, / Hatern! das soll der Name seyn«
West-östlicher Divan 311

(S. 74.). Diese orientalische Maske wird von zu seyn, die sich im Fortschreiten auf manche
G. mit einem berühmten virtuellen Reim im Weise immer schwieriger machte«. Tatsäch-
Divan selbst gelüftet: »Du beschämst wie Mor- lich aber läßt G. in Form einer neuen Abschrift
genröthe / Jener Gipfel ernste Wand, / Und der Gedichte des Erstdrucks sowie der bis da-
noch einmal fühlet Hatem / Frühlingshauch hin noch nicht veröffentlichten Divan-Ge-
und Sommerbrand« (Locken! haltet mich ge- dichte schon in dieser Abschlußphase die
fangen; s. 87f.). Grundlage für einen überarbeiteten und er-
Der reiche lyrische Ertrag dieses Spätsom- weiterten Neuen Divan legen (vgl. Tagebuch,
mers und Herbsts sprengt die vorhandene An- 28.7. 1819, 15.116.8. 1819, 21. 7. 1820). Im
ordnung des Wiesbadener Registers und führt Prosateil des Divan hatte G. bereits darauf
im Oktober erneut zu einer Umstrukturierung hingewiesen, daß die Arbeit an dieser Samm-
der Sammlung (Tagebuch, 6.10. 1815). G. un- lung fur ihn mit der Fassung des Erstdrucks
ternimmt nun eine thematisch-inhaltliche noch nicht abgeschlossen war. Im Kapitel
Gliederung des Ganzen in große Gruppen: Künftiger Divan heißt es dort, daß seine »ge-
»Gegen Ende dieser Wallfahrt fand ich meine genw~rtige Ausgabe nur als unvollkommen«
Sammlung so bereichert, daß ich sie schon betrachtet werden könne: »In jüngeren Jahren
nach gewisser Verwandtschaft sondern, in Bü- würd' ich ihn länger zurückgehalten haben,
cher eintheilen, die Verhältnisse der verschie- nun aber find' ich es vortheilhafter ihn selbst
denen Zweige ermessen, und das Ganze, wo zusammenzustellen, als ein solches Geschäft,
nicht der Vollendung, doch dem Abschluß nä- wie Hafis, den Nachkommen zu hinterlassen.
her bringen konnte. Und so hatt' ich in dieser Denn eben daß dieses Büchlein so da steht,
Zerstreuung mehr gewonnen und gefunden, wie ich es jetzt mittheilen konnte, erregt mei-
als mir eine gleiche Zeit in den ruhvollsten nen Wunsch ihm die gebührende Vollständig-
Tagen hätte gewähren können« (Tag- und Jah- keit nach und nach zu verleihen« (S.214f.).
reshifte 1815). Die jetzt vorgesehene Eintei- Ein Großteil der 43 Gedichte, die 1827 in der
lung des Ganzen in dreizehn »Bücher« wird Ausgabe letzter Hand in die erweiterte Divan-
erst kurz vor Drucklegung des Divan erneut Fassung Aufnahme fanden, entstand bereits
verändert: Eine der geplanten Gruppen war bis 1819/20: »Indessen sammeln sich wieder
nicht zustande gekommen, und so verschiebt neue Gedichte zum Divan« (an Zelter, 11.5.
sich der Grundriß noch einmal. 1820).
Nach dem Herbst 1815 entstanden einige Der West-ästliche Divan existiert also in
weitere Gedichte für den Divan bis zu seiner zwei verschiedenen Versionen - dem schlan-
Ankündigung in Cottas Morgenblatt .für ge- keren, genauer komponierten und besser
bildete Stände am 24.2. 1816 (FA I, 3.1, überwachten Erstdruck von 1819 und der er-
S. 549-551); dann folgt eine fast zweijährige weiterten Abschrift des Neuen Divan vor allem
Arbeitspause, bis'der Beginn der Drucklegung aus den Jahren 1819/20, die als Druckvorlage
Ende 1817 erneute lyrische Produktivität aus- für die Wiedergabe des Divan in den 1827
löst. Aus der Erfahrung heraus, die G. mit der erschienenen Bänden fünf und sechs der Aus-
Vorabpublikation einiger Divan-Gedichte in gabe letzter Hand diente. Vom Erstdruck un-
Cottas Taschenbuch für Damen auf das Jahr terscheidet sich diese zweite Fassung nicht nur
1817 gemacht hatte, die beim Publikum weit- durch die Aufnahme einer Reihe zusätzlicher
gehend auf Unverständnis gestoßen waren, Gedichte, sondern auch durch Abweichungen
konkretisierte sich während der Drucklegung vom Wortlaut der bereits im Erstdruck ver-
des Gedichtteils auch der Plan, diesem einen öffentlichten Gedichte (die sowohl auf Fehler
erläuternden Prosateil zu »besserem Verständ- des Schreibers Johann August Friedrich John
niß« beizugeben (S. 137-299). als auch auf spätere Korrekturen von der Hand
Am 11.8. 1819 schließlich kann G. an Cotta Johann Peter Eckermanns und Karl Wilhelm
melden: »Der D i v an ist nun endlich beys am- Göttlings zurückgehen) sowie durch einige
men und ich bin sehr zufrieden diese Arbeit los Textumstellungen, die die ursprüngliche Kom-
312 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

position verschieben. Bedeutenden Zuwachs Als Mittelpunkt vorgesehen war das Buch Ti-
verzeichnen vor allem das Buch der Sprüche mur, die übrigen in Zweiergruppen darum
und das Buch des Paradieses. gruppiert. Dem Buch der Liebe sollte ein Buch
Diese erweiterte Fassung der Ausgabe letz- der Freunde folgen, »heitere Worte der Liebe
ter Hand liegt dem Text der Weimarer Ausgabe und Neigung« enthaltend, »welche, bey ver-
zugrunde - und dieser den meisten Einzelaus- schiedenen Gelegenheiten, geliebten und ver-
gaben. Die historisch-kritische Ausgabe vOn ehrten Personen [ ... ] überreicht werden«
Hans Albert Maier dagegen bietet - unter Ver- (Morgenblatt vom 24.2. 1816; FA I, 3.1,
zicht auf den Prosateil - einen im Kommentar- S. 550). Anders als schließlich realisiert, soll-
band detailliert dokumentierten Mischtext, ten auf das Buch Timur zunächst die Bücher
der die im Erstdruck enthaltenen Texte weit- der Sprüche und der Parabeln, dann das Buch
gehend nach diesem, die übrigen möglichst Suleika und das Schenkenbuch sowie die Bü-
nach vorhandenen eigenhändigen Reinschrif- cher des Parsen und des Paradieses folgen. Die-
ten wiedergibt, in bezug auf die Anordnung ser Plan wurde wohl erst Anfang 1818 aufgege-
der Texte aber der Ausgabe letzter Hand· folgt. ben, als bei Beginn der Drucklegung des West-
Beide Versionen des Divan bietet jetzt Hendrik östlichen Divan deutlich wurde, daß das als
Birus' hier zugrunde gelegte Frankfurter Aus- Zentrum gedachte Buch Timur bruchstückhaft
gabe (FA I, 3.1), die auch eine erneut an den geblieben und das Buch der Freunde überhaupt
Handschriften überprüfte Sammlung der nicht zustande gekommen war. Mit der im
Nachlaßstücke enthält. Schon im Erstdruck Erstdruck dann realisierten Einteilung des
enthaltene Texte werden entsprechend nach Ganzen in nur zwölf Bücher verschob sich der
dieser Fassung, die später ergänzten Gedichte ursprünglich geplante Grundriß. An die Stelle
nach derjenigen der Abschrift des Neuen Di- der vorgesehenen spiegelsymmetrischen
van zitiert. Struktur trat nun eine Gliederung in lockere
Dreiergruppen: Dem Buch des Sängers, Buch
Hafts und Buch der Liebe folgen zunächst die
gnomischen Bücher der Betrachtungen, des
Zur Struktur der Gedichtsammlung Unmuths und der Sprüche und dann drei ein-
zelnen Personen gewichnete: das Buch des Ti-
mur, das Buch Suleika und das Schenken buch.
Einschließlich der vier Mottogedichte enthält Den Abschluß bildet die Trias der religiösen
der Gedichtteil des West-östlichen Divan 196 Bücher: Buch der Parabeln, Buch des Parsen
bzw. - in der erweiterten Ausgabe vOn 1827 - und Buch des Paradieses. Ein solcher Umbau
239 Gedichte. Ihre Anordnung folgt weder kurz vor der Drucklegung macht deutlich, daß
entstehungsgeschichtlichen Gesichtspunkten die Komposition des Ganzen nicht streng ar-
noch dem Fortgang eines fiktiven Geschehens; chitektonisch angelegt, sondern eher durch
einzelne Passagen in szenisch-dialogischer lockere Gruppenzugehörigkeiten seiner »ma-
Gestaltung finden sich lediglich im Buch Su- nigfaltigen Glieder« (S.451-456) charakteri-
leika, im Schenkenbuch und im Buch des Para- siert ist.
dieses. Wie in einer orientalischen Gedicht- Aber nicht nur die »dem verschiedenen In-
sammlung üblich, ist der Divan in verschie- halt gemäße« (an Zelter, 29.10. 1815) Unter-
dene Gruppen, die sogenannten Bücher, Un- teilung in Bücher gliedert die Sammlung. Ein
terteilt; anders aber als seine orientalischen anderes zentrales Strukturmerkmal des West-
Vorbilder folgt G. dabei nicht einem alphabe- östlichen Divan kommt bereits in seinem Titel
tisch nach Reimen sortierenden Ordnungs- zum Ausdruck: das Prinzip der Polarität. Dem
prinzip, sondern thematisch-inhaltlichen Kri- »west-östlichen« Haupttitel fügt G. dabei ei-
terien. Geplant war zunächst eine Einteilung nen arabisch geschriebenen Nebentitel hinzu:
des Ganzen in dreizehn Bücher, die einander Ad-cfzwän as-sarqi lrl-mzialliJ al-garb7 (»Der
spiegelsymmetrisch zugeordnet sein sollten. östliche Divan des westlichen Verfassers«).
West-östlicher Divan 313

Und auch die Überschriften der einzelnen Bü- weibliches Gegenüber sowohl in der fiktiven
cher werden jeweils doppelt gegeben: Der Gestalt Suleikas und als Muse des Dichters
persischen Bezeichnung folgt die deutsche wie auch als Dichterin und Mitautorin des
Übersetzung der Einzeltitel. »Fühlst du nicht West-östlichen Divan hat, in den mehrere Ge-
an meinen Liedern / Daß ich Eins und doppelt dichte aus ihrer Feder aufgenommen wurden.
bin?«, heißt es in dem berühmten Gedicht auf Poetische Steigerung aber gewinnt der Di-
den Ginkgobaum, dessen eigenartiges zwei- van nicht nur aus dem Prinzip der Polarität. In
lappiges Blatt zum Symbol der ganzen Ge- Analogie zu den »entoptischen Erscheinungen
dichtsammlung wird (S. 78f.). In einem nicht [ ... ], welche gleichfalls von Spiegel zu Spiegel
abgesandten Brief an Cotta erläutert G. sein nicht etwa verbleichen, sondern sich erst recht
Projekt wie folgt: »Meine Absicht ist dabey, auf entzünden«, läßt sich sein poetisches Verfah-
heitere Weise den Westen und Osten, das Ver- ren auch beschreiben als eines »wiederholter
gangene und Gegenwärtige, das Persische und Spiegelungen« (WA I, 42.2, S. 56f.): »Da sich
Deutsche zu verknüpfen, und beyderseitige gar manches unserer Erfahrungen nicht rund
Sitten und Denkarten über einander greifen zu aussprechen und direct mittheilen läßt, so
lassen« (Briefkonzept an Cotta, 16.5. 1815; zit. habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch
nach WA IV, 25, S. 414). Dieses Programm be- einander gegenüber gestellte und sich gleich-
stimmt den West-östlichen Divan auf ganz ver- sam in einander abspiegelnde Gebilde den ge-
schiedenen Ebenen: Polarität und Dialog sind heimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offen-
vielfältig variiertes Motiv und Thema, poe- baren« (an Iken, 27.9. 1827). Charakteristisch
tisches Verfahren und bestimmendes Struktur- für den West-östlichen Divan ist ein dichtes
merkmal zugleich. Neben dem östlichen Geflecht von sich wiederholenden, aufeinan-
»Zwilling«, dem persischen Dichter Hafis, der verweisenden und dabei immer wieder va-
werden die Geliebte Suleika, der junge riierten Grundmotiven: Der Divan ist »eines
Schenke und die Huri (eine islamische Para- von den Büchern, die unergründlich sind, [ ... ]
diesjungfrau) zu Gesprächspartnern des Dich- und worin jegliches auf jegliches deutet, so
ters - vor allem in den zahlreichen Dialogge- daß des innern Lebens kein Ende ist« (Hof-
dichten oder -gedichtgruppen des Buchs Su- mannsthai, S. 438).
leika und des Schenkenbuchs. Frage-und-Ant- Diese Beziehung der Teile zum Ganzen
wort-Strukturen charakterisieren darüber wurde wiederholt zum Gegenstand literatur-
hinaus zahlreiche weitere Gedichte auch in wissenschaftlicher Arbeiten, die zu zeigen un-
den anderen, eher didaktisch-spruchhaften ternahmen, auf welche Weise im Divan »stets
Büchern. >das Ganze im Kleinsten' sichtbar wird« (Hill-
Als dialogisch läßt sich schließlich auch G.s mann, S. 100). Von zentraler Bedeutung sind
Umgang mit seinen orientalischen Quellen be- dabei bestimmte immer wiederkehrende und
zeichnen: Einem großen Teil der im West-öst- je nach Kontext und Sinnzusammenhang un-
lichen Divan versammelten Gedichte ist die terschiedlich modifizierte Leitworte, -motive
Bezugnahme auf orientalische Prätexte we- und -themen, um die das Ganze kreist und in
sentlich - die Skala reicht von der Aufnahme denen sich das Ganze spiegelt - wie z.B. die
orientalischer Stoffe, Motive und Verfahren Begriffe des Reinen oder des Lieblichen, die
über Bearbeitungen und kaum veränderte Motivbereiche des Lichts und des Wassers
Übernahmen ganzer Texte. oder thematische Formeln wie »Eins und dop-
»Eins und doppelt« (Ginga bi/aba; S. 79) ist pelt« (Ginga bi/aba; S. 79) und die anakreonti-
der West-östliche Divan nicht nur in Anbe- sche Trias »Lieben, Trinken, Singen« (Hegire;
tracht seines west-östlichen Charakters: Er ist S. 12). Ein Beispiel für den variationsreichen
es ebenfalls im Hinblick auf seine Zweiteilung Einsatz eines Motivs bietet die Verwendung
in einen poetischen und einen erläuternden der traditionellen Perlenmetapher, die G. auch
prosaischen Teil und schließlich auch im Blick im Diwan des Hafis vorgefunden hatte. Als
auf den Anteil, den Marianne von Willemer als Metapher für das poetische Werk steht sie an
314 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

zentralen Stellen des West-östlichen Divan: so östlichen Divan durch die Art der linearen Ver-
im Schlußgedicht der im Erstdruck letzten knüpfung ergänzt: Bestimmte Gedichtpaare
Gruppe des Buchs der Sprüche (»Die Flut der und -gruppen sind durch alle Umordnungen
Leidenschaft sie stürmt vergebens / An's un- der Sammlung hindurch von Anfang an kon-
bezwungne, feste Land. - / Sie wirft poetische stant geblieben, die Anordnung der einzelnen
Perlen an den Strand, / Und das ist schon Ge- Gedichte ist keineswegs beliebig. Bereits vor
winn des Lebens«; S.67) - und wiederauf- der Niederschrift des Wiesbadener Registers
genommen in einem der großen freirhythmi- benennt G. selbst beide Strukturmerkmale sei-
schen Texte des Divan, in dem poetologischen ner Sammlung, als er am 17.5. 1815 an Zelter
Liebesgedicht Die schön geschriebenen aus schreibt: »Jedes einzelne Glied nämlich, ist so
dem Buch Suleika (S.82-84). Als Metapher durchdrungen von dem Sinn des Ganzen, ist so
für das Gedicht werden hier zunächst die mit innig orientalisch, bezieht sich auf Sitten, Ge-
der Perle verbundenen Bedeutungsaspekte des bräuche, Religion und muß von einem vorher-
Schönen und Kostbaren und der gerundeten gehenden Gedicht erst exponiert sein, wenn es
Vollkommenheit genutzt. Vergleiche auch die auf Einbildungskraft oder Gefühl wirken soll.
Perle als Schmuckstück in den Gedichten Ich habe selbst noch nicht gewußt, welches
Komm Liebchen, komm! und Nur wenig ist's wunderliche Ganze ich daraus vorbereitet«.
was ich verlange (S. 80 u. S. 81f.) sowie ihren Im Anschluß an diese Briefäußerung hat sich
Gebrauch in der von G. im Prosateil zitierten immer wieder die Diskussion um den »zykli-
Parabel NizämIs (S. 179f.) und die Formel des schen« Charakter des West-östlichen Divan
»geballten Wassers« in Lied und Gebilde entzündet, die vor allem aufgrund des selbst
(S. 21). Ins Spiel kommt darüber hinaus auch schon problematischen Zyklus-Begriffs unbe-
der Bezug zu einem Tropfen bzw. einer Träne, friedigend geblieben ist (dazu Ihekweazu,
aus denen die Perle entsteht, wie das Kunst- S. 27-40 und FA I, 3.2, S. 1014-1019). Ist der
werk erlebtem Leid entspringt (vgl. Hochbild; Divan in einem weiten Sinne des Begriffs
S. 94f.). Die Erzählung von der Herkunft der zweifellos als ein »Zyklus« anzusprechen, so
Perle aus Himmel und Meer (Vom Himmel lassen sich in diesem »wunderlichen Ganzen«
sank, in wilder Meere Schauer; S. 116) wird doch kaum ein Mittelpunkt oder lückenlose
ganz zur Allegorie der Entstehung des von Kontinuität der Einzelglieder feststellen, wie
»Kraft und Dauer« (ebd.) gekennzeichneten sie ein streng zyklischer Bau wohl fordern
Kunstwerks aus dem Zusammenspiel von in- würde. Die Struktur des Divan entspricht eher
spirierender Leidenschaft (»die Flut der Lei- der vergleichsweise lockeren Komposition »ly-
denschaft«, »deiner Leidenschaft [ ... ] Bran- rischer Ensembles« im Sinne Karl Eibls (1993;
dung«; S.67 u. S.83) und stiller Zurückge- FA I, 1, S.730-734 u. FA I, 2, S.875-881).
zogenheit (»Ihn schloß die stille Muschel ein«; Anders als die zyklischen Gedichtgruppen der
S. 116) und zur Chiffre für das Wesen der Dich- Römischen Elegien (FA I, 1, S.392-441) oder
tung als einer eigenen Art »Himmelslehr' in der Sonette (FA I, 2, S. 250-260) ist der Divan
Erdesprachen« (S.12): »Regentropfen Al- nicht in einem durchgehenden Versmaß ge-
lahs, / Gereift in bescheidener Muschel« halten, sondern im Gegenteil durch eine bunte
(S. 84). Die Parabel Die Perle die der Muschel Fülle verschiedener Gedichtformen und -me-
entrann (S. 116) thematisiert darüber hinaus tren gekennzeichnet. Der Divan enthält kurze
am Exempel der Perlenkette das Verhältnis des und lange, stichische und mehrstrophige, ge-
Individuums zum Ganzen, des Einzelgedichts reimte und ungereimte Gedichte; die metri-
zur Gedichtsammlung. sche Skala reicht von regelmäßig alternieren-
Dieses Verfahren einer »strukturellen Ver- den Texten in Trochäen, Jamben oder Dakty-
weisung« (Hass, S. 438f.) durch die »Simulta- len über spruch artige Lyrik mit unregelmä-
neität analoger Fälle« (Ihekweazu, S. 358) in ßiger Versflillung und prosanaher Diktion bis
einem Gebilde, in dem »jegliches auf jegliches zu Gedichten in freien Rhythmen (z.B.
deutet« (Hofmannsthai, S. 438), wird im West- Schlechter Trost; S.38f. oder Die schön ge-
West-östlicher Divan 315

schriebenen; S.82-84) und Knittelversen: (S. 178f.) läßt sich mit Bezug auf die Komposi-
»Um ihre Pflicht nicht zu versäumen, / Um tion der ganzen Sammlung auch in G.s Divan
einem Deutschen zu gefallen, / Spricht eine wiederfinden: Dicht nebeneinander und auf-
Houri in Knittelreimen« (Deine Liebe, dein einander verweisend stehen im Divan derb-
Kuss mich entzückt!; S. 440-442). An einigen burleske Trinklieder (wie Erschaffen und Be-
Stellen versucht G. sich auch in Annäherungen leben; S. 18) und leidenschaftliche Liebeslyrik
an die orientalische Form des Ghasels (Nach- (z.B. Nachklang; S.95), lakonisch-triviale
bildung; S. 32 sowie In tausend Formen; Sprüche (z.B. Getretner Quark; S. 67) und an-
S. 10 1f. und Sie haben wegen der Trunkenheit; spruchsvolle Gedichte philosophisch-religiö-
S. 107f.). Wie Karin Helm und Wolfgang Kay- ser Weltdeutung (z.B. Selige Sehnsucht;
ser gezeigt haben, läßt sich in dieser Vielfalt S. 24f. oder WiedeTjinden; S. 96f.). Die direkte
gleichwohl nicht nur das Fehlen, sondern auch Verbindung gerade von Gegensätzlichem, von
die Vorherrschaft bestimmter Formen ausma- Sinnengenuß und geistiger Liebe, Irdischem
chen. Gar nicht vertreten sind etwa antike und Himmlischem, Heiterem und Heiligem ist
Versmaße oder feste Gedichtformen romani- dieser Gedichtsammlung wesentlich.
scher Herkunft wie das Sonett; überwiegen- Und auch ein zweites, von G. im Kapitel
den Anteil am Spektrum der Divan-Metren Allgemeinstes formuliertes Prinzip orientali-
haben dagegen die mehrstrophigen Gedichte scher Dichtkunst gilt für den Divan des west-
mit vierzeiligen, meist paar- oder kreuzge- lichen Dichters: »Der höchste Charakter ori-
reimten Strophen; etwa 42 Prozent der Ge- entalischer Dichtkunst ist, was wir Deutsche
dichte bestehen aus vierhebigen Trochäen - Gei s t nennen, das Vorwaltende des oberen
ein Metrum, das durch die Übertragungen Jo- Leitenden [ ... ]. Der Geist gehört vorzüglich
hann Gottfried Herders und August Wilhelm dem Alter, oder einer alternden Weltepoche.
Schlegels zum deutschen Äquivalent der Form Uebersicht des Weltwesens, Ironie, freyen Ge-
der spanischen Romanze und des Calderon- brauch der Talente finden wir in allen Dich-
Dramas geworden war. Diese typische Divan- tern des Orients« (S. 181).
Strophe wird in verschiedenen Variationen
realisiert. Die im Buch Suleika vorherr-
schende , Suleikastrophe < hat abwechselnd
weibliche und männliche Kadenzen und Die einzelnen Bücher
Kreuzreime, häufig verbunden mit einem
deutlich dipodischen Rhythmus: (Hatern:)
,>Von Suleika zu Suleika / Ist mein Kommen Was die geplanten einzelnen Bücher betrifft,
und mein Gehn« (S. 91). gibt G. selbst eine knappe Charakteristik in
Die das Schenken buch charakterisierende der Ankündigung des West-östlichen Divan in
, Schenkenstrophe < dagegen weist durchge- Cottas Morgenblattvom 24.2.1816 - und noch
hend weibliche Kadenzen auf, und der Kreuz- einmal im erläuternden Prosateil unter dem
reim ist oft nicht vollständig durchgeführt: Stichwort Künftiger Divan. Das erste Buch ist
(Schenke:) »Welch ein Zustand! Herr, so dem Dichter gewidmet und seiner Begegnung
späte / Schleichst du heut aus deiner Kam- mit dem Orient: »Der Dichter betrachtet sich
mer; / Perser nennen's Bidamag buden, / als einen Reisenden. Schon ist er im Orient
Deutsche sagen Katzenjammer« (S. 108). angelangt. Er freut sich an Sitten, Gebräuchen,
Doch nicht nur im Bereich der metrischen an Gegenständen, religiösen Gesinnungen
Formen ist die Gestalt des West-östlichen Di- und Meinungen, ja er lehnt den Verdacht nicht
van durch mannigfaltige Variation gekenn- ab, daß er selbst ein Muselmann sey« (Morgen-
zeichnet. Ein von G. im Kapitel Allgemeines blattvom 24.2.1816; FA I, 3.1, S.549). Die
des Prosateils als spezifisch orientalisch her- »näheren Bezüge des Dichters zum Orient«
ausgestelltes Stilmittel der Verbindung von (Künftiger Divan; S.215) sind hier nicht nur
Niedrigem und Höchstem in einem Gedicht vielfältig variiertes Thema (vgl. Hegire; S. 12),
516 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

sondern bestimmen auch das poetische Ver- manches hasse, / [ ... ] / / Weiß der Sänger die-
fahren dieses Buchs, das orientalische Texte in ser Viere / Urgewalt'gen Stoff zu mischen, /
verschiedener Weise aufnimmt und weiterver- Hafis gleich wird er die Völker / Ewig freuen
arbeitet. So handelt es sich bei dem berühmten und erfrischen« (S. 17).
Talisman: »Gottes ist der Orient! / Gottes ist Das folgende Buch Hafts ist auf das Verhält-
der Occident! / Nord- und südliches Gelände / nis zu dem einen persischen Dichter konzen-
Ruht im Frieden seiner Hände« (S. 15) um die triert, der zu G.s persischem »alter ego« und
in Verse gebrachte Fassung der Hammerschen zum Auslöser des West-östlichen Divan wurde.
Übersetzung eines Koranverses (Sure 2,115), Es ist »der Characterisirung, Schätzung, Ver-
und die Anregung zu dem nicht weniger be- ehrung dieses außerordentlichen Mannes ge-
rühmten Talisman: »Im Athemholen sind widmet. Auch wird das Verhältniß ausgespro-
zweyerley Gnaden« (S. 15) fand G. im ein- chen, in welchem sich der Deutsche zu dem
leitenden Dankgebet der Vorrede zu SacdIs Gu- Perser fühlt, zu welchem er sich leidenschaft-
listän, das er aus Olearius' Übersetzung Per- lich hingezogen äußert, und ihn der Nacheife-
sianischer Rosenthalkannte. Andere Gedichte rung unerreichbar darstellt« (Morgenblattvom
spielen mit typisch orientalischen Motiven 24.2. 1816; FA I, 5.1, S.549). Einem einlei-
(vgl. das Hafisische Staubmotiv in Allleben; tenden fiktiven Gespräch des westlichen Dich-
S. 25f.), schließen an einzelne Hafis-Verse an ters mit dem östlichen folgt eine Reihe von
oder nutzen ganze Partien bestimmter Ghasele diesen und seine Dichtkunst charakterisieren-
als Vorlage (z.B. Erschaffen und Beleben; S. 18 den Gedichten: »Daß du nicht enden kannst
und Selige Sehnsucht; S. 24f.). Dem Ineinan- das macht dich groß« (Unbegrenzt; S. 51), die
der von orientalischen und G.schen Texten der westliche Dichter - freilich ganz auf seine
korrespondiert das Ineinander von persischer Weise - nachzuahmen unternimmt: »In deine
und deutscher Landschaft im Gedicht Lieb- Reimart hoff ich mich zu finden, / Das Wie-
liches (S. 19f.) einerseits, das Ineinander von derholen soll mir auch gefallen, / Erst werd'
Gegenwärtigem und Vergangenem - auch in ich Sinn, sodann auch Worte finden; / Zum
der Form von Bezugnahmen auf frühere eigene zweytenmal soll mir kein Klang erschallen, /
Texte! - andererseits (Im Gegenwärtigen ver- Er müßte denn besondern Sinn begründen, /
gangnes; S. 20f.; dazu auch FA I, 5.2, Wie du's vermagst begünstigter vor allen«
S.2069-2072). (Nachbildung; S.52). Verblüffend nah und
Zentrales Thema des Buchs des Sängers ist geistesverwandt schien G. der persische Dich-
das Dichten selbst, zahlreich sind die zum Teil ter des 14. Jhs.: Nicht nur in der Beschreibung
ebenfalls an orientalische oder orientalistische seiner Lebensumstände (»Von Fürsten geehrt,
Vorlagen anknüpfenden poetologischen Ge- von Freunden geliebt, verlebte Hafis in den
dichte (z.B. Derb und Tüchtig; S. 22f.). Wäh- Rosenhainen von Schiras unter Studien und
rend Lied und Gebilde (S. 21) dem plastischen Genuß seine Lebenstage, welche in eines der
Schönheitsideal antiken Griechentums das stürmischsten Jahrhunderte [ ... ] gefallen wa-
Formideal des west-östlichen Dichters gegen- ren. [ ... ] Die Gräuel politischer Stürme [ ... ]
überstellt: »Aber uns ist wonnereich / In den bilden einen merkwürdigen Contrast mit der
Euphrat greifen, / Und im flüßgen Element / ungetrübten Heiterkeit des Dichters«; HAM-
Hin und wieder schweifen«, werden in Ele- MER, Bd. 1, S. XXX) und vor allem in der
mente die bevorzugten Stoffe der Dichter und Unabhängigkeit seiner Geisteshaltung (»Der
damit auch die zentralen Themen des West- du, ohne fromm zu seyn, selig bist!«; Offenbar
östlichen Divan vorgestellt: »Liebe sey vor al- Geheimntß; S. 53) fand G. viel Eigenes wieder,
len Dingen / Unser Thema, wenn wir singen; / sondern auch in Hafis' Art zu dichten, die nach
[ ... ] / / Dann muß Klang der Gläser tönen, / Hammers Worten geprägt ist durch einen »Ab-
Und Rubin des Weins erglänzen: / [ ... ] / / sprung vom Wirklichen zum Allegorischen,
Waffenklang wird auch gefodert, / [ ... ] / / und vom Uebersinnlichen zum Sinnlichen«, so
Dann zuletzt ist unerläßlich, / Daß der Dichter daß Hafis »weder ganz sinnlich noch ganz alle-
West-östlicher Divan 317

gorisch« zu verstehen sei, »sondern Stellen- Lobpreisungen ertheilen, verlieren alles Maß,
weise als Herold des Sinnengenußes, und Stel- wenn sie sich zurückgesetzt sehen«. Sie sind
lenweise als Zunge der mystischen Welt« »immerfort im Kampfe begriffen. Auf gleiche
(HAMMER, Bd. 1, S. XLI). Nicht die Festlegung Weise verfahrt der deutsche Dichter, indem er
auf eine mystisch-allegorische oder wörtlich- das, was ihn widerwärtig berührt, heftig und
erotische Deutung ist dem dichterischen Wort gewaltsam abweist« (Morgenblatt vom 24.2.
gemäß, sondern die Schwebe zwischen bei- 1816; FA I, 3.1, S. 550). Der Unmut, heißt es
den: »daß ein Wort nicht einfach gelte / Das im Künftigen Divan (S. 219f.), »ist anmaßlich,
müßte sich wohl von selbst verstehn. / Das abstoßend und erfreut niemand, selbst dieje-
Wort ist ein Fächer! Zwischen den Stäben / nigen kaum die von gleichem Gefühl ergriffen
Blicken ein Paar schöne Augen hervor« (Wink; sind. Demungeachtet aber kann der Mensch
S.33). solche Explosionen nicht immer zurückhalten,
In diesem Sinne ist auch das folgende Buch ja er thut wohl, wenn er seinem Verdruß, be-
der Liebe »geeignet zu symbolischer Ab- sonders über verhinderte, gestörte Thätigkeit,
schweifung, deren man sich in den Feldern des auf diese Weise Luft zu machen trachtet.
Orients kaum enthalten kann« (Künftiger Di- Schon jetzt hätte dies Buch viel stärker und
van; S. 219). Versammelt sind hier ursprüng- reicher seyn sollen; doch haben wir manches,
lich ebenfalls dem Buch Suleika zugedachte um alle Mißstimmung zu verhüten, bey Seite
Gedichte, »heiße Leidenschaft zu einem ver- gelegt<<. Kennzeichnend für die Gedichte die-
borgenen, unbekannten Gegenstand ausdrük- ses Buchs ist ihr ironisch-frecher Tonfall (vgl.
kend« (Morgen bla tt vom 24.2.1816; FA I, 3.1, Uebermacht, Ihr kö'nnt es spüren; S. 54f.); die
S. 549). Anders als im Buch Suleika wird im gelegentlich Rainer Maria Rilke antizipieren-
Buch der Liebe jedoch die Geliebte nicht ge- den ausgefallenen Fremdwort-Reime des Di-
nannt, die Gedichte gelten nicht Suleika-Ma- van finden sich hier besonders häufig (vgl.
rianne, sondern anderen bewunderten und etwa »Antichambern« ~ »Koriandern« in Kei-
geliebten Frauen (z.B. Bedenklich; S.38 u. nen Reimer wird man finden; S. 53). Wie das
Geheimstes; S.41f.) oder berühmten Liebes- vorangehende Buch mit einer »Betrachtung«
paaren aus der orientalischen Tradition (Mu- Suleikas (Suleika spricht; S.49), so schließt
sterbilder; S. 36). dieses in der erweiterten Fassung des Neuen
Das Buch der Betrachtungen sollte ur- Divan mit anmaßlich-unmutigen Versen, die
sprünglich »Buch der Betrachtung« heißen und der Dichter dem Timur in den Mund gelegt
»ist practischer Moral und Lebensklugheit ge- hat: »Was? Ihr misbilliget den kräftigen
widInet, orientalischer Sitte und Wendung ge- Sturm / Des Uebermuths, verlogne Pfaffen! /
mäß« (Morgen bla tt vom 24.2.1816; FA 1,3.1, Hätt Allah mich bestimmt zum Wurm; / So
S.550). Es »erweitert sich jeden Tag demje- hätt' er mich als Wurm geschaffen« (S. 360).
nigen der im Orient hauset; denn alles ist dort Das anschließende Buch der Sprüche »ist
Betrachtung, die zwischen dem Sinnlichen mit den Büchern der Betrachtung und des Un-
und Uebersinnlichen hin und her wogt, ohne muths ganz nahe verwandt« (Künftiger Divan;
sich für eins oder das andere zu entscheiden« S. 222). Es »besteht aus kleinen Gedichten, zu
(Künftiger Divan; S.219). Die zum Teil an welchen orientalische Sinnreden meist den
orientalischen Sprüchen orientierten Gedichte Anlaß gegeben« (Morgenblattvom 24.2. 1816;
dieses Buchs enthalten allgemeine Betrach- FA I, 3.1, S.550). Ein Großteil der hier ver-
tungen über die Welt und das Leben und be- sammelten Sprüche erweist sich als Umforrnu-
sitzen häufig einen lehrhaft-auffordernden lierung orientalischer Maximen oder Spruch-
Charakter. gedichte, die G. seinen verschiedenen Quellen
Das folgende Buch des Unmuths »enthält ~ vor allem Heinrich Friedrich von Diezens
Gedichte, deren Art und Ton dem Osten nicht Denkwürdigkeiten von Asien ~ entnahm. So
fremd ist. Denn gerade ihre Dichter, welche geht etwa G.s Zweizeiler: »Soll man dich nicht
Gönnern und Beschützern die herrlichsten aufs schmälichste berauben, / Verbirg dein
318 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Gold, dein Weggehn, deinen Glauben« (S. 64) her Jugend mit dem Dichter, der sein Alter
auf eine bei Diez zitierte Maxime aus dem nicht verleugnet, an glühender Leidenschaft
Koran zurück; das lakonische »Getretner zu wetteifern scheint. Die Gegend, worin die-
Quark / Wird breit, nicht stark« (S.67) hat ses Duodrama spielt, ist ganz persisch. Auch
seine Vorlage in einem türkischen Sprichwort, hier dringt sich manchmal eine geistige Be-
das G. ebenfalls in den Denkwürdigkeiten von deutung auf und der Schleier irdischer Liebe
Asien fand (I, 196: "Wenn der Dreck getreten scheint höhere Verhältnisse zu verhüllen«
wird, verbreitet er sich«.). Aufmerksamkeit (Morgenblatt vom 24.2. 1816; FA I, 3.1,
verlangt die Komposition der von G. auf den S. 550). Das bei weitem umfangreichste unter
einzelnen Seiten dieses Buchs zusammenge- den Büchern des Divan - und das einzige, von
stellten Spruchgruppen, die er auch bei der dem G. im Künftigen Divan sagt, es "möchte
erheblichen Erweiterung dieses Buches im wohl für abgeschlossen anzusehen seyn«
Neuen Divan respektiert hat - und die als sol- (S.223), - versammelt die großen Liebesge-
che in den meisten neueren Ausgaben gar dichte des West-östlichen Divan, von denen
nicht mehr zu erkennen sind. Als kompositori- manche zu G.s berühmtesten zählen (Gingo
sche Gesichtspunkte lassen sich dabei sowohl biloba, Die schön geschriebenen, Hoch b ild,
Motivverwandtschaften, Quellenbezüge als Wiederfinden, Vollmondnacht). Daß die Su-
auch metrische Strukturen feststellen. leika des Divan Marianne von Willemer war
Das folgende Buch des Timur schließlich und in den Liebesgedichten ein biographi-
sollte »ungeheure Weltbegebenheiten, wie in scher Kern steckt, blieb zunächst ein Geheim-
einem Spiegel« auffassen, "worin wir, zu Trost nis. Seine Entdeckung im Jahr 1869, lange
und Untrost, den Wiederschein eigner Schick- nach G.s Tod - und neun Jahre nach ihrem-,
sale erblicken« (Morgen bla tt vom 24.2.1816; hat die Forschung veranlaßt, die "Liebesge-
FA I, 3.1, S. 550). Es ist dem von 1370-1404 schichte« zwischen G. und Marianne rekon-
regierenden Mongolenherrscher TImür ge- struieren zu wollen. Wichtigstes ZeugniS für
widmet, der G. als Parallelgestalt zu Napoleon die Beziehung zwischen beiden sind die Ge-
erschien: In grausamen Feldzügen hatte er dichte des West-östlichen Divan selbst. Die
ganz Mittelasien erobert und war schließlich Sprache einer leidenschaftlichen Liebe findet
während eines Winterfeldzugs nach China ge- sich bis auf wenige und späte Ausnahmen nicht
storben. Da für das Buch des Timurschließlich in den privaten Briefen der beiden - G.
nicht mehr als zwei 1814/1815 verfaßte Ge- schreibt meist gar nicht direkt an Marianne,
dichte zustande gekommen waren (Der Winter sondern an Willemer oder dessen Tochter Ro-
und Timur, An Suleika; S. 70f.), notiert G. im sine Städel-, sondern eben im Buch Suleika
Kapitel Künftiger Divan resigniert: "B u c h des West-östlichen Divan: "Süßes Dichten,
des Tim u r. Sollte eigentlich erst gegründet lautre Wahrheit / Fesselt mich in Sympathie! /
werden, und vielleicht müßten ein paar Jahre Rein verkörpert Liebesklarheit, / Im Gewand
hingehen, damit uns die allzunah liegende der Poesie« (Wie! Mit innigstem Behagen;
Deutung ein erhöhtes Anschaun ungeheurer S. 101). Die Liebe realisiert sich im Spiel mit
Weltereignisse nicht mehr verkümmerte« den orientalischen Masken und im poetischen
(S. 222). Nach dem Verzicht auf die komposito- Werk selbst, an dem Marianne als Muse, als
rische MittelsteIlung dieses Buches wurde das Besungene und als fiktive Dialogpartnerin
bereits vorhandene Gedicht (An Suleika; teilhat - und außerdem als Mitautorin und
S. 71) genutzt, um es mit dem folgenden Buch Dichterin: Sie ist nicht nur Verfasserin soge-
Suleika zu verbinden. nannter >Chiffembriefe<, mit denen sich die
Dieses, "leidenschaftliche Gedichte enthal- Liebenden nach Hafis verschlüsselte Botschaf-
tend, unterscheidet sich vom Buch der Liebe ten senden - vgl. dazu Geheimschrift (S. 98f.)
dadurch, daß die Geliebte genannt ist, daß sie und das Kapitel Chiffer der Noten und Ab-
mit einem entschiedenen Charakter erscheint, handlungen (S. 212-214) -, sondern auch die
ja persönlich als Dichterinn auftritt und in fro- Autorin einer Reihe von Gedichten, die G. nur
West-östlicher Divan 519

geringfügig überarbeitet in den Divan aufge- dir Rubinen, / Türkisse das Hyrkanische
nommen hat. Sie selbst hat es in hohem Alter Meer« (S. 81) oder typisch orientalische Tro-
dem Germanisten Herman Grimm gestanden, pen, wie etwa der Gebrauch des von Hafis so
als dieser eine dahingehende Vermutung äu- häufig eingesetzten und von G. in den Noten
ßerte, und später schriftlich bestätigt: »Außer und Abhandlungen besprochenen Lockenmo-
dem Ost- und Westwinde [Was bedeutet die tivs (S. 198f.) in einem Gedicht, das in kühnen
Bewegung?; S. 95f. und Ach! um deinefeuch- Bildern ein Leitmotiv des ganzen Divan (vgl.
ten Schwingen; S. 95f.; d. Vf.] habe ich nichts Hegire; S. 12f., Phaenomen; S. 19) und vor al-
auf meinem Gewissen, als allenfalls noch lem des Buchs Suleika zum Höhepunkt führt -
Hochbeglückt in deiner Liebe [S.76; d. Vf.] den Altersunterschied der Liebenden und die
und Sag du hast wohl viel gedichtet? [So 79; d. verjüngende Kraft der Leidenschaft: »Locken!
Vf.]. Doch habe ich manches angeregt, veran- haltet mich gefangen / In dem Kreise des Ge-
laßt und erlebt!« (Grimm, S. 299). sichts! / Euch geliebten braunen Schlangen /
Das Buch Suleika läßt sich in zwei Hälften Zu elWiedern hab' ich nichts. / / Nur dies Herz
scheiden, an deren Nahtstelle in der elWeiter- es ist von Dauer, / Schwillt in jugendlichstem
ten Fassung der metafiktionale Stoßseufzer Flor; / Unter Schnee und Nebelschauer / Rast
des Dichters über den Umfang dieses Buches ein Aetna dir hervor« (S. 87).
steht: »Allein wie willst du Wort und Blatt Szenisch an das Buch Suleika anknüpfend -
verkürzen / Wenn Liebeswahnsinn dich in's vgl. das Eingangsgedicht Ja, in der Schenke;
Weite führt« (S. 592). Die vorangehende erste S. 104, in dem der Dichter an Suleika denkend
Hälfte des Buchs Suleika ist gekennzeichnet in der Schenke sitzt -, folgt das Schenkenbuch,
vom glücklich-geselligen Beisammensein der das auch thematisch mit dem vorangehenden
Liebenden, das mit der orientalischen »Be- velWandt ist. Nach orientalischem Muster gilt
namsung« der Liebenden einsetzt (Da du nun die Leidenschaft nun einem schönen jungen
Suleika heIßest; S. 74f.) und in den folgenden Schenkenknaben; eine solche homoerotische
Dialoggedichten staunend gefeiert wird: »lst's Beziehung »wollte jedoch unseren Sitten ge-
möglich daß ich Liebchen dich kose! / Ver- mäß in aller Reinheit behandelt seyn« (Künfti-
nehme der göttlichen Stimme Schall! / Un- ger Divan; S. 224) : »Der Dichter übelWirft sich
möglich scheint immer die Rose, / Unbegreif- mit dem gemeinen Kellner, und wählt einen
lich die Nachtigall« (S. 76). anmuthigen Knaben, der ihm den Genuß des
Ein im ersten Teil nur leise anklingendes Weins durch gefällige Bedienung versüße. Das
Thema wird zum beherrschenden Gegenstand Kind wird sein Lehrling, sein Vertrauter, dem
des zweiten Teils, der von Trennung und Tren- er höhere Ansichten mittheilt. Eine wechsel-
nungsschmerz (Was bedeutet die Bewegung?; seitige edle Neigung belebt das ganze Buch«
S.95f., Ach! um deine feuchten Schwingen; (Morgenblatt vom 24.2. 1816; FA I, 5.1,
S. 95f., Nachklang; S. 95), von sehnsüchtigem S. 551). Ein Sakiname (»Buch des Schenken«)
gegenseitigem Gedenken in der Entfernung findet sich schon in der Hammerschen Hafis-
(VOllmondnacht; S.98) und schließlich vom Übersetzung; so überschrieben ist ein langes,
Wiederfinden (S. 96f.) geprägt ist, das sich auf an den jungen Schenken gerichtetes Preisge-
Dauer jedoch nicht in körperlicher Wirklich- dicht auf den begeisternden Weinrausch.
keit, sondern zeichenhaft im Medium der Beide Motive verbinden sich auch in G.s
Dichtung velWirklicht (Hochbild; S. 94f.). Schenkenbuch: »Weder die unmäßige Neigung
Nicht nur Namen und Gegend sind hier zu dem halb verbotenen Weine, noch das Zart-
übelWiegend orientalisch, die Liebeslyrik die- gefühl für die Schönheit eines heranwachsen-
ses Buches macht sich darüber hinaus orien- den Knaben durfte im Divan vermißt werden«
talische Stilmittel zu eigen. So die hyperboli- (Künftiger Divan; S. 224). Der Weingenuß hat
sche Reihung zur Huldigung der Geliebten: verjüngende und den Geist erhebende Wir-
»Dir sollten Timurs Reiche dienen, / Gehor- kung; vielleicht auch der Koran, aber vor allem
chen sein gebietend Heer, / Badakschan zollte der Wein führt zu Gott: »Der Trinkende, wie es
320 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

auch immer sey, / Blickt Gott frischer ins An- Vorstellung des islamischen Paradieses und
gesicht« (Ob der Koran von Ewigkeit sey?; seiner Bewohner in den ersten Gedichten des
S. 105). Wie bei Hafis treten auch bei G. dich- Buches (Vorschmack, Berechtigte Männer und
terische Begeisterung, Liebes- und Wein- Auserwählte Frauen; S. 434-437) folgen in der
rausch zusammen: »Lieb', Lied und Weines erweiterten Fassung des Neuen Divan vier an-
Trunkenheit, / Ob's nachtet oder tagt, / Die mutig scherzhafte Dialoggedichte zwischen
göttlichste Betrunkenheit / Die mich entzückt dem Einlaß begehrenden Dichter und der pa-
und plagt« (Sie haben wegen der Trunkenheit; radiesischen Huri, die diesem als eine ver-
S. 108). klärte Suleika erscheint: »Nicht so vieles Fe-
Das folgende Buch der Parabeln verweist derlesen! / Lass mich immer nur herein: /
noch einmal zurück auf die gnomischen Bü- Denn ich bin ein Mensch gewesen / Und das
cher der Betrachtungen und der Sprüche und heisst ein Kaempfer seyn« (S. 438). Die Klimax
voraus auf die folgenden theologischen des dieses Buches bildet das in seiner Aufwärts-
Parsen und des Paradieses. Es »enthält bild- bewegung dem Faust-Schluß vergleichbare
liehe Darstellungen mit Anwendung auf Gedicht Höheres und Hächstes, das jenseits
menschliche Zustände« (Morgenblatt vom aller Wortsprache - »declinirend Mohn und
24.2. 1816; FA I, 3.1, S. 550); ähnlich wie im Rosen« - bis zum »Worte Gottes« führt: »Unge-
Buch der Betrachtungen geht es um allge- hemmt mit heißem Triebe / Läßt sich da kein
meine Wahrheiten, die nun jedoch erzählend Ende finden, / Bis im Anschaun ewiger Liebe /
dargestellt werden. Die Bezeichnung »Para- Wir verschweben, wir verschwinden« (S.
bel« meint im weiten Begriffsgebrauch der 132 f.). Charakteristischerweise aber endet der
G.-Zeit kleine Fabeln und Gleichnisse, und Divan nicht mit diesem Höhepunkt, sondern
auch zu diesen nutzt G. durchweg orientali- läßt zunächst ein langes Erzählgedicht folgen
sche Motive oder Vorlagen (vgl. die ausführ- über die Legende von den Siebenschläfern, die
liche Erörterung der Parabeltypen im Kapitel »den fröhlichen Umtausch irdischer Glückse-
KünftigerDivan; S. 227f.). ligkeit mit der himmlischen« darstellt. »Es
Das zweite »theologische« Buch ist das Buch schließt sich mit dem Abschiede des Dichters
des Parsen, das der »so abstrakt scheinenden an sein Volk, und der Divan selbst ist geschlos-
und doch so praktisch eingreifenden Sonn- sen« (Morgenblatt vom 24.2. 1816; FA I, 3.1,
und Feuer-Verehrung« (Künftiger Divan; S.551); das letzte Gedicht überschreibt der
S.228) der altpersischen Religion gewidmet Dichter Gute Nacht! (S. 136).
ist (vgl. dazu T!ermächtn!ß alt persischen Glau-
bens; S. 122-124).
Das Buch des Paradieses endlich »enthält
sowol die Sonderbarkeiten des mohametani- Zur Rezeption
schen Paradieses, als auch die höheren Züge
gläubigen Frommsinns, welche sich auf diese
zugesagte künftige heitere Glückseligkeit be- Eine breite Resonanz fand der Divan nach sei-
ziehen« (Morgenblatt vom 24.2. 1816; FA I, nem Erscheinen nicht. Und bis heute gehört er
3.1, S. 551). »Scherz und Ernst verschlingen keineswegs zu G.s populären Werken. Schwie-
sich hier so lieblich in einander, und ein ver- rigkeiten bei seiner Rezeption hatte G. bereits
klärtes Alltägliche verleiht uns Flügel zum Hö- vorausgesehen, nicht zuletzt die Reaktionen
heren und Höchsten zu gelangen« (Künftiger des Publikums auf den Vorabdruck einiger Di-
Divan; S. 228). Mit diesem Buch schließt sich van-Gedichte in Cottas Taschenbuch.für Da-
der Kreis, der mit den letzten Versen des er- men bewogen ihn zur Konzeption des erläu-
sten Gedichts Hegire eröffnet wurde: »Wisset ternden Teils: »denn freilich mußte der Deut-
nur, daß Dichterworte / Um des Paradieses sche stutzen, wenn man ihm etwas aus einer
Pforte / Immer leise klopfend schweben, / ganz andern Welt herüberzubringen unter-
Sich erbittend ew'ges Leben« (S. 13). Auf die nahm. Auch hatte die Probe in dem Damen-
West-östlicher Divan 521

kalender das Publicum mehr irre gemacht als wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Di-
vorbereitet« (Tag- und lahreshifte 1818). Die van geblieben; zur Untersuchung der Quellen-
ersten Rezensionen des Werks zeugen dann bezüge vgl. vor allem die Arbeiten von Ka-
von beifalliger Aufnahme; großes Publikums- tharina und Momme Mommsen, zu den entste-
interesse war damit jedoch nicht verbunden. hungsgeschichtlichen Aspekten Hans-J.
Wirkungsmächtig aber war der Divan bei den Weitz, Wilhelm Solms und David Lee. Die
Dichtem; er förderte ein bereits vorhandenes Beschreibung und Würdigung der besonderen
Interesse am Orient und stimulierte weitere stilistischen und kompositorischen Qualitäten
poetische Produktionen in »östlicher Manier« des Divan setzte vergleichsweise spät im Zu-
wie die Ghaselen August von Platens (1821) sammenhang einer erst im 20. Jh. zu verzeich-
und die Östlichen Rosen Friedrich Rückerts nenden verstärkten Zuwendung zu G.s gesam-
(1822) oder Les Orientales von Victor Hugo tem Alterswerk ein; als Beispiel für G.s späten
(1829). Deutlich ablehnenden Reaktionen, wie Stil wurde der Divan jetzt mit den in mancher
sie sich unter anderem bei Ludwig Börne, der Hinsicht vergleichbaren Strukturen der Wan-
dem »gereimten Knecht« G. im Zusammen- derjahre und des Faust II in Verbindung ge-
hang der panegyrischen Elemente des Divan bracht (vgl. etwa Bahrs Untersuchung der Iro-
eine sklavisch-reaktionäre Gesinnung vorwirft nie im Spätwerk Goethes). Gab es 1947 zu-
(Mandelkow, Bd. 1, S. 512), oder Georg Gott- nächst noch den Versuch, die Gedichte des
fried Gervinus (S.795f.) finden, stehen die Buchs Suleika in ihrer »eigentlichen«, die Lie-
positiven Urteile vor allem von Georg Wilhelm besbegegnung von G. und Marianne chronolo-
Friedrich Hegel (Mandelkow, Bd. 2, gisch dokumentierenden Reihenfolge zu prä-
S.148-151) und Heinrich Heine gegenüber. sentieren (Korff), setzte sich bald die Einsicht
Für Hegel gehörte der Divan zu den reichsten durch, daß die von G. gewählte Anordnung der
und reifsten Werken des Dichters; Heine pries Gedichte keineswegs eine lediglich pragma-
ihn in bildreicher Sprache und ließ sich dar- tisch motivierte und inzwischen verzichtbare
über hinaus ebenfalls zu eigener »orientalisie- Verschleierung biographischer Bezüge, son-
render« Lyrik anregen: Der Divan, heißt es dern notwendiger Bestandteil des Kunstwerks
1855 in seiner Geschichte der neueren schdnen ist: In den Untersuchungen der folgenden
Literatur in Deutschland, »enthält die Denk- Jahre wurden sowohl der Struktur einzelner
und Gefühlsweise des Orients, in blühenden Bücher als auch der ganzen Sammlung ver-
Liedern und kernigen Sprüchen; und das duf- stärkte Aufmerksamkeit zuteil (z.B. Becker,
tet und glüht darin, wie ein Harem voll ver- Hass, Ihekweazu). Nicht zuletzt galt die litera-
liebter Odalisken mit schwarzen gesclunink- turwissenschaftliche Auseinandersetzung mit
ten Gazellenaugen und sehnsüchtig weißen dem Divan in diesem Jahrhundert auch seiner
Armen. [ ... ] - den berauschendsten Lebens- editorischen Erschließung (Grumach, Weitz,
genuß hat hier Goethe in Verse gebracht, und Maier, Birus). Zahlreich sind die Einzelstu-
diese sind so leicht, so glücklich, so hinge- dien zu den berühmtesten Gedichten der
haucht, so ätherisch, daß man sich wundert Sammlung. Wiederholt wurde der Divan
wie dergleichen in deutscher Sprache möglich schließlich im Hinblick auf die darin zum Aus-
war« (Mandelkow, Bd. 2, S. 77f.). druck kommende Beziehung G.s zum Orient
Die literaturwissenschaftliche Auseinander- untersucht (vgl. etwa die Arbeiten von K.
setzung mit dem Divan setzte im Laufe des 19. Mommsen, Solbrig, Wertheim und Birus). In
Jhs. zunächst in der Form erläuternder Kom- diesem Zusammenhang vor allem kamen die
mentare ein, die sich vor allem um den Auf- als bloßer Appendix zu den Gedichten häufig
weis seiner vielfaltigen Quellenbezüge (vgl. vernachlässigten Noten und Abhandlungen in
Wurm) und um die Erhellung des entstehungs- den Blick, die von Heine beschrieben wurden
geschichtlich-biographischen Hintergrunds als eine »Prosa [ ... ] so durchsichtig wie das
bemühten (vgl. Burdach). Beide Bereiche sind grüne Meer, wenn heller Sommernachmittag
bis heute zentrale Gegenstände der literatur- und Windstille, und man ganz klar hinab-
522 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

schauen kann in die Tiefe, wo die versunkenen Divan in biographischer und zeitgeschichtlicher Be-
Städte mit ihren verschollenen Herrlichkeiten leuchtung [1896]. In: Lohner, Edgar (Hg.),
S. 310-351. - Dill, Christa: Wörterbuch zu Goethes
sichtbar werden« (Mandelkow, Bd. 2, S.78).
West-östlichem Divan. Tübingen 1987. - Eibl, Karl:
Auf ihre Bedeutung für die Orientalistik hat Consensus. Eine Denkfigur des 18. Jahrhunderts als
vor allem Schaeder hingewiesen, der sie als Kompositionsprinzip Goethescher Gedichtsamm-
Magna Charta der deutschen Orientforschung lungen. In: Kablitz, Andreas u.a. (Hg.): Literarhi-
preist (S. 74). storische Begegnungen. Fs. Bernhard König. Tübin-
Nicht nur die Noten und Abhandlungen, gen 1993, S.29-41. - Gervinus, Georg Gottfried:
Geschichte der Deutschen Dichtung. Bd. 5. Hg. von
sondern der ganze Divan läßt sich lesen als ein
Karl Bartsch. Leipzig 51874. - Grimm, Herman:
früher Beitrag zu dem, was G. später »Welt- Goethe und Suleika [1869]. In: Lohner, Edgar (Hg.),
literatur« nannte und als »mehr oder weniger S. 285-309. - HAMMER, Bd. 1. - Hass, Hans-Egon:
freien geistigen Handelsverkehr« beschrieb Über die strukturelle Einheit des West-östlichen Di-
(Einleitung zu Carlyles Leben Schillers; WA I, vans [1959]. In: Lohner, Edgar (Hg.), S. 431-443. -
42.1, S. 187): Geprägt von der Vergegenwär- Helm, Karin: Goethes Verskunst im West-östlichen
Divan. Phi!. Diss. [masch.] Göttingen 1955. -
tigung und Aneignung des Fremden und Fer-
Henckmann, Gisela: Gespräch und Geselligkeit in
nen ist der Divan ein in vielfältiger Hinsicht Goethes Westöstlichem Divan. Stuttgart 1975. - Hill-
»dialogisches« Werk, das solche Bezugnahme mann, Ingeborg: Dichtung als Gegenstand der Dich-
gleichzeitig selbst thematisiert. »Der Divan tung. Untersuchungen zum Problem der Einheit des
handelt vom Dichter«, stellte schon Kom- West-östlichen Divan. Bonn 1965. - Hofrnannsthal,
merell fest (S. 265), sein poetologischer Cha- Hugo von: Goethes West-östlicher Divan [1913]. In:
ders.: Reden und Aufsätze 1. 1891-1913. Hg. von
rakter gehört zu den zentralen Gegenständen
Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch.
der Divan-Forschung (vgl. Lemmel, Hill- Frankfurt/M. 1979, S. 438-442. - Ihekweazu, Edith:
mann, Neumann), seine Gedichte sind The- Goethes West-östlicher Divan. Untersuchungen zur
matisierung und Realisation poetischer Inspi- Struktur des lyrischen Zyklus. Hamburg 1971. - Kay-
ration zugleich. Ein »Spiel-Angebot« nennt ser, Wolfgang: Beobachtungen zur Verskunst des
Adolf Muschg die Dichtungskonzeption des West-östlichen Divans [1953]. In: ders.: Kunst und
Spie!. Fünf Goethe-Studien. Göttingen 21967,
Divan - »Spielen heißt: die tägliche Negation
S.47-63. - KOMMERELL, S.216-309. - Korff, Her-
unserer Existenz negieren lernen. Es ist die mann August: Die Liebesgedichte des West-östlichen
Aufhebung der Unfreiheit mit symbolischen Divans in zeitlicher Folge, mit Einführung und ent-
Mitteln, durch poetische Komposition« stehungsgeschichtlichem Kommentar. Leipzig 1947.
(S. 94f.). G. selbst schreibt über den Divan an - Lee, David E.: Zum Stand der Wasserzeichen-
seine Schwiegertochter Ottilie am 21.6. 1818: forschung in der Goethe-Philologie - mit besonderer
Berücksichtigung des West-östlichen Divans. In:
»Die Wirkung dieser Gedichte empfindest du
GoetheYb. 1 (1982), S. 138-152. - Lemmel, Monika:
ganz richtig, ihre Bestimmung ist, uns von der Poetologie in Goethes West-östlichem Divan. Heidel-
bedingenden Gegenwart abzulösen und uns berg 1987. - Lentz, Wolfgang: Goethes Noten und
für den Augenblick dem Gefühl nach in eine Abhandlungen zum West-östlichen Divan. Hamburg
gränzenlose Freiheit zu versetzen<<. o.J. [1958]. - Lohner, Edgar (Hg.): Studien zum
West-östlichen Divan Goethes. Darmstadt 1971. -
Maier, Hans Albert (Hg.): Goethe. West-östlicher Di-
van. Kritische Ausgabe der Gedichte mit textge-
Literatur:
schichtlichem Kommentar. 2 Bde. Tübingen 1965. -
Bahr, Ehrhard: Die Ironie im Spätwerk Goethes > ••• Mandelkow, Kar! Robert: Goethe im Urteil seiner
diese sehr ernsten Scherze ... (. Studien zum West- Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goet-
östlichen Divan, zu den Wanderjahren und zu Faust hes in Deutschland. Bd. 1 u. 2. München 1975 u.
Il. Berlin 1972. - Becker, Carl: Das Buch Suleika als 1977. - Mommsen, Katharina: Goethe und Diez.
Zyklus. In: Lohner, Edgar (Hg.), S. 392-430. - Birus, Quellenuntersuchungen zu Gedichten der Divan-
Hendrik: Goethes imaginativer Orientalismus. In: Epoche. Berlin 1961. - Dies.: Goethe und die arabi-
JbFDtHochst. 1992, S. 107-128. - Burdach, Konrad: sche Welt. Frankfurt/M. 1988. Mommsen,
Zur Entstehungsgeschichte des West-östlichen Di- Momme: Studien zum West-östlichen Divan. Berlin
vans. Drei Akademievorträge. Hg. von Ernst Gru- 1962. - Muschg, Adolf: Goethe als Emigrant. Zum
mach. Berlin 1955. - Ders.: Goethes West-östlicher West-östlichen Divan. In: ders.: Goethe als Emi-
Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans 323

grant. Auf der Suche nach dem Grünen bei einem ermunterte, ließ G. das Projekt fallen - wohl
alten Dichter. Frankfurt/M. 1986, S. 73-104. - Neu- weil er 1816/1817 kaum mehr am Divan ar-
mann, Gerhard: >Lasst mich weinen ... e. Die Schrift
der Tränen in Goethes West-östlichem Divan. In: beitete. Erst Ende Juni 1818 nahm G. seinen
OGS.15 (1984), S.48-76. - Schaeder, Hans Hein- Plan von 1816 wieder auf. Daftir waren zwei
rich: Goethes Erlebnis des Ostens. Leipzig 1938. - Impulse entscheidend: Ab 21.12. 1817 hatte
Solbrig, IngeborgHildegard: Hammer-Purgstall und der Erstdruck der Divan-Gedichte bei Cotta
Goethe. >Dem Zaubermeister das Werkzeuge. Bem, begonnen; nachdem die dann doch unerläu-
Frankfurt/M.1973. - Solms, Wilhelm: Goethes terte »Probe in dem Damenkalender das Pu-
Deutscher Divan von 1814. In: LJb. 15 (1974),
blicum mehr irre gemacht als vorbereitet«
S. 39-80. - Ders.: Goethes Vorarbeiten zum Divan.
München 1977. - Weitz, Hans-J.: Goethe-Studien. hatte, wollte G. seinen Divan erst veröffentli-
In: ZfdPh. 71 (1951), S. 69-80. - Ders.: Bemerkun- chen, sobald er ihn mit »Noten« und »einzel-
gen zum frühen West-östlichen Divan. In: Schnitzler, nen Aufsätzen« flankiert hatte, durch die er
Günter (Hg.): Bild und Gedanke. Fs. Gerhart Bau- »ein besseres Verständniß zu erreichen hoffen
mann. München 1980, S. 218-241. - Wertheim, Ur- durfte« (Tag- und Jahreshifte 1818). Außer-
sula: Von Tasso zu Hafis. Probleme von Lyrik und
dem hielt G. ab dem 3.5. 1818 endlich Joseph
Prosa des West-östlichen Divans. Berlin 1965. -
Wurm, Christian: Commentar zu Göthe's west-öst- von Hammers lang erwartete Geschichte der
lichem Divan bestehend in Materialien und Origina- schönen Redekünste Persiens in Händen. Die-
lien zum Verständnisse desselben. Nümberg 1834. sen historischen Überblick über die persische
Literatur legte G. nach eigenem Zeugnis dem
Anne Bohnenkamp Prosateil seines Divan zugrunde. Er hat damit
eine ähnliche Funktion wie Hammers Hafis-
Übersetzung, die G.s Divan-Gedichte auslö-
ste. Mit der Geschichte der schönen Redekün-
ste Persiens als zentralem Bezugstext weitete
G. sein ursprüngliches Projekt des Jahres 1816
Noten und Abhandlungen zu einem schließlich 59 Kapitel umfassenden
eigenen Prosateil aus. Dabei war ihm das Stu-
zu besserem Verständniß dium von gut zwanzig weiteren orientalisti-
des West-östlichen Divans schen Büchern dienlich. Die Arbeit rückte nun
rasch voran: Ab 29.7. 1818 diktierte G. den
Prosateil direkt in die Feder seiner Schreiber,
und die Diktate gingen als Druckvorlage gleich
Entstehung weiter an die Druckerei. Am 11.8. 1819 konnte
G. seinem Verleger Cotta den Abschluß des
Prosateils und damit des gesamten Divan
Die Noten und Abhandlungen schließen sich melden.
als erläuternder Prosateil an die Divan-Ge- Da die Schreiber-Diktate nach der Druck-
dichte an und sind zu deren »besserem Ver- legung vernichtet wurden, sind nur wenige
ständniß« 1818 und 1819 verfaßt worden. Al- handschriftliche Zeugnisse zum Prosateil des
lerdings reicht G.s Plan zu einer »prosaischen Divan überliefert: neben einer Abschrift von
Zugabe« zurück bis in das Jahr 1816. Am 26.6. G.s »Haupt-Schema« zum Prosateil (einem Ar-
1816 schrieb G. an seinen Verleger Johann beitsschema) nur wenige vereinzelte Entwürfe
Friedrich Cotta, in dessen Taschenbuch für G.s zu einzelnen Kapiteln und G.s Notizen zu
Damen einige Divan-Gedichte vorabgedruckt einem Moses-Aufsatz aus den Jahren 1789 und
werden sollten, um die Reaktion des Publi- 1812, die er ftir das Kapitel Israel in der Wüste
kums zu prüfen: »Halten Sie ftir gut und nöt- verwertete (FA I, 3.1, S. 617-645). Der älteste
hig, daß man diesen Gedichten [ ... ] einige Textzeuge, der den Prosateil vollständig wie-
Einleitung und Erläuterung hinzuftigte; so bin dergibt, ist zugleich der verläßlichste, weil er
ich dazu bereit«. Doch obwohl Cotta ihn dazu einen von G. selbst noch intensiv betreuten
324 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Text bietet: der Erstdruck des Divan bei Cotta G.s schwankende Bezeichnungen des Prosa-
von 1819 (unverändert in FA I, 3.1, teils bildeten den Hintergrund für die kon-
S. 137-299). Dazu gibt es lediglich noch ein troverse Einschätzung der Noten undAbhand-
Exemplar mit Korrekturen, die aber größten- lungen durch die Divan-Forschung. Die Skala
teils bereits in den Druck übernommen wur- reicht hier von Konrad Burdach (JA 5, S. 452),
den (WA 1,7, S. 263-265). der nur die Gedichte als »Text«, G.s Noten und
Im Erstdruck trug der Prosateil noch den Abhandlungen lediglich als »Kommentar« zu
informellen Titel Besserem Verständn!ß und den Gedichten und damit als nicht kommen-
war analog zu den zwölf vorangehenden Ge- tierungsbedürftig auffaßte, bis zu Hans Hein-
dicht-Büchern drucktechnisch quasi als drei- rich Schaeder, der in den Noten und Abhand-
zehntes Buch gestaltet. Erst das beschränkte lungen ein »selbständiges Ganzes« sah, für
Fassungsvermögen der Einzelbände der Aus- dessen Verständnis allerdings auf den ganzen
gabe letzter Hand von 1827 veranlaßte G., den Divan als Gesamtkunstwerk zurückzugreifen
Prosateil in einem separaten Band abdrucken sei (S. 65). Da die Forschung sich über Jahr-
zu lassen. Lediglich aus technischen Gründen zehnte Burdachs Urteil anschloß, behandelte
also gab G. ihm daraufhin den ausformulierten sie die Noten und Abhandlungen gegenüber
(in der Forschung seither verbreiteten und den Divan-Gedichten fast stiefmütterlich und
deshalb hier wiederaufgenommenen) Dop- benutzte sie vorwiegend als Zitatenschatz zur
peltitel Noten und Abhandlungen zu besserem Interpretation der Gedichte. Erst neuere Ar-
Verständn!ß des West-östlichen Divans - unge- beiten haben sich gezielt mit den Noten und
achtet seiner früheren Verwahrung, der Prosa- Abhandlungen auseinandergesetzt, so die von
teil biete »keine Noten [ ... ], sondern fortlau- Wolfgang Lentz, Hendrik Birus und Barbara
fendeErläuterungen«(anFrommann, 7.1.1819). Stemmrich-Köhler (letztere bietet einen um-
fassenden Forschungsüberblick, S. 11-49).
Ihre Behandlung der Noten und Abhandlun-
Rezeption gen als selbständigen Text mit lockerem, er-
läuterndem Bezug zum Gedichtteil folgt
Der nachträgliche Doppeltitel Noten und Ab- Schaeders Urteil - und nicht zuletzt den Hin-
handlungen führte zu Versuchen der For- weisen, die G. selbst bereits in der Einleitung
schung, unter »Noten« die kürzeren, direkter zu den Noten und Abhandlungen gegeben
auf die Divan-Gedichte bezogenen Kapitel, hatte: »Dieses Erklären [in den Noten und Ab-
unter »Abhandlungen« die längeren, von den handlungen; d. Vf.] aber geschieht in einem
Divan-Gedichten unabhängigen fassen zu wol- gewissen Zusammenhange, damit nicht abge-
len. Doch dies scheitert schon daran, daß eine rissene Noten, sondern ein selbstständiger
Korrelation von Kapitellänge und Bezug zum Text erscheine, der, obgleich nur flüchtig be-
Gedichtteil nicht nachweisbar ist. Überhaupt handelt und lose verknüpft, dem Lesenden je-
stellen nur die Kapitel Einleitung, Aeltere Per- doch Uebersicht und Erläuterung gewähre«
ser und Künftiger Divan explizite Verbindun- (FA I, 5.1, S. 139). Vor allem aber zeichnen sich
gen zum Gedichtteil her. Vor allem aber setzte die Noten und Abhandlungen durch eine -
G. selbst in seinen eigenen Bezeichnungen für schon im Titel signalisierte - fundamentale
die Noten und Abhandlungen wechselnde Ak- Zielsetzung aus: »Lesern [ ... ], die mit dem
zente: Entweder betonten sie den Supplement- Osten wenig oder nicht bekannt sind«, ein »un-
charakter der Noten und Abhandlungen (»No- mittelbares Verständniß« (ebd., S.138) des
ten und Zusätze«, »Vor- und Mitwort«, »Zu- Orients und so auch der Divan-Gedichte zu
gaben«, »Nachtrag«) oder ihr schon im Titel verschaffen. Hiermit verbindet sich eine Aus-
Besserem Verständn!ß anvisiertes Ziel der Er- nahmestellung der Noten und Abhandlungen
läuterung (»Erläuterungen und Aufklärun- innerhalb des Schaffens G.s. G. hat wohl eini-
gen«, »Anmerkungen«, »Bemerkungen«) oder gen seiner naturwissenschaftlichen und auto-
aber ihre Selbständigkeit (»prosaischer Teil«). biographischen Schriften einleitende Bemer-
Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans 325

kungen vorangestellt, in seinem dichterischen kenntniße des Herankommens« (so im Haupt-


Werk aber hat er dies in dieser Form sonst Schema; FA I, 3.1, S. 639). G. umschreibt hier
nicht getan. Anders aber als in den Einleitun- seine eigene und überhaupt die europäische
gen zu seinen naturwissenschaftlichen Schrif- Annäherung an den Orient, indem er die Rolle
ten erhebt G. einen wissenschaftlichen An- der Reisebeschreibungen und seiner orientali-
spruch für die Noten und Abhandlungen er- stischen Lehrer darlegt. Diese Hälfte der No-
klärtermaßen nicht: Ihre Adressaten sind vor- ten und Abhandlungen verdankt sich nicht
rangig Laien, und ihr Autor entsagt gleich zu mehr dem Vorbild der Geschichte der schönen
Beginn jedem Anspruch auf Vollständigkeit Redekünste Persiens. Vielmehr löste G. hier
und wissenschaftliche Stringenz. So sind die ein viel älteres Vorhaben ein: Das Buch der
Kapitel kompositorisch locker durch überlei- Freunde, in dem G. jedem der ihm hilfreichen
tende Wendungen, durch antithetischen Be- Orientreisenden und Orientalisten ein Hom-
zug, durch Wiederaufnahme eines Motivs oder mage-Gedicht zugedacht hatte, war nie zu-
Themas oder durch assoziative Bezüge ver- stande gekommen. Dieser »Pflicht« kam er
bunden. Auf diese Weise bildet sich ein Ge- letztlich - nun in Prosa - in den Kapiteln
flecht heraus, daß dem der »Spiegelungen« im Marco Polo bis Von Hammer nach.
Gedichtteil ähnelt. Der von Lentz (S. 71) be- Zweitens folgen die Kapitel der Noten und
merkte »Gesprächscharakter« der Noten und Abhandlungen in beiden Teilen jeweils einem
Abhandlungen hingegen entspricht einem chronologischen Faden. Lediglich bei den lite-
Spezifikum des Spätwerks G.s überhaupt, raturästhetischen Kapiteln Allgemeines bis
nämlich der Einbeziehung seines Publikums Chiffer (S. 178-214) läßt sich ein solcher gar
als Kommunikationsinstanz. Darüber hinaus nicht erkennen und in den Anfangskapiteln
erweist sich der »Gesprächscharakter« auch als Hebräer bis Mahmud von Gasna (S. 140-166)
internes Strukturmerkmal: Mehrere Kapitel unterläuft G. seine chronologische Anordnung
beziehen sich dialogisch als relativierende Re- teilweise durch eine geographische: Vom
plik auf die jeweils vorausgehenden. Sie neh- durch das Alte und Neue Testament bekannten
men darin die schon im Gedichtteil entwik- Palästina geht er in den vorderen arabischen
kelte Dialogstruktur wieder auf. Orient bis nach Persien, dann in einem Bogen
zurück bis an den Bosporus und erneut wieder
nach Persien. Beide Teile der Noten und Ab-
Struktur handlungen nehmen jedoch von der Bibel ih-
Innerhalb dieser lockeren Komposition der ren Ausgang (vgl. Hebräer und Alt-Testament-
Noten und Abhandlungen lassen sich aber liches), so daß diese zugleich eine komposito-
doch drei Anordnungsprinzipien erkennen. rische Klammer bildet.
Erstens weisen die Noten und Abhandlungen Drittens nun lassen sich innerhalb dieser
eine deutliche Zweiteilung auf, deren Schei- Zweiteilung kleinere, inhaltlich locker anein-
telpunkt das 42. Kapitel Künftiger Divan bil- andergebundene Kapitelgruppen erkennen,
det. Es bezieht sich am explizitesten auf den anhand derer sich der Inhalt der Noten und
Gedichtteil, denn an dieser zentralen Stelle Abhandlungen näher skizzieren läßt.
erläutert G. retrospektiv sämtliche Bücher des
poetischen Divan, stellt aber zugleich seine
Pläne zu einem darüber hinaus erweiterten Der erste Teil der Noten und
Künftigen Divan vor. In der vorausgehenden Abhandlungen
Hälfte der Noten und Abhandlungen durch-
läuft G. die politische, Kultur- und Literatur- Der erste Teil der Noten und Abhandlungen,
geschichte des nahen Orients, insbesondere der Geschichte und Charakter der orientali-
Persiens, und erläutert literaturästhetische schen - besonders der persischen - Dichtung
Fragestellungen. Der zweite Teil der Noten gewidmet ist, setzt mit der Einleitung ein
und Abhandlungen bietet wesentlich G.s »Be- (S. 138-140). In ihr stilisiert sich G. - nach
526 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

den genannten Bemerkungen zum Aufbau und Die Kapitelgruppe Uebergang bis Mahmud
zur Zielsetzung der Noten und Abhandlungen von Gasna (S. 148-166) bietet eine chronolo-
- zum »Reisenden« (vgl. bereits Hegire; S. 12). gische literaturgeschichtliche Darstellung spe-
In diesem Bild einer imaginativen Reise re- ziell der persischen Dichtung, die G., getreu
flektiert G. seine eigenen Rezeptionsbedin- seinem Verfahren, an die historische und so-
gungen : Als nur vorübergehend im Orient ziokulturelle Basis rückbindet. Da das Ver-
»Reisendem« gelingt ihm die Annäherung an ständnis der neueren Zeit und ihrer Poesie nur
den Orient >>nur bis auf einen gewissen Grad« durch die Kenntnis der »frühesten Zeit« ge-
(S. 159), denn eine die eigene okzidentale Prä- wonnen werden könne, konzentriert sich G.
gung vollends überwindende Aneignung wie vor allem auf Determinanten, die sich auch
auch Darstellung des Orients erkennt G. als über den Depravationsprozeß hinweg als kon-
illusionär. Schon der Titel West-östlicher Di- sistent erweisen. Eine solche Determinante,
van indiziert, daß nur eine Vermittlung beider den »Kern« der persischen Nation, sieht G. in
Pole möglich ist. der »edlen reinen Naturreligion« (S. 149) der
In der Kapitelgruppe Hebräer und Araber al ten Parsen (Aeltere Perser). An ihr faszinierte
(S. 140-148) geht G. auf Vorläufer der persi- G. nicht nur die Affinität zum eigenen Natur-
schen Dichtung ein und bietet zwei Formen verständnis und Pantheismus (vgl. besonders
>>naiven<, »reiner« und ursprünglicher Poesie: Farbenlehre), sondern auch, daß sich die parsi-
das biblische Hohe Lied und das Buch Ruth sche Verehrung der Natur als Manifestation
und die arabische vorislamische Beduinen- Gottes in einfachen religiösen Riten und dem
dichtung (»Moallakat«). Mit ihnen verbindet »reinlichen« Umgang mit allen Elementen nie-
sich erstmals G.s zentrales, besonders die er- derschlug, um so letztlich auch Sitten und
ste Hälfte der Noten und Abhandlungen Ethik zu prägen (vgl. Vermächtn!ß alt persi-
durchziehendes Verfahren: Die »Eigenthüm- schen Glaubens; S. 122-124). Diese Kultur hat
lichkeit« der orientalischen Dichtung läßt sich zwar keine literarischen Zeugnisse hervorge-
nur ergründen, wenn man zu ihren »reinen« bracht, wohl aber eine Form der ästhetischen
Wurzeln vordringt. Diese manifestieren sich Erkenntnis in der harmonischen Übereinstim-
zwar über Jahrhunderte hin und wieder, unter- mung von Subjekt (Ich) und Erkenntnisgegen-
liegen aber wesentlich einem Depravations- stand (Natur) (Stemmrich-Köhler, S. 89-108).
prozeß in »späteren Zeiten«. Die ursprüng- Um den problematischen »Grund der neue-
liche »Eigenthümlichkeit« wie auch dieser ren persischen Dichtkunst« (S. 162) zu klären,
Prozeß sind grundsätzlich abhängig von hi- schildert G. in den Kapiteln Regiment bis
storischen und soziokulturellen Faktoren, die Mahmud von Gasna (S. 152-166) den die per-
G. zu erklären versucht, um den europäischen sische Geschichte durchlaufenden Wechsel
Lesern das Befremdliche an orientalischer zwischen einerseits Überfremdungen der per-
Poesie zu vermitteln. So thematisiert G. hier sischen Kultur, Literatur und Sprache und an-
zum einen zwei Varianten der Depravation - dererseits den wiederholten Versuchen ihrer
die fragmentarische Überlieferung (Hohes Reaktivierung. So folgten auf die Eroberung
Lied) und Mohammeds religiöse Reglemen- Persiens durch Griechen und Parther, den Ein-
tierung der auf die »Moallakat« folgenden ara- fluß der indischen Religion und Philosophie,
bischen Dichtungen. Zum anderen präsentiert die Islamisierung Persiens durch die Araber
er - im Dienste jenes Verfahrens - seinem und die Verdrängung des Persischen durch das
europäischen Publikum die ihm wohlbekannte Arabische immer wieder Bemühungen um
Bibel in einem »verfremdenden« Licht als »äl- Wiederbelebung der persischen Sprache und
teste Sammlung [ ... ] orientalischer Poesie« Kultur: so besonders unter der persischen Dy-
(S. 140). Auf diese Weise führt er sein Publi- nastie der Sasaniden (5. Jh. v. ehr.) und unter
kum über etwas ihm Bekanntes an das Unbe- den Barmekiden, hervorragenden Ministern
kannte heran (vgl. auch die Kap. Hafts und unter den Omajjaden (786-805 n. ehr.). In G.s
Buch-Orakel) . - durch von Hammer geprägter - Sicht soll erst
Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans 327

der Regent Mahmud von Gasna (reg. 999-1030 an sein europäisches Publikum, es möge be-
n. Chr.), obwohl selbst »eifriger Muslim«, die rücksichtigen, daß unter so hinderlichen so-
Islamisierung der persischen Literatur in der ziokulturellen Umständen schon die Werke
Erkenntnis überwunden haben, daß die Reli- der »Persischen Dichter des ersten Zeitalters
gion in der - hier persischen - Nationalität [ ... ] problematisch« seien (S. 166). Damit hat
gegründet sei, die »auf der Poesie« beruhe G. zugleich die Voraussetzungen für das nun in
(S. 164). So wurde er zum »Stifter persischer der Kapitelgruppe Dichterkänige bis Ueber-
Dichtkunst und höherer Kultur« (ebd.). In die- sicht (S. 166-178) folgende »Siebengestirn«
sen geschichtlichen Abriß schaltete G. vor die skizziert. Dies bezeichnet gemäß Hammer
Islamisierung Persiens ein Kapitel über den jene sieben persischen Hauptdichter, die je-
Begründer des Islams, Mahomet (S. 157-161). weils für ein »Zeitalter« charakteristisch sein
Schon Jahrzehnte zuvor hatte G.s Bewunde- sollen. In Dichterkänige (S. 166) beschreibt G.
rung für Mohammed und für den Koran einge- zunächst eine von Ma!:unüd von Gasna ge-
setzt (v gl. G.s Koran-Auszüge von 1771/72 und schaffene Institution: Der Dichterkönig war
sein Dramen-Fragment Mahometvon 1772; FA ein Dichter im Ministerrang am Hofe, betreute
I, 1, S. 193-195; FA I, 4, S. 249-253). Hier aber kulturelle und wissenschaftliche Angelegen-
problematisiert er, daß Mohammed als »Pro- heiten und förderte andere Dichter seiner
phet« für sich beanspruche, mit dem Koran ein Wahl. Und in Ueberlüiferungen (S. 166f.) ver-
unantastbar gültiges »göttliches Gesetz« über- weist G. auf die Chronik Bastan-name, die
mittelt zu haben, nicht etwa nur ein »mensch- zeige, wie in Persien trotz kultureller Über-
liches« fiktionales Buch wie die Poeten fremdungen eine klandestine Überlieferung
(S. 157). Diese, seine Konkurrenten beim Pu- frühester, »reiner« Zeugnisse möglich gewe-
blikum, verunglimpfe er als Lügner (vgl. dazu sen sei. Beide Kapitel bereiten den Boden für
die Gedichte Anklage, Fetwa, Der Deutsche das erste der sieben Dichterporträts, die je-
dankt, Fetwa; S. 29-31). G. unterläuft nun Mo- weils Höhepunkte der Geschichte der persi-
hammeds Wahrheitsanspruch mit dem Hin- schen Literatur berühren. Dafür ist beim er-
weis auf die »fabelhaften« und »mährchenhaf- sten Dichter, Firdusi (932-936 bis 1020 oder
ten« Züge des Korans - um gegen die Ziel- 1025/26), eine günstige Konstellation ent-
setzungen Mohammeds gerade in den poeti- scheidend: daß Mahmüd von Gasna die Re-
schen Qualitäten des Korans seinen stitution der persischen Volks- und Stammesli-
besonderen Wert zu sehen. In der gleichfalls teratur förderte, daß FirdausI sein poetisches
eingeschalteten Fortleilenden Bemerkung Talent am Bastan-name übte und daß Mah-
(S. 162) geht G. von der Bildung der äußeren müds Dichterkönig »Ansari« FirdausI aus-
Gestalt des Menschen durch »physisch-clima- wählte zur Neuabfassung einer Chronik in der
tische Einwirkung« aus (eine seit Montesquieu Nachfolge des Bastan-name. All dies fand
und Herder gängige Auffassung), um die »Re- seine kongeniale Manifestation in FirdausIs
gierungsform« dadurch, daß sie einen »mora- National- und Heldenepos Sah-name, das, um
lisch-climatischen Zustand« hervorbringe, als »frühe Reinigkeit und Tüchtigkeit zu errei-
einen entscheidend charakterbildenden Fak- chen« (S. 169), arabische Worte verbannte und
tor zu definieren. G.s Plädoyer fällt zugunsten in PahlavI (Sammelbezeichnung für die mittel-
der Despotie aus, weil sie »große Charaktere« persischen Dialekte des 5. Jhs. v. Chr. bis 7.
hervorbringe. Implizit präsentiert G. damit Jhs. n. Chr.) verfaßt ist. Da das Sah-name die
vorab Argumente für die in seinen Augen för- Geschichte der persischen Könige und Helden
derliche Wirkung der Despotie auf einzelne, von den mythischen Anfängen des Iran bis ins
hervorragende und im folgenden dargestellte 7. Jh. erzählte, wurde es zum »wichtigen, [ ... ]
Dichter (z.B. Ferdusiund Enwen). mythisch -historischen N ational-Fundament«
Auf den prekären Wechsel von Überfrem- Persiens (S. 168). Alle sieben Porträts folgen
dung und Wiederherstellung der persischen dem gleichen Verfahren: Die Charakterisie-
Kultur gründet G. seine wiederholte Mahnung rung der Werke dieser Dichter wird rückge-
328 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

bunden an eine Kurzbiographie, die die jewei- G. fangt dies in dreierlei Weise auf: Ausge-
ligen soziokulturellen Bedingungen aufzeigt. hend von »Häfiz« als Ehrennamen dieses Dich-
Bei Firdausi war es die günstige Konstellation, ters, der den Koran auswendig weiß, schlägt er
beim folgenden Enweri (gest. 1169/70) dessen erstens eine Brücke zur den europäischen Le-
Aufstieg zum Hofdichter. Als solcher war An- sern gewärtigen »Bibelfestigkeit« und deren
wari wesentlich ein »freyer Encomiast« lebenspraktischer Anwendung (vgl. Beyname
(S. 169). Sich ausdrücklich auf die inspirie- und Buch-Orakel; S. 28 u. S. 208f.). So lobt er
rende Gegenwart des Hofes berufend, vertei- I:Iäfi~' kritisches Verfahren, das G. selbst be-
digt G. Enkomiastik und Panegyrik als legi- zeichnenderweise in Israel in der Wüste auf die
time poetische Gattungen. Nisami (um Bibel bezogen anwenden sollte, »auf den
1141-1209) konzentrierte sich auf die Bearbei- Grund des reinen guten Textes« des Korans
tung der in der persischen Literatur promi- durchzudringen, um von dort aus in gewandter
nentesten Liebesgeschichten (vgl. die Ge- Auslegung dem Koran lebenspraktische An-
dichte Musterbilder und Lesebuch, S.36f.). wendung abzugewinnen. Diese »Gewandheit«
Dem »ruhigen Geschäft« als Liebeslyriker kam findet ihr Pendant in der »sceptischen Beweg-
nach G., Ni~ämis ),ry.higes«, im Gegensatz zu lichkeit« (S. 175) der Dichtung I:Iäfi~', die das
Firdausl und AnwarI abseits des Hofes geführ- Lob der (auch homoerotischen) Liebe und des
tes Leben entgegen. Die Entfernung vom Hof Weins anstimmt - beides im Islam verboten -,
und der zunehmende Einfluß der Religion wahlweise aber auch als Allegorie der Liebe zu
wird als biographischer Hintergrund bei den Gott lesbar ist (vgl. Offenbar Geheimn!ß und
folgenden Dichtem, Rumi, Saadi und Hafts, Wink; S. 32 u. S. 33). Letztlich verlangt I:Iäfi~'
relevant, vor allem bei RümI, einem der größ- Dichtung so vom Leser selbst eine »sceptische
ten mystischen Dichter des Orients. Unter- Beweglichkeit« in der Auslegung. Schließlich
gründig an seine Betrachtungen zur Enkomia- löst G. die Zwiespältigkeit I:Iäfi~' als Koran-
stik anknüpfend, lobt G. bei Rümi lehrer und Dichter darin auf, daß er sich -
(1207-1273/4), daß er »sein Talent am liebsten gemäß seinem Verfahren die Ableitung des
zu Preis und Verherrlichung Gottes« nutzte Werks aus dem Leben des Dichters befürwor-
(S. 171) - also für eine quasi gesteigerte Enko- tend - gegen die Umkehrung wendet: Rück-
miastik. Trotzdem kritisiert G. RümIs Rückzug schlüsse aus dem Werk auf das Leben des
aus der Welt, der seinen Geist »ins Abstruse« Dichters ziehen zu wollen. Dies zeigt G.s sou-
(S. 172) gewendet habe. Im Kontrast zum welt- veränen Umgang mit Prinzipien, die denen
abgewandten Rümi ist für das Werk SacdIs seines eigenen Werks nicht unbedingt entspre-
(1213/1219-ca. 1291) bestimmend, daß dieser chen müssen - hatte er doch im 18. Jh. selbst
sich, 30 Jahre in der ganzen Welt umherge- der neuzeitlichen Bekenntnisdichtung zum
kommen, auf seine »große Erfahrungsbreite« Sieg verholfen und seine eigenen Werke als
(S. 173) stützen konnte. Seine »Anecdoten«, »Bruchstücke einer großen Konfession« be-
die er »mit Sprüchen und Versen« (ebd.) zu zeichnet (FA I, 14, S. 310). Der letzte der sie-
einer didaktischen Dichtung vor allem in sei- ben Hauptdichter, der »nachgeborene«
nen Werken Golestän (Rosengarten) und Bu- Dschami (1414-1492), war durch den zeitli-
stän (Obstgarten) ausbaute, gehören zu den chen Abstand zu allen Vorgängern prädesti-
Hauptquellen der Divan-Gedichte. Dagegen niert, in seinen Werken die »Summe der reli-
aber ist I:Iäfi~' (ca. 1325/26-1390) Einfluß auf giosen, philosophischen, wissenschaftlichen,
den Divan ungleich bedeutender, löste doch prosaisch-poetischen Cultur« Persiens zu zie-
sein von Hammer übersetzter Diwan G.s Di- hen (FA I, 3.1, S. 175).
van überhaupt erst aus. Dieser Sonderstellung G. bündelt in der folgenden Kapitelgruppe
zollt G. hier erneut Tribut, indem er aufI:Iäfi~' Allgemeines bis ChiJfer (S. 178-214) seine ge-
Doppelfunktion als Koranlehrer und Dichter schichtlich-konkreten Darstellungen orienta-
eingeht, die angesichts Mohammeds Verun- lischer Poesie und ihrer Determinanten in all-
glimpfung der Poesie befremdlich erscheint. gemein-theoretischen, literaturästhetischen
Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans 329

Analysen. Dieser Kapitelgruppe liegt erneut menziehung) (S. 292). Des weiteren definiert
G.s Verfahren zugrunde, immer bis zu den frü- er die aus der »Uebersicht des Weltwesens«
hen »reinen« Zuständen einer Zivilisation, ei- gewonnene Fähigkeit orientalischer Dichter,
nes Textes oder einer Sprache vorzudringen, die »entferntesten Dinge leicht aufeinander
aus denen sich die spätere, eine Depravation [zu] [ ... ] beziehen«, als »höchsten Charakter«
durchlaufende historische Entwicklung ablei- der orientalischen Dichtkunst, nämlich als
ten läßt. Dem entsprechen G.s Auffassung der »Geist« im Sinne von Kombinatorik (S. 181f.).
konkreten Lebenspraxis des Parsismus als Ba- Er manifestiert sich aber erst in einer späteren
sis noch der neueren persischen Zustände, Epoche, in der keine »vollkommen-reine Nai-
seine Ableitung der arabischen Sprache aus vetät« mehr möglich sei, sondern vom Dichter
ihrem lebenspraktischen Bezug zu Gegenstän- Besonnenheit (Reflexion) verlangt werde, da-
den der arabischen Beduinenkultur (Orienta- mit er - wieder eine soziokulturelle Begrün-
lischer Poesie Ur-Elemente; S. 196-198), aber dung - mit dem »gesteigerten Wissen« umge-
auch sein lebhaftes Interesse an Konkreta der hen kann (S. 182). Diese Fähigkeit ist beson-
literarischen Kultur (das »Fai« in Buch-Orakel, ders unter der Despotie (S. 186-188) vonnö-
die »Blumensprache« in Blumen- und Zeichen- ten, in der G. eine zweite Ursache für die
wechsel, S. 209) wie auch am Brauch, den Ko- europäischen Rezeptionsprobleme sieht -
ran und andere klassische Texte als Arsenal für nicht ohne zuvor den üblicherweise vorge-
Zitate und Anspielungen zu verwenden (Chi/- schobenen Störfaktor zu entkräften: den Is-
Jer; S. 212-214). Dezidiert widmet sich G. hier lam, der mit dem Christentum in vielen Punk-
europäischen Rezeptionsproblemen : Die ori- ten übereinstimme. Im Falle der Despotie aber
entalische Dichtung könne ein Europäer »nie- räumt G. ein, daß die »geistige und körper-
mals ganz rein« aufnehmen, solange er sich am liche Unterwürfigkeit« Europäern >>niemals
Fehlen des »Geschmacks« störe, der »Sonde- eingehen kann« (S. 186). G. reiht einige be-
rung nämlich des Schicklichen vom Unschick- fremdliche und mit Befremden kommentierte
lichen« (S. 197). Daß dieser - europäische - Beispiele persischer Poesie auf, schreibt deren
Maßstab an orientalischer Dichtung fehlgeht, Bildlichkeit der Unterwürfigkeit aber einer
erklärt G. erneut durch soziokulturelle Bedin- späteren Depravation zu. Auf das Verhältnis
gungen: Die »Mannigfaltigkeit« der orientali- von Despotie und Enkomiastik konzentriert
schen Dichter und ihre geschmacksverlet- sich die Kapitel-Trias Einrede, Nachtrag und
zende Technik, die »edelsten und niedrigsten Gegenwirkung (S. 189-196). Seine Reflexio-
Bilder [zu] verknüpfen«, führt G. auf die »un- nen zu den Regierungsformen in Regiment
übersehbare« Vietniltigkeit der orientalischen (S. 152f.) und in der Fortleitenden Bemerkung
Lebenswelt zurück, in der alle Gegenstände (S. 163) aufnehmend, erklärt G. die Enkomia-
unterschiedslos »gleichen Werth haben« stik als abhängig von ihrem soziokulturellen
(S. 178). Zugleich sind orientalische Dichter Umfeld: Allein in der Welt des Hofes, im »Um-
fahig, aus dieser Vielfalt einen Einzelgegen- gange mit Großen, eröffnet sich ihm [dem
stand herauszuheben und ihm »sein eigen- Dichter; d. Vf.] eine Weltübersicht, deren er
thümlichstes« (S. 181) abzugewinnen. Dies bedarf um zum Reichthum aller Stoffe zu ge-
führt zu einer geradezu kanonischen Be- langen« (S. 195) - eine Darstellung, in der G.
schränkung auf »gewisse Lieblingsgegen- seine eigenen Verhältnisse am Weimarer Hof
stände«, die wiederum bei Europäern den Ein- unter der Hand positiv stilisiert. Zu den Stich-
druck der »Eintönigkeit« bewirken kann worten »Stoff« und »Besonnenheit« des Dich-
(ebd.). Diese doppelte Befähigung der persi- ters in späteren Zeiten schiebt G. in Einge-
schen Dichtung zur Vielbezüglichkeit ins schaltetes (S. 196) eine kurze allgemeine Re-
Grenzenlose und zur Konzentration aufs be- flexion zum Verhältnis von Stoff, Form und
stimmte Einzelne charakterisiert G. mit sei- Gehalt ein. Vgl. zu dieser Begriffstrias: G.s
nem berühmten Begriffspaar »Diastole und Selbstschilderung (1797), seine Einleitung zu
Systole« (griech.: Ausdehnung und Zusam- den Propyläen (1798), seine Farbenlehre
330 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

(1810) und den Aufsatz Stoff und Gehalt, zur terliege er »verwickelten Verhältnissen«
Bearbeitung vorgeschlagen (1827). »Stoff« lie- (S. 197f.). Letztlich sei der »Geschmack« als
fert dem Dichter die Welt - unter der Hand: eurozentristische Rezeptionsbarriere über-
besonders die am Hofe -, der »Gehalt« ent- windbar, wenn sich die Europäer zum Ver-
springt »aus der Fülle seines Innern« (S. 196). ständnis orientalischer Poesie »orientalisiren«
Da sich beide aber »bewußtlos« (ebd.) begeg- würden (S.200). Deshalb sind sowohl die
nen, muß die Besonnenheit (Reflexion) des Übersetzung wie auch die Vergleichung (d.i.
Dichters bei der Formgebung das gegenseitige »kritische nebeneinandersteIlung«; DWB, Bd.
Durchdringen von Stoff, Gehalt und Form lei- 12.1, Sp. 458) problematische Vehikel, da sie
sten. In Orientalischer Poesie Ur-Elemente und genau umgekehrt die orientalische Poesie nach
Uebergang von Tropen zu Gleichnissen Europa herüberholen wollen. Das völlig an-
(S. 196-200) schließt G. sprachtheoretische ders funktionierende Arabisch sei praktisch
Betrachtungen zur arabischen Sprache und zur unübersetzbar und die vergleichende Gegen-
Entwicklung der Tropen an: Daß im Arabi- überstellung von europäischer und orientali-
schen alle Worte von nur »wenig Stamm- und scher Literatur (Kap. Warnung und Verglei-
Wurzelworten« (S. 196) abgeleitet würden, chung; S.200-204), die letztere in Europa
entspricht den linguistischen Tatsachen. Daß »einbürgern« solle, sieht G. »gegenwärtig« als
diese »Wurzelworte« als »allererster Natur- »schädlich« an, weil die Eigentümlichkeiten
und Lebensausdruck« (ebd.) notwendig Kon- der orientalischen Literatur verfälschend
kreta aus dem beduinischen Leben als ur- (S. 201). Im Kontrast dazu bietet G. aber selbst
sprünglicher Kultur der Araber seien, ist eine einen »zulässigen« Fall: Kühn vergleicht er die
unbewiesene Hypothese G.s. Sie verdankt sich manieristische Metaphern- und Vergleichs-
seinem - hier an die Sprachursprungstheorien technik seines Zeitgenossen Jean Paul
Rousseaus und Herders anknüpfenden - Be- (1763-1825), den er zuvor zwanzig Jahre lang
mühen, zu den frühesten reinsten Äußerungs- überwiegend ablehnte, mit der Vielbezüglich-
formen vorzudringen und deren Lebensbezug keit in der altarabisehen Poesie; letztere aber
aufzuspüren. Die Fähigkeit orientalischer war Jean Paul ganz fremd (vgl. dazu Birus
Dichter, »übers Kreuz das Fernste zu verknüp- 1986).
fen« (S. 197), verdankt sich also nicht nur ih- In der Kapitelgruppe verwahrung, Dichtar-
rem kombinatorischen »Geist«, sondern auch ten und Natuiformen der Dichtung
sprachlicher Materialität: Das begrenzte Arse- (S.204-208) widmet sich G. der problemati-
nal von Wurzelwörtern bewirke, »daß dem schen Klassifikation der Künste - speziell der
Orientalen bey allem alles einfällt« und er also Dichtarten -, die nur in Beratung mit dem
durch wenig Ableitungen auch »Widerspre- »Künstler« angegangen werden dürfe. Da die
chendes auseinander herzuleiten« (ebd.) fähig übliche Klassifikation schwankenden Krite-
ist. Diese »Urelemente« durchlaufen nach G. rien folge, verlangt G. eine »rationellere An-
wiederum eine Depravation von den »ersten ordnung«, die - erneut Dichtung und Natur
nothwendigen Ur-Tropen« bis zu den »gewag- engführend - von »ächten« Naturformen der
testen« und zuletzt »abgeschmackten« (ebd.). Dichtung ausgeht: Epos, Lyrik und Drama
Das »Schickliche« und »Unschickliche« sind (S. 206). Als Lösung schlägt G. einen »Kreis«
dann nicht mehr zu trennen, so daß der - vor, in dem die drei Naturformen »gegen ein-
europäischem Verständnis entspringende - ander über[ge Jstellt« und die »Musterstücke«
»Geschmack« als Leitprinzip in der orientali- (Genres) je nach Anteil daran variabel einge-
schen Literatur notwendig entfalle (ebd.). Er- setzt würden (S. 207; die dogmatisierte Durch-
neut führt G. diese Entwicklung von »noth- führung dieser Idee findet·sich bei Julius Pe-
wendigen« zu »abgeschmackten« Urtropen auf tersen). Mit seinem abschließenden Ruf nach
soziokulturelle Einflüsse zurück: In der älte- einer >>naturgemäßen Ordnung« der Dichtar-
ren Zeit wirke der »Naturquell der Eindrücke« ten (S. 208) spielt G. auf Linnes Bemühungen
auf den Dichter, in der späteren dagegen un- um ein »Systema Plantarum Naturale« an (vgl.
Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans 331

dessen Verwendung bereits in Die Metamor- genau dieses klandestinen Kommunikations-


phose der Pflanzen; FA I, 24, S. 748). So läßt G. mittels bedient hatten (vgl. die Chiffrenbriefe;
durchscheinen, daß ihm keine bloße Klassifi- S.595-597, S.600f., S.604 u. S.607 und das
kation, sondern eine Metamorphosenlehre der Gedicht Geheimschrift; S. 98f.).
Dichtarten vorschwebt. In Nachtrag (FA I, 3.1,
S.208) fokussiert G. erneut auf Persien, um
das Fehlen des Dramas soziokulturell zu be- Das zentrale Kapitel
gründen: Das orientalische Leben sei »an sich
selbst nicht gesprächig«, denn unter dem Des- Die Struktur des zentralen Kapitels Künftiger
potismus seien Einreden gegen den Herrscher Divan (S. 214-228) folgt G.s Divan-Ankündi-
bestenfalls in Form von »Ci taten des Korans gung im Morgenblatt für gebildete Stände vom
und bekannter DichtersteIlen« möglich 24.2. 1816 (S. 549-551), die er schon seinem
(ebd.) . Plan von 1816, die Divan-Proben im Taschen-
Dies dient ihm als Übergang zur nächsten buch für Damen zu erläutern, hatte zugrunde
Kapitelgruppe, Buch-Orakel bis Chiffer legen wollen. Neben der Charakterisierung
(S. 208-214), in der G. drei Gesprächsformen der zwölf Divan-Bücher und damit der Ver-
vorstellt, welche wie das Zitat notwendig der klammerung von Gedicht- und Prosateil skiz-
Auslegung und des kombinatorischen »Geists« zierte G. hier, indem er das Aristotelische Po-
bedürfen. Um mit dem orientalischen Buch- stulat von der Geschlossenheit und definitiven
Orakel, dem »Fai« (S.209), bekannt zu ma- Strukturiertheit eines Kunstwerks spielerisch
chen, verweist G. auf die parallele europäische übertrat, die künftige Erweiterung jedes ein-
Sitte, das Bibelstechen : Aus einer mit einer zelnen Buchs. Daß G. dies als tatsächlich ein-
Nadel zufallig getroffenen Bibelstelle deutete lösbares Programm ansah, ist zu bezweifeln:
man sich Ratschläge für die eigene Zukunft. Zwar kamen nach dem Erstdruck 1819 im
Da im Orient die »Orakelfrage« auch an l:fäfi~' Neuen Divan noch 43 neue Gedichte hinzu, die
Diwan gestellt wurde, erhoffte sich G. dies dann 1827 im Divan der Ausgabe letzter Hand
auch für seinen eigenen Divan (Talismane erschienen; diese Ergänzungen aber gingen in
werd' ich in dem Buch zerstreuen; S.62). In ganz andere Richtungen. Daß der Künftige Di-
Blumen- und Zeichenwechsel und in Chiffer van mit seinen Erweiterungsplänen aber auch
(S. 209-214) geht G. auf zwei Formen von »Ge- unverändert im bereits ausgebauten Divan der
heimschriften« (S.209) zwischen Liebenden Ausgabe letzter Hand erschien, verleiht die-
ein. Im Austausch von Gegenständen und dazu sem bis heute den Nimbus eines offenen
passenden Reimen (»Blumensprache«) mani- Werks.
festieren sich noch einmal die Haupteigen- Außerdem handelt G. im Künftigen Divan
schaften der orientalischen Poesie: »der weit en passant weitere, teilweise schon ange-
umgreifende Blick über alle Welt-Gegen- spielte Themen aus seiner Darstellung der ori-
stände, die Leichtigkeit zu reimen« und eine entalischen Kultur und Literatur ab und stellt
»gewisse Lust« an Rätseln (S. 209). Dagegen damit seine eigenen Gedichte dezidiert in die-
besteht die Chiffren-Korrespondenz (Chiffer) sen Rahmen. G.s Erörterung der »Anmaßung«
im Austausch von Zahlen, die auf bestimmte als notwendigem »orientalischen« Bestandteil
Seiten und Zeilen eines miteinander verab- seines Divan (S.221) begründet das »Über-
redeten Buchs verweisen, so daß sich daraus macht«-Motiv im poetischen Divan (vgl. Derb
eine - nur den Eingeweihten verständliche - und Tüchtig; S.22f. u. auch S.54f., S.57f.,
Botschaft erschließt. G.s Hinweis, gerade »Ha- S. 80-82, S. 84f.). Anläßlich des Buchs der Pa-
fisens Gedichte« eigneten sich für einen sol- rabeln (S.115-119) fügt G. eine gattungs in-
chen verschlüsselten »Gefühlwechsel« zwi- terne Spezifizierung der orientalischen Para-
schen Liebenden (S.213), konnten die Zeit- bel ein - zur G.-Zeit eine Fabel- und Gleich-
genossen nicht vollends verstehen: Nur G. und niserzählung. Er unterscheidet die »ethische«,
Marianne von Willemer wußten, daß sie sich die »moralische«, die »ascetische«, die von ihm
332 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

unbenannte »theologische« und die »mysti- rung, wenn wir sie mit critischem Sinne be-
sche« (S. 227f.). Die Parabeln des Divan wur- handeln, wenn wir aufdecken, worin sie sich
den vorzugsweise der vierten Klasse zugerech- widerspricht, und wie oft das Ursprüngliche,
net, zum Teil aber auch der ersten (S. 117 u. Bessere, durch nachherige Zusätze, Einschal-
S. 424) bzw. beiden Klassen (S. 116). Eine vom tungen und Accommodationen verdeckt, ja
orientalischen Rahmen unabhängige Beson- entstellt worden. Der innerliche, eigentliche
derheit ist G.s anläßlich der Unmuts-»Explo- Ur- und Grundwerth geht nur desto lebhafter
sionen« im Buch des Unmuths eingestreute und reiner hervor« (S. 247). Im Falle von Mo-
Paralipomenon-Definition (S. 220). G. zählt zu ses 2-5 sonderte G. kritisch, was nicht »eigent-
den Paralipomena »Äußerungen«, die momen- liche Erzählung« (S.251) ist (besonders die
tan »bedenklich« sind und einer zukünftigen später eingeschalteten Gesetze und Gebote),
Veröffentlichung in einem »unverfänglichen« und erreichte so sein doppeltes Ziel: Sein akri-
Rezeptionskontext vorbehalten bleiben. Dies bischer Nachweis, daß der Zug nur zwei, nicht
entspricht ungefähr der ursprünglichen Be- vierzig Jahre gedauert habe, wirft auch ein
deutung des Paralipomenons als etwas »Aus- positiveres Licht auf den ambivalenten Cha-
gelassenem, Beiseitegelassenem«, nicht aber rakter Mosis, denn der »Gewaltmensch« und
den späteren editionsphilologischen Definiti- eher erfolglose Feldherr erscheint bei dieser
onsversuchen, die es textsortenspezifisch oder kurzen Dauer als ungleich erfolgreicherer
im Hinblick auf den Werkkontext zu fassen »Mann der That« (S. 247).
suchen. In der nächsten Kapitelgruppe, Wallfahrten
und Kreuzzüge bis Neuere und neuste Reisende
(S. 249-269), setzt G. mit der Darstellung der
Der zweite Teil der Noten und Orientreisenden seinen chronologischen Fa-
Abhandlungen den fort, da über die >meuere und neueste« Zeit
des Orients besonders deren Reiseberichte
Der zweite Teil der Noten und Abhandlungen Aufschluß geben. Einleitend kritisiert er an
mit G.s »Bekenntnissen des Herankommens« den ältesten, auf Wallfahrten und Kreuzzüge
an den Orient und seine Poesie beginnt mit der zurückgehenden Orientbeschreibungen die
stark auf die Bibel konzentrierten Kapitel- »Einseitigkeit der christlich-feindlichen An-
gruppe Alt-Testamentliches bis Nähere Hülfs- sicht« (S.249). Dem Orientreisenden Marco
mittel (S. 229-248). In Alt-Testamentliches be- Polo (1254-1323) dagegen, der China und In-
zieht sich G. auf sein biographisch am wei- dien durchreiste, dankt G. vorbehaltlos für die
testen zurückliegendes »Herankommen« an Vermittlung des »fernsten Ostens«, der
die orientalische Poesie, als welche Johann »fremdartigsten Verhältnisse« (ebd.). Dem
Gottfried Herder ihn die Bibel zu sehen an- weitgereisten Johannes von Montevilla (Sir
geregt hatte. Konkreter meint er seinen Auf- John Mandeville, um 1500-1372) gesteht G.
satz Moses oder die Wanderung der Kinder Is- zu, vieles richtig beschrieben, durch Einstreu-
raelvom April/Mai 1797, zu dem er seine Ent- ung von Fabeln aber seine »Glaubwürdigkeit«
würfe aufbewahrt hatte (S. 617-635), die er (S.251) verloren zu haben. Auf diese kriti-
nun für Israel in der Wüste (S. 229-248) ver- schen Töne folgt ein langes Porträt Pietro della
wertete. Hier führt G. exemplarisch an den Valles (1585-1652), durch dessen Reisebe-
Büchern Moses 2-5 sein die Noten und Ab- schreibung G. seinem »Divan einen eigen-
handlungen durchziehendes kritisches Verfah- thümlichen Grund und Boden gewonnen« zu
ren vor, indem er die depravierende Schicht haben meinte (S. 266). Das Interesse G.s mag
der »unbegreiflichen Redaction« zu durchdrin- dadurch erweckt worden sein, daß della Valle
gen sucht bis auf den eigentlichen »Grund«, Studien orientalischer Sprachen und Litera-
»Urstoff« (S.230f.). Denn allgemein gilt: turen betrieb, sich in Persien niederlassend,
»Kein Schade geschieht den heiligen Schrif- der »Landes art und Sitten« anbequemte und
ten, so wenig als jeder anderen Ueberliefe- sich sogar >mach ächt orientalischer Weise«
Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans 333

verliebte, nämlich in ein »Wortbild« (S. 252f.), Lob der Schriften Diez' (u.a. Buch des Kabus
d.i. ein Bild und dazu mündliche Informa- und Denkwürdigkeiten in Asien) und vor allem
tionen Dritter. Adam Olearius ist fur G. in der tatsächlich unermüdlichen Bereitschaft
zweierlei Hinsicht bedeutend: Er ist der erste Diez' zur fachkundigen Beratung. Von Ham-
Deutsche unter den Orientreisenden und zu- mer nimmt eine Sonderstellung ein: Seine
gleich eine Art Schnittstelle zwischen Orient- Übersetzung des Diwan von l:Iäfi~ war quasi
reisenden und Orientalisten, übersetzte er das Eingangstor zum West-östlichen Divan,
doch SacdIs GolestZm (Rosengarten) und Bü- seine Geschichte der schönen Redekünste Per-
stän (Obstgarten), die zu den hervorragenden siens - als den Noten und Abhandlungen zu-
Quellen des Divans gehören. Als Quellen ähn- grundeliegend - das Ausgangstor. An diese
lich einschlägig sind die Reiseberichte von Ta- schließt G. mit Betrachtungen zur Anlage ei-
vemier und Chardin: Jean Baptiste Tavemier ner Literaturgeschichte an: Insbesondere be-
und Jean Chardin verband, Protestanten und zogen auf die orientalische Literatur sei sie -
Franzosen zu sein und damit »höchst f<ihige gemäß seinem eigenen Vorgehen in den Noten
Individuen« (S. 268). Sowohl ihre Kaufinanns- und Abhandlungen - chronologisch zu halten,
tätigkeit wie auch die engeren Beziehungen nicht etwa systematisch (wie teilweise in Ham-
zwischen Frankreich und Persien erlaubten ih- mers Geschichte der schönen Redekünste Per-
nen ausgedehnte Reisen in Persien, tiefgrei- siens), denn »bey den orientalischen Poeten ist
fende Einblicke in die Kultur und - besonders alles zu sehr gemischt, als daß man das Ein-
bei Chardin - die Literatur, wovon G. für sei- zelne sondern könnte« (S. 279).
nen Divan profitierte. Da Uebersetzungen (S.280-283) aus orien-
Mit dem Übergang von den Orientreisenden talischen Sprachen eine der Hauptaktivitäten
zu den Orientalisten in der nächsten Kapitel- der Orientalisten waren, schließt G. mit einem
gruppe (Lehrer; Abgeschiedene, Mitlebende entsprechenden, die Probleme der Überset-
bis Uebersetzungen; S.269-283) zeichnet G., zung reflektierenden Kapitel. Die Auseinan-
zugleich der chronologischen Anlage der No- dersetzung mit Übersetzungen zieht sich durch
ten und Abhandlungen folgend, eine tatsäch- G.s Werk: vgl. Dichtung und Wahrheit (FA I,
liche wichtige Veränderung nach: Ende des 18. 14, S.537-539), Aufsätze zu Lukrez (WA I,
Jhs. verschob sich von den Erlebnisberichten 41.1, S. 361-365), Plato (WAl, 41.2, S.170),
der Reisenden das Gewicht zugunsten einer serbischer Dichtung (ebd., S. 151f.), Weltlite-
gelehrten Orientalistik, als deren Initialzün- ratur (ebd., S.306f.) und Dante (WA I, 42.2,
dung Napoleons Orient-Feldzug anzusehen S.70). Im Kapitel Uebersetzungen nun ver-
ist. So gedenkt G. unter Lehrer; Abgeschie- sucht er eine Klassifizierung in drei Arten: die
dene, Mitlebende summarisch einiger, ihm »schlicht-prosaische«, die lediglich den Inhalt,
hilfreicher Orientalisten. Dabei entspricht nicht die Form des Originals wiedergebe,
dem wahrlich »bedeutenden Einfluß« der übermittele so nicht »alle Eigenthümlichkei-
Schriften (S. 271) Heinrich Friedrich von ten« des Originals, so daß sie nur rur den an-
Diez' als Quellen auf G.s Divan, daß nur ihm fanglichen Einstieg tauge (S. 280). Dagegen
und Joseph von Hammer eigene Kapitel ge- verfolge die zweite, die »parodistische« Über-
widmet sind. Von Diez (S. 271-277) war - nach setzung das Ziel, sich in die »Zustände des
siebenjährigem Aufenthalt in Konstantinopel Auslandes« zu versetzen; sie eigne sich aber
- ein produktiver Amateur-Orientalist. Des- nur den »fremden Sinn« an, um diesen dann
halb dürfte G., selbst Amateur in orientalibus, »mit eignern Sinne wieder darzustellen«
beim Konflikt Diez' mit dem bestallten, pro- (ebd.). Als dritte Übersetzungsart, der die an-
fessionellen Orientalisten von Hammer wohl dem beiden eigentlich nur helfend vorange-
Sympathie rur Diez empfunden haben, trotz hen können, sieht G. jene an, die sich dem
»seiner, nicht gerade immer zu billigenden, Original inhaltlich wie formal zu »identificiren
Streitsucht« (S.273; dazu: Mommsen, strebe«, an den »Grundtext« heranführe und
S. 246-290). Schwerpunkt des Kapitels ist G.s sich letztlich der »Interlinear-Version« annä-
334 Von den Sonetten zwn West-östlichen Divan. 1806-1819

here (S.283). Er sieht hier aber zugleich das Diez. Quellenuntersuchungen zu Gedichten der Di-
Problem eines Widerstands beim Publikrun : van-Epoche. Berlin 1961. - Petersen, Julius: Die
Wissenschaft von der Dichtung. Berlin 1959,
Da der eng am Original arbeitende Übersetzer
S. 119-126. - Schaeder, Hans Heinrich: Goethes Er-
»mehr oder weniger die Originalität seiner lebnis des Ostens. Leipzig 1938. - Schlaffer, Hanne-
Nation« aufgibt, entsteht »ein Drittes, wozu lore: Gedichtete Theorie - Die Noten und Abhand-
der Geschmack der Menge sich erst heran bil- lungenzum West-dstlichenDivan. In: GoetheJb. 101
den« müsse (S.281). Mit der Rückkehr zrun (1984), S.218-233. - Solbrig, Ingeborg: Hammer-
orientalischen »Grundtext«, die schon am Ein- Purgstall und Goethe. ,Dem Zaubenneister das
Werkzeug<. Bem, Frankfurt/M. 1973. - Stemmrich-
gang der Noten und Abhandlungen (Hebräer)
Köhler, Barbara: Zur Funktion der orientalischen
stand, sieht G. den »ganzen Zirkel« als ab- Poesie bei Goethe, Herder, Hege!. Exotische Klassik
geschlossen an, »in welchem sich die An- und ästhetische Systematik in den Noten und Ab-
näherung des Fremden und Einheimischen, handlungen zu besserem Verständnis des West-dst-
des Bekannten und Unbekannten bewegt« lichen Divans Goethes, in Frühschriften Herders
(S.283). und in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik. Frankfurt/
M. u.a. 1992.
Im Kapitel Endlicher Abschlzif3! bis zu den
Schlußversen (S. 283-299) führt G. - nachdem Anke Bosse
er nun den »Zirkel« abgeschritten hat - auch
seine chronologische Linie zu Ende mit zeit-
genössischen Beispielen orientalischer Poesie.
In Revision (S.292-294) lobt er die Biblio-
theque orientale des Franzosen Barthelemy
d'Herbelot de Molainville (1625-1695), die
unter die Quellen des Divan zu rechnen ist und
G.s französisierende Rechtschreibung orien-
Mächtiges Uberraschen
talischer Namen und Begriffe prägte. Der
Dank an den jungen Orientalisten Johann
Gottfried Ludwig Kosegarten dient G. dazu, Mächtiges Überraschen ist das erste der sieb-
dessen hilfreiche Unterstützung auch für seine zehn Sonette G.s, die er zu einem Zyklus zu-
»Vorbereitung zu einem künftigen Divan« sammengefügt und im zweiten Band der Ge-
(S.294) zu wünschen - eine Volte zurück zrun dichte innerhalb der Werkausgabe von 1815
Künftigen Divan und eine abschließende Cha- veröffentlicht hat (Text in FA I, 2, S. 250). Es ist
rakterisierung des Divans als offenem Werk. im Dezember 1807 entstanden und wurde zu
Der Doppelschluß - die arabisch-deutsche Weihnachten an Bettine Brentano gesandt, die
Widmung für den Orientalisten Silvestre de G. im April 1807 zum erstenmal in Weimar
Sacy und der persisch-deutsche Spruch aus getroffen hatte. Ein Briefwechsel folgte, aus
Sa'dIs Golestän (S. 298f.) - vollenden die ori- dem G. mehrfach Anregungen für seine Dich-
entalische Rahmung des gesamten Divan. tung übernahm. In einem Brief Bettines an G.
von Ende November/Anfang Dezember 1807
findet sich auch ein Satz, der dem Bildmotiv
Literatur: dieses Sonetts entspricht: »Das bin ich! die Dir
Birus, Hendrik: Vergleichung. Goethes Einführung von Gott gegeben ist, als ein Damm, überwel-
in die Schreibweise Jean Pauls. Stuttgart 1986. - chen Dein Herz nicht mit dem Strohm der Zeit
Ders.: Goethes imaginativer Orientalismus. In: schwimmen soll«.
JbFDtHochst. (1992), S. 107-128. - Lee, David: Ob- Mächtiges Überraschen faßt wie eine Ouver-
jektivität oder dichterische Eigenart? Goethes Ver- türe die Themen des Zyklus in einem dynami-
hältnis zu seinen Quellen im Noten-Kapitel Blumen-
schen Bilde zusammen, dessen Bedeutung
und Zeichenwechsel. In: GoetheJb. 94 (1977),
S. 256-255. - Lentz, Wolfgang: Goethes Noten und wiederrun in den letzten beiden Worten erklärt
Abhandlungen zum West-dstlichen Divan. Hamburg wird: Es ist das »neue Leben«, das als die »Vita
o.J. [1958J. - Mommsen, Katharina: Goethe und nuova« im Sinne Dantes zu verstehen ist, als
Mächtiges Überraschen 555

die Inspiration eines Dichters zu neuem Werk vorgeprägten Gang des Stromes. Ein Felssturz,
durch die Erfahrung der Liebe. Dantes Vita der als das Werk einer solchen Oreas er-
nuova (um 1295), eine der ersten großen Lie- scheint, hält dessen Gang auf. Durch sie er-
besdichtungen der christlich-europäischen Li- eignet sich aber sinnfällig auch das »mächtige
teratur, enthält neben Canzonen, Stanzen und Überraschen« im menschlich-erotischen Be-
Balladen auch 25 Sonette. Dantes Werk be- reich. Daß G. diesem Eingreifen das Prädikat
schreibt eine Liebeserfahrung, die ihren ei- »dämonisch« hinzufügt, ist der Versuch, mit
gentlichen Sinn erst im Kunstwerk findet, das Hilfe eines ins Mythische führenden Begriffes
daraus hervorgeht. Für G. war also der Bezug einen solchen Vorgang nicht nur psychologisch
auf eine Form der italienischen Renaissance- als Gefühlserfahrung zu deuten, sondern ihn
Kunst, auf das Sonett, ebenso künstlerischer zugleich zu rechtfertigen. Denn »dämonisch«
wie inhaltlicher Natur. nennt G. ein Geschehen, das ebensowenig von
Das »mächtige Überraschen« des Titels er- der menschlichen Vernunft wie von einem
eignet sich bei ihm im doppelten Sinne als das göttlichen Willen abhängig und dessen Wert
für einen älteren Mann überraschende Liebes- weder gut noch böse ist, sondern eher beide
erlebnis, das ihn mit aller Macht erfaßt, wie Qualitäten besitzen oder zur Folge haben
zugleich als ein überraschendes Kunsterleb- kann. Das Dämonische jedenfalls bildet für G.,
nis, das ihm den Ausdruck in einer Kunstform wie er in Dichtung und Wahrheit schreibt,
erschließt, die er bisher eher mit Skepsis als »eine der moralischen Weltordnung wo nicht
eine romantische Zeitmode betrachtet hatte. entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende
Denn weder konnte der nahezu 60jährige G. Macht« (MA 16, S. 821f.).
ohne weiteres neue Liebeserfahrung erwar- G. hat diese »Macht« im Gedicht selbst hör-
ten, noch konnte er mit seinem in den 90er bar gemacht, insbesondere im ersten Terzett,
Jahren ausgeprägten klassizistischen Ge- in dem das sinnvolle Lesen den gleichmäßigen
schmack damit rechnen, daß sich ihm die So- jambischen Zeilenfluß durchbricht und die be-
nettform zu eigenem, adäquatem Ausdruck schriebene Bewegung rhythmisch nachvoll-
öffne. zieht: die Stauung, das Zurückfließen im En-
Von diesen Voraussetzungen her erschließt jambement und das danach erreichte »Ge-
sich das Gedicht in klarer Gliederung. Das hemmt«-Sein als Ruhe in sich selbst.
erste Quartett drückt im Bild des dem Meer Die Resultate solchen Überraschens stellen
zueilenden Stromes den Lebensgang des al- dann bildlich die beiden Terzette dar. Die
ternden Mannes aus, der >>unaufhaltsam fort »Welle«, der zu Tal eilende Strom, wird ge-
zu Tale« cv. 4), zum Tode also und zur Auf- staut. Daß die Welle »staunt«, könnte bereits
lösung im »Vater« Ozean eilt cv.11), was immer eine interpretative Entschlüsselung des Wort-
sich dabei in der Vertikalen, zeitenthoben, als sinnes in bezug auf das »mächtige Überra-
Spiegelung von Ewigem, Zeitlosem in den Er- schen« sein, das sich mit dem plötzlichen Stau-
fahrungen und Erkenntnissen von Moment zu nen ereignet hat. Das Deutsche Wörterbuch
Moment ereignen mag. Es ist ein Bild, das tief von Jacob und Wilhelm Grimm vermutet aller-
in G.s Naturanschauung verankert ist, insbe- dings lediglich einen Druckfehler (DWB 17,
sondere in der neptunistischen Vorstellung Sp. 1191). Der Gang zum Tode und zum »Vater«
von einem Urmeer als dem Zeugungselement Ozean wird jedenfalls sinnbildlich »ge-
allen Lebens, wovon vor allem in der Klassi- hemmt«, aber nicht verhindert. Gemeint ist
schen Walpurgisnacht des Faust II gesprochen also »neues Leben« lediglich als neue subjek-
wird. tive Erfahrung. Höhe und Tiefe spiegeln sich
An gleicher Stelle im Faust II cv. 7811ff.) nun beschaulich im ruhenden See, während
tritt Oreas, eine Bergnymphe, auf, die im So- früher der Fluß »unaufhaltsam« zu Tale
nett den Vorgang des zweiten Quartetts be- drängte, achtlos also für das war, was sich von
stimmt. Dieses zeigt den Einbruch des Über- oben in ihm reflektieren mochte. Das »spie-
raschenden in den scheinbar unaufhaltsamen, geln« der dritten Zeile wird sinnentsprechend
in der dreizehnten wieder aufgenommen.
336 Von den Sonetten zwn West-östlichen Divan. 1806-1819

Der relative Ruhezustand betont nun das bad, zum 21. Juni 1808; WA I, 4, S. 236ff.) und
Vertikale. Wellenschlag und »neues Leben« die Frankfurter Ausgabe (FA I, 2, S.776ff.)
entsprechen einander, und die hereinschau- dem Erstdruck in der Ausgabe letzter Hand
enden Gestirne sind sowohl Zeichen göttli- (ALH 47, S. 111, erschienen 1833) folgen.
cher Präsenz im neuen Leben wie die Eröff- Der negationsreiche Gedichtauftakt läßt
nung eines neuen, erweiterten Verständnisses schon deutlich werden, daß es sich hier um
für sie. Im Sonett aber erfüllt sich die Verbin- eine Antwort auf eine - der Empfängerin und
dung solcher Dimensionen zu hoher Kunst. der Karlsbader Gesellschaft bekannte - Vor-
lage handelt: Es ist die Reimepistel eines
Herrnhuters, Christian Gregor aus Bethlehem
Literatur: in Nordamerika, die im Juni 1771 zum Ge-
Fischer, Kuno: Goethes Sonettenkranz. Heidelberg burtstag seiner Tochter nach Hermhut ge-
1895. - Graham, Ilse: Strange Encounter. The Cyde schickt worden war. Eine Kopie davon liegt in
of Sonnets IS07/S. In: dies.: Goethe. Portrait of the G.s Nachlaß, eine weitere (von der Hand
Artist. Berlin 1977, S.34-60. - Hankamer, Paul: Friedrich Wilhelm Riemers) im Nachlaß Silvie
Spiel der Mächte. Tübingen 1943. - KORFF. - Lee,
Meredith: Studies in Goethe's Lyric Cycles. Chapel von Ziegesars, eine dritte (von der Hand Jo-
Hili 1975. - Müller, Joachim: Goethes Sonette. Lyri- hann August Friedrich Johns) sandte G. am
sche Epoche und motivische Kontinuität. Berlin 23.9.1829 an Karl August Varnhagen von Ense
1966. - Nürnberger, Helmuth: Mächtiges Überra- als Dank fur dessen Zinzendorfbiographie
schen. In: Reich-Ranicki, Marcel (Hg.): Johann (vgl. auch Gespräche, 3.2, S. 538). Die Epistel
Wolfgang Goethe. Verweile doch. 111 Gedichte mit ist abgedruckt in der Weimarer Ausgabe (WA I,
Interpretationen. Frankfurt/M., Leipzig 1992,
S.261-264. - Schlütter, Hans Jürgen: Goethes So- 5.2, S. 140-144). G. übernahm aus der Vorlage
nette. Anregung, Entstehung, Intention. Bad Hom- sowohl das sechshebige trochäische Versmaß
burg, Berlin, Zürich 1969. - Spuler, R.: Three Son- als auch den Zäsur- und Endreim. Während
nets by Goethe. An Investigation ofDialectics, Poetic die Bedeutung Silvie von Ziegesars für G.s
Stance, ami the Symbol. In: New German Studies. 12 Lyrik und die Wahlverwandtschaften (trotz
(19S4), S.201-212. Wolffund Koch) nicht unumstritten, jedenfalls
Gerhard Schulz nicht der Marianne von Willemers oder Ulrike
von Levetzows zu vergleichen ist, fällt auf, daß
so gut wie alle Texte, die mit Silvie in Verbin-
dung gebracht werden, deutliche Anspielun-
gen auf eine Vorlage zeigen (so etwa Berg-
schlcfJ, Schäfers Klagelied, Trost in Tränen und
Zum ein und zwanzigsten Sehnsucht). Dieser »intertextuelle« Bezug ist
nicht nur gesellschaftliches Spiel, sondern
Juni, Carlsbad 1808 wird, etwa in den Gedichten Silvies selbst,
Zeichen einer zwischenmenschlichen Verstän-
digung. Ihre Osterelegie von 1808 oder 1809
Das Gedicht zum 23. Geburtstag von Silvie von (abgedruckt bei Koch, S.230f.), greift G.s
Ziegesar, mit deren Familie G. schon lange in Willkommen und Abschied auf. Hier, in einem
freundschaftlichem Umgang war, entstand der großen Gedichte, die G. nicht aus, sondern
zwischen dem 18. und 20.6. 1808 in Karlsbad. zu einer Gelegenheit schrieb (Segebrecht,
Es ist die Entstehungszeit auch der Wahlver- S.316), erweitert sich das Bezugsnetz fast
wandtschaften. G.s Reinschrift des Gedichtes schon zu einer Vorstudie des Divan, insofern
im G.- und Schiller-Archiv (25/V,4,17) liegt hier Westliches - Amerika - und Östliches -
dem Text in der Münchner Ausgabe (MA 9, Böhmen - übereinandergeblendet werden.
S.23ff.) und der vorliegenden Interpretation
zugrunde, während die Weimarer Ausgabe Die Strophen eins bis drei legen Ort und Zeit
(mit dem Titel: An Silvie von Ziegesar. Karls- des Gedichtanlasses fest, zum Teil bis in ein-
Zum ein und zwanzigsten Jum,
. Carlsbad 1808 337
558 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

zeine Details der Karlsbader Szene: G. wohnte »ihr Weihnachten«, Silvies Geburtstag: G. hat
im Haus »Zu den drei Mohren«, die Familie diese Dialektik von Weihnachten und Geburts-
von Ziegesar im »Weißen Hirsch«. Vor allem tag reflektiert, wenn er von (s)einem zwei-
die Bestimmung des zeitlichen Anlasses bildet jährigen (Enkel-)Kind die weihnachtliche
den Angelpunkt des Gedichtes. Die herrnhuti- Frage festhält, »wann denn sein Weihnachten
sehe Überhöhung der christlichen Symbolik - komme. Dies allgemeine Fest zu begreifen war
irdisches versus geistiges Manna, Tee statt noch ein ganzes Jahr nötig« (MA 17, S. 766; FA
Blut - liefert G. dabei die Möglichkeit einer I, 13, S. 567). Der Geburtstag ist für G. eine
ironischen Zurücknahme, indem das Feme auf Paßhöhe der Reflexion, »innerlich sowohl
das ganz Nahe, der amerikanische Susque- rückwärts als vorwärts zu blicken, jenes mit
hanna auf die böhmische Tepl bezogen wird. vollem Ernst, dieses mit einiger Bedenklich-
G.s frühe Begegnung mit der aus dem Pietis- keit« (an die Frankfurter Festgenossen, 22.9.
mus hervorgegangenen herrnhutischen Ge- 1819). Nicht umsonst sind die Geburtstage im
meinde bezeugen das sechste Buch von Wil- Werther (28. August!) und in den Wahlver-
helm Meisters Lehrjahre und die entsprechen- wandtschaften Höhepunkte der Selbstverge-
den Passagen aus Dichtung und Wahrheit. Graf wisserung, Scheitelpunkte der Identität oder
Zinzendorf, einer der Vorsteher der Ge- ihres Scheiterns (auch in der Novelle Nicht zu
meinde, war 1741/42 zur Missionierung nach weit). Fällt der Geburtstag mit einem »allge-
Nordamerika aufgebrochen. Die Reimepistel meinen« Fest des Jahres zusammen, wie hier
von 1771 hielt G. »vielleicht für das Anmu- bei Silvie, so wird er in symbolischer Über-
thigste [ ... ] was aus der Religions-Ansicht je- höhung gedeutet. Eine Art Umkehrung zu die-
nes merkwürdigen Mannes [ ... ] hervorgegan- sem Geburtstagscarmen ist daher das Gedicht
gen« (an Varnhagen von Ense, 25.9. 1829). für Charlotte von Stein An ein Weihnachts-
Entsprechend dem mit Vers 40 formulierten, Kind. Den 25. December 1815mit dem Beginn:
zugleich selbstreferentiell zu lesenden Pro- »Daß du zugleich mit dem heiligen Christ / An
gramm des Gedichtes: »Hoch wird alles Nied- diesem Tage geboren bist« (WA 1,4, S. 249).
re, hohes neigt sich gern«, ist aber der christ- Wie sehr es G. auf diese wiederholte Spie-
liche Zusammenhang keineswegs bloß Stoff gelung von Einzelnem und Allgemeinem,
für eine launige Metamorphose. Vielmehr Westlichem und Östlichem, Pietistischem und
geht die Umgestaltung weiter und tiefer: An- Gesellschaftlichem, ja Religiösem und Priva-
laß des Gedichtes ist nicht ein zentrales Fest tem ankommt, verraten auch die Verschiebun-
des christlichen Jahres - Weihnachten (Y. 13), gen, die er im Umgang mit der Textvorlage
Fastnacht (Y. 15), Ostern, Pfingsten, Fron- vorgenommen hat. In der Variation ist noch
leichnam (Y. 17) -, sondern ein im Jahres- das Zitat erkennbar, aber es unterliegt bereits
kreislauf unverrückbares Datum, der längste einer Umgestaltung. In der Epistel Christian
Tag, die Mitte des Jahres. Im Doppelblick des Gregors ist von einer Taufe die Rede, die statt-
Divan-Dichters ist er bedeutend als Geburts- fand »An der Susquehanna, einem großen
tag der Gefeierten und als Höhepunkt des Jah- Fluß, / Wo man indisch Manna stampft und
res, in doppelter Hinsicht also ein Gegenge- essen muß«. G. hat das »indisch« - wohl für
wicht zu Weihnachten, denn statt des allge- »indianisch« - in ein »irdsches Manna« umge-
meinen handelt es sich hier um ein »besonde- deutet, dem der Kontrast des »geistigen« dann
res« Weihnachtsfest, eben den Geburtstag, auf dem Fuß folgt. So ist von Anfang an die
und überdies ist er jahreszeitlich dem kür- Doppeldeutigkeit von Geist und Buchstabe an-
zesten Tag, der mit Weihnachten fast identisch gelegt, die dem sich gesellschaftlich gebenden
ist, entgegengesetzt. Der längste Tag - G. be- Geburtstagslied zugleich einen höheren An-
denkt ihn noch im Alter gerne mit Stamm- spruch sichert. Die Huldigung an die Geliebte
buchversen, so 1827 für Clementine von Man- wird unter der Hand zu einer Feier des läng-
deisloh (WA 1,4, S. 282) und 1851 für Melanie sten, hellsten Tages, der unverrückbar im Ze-
von Spiegel (WA I, 4, S.299) - ist eigentlich nit steht: Das Gedicht beschreibt nicht eine
Das Tagebuch. 1810 339

Gipfelbesteigung, von der aus der Blick zwi- mentales, aber liebenswertes, aus aristokra-
schen Heimat und Fremde schweift, sondern tischer Familie stammendes Kind der Roman-
einen Gipfel der Zeit, gleichsam zwischen tik« nennt, »das zufällig in die Liebe zu einem
Neujahr und Silvester - schrieb G. doch am beriihmten Dichter verstrickt wird« (S. 10f.).
22.6. 1808 an Carl Friedrich von Reinhard: G. nutzte die Gelegenheit zu einer transparen-
»Nachdem wir gestern den längsten Tag ge- ten, ironischen Vieldeutigkeit, wie sie später
feyert haben, so will ich auf der andern Seite der Divan voll entfalten wird.
des Jahres nicht hinabsteigen, ohne Ihnen
[ ... ] zu danken«. Durch die Koinzidenz von
einzelnem Geburtstag und allgemeiner Jah- Literatur:
resmitte wird der gefeierte Augenblick gera- Beutler, Ernst: Von der Bm zum Susquehanna. Goe-
dezu zum kairos, aber nicht zum orphischen the und Amerika in ihren Wechselbeziehungen. In:
Urwort - »Wie an dem Tag, der dich der Welt ders.: Essays um Goethe. Leipzig 21941, S. 446-500.
verliehen« - sondern zum gelegentlichen Ge- - Koch, Herbert: Goethe und Silvia von Ziegesar. In:
spräch. Das »längste Kind« gilt als ironisches GoetheJb. 16 (1954), S.225-234. - Raabe, Paul
(Hg.): Goethe und Sylvie. Stuttgart 1961. -
Unterpfand des längsten Tages, spricht G.
Schrimpf, Hans Joachim: Silvie von Ziegesar und die
doch auch in seinem Brief an Silvie vom 22.7. Goetheschen Altersdichtungen aus der Zeit von
1808 vom »lieben länglichen Gesichtehen«. 1802-1809. Eine Auseinandersetzung mit H.M.
Die vierte Verspartie bindet das Karlsbader Wolffs Buch Goethe in der Periode der Wahlver-
KurIeben in die Feier des »schönen Festes« wandtschaften. In: DVjs. 29 (1955), S.523-527. -
(V. 29) ein. Dabei wird die alltägliche Gelegen- Segebrecht, Wulf: Das Gelegenheitsgedicht. Stutt-
gart 1977. - Wolff, Hans M.: Goethe in der Periode
heit nicht unterdriickt, sondern in einen Pro-
der Wahlverwandtschaften (1802-1809). Bern 1952.
zeß poetischer Symbolisierung gesteigert, der
zugleich G.s Gelegenheitsdichtung program- Mathias Mayer
matisch umschreibt: »Hoch wird alles Niedre,
hohes neigt sich gern«. Am Scheitelpunkt des
Jahres ist, wie in der Dichtung, die Differenz
zwischen hoch und niedrig suspendiert, das
Belanglose erscheint bedeutend, das Selbst-
verständliche wird wichtig. Erst in der letzten,
fünften Strophe tritt die Gefeierte selbst auf.
Das Tagebuch. 1810
Sie erscheint als Blumenfreundin, die sich, am
Gipfel des Jahres, steigend (V. 43) und fort-
schreitend (V. 50) in der Natur bewegt. Ihr Das Gedicht gehört zu den nicht wenigen Wer-
Hintergrund ist weniger das gesellschaftliche ken G.s, die eine lange Inkubationszeit hatten.
Leben (vierte Strophe) als die Konstellation Niedergeschrieben Ende April 1810, haben
der Natur, die gleichsam »ihr zu Liebe« ihren G.s Stanzen eine bis zum zweiten Aufenthalt in
Höhepunkt erreicht. Zur rhetorischen Aus- Rom zuriickreichende Vorgeschichte. Als
schmückung meldet sich bereits der Durch- »nicht sehr ehrbar, aber außerordentlich
blick auf Orientalisches in Vers 52. Erst in den schön« nahm er am 17.7. 1797 die Novelle Der
abschließenden vier Versen wird der eigent- Erzbischof von Prag in OUave rime wahr, die
liche Glückwunsch formuliert, »zum eignen der Abbate Giambattista Casti vortrug. G.s
Tag«, der Einzelnes und Allgemeines verbin- Entzücken an dessen Verserzählungen, die zu-
det. Die Anrede als »Tochter, Freundin, Lieb- erst 1793 als Novelle galanti in zeitlicher und
chen« (V. 58) verbindet noch einmal unter- geistiger Nähe zu den Römischen Elegien er-
schiedliche Perspektiven: Altersabstand, ge- schienen, ging nicht verloren, denn er notierte
sellschaftlichen und privaten Umgang. Über sich am 19.5. 1808 in Karlsbad: »Im Casti ge-
die Gefeierte hat wohl Paul Raabe das Zu- lesen«, und eine produktive Absicht läßt sich
treffende gesagt, wenn er sie »ein etwas senti- aus der Eintragung vom 30. August ableiten:
340 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

»Über eine Geschichte im Castischen Style und die »Hochgestalt« »mit gierigem Blick« um-
Sinne«. Friedrich Wilhelm Riemer, der G. be- schweift (V 71) und die Geliebte auf ein bloßes
gleitet hatte, bestätigte diese Absicht und no- Sexualobjekt reduzieren will, aus dem Gleich-
tierte sich »höchst moralisch« dazu (Deutsche gewicht. Ihre »liebevolle« Hingabebereitschaft
Revue, 11, Heft 4, S. 33). Ausgeführt wurde die in unmittelbarer Körpernähe trifft auf das fac-
Absicht im April 1810, wobei G.s Tagebuch tum brutum: »Denn der so hitzig sonst den
zuerst am 22. festhält: "An den Stanzen«, fort- Meister spielet / Weicht schülerhaft zurück
gesetzt am 23. mit: »Früh an den Stanzen«. Mit und abgekühlet« (V 87L). Selbstverwünschun-
Riemer kam es am 27. zu einem Gespräch gen werden durch Erinnerungen an die ge-
»über moralische Erzählungen in Stanzen, In- liebte Ehefrau abgelöst, an Reaktionen, die
halt, Form, Reime«. Am 30.4. 1810 meldet das »jener Meister« selbst in der Tabuzone der
Tagebuch den Abschluß der Arbeit: »Die Stan- kirchlichen Eheschließung vollführt hat: »Ge-
zen >das Tagebuch< abgeschrieben«. In den steh' ich's nur, vor Priester und Altare, / Vor
Tag- und Jahreshiften 1810 präzisiert G. für deinem Jammerkreuz blutrünstger Christe, /
sich bei Gedichten, die sich im stillen ent- Verzeih mir's Gott! es regte sich der Iste«
wickelt haben, am Rand: »Das Tagebuch ero- (V 134fL). In dem zunehmenden Stolz auf die
tisch-moralisch« (WA I, 36, S. 399). Riemer früher an »manchem Unort« genossene Lei-
fertigte am 30. April eine Abschrift an, wie stungsfähigkeit des »Meister Iste«, der »au-
dessen Tagebuch festhält (Deutsche Revue 12, genblicklich, unverdrossen / Und wiederholt«
Heft 3, S. 61). bereitgestanden hat (V 149fL), löst sich die
Handschriftlich überliefert ist eine Rein- Blockade auf, in »allen seinen Prachten« steht
schrift von der Hand Riemers mit eigenhändi- er »dem Wandrer ganz zu Willen« (V 156L).
gen Korrekturen G.s (HI), die zudem auf ei- Doch während die Ursache der Lähmung dem
nem Separatblatt verzeichnet sind (H"). Eine Handelnden verschlossen bleibt, wird ihm be-
weitere Abschrift von unbekannter Hand gibt wußt, welche »Kraft ihn wieder aufgestählet«
den unkorrigierten Stand wieder (HZ). Eine hat (V 161), so daß »am sonderbarsten Orte«
Tibull-Übersetzung von J. F. Koreff, die G. am (V 171) das Treuegelöbnis durch die Entsa-
6. Mai erhalten hat, hat er am 23. Oktober mit gung, die jungfräuliche Beischläferin zu wek-
dem Original verglichen (WA III, 4, S. 116 u. ken, erneuert wird.
S. 161f.). Ob sich daneben eine Handschrift
G.s erhalten hat, wie Aussagen der Druck- Die Struktur des in 24 Stanzen gegliederten
geschichte nahelegen können, bleibt zweifel- Gedichts ist die einer doppelten Rahmung.
haft. Die vorliegende Interpretation bezieht Der Fall von momentaner Impotenz wird ein-
sich auf den Druck der Frankfurter Ausgabe gebettet in Verse, die auf die konkrete Reise-
(FA I, 2, S.843-849), die den Text nach der situation selbst eingehen (Strophen lI-IV, XXII
Handschrift HI wiedergibt und in ihrem Kom- u. XXIII), diese wiederum stehen in einem
mentar die durch G.s Korrekturen entstande- Rahmen von Tugendreflexionen (Strophen I u.
nen Varianten dokumentiert. XXIV), die das Gedicht zum Exempel machen.
Die 192 Verse des Gedichts erzählen und Mit ironischen Zügen wird an den Topos der
reflektieren das Geschick eines in Geschäften Moralien erinnert, doch der Schlußvers hebt
reisenden Ehemannes, der in einem Gasthaus die Ironie auf, wenn er von den zwei Hebeln
für eine Nacht einkehren muß, mit dem servie- spricht, die in der »Welt, der tollen« viel be-
renden Mädchen ein mitternächtliches Ren- wirken: »Sehr viel die Pflicht, unendlich mehr
dezvous vereinbaren kann, dann aber sexuell die Liebe [Hv. v. VL]« (V 190ff.). Der hier-
versagt. Die Blockade, eine als schmachvolle archisierenden Staffelung des Pflichtbewußt-
Neuerfahrung erlebte Bettszene, wird ausge- seins, das eine solche Situation der ehelichen
löst von dem Wunsch des jungfräulichen Mäd- Verfehlung oder Sünde hätte verhindern müs-
chens, ihm »nicht völlig fremd« zu gehören sen, entspricht die Staffelung rein bedürfnis-
(V 74). Diese Erklärung bringt den Mann, der bezogener und ganzheitlicher Liebe. Grenzen
Das Tagebuch. 1810 341

werden für beide Prinzipien gezogen, die de- lieh im ersten Teil seiner Gespräche mit Goethe
monstrativ-oppositionelle Erektion vor dem (1836). Nach der Lektüre notiert er am 25.2.
Kreuz Christi ist jenseits eines leibfeindlichen 1824 zunächst G.s Begründungen, weshalb der
Christentums angesiedelt, die ganzheitliche »Mehrzahl guter Menschen« und der wech-
Liebe jenseits eines Heidentums, von dem G. selnden Einstellung der Jahrhunderte ver-
in Winckelmann und sein Jahrhundert sagt: f<ingliche Gedichte der Allgemeinheit vorzu-
»Das Verhältniß zu den Frauen [ ... ] erhob sich enthalten seien. In der »Versart von Meister
kaum über die Gränze des gemeinsten Bedürf- Ariost« geschrieben, behandle Das Tagebuch
nisses« (WA I, 46, S. 26). Die Sentenz »Die »ein Abenteuer von heute, in der Sprache von
Krankheit erst bewähret den Gesunden« heute« (S. 115). Der Leser konnte daher auf die
rv. 173), mit ihrer verborgenen Spitze gegen Stanzen z.B. des Orlando furioso als Vorbild
romantisches Christentum, verliert dadurch schließen, die nackte Frauenschönheit zu
den reinen Verschleierungscharakter und ver- schildern wissen. Auch Casti steht in dieser
weist auf »die gesunde Natur des Menschen als Tradition. In Riemers Mitteilungen über Goe-
ein Ganzes« (WA I, 46, S. 22). Vorangestellt ist the (1841) findet sich im zweiten Band der
ein Motto von Albius Tibullus (um 55-19 v. Hinweis auf sekretierte Erotica, wobei G.
Chr.), das die psychische Grundsituation des fälschlich meint, Das Tagebuch in Karlsbad
Versagens wegen anderer Fixierung zur all- geschrieben zu haben. Er verweist auf Casti
gemeinen Erfahrung macht, jedoch das ein- und erwähnt fUr die zensurgefährdete deut-
leitende »Saepe«/Oft des Originals ausläßt: »- sche Tradition Wieland, Heinse und Thüm-
aliam tenui, sed iam quum gaudia adirem, / mel. Er nennt den Titel, spricht vom »ver-
Admonuit dominae deseruitque Venus«: »- liebten Abenteuer, wobei die S i n n I ich k e i t
eine andere hab ich umfangen, aber kaum durch den Gedanken an die eine und wahre
nahte ich den Freuden, da mahnte Venus mich Geliebte par a I y sir t wird«, und verweist zur
an die Herrin und ließ mich im Stich« (Tibull Interpretation auf Überlegungen Michel de
I, 5, V. 39f.). Das Motto macht die Differenz Montaignes zur Einbildungskraft (S.622).
zwischen Autor und Handelndem deutlich: G. Beide Äußerungen sind dem ersten, anonym
fUhrt die Blockade auf eine unbewußte Fixie- erschienenen Privatdruck vorangestellt, den
rung zurück, die der Handelnde nicht be- Salomon Hirzel 1861 veranstaltet hat. In des-
greift. sen Begleitbrief zum »Goetheschen Rarissi-
G. sekretierte das Gedicht zunächst, hat es mum« vom 19.9. 1863 an H.K. J. Lempertz
jedoch gelegentlich im engen Kreis vorgele- heißt es: »das sie mir aber versprechen müssen
sen, zuerst - wie das Tagebuch vermerkt - am nicht aus den Händen zu geben und nieman-
6.5. 1810 bei Knebel. Es ist möglich, daß die dem zu zeigen. Ich habe es, um es vor dem
Lösung des »Logogryphen«: »Das erste giebt möglichen Untergang zu schützen, in zwei
mir Lust genug, / Das zweite aber macht mich Dutzend Exemplaren drucken lassen, die ich
klug« (an Zelter, 14.2. 1814; vgl. WA I, 4, nur an ausgewählte Freunde verschenke«
S. 168) die Kombination »Iste/Meister« ist. (Goethe-Museum Düsseldorf). Der Vers 135
Sulpiz Boisseree notiert unter dem 8.10. 1815 bricht nach »Vor deinem« ab und wird mit
in sein Tagebuch: »Liebesgeschichten wech- Punkten ausgefüllt. G.-Kennern ist es danach
selseitig. [ ... ] Gedicht von einem Reisenden, bekannt gewesen, und einzelne Abdrucke ha-
dem der NesteI geknüpft - erinnert sich seiner ben zu Zensurkonflikten geführt. Die Weima-
Frau, das Mädchen schläft ein«. rer Ausgabe druckte es »auf Befehl der ver-
ewigten Großherzogin Sophie« (WA I, 53,
Spannend darf man die Geschichte nennen, S. 451 ff.) zunächst nicht, 1910 in Hirzels Form
wie der Öffentlichkeit das sekretierte Gedicht (WA I, 5.2, S.344-352). Die Varianten nach
bekannt wurde. Am Beginn stehen in der Bie- den Handschriften konnten erst 1914 folgen
dermeierzeit Mitteilungen aus dem Kreis der (WA I, 53, S. 561 f.). Nach 1918 erlebte das Ge-
Mitarbeiter. Eckermann erwähnt es ausfUhr- dicht wiederholt illustrierte Einzeldrucke,
342 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

doch erst die Publikation des Insel-Verlegers


Siegfried Unseid, der die Verse, die der ge-
Der Totentanz
liebten Ehefrau gelten, auf Christiane bezieht,
hat es weithin bekannt gemacht. Zurecht weist
Karl Eibl auf die auf erotische Kuriosität hin- Am Karsamstag, dem 17. April des Jahres 1813
ausgehenden Dimensionen des Textes hin: »Es begab G. sich auf eine Reise von Weimar über
wird hier das Generalthema der )Periode der Dresden nach Teplitz, um den drohenden Ge-
Wahlverwandtschaften< abgehandelt, die fun- fahren des Krieges der Alliierten gegen Napo-
damentale Krisen-Erfahrung dieses Zeitraums leon zu entkommen. Frau von Stein berichtete
[ ... ], und zwar nicht nur, wie der einseitig ihrem Sohn Fritz einen Tag später, daß G. die
gelenkte Blick es erscheinen lassen könnte, in »hier so abwechselnde bald Lüge bald Wahr-
der Thematik des Versagens, sondern auch, heit, ob Russen oder Franzosen uns zernichten
bildhaft konstruiert in den Motiven des Wa- würden, nicht ertragen« konnte (STEIGER,
genbruchs und der außerhalb der Ordnung lie- Bd.5, S.693f.). G.s Abreise von Weimar traf
genden überzähligen Nacht, in der umgrei- auf den Tag mit der Errichtung der preußi-
fenden Thematik der gefahrdeten Ordnung« schen Landwehr und dem »Aufruf an mein
(Komm. in FA I, 2, S. 1325f.). Die bedeutend- Volk« zusammen, den Friedrich Wilhelm IH.
ste literarische Fortführung verdanken wir in Breslau proklamierte.
Thomas Mann, der »für diese kecke Moralität Auf der Reise nach Teplitz entstand u.a. die
immer eine besondere Neigung gehabt« hat Ballade Der Totentanz, die G. erstmals in ei-
(an den Verlag der Nation, Berlin, 24.12. nem Brief vom 21.4. 1813 an Christiane er-
1953). In seinem Altersroman Doktor Faustus wähnt: »Dagegen schrieben wir zu unserer
erlebt Heinz Klöpfgeißel eine temporäre Im- Lust die von August erzählte Todtentanzle-
potenz und liefert schließlich die geliebte Bär- gende in paßlichen Reimen auf. Sie soll dem
bel, die die Blockade ausgelöst hat, der Hexen- Prinzen Bernhard dedicirt und übersendet
verfolgung aus (Mann, S. 143-149). werden«. Gegenüber den bedrohlichen
Kriegsereignissen bezieht G. im sicheren Te-
plitz die Position des Beobachters in einer Sze-
Literatur: nerie namens »Schiffbruch mit Zuschauer«,
Eibl, Komm. in FA I, 2, S. 1524-1528. - Mann, Tho- die ebenso wie die Figur des Türmers als ge-
mas: Werke. Stockholmer Ausgabe. Bd. 7. Frank- läufiges Identifikationsmuster G.s zu verste-
furt/Mo 1967. - Mendheim, Max (Hg.): Bibliothek hen ist. Mit Post vom 22.5. 1813 schickte er
litterarischer und kulturhistorischer Seltenheiten. »den famosen To d t e n t a n z als Ballade«
No. 56. Goethe: Das Tagebuch (1810), Vier unter- nach Hause an seinen Sohn August, deutete
drückte Römische Elegien. Nicolai auf Werthers
seine Motivation für die Niederschrift an und
Grab. Leipzig 1904. - Sachse, Hans: Textkritisches
zu den Drucken von Goethes Gedicht Das Tagebuch. gab gleichzeitig eine Gebrauchsanweisung für
In: GoetheJb. 96 (1979), S.291-298. - Ders.: Goe- die Daheimgebliebenen an die Hand: »Diese
thes .Logogryph c und Das Tagebuch. In: GoetheYb. Späße sollen nebenbey noch zu dem wichtigen
2 (1984), S. 117-120. - Unseid, Siegfried: Das Tage- Zwecke dienen, euch zu sagen, daß ihr in eu-
buch Goethes und Rilkes Sieben Gedichte. Frank- rem jetzigen täglichen Zustand, er sey wie er
furt/Mo 1978. - Vaget, Hans Rudolf: Goethe - Der
will, froh und fröhlich seyn sollt: denn das
Mann von 60 Jahren. Königstein 1982.
Unheil, das in unserer Nähe vorgeht, und dem
Volkmar Hansen wir, wie einer vom Felsen dem Schiffbruch
ganzer Flotten, sicher, aber mit Angst zusehn,
ist ohne Gränzen« (ebd.).
Als Quellen konnte sich G. allgemein auf die
umfangreiche ikonische Tradition der Toten-
tanz-Darstellungen in Mittelalter und früher
Neuzeit beziehen, u. a. vielleicht aufHartmann
Der Totentanz 343

Der Totentanz (Schedels Weltchronik)


344 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Schedels Weltchronik aus dem Jahre 1493, die mer kann der Verlockung nicht widerstehen,
einen Totentanz auf Blatt CCLXI darstellt und eines dieser Totentücher zu stehlen, was ihm
den gleichmachenden Charakter des Totentan- beinahe zum Verhängnis wird. Kurz vor Ende
zes hervorhebt, indem sie sich explizit an »ir der Geisterstunde bemerkt das bestohlene Ge-
alten, ir jungen, ir reichen, ir armen« (Welt- rippe den Verlust und versucht, sein Gewand
chronik, Blatt CCLIX) wendet, die in diesem zurückzuholen. Die durch Kreuze symbolisch
Tanz vereint werden. G.s Bezug auf Schedel ist geweihte Turmtür zwingt es, den Turm über
nicht belegt, läßt sich aber aufgrund der Tat- den »gotischen Zierat« (V. 38) der Turmfassade
sache in Erwägung ziehen, daß er diese Text- zu erklettern. In Todesangst wirft ihm der Tür-
stelle in Vers zehn fast wörtlich, allerdings mer das Tuch hinunter, das allerdings an ei-
chiastisch verdreht zitiert (»So arm und so nem Zacken hängenbleibt. In schreckhafter
jung, und so alt und so reich«). Das für diese Erwartung des unmittelbar bevorstehenden
Ballade zentrale Requisit des Totengewandes Todes rettet ihn erst der Glockenschlag Eins,
ist in zahlreichen Sagenkreisen in genau der der sowohl die Geisterstunde als auch die
Fassung nachgewiesen, die G. übernimmt. Im nächtliche Exkursion des Gerippes und das
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Gedicht selbst abrupt beendet.
heißt es unter dem Stichwort »Totengewand«: G. hat seinen Totentanz in sieben Strophen
»Als Sagenmotiv weit verbreitet ist die Ge- zu je sieben Versen organisiert. Die durch-
schichte vom geraubten Totenhemd, die Goe- gehaltenen Endreime lassen in jeder Strophe
the im >Totentanz< benützt hat. Der Türmer einen Paarreim und eine Waise auf einen
oder sonst jemand sieht einen Toten aus dem Kreuzreim folgen (ababccd). Hinzu kommen
Grab steigen und sein Hemd oder Leichentuch eine ganze Reihe von alliterativen Binnenrei-
aufs Grab legen; er holt es und flüchtet sich in men, die die Verse noch stärker strukturieren
die Kirche oder auf den Turm. Der zurück- und rhythmisch durchformen. Der tänzerische
kehrende Tote verfolgt ihn, erreicht ihn aber Rhythmus der gesamten Ballade ergibt sich
meist nicht« (HwbA, Bd. 8, S. 1066). über die regelmäßige Alternation einer beton-
Die Überlieferungslage des Textes stellt sich ten und zweier unbetonter Silben im daktyli-
unkompliziert dar. Erstmals im Druck erschien schen Versfuß, wobei sich in den Kreuzreimen
Der Totentanz in der zwanzigbändigen Werk- ein vierhebiger Vers mit stumpfer und ein drei-
ausgabe bei Cotta 1815-1819, und zwar im hebiger Vers mit klingender Kadenz abwech-
ersten Band von 1815. Sowohl die Ausgabe seln, während die Paarreime durchweg vier-
letzter Hand als auch die Weimarer Ausgabe hebig und die Waisen dreihebig rhythmisiert
weisen nur geringe Korrekturen auf. Die Ham- sind.
burger Ausgabe unterzieht G.s Interpunktion Die einfach geführten Aussagesätze fügen
einer weitgehenden Modernisierung, so daß sich durch eine charakteristische Technik die-
der rhythmische Effekt von G.s sparsamer sem staccato-Rhythmus ein: Sie exponieren
Kommasetzung verloren geht. Der Totentanz das Substantiv, trennen es vom folgenden Satz
wird nach der Frankfurter Ausgabe (FA I, 2, ab und nehmen es durch ein Personal- oder
S. 136f.) zitiert, die auf Veränderungen der In- Relativpronomen wieder auf (»Der Türmer
terpunktion verzichtet. Sie folgt dem Text der der schaut« [Y. 1], »Der Kirchhof er liegt« [Y.4]
Ausgabe letzter Hand bzw. der Weimarer Aus- etc.). Auch die übrigen Verkehrungen der Satz-
gabe und modernisiert lediglich seine Ortho- stellung arbeiten auf eine Exposition der Sub-
graphie geringfügig. stantive hin (»Gebärden da gibt es vertrackte«
[Y. 16], »Der Mond und noch immer er«
G.s Ballade erzählt das bedrohliche Erlebnis [Y. 24]), die in eine starke Spannung zu den
eines Turmwächters, der in der Geisterstunde onomatopoetischen Verben der Bewegung tre-
Zeuge wird, wie die Toten ihren Gräbern ent- ten (»Dann klippert's und klappert's« [Y. 17]).
steigen und, um sich frei im Tanz bewegen zu Die Parallel führung und variierende Wieder-
können, ihre Totenkleider abwerfen. Der Tür- holung ganzer Sätze markieren in einer Art
Der Totentanz 345

Beschwörungsgeste den Beginn des Totentan- und auf die »Schnörkel« des gotischen Turms
zes in der dritten und den tödlichen Schrecken verweisen. Neben dem »gotischen Zierat«, das
des Türmers in der letzten Strophe. Die Häu- G.s Faszination für das Straßburger Münster
fung lautmalerischer Verben, die das flüchtige zitiert, kommt auch jenes »getan wie gedacht«
Ereignis der Geisterstunde plastisch vor Au- aus Vers 22, das den Augenblick des Kleider-
gen führen und die Lektüre des Textes selbst in raubes markiert, auf die frühe Straßburger
die Nähe eines (Toten-)Tanzes über die Zeit, auf Mir schlug das Herz zurück. Ange-
»Schnörkel« 01. 41) der Sprache rücken, wer- sichts der Tatsache, daß G. 1813 mit dem Dik-
den durch eine Semantik der schnellen Ab- tat eben jener Bücher aus Dichtung und U&hr-
folge und hastigen Vergegenwärtigung ge- heil befaßt ist, die die frühen 177Der Jahre
stützt. Insgesamt achtmal wählt G. das Zeit- behandeln, erscheint es sehr wahrscheinlich,
adverb »nun«, mit einer Häufung in der dritten daß er seiner Ballade dieses Selbstzitat bewußt
Strophe, die den Tanz beginnen läßt. Hinzu eingeschrieben hat.
kommen »dann«, »da«, »schon« und »jetzt«, Die semantische Spannung des Totentanzes
das den dramatischen Höhepunkt, den ver- läuft über eine chiastische Verkehrung der
meintlich bevorstehenden Tod des Türmers Raum- und Zeitbezüge. Die Nacht verwandelt
anzeigt. Die beschwörende und rhythmisie- sich zum Tag, der geschlossene Raum der To-
rende Wiederholungs struktur ist auch phone- ten, die »Gräber in Lage« 01. 2) öffnen sich, die
tisch abgesichert. Im Reigen der stimmlosen Toten werden lebendig und zwingen umge-
Plosive »p, t, k« und des uvularen »r« finden kehrt den lebenden Türmer, sich im geschlos-
nicht nur die Gerippe zur Inszenierung eines senen Raum des Turmes zu verbergen, der
fiktiven Totentanzes zusammen, sondern die leicht sein Grab hätte werden können. In der
Sprache selbst zelebriert sich als onomatopoe- Stunde der Indifferenz nach Mitternacht geht
tisches Ritual. die nackte Kreatürlichkeit auf die Totenge-
G. hat diese Ballade als Kontrastführung rippe über. Sie legen ihr Hemd ab, um beweg-
eingerichtet, die sich allgemein als Spannung lich zu sein, sie entledigen sich ihres Gewan-
von Komischem und Schauerlichem darstellt, des, das den Türmer zwingt, sich zu verber-
eine Mischung aus gotischer Friedhofsszene- gen. Als Phantom geistert das Hemd, variiert
rie und heiterem Spiel, ganz wie er später die in der niederdeutschen Form »Laken« und der
lemurischen Totengräber im Faust als »ge- süddeutschen Form »Tuch«, durch das gesamte
flickte Halbnaturen« in einer Szenenanwei- Gedicht, ist in jeder Strophe gespenstisch prä-
sung präsentiert: »mit neckischen Gebärden sent und nur in der mittleren Strophe, die den
grabend« (JVA I, 15.1, S. 313f.). Der Kontrast Raub erzählt, fehlt es. Die vertrackten »Ge-
strahlt schon von dem Titel »Totentanz« aus, bärden« der Toten weisen sie als Geburten der
der wörtlich im Text nicht wieder auftaucht. Er Nacht aus. Die langbeinige Spinnengestalt des
konfrontiert eine Todesimagination mit dem einen bezeichnet die »geflickte Halbnatur [Hv.
Tanz als sinnlicher Engführung von Lebendig- v. Vf.]« aller (JVA I, 15.1, S.313), so daß die
keit, wie es der »Ballade« entspricht, die ety- Abwehr des spinnenhaften Gerippes durch die
mologisch auf provenzalisch »balar« und la- magisch-christlichen Requisiten Kreuz und
teinisch »ballare«, also »tanzen«, zurückgeht. Glocke gleichermaßen als Abwehr des Todes
Die implizite Spannung im Titel »Totentanz« und grotesker Leiblichkeit gelesen werden
durchzieht das gesamte Gedicht und konkreti- könnte.
siert sich als grundlegende rhetorische bzw. G. hat seinem Totentanz buchstäblich und
semiotische Figur des Textes: als Chiasmus, als semiotische Figur mit diesem Chiasmus
als kreuzweise Verkehrung der Beziehungen. das Kreuz eingeschrieben. Die Ballade stellt
Buchstäblich taucht die chiastische Grundfigur den Versuch einer poetischen Bewältigung der
selbst einmal als magisches Symbol auf, in beginnenden anti-napoleonischen Freiheits-
Gestalt derjenigen »metallenen Kreuze« kriege dar, vor denen G., wie eingangs er-
01. 35), die das bestohlene Gerippe abwehren wähnt, nach Teplitz geflohen war. Überdies
346 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

nimmt sie Züge einer magisch-symbolischen Literatur:


Depotenzierung des Todes an. Von hier aus HwbA, Bd. 8, Sp. 1066-1067. - Kayser, Wolfgang:
muß der Schluß erlaubt sein, der Text stelle Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936. -
nicht nur einen fiktiven Tanz der Toten dar, KOMMERELL, S. 310-429. - Scbmidt, Erich: Goethes
sondern G. habe ihn zudem als ein selbst- Balladen. In: ders.: Charakteristiken. Bd. 2. Berlin
reflexives, allegorisches Sprachrequisit einge- 1901, S.222-234. - Schedel, Hartmann: Weltchro-
nik. Nümberg 1493 (Faksimilenachdruck Leipzig
richtet und mit der magischen Funktion be-
1933). - Stegemeier, Henri: Goethe and the Toten-
traut, die Bedrohung durch Tod und nackte tanz. In: JEGPh. 48 (1949), S. 582-587. - STEIGER,
Kreatürlichkeit poetisch zu bewältigen und ab- Bd. 5, S. 693f.
zuwehren, nicht zuletzt auch deshalb, weil die
sieben mal sieben gleich 49 Verse G.s Geburts- DetlifKremer
jahr beschwörend dagegen halten.

Die Forschungsgeschichte zum Totentanz


nimmt sich bescheiden aus. Der Text wurde
mit einer Ausnahme nur im Kontext von G.s
Balladenproduktion insgesamt und zumeist
Johanna Sebus
äußerst kursorisch behandelt. Max Kommerell
begnügt sich mit einer stilisierten Inhaltsan-
gabe und versteht das Gedicht als behutsame Im allgemeinen wie im spezifisch G .schen
Aufklärung »über ein dämonisches Wesen« Sinn ist Johanna Sebus ein Gelegenheitsge-
(S. 358). Desgleichen wertet Erich Schmidt es dicht. G. schrieb es, unmittelbar nachdem er
zwar als G.s »wuchtigste Ballade« (S. 230), gibt mit dem Ereignis, von dem das Gedicht han-
dann aber nicht mehr als den Inhalt in wenigen delt, bekannt gemacht worden war, und er ver-
Zeilen, bevor er zur nächsten Ballade springt. band darin die Darstellung des konkreten Ge-
Wolfgang Kayser erwähnt den Totentanz nur schehens mit der Ausweitung auf Allgemein-
kurz als Beispiel für G.s Rückkehr zur »volks- Menschliches. Fast könnte man von einem
tümlichen« Ballade nach den »Ideenballaden« »Auftragswerk« sprechen, war ihm doch der
des Jahres 1797 (S. 153 f.). Auch neuere Unter- Bericht von der Opfertat der Johanna Sebus
suchungen zur Ballade lassen sich nicht näher mit der Bitte übermittelt worden, eine Samm-
auf diesen Text ein, sie nennen allenfalls den lung zugunsten eines Denkmals durch einen
Titel. Die Ausnahme macht Henri Stegemeier, poetischen Beitrag zu unterstützen.
der in einem knappen Aufsatz aus dem Jahre Was geschehen war und besungen wird, ist
1949, Goethe and the »Totentanz«, immerhin in der epitaphartigen Widmung zwischen Titel
philologische Grundzüge einer formalen Ana- und Text kurz benannt: »Zum Andenken! der
lyse des Textes liefert. Allerdings befaßt sich Siebzehnjährigen Schönen Guten! aus dem
der größte Teil des Beitrags mit Belegstellen Dorfe Brienen! die am 13. Januar 1809! bei
zum Stichwort »Tod« in G.s Werken. dem Eisgange des Rheins und dem großen
Der Totentanz wurde sehr häufig und in den Bruche! des Dammes von Cleverham Hülfe
verschiedensten musikalischen Formen (Lied, reichend unterging« (MA 9, S. 28). Johanna
Chor, sinfonisches Orchesterstück) vertont, Sebus hatte sich, nachdem sie die eigene Mut-
u.a. von Carl Friedrich Zelter (1758-1832), ter in Sicherheit gebracht hatte, erneut auf den
Carl Loewe (1798-1869), Heinrich Zöllner Weg durch die Fluten gewagt, um noch eine
(1854-1941) und Wilhelm Berger (1861- andere Frau und deren drei Kinder zu retten.
1911). Der Rettungsversuch war gescheitert: Hoff-
nungslos von den steigenden Wassermassen
eingeschlossen, warf sich die Mutter mit ihren
Kindern in den Tod, und auch ftir Johanna gab
es keine Rückkehr. Mit gefalteten, zum Him-
Johanna Sebus 347

mel erhobenen Händen ging sie in dem ent- Das Gedicht besteht aus fünf Strophen un-
fesselten Element unter. So jedenfalls berich- terschiedlicher Länge. Eine auffallige Beson-
tete es Therese Huber in einem undatierten derheit ist, daß jede Strophe durch zwei re-
Brief an ihre Tochter (vgl. MA 9, S. 1089), ein frainartige Verszeilen eröffnet wird. In ihnen
Indiz auch dafür, daß die Geschichte der Jo- wird der Verlauf der Naturkatastrophe als Be-
hanna Sebus die Zeitgenossen stark bewegte. dingung des Geschehens unter den Menschen
G. erfuhr von der Begebenheit durch einen dargestellt; dabei wird der Refraintext kunst-
Brief, den Christiane von Vernijoul- der Dich- voll abgewandelt, anfangs nur in geringem,
ter hatte sie 1797 durch die Humboldts in Jena dann aber, gleichsam das rasante Anschwellen
kennengelernt - im Auftrag des Unterpräfek- der Wassermassen und den unaufhaltsamen
ten Baron von Keverberg an ihn gerichtet Ablauf des Geschehens vergegenwärtigend, in
hatte. Während ein beiliegender Auszug aus von Strophe zu Strophe wachsendem Maße:
dem Bericht des Unterpräfekten Einzelheiten vom ersten Reißen bis zum gänzlichen Ver-
über das Geschehnis vermittelte, sprach der schwinden des von den Menschen zu ihrem
Brief den Wunsch aus, »die rührende That« Schutz errichteten Dammes. Die letzte Stro-
möge »dem ersten Dichter der lebenden Welt« phe beginnt: »Kein Damm! kein Feld!
wert sein, »in einer Ballade verewigt zu wer- Nur hier und dort/ Bezeichnet ein
den«. Damit würde »diesem edlen Mädchen Bau m, ein Tu rn den 0 r t«.
ein Denkmal errichtet, welches in jedes füh- Den Auftaktversen folgt jeweils der Bericht
lenden Menschen Brust Bewunderung für die vom Schicksal der Menschen, um die es geht.
Heidin und heissen Dank für den grossmü- Zunächst spiegelt sich das Geschehen im Dia-
thigen Dichter erwecken würde« (zit. nach WA log der Beteiligten, wobei »Schön Suschen« als
I1I, 4, S. 366). diejenige, die die Entscheidung über Leben
G. entsprach diesem Wunsch nahezu unver- und Tod zu fallen und auszutragen hat, natür-
züglich. Am 11. u. 12.5. 1809 schrieb er in Jena lich im Zentrum steht. Ihr ist auch der letzte
das Gedicht von »Schön Suschen« (Tagebuch, Dialogvers am Ende der zweiten Strophe in
11. und 12.5. 1809) und folgte dabei, ganz im den Mund gelegt: » Sie soll e nun d m ü s -
Sinne der Aufgabe, hier eine wirklich gesche- sen ger e t t e t sei n I«~, vom Autor als ein-
hene Tat zu rühmen, ohne Umstände der Schil- zige Verszeile außer den Refrainversen hervor-
derung Keverbergs. Noch im gleichen Monat gehoben. Danach übernimmt der Sänger-Er-
erschien ein Einzeldruck. In die Werkausga- zähler, der sich anfangs in dem gleichsam
ben ist die Ballade seit der zweiten Cotta-Aus- atemlosen Dialogverlaufkaum zu Wort gemel-
gabe (1815) aufgenorrunen. Sie steht freilich det hat, den Bericht; das dramatische Element
nicht im ersten Band unter den »Balladen«, wird durch das epische abgelöst. Die dritte
sondern im zweiten unter dem Rubrum »Can- Strophe, die kürzeste von allen, erzählt von
taten«; diese Einordnung hängt wohl weniger »Schön Suschens« ruhigem und sicherem Vor-
damit zusammen, daß G. das Gedicht nicht als dringen zu der bedrohten Familie, doch
Ballade empfand, sondern damit, daß Carl schneidet der letzte Vers mit einer eindeutig
Friedrich Zelter es als Kantate vertonte. Durch negativen Aussage schon jede Hoffnung ab.
die Vertonung wurde die Textform auf der Die vierte Strophe vergegenwärtigt - mit leb-
Grundlage des Einzeldrucks festgeschrieben. haften dramatischen Elementen, unter deutli-
Nur eine Abschrift aus dem Knebelsehen cher Gefühlsbeteiligung des Berichterstatters
Nachlaß, die einzige handschriftliche Über- - den Untergang, erst der Familie, dann auch
lieferung, enthält einige kleinere, für das Ver- des jugendlich schönen und moralisch edlen
ständnis des Gedichts unwesentliche Varian- Mädchens. Ihr Ende wird allerdings im Ge-
ten (WA 1,2, S. 303). Zitate erfolgen nach der gensatz zu dem der Familie mildernd darge-
Münchner Ausgabe (MA 9, S. 28-33), die auf stellt; sie kann noch einmal zum Himmel auf-
den Jenaer Erstdruck vom Mai 1809 zurück- blicken, dann »nehmen die schmeichelnden
geht. Fluten sie auf« - selbst das Naturelement
348 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

scheint Wohlwollen und Versöhnlichkeit zu macht zu haben - so jedenfalls schrieb er an


zeigen. Die fünfte Strophe schließlich bildet, von Keverberg. Dies mochte ihm auch deshalb
zeitraffend und lakonisch bis zum äußersten, um so wünschenswerter erscheinen, als er sich
den Abgesang. Das Wasser zwar hat seine gerade im Vorjahr sehr intensiv mit dem Pro-
Herrschaft überallhin ausgedehnt, aber »Su- jekt eines »lyrischen Volksbuches« (an Niet-
schens Bild schwebt überall«. Dann wird von hammer, 19.8. 1808) beschäftigt hatte. Jo-
dem Rückgang der Flut und dem Wiederauf- hanna Sebus, bereits nach dem Verzicht auf
tauchen des Landes gesprochen. Nun ist wie- dieses Projekt entstanden, steht den damit
der Zeit für Trauer unter den Menschen. Sie verbundenen Vorstellungen von einer popu-
gilt vor allem »Schön Suschen«, die nicht hätte lären, wirkungsmächtigen Poesie durchaus
sterben müssen, wenn sie nicht ihr Leben für nahe und hätte vielleicht sogar ein Muster da-
andere aufgeopfert hätte. Am Ende der Spruch für bilden können.
des Sängers: Nichtswürdig jener, der nicht die Schließlich ist die Ballade noch in einem
Tat des Mädchens »singt und sagt«. weiteren Sinne keineswegs nur ein gelegent-
Die Ballade feiert die »Naivetät dieser un- liches, abseits der Hauptrichtung entstande-
schuldig guten Handlung« (an Reinhard, 9.6. nes Werk. G. war bewußt, daß hier >,die Poesie
1809) als exemplarischen Fall schlichten, aber zu einer Zeit, wo so ungeheure Thaten ge-
großen Menschentums. Deshalb wohl nennt schehen, sich gegen die naiv große Handlung
das Epitaph nicht noch einmal den Namen und eines Bauermädchens flüchtet« (an Charlotte
spricht in deutlichem Anklang an das explizit von Stein, 30.5.1809). Gerade die aller äußer-
formulierte klassische Menschenideal von der lichen Heroisierung bare poetische Behand-
»Schönen Guten«. Auch der auffaJlige Wider- lung dieser »naivgroßen Handlung« zeigt an,
spruch, daß im Titel zwar der richtige Name daß hier ein Gegenbeispiel gegen die nicht
der »Schönen Guten« genannt wird, im Ge- zuletzt im Entstehungsjahr des Gedichts sicht-
dicht selbst aber ständig von »Schön Suschen« bar werdenden martialischen Tendenzen der
die Rede ist, deutet in eine ähnliche Richtung: Zeit gesetzt wurde. Auch auf diese Weise
»Hannchen« wollte G., wie Louise Gotter am machte G. seine skeptische Distanz zur Zeit-
4.6. 1809 an Pauline Gotter schrieb, nicht ge- geschichte und der ihr verpflichteten Literatur
fallen, und »Johanna« gemahnte ihn unpas- erkennbar.
send pathetisch an die Jungfrau von Orleans Die Ballade gehört zu den bekanntesten
(zit. nach MA 9, S. 1090). Alles spricht für eine Werken des Dichters. Unter den Zeitgenossen
bewußte Ablösung der Darstellung vom kon- erfreute sie sich von Anfang an großer Beliebt-
kreten Ereignis und für eine poetische Über- heit. Künstlerische Behandlung in anderen
höhung, die in einem durchaus didaktischen Gattungen reflektierte das und förderte ihrer-
Sinne ein Beispiel altruistischen Menschen- seits die Popularität des Gedichts. Zelter, dem
tums vorführen sollte. Die beiden Schlußverse G. den Text sogleich mit der Anregung über-
bestätigen am deutlichsten die von G. laut sandte, ihn »mit der nötigen musikalischen
Louise Gotter verfolgte Absicht, mit dem Ge- Deklamation [zu] begleiten« (an Zelter, 1.6.
dicht die Tat des edlen Bauernmädchens zu 1809), vertonte das Gedicht als Kantate für
einer Volkssage zu erheben (ebd.). Auf eine mehrere Singstimmen und Chor und fand die
solche Wirkung ist auch die Gestaltung be- uneingeschränkte Zustimmung G.s, der in sei-
wußt angelegt. Wiewohl der Dichter von einer nem Brief vom 6.3. 1810 so lobend auf die
>>naiven Production« (an von Keverberg, 28.2. Komposition einging, wie er es bei kaum ei-
1810) sprach, ist das Gedicht eine durch und nem anderen Musikstück tat. Der Maler Fried-
durch artifizielle und kunstvolle Schöpfung. rich Bury schuf eine Zeichnung, die das Balla-
Das schließt ein, daß der Autor, nachdem das dengeschehen illustrierte. G. erfuhr, daß sein
kleine Werk unter den Zeitgenossen großen Gedicht am ersten Jahrestag der Naturkata-
Widerhall gefunden hatte, den Wunsch hegen strophe anläßlich einer Gedenkfeier in Cleve
konnte, es vielleicht »anders« und besser ge- rezitiert und daß am zweiten Jahrestag bei der
Herrn Staats-Minister v. Voigt zur Feier des sieben und zwanzigsten Septembers 1816 349

Enthüllung des Denkmals für Johanna Sebus Literatur:


die Kantate aufgeführt worden war. Wie sehr Baumgart, Hennann: Goethes lyrische Dichtungen.
das Werk unter angespannten Zeitumständen Bd. 2, Heidelberg 1933, S. 81f. - Hartmann, Horst:
eine Trostfunktion ausüben konnte, verrät G.s Goethes Der Schatzgräber und Johanna Sebus. Zwei
Brief vom 23.2. 1814 an Zelter: »Die Verklä- klassische Balladen als didaktische Dichtungen. In:
rung der Johanna Sebus haben wir als Sakra- WB.28 (1982), S.76-93. - Schottländer, Johann
Wolfgang: Zelters Johanna Sebus mit Orchesterbe-
ment unserer Rettung aus den unendlich brei-
gleitung. In: JbSK. 9 (1931), S. 291-194. - Weißert,
ten Fluten gefeiert«. Gottfried: Ballade. Stuttgart 1993, S. 79 u. S. 131.
Die größte Verbreitung erfuhr die Ballade
freilich erst, als sich die Herausgeber von An- Hans-Dietrich Dahnke
thologien und Schullesebüchern ihrer annah-
men. Durch das ganze 19. Jh. hindurch und
weit noch ins 20. Jh. hinein gehörte sie zum
literarischen Kanon. Theodor Echtermeyer
nahm sie in seine erstmals 1837 erschienene
Mustersammlung deutscher Dichter, Philipp
Wackernagel in sein erstmals 1845 erschie- Herrn Staats-Minister v.
nenes Deutsches Lesebuch auf; so stand sie Voigt zur Feier des sieben
also, wenn nicht schon in den Volksschullese-
büchern, in den maßgeblichen, in vielen Auf- und zwanzigsten
lagen verbreiteten Lyriksammlungen der Vor-
märz- und Nachmärzzeit. Als nach 1870 G. in
Septembers 1816
der deutschen Öffentlichkeit stark aufgewertet
wurde und überdies eine bestimmte Auswahl
klassischer Texte auch in die Volksschullese- Der durch das vierstrophige Gedicht förmlich
bücher Eingang fand, war Johanna Sebus fast und mit persönlichen Anspielungen geehrte
immer mit dabei; sie stand in einer Reihe mit Staatsminister Christian Gottlob Voigt war
Bürgers Lied vom braven Manne, Chamissos über lange Jahrzehnte am Weimarer Hof der
Alter Waschfrau, Fontanes John Maynard und engste Mitarbeiter des Geheimrats G. Am
anderen Gedichten, die, ausgewählt gewiß un- 27.9. 1816 feierte er sein fUnfzigjähriges
ter ideologischen Gesichtspunkten, zugleich Dienstjubiläum. G. schrieb das Gedicht zwei
ein schlichtes altruistisches Ethos verkünde- Tage vor dem Feiertag und veröffentlichte es
ten. Das blieb so bis in die 30er Jahre des 20. im Novemberheft der Jenaischen allgemeinen
Jhs. hinein, und noch in den 50er und 60er Literatur-Zeitung, Intelligenzblatt Nr. 75, auf
Jahren plädierten Pädagogen für die Fortset- diese Weise den Anlaß ins Allgemeine und
zung dieser Traditionslinie. zeithistorisch Bedeutsame steigernd. Später
Im Gegensatz zu dieser spezifischen popu- nahm er es in die Gedichtsammlung von 1827
lären und volkspädagogischen Wirkungsge- unter die Rubrik Inschriften, Denk- und Sende-
schichte hat die Ballade in der Literaturwis- blätter auf. Nach diesem Druck gibt die Frank-
senschaft weit weniger Interesse auf sich furter Ausgabe den Text wieder, die im folgen-
gezogen. Das hängt sicherlich mit der unpro- den zitiert wird (FA 1,2, S. 581 f.).
blematischen Interpretationssituation zusam- Der Text ehrt zwar in Inhalt und Anrede den
men, und ebenso dürfte auch die wachsende Kollegen und Freund - Überschrift und Dedi-
Distanz zu einer didaktischen Tendenz in der kation sind identisch, so den Staats-Minister
Poesie, mochte sie auch so unaufdringlich wie in den Mittelpunkt rückend -, aber er tut dies
in dieser G.schen Ballade erscheinen, ihr Teil im Fortgang einer skeptisch-hoffnungsvollen
dazu beigetragen haben. Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit
und Gegenwart im Kontext der Zeitgeschichte.
Das häufig verwendete »wir« meint nicht bloß
350 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

die freundschaftliche Kooperation in der Ver- des alten G. eine zentrale Rolle; sie verweisen
waltung des Großherzogtums, sondern, schon auf die gegen alle Verdüsterung individueller
in der ersten Strophe und dann immer signifi- oder gesellschaftlicher Form und Genese zu
kanter, die Zugehörigkeit zu einem Kreis hei- gewinnende und zu bewahrende Läuterung
terer und das Gute erstrebender Seelen gegen und Vergeistigung der eigenen Existenz. Im
die falschen, gefährlichen und verworrenen Licht erfahren wir die Tröstung einer uns
Zeitläufte, womit die Französische Revolu- überstrahlenden und mit unserem Wesen ge-
tion, Napoleon und die Freiheitskriege samt heimnisvoll korrespondierenden Macht, und
den innen- und gesellschaftspolitischen Aus- die Vergeistigung des Einzelnen - nicht im
wirkungen gemeint sind. Zurückblickend auf gnostisch-manichäischen Sinne einer einan-
einen von außen gefährdeten Lebensweg des der ausschließenden und unwandelbaren Op-
Gefeierten, blickt G. auch auf seinen eigenen position von Gut und Böse, Geist und Materie
zurück. Natürlich nur, sofern er sich in der - ergeht an den Menschen als Aufforderung
höfischen Gesellschaft abspielte - wozu auch zur Entfaltung der in ihm ursprünglich an-
ein Teil der heute als privat zu bezeichnenden gelegten Entelechie.
Geselligkeit gehörte. Das rein Private, Intime Das Leben am Hof war jedoch nicht nur
und Persönliche jedoch bleibt ausgespart; das Arbeit an der Erkenntnis der Natur und des
Gedicht bedarf daher zu seinem Verständnis Ich, es war auch gesellige Erquickung inner-
keiner Kenntnis des Voigtschen Lebens. halb einer gesitteten Gesellschaft. Die Erquik-
Woran erinnert wird, ist die nach außen ge- kung des »äußern« und des »innern Sinns«
wendete Tätigkeit des Staatsministers; auch (V. 10) verweist, in höchster Diskretion, auf
die Hinweise auf die Mußestunden im Garten das Studium der »stets beredten, unerreichten
(Strophe 2) dienen nicht zur kontrastiven Evo- Meister« (V. 16) vor dem Hintergrund sinnli-
kation einer Privatsphäre intimen Glücks oder chen Glücks: »Gefahrlos nicht vor luftigen Ge-
Unglücks, sondern sind Teil der repräsenta- schossen / Wie sie Eroten hin und wieder
tiven Existenz: der des hohen Staatsdieners schicken« (V. 11f.). Die Eroten, die Liebesgöt-
von VOigt. ter, bereichern den Garten mit sanfter Verwir-
Zentral in diesem Dienst an Fürst und Für- rung - mehr kann, mehr darf in diesem Kon-
stentum war - so insinuiert die erste Strophe - text nicht gesagt werden, denn weder der An-
die Arbeit an der Erkenntnis. Nicht die Mehr- laß des Gedichts noch die Gesetze des Hofes,
ung des Reichtums durch den Ilmenauer Berg- die G., nach anfänglichen Schwierigkeiten,
bau war Ziel des »edelsten Bestrebens« (V. 8), immer souveräner zu beherrschen wußte als
sondern ein »gemeinsam köstliches Betrach- Zeichen humaner Distanz zu den chtonischen
ten, / Ob nicht Natur zuletzt sich doch er- Affekten narzißtischer Expressivität, wie sie
gründe?« (V. 5f.). Was G. und VOigt unternom- der Sturm und Drang verehrt und propagiert
men haben, sei es »umweht« auf den Berg- hatte, würden dies erlaubt haben. Weder der
gipfeln (V. 2) oder »im engsten Stollen« (V. 3), Gefeierte noch der Autor erwarten in einem
erhält so im zusammenfassenden und sinnge- solchen Gelegenheitsgedicht eine ernste Dar-
benden Rückblick die Würde einer Suche nach stellung des Lebensgangs; statt dessen werden
einem »Licht [ ... ], das den Geist entzünde« die markanten Momente unter dem Aspekt ih-
(V. 4). Indem G. mit dieser Wortwahl an berg- rer historischen Repräsentativität in liebevol-
männische Arbeiten und ihr Vokabular an- ler Distanz und in symbolhaft verdichteter und
knüpft, öffnet er gleichzeitig, in einer für das überhöhter Form strukturiert.
Spätwerk typischen komprimierten und per- Der Garten der erotischen und intellektuel-
spektivereichen Fügung, eine metaphorische len Begegnungen erscheint in der dritten Stro-
Bedeutungsebene : Das Lebenswerk erscheint phe als Refugium. Er wird es angesichts in-
als stets bedrohtes und mühsames, aber auch dividueller Krisen, den »dornigen Pfaden /
»köstliches« Bemühen um »Licht« und »Geist«. Verworrnen Lebens« (V. 17f.). Ihre Aufhebung
Beide Worte spielen im Denken und Sprechen oder Sublimierung geschieht nicht in Intro-
Herrn Staats-Minister v. VOigt zur Feier des sieben und zwanzigsten Septembers 1816 351

spektion und Einsamkeit, sondern in der Be- Tendenz G.s, Geschichte einerseits zu mythi-
gegnung mit den anderen, den Gleichgesinn- sieren und andererseits in einem komplemen-
ten. G.s knappes Gedicht entwirft kein Bild tären Verfahren zu individualisieren - oft ge-
dieses Sanktuariums von »Tiefsinn« und scholten und gewiß angreifbar -, markiert je-
»Sitte« ry. 20) in anschaulichen Details, es doch, von heute aus betrachtet, im Entschei-
setzt seine Kenntnis und die sowohl gattungs- denden eine Distanzierung von der Geschichte
poetologischen wie gesellschaftlichen U r- als sich vernunftgemäß und geradlinig entfal-
sprünge und Konnotationen voraus. Indem die tender Emanation einer höheren Logik. Was
Gesellschaft der Gesitteten sich im arkanen geschieht, ist zwar erklärbar - wie die meteo-
Bezirk von Tradition und Kultur trifft, schirmt rologischen Ereignisse, also etwa Sturm und
sie sich gleichzeitig vor der tendenziell feind- Gewitter - aber nicht beeinflußbar und nicht
lichen Außenwelt ab und versucht, ihr Modell Teil der eigentlich humanen Geschichte: der
der Pflege von »Sitte«, »Wissenschaft« und der elementaren Menschwerdung des Men-
»Kunst« ry. 20f.) gegen die egalitären und ag- schen durch kulturelle Sublimation der anar-
gressiven Strömungen der Gegenwart zu be- chischen Natur.
wahren. Die höfische Gesellschaft, durch an Und so ist die Wiederkehr des Friedens
sich bürgerliche Tugenden wie Fleiß und Be- (Strophe 4) eine Kehre hin zur erneuten und
rufseifer ethisch bereichert, ja verwandelt, er- erneuerten Pflege des Alten. Angesichts der
scheint als Vorbild alles humanen Denkens Zerstörungen durch »Kampf und Zug« ry. 27)-
und Tuns. Daran mitgewirkt zu haben, gehört was letzteres bedeuten soll, bleibt unklar, falls
zu den rühmenswerten Tugenden des Staats- man nicht die hin- und herziehenden Soldaten
ministers von Voigt - und des Geheimrats G. der Napoleonischen Kriege darunter verste-
Freilich rettet die beharrliche Pflege von hen will, womit die Natur-Bildlichkeit aufge-
Sitte und Tradition den Kreis der Gutwilligen geben wäre - ist die Treue zum Überlieferten
nicht vor plötzlichem Wetterumbruch. Die Na- für G. die einzig mögliche Form der zeitgemä-
turmetaphorik konsequent weiterdenkend, er- ßen und überdauernden Modernität. Der
scheint der politisch-gesellschaftliche Wan- letzte Gedanke, durch den eine Gruppe, zu der
del, erscheint der Umsturz, wie er sich in der auch Voigt gehört, bestätigt und historisch le-
Französischen Revolution schockhaft bündelt, gitimiert werden soll, ist der vom unaufhebba-
als destruktive Naturverdüsterung, die »das ren Gegensatz zwischen der Menge - die un-
Paradies und seinen Hain zerschmettert« aufdringlich aber unübersehbar in die Nähe
ry. 24). Die Neigung G.s, das Phänomen der der zerstörenden Gewalten gerückt wird - und
Revolution und des revolutionären Krieges in den Gleichgesinnten, den happy few. Der ka-
Naturbildern zu verfremden, ist bekannt und kophonen Vielheit der differenten Meinungs-
wird im Zusammenhang mit seinen literari- und Willensäußerungen, die den alten G. ver-
schen Verarbeitungen der Französischen Revo- wirren, ärgern und ängstigen, die ihn von der
lution ausgiebig diskutiert. Hier genügt der Demokratie als allgemeiner Partizipation der
Hinweis auf die Antinomie von zivilisatori- Gleichen und Freien das Schlimmste erwarten
scher Zähmung durch Traditionspflege und läßt, antwortet die Beharrung auf den tradier-
geselliger Formung des Einzelnen auf der ei- ten und stets reflektierten Werten, denen sich
nen Seite und der zerstörerischen und dis- die Freunde am Hof verpflichtet fühlen. Zu
kontinuierlichen Gewalt anonymer Mächte auf ihnen hat fünfzig Jahre lang der Staats-Mini-
der anderen. Zwar war der Horizont »längst ster von Voigt gehört, und indem G. ihn ehrt,
umwölkt« ry. 23), aber der Einbruch des Zer- ehrt er eine Existenzform des aristokratischen
schmetternden läßt den Garten retrospektiv Dienstes und der kulturellen Traditionsfort-
zum »Paradies« werden. schreibung, von der er gewußt haben mag, daß
In der Logik des Bildes liegt die Hilflosig- sie seine, des höfischen Bürgers und bürger-
keit des Einzelnen und der Gruppe angesichts lichen Dichters G., Lebenszeit nicht überdau-
des unabwendbar kommenden Unheils. Die ern würde.
352 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Die eigentliche und tatsächlich überdau- »Öffentlichkeit« im Sinne einer gegenseitigen


ernde Bedeutung dieses gemessen-schönen, Durchdringung und Aufhebung ihrer ver-
aber nicht exorbitanten Gedichts liegt denn meintlichen Unvereinbarkeit. Es ist damit Teil
auch in etwas anderem. Arthur Schopenhauer der lebenslangen Beschäftigung G.s mit dem
hat ihm eine Zeile entnommen und sie als Problem eines sichtbaren Hervortretens des
Motto seinem Hauptwerk vorangestellt, der Verborgenen, der Offenbarung der Welt-Ge-
Welt als Wille und Vorstellung, die in den glei- heimnisse, der Erforschbarkeit des Erforschli-
chen Jahren wie das Gedicht, nämlich von chen und Unerforschlichen. Dabei entzieht
1815-1818, im von Weimar nicht allzu weit sich G., entzieht sich das Gedicht den gängi-
entfernten Dresden entstand: »Ob nicht Natur gen Erwartungen, die an ein Sprechen im Kon-
zuletzt sich doch ergründe?«. text des Freimaurertums gerichtet wurden und
vielleicht immer noch werden.
Naturgemäß beschäftigen geheime Gesell-
Literatur: schaften die Phantasie der Nicht-Initiierten in
Tümmler, Hans: Goethe, der Kollege. Sein Leben hohem Maße, damals wie heute. Vor allem war
und Wirken mit Christian Gottlob von Voigt. Köln es der besonders Anfang des 19. Jhs. gängige
1970. - Tümmler, Hans (Hg.): Goethes Briefwechsel Vorwurf, die Freimaurer, insbesondere die
mit Christian Gottlob Voigt. Weimar 1949-1962. bayrischen Illuminaten unter Führung von
Bemhard Sorg Adam Weishaupt und Johann Joachim Bode,
hätten entscheidend zum Ausbruch der Fran-
zösischen Revolution 1789 und der Hinrich-
tung Ludwigs XVI. 1793 beigetragen, der die
nach außen ihre philanthropischen Ziele be-
tonende Gesellschaft in das Zwielicht von un-
kontrollierbarer Macht, destruktiver Energie
Symbolum und dunklen Intentionen rückte. Alles Spre-
chen eines Freimaurers über sein Freimaurer-
tum steht, im Konkreten wie im Allgemeinen,
Das 1816 im nachträglichen Anhang der Ge- unter dem Verdacht der Ablenkung und der
sänge der Freimaurer zum Gebrauche aller Verschleierung. Dem entgeht auch G. nicht.
Deutschen Logen (1813) erschienene Gedicht Obwohl dessen evolutionär-organisches Ge-
Symbolum (1814 oder 1815) gehört thematisch schichts- und Gesellschaftsdenken in der
und vom Anlaß her zu jenen acht Gedichten, Französischen Revolution bekanntlich einen
die G. 1814 bis 1825 im Zusammenhang mit sinnwidrigen Akt von Zerstörung sieht - bei
seiner Zugehörigkeit zur Weimarer Freimau- weitgehender Billigung der Ziele - und er da-
rer-Loge (seit 1780) verfaßt hat und die er in her nicht im Verdacht stand, an der aktiven
ihrer überwiegenden Mehrzahl unter die Ru- Unterminierung des ancien regime mitgewirkt
brikLogein die Samrnlungvon 1827 aufnahm. zu haben, bleibt doch eine Spannung zwischen
Nach diesem Druck gibt die Frankfurter Aus- den offen artikulierten gesellschaftsverän-
gabe den Text wieder, die im folgenden zitiert dernden Zielen des radikalen Flügels der Frei-
wird (FA 1,2, S. 482f.). maurer und G.s Denken und seiner Stellung
In diesem Kontext rückt G. Symbolum an am Weimarer Hof. Nach allem, was wir wis-
die erste Stelle, reflektiert es doch als einziges sen, war besonders diese Weimarer Freimau-
dieser Gedichte das Verhältnis von Offenem rer-Loge mit dem Großherzog earl August als
und Verborgenem, vom Lebensgang der »Men- ihrem prominentesten Mitglied eher ein ge-
schen auf Erden« cv. 5) und dem der Freimau- selliger Zirkel als ein geheimbündlerischer
rer. Es artikuliert diesen scheinbaren Gegen- Kreis subversiver Geister.
satz nur, um ihn zu destruieren, und es um- G. versucht in diesem, schon durch den Ti-
spielt die Assoziationsfelder »Geheimnis« und tel herausgehobenen Gedicht, den Begriff und
Symbolum 353

die Sache des »Geheimen« selbst aus der Grau- Oberfläche der Dinge und Erfahrungen auf ein
zone des Politischen zu ziehen und ihn ein- ansonsten verborgenes Innere, Tiefe und Auf-
zubetten in seine eigene Welt-Anschauung: schlußreiche hin durchbrochen wird, sondern
daß die Geheimnisse des Lebens nicht in di- durch »die Stimmen der Geister / Die Stim-
rektem Zugriff ent-hüllt werden können, son- men der Meister« (Y. 22f.), deren Weisung auf
dern in tätiger Erfahrung und Arbeit sich im dem Weg durch das Leben deutlich und mit-
symbolischen Bild entbergen und so zur Sicht- teilbar ist: ein Üben der »Kräfte des Guten«
barkeit gelangen. »Am farbigen Abglanz haben (Y. 25), die Tätigkeit innerweltlicher Arbeit,
wir das Leben« (Faust II; WA I, 15.1, S.7, die dann, in einem nicht beschreib- und be-
V. 4727). stimmbaren »hier« (Y. 26) jenseitiger Existenz
Schon die erste Strophe benennt zwar einen belohnt wird. Auf diese Verbindung tätiger Le-
Gegensatz zwischen dem »Maurer« (Y. 1) und bensmeisterung mit der Fortdauer der Exi-
dem »Menschen« (Y. 5), ähnlich der Opposi- stenz richtet sich die Hoffnung der Sprechen-
tion zwischen Mensch und Künstler im Tor- den, der Meister und Geister, richtet sich die
quato Tasso, aber nur, um die Gleichheit in Hoffnung des sprechenden Ich, die Hoffnung
beider Lebensgang und Handeln zu artikulie- G.s, dessen Oeuvre zunehmend die tätige Ar-
ren. Die Zukunft verdeckt die Höhen und Tie- beit, die nach außen gerichtete Handlung des
fen der vor allen liegenden Lebens-Aufgabe, Ich feiert, gegen leere Introspektion und trans-
und der Auftrag an beide besteht darin, »vor- zendente Spekulation - nicht ohne sich des
wärtszudringen« (Y. 10) und >>ungeschrecket« Bedenklichen und moralisch Fragwürdigen
(Y. 9) diese Zukunft in Tätigkeit zu erobern. dieser Lehre bewußt zu sein, der unaufhebba-
Die Sprache dieser eher simpel anmutenden ren Ambivalenz, wie die Philemon-und-Bau-
De- und Präskriptionen ist ein markantes Bei- cis-Episode im fünften Akt des Faust II zeigt.
spiel für G.s Altersstil : lapidar, syntaktisch Zu all dem bedarf es keines Geheimen, kei-
kühn, das scheinbar Banale nicht scheuend: ner esoterischen Lehre, keiner Gemeinschaft
»Stille / Ruhn oben die Sterne / Und unten die initiierter Wissender. Warum wird diese In-
Gräber« (Y. 13ff.). Daß »eine Hülle« »mit Ehr- tention von G. im Kontext der Freimaurer-
furcht« (Y. 12f.) hängt, ist Moment einer sou- Sphäre entfaltet? Weil sie verbunden ist mit
veränen Kontraktion, von der undeutlich seinem Symbol-Verständnis. Im Symbol, im
bleibt, ob sie das Reich der Lebenden von dem Unterschied zur begrifflich-intentional codier-
der Toten oder - im Tempel der Freimaurer - ten und also auch wieder de-codierbaren Alle-
die Sphäre der Wissenden von der der Unwis- gorie, sammelt sich die poetische Anschauung
senden, der Eingeweihten von der der Unein- und Verarbeitung des Besonderen als Allge-
geweihten bildlich oder realiter scheidet. meines, wird die Wahrheit der Dinge und Er-
Möglicherweise trennt sie die Welt »drüben« fahrungen unmittelbar dichterisches Zeichen.
(Y. 21) von der unseren, deren Durchschreiten Ein Zeichen jedoch, das nicht direkt übersetz-
an sich schon und vor allem im Anblick der bar ist in Begriffe und dessen Verweischarak-
Sterne und der Gräber von »sich wandelnden ter eine gleichsam zirkuläre Struktur aufweist.
Schauern« (Y. 19) befallen wird. Selbst die Während bei der Allegorie eine diskursiv
»Helden« (Y. 18) - wobei offen, und das heißt nachvollziehbare Relation zwischen Allgemei-
hier: verborgen, bleibt, ob damit die Freimau- nem und Besonderem, Zeichen und Bezeich-
rer oder alle mutigen Menschen auf ihrem Le- netem besteht, ist das Symbol- in G.s sich um
bensgang gemeint sind - ergreift die Sorge 1800 herausbildender Ästhetik - der Ausdruck
angesichts der Schwere der Aufgabe. der Anschauung des Allgemeinen im Besonde-
Diese Not jedoch wird nicht, so ließe sich ren. Symbolischer Ausdruck ist daher weitge-
eine zentrale Idee des Textes resümieren, hend synonym mit dichterischem Ausdruck.
durch eine geheime Lehre gemildert oder auf- Die Bedeutung des Symbols liegt in seiner
gehoben, nicht durch eine Initiation in eso- zusammenfassenden Verlebendigung der dif-
terische Geheimnisse, mit denen dann die ferenten und diffusen Welt-Erfahrungen im
354 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

dichterischen und nicht im abstrakt-philoso- Künstler die entscheidende und zeitadäquate


phischen Werk. Das Symbol offenbart in nicht Leistung der Sinnkonstitution vollbringt, jen-
anders möglicher Form das ansonsten Uner- seits aller religiösen und pseudo-religiösen
forschliche. Es steht damit in struktureller Re- Konstruktionen - und die Freimaurerei ist Teil
lation, ja Homologie zur Sphäre religiöser der letzteren -, gehört in den Prozeß der
oder aufklärerischer Offenbarung oder Offen- KunstaufWertung, wie ihn G. mit dem Tor-
legung der Welt-Geheimnisse, stellt sich je- quato Tasso begonnen und wie ihn die Epoche
doch im Resultat außerhalb des Gegensatzes der Romantik theoretisch vollendet hat.
>geheim< - >öffentlich< oder >unerforschlich<- Aber selbst hier, wo G. das Zentrum seines
>erforschlich<. Es ist, wie schon das Gedicht Weltverständnisses formuliert, eben in der
Harzreise im Winter (1777) noch ohne Rekurs Symboltheorie als Kunsttheorie, um nicht zu
auf die erst später ausgearbeitete Symbol- und sagen: Kunsttheologie, bleibt ein letzter Rest
Allegoriedichotomie formuliert, das In-die- von Distanz zwischen den Worten, auch den
Welt-Treten, die einzig dem Menschen mögli- Symbolen, und den Erfahrungen des Einzel-
che Darstellung dessen, was »geheimnisvoll nen in ihrer Unaussprechlichkeit: »Das Beste,
offenbar« ist (Harzreise im Winter; FA I, 1, was du wissen kannst, / Darfst du den Buben
S. 322ff., V. 83). Dadurch verknüpft das Sym- doch nicht sagen« (Faust I; WA I, 14, S.87,
bolum die dichterische Anschauung mit der V. 1840f.).
Wahrheit des Seienden in einer unverwechsel-
baren und nicht-substituierbaren Gestalt. Was
der Freimaurer vermeintlich oder tatsächlich Literatur:
in den verschiedenen Graden der Unterwei- Boyd, James: Notes to Goethe's Poems. 2 Bde. Ox-
sung erfährt: eine sich steigernde Enthüllung ford 1948/49, Bd. 2, S.207-21O u. S.357-370. -
des verborgenen Wesens von Mensch und Welt Deile, Gotthold: Goethe als Freimaurer. Berlin 1908.
durch Lehre und magische Initiation, das lei- - Guy, Roland: Goethe franc-malr0n. La pensee et
stet der Künstler in der Gestaltung der ästhe- l'ceuvre malr0nniques de J.W von Goethe. Paris
tischen Symbol-Welt. Sie ist ein Zeigen des 1974. - Reinalter, Helmut (Hg.): Freimaurer und
Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa.
Unaussprechlichen; das Symbol ein Offenbar- Frankfurt/M. 1983. - Willems, Gottfried: Mit >Phi-
werden des Geheimnisvollen und die Darstel- siek geseegnet< oder mit >Metaphisiek gestraft,?
lung des Geheimnisses des Offenbaren. Die Goethes Gedichte über >Gott und Welt, und das Pro-
freimaurerische Trennung von Innen und Au- blem ihrer Auslegung. In: GoetheJb. 108 (1991),
ßen, trügendem Schein und tiefer Wahrheit - S.191-205.
die Trennung, die alle esoterischen Religionen Bernhard Sorg
und Weltanschauungen vornehmen - wird im
Symbolum indirekt revidiert: Die Phänomene
sind die Lehre, das dichterische Symbol ist die
Wahrheit, Tiefe und Oberfläche sind iden-
tisch, was auch bedeutet, daß ein direkter Zu-
griff auf das Absolute, auf die Essenz des Sei-
enden, unmöglich ist. Dem Menschen kann Urworte. Orphisch
bestenfalls gelingen, im dichterischen Bild,
dem Symbol, einen »farbigen Abglanz« zu ge-
winnen, der in sich alles enthält, was die uner- Die unter diesem Titel zusammengefaßte
reichbare, undenkbare und unaussprechliche Gruppe von fünf Stanzen ist, den Eintragungen
Quelle des Abglanzes aussendet. So zerfällt die im Tagebuch zufolge, am 7. und 8.10. 1817
Dichotomie von Innen und Außen; oder, an- entstanden, also mitten in der Phase der >Di-
ders gesagt: sie löst sich auf und fügt sich neu van-Jahre<. Der damals 68jährige G. konzi-
zusammen im künstlerischen Symbol. Daß da- pierte das Ganze als einen konzis gehaltenen
mit - den Gedanken zu Ende gedacht - der Zyklus über »orphische Begriffe«. Unter »Ur-
UlWorte. Orphisch 355

worten« verstand er dabei aus der mythischen der Lebensgesetzlichkeit in Gestalt von »Ur-
Überlieferung der Antike stammende urbiid- pflanze« und »Urphänomen« ein. So erklärt
Iich -typische, sinngebende Leitbegriffe, gleich- sich auch die auf den ersten Blick überra-
sam göttliche Offenbarungen des Lebensprin- schende Erstveröffentlichung der Urworte.
zips und der damit verbundenen gesetzmäßi- Orphisch in der vom Verfasser selbst heraus-
gen Wandlungen. G. sah darin die genaue Ent- gegebenen Zeitschrift Zur Morphologie
sprechung seiner Konzeption von Polarität und (1820). Um die Gedichtfolge dann doch »ei-
Steigerung. Erste Kenntnis der Orphik hatte er nem größeren Publicum bekannt« zu machen
schon früh bekommen durch Herder sowie vor (Ueber Kunst und Alterthum, 11, 3, S. 66), ließ
allem durch Georg Christoph Tobler, den G. sie noch im selben Jahr, mit eigenen Er-
schweizerischen Theologen und eifrigen Über- läuterungen versehen, in seiner Zeitschrift Ue-
setzer aus dem Griechischen. Noch in Dich- ber Kunst und Alterthum nachdrucken (ebd.,
tung und Wahrheit betonte er die Bedeutung S. 66-78). Aber erst die Veröffentlichung 1828
dieser Erfahrung für seine Konzeption, »daß in der Ausgabe letzter Hand eröffnete, als drit-
Poesie, Religion und Philosophie ganz in Eins ter Druck, wirklich den Zugang für eine brei-
zusammenfielen« (WAl, 27, S.11f.). Der be- tere Leserschaft (ALH 3, S. 101). Immerhin
sonders den »Orphika« (an Boisseree, 16.7. geschah das noch zu Lebzeiten G.s.
1818) eigenen engen Verflechtung religiöser Die Textüberlieferung der verschiedenen
mit dichterischer Erkenntnis wegen sah G. in Handschriften und Drucke weist nur gering-
diesen Zeugnissen überzeitlicher Weisheit ge- fügige Differenzen auf. Am ehesten zu beach-
radezu »heilige Worte« (Otto, S. 934). Solche ten sind wohl die Veränderungen der Anfangs-
Urworte, befrachtet mit dem Gewicht »orphi- strophe. Die im Erstdruck vorzufindende Fas-
scher Lehren« (Ueber Kunst und Alterthum, 11, sung von Vers 7 (»Und keine Zeit und keine
3, S. 66), waren für ihn zunächst einmal Dä- Kraft zerstückelt«; FA I, 24, S.439 u. MA 12,
mon, Zufall, Liebe, Nöthigung, sodann noch S.91) lautet ab dem zweiten Druck und auch
Hoffnung. Folgerichtig bilden sie deshalb bereits in der Abschrift für Sulpiz Boisseree
nacheinander die in den Untertiteln der fünf (1783-1854) vom 21.5.1818: »Und keine Zeit
Teile des kleinen Zyklus' ausgewiesenen und keine Macht zerstückelt« (FA I, 2, S. 501 u.
Kernworte. MA 13.1, S. 156; ebenso schon: Ueber Kunst
G. erkannte die tief- und weitreichende Be- undAlterthum, 11, 3, S. 67 und WA I, 3, S. 95).
deutung einer derartigen Thematisierung my- Ganz ähnlich ersetzt G. den Vers 6 der ersten
thisch-gestischer Symbole für den menschli- Version (»Das ändern nicht Sibyllen, nicht Pro-
chen Lebensvollzug. In seiner Sicht war darin pheten«; FA I, 24, S. 459 u. MA 12, S. 91) durch
kurzerhand das »diffuse Alterthum [ ... ] quint- die Variante: »So sagten schon Sibyllen, so
essenziirt« (an Boisseree, 16.7. 1818). Freilich Propheten« (FA 1,2, S. 501 u. MA 13.1, S. 156,
wollte der Autor mit seinen »Orphika« keines- ebenso: Ueber Kunst und Alterthum, 11, 3,
wegs etwa ausschließlich Vergangenes herauf- S.67 und WA I, 3, S. 95). - Alle neuen Aus-
beschwören, sondern die »uralten Wunder- gaben haben bedauerlichelWeise die Schrei-
sprüche über Menschen-Schicksale«, die in bung der heutigen Orthographie angepaßt.
seinen Augen zu »abgestorbenen Redensarten« Deshalb empfiehlt sich die Weimarer Ausgabe
verkommen waren, »aus eigener Erfahrungs- als die am meisten authentische (WA I, 3,
Lebendigkeit« wieder anfrischen (an Boisse- S. 95f.). Zum einen bewahrt sie den originären
ree, 21.5. 1818 u. 16.7. 1818). G. ging an die- Schrift- und Lautstand weitgehend; zudem
ses Unternehmen als einer heran, der die Auf- trägt sie andererseits den von G. absichtsvoll
klärung durchlaufen hatte und deshalb mit herbeigefUhrten Veränderungen in der Ein-
esoterischen Geheimlehren nichts zu tun ha- gangsstrophe Rechnung. Der Autor legte ge-
ben wollte. rade darauf beträchtlichen Wert. Teilte er doch
Der Zyklus fügt sich organisch in die lang- im nachfolgenden Heft der Zeitschrift Ueber
jährigen Bemühungen G.s um die Erkenntnis Kunst und Alterthum in einer Notiz zur Zweit-
556 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

fassung mit: »Meiner aufmerksamen kriti- gelungenen Gedicht kommen nämlich vier der
schen Freunde willen bemerke ich nur [ ... ]: Urworte - Dämon, Glück, Liebe und Noth - als
daß in der ersten Strophe der orphischen Lebensmächte zur Darstellung.
Worte ich einiges verändert habe, welchen Va- Drei der überlieferten Handschriften sowie
rianten ich Beyfall wünsche« (Ueber Kunst und der Erstdruck weisen allein die griechischen
Alterthum, III, 1, S. 57; vgl. auch: Dietze, S. 15). Strophenüberschriften auf und zwar in Groß-
Die konkreten Anregungen zur poetischen buchstaben. Der zweite und der dritte Druck
»Recapitulation dieser uralten concentrirten ergänzen die griechischen Wörter, diesmal in
Darstellung menschlichen Geschickes« (an Kleinbuchstaben, jeweils durch den deutschen
Nees von Esenbeck, 21.5. 1818) erfuhr G. Ausdruck (s. hierzu: Dietze, S. 15f.). In einer
durch die einläßliche Lektüre zweier Bücher, eigens für die Großfürstin Maria Pawlowna
die er damals gerade erhalten hatte. Das erste angefertigten Handschrift der orphischen Ge-
waren die Briefe Über Homer und Hesiodus, dichtreihe substituierte G. den griechischen
vorzüglich über die Theogonie (Heidelberg Begriffen deutsche Erklärungen. Dämon
1817, vordatiert 1818) von Johann Gottfried wurde so mit Individualität, Charakter wie-
Jakob Hermann, dem Leipziger Lehrstuhlin- dergegeben, aus Tyche wurde Zufälliges, aus
haber für Poesie und Beredsamkeit wie auch Eros Liebe, Leidenschaft, aus Ananke Be-
Herausgeber der Orphica, und dem Heidelber- schränkung, Pflicht und aus Elpis Hoffnung
ger Altphilologen Georg Friedrich Creuzer, ('NA I, 5, S. 95f.). Fast die gleichen Bezeich-
dem vielgelesenen Autor der Symbolik und nungen gebrauchte G. in dem bald danach ent-
Mythologie der alten Völker, besonders der standenen Eigenkommentar zu den Gedichten
Griechen, den G. von seiner 1815 unternom- für den Zweitdruck in Kunst und Alterthum
menen 'zweiten Rheinreise< her gut kannte. (Dämon, Das Zufällige, Liebe, Nöthigung,
Zur weiteren Quelle der Anregung wurden die Hoffnung). Die deutsch-griechische 'Parallel-
von dem Göttinger Professor Friedrich Gott- aktion < bei der Titelgestaltung liefert uns
lieb Welcker deutsch herausgegebenen und wertvolle Hinweise hinsichtlich des Bedeu-
mit Zusätzen versehenen Abhandlungen (Göt- tungsprofils des Gedichtzyklus' über die »Or-
tingen 1817) des dänischen Archäologen Ge- phischen Worte«.
org Zoega. Das Eintreffen der Schrift von Her- G. lehnte sich bei der lyrischen Ausgestal-
mann und Creuzerwurde am26.9. 1817von G. tung direkt an Zoegas Darlegungen zum Glau-
registriert. Unter dem Datum des 7.10. 1817 ben der Ägypter und dessen Entsprechungen
vermerkt G. im Tagebuch: »Zoegas Abhand- in den »orphischen Lehren« an. Der dänische
lungen mit Welckers Noten. Orphische Be- Wissenschaftler erwähnte hierzu besonders
griffe«. Noch am gleichen Tag erfolgte die poe- die Überlieferung in den Saturnalia, einer
tische Umsetzung, und schon tags darauf spätantiken Schrift des Neuplatonikers Am-
konnte der Autor befriedigt notieren: »Fünf brosius Theodosius Macrobius, derzufolge bei
Stanzen in's Reine geschrieben« (Tagebuch, der Geburt des Menschen die vier Gottheiten
8.10. 1817). Gemeint war damit der lyrische Dämon, Tyche, Eros und Ananke zugegen
Zyklus über die ewigen Urworte. seien und außerdem noch Elpis in den nämli-
Zur Bekräftigung der Aktualität solcher Re- chen Zusammenhang gehöre (vgl. Trunz,
flexion kann dabei auch die Erinnerung an S. 674). Ersichtlich war damit der thematische
eine poetische Eindeutschung Karl Ludwig Kern der orphischen Urworte vorgegeben. -
von Knebels aus dem Griechischen eine ge- Mit dem Präfix ,Ur-< verband G. die Vorstel-
wisse Rolle gespielt haben, die der Jenaer lung eines fortdauernden Wesensgrundes
Freund 1815 bei Göschen in Leipzig im Rah- ebenso wie die »Quintessenz eigener Grund-
men einer anonym erschienenen Sammlung überzeugungen« (Otto, S.955). Mythos als
kleiner Gedichte an die Öffentlichkeit gebracht ewigmenschliche Gegenwart interessierte den
hatte (vgl. Hübscher, S. 155 u. Dietze, S. 25). Autor sowohl in konkreter als auch in allego-
In dem, ästhetisch betrachtet, nicht sonderlich rischer Anwendung auf den persönlichen Cha-
Urworte. Orphisch 357

rakter. Der Weg vom Urphänomen zwn Be- menschlicher Entelechie und Metamorphose
sonderen steht seiner Überzeugung nach unter in eine Form zu bringen, die es erlaubte, in
dem Gesetz archetypischer Schicksalsbestim- feierlichem Ernst einen stufenweise sich ent-
mung. Nur auf der Grundlage dieser Seinsauf- wickelnden Prozeß zu einer auswertenden
fassung erscheint ihm individuelle Lebensge- Schlußpointe emporzutreiben. - An einer ein-
staltung möglich. In der Kunst sah G. dabei die zigen Stelle - im b-Reim der Mittelstrophe
»wahre Vermittlerin« (MA 17, S. 792) zwischen (V. 18, V. 20 u. V. 22) - macht der Autor Ge-
dem Einzelnen und dem Mythos. Bei der For- brauch von der durch Johann Jakob Wilhelm
mulierung der Urworte ließ er deshalb dann in Heinse eingeführten Lizenz, den zweiten
die von ihm aus Zoegas Abhandlungen her- Reim männlich ausgehen zu lassen, und da-
geleiteten »heiligen Worte« ganz eigene Vor- durch den Vers auf zehn Silben zu verkürzen.
stellungen einfließen. Im wesentlichen griff er Alle übrigen Verse sind klassische endecasil-
dabei Konzepte auf, die wir von Wilhelm Mei- labi. Für Urworte. Orphisch erweist sich die
sterwie von Dichtung und Wahrheit, aber auch Stanze als idealtypische Formlösung.
von der Morphologie her kennen.
Man muß sich also darüber im klaren sein,
daß G. mit seinem Zyklus den Positionen des
Gelehrtenstreits zwischen Creuzer und Her- AAIMnN, Dämon.
mann wie auch der antiken Überlieferung von
den die vielen personalisierten Gottheiten er-
gänzenden Schicksalsmächten etwas ganz Ei- Vorrang innerhalb der von G. erkannten Ge-
genes entgegengesetzt hat. Ihn interessierten setzlichkeit des Lebens kommt zweifellos dem
die orphischen Urworte nicht als mythologi- Dämon (daimon) zu. Man kann in ihm sogar
scher Code der Lebenskonstellationen. Ein- einen weltanschaulichen Grundbegriff G.s se-
deutig war es ihm vielmehr darum zu tun, die hen. Im Selbstkommentar zu den Urworten
Grundkräfte des Lebens vor dem Hintergrund definiert er ihn als »die nothwendige, bey der
seiner Weltanschauung sowie seiner persönli- Geburt unmittelbar ausgesprochene, be-
chen Erfahrungen einer spruchhaft-nüchter- gränzte Individualität der Person«, als »das
nen Klärung zuzuführen. Allemal war es ihm Charakteristische« (Ueber Kunst und Alter-
wn die Gewinnung einer höheren Einheit le- thum, 11/3, S.67f.). Der Überlieferung nach
bendiger Wirklichkeit zu tun. Das Resultat kannte die orphische Welt den Dämon als
dieser Bemühung wollte er - »in Stanzen auf- halb göttliches Wesen, das sich einen bestimm-
geklärt« (vermutlich an August von Goethe, ten Menschen zwn Wohnen aussucht und ihn
31.3. 1818) - an seine Leser weitergeben. In- dadurch entscheidend prägt. Dem vom Dämon
sofern ist Karl Eibl unbedingt zuzustimmen, besetzten Menschen obliegt es dann, die für
wenn er in G.s Gedichtfolge »fast ein kleines die Ausbildung seiner Anlagen nötige Kraft
aufklärerisches Konkurrenzunternehmen« des Handeins und Leidens aufzubringen. Da-
(S. 1095) zu den Spekulationen der an der mit ist sogleich gesagt, wie dicht Gelingen und
Fehde beteiligten Wissenschaftler sieht. Mißlingen, Glück und Tragik der dämonischen
Hinsichtlich der Form ihrer Präsentation Natur nebeneinander liegen. Insofern finden
entschied G. sich für die deutlich markierende auch die gemischten Gefühle G.s beim Um-
Vers- und Strophenlösung der Stanze. Mit ih- gang mit dem Dämonischen unschwer ihre Er-
ren acht Versen aus jeweils elf jambisch ge- klärung. Ihn störte hauptsächlich das »selbst-
fügten Silben (endecasillabi) in der weiblich ständige, selbstsüchtige« Wesen des Dämons,
ausgehenden Reimanordnung ab ab ab cc (ot- sein »unbedingtes Wollen« (Ueber Kunst und
taverime) bot ihm das »Maß des hohen feierli- Alterthum, 11/3, S. 74). Bekanntlich verfolgte
chen Sprechens« (Kayser 1960, S.90) den ad- G. ein ganz anderes Ziel, nämlich die prakti-
äquaten Rahmen für das darin Auszusagende. sche Entfaltung der entelechischen Anlagen
Ging es doch konkret darum, die Gesetze durch die real nachweisbare Metamorphose.
358 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Gewiß nicht zufällig ist demnach die erste Wesenskern des Lebensvollzugs. Bemerkens-
Oktave der Gedichtgruppe dem Dämon zuge- wert an G.s Konzeption des Dämonischen ist
schrieben. Mit diesem Titelwort schlägt G. ein in erster Linie, daß er die menschlichen An-
für sein Denken höchst bedeutsames Thema lagen und deren Ausbildung unmittelbar auf-
an. Bezeichnenderweise kommt er am Schluß einander bezieht und damit Lebensgestaltung
von Dichtung und Wahrheit, im Zwanzigsten und -leistung vom produktiven Umgang mit
Buch, ausftihrlich darauf zu sprechen. Und aus der eigenen Bestimmung herleitet. Demzu-
dem gleichen Grund kreisen etliche der Ge- folge erscheint der so verstandene Daimon als
spräche mit Eckermann um Dämonen, Dämo- »der höhere Trieb, dem man folgen wird, wenn
nisches und die dämonische Natur. Besonders und weil man mit sich selbst in Einklang blei-
aufschlußreich ist die Eintragung vom 2.3. ben will« (Spranger, S. 305). Wir müssen ihn
1831. Dort läßt Eckermann G. unter anderem sehen als einen unzerstörbaren Grundzug des
sagen: »Das Dämonische [ ... ] ist dasjenige, Menschen und seiner Entwicklung. Dermaßen
was durch Verstand und Vernunft nicht aufzu- vorgeformt, entfaltet sich das persönliche
lösen ist. In meiner Natur liegt es nicht, aber Grundwesen mit innerer Zielstrebigkeit zu
ich bin ihm unterworfen. [ ... ] Manche Ge- seiner unverwechselbaren Eigenheit: »So
schöpfe sind ganz dämonischer Art, in man- mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen«
chen sind Theile von ihm wirksam«. Auf die (V. 5). Das ist die Leitidee eines zentralen Ver-
ergänzende Frage, ob etwa Mephistopheles ses der Dämon-Stanze. Er formuliert den Ge-
dämonische Züge habe, soll G. geantwortet setzescharakter dieses inneren Müssens. Un-
haben: »Nein, [ ... ] der Mephistopheles ist ein verkennbar bezieht G. damit eine programma-
viel zu negatives Wesen; das Dämonische aber tische Gegenposition zum Voluntarismus. Ihn
äußert sich in einer durchaus positiven Tat- interessierte das Werden des Menschen als
kraft. Unter den Künstlern [ ... ] findet er sich eine dem Dämonischen abgewonnene Lei-
mehr bey Musikern, weniger bey Malern«. stung, als Entelechie und als Metamorphose.
Wie immer man die Authentizität der Ecker- Gemeint ist damit die nie zu einem Ende kom-
mannschen Überlieferungen einschätzen mag, mende Entwicklungsbewegung der Verwirkli-
läßt sich dem Beispiel doch immerhin ent- chung des Individuums aus einem jeweils an-
nehmen, wie ernst G. diesen Bereich der Sub- ders vorgegebenen inneren Kraftzentrum her-
jekt-Objekt-Relation genommen hat. Wenn bei aus auf seine Endgestalt hin.
ihm vom Dämon »unter den Künstlern« die Im Selbstkommentar G.s zu den Urworten
Rede ist, meint er immer auch sich, spricht er gibt es eine einläßliche Beschreibung gerade
also in eigener Sache. dieses Vorgangs. Wir lesen da über den Dä-
Demnach kommt hier mehreres zusammen. mon: »Er ftihlt nun daß er nicht allein durch
Bis zu einem gewissen Grad ist die lyrische Natur bestimmt und gestempelt sey; jetzt wird
Bestimmung des Dämons als Selbstaussage er in seinem Innern gewahr daß er sich selbst
und Selbstdeutung zu verstehen. Mehr noch bestimmen könne, daß er den durchs Geschick
indes geht es dem Autor um eine generelle ihm zugeftihrten Gegenstand nicht nur gewalt-
Wesensbestimmung des Menschen. Denn die sam ergreifen, sondern auch sich aneignen
dämonische Natur galt G. als einerseits unum- und, was noch mehr ist, ein zweytes Wesen,
gängliche und insoweit andererseits notwen- eben wie sich selbst, mit ewiger unzerstörli-
dige Grundlage der Selbstentfaltung. Darum cher Neigung umfassen könne« (Ueber Kunst
bezeichnete er sie auch als die »angeborne und Alterthum, 11/3, S.74). Unverkennbar
Kraft und Eigenheit«, die »mehr als alles Ueb- wird so die Selbststeigerung zur Lebensauf-
rige des Menschen Schicksal bestimmte« und gabe gemacht. Darin liegt die wahre Zielset-
mithin »die Unveränderlichkeit des Indivi- zung tätiger Entelechie. Wer immer »lebend
duums« bewirkt (Ueber Kunst und Alterthum, sich entwickelt« (V. 8), verwirklicht bis zu ei-
11/3, S.68). Seiner Auffassung nach bildet nem gewissen Grad das >Metamorphosen-
diese individuelle Form den unzerstörbaren Konzept< aus Makariens Archiv: »Nicht die
Urworte. Orphisch 359

Unmusik macht den Musiker, sondern die Mu- >Fatum<, >Fügung< oder >Schicksal< gleichzu-
sik, und die übersinnliche Musik bringt die setzen. Zu sehr liefe das nämlich auf einen von
Musik in sinnlichem Ton hervor« (MA 17, der Zwecksetzung des Menschen ganz unbe-
S. 691). Das konkrete Beispiel macht den in rührten, >blinden< Fatalismus hinaus. Eher
der ersten Stanze thematisierten Sachverhalt denkt der Autor dabei an ein Wechselspiel ei-
anschaulich für uns. Wir wissen nun um An- gener Zwecksetzungen mit den faktisch vorge-
spruch und Wirkung der prädestinierten gebenen. Determinismus hatte keinen Platz in
Form. Deshalb können wir den Kommentar G.s Weltbild. Zur Entelechie als der im einzel-
Emil Staigers zur Dämon-Strophe nachvoll- nen Menschen angelegten Zielstrebigkeit hin
ziehen, der zu G.s poetischer Leistung be- zum Vollkommenen - bei grundsätzlicher Ab-
merkte: »Wirklich ist hier alles, was der Dich- hängigkeit von vorzufindenden Ausgangsbe-
ter und Forscher jemals über den Menschen dingungen (»Geprägte Form die lebend sich
gesagt hat, mit größter Kraft in wenige Zeilen entwickelt« [Y. 8]) - kommt nunmehr die ty-
zusammengedrängt« (S. 99). chische Konditionierung. Sie stellt die gegen-
läufige, aber auch ergänzende Außenbewe-
gung dar und ist insofern Produkt eines ganzen
Komplexes äußerer Einflüsse wie etwa Erzie-
TYXH, das Zufallige. hung und Milieu. Nach dem Verständnis G.s
laufen in ihr die vielfältigen Einwirkungen al-
ler unserer variablen Lebensbedingungen zu-
Die zweite Stanze des Zyklus' bekam von G. sammen. Sie ist mithin Bestandteil der Wirk-
eine Zuschreibung, die an eine seit langem von lichkeit. Während der Dämon von G. aus-
ihm kultivierte Sinnbildsprache anknüpft. drücklich als »Specificationstrieb« (WA 11, 7,
Schon in der ersten Weimarer Zeit, genau S.75) und als »die eigentliche Natur« (Ueber
1777, ließ er im Garten am Stern einen> Altar< Kunst und Alterthum, 11/3, S.71) aufgefaßt
aufstellen, welcher der Agathe Tyche, also der wird oder als »das zähe Beharrlichkeitsver-
lächelnden Göttin Fortuna geweiht war. Das mögen dessen was einmal zur Wirklichkeit ge-
heute noch zu sehende Gebilde besteht, denk- kommen« (WA 11, 7, S. 75), sieht er in Tyche
würdig genug für die damalige Zeit, aus nichts neben dem »Zufälligen« auch die Vielfalt, wie
als einem Kubus mit einer darauf gelagerten sie als Ausfluß der sozialen Interaktion jedes
Kugel und erinnert deshalb stark an eine mo- Einzelnen unmittelbar zustande kommt
deme Skulptur. Für G. hatte das eigenartige (»Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesel-
Monument das Aussagegewicht einer Lebens- lig« [Y. 11]).
metapher. Die antithetisch-emblematische G.s Vorstellung fortschreitender menschli-
Demonstration der Spannung von Labilität cher Verwirklichung und Vervollkommnung
und Stabilität durch Kugel und Kubus sym- geht demzufolge von einer produktiven Bipo-
bolisierte für ihn die ganze Skala der Leiden- larität aus. Der Kulturphilosoph, Psychologe
schaften zwischen Freude und Leid, zwischen und Pädagoge Eduard Spranger erläuterte die-
Hoffnung und Verzweiflung. Agathe Tyche re- ses »Nehmen und Geben« als ein Wechselspiel
präsentierte in seinen Augen so etwas wie die von »empfangendem Erleben« des Ichs und
produktive Aufhebung der vielfältigen dialek- dessen »tätigem Eingreifen in die Außenwelt«
tischen Spannungen in jedem Individuum. (Spranger, S. 304f.). Niemand bleibt infolge-
Zeitlebens hing G. dieser Vorstellung an. dessen unverwandelt. Es gibt zum einen die
Mithin ist die im Titel der zweiten Stanze geradezu zwanghafte Selbstverwandlung im
angesprochene Tyche identisch mit der For- Sinne eines individuellen »Sich-Entwickelns«
tuna der römischen Mythologie. Pindar sah in des Vorgeformten, zum andern die uns »zu-
ihr die mächtigste unter den Schicksalsgöttin- fälligen«, wortwörtlich >zufallenden< objekti-
nen. G. seinerseits geht nicht etwa davon aus, ven Gegebenheiten. Sie entspringen, wie G.
das »Zufällige« hier einfach mit Begriffen wie sagt, »einer ernsteren Unruhe, einer gründ-
360 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

licheren Sehnsucht« (Ueber Kunst und Alter- Individuum. Die dafür von G. gewählte Bild-
thum, 11/3, S. 72): »Die Lampe harrt der lichkeit spielt das in der Folge allerdings am
Flamme die entzündet« (V. 16). Entelechische Beispiel der elementaren Kraft des Eros durch,
Gesetzlichkeit und Spiel des Zufalls wirken als also an dem maskulin bestimmten schöpferi-
Korrelate dialektisch zusammen. Beide sind schen Prinzip, das hier nach den dabei offen-
unerläßlich. Doch bleiben sie beide auch wie- sichtlich aufgegriffenen Vorstellungen antiker
der Teile jener Ganzheit der insgesamt fünf Kosmogonie - ähnlich dem Yang der chinesi-
Lebensmächte, auf die G.s Konzeption ab- schen Philosophie - die erleuchtende Urkraft
zielt. repräsentiert. Demnach sieht der Autor in
»Eros«, dem Amor der Römer, nicht einfach
den heiter-schalkhaft mit Liebespfeilen um
sich schießenden Sohn der Venus, sondern -
EPn~, Liebe. ganz im Sinne der Theogonie Hesiods und der
orphischen Lehren - den aus dem Chaos kom-
menden Schöpfer alles Geschaffenen, den
Anders als in den beiden ersten Stanzen bildet Menschen wie Götter Besiegenden, dessen
in der dritten, dem Eros und damit der Liebe Einwirken Liebe oder Liebesleid auslöst.
gewidmeten Partie die Überschrift eine di- Für den Leser ist anfangs nicht ganz ein-
rekte Brücke zum Wortlaut des Gedichts. Sie deutig, worauf sich das Eingangswort »Die«
bestimmt hier das thematische Profil nicht (V. 17) bezieht. Einen Anknüpfungspunkt muß
einfach durch die üblicherweise geübte Ab- er vorrangig in der deutschen Übertragung des
lösung vom übrigen Text, sondern reißt den griechischen Titelworts (»Liebe«) sehen.
Leser fast unvermittelt in den Zusammenhang Doch ist ebenso ein weiterer wichtiger Bezug
der lyrischen Aussage hinein. Die an dieser gegeben, nämlich der zur »Flamme« am
Stelle praktizierte Titeltechnik knüpft hin- Schluß der zweiten Stanze. Das Bild der einer
sichtlich der die erste Verszeile tragenden Sub- entzündenden Flamme harrenden Lampe
stantive sowohl an die weiblich-deutsche (V. 16) liefert die für die gesamte Eros-Stanze
(»Liebe«) als auch an die männlich-griechi- grundlegende Metapher. Was eine bloße Wie-
sche (»Eros«) Genusordnung an und stellt da- deraufnahme zu sein scheint, die bestenfalls
durch von vornherein den Fortgang des Ge- einer Intensitätsstufung dient, eröffnet tat-
dichtzyklus unter die symbolisch prägende sächlich den ftir das Verständnis des Gedichts
Spannung beider Geschlechter (»Die« - »Er« wesentlichen Aspekt, daß Dämon und Tyche
[V. 17]). Unverkennbar ist das sachgerechter kraft ihrer Polarität die humane Steigerung im
Reflex einer für die erotische Liebe konstitu- Eros, in der Liebe, herbeifrihren. Was aber
tiven Beziehung. Mit dieser auffälligen Lö- gilt? Man kann nur sagen: beides. Keineswegs
sung treibt G. die auch sonst im Gedicht ge- kann es sich also darum handeln, die Textur
übte Lakonik der poetischen Formulierung auf unbedingt auf die eine oder die andere Bezie-
die Spitze. Bei einer ersten Betrachtung kann hung festzulegen. Vielmehr müssen sie alle
sogar der Eindruck entstehen, die rhetorisch- zwei zur Wirkung gebracht werden. G. mutet
stilistisch eingesetzte Brachylogie, also die be- uns solche Mehrdeutigkeit zu, weil sie seine
wußt verkürzte Redeweise, habe den Faden Aussage entschieden anreichert. Absichtsvoll
logischer Abfolge ein wenig außer acht ge- betont der Autor im Selbstkommentar: »Hier
lassen. In Wahrheit jedoch konzentriert die verbinden sich der individuelle Dämon und
gedrängte Ausdrucksform die Aufmerksam- die verführende Tyche mit einander« (Ueber
keit des Lesers gerade auf das Entscheidende: Kunst und Alterthum, 11/3, S.72f.). Indirekt
die Verwirklichung der Einheit unter den unterstreicht er dadurch die oszillierende Be-
Menschen durch gleiche Berücksichtigung des deutung des Demonstrativpronomens zwi-
Weiblichen und des Männlichen im Sinne ei- schen »Liebe« und »Flamme«. Einerseits be-
ner anzustrebenden polaren Einheit in jedem tont der unterschiedliche Kontext die Unver-
Urworte. Orphisch 361

meidbarkeit von Einwirkungen der Liebe auf uns einwirkt, unsere Individualität ein-
unseren Lebensgang, andererseits - im Rück- schränkt, wird in den Teilen zwei (»TYXH,
bezug auf die vorangegangene Stanze - die das Zufällige«) und vier (»ANArKH, Nöthi-
verwandelnde, >zündende< Kraft, die vom gung«) - nebenbei: alte aristotelische Begriffe:
Spannungsfeld unserer inneren, individuellen Zufall und Notwendigkeit im Rahmen seiner
Gegebenheiten und ihren zufällig von außen Naturphilosophie - thematisiert. Demgegen-
kommenden Rahmenbedingungen ausgeht. über haben der erste und der fünfte Teil das
Eros und Liebe gehören demnach unbedingt uns eigene innere Gesetz (»DAIMnN, Dä-
als steigernde Vehikel des menschlichen Bil- mon«) und die sich uns eröffnenden Möglich-
dungsvorgangs ins Zentrum der poetischen keiten (»ELIlIS, Hoffnung«) zwn Gegenstand.
Darstellung. Entscheidend bleibt aber auch für die zykli-
Deshalb ist es nur konsequent, daß diese sche Gesamtkonstellation die gegenseitige Ab-
Stanze die Mitte des Gedichtzyklus ' bildet. hängigkeit aller fünf Teile untereinander.
Die hier herausgestellten Urkräfte (»Eros« und Doch nun zur Ananke-Strophe. Gerade an
»Liebe«) lassen sich, im Verstand G.s, gewiß ihr läßt sich die Interdependenz der Stanzen
nicht einfach als Leidenschaft begreifen, son- untereinander schlagend belegen. Durch di-
dern vornehmlich als bildende menschlich- rekte inhaltliche Anknüpfung zieht sie zu-
sittliche Herausforderung, die »das edelste« nächst einmal eine gedankliche Linie zur Dai-
(Y. 24) in uns befördert. Allemal sah er in der mon-Strophe, steht sodann in enger Verbin-
Liebe den entscheidenden Prüfstein humaner dung zu dem, was als Tychisches »mit und wn
Bewährung. Das erhebt sie zu einem gesell- uns wandelt« (Y. 10), verschränkt sich ferner
schaftlichen Akt freiwilliger Bindung, zu ei- eng mit den ambivalenten Konditionen der
nem mit Bedacht getroffenen Entschluß ge- Liebe und dient schließlich noch als polar an-
meinsamen Handeins unter Wahrung des je- regendes Gegensatzbild zur abschließend vor-
weils Eigenen. Die Eros-Stufe allein macht in gestellten Hoffnung. An derartigen Beobach-
seiner Sicht den Menschen wahrhaft soziabel. tungen erweisen sich lebendige Einheit und
Der so Liebende hat nämlich, wie G. es in dialektische Dynamik der Urworte im Sinne
Dichtung und Wahrheit formulierte, damit die einer Grundkonzeption G.s von den Struktu-
»Base« gefunden, »worauf sich erst [sein] Le- ren des Lebens. Deswegen führt es nicht weit,
bensgebäude erheben« kann (WA I, 29, die einzelnen Teile isoliert zu betrachten. Ihre
S. 158). volle Dimension und Wirkkraft gewinnen sie
einzig und allein aus dem spannungsvollen
Zusanunenspiel in der auktorialen Anord-
nung, die ja ihrerseits antik-orphische Kon-
ANArKH, Näthigung. zepte aufgreift. Der festgestellte polare Bezug
zwischen Teil vier und fünf äußert sich sogar
unmittelbar in auffallender textueller Verzah-
Mit der dem vierten Urwort gewidmeten nung. Weit stärker als die Rückgriffe auf die
Stanze konturiert sich die dialektische Kon- jeweilige Vorstrophe am Anfang der zweiten
zeption des zyklischen Gesamtbaus vollends und der dritten Stanze (Y. 9 u. V. 17) bestimmt
als Ganzes. Konnte der Leser bislang einen nämlich eine deutliche Weiterführung, die im
regelrechten Dreischritt registrieren, erzwingt strikten Spannungsverhältnis zur inhaltlichen
das Vorhandensein zweier weiterer Teile er- Aussage des vierten Teils steht, die Elpis-Stro-
gänzende Zuordnungen. Dabei wird eines phe in ihrer Gesamtheit.
deutlich: Die MittelsteIlung der Eros-Strophe Während die Eros-Stanze einen Zugang zwn
gewinnt ihren verbindenden Sinn dadurch, gesellschaftlichen Sein des Individuums eröff-
daß wn sie herum jeweils zwei Stanzen in net, den Menschen als Liebenden produktiv in
quasi achsenspiegeliger Anordnung gruppiert sein soziales Umfeld einbettet, beschäftigt sich
sind. Was von außen ohne eigenes Zutun auf demgegenüber die »Nöthigung« mit der Kehr-
362 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

seite gesellschaftlicher Integration, mit dem S. 927). So dient auch die zwiespältige Ananke
»harten Muß« cv.30). G. betont in der Ananke- letzten Endes schöpferischer Entwicklung und
Strophe eindeutig die negativen lmplikationen damit der lebendigen Einheit des Indivi-
und stellt dabei hinsichtlich der gesellschaft- duums.
lichen Gesetze, Verbindlichkeiten und Rituale
fest: »Was liebevolle Neigung freywillig ge-
währte wird nun Pflicht, welche tausend
Pflichten entwickelt, und damit alles ja für EAI1IL, Hoffnung.
Zeit und Ewigkeit abgeschlossen sey, läßt we-
der Staat, noch Kirche, noch Herkommen es an
Zeremonien fehlen. Alle Theile sehen sich Abweichend vom antiken Schema der vier Da-
durch die bündigsten Contracte, durch die seinsmächte - Daimon, Tyche, Eros und
möglichsten Oeffentlichkeiten vor, daß ja das Ananke-, wie es der spätlateinische Dichter
Ganze in keinem kleinsten Theil durch Wan- Macrobius überliefert hat, fügte G. seinen or-
kelmuth und Willkhür gefährdet werde« (Ue- phischen Urworten ein fünftes hinzu: Elpis, die
ber Kunst und Alterthum, II/3, S. 75f.). Die »Hoffnung«. Er folgte hier den Vorgaben in den
Folgerung daraus lautet kurz und bündig: »So Abhandlungen Zoegas, der mit der von ihm
ist durch freyen Entschluß die Freyheit aufge- vorgenommenen Erweiterung ein »unbezähm-
geben« (ebd., S.74). Deutet G. anfangs den bares Erkühnen des menschlichen Geistes«
mißbilligend vermerkten Befund noch halb- (zitiert nach: Hübscher, S. 136) als gleichfalls
wegs zustimmend (»Der Vortheil zieht einen wirksame Schicksalskraft ausgemacht und in
jeden an und man läßt sich gefallen die Nach- der Folge festgeschrieben hatte. Gerade dieser
theile zu übernehmen«; ebd., S. 75), so kommt Ergänzung maß G. einen tieferen Sinn bei.
er am Ende doch zu einem unverkennbar ab- Diente sie doch der in seinen Augen unerläß-
lehnend-kritischen Urteil, indem er darauf lichen, weil ausgleichenden Entgegensetzung
aufmerksam macht: »Niemand ist dem nicht zum anankischen Zwangsprinzip. Parallel zur
Erfahrung genugsame Noten zu einem solchen Polarität von Daimon und Tyche führt die
Text darreichte, niemand der sich nicht pein- durch Elpis hergestellte dialektische Span-
lich gezwängt fühlte wenn er nur erinnerungs- nung auch für die »Nöthigung« zu einer Aufhe-
weise sich solche Zustände hervorruft, gar bung der Widersprüche und Konflikte. Offen-
mancher der verzweifeln möchte wenn ihn die kundig will der Ablauf des zyklischen Gedichts
Gegenwart also gefangen hält« (ebd., S.77). daraufhinwirken, mit der zusätzlichen Gestal-
Das läßt an Deutlichkeit der Aussage nichts zu tungskraft der »Hoffnung« den sich sonst mög-
wünschen übrig. licherweise einstellenden Eindruck einer von
G.s kritische Absetzung wendet sich indes außen herbeigeführten Schein-Harmonielö-
nur gegen die »alte Felsendauer« cv. 35) einer sung zu verhindern und damit den antiken
überholten Konvention. Allemal war seine Ananke-Schluß abzufangen. Gehen der Entsa-
Orientierung auf die Zukunft ausgerichtet. gung in der Regel schmerzliche Erfahrungen
Deshalb steht im Zentrum seines Interesses voraus, löst demgegenüber die Hoffnung feste
die Absicht, den Lebensrahmen des Einzelnen Erwartungen aus, unsere Fähigkeiten auswei-
offen zu halten. Wollen und Sollen können ten zu können, bestehende Grenzen zu über-
dabei der angedeuteten produktiven Synthese schreiten, Mögliches zu verwirklichen, anders
von Freiheit und Notwendigkeit folgen, wie er gesagt: Entelechie in ihrer Doppelwertigkeit
sie in den Maximen und Riflexionen beispiel- als Vorgang und als Zustand einander anzunä-
haft festgeschrieben hat: »Das Lebendige hat hern. Die so verstandene Hoffnung ist dem-
die Gabe sich nach den vielfältigsten Bedin- nach dezidierter Gegensatz wie auch notwen-
gungen äußerer Einflüsse zu bequemen und dige Ergänzung zur Entsagung.
doch eine gewisse errungene entschiedene Zwangsläufig wird so der kontrastierende
Selbstständigkeit nicht aufzugeben« (MA 17, Rückbezug auf die »Nöthigung« zum Movens
Urworte. Orphisch 363

der lyrischen Argumentation in der Schluß- In solcher Zuversicht kann am Ende die durch-
strophe. Unbedingt wollte G. dadurch die dia- aus irdische Erlösungshoffnung fOlTI1uliert
lektische Verflechtung seiner Urworte vom werden: »Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie
Ende her besonders nachdrücklich unterstrei- beflügelt, / Ihr kennt sie wohl, sie schwälTI1t
chen. Was sogleich auffällt, ist die eingangs durch alle Zonen; / Ein Flügelschlag - und
wiederholend verstärkte Evokation ananki- hinter uns Äonen!« (Y. 38ff.).
scher Beschränkung. Sie bestimmt nahezu die Im Vergleich der uns erhebenden Hoffnung
Hälfte derfünften Stanze (Y. 33ff. u. V. 37). Aus mit dem machtvollen Emporfliegen eines gro-
dem Bedingten und Gewohnten heraustrei- ßen Vogels geht dem Leser auf, welch unge-
bend, der »Nöthigung« also konsequent ent- heure Veränderung der menschliche Wesens-
gegenwirkend, entfalten sich die konträren kern - hierdurch metamorphisiert - erfährt.
Aussagen zur Hoffnung in der anderen Text- Der »Flügelschlag« schafft gewaltigen Ab-
hälfte mit Macht (Y. 34, V. 36 u. V. 38ff.). stand, entfernt uns um »Äonen« von den Be-
Wie schon in der Eros-Strophe (Y. 17) wird grenzungen, die unbedingtem Streben hin-
hier abelTI1als ein direkter Zusammenhang dernd im Wege stehen. Die überwundenen Di-
zwischen Überschrift und Text hergestellt. mensionen der Weltalter offenbaren den er-
Während das zunächst auftauchende weibliche folgten qualitativen Umschlag.
Personalpronomen der dritten Person, Singu- Naheliegend ist die Annahme einer zusätz-
lar (»Sie« [Y. 35]) noch dem Sinnbezug zur lichen semantischen Komponente für diesen
»Mauen< (Y. 33) zugeordnet ist, stellt das glei- letzten Vers im orphischen Zyklus. Unschwer
che Wort drei Verszeilen danach und in der läßt sich nämlich der »Flügelschlag« auch auf
Folge die für die Gestaltung des Schlusses not- Pegasus beziehen, der als geflügeltes Pferd
wendige Verbindung zum Titelwort her. Sicher zum Sinnbild der Dichtkunst wurde. Vor die-
eine etwas ungewöhnliche, den Leser zu ge- sem Vorstellungs hintergrund entsteht ein ge-
schärfter Aufmerksamkeit zwingende Verfah- danklicher Zusammenhang zwischen Dicht-
rensweise. Im selben Zuge geht die perspek- kunst und Hoffnungsmetapher. Das schrei-
tivische Ausrichtung des Gedichts endgültig in bend sich erfahrende dichterische Selbstbe-
den Gestus der Anrede des Ensembles aller wußtsein gibt G.s Zyklus, der ja ohnehin von
Lesenden über (»uns« [Y. 38 u. V. 40]; »Ihr« seiner Überschrift her Orpheus, dem göttli-
[Y. 39]). Damit gelangt die im Verlauf des Zy- chen Sänger, zugeschrieben ist, zum Schluß
klus zu beobachtende Erweiterung des Hori- eine noch eindeutigere poetologische Auswei-
zonts, die vom Persönlichen zum Allgemeinen tung. Elpis, die Hoffnung als die »edle Trei-
fortschreitet, zu ihrem Höhepunkt. Virtuell er- berin, / Trösterin« (VVA 1,2, S. 60), steht somit
schließt demnach die Sprechhaltung des Ge- direkt in Verbindung mit jener FOlTI1 der zwi-
dichts die Kommunikation mit allen Mitmen- schenmenschlichen Kommunikation, die für
schen, rückt es also in eine menschheitsge- den Autor gleichfalls höchsten Wert besaß: die
schichtliche Dimension. G. bekundet dadurch, Poesie als »eine reife Natur« (MA 17, S. 889).
daß er nicht etwa von einfachen Grundtrieben Sie kann dem Augenblick Dauer verleihen und
oder Lebenskräften spricht, sondern generelle repräsentiert insofern konkret gewordene
>Maximen und Reflexionen< zum Menschen- Hoffnung. Die geheime Identität zwischen
schicksal verkünden will. poetischer Leistung und lebendiger Hoffnung
Freilich gilt es dabei stets, das Maß für die hat G. geradezu zum künstlerischen VelTI1ächt-
individuelle Realisierung des menschlichen nis erhoben. Erst durch die Hoffnung be-
Lebenslaufs in der Hoffnung zu sehen, weil kommt die im Zyklus generell erhobene For-
sonst der »ehrnen Mauer / Höchst wider- derung menschlicher Entwicklung den sie de-
wärt'ge Pforte« nicht »entriegelt« (Y. 33f.) wer- finitiv steigernden Impetus.
den kann. Eindeutig aber steht dann die auf-
hebende Kraft im Zeichen befreiender Zuver- Deutlich geworden sein dürfte: Im Gesamttext
sicht. Was sie prägt, ist die Liebe zum Novum. der fünf Stanzen des Urworte-Zyklus fOlTI1u-
364 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

lierte G. mit seinen »orphisch« bestimmten Sammlung Goethe und die Antike (Grumach,
Aussagen keine Geheimnisse, sondern sein S. 707-711). Ansätze eigener Deutung finden
ganz persönliches Zeugnis einer bewußt erfah- sich, verständlicherweise, auch nicht im Rah-
renen und geleisteten Bewältigung eigener men der größeren Gesamtdarstellungen von
Lebensproblematik. Wer darin allerdings so Gundolf, Klein, Korff, Staiger und Conrady.
etwas wie beruhigte Rückschau vermutet, ver- Die Beiträge von Hoffmeister (1930, Wieder-
kennt völlig, daß derartige Erkenntnis niemals abdruck 1946), Spranger (1930ff.), Flitner
Resultat leidfreier, organischer Entwicklung (1939), Dietze (1977) und Anglet (1991) kön-
ist. Nicht umsonst betonte G. im Alter: »Es hat nen lediglich als weiterführende Anregungen
mich genug gekostet, zu werden wie ich bin« bezeichnet werden. Hoffmeister leistete eine
(von Müller, 23.10. 1812). Immer hat er es schlüssige Gesamtinterpretation in deutlicher
verstanden, Glück und Schmerz, Innerstes und Anlehnung an Georg Simmel. Spranger nahm
Tiefstes existentiell so zu verarbeiten, daß die in mehreren seiner Vorträge und Aufsätze zu
dazu erforderliche Selbstwiederherstellung in G. geistesgeschichtliche und sozialpsychologi-
sein jeweiliges Schaffen und gerade auch in sche Auswertungen des Zyklus' vor. Wilhelm
die orphischen Unvorte integriert werden Flitner bereitete den Boden für eine ganze
konnte. Das erlaubte es ihm, mit diesem Zy- Reihe religiöser Ausdeutungen. Dietze inter-
klus einen überzeugend , ge-ewigten < Augen- pretierte die Gedichtfolge auf materialisti-
blick seiner Lebensbewältigung als exemplari- scher Grundlage. Der detaillierten Beschrei-
sche Lebensleistung und dadurch als generelle bungsgrundlage wegen ist sein Beitrag nach
Lebensherausforderung festzuschreiben und wie vor als vorzügliche Einführung anzusehen.
seiner Nachwelt damit ein Muster menschli- Anglet schließlich unternahm in seiner Dis-
cher Entfaltung und Vervollkommnung im sertation den interessanten Versuch, anhand
Kunstwerk zu überantworten. Insofern erweist der Unvorte den 'ewigen< Augenblick als ein
sich die Gedichtfolge über Metamorphose und Denkbild des späten G. nachzuweisen. Unter
Entelechie ebenso als Paradigma künstleri- den verschiedenen Kommentatoren sind, ih-
schen Gestaltens vor dem Hintergrund gestei- res Informationswerts wegen, vor allem Trunz
gerter Lebenspraxis . (HA 1, S. 674-676) und Eibl (FA I, 2, S. 1092-
Die bisherige Rezeption der Unvorte leidet 1098) zu nennen.
entschieden unter der Tatsache, daß eigentlich Festzuhalten bleibt für die orphischen Ur-
so gut wie alle Interpreten davor zurück- worte nach alledem : Mit dieser Reflexion über
schreckten, den für ein genaues Verstehen die- Formprägung und Formverwandlung des
ses komplexen Textes erforderlichen herme- menschlichen Werdens hat der Autor ein Ge-
neutischen Aufwand zu leisten. Karl Otto Con- staltungskonzept für das Subjekt entworfen, in
rady hat mit Recht darauf hingewiesen, schon dem er uns die Grundlagen seiner Lebens-
G.s eigener Kommentar sei »weithin ein an- kunst einsichtig macht. Ganz bewußt dient der
deutendes Sprechen« geblieben (CONRADY, lyrische Zyklus einer Versittlichung des Le-
S.440). Nicht viel weiter gehen die meisten bens. G. war sich darüber im klaren, daß der-
der vorliegenden Deutungen und Kommen- artige Prozesse einer Selbststeigerung höchst
tare, manche bleiben sogar dahinter zurück. Es spannungsvoll, ja widersprüchlich verlaufen.
dominieren positivistische Reproduktionen Gerade aber weil es sich um eine Versittli-
der Grundgegebenheiten oder paraphrasie- chung des Lebens in der Begrenzung handelt,
rende Ausmalungen der thematischen Leitli- liefert uns die Gedichtfolge das Modell einer
nien. Einen verläßlichen Überblick über Text- kommunikativen Ethik. Virtuell kann sie
lage, Briefzeugnisse und zugehörige Doku- durchaus in die Breite wirken, indem sie das
mente bietet der Kommentar der Weimarer Humanum direkt in die Wirklichkeit hinein-
Ausgabe \'NA I, 3, S.400) und in seinem Ge- verlagert. Deshalb trifft es keinesfalls die In-
folge die Berliner Ausgabe (BA 1, S. 934-937) tentionen G.s, wenn Spranger den orphischen
sowie vor allem Ernst Grumach in seiner Unvorten »sibyllinische Tiefe« zuspricht
Hegire 365

(Spranger, S. 78). Wir haben es im Gegenteil


zu tun mit einem Denkmodell für unsere ge-
Hegire
sellschaftliche Praxis. Bereits in den 80er Jah-
ren des 18. Jhs. zeichnete sich dieses Lebens-
programm in G.s Ode Das Gättliche ab. Es Hegire, das Eingangsgedicht zur Sammlung
heißt da: »Nach ewigen, ehrnen, / Großen Ge- des West-ästlichenDivan und erstes Gedicht in
setzen / Müssen wir alle / Unseres Daseins / Moganni Nameh - Buch des Sängers ist in der
Kreise vollenden« (WA 1,2, S. 84). In den Ur- erhaltenen Reinschrift mit »W[ eimar] d[ en] 24
worten des Jahres 1817 hat der gemäß solcher Dec[ember] 1814« datiert. Es gehört somit in
Gesetzlichkeit sich Vollendende das nun aus- jene zweite Entstehungsphase des Divan, da
gereifte Programm so zwingend formuliert, G. im Winter 1814/15 die Gedichtsammlung
daß es zur haltbaren Herausforderung für alle nach ihrer Anzahl erweitert und auch kon-
zukünftigen Leser werden konnte. zeptuell weiter faßt: Aus den primär personge-
widmeten 30 »Gedichten a n H a fi s« des Som-
mers 1814 (an Riemer, 29.8. 1814) wird im
Literatur: Tagebuch der die west-östliche Kulturbegeg-
Anglet, Andreas: Der >ewige' Augenblick. Studien nung betonende »Deutsche Divan« (14.12.
zur Struktur und Funktion eines Denkbildes bei 1814). Hegire trägt in diesem, in den Rein-
Goethe. Köln, Weimar, Wien 1991, vor allem schriften auf 53 durchnumerierten Korpora die
S.47-57. - CONRADY, Bd. 2, S.437-442. - Dietze, Nummer »1.« am rechten oberen Rand. Auf
Walter: Urworte, nicht sonderlich orphisch. In: Goe- einer nächsten Stufe, im sog. Wiesbadener Re-
theJb. 94 (1977), S. 11-37. - Eibl, Komm. in FA I, 2,
gister, einem handschriftlichen, durchnume-
S. 1092-1098. - Flitner, Wilhelm: Elpis. Betrachtun-
gen über Goethes Urworte. Orphisch. In: Goethe. rierten Verzeichnis von inzwischen 100 Divan-
Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschjaft. N. F. IV Gedichten, datiert vom 30.5. 1815, steht He-
(1939), S. 128-147. - Grumach, Ernst: Goethe und gire zwar an dritter Stelle, doch da Nr. 1. dem
die Antike. Eine Sammlung. Bd. 2. Potsdam 1949, Titel und Motto, Nr. 2. einem mit »Verehrung«
S.707-711. - GUNDOLF, S.675-677. - Heckscher, überschriebenen Widmungsblatt gilt, das G. in
William S.: Goethe im Banne der Sinnbilder. Ein der Erstausgabe von 1819 wieder wegließ,
Beitrag zur Emblematik. In: ders.: Art and Litera-
ture. Studies in Relationship. Hg. von Egon Ver- bleibt Hegire auch hier wie in allen weiteren
heyen. Baden-Baden 1985, S.217-236. - Hoffmei- Fassungen wichtigstes Prologstück (FA I, 3.1,
ster, Johannes: Goethes Urworte - orphisch. Eine S. 453). Verschiedener Duktus der Handschrift
Interpretation. In: Logos. 19 (1930), S. 173-212. - in einzelnen Strophen wie unterschiedliche
Hübscher, Arthur: Das fünfte Urwort. In: Versuche Tinte und Feder in den Korrekturen deuten auf
zu Goethe. Fs. Erich Heller. Heidelberg 1976,
mehrere Entstehungsschichten hin (Grumach,
S.133-140. - Kayser, Wolfgang: Geschichte des
deutschen Verses. Bern, München 1960. - Ders.: S.534-545). So scheinen die vierte und die
Kunst und Spiel. Fünf Goethe-Studien. Göttingen siebte, d.h. letzte Strophe mitsamt Datierung,
1961, S.86-99 (vor allem S.95-97). - Klein, Jo- erst nach den übrigen Strophen hinzugefügt
hannes: Geschichte der deutschen Lyrik von Luther worden zu sein. Und etwa gleichzeitig änderte
bis zum Ausgang des Zweiten Weltkrieges. Wiesba- G. Vers 3 von »Eile du, im reinen Osten« in
den 21960, S. 357-359. - KORFF, Bd. 2, S. 341-344.- »Flüchte du« und Vers 4 von »Paradiesesluft zu
Qua, Komm. in BA 1, S. 779-1012. - Spranger, Edu-
ard: Goethe. Seine geistige Welt. Tübingen 1967, vor kosten« zu »Patriarchenluft«. Der Titel Hegire
allem S. 123f., S. 169-172, S. 303ff. - STAIGER, Bd. wurde erst Ende Mai 1815 im Zuge der Redak-
III, S. 96-99. - Trunz, Komm. in HA 1, S. 674-676.- tion und Neuordnung auf das Wiesbadener Re-
Ueber Kunst und Alterthum von Goethe. Zweyten gister hin eingefügt und verstärkte damit den
Bandes drittes Hift und Dritten Bandes erstes Hift. durch die Änderung von Vers 3 eingeführten
Stuttgart 1820 und 1821 (Neudruck: Bern 1970). Fluchtgedanken nochmals in markanter
TheoBuck Weise.
»Hegire« ist ein über das Französische ver-
mittelter Ausdruck für die Flucht und Aus-
566 Von den Sonetten zwn West-östlichen Divan. 1806-1819

wanderung Mohammeds von Mekka nach Me- des Ganzen sogleich genugsame Kenntniß. Es
dina im Jahre 622, womit die Zeitrechnung beginnt [ ... ] Der Dichter betrachtet sich als
des Islam beginnt. Zum Ausdruck »Hegire« einen Reisenden. Schon ist er im Orient an-
kommentierte der Orientalist Johann Gott- gelangt. Er freut sich an Sitten, Gebräuchen,
fried Ludwig Kosegarten in einer Notiz an G.: an Gegenständen, religiösen Gesinnungen
»Statt Hegira heisst es im arabischen, persi- und Meinungen, ja er lehnt den Verdacht nicht
schen und türkischen eigentlich Hedschra. ab, daß er selbst ein Muselmann sey. In sol-
Doch möchte dies Wort wohl zu fremd und chen allgemeinen Verhältnissen ist sein eignes
barbarisch klingen. Hegira ist auch nur durch Poetisches verwebt, und Gedichte dieser Art
französische Schreib art in Europa gebräuch- bilden das erste Buch unter der Rubrik Mo-
lich geworden« 0NA I, 7, S.292). Eine Aus- ganiname, Buch des Dichters« (FA I, 5.1,
kunft, die G. in Noten und Abhandlungen S.549). In der Einleitung zu den Noten und
übernimmt: »So sagen wir noch Hegire lieber Abhandlungen ergänzt G. die Rolle des Rei-
als Hedschra, des angenehmen Klanges und senden, die er dort ganz ähnlich umreißt,
der alten Bekanntschaft wegen« (FA I, 5.1, durch die »eines Handelsmanns, der seine
S. 295). Die Ersetzung von »Paradiesesluft« Waaren gefällig auslegt und sie aufmancherlei
durch »Patriarchenluft« steht wohl in Zusam- Weise angenehm zu machen sucht« (FA I, 5.1,
menhang mit der nachgefügten letzten Stro- S.159). Neben dieser Einführungsfunktion
phe, wo das Paradiesmotiv nicht mehr nur bei- »entrollt« Hegire freilich nicht nur »ein förm-
läufig steht, sondern thematisch dominant liches Programm des Inhalts der nachfolgen-
wird. Dies, wie auch die starke Stellung von je den [ ... ] Gedichte« (Burdach, S.45), es ist
zwei Gedichten mit Paradies-Schlüssen am darüber hinaus »Programmgedicht des ganzen
Anfang, Fetwa und Der Deutsche dankt (urspr. Zyklus« (Ihekweazu, S. 45) in dem Sinne, daß
Titel Antwort), die auf dem Reinschriftblatt sich »fast jedes Wort [ ... ] als Ausgangspunkt
noch die Nummer 2. tragen, und je zwei Para- für die Verfolgung >struktureller Verweisun-
dies-Gedichten am Schluß der Sammlung, Sie- gen< quer durch den gesamten Zyklus benut-
benschläferund Gute Nacht, lassen die Vermu- zen« läßt (Ihekweazu, S. 56).
tung zu, daß das »Paradiesmotiv zur binden- In auffallendem Kontrast zur verspielten
den und zusammenhaltenden Klammer des Leichtigkeit geselliger Rollenlyrik, womit G.
Deutschen Divans« hätte werden sollen (Gru- in der Ankündigung die Verwandlung des
mach, S. 541). Weitere, kleinere Varianten des Dichters in die Persona eines imaginären Ori-
Gedichts fallen für Verständnis und Beurtei- entfahrers, Handelsmannes und Kulturver-
lung wenig ins Gewicht. mittlers fingiert, steht der apokalyptische Ein-
Erstdruck, lediglich der ersten Strophe al- satz der Eingangsverse selbst: In der Wind-
lerdings, im Morgenblatt.für gebildete Stände. rosen-Metaphorik »Nord und West und Süd
Stuttgart, Cotta 1816. Nr.48 den 24. Februar, zersplittern, / Throne bersten, Reiche zittern«
S. 189. Erster Druck des ganzen Gedichts im - Ernst Beutler spricht von einem »Weltunter-
Taschenbuch.für Damen auf das Jahr 1817. gangsbild, einer Götzen- und Götterdämme-
Tübingen, Cotta, S. III. - Textgrundlage ist im rung« in seiner im Kriegsjahr 1945 erschie-
folgenden die Frankfurter Ausgabe I, 5.1, nenen Ausgabe des Divan (S. 516) - nimmt der
S. 12f. Autor die zeitgenössischen Ereignisse der Na-
poleonischen Wirren und Befreiungskriege
In seiner Ankündigung West-östlicher Divan 1806-1814 zum Anlaß seines Aufbruchs in den
oder ~rsammlung deutscher Gedichte in ste- Orient, zur Flucht dramatisiert: »Flüchte du,
tem Bezug auf den Orient im Morgenblatt .für im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten«.
gebildete Stände vom 24.2. 1816 kommentiert Aktualisierender Zeitbezug und Fluchtmotiv
G. das Eingangsgedicht in seiner paradigmati- an exponierter Stelle, dem Dichter von man-
schen Funktion: »Das erste Gedicht, Hegire chen Zeitgenossen als Eskapismus übelge-
überschrieben, gibt uns von Sinn und Absicht nommen, dürfen indessen nicht überbewertet
Hegire 367

/.

Reinschrift
568 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

werden. Denn einerseits verbindet G. Flucht- Und dieser phylogenetische Gang zu den Quel-
motiv und Orientthematik schon in früheren len wiederum verbindet sich mit einem onto-
Lebenssituationen; so heißt es in Dichtung genetischen Verjüngungsprozeß der Person
und Wahrheit über die Zeit der Kindheit: des Dichters (V. 5f.; vgl. Wo hast du das ge-
»Wenn eine stets geschäftige Einbildungskraft nommen?, V.9ff. [FA I, 5.1, S.52]). Eine Ver-
[ ... ] mich bald da bald dorthin führte, wenn jüngung, die oft mit G.s erster Reise seit sieb-
das Gemisch von Fabel und Geschichte, My- zehn Jahren von Weimar nach Frankfurt und
thologie und Religion mich zu verwirren an den Rhein im Sommer 1814 in Verbindung
drohte; so flüchtete [Hv. v. Vf.] ich gern nach gebracht wird (erstmals Burdach 1955, S.45)
jenen morgenländischen Gegenden [Hv. v. Vf.], und die in der paradox komplementären West-
ich versenkte mich in die ersten Bücher Mosis, Ost-/Ost-West-Bewegung als Heimreise in die
und fand mich dort unter den ausgebreiteten Fremde gedeutet werden kann (Muschg,
Hirtenstämmen zugleich in der größten Ein- S.84).
samkeit und in der größten Gesellschaft« (FA I, Vom Inszenierungscharakter des Eingangs-
14, S. 155). Und seine fluchtartige Abreise gedichts hat schon Konrad Burdach gespro-
nach Italien im Herbst 1786 hatte er auch chen (Burdach 1955, S. 47), ein »Lehrbuch der
schon als »Hegire« bezeichnet (an Herzog ear! notwendigen Verwandlung« nennt Adolf
August, 14. 10. 1786 und Italienische Reise, Be- Muschg den Divan insgesamt (S. 92), und Kar!
richt September 1787), nach Konrad Burdach Krolow spricht von den »Masken des Divan«
ein biographischer Parallelismus der »epoche- (S. 69). In der Tat ist Hegire nach dem rhetori-
machenden Flucht« (S.45) in zwei ganz ver- schen Gestus eines magischen Verwandlungs-
schiedenen Lebensphasen. Andererseits las- rituals und Zauberspruchs angelegt, mit Ent-
sen sich eine Reihe von Versen von Hegire teils rückung: »Flüchte du« und Transfiguration:
gedanklich, teils bis in Wortwendungen hinein »Soll dich [ ... ] verjüngen« in der ersten Stro-
an die Vorrede zur Hafis-Übersetzung von Jo- phe und dem alle weiteren Strophen bis auf die
seph von Hammer anschließen, so u.a. das letzte beherrschenden, fünfmal wiederholten
Motiv zusanunenstürzender Reiche (Maier, »Will ich« autosuggestiver Selbstbeschwörung
Bd. 2, S.77f.), bei anderen ist die Nähe zu und -verzauberung. Man vergleiche G.s Brief
Anton Theodor Hartmanns Einleitung und Er- vom 8.2. 1815 an Kar! Ludwig von Knebel:
läuterungen zu seiner Übersetzung der Moal- »Ich segne meinen Entschluß zu dieser Hegire,
lakat-Dichtungen nachweisbar (Mommsen, denn ich bin dadurch der Zeit und dem lieben
S.82-95), womit sich der aktualisierende Mitteleuropa entrückt [Hv. v. Vf.]«. Die Hin-
Zeitbezug auch literarisch zurückgebunden wendung zum Hörer/Leser in der letzten Stro-
und somit als topologisch erweist. phe: »Wolltet ihr ihm dies beneiden« bricht
In seinem weiteren Gang durch die sieben dann nicht nur den Bann des magischen Ein-
Strophen zu jeweils sechs Versen in vierhe- bildungszaubers der vorangehenden Imperso-
bigen Trochäen - dem häufigsten und damit nationen, sie leitet zudem eine poetologische
typischen Divan-Metrum (Kayser, S.79f.) - Reflexion ein, die als kommentierende Deu-
vollzieht das lyrische Ich die Bewegung einer tung des zuvor inszenierten Verfahrens imagi-
Orient-Reise, und zwar im doppelten Sinn des nierter Rollenübernahmen und Verwandlun-
Wortes »Orient« als Raum- und Zeitreise in gen gelesen werden kann, erweist sich dieses
eins, wobei die Zeitreise ihrerseits wiederum doch als identisch mit dem poetischen Ver-
eine zwiefache ist. Der geographische Weg in fahren überhaupt: »Wisset nur, daß Dichter-
den Mittleren Osten ist zugleich ein Weg zu- worte / Um des Paradieses Pforte / Immer
rück zu den Ursprüngen der Menschheit leise klopfend schweben, / Sich erbittend ew-
(V. 8f.), wo G. freilich ganz verschiedene, weit 'ges Leben<<. Dichtung und Wort haben magi-
auseinander liegende Epochen der vorisla- sche Absicht und Wirkung. Von hier aus rück-
misch-islamischen Geschichte auf einer Zeit- blickend zeigt sich, daß bei aller farbigen
ebene zusanunenzieht (Mommsen, S.92f.). Vielfalt an ausgemalten Bildern des Beduinen-
Hegire 369

lebens in Wüsten und Oasen, von Karawanen- Stimme und den Atem gebunden. Ihr Wesen
handel und Hirtendasein, Trinkgelagen und ist nicht grammatologisch, es ist pneumatolo-
erotischen Badeszenen die Macht und Wir- gisch. Sie ist hieratisch, ganz nahe der hei-
kungskraft des Worts, des Liedes und der ligen, inneren Stimme der Pro fes s ion d e
Sprache das durchgängige und einheitliche f 0 i, der Stimme, die man, in sich kehrend,
Thema des Gedichts ausmacht. Die Flucht in vernimmt« (Köpnick, S.384). In der Tat läßt
den Orient ist der Weg dahin, wo die Sprache sich Köpnicks Deutung durch die bisher trotz
noch transzendierende Kraft und pneumatolo- ihrer Außerordentlichkeit kaum beachteten
gische Wirkung hat cv. 10f), wo das Wort noch und auch von ihm nicht beigezogenen proso-
unmittelbar verbürgte Authentizität und Auto- disch-metrischen Besonderheiten der beiden
rität genießt cv. 17 f), wo das Lied aus Not Verse stützen: Sie bestehen mit der für sich
errettet cv. 27-30) und wo schließlich die ebenfalls signifikanten Ausnahme der zwei
Wortkunst des Dichters die Liebe selbst der Wörter »wichtig« und »gesprochen« aus lauter
ewig jungfräulichen Gespielinnen der Seligen einsilbigen Wörtern, was dem Versduktus ei-
entfacht cv. 35f). nen stoßhaft atmenden Charakter verleiht;
Seine höchste Bündigkeit und Dichte ge- selbst das Versende wird aus im Deutschen
winnt das Sprachthema in den Schlußversen seltenen »gespaltenen« spondeischen Reimen
von Strophe 3, welche zu zahlreichen Deutun- gebildet: »dort war: Wort war« (Burdach 1905,
gen Anlaß gegeben haben: »Wie das Wort so S. 324). Verstärkt wird die Nähe zum physio-
wichtig dort war, I Weil es ein gesprochen logischen Vorgang des Atmens durch die neben
Wort war«. Die Verse bilden Quintessenz und Binnenreimen und Assonanzen auffallende al-
Abschluß einer Gedankenreihe, welche die pa- literierende Häufung der stimmhaften Frika-
triarchale Kultur des Orients: »Wo sie Väter tive lvi in >wie<, >wort<, >wichtig<, >war< I
hoch verehrten«, ihre autochthone Autono- >weil<, >wort<, >war<: lautmalerischer Nach-
mie: »Jeden fremden Dienst verwehrten« und vollzug des Hauchs, im Griechischen
die autoritätsgläubige Religiosität eines vor- »Pneuma«. So sagen die Verse nicht nur eine
rationalistischen Denkens: »Wo sie noch von ursprüngliche Einheit von sprechendem
Gott empfingen I Himmelslehr' in Erdespra- Mund, Laut, Wort und sinngebendem Geist
chen, I Und sich nicht den Kopf zerbrachen« aus, sie vollziehen sie mimetisch und magisch
und »Glaube weit, eng der Gedanke« heraus- in der lautlichen Gestalt mit: »In keiner Spra-
streicht. Während frühere Kommentatoren che ist vielleicht Geist, Wort und Schrift so
das »gesprochen Wort« entweder auf frühe uranfänglich zusammengekörpert [wie im
Dichtformen von Spruchdichtung und Sprich- Arabischen; d. Vf.]« (G. an Schlosser, 23.1.
wort oder die Mündlichkeit einer Frühkultur 1815). Und Kosegartens Kommentar zu den
ganz generell bezogen, verweist Katharina von ihm zitierten zwei Versen »Wie das Wort so
Mommsen auf die verblüffende Nähe der gan- wichtig dort war, I Weil es ein gesprochen
zen Passage zu zwei Abschnitten über die vor- Wort war« in seiner Rezension von 1819: »Die
islamische Beduinenkultur in Hartmanns Ein- Araber zählten, wegen der Gewalt des Wortes,
leitung zu seiner Moallakat-Übersetzung, wel- die Dichtkunst zu den Arten der Zauberkünste
che die Zulässigkeit beider Deutungen stützen [ ... ]; und als der Islam die Zauberkünste ver-
(Mommsen, S.82-93). Demgegenüber will bot, die Dichtkunst aber ausgenommen ward,
Gisela Henckmann darin den Aspekt einer von hieß diese die er lau b t e Z au b e re y«
G. im Divan vertretenen geselligen Ge- (S. 175). Die Flucht in den Osten wäre dem-
sprächskultur hervorgehoben wissen (Henck- nach der Gang zum Ursprung dessen, was in
mann, S. 29-34). Und Lutz Köpnick sieht da- Derridas Kultur- und Sprachphilosophie als
hinter unter Beizug von Jacques Derridas Ana- sog. »logozentrisches« Denken gilt. Freilich ist
lyse von Rousseaus Sprachphilosophie G.s dies nur eine Position zum Verhältnis von Spra-
Idee der Urschrift einer natürlichen Sprache: che und Denken im Divan; eine ganz gegen-
»Die natürliche Schrift ist unmittelbar an die sätzliche vertritt das Gedicht Wink im Buch
370 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Hafts: »Das Wort ist ein Fächer! Zwischen den van der G .-Artikel von Karl Förster in Brock-
Stäben / Blicken ein Paar schöne Augen her- haus' Conversationslexikon von 1824, der vom
vor. / Der Fächer ist nur ein lieblicher Flor« »ungetrübten Gefühl einer unerwartet einge-
(FAI,3.1,S.33). tretenen Befriedigung mit dem Leben und ei-
ner heitern Zufriedenheit mit jedem Zustande
Neben vereinzelten enthusiastischen Aufnah- des Daseins« spricht, explizit die Eingangs-
men im engem Umkreis um G. (z.B. durch verse von Hegire paraphrasiert und fortfährt:
Carl Friedrich Zelter), Befremden und Rat- »Jetzt, wo alles trauern und verzweifeln muß,
losigkeit in einem weitem Publikum, verfe- hat Goethe den Kampfmit sich und der Außen-
stigten sich in der Folge einige wenige Typen welt ausgekämpft« (Mandelkow, S. 371).
von Rezeptionsmustern zu Hegire, die dem
programmatischen Charakter des Eingangsge- Mehrmals bezieht sich Hegel in seinen Asthe-
dichts gemäß oft für den ganzen Divan stehen, tischen Vorlesungen auf den Divan und leitet
wie auch umgekehrt Allgemeines zum Divan ein Verständnis nach dem dritten Rezeptions-
seine besondere Geltung für Hegire hat: (1) muster ein, das den Aspekt der assimilieren-
Die Anbindung an G.s vorgerücktes Alter mit den Aneignung des Fremden und Femen in
dem oft aburteilenden Bescheid auf »Alters- zeitlicher wie geographischer Hinsicht hervor-
lyrik«; (2) die Hervorhebung des Fluchtgedan- hebt: »Dagegen ist es Goethe'n [ ... ] gelungen,
kens und »Orientalisierens«, gelegentlich ge- durch seinen westästlichen Divan noch in den
paart mit dem Vorwurf des Verrats am deutsch- späteren Jahren seines freien Innern den Ori-
nationalen oder klassischen europäischen ent in unsere heutige Poesie hineinzuziehn,
Erbe; (3) das Herausstreichen einer weltlite- und ihn der heutigen Anschauung anzueignen«
rarischen Öffnung und Erweiterung der deut- (Hegel, S. 346). Die Hervorhebung der Assi-
schen Poesie und eines souveränen freien milationskraft ohne Verlust an Eigenem gehört
Spiels mit fremden Formen und Inhalten. auch im 20. Jh. zu den gängigen Deutungs-
Für (1) steht exemplarisch Julian Schmidt, ansätzen. 1913 wendet sich Hugo von Hof-
Redaktor des deutsch-nationalen Grenzboten mannsthaI gegen das Vorurteil, G. habe sich,
und einflußreicher Literaturkritiker der Jahr- »als ein im Herzen kühler alternder Mann,
hundertmitte : »Das einzige Werk, wodurch grillenhaft dem Fremden zu-, dem Nahen und
Göthe in seinem Alter eine neue Richtung der Eigenen abgewandt und [ ... ] das orientalische
Poesie anbahnte, enthält kein frisch und ur- Gewand wie eine Vermummung übergeschla-
sprünglich hervorquellendes Leben, sondern gen«; wer zu lesen verstünde, »werde nichts
nur ein Scheindasein, das durch seine glän- von Vermummung gewahr werden, sondern
zende Außenseite täuscht« (Schmidt, S. 453). nur von Enthüllung ohne jede Schranke«. In
Ludwig Tieck spielt in Goethe und seine Zeit Hegire schlage sich daher »die Wunderwelt
G.s Orient-Beschäftigung nach dem Muster nicht sowohl des Orients als einer großen
von (2) gegen sein mangelndes Interesse an weltliebenden Seele« auf (HofmannsthaI,
der deutschen Literatur des Mittelalters aus: S. 439f.). Nach Emil Staiger »fließt dem Dich-
»Andre haben dieses Entfliehen oder diesen ter doch immer wieder das mannigfaltige Le-
Rückzug aus Deutschland weniger verstanden, ben in ein ungeteiltes Ganzes zusammen, in
und diesen muß ich mich ebenfalls anschlie- eine einzige beseligende und unerschöpfliche
ßen« (Mandelkow, S. 417). Ähnlich Wolfgang Fülle, wie sie das Gedicht Hegire in den ersten
Menzel, demzufolge G.s West-ästlicher Divan Strophen mit Liebesarmen zu umfassen ver-
»unsern jungen Dichtern nur gezeigt [hat], wie sucht« (Bd. 3, S.11). Und: »Das Eigene,
leicht es ist, durch Affektion der Orientalität Abendländische soll dem Fremden nicht geop-
einen Band Gedichte zusammenzublümeln, fert, bei des soll zusammengeschlossen werden
die als neue Mode Glück machen« (Menzel, zu einem neuen Kunstreich« (ebd., S. 27). In
S. 84). Biedermeierlich im Sinne einer privati- etwas anderer Brechung so auch Fritz Strich:
stischen Flucht ins Abgeklärte deutet den Di- »Goethe war ein viel zu vornehmer, sich selbst
Hegire 371

bejahender Mensch, als daß er den europäi- len Aneignung einer zentrums definierten
schen Geist je an den Osten hätte verraten Fremdkultur vereindeutigt, womit seine Deu-
können. Aber er ist das schönste Beispiel da- tung dem »klassischen« Orientalismus-Dis-
für, wie man sich in seiner eigenen Form be- kurs im Saidschen Sinn entspricht, müßte der
haupten und doch ganz offen bleiben [ ... ] »Orientalismus« bei G. selbst und im Divan
kann. Als der Osten dies an ihm getan hatte, erst einmal genauer erforscht und vor allem
kehrte Goethe geistig in den europäischen auch in seinen strukturhomologen Zusammen-
Raum zurück und durfte einmal [ ... ] zu Ecker- hängen mit den Geschlechterstrukturen, ins-
mann sagen, daß diese Lieder gar kein Verhält- besondere den Weiblichkeitsbildern, unter-
nis mehr zu ihm hätten. Was darin orientalisch sucht werden.
sei, habe aufgehört, in ihm fortzuleben. Der
Osten hatte seine Sendung an ihm erfüllt«
Literatur:
(S. 116f.).
Gerade Fritz Strichs Formulierung mit ihrer Beutler, Ernst (Hg.): Goethe. West-östlicher Divan.
so offenkundigen Asymmetrie in der Kulturbe- Leipzig 1943. - Burdach, Komm. in JA 5, S. 324. -
Ders.: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans.
gegnung zwischen Ost und West läßt den pro-
In: ders.: Zur Entstehungsgeschichte des West-öst-
blematischen Zusammenhang von G.s Divan lichen Divans. Drei Akademievorträge. Hg. von
und seiner Wirkungsgeschichte in Deutsch- Ernst Grumach. Berlin 1955, S.7-50. - Grumach,
land mit jenem allgemeinen westeuropäischen Ernst: Goethes Reinschrift der Hegire. In: Fs. Wil-
Kulturphänomen hervortreten, das Edward W. helm Eilers. Ein Dokument der internationalen For-
Said den »Orientalismus« genannt hat, das schung zum 27. Sept. 1966. Wiesbaden 1967,
S. 536-545. - Hegel, Georg Friedrich: Vorlesungen
freilich in der deutschen Divan-Rezeption bis-
über die Aesthetik. Hg. von Heinrich Gustav Hotho.
her wenig ins Bewußtsein gerückt und auch in Erster Theil. Berlin 21842. - Henckmann, Gisela:
der Divan-Forschung nur am Rande reflektiert Gespräch und Geselligkeit in Goethes West-östli-
worden ist. Gemeint ist damit der kulturhi- chem Divan. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1975. -
storische und mentalitätsgeschichtliche Sach- Hofinannsthal, Hugo von: Goethes West-östlicher
verhalt, daß im 18. und 19. Jh. nicht allein eine Divan. In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzel-
bänden. Hg. von Bernd Schoeller. Bd. 8. Frankfurt/
starke geistig-kulturelle Aneignung des Ori-
M. 1979/80, S.438-442. - Ihekweazu, Edith: Goet-
ents in Verbindung mit der hegemonialen Ap- hes West-östlicher Divan. Untersuchungen zur Struk-
propriation durch die Kolonialmächte Frank- tur des lyrischen Zyklus. Hamburg 1971. - Ileri,
reich und England einherging, sondern daß Esin: Goethes West-östlicher Divan als imaginäre
der Orient geradezu ein westeuropäisches Orient-Reise. Sinn und Funktion. Frankfurt/M.,
Konstrukt nach dem binären Muster Orient/ Bern 1982. - Kayser, Wolfgang: Beobachtungen zur
Verskunst des West-östlichen Divans. In: PEGS.23
Okzident aus der Perspektive eines europäi-
(1954), S. 74-96. - Köpnick, Lutz: Goethes Ikonisie-
schen Selbst ist, worin der Orient die Stelle rung der Poesie. Zur Schriftmagie des West-östlichen
des Andern, des Fremden, des Exotischen ver- Divans. In: DVjs. 66 (1992), S.361-389. - Kose-
sieht und der Okzident die Definitionsmacht garten, Johann Gottfried Ludwig: Rezension von:
und Autorität der Diskursführung innehat, West-östlicher Divan. Von Göthe. In: Lohner, Edgar
eine Konstellation der Kulturbegegnung also, (Hg.): Studien zum West-östlichen Divan Goethes.
Darmstadt 1971, S.173-189. - Krolow, Kar!: Die
die durchaus asymmetrischen Charakter hat.
Masken des Divan. Goethes Alterslyrik. In:
Dieser Orientalismus-Diskurs wurde zwar vor JbDASprD. 1982, H. 1, S. 67-76. - Maier, Hans Al-
allem von den realen Kolonialmächten Eng- brecht: West-östlicher Divan. Kritische Ausgabe der
land und Frankreich geführt, doch nahm an Gedichte mit textgeschichtlichem Kommentar von
seiner wissenschaftlich-philologischen, aka- Hans Albrecht Maier. 2 Bde. Tübingen 1965. - Man-
demischen Formulierung auch Deutschland delkow, Karl Robert: Goethe im Urteil seiner Kri-
tiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte in
teil (Said, S. 1-28). Während Fritz Strich G.s
Deutschland. Bd. 1. München 1975. - Menzel, Wolf-
Orient-Episode und den Divan in beinahe er- gang: Die deutsche Literatur. Theil 1. Stuttgart 1836.
schreckender Weise auf den kolonisierenden - Mommsen, Katharina: Goethe und die arabische
Gestus der selbstbereichernden, hegemonia- Welt. Frankfurt/M. 1988. - Muschg, Adolf: Goethe
372 Von den Sonetten zum West -östlichen Divan. 1806-1819

als Emigrant. Zum Westöstlichen Divan. In: ders.: und ästhetischem Spiel kennzeichnet den Reiz
Goethe als Emigrant. Auf der Suche nach dem Grü- dieses Gedichts, wie den der gesamten Divan-
nen bei einem alten Dichter. Frankfurt/M. 1986,
Sammlung, und die Datierung, die dem Leser
S.73-104. - Said, Edward W: Orientalism. New
York 1979. - Schmidt, Julian: Geschichte der Deut- als magischer Punkt der Antizipation ins Auge
schen Literatur seit Lessing's Tod. Bd. 2. Leipzig springt, ist genauso Bestandteil dieses lyri-
1858. - STAIGER, Bd. 3, S. 11 u. S. 27. - Strich, Fritz: schen Perspektivismus wie die Anordnung von
Goethes West-ostlicher Divan. In: ders.: Kunst und Phaenomen im Zyklus selbst. Alles ist Kompo-
Leben. Vorträge und Abhandlungen zur deutschen sition und wahrhaftiges Erleben zugleich; nur
Literatur. Bern 1960.
im Abglanz ist solches zu erfahren, das ent-
Michael Böhler spricht G.s poetologischem Hintergrund in der
Altersdichtung. Dem Leser des Divan tritt
dies als reinste poetische Praxis gegenüber,
und er erlebt, daß erst in der Aufhebung aller
biographischen und literarischen Elemente in
die Hermetik der Komposition die Intensität
oder besser: die Tiefe des Phänomens mitteil-
Phaenomen barwird. - Textgrundlage ist im folgenden die
Frankfurter Ausgabe (FA 1,3.1, S. 19).
Fragt man also danach, wie der Titel Phae-
G. datiert Phaenomen in der Handschrift auf nomen auf die drei folgenden Strophen zu be-
den 25.7. 1814, den Tag seiner Abreise nach ziehen sei, so sind mehrere Antworten mög-
Wiesbaden. So beiläufig das Datum gesetzt lich: solche, die inhaltlich durch Naturbe-
sein mag, am 28. Juli schreibt er an Christiane: trachtung und Altersreflexion geprägt sind,
» Den 25 t e n schrieb ich viele Gedichte an und solche, die der Text implizit hervorruft,
Ha fi s, die meisten gut« - so bedeutsam er- durch seine Gestaltung hinsichtlich der Di-
scheint es im Zusammenhang des Gedichts, van-Dichtung einerseits und der biographi-
unter dem es steht. Denn darin wird nicht nur schen Antizipation der Liebe andererseits. G.
eine symbolische Naturbetrachtung, die den lenkt mit seiner Schreibweise den Leser nicht
Menschen einschließt, dargelegt, es erfolgt in erster Linie auf einen begrifflich fixierbaren
darüber hinaus die Antizipation eines anderen Gehalt seiner Aussagen hin, sondern auf die
Zustandes, die Vorahnung einer Verjüngung Vieldeutigkeit des Textes selbst, welche die
durch die Liebe, was gerade angesichts des symbolische Wahrheit dahingehend über-
genannten Datums in Erstaunen versetzen steigt, daß er als Manifestation, als Erlebbares
muß. G. hat die Frau, die er lieben wird, noch stets virulent bleibt und das in G.s Verständnis
nicht gesehen, noch weiß er nicht, wer Ma- »Wahre« mit jeder Lektüre erneut lebendig
rianne von Willemer ist und daß sich aus der werden läßt.
Begegnung mit ihr eine für beide tiefgreifende Die Klarheit der Diktion entspricht jener
Leidenschaft entwickeln wird. Aber der Dich- der G.schen Alterslyrik insgesamt, wobei in
ter weiß, daß er lieben wird, und dabei er- Phaenomen der liedhafte Ton die Verse bis zur
scheint die Gleichsetzung von lyrischem Spre- größten Einfachheit führt. Schlichter und zu-
cher und Autor gar nicht so abwegig. Wer sonst gleich konziser kann man die Dinge nicht
als G. selbst sollte mit diesem »Ich« und die- mehr aufeinander beziehen und sie zugleich in
sem »Du« angesprochen sein? Der spontane einem symbolischen Kosmos zusammenfüh-
Eindruck, man habe es hiermit einerunmittel- ren. Die Gewißheit der Naturbetrachtung, ja
baren Selbstaussage zu tun, trügt, jedoch die man kann wohl sagen, die unumstößliche Si-
Annahme, es habe sich das Subjekt der Poesie cherheit, auf den »Grund des Seins« zu blik-
vollständig in einen autonomen Raum des ken, läßt alle Rhetorik überflüssig werden. Die
Symbolischen abgesetzt, ebenso. Gerade das Ineinanderführung von Naturwissenschaft
Oszillieren zwischen biographischer Faktizität und dichterisch-philosophischem Glauben
Phaenomen 373

konstituiert eine unhinterfragbare Verknüp- Strenge in den folgenden Versen entschärft


fung, zum al bei G. die Naturwissenschaft ih- und ins Spielerische abgeleitet wird.
ren Ursprung in der dichterischen Inspiration Das ist bezeichnend für die Lyrik des Divan
hat und die Dichtung immer wieder zu ihrem und wohl ein Ergebnis von G.s Beschäftigung
Hauptthema zurückkehrt: zur Natur. Gerade mit der orientalischen Poesie, insbesondere
G.s lyrische Rede zeigt diese für ihn charak- mit Hafis. Man kann annehmen, daß bereits in
teristische Symbiose: »Wenn zu der Regen- Phaenomen in identifikatorischer Art und
wand / Phoebus sich gattet« ry. 1 f.) - bereits Weise der Bezug zu dem persischen Dichter
der Anfang repräsentiert die semiologische hergestellt wird, jedoch ohne eine völlige
Dualität dieser Sprache. Die Personifizierung Gleichsetzung zu beabsichtigen. G. orienta-
der Sonne durch die antike Göttergestalt Phö- lisiert nicht im Divan, wie es später zur Mode
bus ApolIon und der prädikative Anschluß werden sollte, es kommt ihm nicht auf den
durch das transitive »sich gattet« schlägt einen exotischen Effekt an, sondern auf sein Spiel
hohen Ton an und beschwört eine erhabene mit den Masken, das die Eindeutigkeit des
Szenerie, die durch das Bild von der Regen- Bezugsrahmens verwischt. Daß G. den »mun-
wand und dem Regenbogen großräumig evo- tren Greis« in den spruchhaft fixierten Kosmos
ziert wird. Diese räumliche Weite, zeitlich er- seiner Naturweisheit einführt, liegt ebenso im
gänzt durch die metaphorische Allusion auf Programm des Divan begründet wie die Vor-
die Antike, wird in der zweiten Strophe gefolgt ausahnung der Liebe, auf die das Gedicht zu-
von der Undurchdringlichkeit des Nebels. läuft. Deshalb versteht man es in seiner ganzen
Hier wird eher der Eindruck von Eingeschlos- Dimension nur, wenn man wahrnimmt, an
senheit hervorgerufen, zugleich aber im Bild welcher Stelle es im Divan steht: mitten im
vom »Himmelsbogen« ry. 8) der Bezug zum Buch des Sängers, in dem die für die Samm-
Kosmischen gewahrt und somit ein Bindeglied lung prägenden Themen und Stoffe exponiert
zwischen der beeindruckenden Erscheinung werden, wo das Maskenspiel einsetzt und die
des Regenbogens und der matten, kaum wahr- Weisheit des Naturforschers in den Fluxus des
nehmbaren des Nebelbogens zugrunde gelegt. Spielerischen gerät, der das »Heilig öffentlich
Die ersten beiden Strophen beinhalten dem- Geheimniß« nunmehr als Genuß erlebbar wer-
nach die für G.s Naturanschauung so bezeich- den läßt.
nende Polarität, die für ihn den Pulsschlag des Dieses ästhetische Konzept besagt, daß es
Göttlichen bildet (vgl. Dichtung und Wahrheit, keiner »Hinterwelten« bedarf, um zu dem Phä-
Achtes Buch; WA I, 27, S. 221f.). Während es nomen der Natur oder zu den Phänomenen des
aber in den >weltanschaulichen Gedichten< Lebens, der Liebe vorzudringen. »Man suche
der Alterslyrik wie Parabase, Prooemion, Epi- nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst
rrhema und Antepirrhema zu einer gleichsam sind die Lehre« (MuR, 575), sagt uns der Dich-
kanonisch-spruchhaften Didaxe der symboli- ter an mehreren Stellen und weist immer wie-
schen Wahrheit kommt, schließt G. an das Er- der darauf hin, daß die Menschen zu allen
schauen des »Heilig öffentlich Geheimniß« Zeiten zu schnell von der Anschauung zur
(Epirrhema; WA I, 3, S. 88) der Natur einen Theorie übergegangen seien. G.s Weigerung,
leicht ironischen Ton an und leitet die Betrach- angesichts der Phänomene ins Allgemeine zu
tung ins Heitere, Spielerische, aber auch Per- verfallen, führt ihn zu der Idee eines »Urphä-
sönliche über. Während die erste Strophe noch nomens«, das die Spitze der entelechischen
gewissennaßen objektiv geprägt ist, bringt die Ordnung darstellen soll, nicht aber deren be-
Einführung des »Ich« in der zweiten Strophe griffliche Abstraktion. So kommt es gerade im
eine Auflockerung, die durch das vertrauliche, ästhetischen Vollzug, gestaltend oder rezeptiv,
fast scherzhafte »Du« in der dritten Strophe zu einem »Wissen« von den Phänomenen, die
noch verstärkt wird. Nicht zuletzt der Ein- ihrerseits in G.s Überzeugung »eine Folge
schub »muntrer Greis« ry. 9) trägt dazu bei, ohne Grund, eine Wirkung ohne Ursache«
daß die anfangs evozierte kontemplative (MuR, 1233) darstellen. Solche Einsichten be-
574 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

ruhen auf der hellwachen Meditation, einer Überzeugung, daß es um die Dinge selbst geht,
intuitiven Erfahrung, auf der blitzhaft auf- um ihr Vorhandensein im Augenblick und um
leuchtenden Gewißheit des Augenblicks. Auch die konkrete Begegnung mit ihnen. Dann
darauf verweist die Datierung, 25.7. 1814, in nämlich, so G., wenn wir intensiv genug in sie
der Postkutsche geschrieben, wie manche Bio- dringen, erklären sie sich selbst, »da doch jede
graphen berichten: Die Gewitterwand vor Erscheinung, die wir selbst gewahr werden,
sich, den Regenbogen erkennend und in die- im Augenblick das Nächste ist« (MuR, 556).
sem Augenblick sich seiner Lage im Ganzen Das Gedicht zeichnet einen weitgefaßten
der Natur bewußt, erfaßt der Dichter das Phä- Kreis, in dem viele der für G.s mannigfaltige
nomen im Gegenwärtigen, im polaren Wirken Tätigkeitsfelder bestimmenden Elemente zu-
der Natur und im ebenso polaren Fortschreiten sammenfließen und in dem sein liebstes Pro-
des Lebensganges. jekt, die Farbenlehre, im engeren Sinne das
»So sollst du, muntrer Greis, / Dich nicht symbolische Medium dominiert. So wie der
betrüben, / Sind gleich die Haare weiß, / Doch farbige Regenbogen und der bleiche Nebel-
wirst du lieben«, lautet die dritte Strophe, im bogen beide »Himmelsbogen« (V. 8) sind und
Divan-Ton pointiert und mehrdeutig, doch un- in beiden das kosmische Ganze gleichermaßen
verkennbar auf das ewige Fortwirken der »en- offenbar wird, so steht auch der »muntre
telechischen Monade« (an Zelter, 19.5. 1827) Greis« (V. 9) dem eigentlich dynamisch-pro-
verweisend, die, sich stets erneuernd und ver- duktiven, alles erhaltenden Phänomen des
jüngend, erhalten bleibt. Diese Bewegung Erotischen nah wie ein Jüngerer. Dichter, ein-
wird im künstlerischen Schaffen am deutlich- facher und zugleich vielschichtiger ist G.s
sten erfahrbar; an dessen Basis aber wirkt das Glaube an die erschaffende und erhaltende
Erotische, gleichsam als Urphänomen der Er- Kraft des Göttlichen im Kosmos wohl kaum
neuerung. Alles liegt im meditativen Augen- einmal bei ihm ausgedrückt.
blick offen dar, ohne Subtext oder Metatext,
aber die höchste Stufe dieser Phänomenalität
ist das Wissen um die Liebe, um ihr Kommen Literatur:
und um die Verjüngung, die sie schafft, um Hillebrand, Bruno: Die Hoffnung des alten Goethe.
alles, was G. im Divan, vor allem im Buch Mainz 1985. - Pyritz, Hans: Goethe und Marianne
Suleika, feiert, die Gemeinsamkeit im Gei- von Willemer. In: Lohner, Edgar (Hg.): Studien zum
stigen und Körperlichen und eben jene darin West-östlichen Divan Goethes. Darmstadt 1971,
gegenwärtige Unmittelbarkeit des Genießens S. 552-574. - Zagari, Luciano: Der Lyriker Goethe.
Der erste der Modernen, der letzte der Vormoder-
und Erkennens, die die Wahrnehmung der
nen. In: GoetheJb. 108 (1991), S.117-127.
Phänomene insgesamt charakterisiert. Im letz-
ten Wort des Gedichtes - »lieben« - gipfelt das Christian Schärf
vielschichtige Spiel mit dem Titel »Phaeno-
men«. Die Liebe als das Urphänomen des
Schaffens wirkt bis ins Alter hinein fort und,
darin mag wohl G.s eigentliche Hoffnung ge-
legen haben, über den Tod hinaus. Hier aber,
im Auftakt zum Divan und zu Beginn von G.s
Auseinandersetzung mit Hafis, wird all dies
Derb und Tüchtig
dominiert vom Spielerischen und Leichten, ei-
nerseits Mimesis orientalischer Geistigkeit,
wie sie G. vorgeschwebt haben mag, anderer- Das Divan-Gedicht entstand am 26.7. 1814
seits Auflockerung einer Lebenssituation, die zwischen Eisenach und Fulda zu Beginn von
durch schwere Krisen gekennzeichnet ist, aber G.s erster Rhein-Main-Neckar-Reise. Die
in der Rheinreise neue Öffnung und Zuver- überlieferte Reinschrift enthält das Datum,
sicht erfährt. Dahinter steht G.s ureigenste aber keinen Titel. Zum gleichen Datum
Derb und Tüchtig 375

"Derb und tüchtig« (Reinschrift)


376 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

schrieb G. an Christiane, er habe »den Tag durchgängig männlichen Kreuzreimen und


über [ ... ] weniger Gedichte geschrieben und den abwechselnd vier- und dreihebigen Tro-
sehr wenige gut«. Als Nr.24 fand es bereits chäen wie auch in der Tendenz zum Umgangs-
Eingang in den Deutschen Divan vom 14.12. sprachlich-Burschikosen ausdrückt. Zweitens
1814, und im Wiesbadener Register vom 30.5. vertritt der »Uebermuth« eines der beiden ori-
1815 erschien es als Nr.45 mit dem Stichwort entalisierenden Elemente des Gedichts - fand
»Dichten«. Die Überschrift brachte erst der G. doch im Diwan des persischen Dichters
Erstdruck im Divan von 1819 (FA I, 3.1, Hafis die auch anmaßliche Selbstverteidigung
S.22f.). des Dichters und die Inschutznahme seiner
Derb und Tüchtig gehört in die sehr pro- Dichtung gegen seine Tadler vorgeprägt: »Ha!
duktive Anfangsphase des Divans. Es steht im wo ist der Sänger! alle I Tugend und Beschei-
ersten Buch, dem Moganni Nameh - Buch des denheit I Will ich bei dem Ton der Flöte I Und
Sängers, als eines derjenigen Gedichte, die des Saitenspiels verthun« (HAMMER, Bd. 2,
sich entsprechend der Programmatik dieses S. 182). Deshalb stellt der Dichter in Derb und
Buchs mit einem der Zentralthemen des Di- Tüchtig die Forderung auf: »Niemand schelte
vans auseinandersetzen: der Rolle des Dich- mich!« und erklärt in den Noten und Abhand-
tens und des Dichters. Ähnlich wie das un- lungen: »Eine gewisse Aufschneiderey durfte
mittelbar vorangehende Gedicht Dreistigkeit dem Divan nicht fehlen, wenn der orientali-
wird Derb und Tüchtig von einer herausfor- sche Charakter einigermaßen ausgedrückt
dernd übermütigen Stimmung getragen, wie werden sollte« (Künftiger Divan; FA I, 3.1,
sie schon die beiden Titel signalisieren. »Derb S.221).
und tüchtig« ist ein bei G. beliebtes Hendia- Den Gegenpol zum »Uebermuth« bildet die
dyoin - so in den Wanderjahren zur Charak- »Bescheidenheit«. Die zweite, dritte und
terisierung von Sankt Joseph (FA I, 10, S. 20), vierte Strophe, die von den »Uebermuth«-
in Dichtung und Wahrheit zu der des Satyros Strophen umrahmt werden, zählen diejenigen
(FA I, 14, S. 612) und zu der der niederländi- Personen auf, denen bestenfalls »Bescheiden-
schen Malerei (ebd., S. 682). »Derb« im Sinne heit« ansteht: dem, der sich von alltäglicher
von »mutig, kühn, offen, stark, tüchtig« (DWb, »Pein« beugen läßt, dem werbenden Liebhaber
Bd. 2, Sp. 1012) deckt bei G. auch das Bedeu- und dem Schüler. »Bescheidenheit« nun mag
tungsfeld von »Wahrheit, Geradheit [ ... ] und zwar »auf große Ausbildung« deuten, da sie
Redlichkeit« ab (Winckelmann und sein Jahr- aber als »Selbstverleugnung nach außen [ ... ]
hundert; MA 6.2, S.373); »tüchtig« steht - immer mit Verstellung verknüpft und eine Art
auch im Divan immer wieder - für »wacker, Schmeicheley« ist, die zur »wachsenden Ver-
tatkräftig, mut- und lebevoll« (Dill, S.385). neinung sein selbst« fuhrt (ebd.), muß sich die
Beide Eigenschaften dienen hier der Charak- Dichtung - wenn sie unverstellt und der Wahr-
terisierung des Dichtens. Demgemäß setzt das heit verbunden sein will - dem Gegenteil,
Gedicht mit dem mutig-kecken Postulat »Dich- nämlich dem »Uebermuth«, verpflichten. Ist
ten ist ein Uebermuth« ein, das refrainartig der Dichter als solcher schon »froh und frey«,
und mit Nachdruck in Vers siebzehn wieder- so fordert er seine potentiellen Tadler auf,
aufgenommen wird. Das Provozierende dieses statt zu »schelten«, lieber ein »warmes Blut« zu
Postulats rührt daher, daß der »Uebermuth« haben, d.h. lebendig und gleichfalls »froh und
hier den bis ins 18. Jh. gültigen, ethisch nega- frey« zu sein. Diese alliterierende Zwillings-
tiven Nebensinn der »arrogantia« und »super- formel und das »warme Blut« finden ihr Echo
bia« noch in sich trägt. Dieser »Uebermuth« in »Freund und Frauen, frisch von Blut« - sind
nun steht für eines der zentralen Motive des sie doch die einzigen, deren Gegenwart der
Divans: das gesteigerte, durchaus biogra- Dichter beim Dichten duldet, wenn nicht gar
phisch motivierte Selbstbewußtsein des zu als Bedingung ftir sein Dichten ansieht. Leise
neuer Produktivität erwachten Dichters, das klingen hier zwei Elemente aus der anakreon-
sich in Derb und Tüchtig metrisch in den tischen Trias »Lieben, Trinken, Singen« (vgl.
Selige Sehnsucht 377

Hegire) an, die G. bei Hafis wiederentdeckte Gedichts nicht nur im Hinblick auf ein »wir«
und im Divan im orientalisierenden Gewand der Dichter objektiviert, sondern auch durch
wiederbelebte: die Verbindung des Dichtens die Anrede an das Publikum - »Halte sie nicht
mit der Liebe zu Frauen und mit der - homo- ein« - nach außen gekehrt. Mit diesem Werben
erotisch getönten - Liebe zum »Freund« im um Verständnis beim Publikum ist ein weiterer
Schenkenbuch. zentraler Zug des Divans angesprochen, ist es
Die fünfte Strophe bildet im Gedicht einen doch nicht nur Ziel der gesamten Noten und
Scheitelpunkt, denn es folgt in den Strophen Abhandlungen, sondern auch ein regelmäßig
sechs und sieben die vehemente Abgrenzung wiederkehrendes Motiv im poetischen Divan.
gegen das »Mönchlein« als einen störenden
Tadler und Schwätzer. Diese Abgrenzung läßt
deutliche Unmuths-Töne spüren, wie sie dezi- Literatur:
dierter noch in den Gedichten Keinen Reimer Bürgel, Johann Christoph: Drei Hafis-Studien: Goe-
wird man finden und Uebermacht, Ihr könnt es the und Hafis. Verstand und Liebe bei Hafis. Zwölf
spüren hervortreten, die am gleichen Tag wie Ghaselen übertragen und interpretiert. Bern, Frank-
Derb und Tüchtig entstanden sind und eben- furt/Mo 1975. - Dill, Christa: Wörterbuch zu Goe-
falls das Motiv des gesteigerten Selbstbewußt- thes West-östlichem Divan. Tübingen 1987. - Henck-
seins aufweisen. Zugleich ist die Polemik ge- mann, Gisela: Gespräch und Geselligkeit in Goethes
West-östlichem Divan. Stuttgart 1975. - HAMMER.,
gen das »Mönchlein« das zweite orientalisie- Bd. 2, S. 182 u. S. 219. - Ileri, Esin: Goethes West-
rende Element von Derb und Tüchtig, wehrte östlicher Divan als imaginäre Orient-Reise. Sinn
sich doch schon Hafis: »0 Prediger, feme, und Funktion. Bern, Frankfurt/M. 1982. - Lemmel,
feme bleib' I Von mir und schwatz' nicht wei- Monika: Poetologie in Goethes West-östlichem Di-
ter. I Ich bin nicht der Mann, der aufs Ge- van. Heidelberg 1987.
schwätz I Der falschen Zeugen horchet« (HAM- Anke Bosse
MER, Bd. 2, S.219). Hafis wie G. waren der
Kritik engherziger Zeitgenossen ausgesetzt,
wobei Hafis besonders gegen den »zähid-e
zähir-parast, den am Äußerlichen haftenden
Frömmler, zu Felde zieht« (Bürgel, S. 28). G.
Selige Sehnsucht
hingegen wandte sich - später verstärkt im
Buch des Unmuths, dem Derb und Tüchtig
präludiert - gegen die »Mönchlein ohne Kapp' Am 31.7. 1814, G. war am Tage vorher im
und Kutt'«, also allgemein gegen philiströse "Weißen Adler« in Wiesbaden abgestiegen und
Personen ohne äußere Insignien des Klerus, hatte sich vorerst eingerichtet, notierte er ins
die durch ihrer »Phrasen leeres Was« dem Tagebuch: »Divan. geordnet. Gebadet. In obi-
Dichter anmaßlich und besserwisserisch in gem fortgefahren«. Und nach dem Mittages-
sein Leben und Schaffen hineinreden und Be- sen: »Fortsetzung des obigen«. Was sich hinter
scheidenheit einfordern wollen. In der bilan- der vagen Angabe verbirgt, ist die Arbeit am
zierenden und belehrenden Schlußstrophe Gedicht Selige Sehnsucht, das später den
fordert der Dichter deshalb allgemein, man Schlußakkord im Moganni Nameh - Buch des
dürfe ihn und sein Dichten nicht behindern, Sängers geben wird, gefolgt nur noch von dem
denn derjenige, der »einmal« die Dichter »ver- Vierzeiler Thut ein Schilfsich doch hervor, mit
steht«, wird ihnen auch das Anmaßliche »ver- dem das erste Buch des Divan ausklingt. Im
zeihn«. In der Reinschrift lautete diese Schluß- Wiesbadener Register, der eigenhändigen er-
strophe ursprünglich - vor G.s Korrektur - sten Zusammenstellung von einhundert Di-
noch: »Wenn einmal die Mühle geht I Halt ich van-Gedichten vom 30.5.1815, findet sich das
sie nicht ein: I Denn wer sich einmal versteht I Gedicht unter der Ziffer 52, hier noch unter
Wird sich auch verzeihn«. Durch G.s Änderun- dem Titel Selbstopfer. Für den Erstdruck im
gen werden die bisherigen Ich-Aussagen des Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817 hat
378 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806~1819

G. die Überschrift Vollendung gewählt, und ken« des Beginns, der im Sinnbild der Selbst-
erst die letzte Fassung (1819) erhielt den uns verbrennung des Schmetterlings gipfelt
vertrauten Titel. Die Vorlage bildet ein Ghasel (S. 336), stehe die Idee der körperlich-geisti-
des Hafis, das G. in der Übertragung Joseph gen und sinnlich-sittlichen Metamorphose
von Hammers vor Augen hatte: »Wie die Kerze entgegen, die in der letzten Strophe mit der
brennt die Seele, / Hell an Liebesflammen / berühmt gewordenen Sentenz "Stirb und
Und mit reinem Sinne hab' ich / Meinen Leib werde!« formuliert sei: »Der Nachtfalter, der
geopfert. / Bis du nicht wie Schmetterlinge / im Licht verbrennt, ist ein für allemal tot. Ihm
Aus Begier verbrennest, / Kannst du nimmer tönt kein ,Werde< mehr« (S.334). Für Hans
Rettung finden / Von dem Gram der Liebe«. Heinrich Schaeder kommt jede gedankliche
Auch der Gedichteingang spielt auf Hafis- Analyse notwendig zu einem Schluß, »der die
Verse an: »Kennt wohl der Pöbel / Grosser Per- Einheit des Gedichts sprengt«; die meisten In-
len Zahlwerth? / Gieb die köstlichen Juwe- terpreten, von Eduard Spranger bis Hermann
len / Nur den Eingeweihten« (HAMMER, Bd. 2, August Korff oder Karl Vietor, folgen dann
S.90L). auch darin Burdach, daß sie den Gedanken der
Selige Sehnsucht gehört zu den meistinter- Metamorphose als eines Lebensgesetzes zum
pretierten G.-Gedichten, doch sein Rätsel hat Schwerpunkt des Gedichts erklären. Doch
alle Deutungen bis heute überdauert; wie ein sind solche Verlegenheitslösungen wirklich
Motto erscheint am Anfang beinah aller Erklä- notwendig, und bleibt die Antithese in all der
rungsversuche Konrad Burdachs Diktum, der Schroffheit bestehen, die ihr Werner Kraft ge-
es »vielleicht das schwierigste aller Gedichte geben hat: »Entweder also hat der Tod das
Goethes« genannt hat (Burdach, S. 332). Leben besiegt, oder das Leben hat den Tod
Dabei scheint es formal gesehen leicht zu- besiegt« (S. 297)?
gänglich. Der weiblich schließende trochäi- Den Grundstock des Gedichts bildet die Vor-
sche Vierzeiler mit Kreuzreim ist eine sehr stellung der persischen Metaphysik, daß Tod
beliebte Kurzstrophe der deutschen Lyrik, und und Untergang zugleich Wiedergeburt eines
G. hat sie im West-östlichen Divan auch am höheren Lebens darstellen. Das Bild vom
meisten verwendet. Liedhaft durch ihre Musi- Schmetterling, der sich in die Flamme stürzt,
kalität, doch durch die meist weiblichen Ka- hat Schaeder zu den geläufigsten Symbolen
denzen auch den offenen Raum für eine über der persischen Lyrik gezählt und als »Sinnbild
die Versschlüsse hinaus fließende Erzählung der das Ich verzehrenden und eben dadurch
und Reflexion gebend, zeigt sich der Ausdruck rettenden Liebe« erklärt (S. 101). Das Motiv
dieser Strophenform für die Selige Sehnsucht war G. freilich von Jugend an vertraut, es hat
besonders geeignet. Dessen gleichnishaft-nar- in seinem Leben und Denken eine so wichtige
rativer und zugleich gedanklicher Gehalt ent- Rolle gespielt, daß er alle entscheidenden Kri-
faltet sich in antithetischen Parallelismen: die sen und Umbrüche darin ebenso wie in der
einzelnen »Weisen« ~ »die Menge«, »das Le- Entwicklung seiner Kunstfiguren - ob Faust,
bend'ge« ~ der »Flammentod«, Kerzenlicht ~ Egmont, Orest oder Iphigenie - mit dieser
Finsternis, Nähe ~ Feme, die in dem parado- Denkfigur gedeutet hat. Ein allgemeines Ent-
xen Imperativ der in zwei Versen auf drei He- wicklungsgesetz, das für jeden gilt, war damit
bungen reduzierten Schlußstrophe (»Stirb und aber nie gemeint, und die völlige Identifizie-
werde!«) gipfeln (FA 1,3.1, S. 24L). rung mit dem lebendig fortschreitenden Prin-
Seit Konrad Burdachs Deutungsversuch be- zip in der Natur, das G. als Metamorphose
reitet besonders eine Unstimmigkeit den In- begriff, läuft auf eine Entschärfung und Ver-
terpreten einiges Kopfzerbrechen, entdeckte harmlosung hinaus.
er doch einen ihm unauflöslich scheinenden Eine solche Möglichkeit aber versucht der
Widerspruch zwischen den ersten vier Stro- Autor des Gedichts gleich anfangs zu verrie-
phen und den Schlußversen des Gedichts. geln. Die ersten beiden Verse betonen mit ih-
Dem »tragisch-mystisch-erotischen Gedan- rem Echo des Horazschen »odi profanum vul-
Selige Sehnsucht 379

gus et arceo« (Oden III, 1, 1) die Exklusivität Der Augenblick, der alles erfüllt, »das ist der
der Erfahrung, die dem Gedicht zugrunde liegt Tod«, sagt Prometheus in G.s frühem Dramen-
und die emphatische Ankündigung bestimmt: fragment (WA 1,39, S. 211), und ein Vorgefühl
»Das Lebend'ge will ich preisen / Das nach davon kommt für ihn auch im Moment des
Flammentod sich sehnet«. Daß sich Leben höchsten Genusses, der Liebeserfüllung, zum
nach dem Tode sehnen kann, ist dabei nicht Ausdruck. Das Divan-Gedicht nimmt also
das eigentlich Anstößige, denn man kennt es beide Erfahrungen wieder auf, läßt die eine in
als empirisches Geschehen. Der Lobpreis aber der anderen sich widerspiegeln und deutet sie
verwandelt das bloß Ereignishafte solcher Er- durch das alte Vergänglichkeitsemblem der
fahrung in ein Ideal, das unsere gewöhnlichen niederbrennenden Kerze. Das Lebendige, im
Wertvorstellungen verkehrt und gerade dem Genuß der Liebe gleich wie im Genuß des
eine gesteigerte Vitalität zuerkennt, der den Lebens sich selbst verzehrend, geht nicht nur
Tod ersehnt. Nur ein solcher ist auch der höhe- wie Phönix verjüngt aus der Asche seiner alten
ren Erfahrung zugänglich, von der die zweite Erscheinung hervor, sondern verlangt nach hö-
Strophe spricht. Sie nimmt ihren Ausgang von herer Erfüllung, unbeschränkter, lichtvoller,
der Abkühlung des Liebesverlangens im Zeu- reiner als die vorherige war. Im Bilde des
gungsakt. Die einfache liedhafte Form des Ge- Schmetterlings, der in die Kerzenflamme
dichts mag dieses so allgemeine wie natürliche fliegt, kommt diese Gedankenbewegung zu ei-
Phänomen bedeuten und damit den Reiz des nem vieldeutigen Abschluß. Die Sehnsucht
Kontrasts erhöhen, in den G. es nun stellt. Das zum Licht macht den Tod des Schmetterlings;
Fremdheitsgefühl, durch den Eindruck der indem sie gestillt wird, verzehrt die Flamme
herabbrennenden Kerze - auch sie nicht nur sein Dasein; die Vereinigung mit ihr ist sein
Bild des abnehmenden Lebens, sondern auch Tod. Womit die Grenze erreicht ist, über die
der Liebeslust - zusätzlich stimuliert, führt hinaus kein Verlangen mehr treibt, weil alles
nämlich nicht zur Resignation oder ewigen licht geworden ist im Augenblick dieser, der
Wiederholung des Gleichen, sondern zur letzten Vereinigung. Jener selige Augenblick
Überwindung der inneren und äußeren Fin- ist dann auch zugleich der wirklich erfüllte,
sternis, zu einem neuen Verlangen, das zu hö- dem keine Zeit mehr etwas anhaben kann,
herer Begattung emporreißt. Ein ferner An- weil er die Vollendung ist.
klang an den Ganymed-Mythos wird spürbar, Vollendung hatte das Gedicht ja auch einmal
bevor sich die Bildlichkeit des Gedichts erneut heißen sollen. G. hat diese Überschrift dann
der persischen Vorlage nähert. »Keine Ferne verworfen, wohl auch der Schlußstrophe we-
macht dich schwierig« - Kraft hat daraus die gen, die mit ernüchternder Geradheit den
zur G.-Zeit noch geläufige Bedeutung des »un- Blick vom Sehnsuchtsgebilde weg aufs unvoll-
ruhig«, »rebellisch« herausgelesen (S.298f.): kommene Dasein zwingt. Die Vertreibung aus
Dieser Aufschwung, das Heraufgerissenwer- dem poetischen Bildersaal ins empirische Da-
den zu höherer Begattung heißt eben auch Er- sein und in die Tätigkeit des Lebens ist dabei
höhung, die jeden Empörungsreiz, jede Un- eine ebenso charakteristische Wendung G.s
ruhe, die zuvor da war und aus der Distanz wie die Vorstellung von der Exterritorialität
zum ersehnten Ziel stammte, verhindert: des Todes zu aller menschlichen Erfahrung.
»Und zuletzt, des Lichts begierig, / Bist du »Des Todes rührendes Bild steht, / Nicht als
Schmetterling verbrannt«. Wir müssen dieses Schrecken dem Weisen, und nicht als Ende
Ende so ernst nehmen wie das Gedicht selber, dem Frommen. / Jenen drängt es in's Leben
dürfen nicht nur lesen: 'bist du als Schmetter- zurück, und lehret ihn handeln; / Diesem
ling verbrannt< (vgl. Rösch, S.253f.), als ob stärkt es, zu künftigem Heil, im Trübsal die
der Tod allein die Gestalt, nicht das Wesen Hoffnung; / Beiden wird zum Leben der Tod«.
berührte. Das sind täuschende Verwahrungen Die Verse aus Hermann und Dorothea (Ura-
und Ausflüchte, denen das Gedicht schroffwi- nia, V. 46-50; WA I, 50, S. 257f.) beschreiben
derspricht. die Gedankenfigur, die auch der Seligen Sehn-
380 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

sucht die Perspektive gibt: aus dem, wie es die S. 48-58. - Spranger, Eduard: Goethes Weltanschau-
Farbenlehre erklärt, halbdurchsichtigen Reich ung. Reden und Aufsätze. Leipzig 1943. - Vietor,
Karl: Goethe. Dichtung, Wissenschaft, Weltbild.
des Truben, das zwischen Licht und Finsternis
Bem 1949.
liegt, hinaus ins Helle, Freie, Unentfremdete
des wirklichen Selbstbewußtseins. Gert Ueding
G. schrieb dieses Gleichnis nicht für ein be-
liebiges Pub likwn , und wirklich bedeutet
»Dieses: Stirb und werde!« eine unerhörte Zu-
mutung: die Aufforderung, das Leben wirklich
daranzusetzen, in der Furcht des Todes so zu
erzittern, daß alles Dasein wie aufgelöst ist,
Unbegrenzt
jenes Selbstopfer also, das ein erster Über-
schriften-Entwurf dem Gedicht vorschreiben
wollte. Es ist das Grundmotiv aller tragischen
Situationen, und es bedarf dazu wirklich nicht, Das Gedicht Unbegrenzt ist in einer Rein-
wie G. an anderer Stelle ausführt, Gift oder schrift ohne Datierung und Überschrift erhal-
Dolch, Spieß oder Schwert (vgl. WA I, 49.1, ten; es finden sich daher in den Kommentaren
S. 321). Zu neuer Bildung und Formung, zur unterschiedliche Angaben zwn vermuteten
Wiedergeburt führt der Weg nur durch den Entstehungsdatwn. In der linken oberen Ecke
apokalyptischen Untergang des Alten - es gibt des Reinschriftblattes steht eine dem sog.
nichts, was ferner von aller Erbauung und nä- Wiesbadener Register vom 30.5. 1815 zuzu-
her an der bedrängendsten Erfahrung des Le- ordnende Nummer »13«, in diesem Verzeich-
bens wäre als diese selige Sehnsucht. nis der ersten hundert Gedichte des Divan ist
es unter dem Titel Hafts Dichtercha[raJcter
vermerkt. Demgemäß muß das Gedicht am
Literatur: oder vor dem 30.5. 1815 entstanden sein. Ge-
Borchardt, Rudolf: Zu Goethes Selige Sehnsucht. In: gen die von Konrad Burdach gemutmaßte und
ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa
von den meisten älteren Ausgaben des Divan
I. Stuttgart 1957, S. 472-475. - Burdach, Komm. in
JA 5, S. 332-338. - HAMMER, Bd. 2, S. 90f. - Korff, übernommene Datierung auf den 10.11. 1814
Hermann August: Die Lebensidee Goethes. Leipzig spricht der Papierbefund (Maier, Bd. 2,
1925. - Ders.: Die Liebesgedichte des West-östlichen S. 127): Das Blatt trägt das Wasserzeichen »N 4
Divans [in zeitlicher Folge mit Einführung und ent- I J G H«; es handelt sich wn ein Stützerbacher
stehungsgeschichtlichem Kommentar]. Stuttgart Papier, das G. in Weimar erworben und wohl
1949. - Kraft, Wemer: Selige Sehnsucht. Erläuterun-
am 24.5. 1815 auf seine zweite Reise nach
gen. In: ders.: Augenblicke der Dichtung. Kritische
Betrachtungen. München 1964, S. 295-303. - Rang, Frankfurt und an den Rhein mitgenommen ha-
Florens Christian: Goethes Selige Sehnsucht. In: ben muß. Andere Gedichte oder Notizen auf
Neue deutsche Beiträge. 1 (1922/23), S.83-125. - gleichem Papier, das Wiesbadener Register
Ders.lRang, Bemhard: Goethes Selige Sehnsucht. mit eingeschlossen, stammen vom 30.5. 1815,
Ein Gespräch um die Möglichkeit einer christlichen vom Spätherbst 1815 oder in einem Falle von
Deutung. Freiburg/Br. 1949. - Räsch, Ewald: Goet-
1818. Daß ein Blatt dieser Art ganz isoliert
hes Selige Sehnsucht - eine tragische Bewegung. In:
GRM. 20 (1970), S. 241-256. - Schaeder, Hans Hein- schon am 10.11. 1814 verwendet worden sein
rich: Die persische Vorlage von Goethes Seliger könnte, »ist wenig wahrscheinlich« (Maier,
Sehnsucht. In: Wenke, Hans (Hg.): Geistige Gestal- ebd.). Die Textgestalt erfuhr von der Rein-
ten und Probleme. Fs. Eduard Spranger. Leipzig schrift zu den Druckfassungen außer den Sinn
1942, S. 93-102. - Schlaffer, Hannelore: Weisheit als wenig verändernden Interpunktionswechseln
Spiel. Zu Goethes Gedicht Selige Sehnsucht. In: Se-
keine nennenswerten Umformungen.
gebrecht, Wulf (Hg.): Gedichte und Interpretatio-
nen. Bd. 2. Stuttgart 1983, S. 335-341. - Schrader, Erstdruck des Gedichts im Taschenbuchfor
Friedrich Otto: Selige Sehnsucht. Ein Bekenntnis zur Damen aufdas Jahr 1817. Tübingen, Cotta, S.
Seelenwanderung. In: Euphorion. 46 (1952), VIII unter dem Titel Hafts; den endgültigen
Unbegrenzt 381

Titel Unbegränzt erhält es in der Erstausgabe schen Charakter des Divan in seinem ur-
West-oestlicher Divan von 1819. - Textgrund- sprünglichen Kern: »Bereits seiner Entstehung
lage ist im folgenden die Frankfurter Ausgabe nach ist der Divan Antwort und damit Teil
1,3.1, S. 31. eines Gesprächs« (S. 125). Ansprache eines Du
ist auch das Gedicht Unbegrenzt in seiner gan-
Unbegrenzt nimmt in Hafts Nameh - Buch Ha- zen Anlage, Huldigungsgedicht und inneres
fts, dem mit zehn Gedichten eher kurzen und Gespräch in eins: »Unter den vielen Versen an
thematisch geschlossenen zweiten Buch des Hafis ist dies schlechthin das Gedicht der Be-
Divan, recht gen au die Mitte ein. Wie alle gegnung« (Trunz, S. 565), in den Versen drei-
Gedichte des Buches umkreist es die Gestalt zehn bis sechzehn nimmt der fiktive Dialog
des persischen Dichters Mohammed Schem- Züge eines brüderlichen Wettkampfs und
sed-din, genannt Hafis, d.h. »Bewahrer des Dichter-Agons an: »Und mag die ganze Welt
Koran« (gest. 1389), mit dessen Diwan in der versinken / Hafis mit dir, mit dir allein / Will
Übersetzung durch Joseph von Hammer G. im ich wetteifern! Lust und Pein / Sey uns den
Frühsommer 1814 bekannt wurde. Diese Be- Zwillingen gemein!« Ganz ähnlich stellt G. das
gegnung bildet den eigentlichen Kristallisa- zweite Buch des Divan in seiner Ankündigung
tionskern zur Entstehung von G.s Divan-Dich- im Morgenblattfür gebildete Stände vom 24.2.
tungen. In den Tag- und Jahreshiften 1815 1816 vor: »Das Buch Hafts, der Characterisi-
berichtet G.: »Schon im vorigen Jahre waren rung, Schätzung, Verehrung dieses außeror-
mir die sämmtlichen Gedichte H a fis in der dentlichen Mannes gewidmet. Auch wird das
von H am m er' s c h e n Übersetzung zuge- Verhältniß ausgesprochen, in welchem sich
kommen, und wenn ich früher den [ ... ] ein- der Deutsche zu dem Perser fühlt, zu welchem
zelnen Stücken dieses herrlichen Poeten er sich leidenschaftlich hingezogen äußert,
nichts abgewinnen konnte, so wirkten sie doch und ihn der Nacheiferung unerreichbar dar-
jetzt zusammen desto lebhafter auf mich ein, stellt« (FA I, 3.1, S. 549). Über die Gründe des
und ich mußte mich dagegen productiv ver- »leidenschaftlichen« Hingezogenseins läßt
halten, weil ich sonst vor der mächtigen Er- sich G. nicht genauer aus, doch wird in der
scheinung nicht hätte bestehen können. [ ... ] Divan-Forschung häufig auf den lebensge-
Alles was dem Stoff und dem Sinne nach bei schichtlichen Parallelismus hingewiesen, der
mir Ähnliches verwahrt und gehegt worden, G. in Joseph von Hammers Darstellung von
that sich hervor, und dieß mit um so mehr Hafis' Lebensumständen entgegentrat: »Von
Heftigkeit, als ich höchst nöthig flihlte mich Fürsten geehrt, von Freunden geliebt, verlebte
aus der wirklichen Welt [ ... ] in eine ideelle zu Hafis in den Rosenhainen von Schiras unter
flüchten«. Von der Intensität der Begegnung Studien und Genuß seine Lebenstage, welche
und dem kreativen Schub an eigener Produk- in eines der stürmischsten Jahrhunderte, wel-
tivität, den sie auslöste, zeugen auch der Brief- che die morgenländische Geschichte aufzu-
wechsel und das Tagebuch: »D e n 2 5 te n weisen hat, gefallen war. Dynastien, die sich
schrieb ich viele Gedichte an Ha fi s» (an haßten und bekämpften [ ... ], unterhielten im-
Christiane, 28.7. 1814), »Gedichte an Hafis merfort den Brand des Krieges, bis daß durch
abgeschrieben« (Tagebuch, 30.7. 1814), »Die Timurs alles verheerenden Eroberungsbrand
Gedichte an H a fis sind auf 30 angewachsen ganz Asien aufflammte [ ... ]. Hafis ward dem
und machen ein kleines Ganze« (an Riemer, Eroberer vorgestellt, und auch von ihm gnädig
29.8. 1814). Noch der Titel zu den ersten hun- aufgenommen [ ... ]. Die Gräuel politischer
dert Gedichten des Wiesbadener Registers be- Stürme [ ... ] bilden einen merkwürdigen Con-
zog sich ganz auf Hafis: Versammlung / deut- trast mit der ungetrübten Heiterkeit des Dich-
scher Gedichte / mit stetem Bezug / auf den / ters, der, während rund um ihn her Reiche
Divan / des persischen Saengers / Mahomed zusammenstürzten, und Usurpatoren don-
Schemseddin / Hafts. Mit Recht weist Gisela nernd empor schoßen, mit ungestörtem Froh-
Henckmann auf den ausgeprägten dialogi- sinn von Nachtigall und Rosen, von Wein und
382 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Liebe sang (HAMMER, Bd. 1, S.30f.). Dazu der Zwillingsbrüderschaft der Verse dreizehn
Emil Staiger: »In einem treuen und doch ent- bis fünfzehn, um dann auf einer zumindest
rückenden und beruhigenden Spiegel trat ambivalenten Note zu schließen : »Hafis dir
Goethe hier sein eigenes Schicksal entgegen: sich gleich zu stellen, / Welch ein Wahn! /
die nun schon zweieinhalb Jahrzehnte wäh- [ ... ] / Dir in Liedern, leichten, schnellen, /
rende politische Unrast, die immer gleiche Wallet kühle Flut, / Siedet auf zu Feuerwel-
Gunst Carl Augusts, sogar das Gespräch mit len; / Mich verschlingt die Glut. / Doch mir
Napoleon« (STAIGER, Bd. 3, S. 9). Und Adolf will ein Dünckel schwellen, / Der mir Kühn-
Muschg: »Hier war ein starkes Identifikations- heit giebt. / Hab doch auch im sonnenhellen /
Angebot« (S. 77). Wie enthusiastisch spontan Land gelebt, geliebt« (FA I, 3.1, S.605; vgl.
das Dichter-Lob in Unbegrenzt auch wirkt und auch Wertheim, S. 90-98). Daß ein hohes Maß
wie genuin die Bildlichkeit scheint, so zeigt an Ambiguität selbst in Unbegrenzt in das Ver-
sich doch bei genauerem Hinsehen, daß G. das hältnis zu Hafis eingelassen ist, bezeugen die
Material fast sämtlicher Motive und Meta- prosodisch -metrischen Eigentümlichkeiten:
phern ebenfalls aus Hammers Charakteristik Entgegen den Erwartungen assimiliert sich G.
von Hafis' Dichtung bezieht: so das Motiv von nicht dem auf der Aussagenebene so über-
Liebe und Wein in der zweiten Strophe und schwenglich gepriesenen Liedstil des Hafis
die Gestirnsmetaphorik in der ersten Strophe durch den Gebrauch der für diesen typischen
(HAMMER, Bd. 1, S. 35). Und selbst das Dio- und dafür am besten geeigneten Ghaselform;
skuren-Motiv in Strophe drei hat seine Wur- das unmittelbar folgende Gedicht Nachbil-
zeln bei von Hammer, dort allerdings aufHafis dung reflektiert statt dessen ausdrücklich das
und Horaz bezogen (HAMMER, Bd. 1, S. 30 u. problematische Verhältnis des westlichen
Wertheim, S. 105-112). Dichters zu dieser Form. In Unbegrenzt selbst
In dem Maße, wie sich das Divan-Projekt an mögen die fünfhebigen Paarreimverse, die
Umfang und thematischem Horizont über die jambisch-trochäische Schwebehaltung in den
Jahre hin ausweitet - so heißt der Titel in der ersten acht Versen - sowie im Namen »Hafis«
Ankündigung im Morgenblatt bereits ~r­ in Vers vierzehn - und der Gedichtauftakt mit
sammlung deutscher Gedichte mit stetem Be- einem Nebensatz die thematisierte offene
zug aufden Orient statt aufHafis -, und insbe- Fonn der Drehbewegung eines immerfort
sondere mit dem zunehmenden Gewicht der Gleichen ohne Anfang und Ende noch mime-
Suleika-Dichtung schiebt sich auch eine ge- tisch umspielen; mitten in Strophe zwei wech-
wisse Distanz zwischen G. und die Gestalt Ha- selt der Autor indessen auf stärker verfugte
fis' als >Dialogpartner<. Die Lockerung, wel- vierhebige Kreuzreimverse, und die letzten
che in der Divan-Forschung oft im unter- acht an die Stanzenform erinnernden Verse mit
schiedlichen Hafis-Bild in der Gedicht-Samm- den sechs Kreuzreimen und der markanten
lung gegenüber dem der Noten und Paarreim-Schlußsentenz vermitteln vollends
Abhandlungen festgehalten wird (STAIGER, den Eindruck hoher Formgeschlossenheit.
Bd. 3, S. 23f.), läßt sich auch im vorliegenden
Gedicht in der Entwicklung der Titelgebung Während eine breitere Rezeption des Gedichts
verfolgen: Von Hafts Dichtercha[ra]cter über über die Fachwissenschaft und Divan-For-
Hafts zu Unbegrenzt, wo schließlich ein ab- schung hinaus kaum zu beobachten ist und
strakt poetologisches Prinzip an die Stelle ei- auch wenig Einzelinterpretationen und -analy-
ner historisch realen Dichtergestalt tritt und sen dazu existieren, beschäftigt es die Kom-
nur noch die einmalige Namensnennung in mentatoren ausgiebig, insbesondere im Zu-
der vorletzten Strophe den ausdrücklichen sammenhang mit den änigmatisch paradoxa-
personalen Bezug zum persischen Dichter her- len Wendungen des Anfangs und des Schlus-
stellt. Ein Nachlaß-Gedicht vom 22.12. 1815 ses: »Daß du nicht enden kannst das macht
distanziert sich in deutlicher Responsion auf dich groß, / Und daß du nie beginnst das ist
Unbegrenzt erst explizit vom Enthusiasmus dein Loos« (V. 1f.). Und: »Nun töne Lied mit
Unbegrenzt 383

eignern Feuer! / Denn du bist älter, du bist lassene Lied des Dichters G. Dies freilich mit
neuer« (V. 19f.). Kann dabei die Eingangswen- einem gewichtigen Unterschied: Die Zeitent-
dung durch die anschließende Firmament-Me- hobenheit des Hafis steht im Zeichen der Was-
tapher und die folgenden Umschreibungen mit ser-Metaphorik: »Und ungezählt entfließt dir
erhellendem Sinngehalt angereichert und als Weil' auf Welle« (V. 8), die des angesproche-
poetologische Bestimmung von orientalischen nen Lieds in jenem der Feuer-Metaphorik:
Dichtungsprinzipien im Sinne einer perma- »Nun töne Lied mit eignern Feuer!« (V. 19),
nenten Variation und Permutation einer be- eine ausdifferenzierte metaphorische Zuord-
schränkten Zahl an Motiven, Themen und Bil- nung der beiden Konträr-Elemente, die im Di-
dern gedeutet werden (Lentz, S. 204-219), als van fast durchgängig ist (vgl. oben zit. Nach-
»berühmt gewordene Beschreibung zyklischer laßgedicht Hafts, dir sich gleich zu stellen und
Dichtung« (Henckmann, S.131), so bereitet Lied und Gebilde [FA I, 3.1, S. 21]). Liest man
das Oxymoron des »ältern« und »neuern« das »Feuer« als das »feu sacre« der dichte-
Lieds zugleich in seiner schroffen Apodiktik rischen Begeisterung, so läßt sich das »Unbe-
der Schlußsentenz mehr Verständnismühe und grenzt« des Titels einerseits als zeitlose Dauer
hat zu den unterschiedlichsten Deutungen ge- eines Kontinuums evolvierender Variations-
führt (Atkins, S. 103f.). Beinahe alle sind da- poesie (des Hafis), andererseits als überzeit-
durch gekennzeichnet, daß sie das »älter«/ licher Augenblick einer auf Einmaligkeit an-
>>neuer« je für sich, sei es zeitlich verschie- gelegten (»mit eignern Feuer«) ekstatischen
denen Lebensepochen der beiden Dichter Inspirationspoesie (von G.) deuten. Damit
oder Stilperioden oder Kulturepochen, zuord- wäre im Gedicht sowohl das Gleiche wie das
nen wollen. Demgegenüber müßte womöglich Verschiedene von Hafis und G. zum Ausdruck
besser vom evidenten rhetorischen Parallelis- gebracht. Daß die zahlreichen poetologischen
mus des Gedichtanfangs und -endes ausge- Anspielungen des Divan als »Theorie der lyri-
gangen werden, indem sowohl >>nicht begin- schen Inspiration« gelesen und im Gedicht Sie
nen«I>>nicht enden« (V. 1 f.) und »Anfang« haben wegen der Trunkenheit (FA I, 3.1,
gleich »Ende« (V. 4) wie auch »älter«I>>neuer« S.107f.) an die platonisch-plotinische Trun-
(V. 20) in die Form von Paradoxen gekleidete kenheitslehre der »furores«, der göttlichen Be-
figurative Umschreibungen für ein temporales geisterung, angeschlossen werden können, hat
Verhältnis der Zeitenthobenheit sind. Zu- Hannelore Schlaffer gezeigt (S. 305ff.).
gleich meint älter/neuer, über bzw. jenseits der
epochalen Kategorien und Positionskämpfe Das Gedicht wurde vertont von Hermann
der »Querelle des Anciens et des Modernes« zu Reutter: Sopran und Bariton mit Klavier, Es-
stehen, ein Bezug, der einmal durch das abge- -Dur, letzter Teil in: ders.: Sechs Gedichte (Se-
wandelte Motto zu den Noten und Abhandlun- lige Sehnsucht, Es ist gut, Der Winter und Ti-
gen im Anschluß an das Kapitel Pietro della mur, Woher ich kam, In tausend Formen, Unbe-
valle gestützt wird: »Wer den Dichter will ver- grenzt) aus J. W. von Goethe West-östlicher Di-
stehen / Muß in Dichters Lande gehen; / Er im wan [sie] für Sopran und Bariton mit Klavier,
Orient sich freue / Daß das Alte sey das Neue« op. 73, Mainz o.J. (1951).
(FA I, 3.1, S.266); des weitem durch eine
Stelle in Boisserees Tagebuch: >>Und doch
bringt er [G.; d. Vf.] von den Alten mehr Bil- Literatur:
dung und Bildlichkeit mit [was den Orientalen Atkins, Stuart: Zwn besseren Verständnis einiger
abgehe; d. Vf.]. Insoweit sei er so eitel und Gedichte des West-östlichen Divan. In: Lohner, Ed-
übertrieben, zu sagen, daß er darüber stehe, gar (Hg.): Interpretationen zwn West-östlichen Di-
van Gocthes. Dannstadt 1973, S.95-146. - Boyd,
und das Alte und Neue verbinde« (3.8. 1815). James: Notes to Goethe's Poems. Bd. 2. London,
Der Titel Unbegrenzt im Sinne der Zeitent- Oxford 1949, S. 172-207. - HAMMER. - Henckmann,
hobenheit bezöge sich demnach sowohl auf Gisela: Gespräch und Geselligkeit in Goethes West-
Hafis wie auf das soeben aus sich selbst ent- östlichem Divan. Berlin, Köln, Mainz 1975. - Lentz,
384 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Wolfgang: Goethes Divan und die Hafisforschung. Erstdruck charakterisiert: »Der du, ohne
In: Lohner, Edgar (Hg.): Studien zum West-östlichen fromm zu seyn, selig bist! / Das wollen sie dir
Divan Goethes. Darmstadt 1971, S.190-220. -
nicht zugestehn«.
Maier, Hans Albrecht: Goethe: West-östlicher Divan.
Kritische Ausgabe der Gedichte mit textgeschicht- Ausgaben also, die nur dem Erstdruck oder
lichem Kommentar von Hans Albrecht Maier. 2 Bde. der Ausgabe letzter Hand folgen, machen die
Tübingen 1965. - Muschg, Adolf: Goethe als Emi- Entwicklung nicht deutlich, die zwischen der
grant. Zum West-östlichen Divan. In: ders.: Goethe Reinschrift und dem Erstdruck liegt, einen im
als Emigrant. Auf der Suche nach dem Grünen bei wesentlichen orthographisch -grammatikali-
einem alten Dichter. Frankfurt/M. 1986, S. 73-104.
sehen Ordnungsprozeß, der vermutlich unter
- Schlaffer, Hannelore: Furor Poeticus. Die vier
Trunkenheiten in Goethes West-östlichem Divan. In: dem Einfluß von G.s Beratern Eckermann und
Poetica. 22 (1990), S.303-332.- Schultz, Wemer: Göttling erfolgte. Da die Frankfurter Ausgabe
Goethes Deutung des Unendlichen im West-östlichen des Divan von Hendrik Birus (FA 1,3.1 u. 3.2,
Divan. In: N.F. JbGG. 10 (1947), S. 268-288. - STAI- 1994) sowohl den Text der Erstausgabe wie
GER, Bd. 3, S. 9 u. S. 23f. - Trunz, Komm. in HA 2,
auch den korrekten Text der Reinschrift und
S. 565. - Wertheim, Ursula: Von Tasso zu Hafis. Pro-
den Plan eines »Neuen Divan«, mit »den -
bleme von Lyrik und Prosa des West-östlichen Di-
vans. Berlin 1965. - Zeydel, Edwin H.: Goethe und überwiegend bis zum Sommer 1820 eingefüg-
Hafis. In: Monatshefte. 49 (1957), S. 305-307. ten - zusätzlichen Gedichten« (S. 752) enthält,
folgt die vorliegende Interpretation dieser
Michael Böhter Edition, in der Regel nach dem Text des Erst-
druckes.
Die textkritische Debatte erschöpft sich aber
nicht in der Synopse von Reinschrift und Erst-
druck, sondern gerät durch die in bei den
grundlegenden Fassungen parallele Inter-
Offenbar Geheimniß punktion zu einer Interpretationsdebatte, die,
wegen der Mehrdeutigkeit der Verse neun und
zehn des Gedichtes, in den Geruch philolo-
gischer »Kommajägerei« geraten ist. »Du aber
Für Textkritiker und Editoren ist G.s Gedicht bist mystisch rein / Weil sie dich nicht ver-
Offenbar Geheimn!fJ aus dem West-östlichen stehn« heißt es in diesen Versen über Hafis,
Divan seit jeher ein Übungsplatz. Der Druck- den durch das lyrische Ich hier angesproche-
fehler in Vers 8 des Erstdruckes (1819) nämlich nen Partner aus dem Schiras des 14. Jhs., wo-
- »In deinen Namen verschenken« statt »In bei die Frage nach einem möglichen Enjambe-
deinem Namen verschenken« - wurde in die ment vom neunten zum zehnten Vers des Ge-
Ausgabe letzter Hand (1827) übernommen und dichtes seit dem Beginn der gelehrten Be-
erst 1836 korrigiert. Die beiden übrigen Ab- schäftigung mit dem Divan umstritten ist.
weichungen zwischen Reinschrift und Erst- Hans Heinrich Schaeder hat zur Lösung des
druck aber, von G. zumindest passiv autori- Rätsels schon 1938 vorgeschlagen, das »rein«
siert, entsprechen den üblichen Glättungen am Ende des neunten Verses im Sinne von
durch zeitgenössische Setzereien und wider- >>nur, bloß, lediglich« zu lesen, wodurch vor
sprechen damit dem, auch grammatikalisch »rein« ein Komma und damit im Übergang vom
und syntaktisch unkonventionellen Altersstil neunten zum zehnten Vers auch ein Enjambe-
G.s. Die Verse elf und zwölf der Reinschrift ment anzunehmen wäre, doch könnte »my-
lauten: »Der, ohne fromm zu seyn, selig bist! / stisch« in dieser Zeile auch als Adverbialbe-
Das wollen sie nicht zugestehn«. Die Kommata stimmung zu »rein« gelesen werden, so daß
in Vers elf sind dabei mit breiterer Feder nach- Hafis hier auf >mystische, also geheimnisvolle
getragen, was doch wohl bedeutet, daß G. den Weise rein< genannt würde (Schaeder, S. 176;
Vers absichtlich ohne das korrektere Personal- Birus, S. 1015). Erich Trunz hat dann 1971
pronomen belassen hat, das den glatteren durch die Erkenntnis, daß das »weil« zu Be-
Offenbar Geheimniß 385

45

Offenbar GeheimniJs.

Sie haben dich heiliger Hafis


Die myslische Zunge genannt,
Uud haben, di~ Wortgelehrten.
Den Werth des WOlts nicht erltannt.

Mysdsc.h h ifsest uu ihnen,


\Veil sie närrisches b y dir tlenkcJl~

Und ihren unlautern Wein


In deinen Namen verschenlien.

Du aber bist my~li~ h rdu


Weil sie dich nicht verslehn,
Der du, ohne fromm zU seyn, selig bist!
Das wollen sie dir nicht zugestehn.

Erstdruck 1819
386 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

ginn des zehnten Verses, ebenso wie das zu denfalls Max Kommerell, »wenn auf Hafis die
Beginn des sechsten, nicht kausal, sondern Rede kommt. Goethe mit ihm allein, und ze-
temporal und gegensätzlich zugleich zu ver- chend - die Welt soll versinken, sie verstehen
stehen ist, eine solche Deutung gestützt, aber sich in allem und blinzeln sich zu über das
die Beziehung der beiden Epitheta zueinander Glas. Und Goethe kann unter diesem Vorwand
umgedreht. Er greift auf G.s, in der Tradition seine Liebe zu sich selbst ungescheuter be-
des abendländischen »unio«-Denkens ste- kennen. Auch über göttliche Dinge verstehen
hende Positiv-Definition des Mystischen zu- sie sich: ,Der du, ohne fromm zu seyn, selig
rück, wonach »mystisch« die »Vereinigung mit bist!'« (S.257). Der berühmte vorletzte Vers
Gott schon in diesem Leben« bedeutet, und aus dem Gedicht Offenbar GeheimnIß wurde
belegt in einer längeren Bedeutungsgeschichte viel umrätselt. Entstanden ist das Gedicht -
des Wortes »rein« bei G., daß es bedeutet: nach der Datierung der Reinschrift - in Jena,
»offen für das Licht« (Trunz, S. 238). Demnach 10.12. 1814, also aus der heiteren Kraft nach
sind die Verse neun und zehn von Offenbar der ersten, im Oktober 1814 beendeten Rhein-
GeheimnIß wie folgt zu umschreiben: Du aber reise, die G. zurück in die Erinnerungen der
Hafis bist »mystisch durch Reinheit, so daß das Kindheit und zugleich in die Weiten der Welt-
Licht Gottes in einen solchen Geist hinein- literatur entführt hat. Das Gedicht ist um ein
leuchtet«, und der temporal-adversative An- Ensemble von Kern- und Leitworten G.s ge-
schluß in Vers 10 lautet dann: während - oder baut (fromm, selig, rein, offenbar), die sich in
wogegen - dich, den Propheten, die anderen, diesem Vers elf verdichten; »fromm« und »se-
das heißt die Schriftgelehrten, deren Auge lig« sind Worte, die von den Theologen aller
nicht in gleicher Weise wie das Auge des Pro- Zeiten und Zonen und Bekenntnisse in einen
pheten sonnenhaft ist, nicht verstehen (vgl. kausalen Zusammenhang gebracht wurden
Trunz, S.238f.). Diesen möglichen Lesarten (und werden), bei G. stehen sie hier offenkun-
hat Birus eine neue Lesart hinzugefügt, indem dig in Gegensatz zueinander. Sie meinen in
er »mystisch rein« als eine »gleichberechtigte Offenbar GeheimnIß zwei Weisen des Mensch-
Zusammenrückung zweier Adjektive zur Be- seins, jene, welche Surrogate der Frömmig-
zeichnung von Hafis' Differenz zur 'närri- keit, also Zeichen des Heilsversprechens, da-
schen' und ,unlautern., Mystik (v.6f.) seiner mit die Geborgenheit von Glaubensinstitutio-
Ausleger« (S. 1015) interpretiert. nen braucht, und jene, die auf sich selbst ge-
stellt, aus eigener Kraft den Gipfel des Glücks
Seit der Bestimmung des temporalen An-
noch zu übersteigen vermag. Trotz G.s schein-
schlusses von Vers zehn an Vers neun ist somit
bar traditioneller Deutung des mystischen Er-
die Frage nach dem Enjambement negativ be-
fahrungsweges in dem Zu Besserem Verständ-
antwortet, alle anderen, nur in Nuancen unter-
nIß (1819) überschriebenen Selbstkommentar
schiedenen Deutungen aber sind grammati-
zum West-östlichen Divan ist der von ihm
kalisch möglich und in ihrer Deutungsvielfalt
selbst eingeschlagene Weg, in dem aus Seelen-
von G. vielleicht sogar gewollt. Durch den Fä-
verwandtschaft erwachsenen Verständnis des
cher der Auslegungsmöglichkeiten einer her-
Hafis, eine entschiedene Überschreitung die-
vorgehobenen Wortverbindung wie »mystisch
ses Stufenweges, die es ihm ermöglicht, dem
rein« hat G. bildhaft und sinnenfällig demon-
von ihm genannten drückenden und ängstli-
striert, daß das Geheimnis mystischer Erfah-
chen Zustand vor der Gotteseinigung des
rung des Göttlichen gerade darin besteht, sich
Menschen zu entkommen (FA I, 3.1, S. 228).
letztlich jeder eindeutigen - und gar philo-
Die Seligkeitsbotschaft von Offenbar Geheim-
logischen - Bestimmung zu entziehen, daß
nIß meint nicht die durch Askese und Leib-
dieses Göttliche »mystisch rein« nur erfahren,
verachtung erzeugte, innerweltliche Vorweg-
niemals begriffen werden kann.
nahme der für das Jenseits erwarteten »visio
»Stemtrunken rollen, weinselig lallen die beatifica«, nach scholastisch-mystischer oder
Verse« im West-östlichen Divan, so meinte je- pietistischer Tradition, sondern das Innewer-
Offenbar Geheimniß 387

den der die Welt durchwaltenden göttlichen winderzeugend, glühn von eignen Winden, /
Kraft in den Schönheiten der Erde. Der Genuß Er, schon erloschen, schwand zu Sternenhal-
des Weines gehört zu diesen Schönheiten; len; / So schlangs von dir sich fort mit ew'gen
nicht zufällig fürchtet ihn Suleika, die Geliebte Gluten / Ein deutsches Herz von frischem zu
des Hatem im Divan, neben dem schönen Kna- ermuthen« (FA I, 3.1, S. 32). Damit wird deut-
ben, dem Schenken, als einen zweiten Kon- lich, daß Offenbar Geheimn!fJ ein Schlüsselge-
kurrenten. »Die schönsten und liebsten Lüste, dicht sowohl für den West-östlichen Divan wie
das Verliebtsein, das Gedenken, das Umar- für das Alterswerk G.s überhaupt ist. Deutlich
men, das ist auch, gerade das ist froh in Gott wird auch, daß der historische und lebens-
[also selig; d. Verf.], wie alles, worin sich der geschichtliehe Moment von G.s Orient-Begeg-
Mensch verschwendet. Nie ist so leichthin von nung nicht beliebig wiederholbar ist. Die Ver-
hohen Dingen geredet worden in deutscher suche Gerhart Hauptmanns und Georg Brit-
Sprache und nie waren sie wahrer als hier« tings, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs
(KoMMERELL, S. 253 u. 257). die souveräne Zeitenthobenheit G.s in wein-
seligen Divan-Gedichten zu imitieren, sind
Die Weltseligkeit, die G. hier vertritt, des Ha- deshalb nur peinlich. Von den Zeitgenossen
fis geheimnisvolle Reinheit gegenüber dem G.s hat lediglich Heinrich Heine den Franzo-
spiritualistischen, das heißt närrisch-zeloti- sen in der Romantischen Schule zu erklären
schen Verständnis seiner Interpreten, ist dem- vermocht, was der Autor des Divan geleistet
nach dem Streit enthoben, der schon von G.s hat: »den berauschendsten Lebensgenuß hat
Zeitgenossen in scharfer Polemik um den Di- hier Goethe in Verse gebracht, und diese sind
van geführt wurde. Achim von Arnim, sonst G. so leicht, so glücklich, so hingehaucht, so äthe-
durchaus wohlgesinnt, hatte nur wenige läppi- risch, daß man sich wundert wie dergleichen
sche Spottverse dafür übrig. August Wilhelm in deutscher Sprache möglich ware< (Heine,
Schlegel nannte G., dieses Buches wegen, »mit S. 161). Doch selbst Heine war in der Gefahr,
gläsernem Ärger: >einen zum Islam bekehrten den Divan zu sensualistisch zu verstehen,
Heiden<<< (Heine, S. 162). G. selbst aber be- während G. doch ein offenbares Lebensge-
zeichnete die im Gegensatz zu seiner Welt- heimnis verkündete, daß nämlich Geist und
haltung stehende novalisierende Lyrik der Sinnlichkeit des Menschen keine Gegensätze
späten Romantiker in Deutschland als »Laza- sind, daß eines nur im anderen anwesend ist;
rett-Poesie«, da sie unfähig sei, den Menschen um den »Geist der Leidenschaft« (KoM-
Mut zu machen, um »die Kämpfe des Lebens MERELL, S.279) ging es ihm, nicht um diese
zu bestehen« (Gespräche, Bd. 3, S.450). selbst. So spricht er von der Seligkeit des
Darum erschien ihm Hafis wie eine Offenba- Weines, wie allenfalls »die Götter von dem
rung. In dem wenige Tage vor Offenbar Ge- Rausch der Menschen als einer besonderen,
heimn!fJ, am 7.12. 1814 in Jena entstandenen nur auf der Erde zu habenden Gabe in ihrer
Divan-Gedicht Nachbildung vergleicht G. die Sprache sprechen« (ebd., S. 280). Als modern
Wirkung von Hafis' Versen auf den westlichen hat schon Nietzsehe diese Arbeitsweise G.s,
Dichter gar - Aktualität und mystische Feuer- als »Impressionismus« hat sie Max Komrnerell
bildlichkeit in eins mischend - mit dem Brand gekennzeichnet (ebd., S. 277). In O.ffenbarGe-
von Moskau (1812). Als radikale, darum mit heimnfIJ ist sie beschrieben und geübt.
mystischer Wucht erfahrene Vernichtung alles
Vergangenen und als grundlegende, ebenfalls Im Wiesbadener Divan-Register figuriert das
dem mystischen Erfahrungsschema zuzuord- Gedicht Offenbar GeheimnfIJ noch unter der
nende Wiedergeburt seiner Existenz hat er die Überschrift »Mystische Zunge«, weil Joseph
Ermutigung empfunden, die von dieser Be- von Hammer-Purgstall, G.s Gewährsmann für
gegnung mit Hafis ausgegangen ist: »Denn wie den Diwan des Hafis, in der Vorrede zu seiner
ein Funke fähig zu entzünden / Die Kaiser- Hafis-Übersetzung dessen Zeitgenossen zi-
stadt, wenn Flammen grimmig wallen, / Sich tiert: »Man heißt ihn gewöhnlich die mys t i -
388 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

sc h e Zu n g e, und den Dollmetsch der Ge- So ist auch jene unmutige Antwort zu ver-
heimniße, und in der That! jeder Vers seiner stehen, die G. gegeben hat, als er inmitten der
Gedichte ist ein ganzes Kapitel der Dicht- patriotischen Begeisterung der Freiheits-
kunst, oder eine Gestalt aus den Wunderge- kriege seine Napoleonverehrung nicht ohne
stalten der Redekunst« (HAMMER, S. XIII; Bi- weiteres preisgeben wollte und gefragt wurde,
rus, S. 1012). Daß diese Mystifizierung aber auf welcher Seite er denn stehe: »Ich stehe
eine moralistische Ablenkung vom Sinn der immer auf meiner Seite«.
Poesie war, erfuhr G. - und davon spricht er G. ist in Hafis, dem persischen Dichter des
auch in Offenbar Geheimn!ß - nicht nur am 14. Jhs., sich selbst begegnet; er hat Hafis
Beispiel des eigenen Werkes, sondern insbe- nicht historisch-philologisch verstanden, son-
sondere an der Auslegung des Hohenliedes dern so, wie er ihn verstehen wollte, und hat
Salomonis, das erst im Laufe des 19. Jhs. unter doch jenen Kulturdialog zwischen Orient und
heftigen theologischen Auslegungskämpfen Okzident in Deutschland eröffnet, der bis
von den Übermalungen allegorisch und >my- heute so schwerfällt, weil er durch Mythos,
stisch, verfahrender Interpreten befrei t Schrift, Sprache und Poesie die Innensicht
wurde. Der vierfache Schriftsinn galt über fremder Kulturen erschließt, deren Geheim-
Jahrhunderte hin als die dogmatisierte Weise nisse er durch Anverwandlung auszulegen ver-
des Umgangs mit den heiligen Schriften (des steht. Diese Geheimnisse sind so offenbar, daß
Christentums), und der »sensus mysticus«, der nur jene, welche >>Unlautern Wein [ ... ] ver-
den Glauben anleitete, war bis tief in das 18. schenken« (V. 7f.), das heißt jene, die mit alle-
Jh. hinein der Leitsinn aller möglichen gorisch-mystischen Deutungssystemen das in
Schriftauslegungen. G. spricht also nicht ohne der Poesie pulsierende Leben zugedeckt ha-
Bedeutung vom »heiligen Hafis« (V. 1). Des ben, die Klarheit des Lebensgrundes triiben.
Hafis Schriften, die - von den »Wortgelehr- G. hat auf diesem Wege rund zwei Jahrzehnte
ten«, welche den »Werth des Worts nicht er- vor Joseph Görres die islamische Mystik des
kannt« (V. 4) haben - ausgelegt wurden wie 14. Jhs. als den sinnenfrohen Gegenpol zu der,
inspirierte Schriften, zählt er nun zu seinen naturphilosophisch gestützten, Anthroplogie
»heil'gen Büchern« (FA I, 3.1, S.28), doch ist christlicher Heiligkeit entdeckt, mit der Gör-
diese Inspiration frei von der dualistischen Fo- res (seit 1836) die erstarrte Theologie in Ver-
lie mittelalterlicher Textexegese und der Sinn- bindung mit den religiösen Strömungen seiner
lichkeitsschelte puritanischer Interpretations- Zeit bringen wollte. Vielleicht hat G. dabei
muster. Den säkularisierten Heiligen seiner tatsächlich nicht nur die Innenseite einer
Tage, der preußischen Nationalheiligen Luise, fremden Kultur, sondern, auf der Suche »nach
die zur Märtyrerin napoleonischer Grausam- Urschriften der orientalischen Welt« (Köp-
keit stilisiert wurde, dem in die Volksliteratur nick, S. 377), auch die »Innenseite« der Spra-
absinkenden Napoleonskult, der Todes- und che entdeckt, so daß er auch in diesem Sinne
Heldenverehrung der Freiheitskriege, stellt G. durch die Gedichte des West-östlichen Divan
einen Heiligen des Lebensgenusses entgegen, zum »ersten modemen Dichter« (Zagari,
der in eben dieser Lebensseligkeit allen Mäch- S. 152) deutscher Sprache geworden ist.
ten des Krieges und des Todes, weil er sie aus
der Nähe kennt, widersagt. An solchen Ge-
dichten also wird deutlich, daß der alte G. Literatur:
nicht jener Wirklichkeitsflucht verfallen war, Birus, Komm. in FA 1,3.1, S. 752-756 u. Komm. in
die den Divan-Gedichten oft nachgesagt wird, FA I, 3.2, S. 1012-1017. - Frühwald, Wolfgang: Der
daß der Divan vielmehr »die Signatur jener >romantische< Goethe. Esoterik und Mystik in dem
sozialen Mächte nicht ganz verbergen« kann, Roman Die Wahlverwandtschaften und im West-öst-
lichen Divan. In: Eroms, Hans Werner u.a. (Hg.):
»denen eine Dichtung, ohne ihnen je ganz zu Vielfalt der Perspektiven. Wissenschaft und Kunst in
entkommen, den Rücken kehrt, um sich ganz der Auseinandersetzung mit G.s Werk. Passau 1984,
auf sich selbst zu besinnen« (Köpnick, S. 387). S. 165-177. - HAMMER, S. XIII. - Heine, Heinrich:
An Hafis 389

Die romantische Schule. In: ders.: Historisch-kriti- der Einnahme der Stadt Paris durch die Alli-
sche Gesamtausgabe der Werke. Bd. 8.1. Hamburg ierten und hörte in Weimar »Freudenschießen
1979. Hg. von Manfred Wind fuhr, S.121-249. -
KOMMERELL, S. 249-309. - Köpnick, Lutz: Goethes
den ganzen Tag«. Am 17. Mai erreichte ihn der
Ikonisierung der Poesie. Zur Schriftmagie des ffest- mündlich übennittelte Auftrag August Wil-
östlichen Divan. In: DVjs. 66 (1992), S. 361-389. - helm Ifflands zur Abfassung eines Festspiels
Mommsen, Katharina: Goethe und die arabische ftir die Berliner Hofbühne zur Feier der Rück-
Welt. Frankfurt/M. 1988. - Schaeder, Hans Hein- kehr der drei verbündeten Monarchen, den er
rich: Goethes Erlebnis des Ostens. Leipzig 1938. - spontan ablehnte und zwei Tage später dann
Schlaffer, Hannelore: Furor Poeticus. Die vier Trun-
kenheiten in Goethes ffest-östlichemDivan. In: Poe-
doch akzeptierte. Er gab ihm Gelegenheit, in
tica. 22 (1990), S. 303-322. - Trunz, Erich: Goethes theatralischem Gewande zu der neuen Lage,
Gedicht an Hafis Offenbar Geheimnis. Versuch einer der er lebhaft widerstrebt hatte, bekennend
Auslegung. In: ders. (Hg.): Studien zu Goethes AI- aufzuschließen. Schon am 24. Mai ging ein
terswerken. Frankfurt/M. 1971, S.229-250. - Za- ausftihrliches Expose an die Berliner Direk-
gari, Luciano: Archetypisches und Parodistisches in tion, danach begann die unter starkem und,
Goethes Begegnung mit dem Orient. In: Shichiji,
wie sich dann zeigte, müßigem Zeitdruck ste-
Yoshinori (Hg.): Internationaler Germanisten-Kon-
greß in Tokyo. Sektionen 12 und 13. München 1991, hende Ausftihrung.
S.145-152. Mitten in diese Arbeit, mit der G. dem fait
accompli des siegreichen Freiheitskriegs eine
Wolfgang Frühwald
opernhaft-ausladende Huldigung darbrachte,
fiel die erste Tagebuch-Erwähnung eines sich
auf einmal eröffnenden neuen Horizontes:
»Hafis Divan« ist unter »7. Juni Berka« notiert.
Die Lektüre der Hafis-Übersetzung Joseph
von Hammer-Purgstalls - das Buch war 1813
An Hafis bei Cotta erschienen und ihm von dem Ver-
leger übersandt worden - versetzte den unter
dem Joch der fatalen Auftragsarbeit gehenden
Der Erstdruck des Gedichts erfolgte in jenem Dichter in eine entlegene Welt, in der er keine
Kapitel der im Erstdruck von 1819 enthaltenen Rücksicht, außer auf sich selbst, nehmen
Noten und Abhandlungen zu besserem T;er- mußte. Den sympathetisch-persönlichen Be-
ständnfIJ des West-östlichen Divans, welches zug stellt eine Stelle aus Hammers Einleitung
Künftiger Divan überschrieben ist und Mög- her, von der Eike Middell bemerkt, daß sie G.
lichkeiten künftiger Erweiterung und Vervoll- »vor allem den direkten persönlichen Ver-
ständigung umreißt (Text in FA I, 3. 1, gleich [ ... ] mit dem 'persischen Zwilling<<<
S.216ff.). Zum zweiten Mal wurde es in der ennöglichte: »Hafis ist der in Fürstengunst le-
Ausgabe letzter Hand abgedruckt, innerhalb bende, von verständnisloser Orthodoxie ange-
der Noten und Abhandlungen (Bd. 6) und im griffene, aus dem Volksbewußtsein nicht zu
eigentlichen Divan (Bd. 5). Beide Texte unter- entfernende, volkstümliche, leidenschaftlich
scheiden sich nur in minimalen orthographi- und treu liebende Dichter des Genusses und
schen Nuancen. Die Frankfurter Ausgabe gibt des Eros und freireligiöser Verehrung eines
statt des Drucks der Ausgabe letzter Hand die Höheren. Er ist der sich fast provokatorisch
zwischen den beiden Drucken stehende Hand- über die ideologischen Nonnen des Sufismus
schriftenfassung des sogenannten Neuen Di- hinwegsetzende sinnenfrohe, diesseitszuge-
van wieder, die auf zahlreiche Kommata bzw. wandte Poet« (S. 508).
Doppelpunkte des Erstdrucks verzichtet (FA I, Mit Epimenides, der Barocktheatertravestie
3.1, S. 325ff.). mit Fühlung zu Faust II, beschließt G. die Na-
poleonische Epoche; mit jener Hafis-Be-
Am 9.4. 1814, zwei Tage vor Napoleons defini- schwörung, die am 21.6. 1814 in Berka mit
tiver Abdankung, erhielt G. die Nachricht von dem Gedicht Erschaffen und Beleben einsetzt
390 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

und sich bald zu einem eigenen, einem »deut- sich entsprechend abweisend zeigt - auf der
schen Divan« auswächst, beginnt er die nach- linken Seite, wo es demokratisch-patriotisch
napoleonische Ära, die politisch als Restaura- zugeht, wie auf der rechten, wo eine neue Ka-
tionsepoche, stilgeschichtlich als Biedermeier tholizität romantisch mit der Aufrichtung ei-
in die die deutsche Geschichte eingegangen nes neuen Mittelalters spielt. In Prosa erweist
ist. Die Konstellation ist eigenartig genug: Im G. der letzteren Richtung seine Reverenz - sie
Augenblick des Untergangs des westlichen geht bis zu dem eigenhändigen Entwurf eines
Kaisers und des vollendeten Siegs jener drei katholischen Wallfahrtskirchenbildes. Seine
östlichen Herrscher, die sich alsbald zur Hei- Lyrik dichtet er gegen sie ab. In ihr spricht er
ligen Allianz, einem Bündnis gegen die Folgen mit einer herrscherlich-intimen Gelassenheit
der Französischen Revolution, vereinen, er- den Geist der neuen Epoche aus, nicht die
findet der Dichter, sich aus dem imaginären Erwartungen und Enttäuschungen einer ro-
Barock der Siegeshuldigung unter muslimi- mantisch hin und her gerissenen Jugend, son-
sche Beduinenzelte versetzend, eine poetische dern das Balancebedürfnis eines nach einer
Welt, die die der neuen Lage gemäße Lebens- Kriegszeit von zwei Jahrzehnten nach dem Ge-
haltung unter exotischem Schleier ausprägt; es nuß des Friedens verlangenden Bürgertums.
ist die Haltung des Biedermeier. Der spät, aber
nicht zu spät erwachte Epimenides tritt aus Das erste Gedicht, mit dem G. sich von der
seinem Gehäuse, faßt die verwandelte Welt ins Pflichtübung fUr den Berliner Hof erholt, die-
Auge und gibt ihr eine Lebensregel an die ser mühsamen Verklärung der eigenen politi-
Hand, die die Parole des Zeitgeists ist; sie schen Niederlage, entsteht am 21.6. 1814,
besteht in der entschiedenen Abkehr von al- sechs Tage nach der Absendung des Festspiels,
lem Politisch-Diskursiven und der heiteren - ein deutsches Trinklied, Erschaffen und Be-
Ergebenheit in das Walten der irdischen und leben überschrieben, das mit Hans Adam, dem
der himmlischen Mächte, den Spielraum nut- »Erdenklos«, anhebt und zuletzt bei Hafis an-
zend und füllend, den die neue Periode zur kommt: »So, Hafis, mag dein holder Sang, /
Ausgestaltung einer sich in festgezurrte politi- Dein heiliges Exempel/Uns führen, bey der
sche Formen fügenden individuellen Lebens- Gläser Klang, / Zu unsres Schöpfers Tempel«
kultur bietet. (FA I, 3.1, S. 18). Die Strophen gehen später in
G., der noch im November 1813 Heinrich das Buch des Sängers ein, die Eingangspforte,
Luden gegenüber angemerkt hatte, daß der die der westliche Dichter über seine Ostfahrt
Sieg über Napoleon nur die westliche mit der spannt; drei weitere im Juni 1814 entstehende
östlichen Vorherrschaft vertausche, faßt die Gedichte, Beiname, Felwa und Der Deutsche
neue Lage nun von ihrer positiven Seite, die er dankt, legen den Grundstein zu dem späteren
im Supranationalen sucht. In dem ferneren Buch Hafts. Mit ihnen sind Ton und Haltung
Orient findet er die neue Ost-Konstellation in des Ganzen gefunden, ein lyrisches Parlando,
einer universalistischen Idealität vor, die ihm wie es in deutscher Sprache noch nicht dage-
zum Gegenstand spielerischer Aneignung und wesen war. Sich an dem Fremden, Entlegenen
souveräner Variation wird. Die patriarchali- sympathetisch abarbeitend, ist es in seiner
sche Entrücktheit dieser symbolischen Ost- Verbindung von Weltsinn und Weisheit in ei-
Zone gerät zur Absage an jenen nationalen nem tieferen Sinne deutsch als die lyrischen
Partikularismus, der als Rückschlag der abge- Laute vieler romantischer Patrioten.
wehrten französischen Expansion in Europa Jener Freisinn der dichterischen Haltung,
im Vordringen ist; zugleich opponiert sie dem der dem Autor an seinem 66. Geburtstag »ob
Beschleunigungsgeist der modernen Indu- Orientalismum occidentalem« (»wegen west-
strie, der überall zur Herrschaft drängt. Die licher Östlichkeit«) die Mitgliedschaft in dem
Hinwendung zu dem moslemischen Para- Frankfurter »Orden der närrischen Hofräte«
digma bedeutet einen subtilen Schachzug ge- einträgt, gewinnt hier zu Anfang der Arbeit in
gen die junge, romantische Generation, die der Anrufung eines sonderbaren Heiligen, des
An Hafis 591

Ebusuud, einen Gewährsmann eigener Art. ter Hand noch einmal herauf. Der Rückblick
Was sich in seinem Namen vorträgt, ist ein auf einen längst durchmessenen Kreis der For-
Sich-Fügen in alle machtbestimmte Setzung men und Empfindungen steigert sich zur An-
mit dem Vorbehalt des Sich-Entziehens; es ist rede an den persischen Gewährsmann, der,
die Haltung der Nichtidentifikation. Sie ist trotz anerkannter Koranfestigkeit, die Nach-
Dogmatikern und Moralisten aller Art ein stellungen der Orthodoxie auf sich gezogen
Greuel, doch ist sie nichts weniger als eine hatte. Es fehlte nicht viel, daß dem toten Dich-
nihilistische Haltung. Statt aller Ideologeme ter das ehrenvolle BegräbniS verwehrt worden
wird Lebensfreundlichkeit, Lebensförderlich- wäre. Spätere Zeiten hatten sich gegen die
keit ihr zum Maß der Erscheinungen. Ein spä- Daseinslust seiner Verse durch die Umdeutung
ter Vers faßt es zusammen: »Was fruchtbar ist, des Erotischen in den mystischen Gottesdienst
allein ist wahr« (JVA 1,5, S. 85). des islamischen Sufismus beholfen, eine Zu-
Ist Erschaffen und Beleben das erste der sich ordnung, die insofern nur begrenzten Schutz
der Hafis-Welt zuwendenden Gedichte, so An bot, als der Sufismus, der auf der höchsten
Hafts eines der letzten, ein Dichtwort, wie auf Stufe mystischer Erkenntnis über alle Askese
die sich schließenden Torflügel dieser östli- erhaben ist, selbst in den Verdacht der Frei-
chen Welt gemalt. G. schreibt die Verse in geisterei und des Pantheismus geriet.
Karlsbad am 11.9. 1818 für den Anhang der Aber die Erinnerung, zeigt der genauere
Noten und Abhandlungen zu dem bereits im Blick, gilt nur mittelbar Hafis, dem Bruder in
Satz befindlichen Werk. Sie gehören zu jenen Dichtgeist und Weltempfinden. Die Erinne-
drei Gedichten des Kommentarteils, die der rung gilt in Wahrheit der Liebe, sie gilt der
Autor in der späteren Divan-Ausgabe inner- Geliebten. Durch ein >>Uns«, das »alle«, die
halb der Ausgabe letzter Hand (Bd. 5, 1827) in ganze Menschheit, meint, wendet sich die An-
den Hauptteil versetzt, ohne sie den Noten des rede an den verehrten Altmeister in der ersten
sechsten Bandes zu entziehen. Es ist ein epi- Strophe mit dringlich-großem Ton in die Be-
logisches Gedicht, Abschied nehmend von ei- schwörung der »Sehnsucht« (V. 5), des eroti-
ner Gestalt, in deren Namen der Westländer schen Verlangens. Daß von ihren »strengen
die poetische Orient-Fahrt unternahm, und Banden« die Rede ist (V. 4), verschärft den Ge-
jene Züge noch einmal heraufführend, die ihm gensatz zur zweiten Strophe, deren »hernach«
in krisenhafter Seelenlage, auf dem Höhe- der Liebeserflillung gilt, mit dem doppelsinni-
punkt des Epochenumbruchs, die entlegene gen Nachgefühl des Bitter-Süßen »so weh, so
Dicht-Welt rettend gemacht hatten. wohl hernach« (V. 5) und ihrer zwiespältigen
Ernst Beutler bemerkt, wie jene Wieder- Implikation: Katastrophe oder Wiederholung.
holung des Immergleichen, die das Wesen ori- Der Dichter spricht von sich selbst, nicht
entalischer Poesie ausmacht, hier verifiziert von Hafis und wird entschuldigend dessen ge-
werde, indem die einzelnen Teile des Gedichts wahr; es ist der einzige Vers, in der er der Ich-
thematisch austauschbar seien und es nicht Form Raum gibt. Dem östlichen alter ego, des-
darauf ankäme, die Freude am Wein etwa am sen Namen er anrief, um eigener Erinnerung
Anfang und Weisheit und Liebe am Ende zu nachzuhängen, erklärt er seine Liebesverfal-
besingen (S. 415). So kann der erste und viel- lenheit in den Topoi des Orients. Da wird die
leicht auch der zweite Eindruck des sich in Geliebte zur »wandelnden eypresse« (V. 12)
deutschen Liedstrophen - sie sind jambisch- und ihr Odem, der sich reimend-sorglos zu
vierzeilig und paarweise gereimt - bewegen- »Oden« verschleift, zum »Ost-Gekos« (V. 16).
den Langgedichts sein; die Schlußstrophe Jene braun gekräuselten Locken, die im Buch
selbst legt es in ihren ersten beiden Versen der Liebe in Versunken handgreifliche Verstrik-
nahe. kung bewirken - es ist die Haarpracht Ma-
Tatsächlich wird hier nichts Neues gesagt. rianne von Willemers -, fügen sich dieser
Das Gedicht führt das Bekannte und Aufge- Bildwelt ringelnd und säuselnd ein. Mit einem
wiesene von überschauender Höhe mit leich- Kunstgriff lenkt der Dichter, der dem andern,
392 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Hafis, seine Geliebte beschreibt, in der sech- Sinnlichkeit bar und demgemäß eine flüch-
sten Strophe in das Anrede-Du zurück, indem tige, nur eine halbe Strophe lang verweilende
er es als ein verallgemeinertes Ich setzt, als ein Erscheinung. Es ist der Denker, dem insofern
personales >man<, in dem Hafis wie zum Mit- nicht viel zu tun bleibt, als dem Dichter in
eigner der Geliebten wird. »Herz und Welt« zuvor »kein Geheimniss« ge-
Zwei weitere Strophen ergehen sich in ei- blieben war cv. 45f.). Wo sinnend-beschwing-
nem Lobpreis, der abermals die Metaphern tem Dichtgeist auch das Geheimste offenbar
des Orients beruft: Es ist nicht leicht, ein deut- wurde, bleibt dem Denker nur die Entfaltung
sches Liebesgedicht zu denken, in dem wie eines Sinnes, der den poetischen Offenbarun-
hier cv. 31) der Kuß als Geruchserlebnis be- gen schon einbegriffen war. Daß der Denker
schrieben wäre. Die Nähe muß groß sein, ersucht wird, sich ihnen deutend zu nahen, ist
wenn der Duft der Haut die Empfindung »un- ein freundlicher Wink der Philosophie gegen-
sichtbar wolkig« steigert cv.32). Aber die Lie- über, der sich unschwer auf den Denker bezie-
besvereinigung hat ja schon stattgefunden. hen läßt, der G. zu Divan-Zeiten näher als
Was der Erinnerung an sie folgte, war die Er- andere getreten war: Hegel, der sich dem
klärung, die Beschreibung der Geliebten. Vor Dichter im Streit um die Farbenlehre an die
einem Entbrennen, das nur wiederholen Seite gestellt hatte. Sulpiz Boisseree, der Hei-
könnte, was eingangs gesagt war, rettet der delberger Gewährsmann, Vermittler nach vie-
Schenke, der, hin und wider laufend, die hin- len Seiten, hatte die Verbindung hergestellt
gehaltene Trinkschale füllt. Im Zeichen des und als Bote zwischen beiden, dem dichtenden
Weins tritt der pädagogische Eros an die Stelle Naturforscher und dem Deuter des Weltgeists,
des zwiegeschlechtlichen. Den Knaben leh- fungiert, einen Austausch befördernd, der sich
rend, verwindet der Dichter, bei dem längst 1817 in denkwürdigen Briefen und sinnigen
nicht mehr zu unterscheiden ist, ob es der Geschenken bekundet hatte. Die Verwandt-
dichtende oder der angedichtete ist - das lyri- schaft der politischen Haltung hat ihn zwei-
sche Ich erscheint in der Maske der zweiten fellos befördert. Hegel, der 1818 von Heidel-
Person -, die Abkehr von der Duftberauschung berg nach Berlin ging, brachte den gleichen
der begehrten Frau. Sinn für die Erhaltenswürdigkeit gegebener
Der Knabe - es deutet auf die Beständigkeit Ordnungen auf wie der Dichter des Divan, was
der Unterweisung - reift darüber zum Jüng- beiden von einem Protagonisten der jungen
ling, auf eine so sinnlich faßbare Weise: »Es Generation eine empörte Zusammenstellung
schwillt die Brust, es bräunt der Pflaum« eintrug. »Goethe«, schrieb der 44jährige Lud-
cv.43), daß die homoerotische Komponente wig Börne 1830 - und ließ es 1834 drucken-,
der pädagogisch-alkoholischen Rettung nur »ist der gereimte Knecht, Hegel der unge-
um so deutlicher wird. Die Unbekümmertheit reimte.«
der Beziehung malt sich in der Achtlosigkeit Die Bedeutung monarchischer Hut für den
des Reimworts: der »Orden« cv.
42), dem sich den Widrigkeiten der Welt sonst schutzlos
der Heranwachsende im Innern öffnet, ist eine preisgegebenen Dichter bekennt die folgende
- auf das Lateinische zurückgreifende - Ver- Strophe mit einer Unbefangenheit ein, die alle
kürzung von Ordnung. Sie wird mit »Heil« Huldigung gegenüber den herrschenden
cv.42) verbunden und bildet in solcher Ver- Mächten - zu dem Schach als Kaiser tritt mit
knüpfung ein Gegengewicht zu »der Welten dem Vezier der Kanzler - ins Persönlich-Not-
Raum« cv.
41), der sich dem Zögling nach der wendige setzt: Wer, wenn nicht der Fürst,
andern Seite eröffnet. Gegen das kosmische kann die Bedingungen gewähren, die der
Empfinden wird nach innen Bindung und Ver- Dichter braucht, um sein Leben zu fristen und
bindung, das Ordentliche mithin, aufgerufen. gegen die Anfechtungen der Engstirnigkeit ge-
Da der Schenke zum bräunlichen Jüngling wappnet zu sein? Börnes mißwoliendes Wort
herangereift ist, gilt es auch ihm zu entsagen. kommt aus einem Geist, der sich von Zeit zu
Jener Dritte, der nun auf den Plan tritt, ist der Zeit erneuert, dem des moralisierenden Intel-
Uebennacht, Ihr könnt es spüren 393

lektuelIen, welcher von einem politischen


Standpunkt aus jene Kritik vorbringt, die
Uebennacht, Ihr könnt es
einstmals die Sache der Theologen war. Es ist spuren
der ewige Ideologenverdacht gegenüber dem
souveränen Leichtsinn der Kunst, die dem Zü-
gel der Ideen und Konzepte widerstrebt. Es ist
jener Verdacht, der auch Hafis bedroht hatte. Am 25.7. 1814 bricht G. von Weimar nach
Der Dichter, der alles dies - das Buch des Frankfurt und Wiesbaden auf. Es ist die erste
Unmuths verrät es - nur zu gut kennengelernt der beiden Rheinreisen, deren zweite, im Mai
hat, gibt den schützenden Gewalten gute 1815, dann ganz im Zeichen der 'Suleika-Epi-
Worte und hat damit einen Kreis durchmes- sode< stehen wird. Es ist zudem die erste Reise
sen, der Lebens- wie Dichtkreis ist, Liebe und nach Frankfurt und an den Rhein seit siebzehn
Wein, Weisheit und Fürstenlob umfassend. Er Jahren und überhaupt G.s erste längere Reise
wird immer neu; die eins nach dem andern, in nach dem Ende der Napoleonischen Kriege
wohlbedachter Folge, heraufgeführten Motive und dem Pariser Frieden. Die Wochen zuvor
erscheinen als ein Themenrepertoire von nie hatte sich G. mit dem persischen Dichter Hafis
veraltender Dauer. Was Unbegrenzt, das Ge- und der orientalischen Dichtung befaßt, wor-
dicht aus der ersten Phase der Divan-Arbeit, über er in den Tag- und Jahreshiften 1815
als Vorsatz und gleichsam summarisch faßte, berichtet: »Schon im vorigen Jahre waren mir
die reigenhafte Wiederkehr der Grundtöne, ist die sämmtlichen Gedichte Ha fi s in der von
hier rückblickend ins einzelne, Innig-Erlebte Harn m er' s c h e n Übersetzung zuge kom -
geführt - ein Umstand, den das scheinbare men, und wenn ich früher den [ ... ] einzelnen
Hafis-Du sinnreich überspielt. Indem Hafis, Stücken dieses herrlichen Poeten nichts abge-
um den es nun, am Ende des Gedichtes, wie- winnen konnte, so wirkten sie doch jetzt zu-
der kenntlich geht, im Innern des Motiv-Krei- sammen desto lebhafter auf mich ein, und ich
ses steht, bietet er dem Nachfahren Geleit- mußte mich dagegen productiv verhalten, weil
schutz, durch ein Leben, das, sowenig wie in ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht
der zweiten Strophe die Liebe, auf einen Nen- hätte bestehen können«. Bereits am ersten
ner, ein Gefühl zu bringen ist. »Rauh« und Reisetag entstanden einige Gedichte, die ganz
»mild« zugleich verknüpft es das Unvereinbare im Zeichen der Begegnung mit Hafis und des
und ist eben darum des Geleits bedürftig. Befreiungsgefühls des Reiseaufbruchs stehen;
Burdach spricht von einem »poetischen Reise-
tagebuch« (Burdach, S. 24). Arrt zweiten, dem
Literatur: 26. Juli, schreibt G. Uebermacht, Ihr könnt es
Beutler, Komm. in Goethe: West-iistlicher Divan. Un- spüren zusammen mit acht weiteren Gedich-
ter Mitwirkung von Hans Heinrich Schaeder hg. und ten. An Christiane schreibt G. noch unterwegs
erläutert von Ernst Beutler. Leipzig 1943. - Birus, am 28.7. 1814: »D e n:2 5 te n schrieb ich viele
Komm. in FA I, 3.1, S. 1521-1525. - Middell, Komm. Gedichte an Ha fi s, die meisten gut [ ... ] Den
in West-iistlicher Divan. Gesamtausgabe. Auf der :2 6 t e n fünf Uhr von Eisenach. [ ... ] Den Tag
Grundlage der Ausgabe von Hans-J. Weitz neu hg. über hatte ich weniger Gedichte geschrieben
von Eike Middell. Leipzig 1965.
und sehr wenige gut«. Sehr viel später be-
Friedrich Dieckmann richtet Johann Peter Eckermann über eine Äu-
ßerung G.s: »Geniale Naturen [ ... ] erleben
eine wie der hol t e Pub e r t ä t, während
andere Leute nur einmal jung sind [ ... ] Als
mich [ ... ], in der glücklichen Zeit nach dem
Befreiungskriege, die Gedichte des Divan in
ihrer Gewalt hatten, war ich produktiv genug,
um oft in einem Tage zwei bis drei zu machen;
394 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

und auf freiem Felde, im Wagen oder im Gast- Von den Narren, von den Weisen« cv. 9f.), und
hof, es war mir Alles gleich« (Eckermann, das gleichentags gedichtete Derb und Tüchtig
11.3. 1828). Am ersten Ziel seiner Reise, in beginnt: »Dichten ist ein Uebermuth, / Nie-
Wiesbaden am 31. Juli, hielt G. im Tagebuch mand schelte mich! / Habt getrost ein warmes
die Notiz fest: »Divan. geordnet«. Blut / Froh und frey wie ich« (FA I, 3.1, S. 22).
Uebermacht ist auf einem Reinschriftblatt Dieses lyrische Form- und Stimmungsmilieu,
mit Datum »D. 26. Jul. 1814« oben rechts und hinter dem auch noch die hochgemute Laune
Ort/Zeit »Fulda 8 Uhr [abends; d. Vf.]« unten des Reiseaufbruchs spürbar ist, die fast alle
links erhalten. Es trägt die Nummer 21 des Gedichte vom 25./26. Juli durchzieht und sich
»Deutschen Divans« vom Dezember 1814, in Zwiespalt bis zu Begeisterungstaumein stei-
Nr.41 des Wiesbadener Registers vom 30.5. gert: »Ich werde rasend, toll, / [ ... ] / Ich irre,
1815, wo es mit dem Titel Übermacht und rase schon, / Ist das zu staunen ?« (FA I, 3.1,
Gegner vermerkt ist. Die einzige größere Kor- S. 19), muß bei der Lektüre von Uebermacht
rektur betrifft Vers dreizehn: ursprünglich im Ohr behalten werden. Denn bei erstem
»Und sie glauben daß die Liebe« ändert G. erst Hinhören mutet der Eingang, insbesondere im
in »Und sie glauben doch, in Liebe«, schließ- politischen Umfeld seiner Zeit - der soeben
lich in die endgültige Fassung »Dencken in beendeten Napoleonischen Kriege und der
Gewalt und Liebe«. Weitere Varianten betref- bürgerlich national-liberalen Hoffnungen-,
fen den Sinn wenig tangierende Satz- und Eli- als unerhörte Provokation an, und provoziert
sionszeichen. - Textgrundlage ist im folgen- haben die Verse: »Mir gefällt zu conversiren /
den die Frankfurter Ausgabe (FA 1,3.1, S. 54f.). Mit Gescheiten, mit Tyrannen« in der Tat, in-
dem sie als Anspielung auf G.s Audienz bei
Wie die Mehrzahl - sechs von acht - der an Napoleon verstanden wurden. Sie können
diesem 26. Juli entstandenen Gedichte ist Ue- auch auf jene des Hafis bei Timur bezogen
bermacht in vierhebigen Trochäen geschrie- werden. Ebenso ist bei den ersten beiden Ver-
ben, ein Versmaß, dem nach Wolfgang Kayser sen: »Uebermacht, Ihr könnt es spüren, / Ist
42 Prozent der Divan-Gedichte folgen und das nicht aus der Welt zu bannen« schwer auszu-
daher als typischer Divan-Ton gelten darf machen, ob die Feststellung der außergewöhn-
(Kayser, S. 79). Vierzeilige Strophen aus vier- lichen, »übermächtigen« Persönlichkeit als
hebigen Trochäen wie im vorliegenden Ge- gleichsam naturgesetzlichen Sachverhalts -
dicht sind zudem »die herrschende Form der zugleich die zustimmende Behauptung des
anakreontischen Lyrik« (Kayser, S. 81); seit Rechts des Stärke rn in sich schließt, ob dies in
seiner Italienreise empfindet G. das trochäi- Resignation vor der normativen Kraft des Fak-
sche Silbenmaß überdies als ein sanghaft-mu- tischen oder gar, mit Blick auf den Einschub:
sikalisches, typisch romanisches Fonnelement »Ihr könnt es spüren«, mit zynischem Hohn
(ebd.). Insgesamt verweisen diese prosodisch- gesagt sei. Unbestimmt dann ferner, ob das
metrischen Merkmale auf den Formbereich ei- folgende »Mir gefällt« als gespielter Trotz oder
ner gesellig spielerischen Rokoko-Lyrik als unverblümtes Bekenntnis zu Aristokratis-
(Henckmann, S. 11), und in dieser Stilsphäre mus und jeder Art von Autoritarismus in post-
hat noch Georg Wilhelm Friedrich Hegel den feudalistischer Zeit zu lesen sei.
Divan wahrgenommen: »Diese unbeküm- Evoziert die erste Strophe den höchst kom-
merte Freiheit [ ... ] gibt z.B. vielen der Ana- plexen Problembereich von G.s politischen
kreontischen Lieder sowie den Gedichten des Einstellungen und seiner Haltung politischer
Hafis und dem Goetheschen West-östlichen Di- Macht gegenüber und steht damit auch in ei-
van den schönsten Reiz geistiger Freiheit und nem Verweisungsverhältnis zur Tasso-Dich-
Poesie« (zit. ebd.). Thematisch aufgenommen tung (Wertheim, S. 257-294), so konkretisiert
wird das stimmungsmäßige Element »unbe- sich das Gedicht in der zweiten und dritten
kümmerter Freiheit« in Strophe drei von Ue- Strophe sehr viel einfacher auf das Motiv des
bermacht: »Hab' ich mich für frey erkläret, / individuell geltend gemachten Freiheitsbe-
Ueberrnacht, Ihr könnt es spüren 395

dürfnisses und -anspruchs des Künstlers ge- Dichter, welche Gönnern und Beschützern die
genüber philiströser Mediokrität und Bor- herrlichsten Lobpreisungen ertheilen, verlie-
niertheit wie gegenüber Fanatismus und In- ren alles Maß, wenn sie sich zurückgesetzt
differenz hin. Die vierte Strophe nähert sich sehen, oder nicht hinreichend belohnt glau-
mit der Anspielung auf die Farbenlehre und ben« (FA 1,3.1, S. 550). Und in den Noten und
ihre Gegner der bereits in den Xenien geübten Abhandlungen entwickelt G. eine elaborierte
persönlichen Invektive und Polemik, wie sie in Theorie der symbiotischen Abhängigkeit zwi-
einem späteren Gespräch mit Eckermann zur schen Herrscher und Dichter im Orient auf der
Sprache kam: »Hernach sprachen wir über den Basis der »Anmaßung« als leitenden Prinzips
Divan; besonders über das Buch des Unmuts, der orientalischen Gesellschaftsstruktur, dem
worin Manches ausgeschüttet, was er gegen er eine »Bescheidenheits-Kultur« der westli-
seine Feinde auf dem Herzen hatte. >Ich habe chen modernen Gesellschaft gegenüberstellt
mich übrigens sehr mäßig gehalten, fügte er (FA 1,5.1, S. 219-222). »Anmaßung« meint die
hinzu; - wenn ich Alles hätte aussprechen wol- Selbstüberhebung des Herrschers und die
len, was mich wurmte und mir zu schaffen Schaffung eines gleichsam »autopoietischen
machte, so hätten die wenigen Seiten wohl zu Systems«, worin »sein eigner Wille die übrige
einem ganzen Bande anwachsen können<<< (Ek- Welt [erschafft; d. Vf.], so daß er sich mit der
kermann, 4.1. 1824). Die letzten beiden Stro- Sonne, ja mit dem Weltall vergleichen kann«
phen schließlich bauen eine zeit- und kon- (S. 220). Dieser hyperbolische Vergleichsakt
fessionsüberschreitende Allianz von antikleri- als Grundlage herrschaftlicher Legitimation
kalen, streitbaren Geistern mit Hutten und kann als Verhältnis bzw. als Zeichensystem al-
Hafis auf, wie sie G. in der Ankündigung des legorischer Repräsentation gedeutet werden,
Divan im Morgenblatt .für gebildete Stände eine Form allegorischer Repräsentativität, die
vom 24.2. 1816 als Tradition östlicher Dichter sich nach G. durch das ganze Gesellschafts-
heraussstellt: »Ferner liegen sie [die Dichter; system fortpflanzt. Die >Erhöhung< des Herr-
d. Vf.] immer mit Mönchen, Heuchlern und schers über die >Sterblichen< leistet dabei der
dergleichen im Streit; auch mit der We I t, wie Dichter durch seine unermüdliche Allegorisie-
sie den verworrenen Gang der Dinge, der bey- rungs-Arbeit, und daher ist er denn für den
nahe von Gott unabhängig erscheint, nennen, Herrscher wie für die Selbsterhaltung des Sy-
sind sie immerfort im Kampfe begriffen. Auf stems unersetzlich. Insgesamt entwickelt G. in
gleiche Weise verfährt der deutsche Dichter, den Noten und Abhandlungen unter dem
indem er das, was ihn widerwärtig berührt, hef- Stichwort der »Anmaßung« eine noch viel zu
tig und gewaltsam abweist« (FA I, 3.1, S. 550). wenig beachtete Theorie der politischen Legi-
Neben den Erlebnismomenten der ge- timation durch allegorische Repräsentation,
hobenen Aufbruchsstimmung, den allenfalls wie sie dann im ersten Akt von Faust II zum
persönlichen Anschauungsgehalten im Po- beherrschenden Thema werden soll. Poetolo-
litischen und einem kämpferischen Aufleh- gische Korrelate zur »Anmaßlichkeit« des
nungsgeist gegenüber real empfundenen Ge- Herrschers, die im Divan ein rekurrentes Mo-
seIlschaftszwängen und Widerständen ist in- tiv bilden, sind, je nach Stimmung und situa-
dessen die Inszenierung eines imaginierten tivem Bezug, dichterischer »Übermuth« (E<\ I,
östlichen Rollenspiels das wohl entscheidend- 3.1, S.22), »Dünckel«, »Wahn« (ebd., S.605)
ste Merlunal des Gedichts. Ebenfalls in der etc.; und von diesen »Übersteigerungen« ins-
»Ankündigung« stellt G. das Buch des Un- gesamt dürfte unter dem Begriff »Uebermacht«
muths in den Kontext der orientalischen Tradi- die Rede sein.
tion des Herrscherlobs (Shareghi-Boroujeni, Dem Inszenierungscharakter imaginierter
S. 182-192) und der dichterischen Selbstbe- Rollenspiele verwandt im Sinne eines ästhe-
hauptung und Anmaßung: »Das Buch des Un- tischen Verfahrens sind die poetologisch-kom-
muths enthält Gedichte, deren Art und Ton positorischen Gesichtspunkte, welche Ueber-
dem Osten nicht fremd ist. Denn gerade ihre macht im Kontext der Gedichte im Buch des
596 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819
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Unmuths bestimmen. Ernst Beutler spricht Trauer bedeckt. Tyrannen hat schon mancher
von der »kontrapunktischen Eigenart der Di- Dichter geschmeichelt, der Tyrannei noch kei-
vankomposition«, die sich im Buch des Un- ner« (Börne, S.1209fL). Gerade konträr
muths im »Diskant des Streites und dem Can- machte sich Karl Grün, 1848 preußischer Ab-
tus firmus des Friedens« äußert, was sich in geordneter und von Marx und Engels be-
der Tat in der Abfolge von Uebermacht und kämpfter Vertreter des Sozialismus, den »rät-
dem gleich anschließenden, ebenfalls am 26.7. selhaften Geheimderat von Weimar als Flügel-
1814 geschriebenen Wenn du auf dem Guten mann oder Tambour-MajOr« (Mandelkow, Bd.
ruhst verfolgen läßt. Die gleichsam komposi- 2, S. 540) für die sozialistische Sache zunutze,
torische Notwendigkeit von Unmutsgefühlen indem er u.a. aus Uebermacht die antiklerika-
in der Lyrik wie im Leben reflektieren die len Verse über Hafis und Ulrich von Hutten
beiden Gedichte Elemente vom 22.7. 1814: zitiert und sie im Sinne eines diesseitsgerich-
»Dann zuletzt ist unerläßlich, / Daß der Dich- teten, sinnlich-natürlichen Materialismus
ter manches hasse, / Was unleidlich ist und deutet (ebd., S. 292L).
häßlich / Nicht wie Schönes leben lasse« (FA I, Das beherrschende Rezeptionsmuster
5.1, S. 17) und Als wenn das aufNamen ruhte! dürfte indessen die Übernahme von G.s eige-
vom 27.7. 1814: »Jemand lieb' ich, das ist nö- nem Deutungsangebot des Buchs des Unmuths
thig, / Niemand hass' ich; soll ich hassen; / in den Noten und Abhandlungen im Sinne von
Auch dazu bin ich erbötig, / Hasse gleich in ästhetisch wie diätetisch-psychischen Aus-
ganzen Massen« (ebd., S. 56). Ähnliche kom- gleichs- und Harmoniebestrebungen sein. So
positorisch-diätetische Ausgeglichenheits- sieht Carl Gustav Carus die »Gesundheit sei-
überlegungen stellt G. in den Noten und Ab- ner Natur« als das »Wesentlichste« an G.s In-
handlungen zur Rechtfertigung des Buchs des dividualität und versteht das, »worin er sich
Unmuths an (ebd., S. 219f.). verneinend und ablehnend gegen die Welt ver-
hielt« (Mandelkow, Bd. 2, S. 245), als Schutz-
Von kaum jemandem wurden die Provokatio- mechanismus, »damit der ihm selbst eigen-
nen in Gedichten wie Uebermacht, wurde das tümliche Kern um so ungestörter sich entfalten
Provokative am Divan und den Noten und Ab- konnte« (ebd., S. 247). Ebenso Friedrich Gun-
handlungen überhaupt derart vehement aufge- dolf, der das Buch des Unmuths als >>notwen-
nommen und im gleichen Register, wenn auch dige Ergänzung des Sänger-buchs und des Ha-
mit gallig-böser Tönung, erwidert wie von fis-buchs« deutet, »worin die bejahende Ge-
Ludwig Börne, der G. aus politischem Pro- sinnung des freien Weisen und des sinnlich
gramm zum wichtigsten Repräsentanten der vollen Menschen als Forderung und als Be-
reaktiven Kräfte erhoben hatte. Am 27.5. 1850 kenntnis sich ausspricht«. Von einem »doppel-
schreibt er in sein Tagebuch: »Warum, ein ten Nein« sei das Buch erfüllt, »welches frei-
freier Mann, orientalisch dichten? [ ... ] Das lich sein starkes Ja als gegeben voraussetzt
zahme Dienen trotzigen Herrschern hat sich [ ... ] vom Nein Goethes gegen Pfaffen und Phi-
Goethe unter allen Kostbarkeiten des orien- lister [ ... ] und vom Nein der Philister und
talischen Bazars am begierigsten angeeignet. Pfaffen gegen Goethe« (GuNDOLF, S.655L).
Alles andere fan d er, dieses s u c h teer; Goe- Dahinter darf nach Adolf Muschg indessen
the ist der gereimte Knecht, wie Hegel der kein Plädoyer für »Weimar, Adel oder gar
ungereimte«. Und in seinen Beobachtungen zu Elite« gesehen werden. Vielmehr meine dies:
den Noten und Abhandlungen hält er fest: »Wage für dich zu stehen, wenn auch allein.
»Mit der seeleninnigsten Behaglichkeit preist Werde, was du bist, dann findest du den an-
Goethe in seinem Divan die Des pot i e. [ ... ] deren, der dir gleicht, weil er das Seinige tut.
Wer noch sonst, als der einzige deutsche Goe- Es heißt aber auch: Zellenbildung der erfin-
the, war je so schamlos, das Knechtische in der dungs- und phantasiefähigen Menschen gegen
Natur des Menschen zu verherrlichen und die drohende Unmenschlichkeit der Struktu-
nackt zu zeigen, was ein edler Mensch mit ren« (S. 101).
Der Winter und Tirnur 597

Literatur: schaftlieher Vernunft zerstoben. Die Orientie-


Beutler, Ernst (Hg.): Goethe. West-östlicher Divan. rung an der Antike, die schon nach 1800 an
Leipzig 1943. - Börne, Ludwig: Über Goethes Kom- Prägekraft verloren hatte - denn die Zerschla-
mentar zum Divan. In: dcrs.: Sämtliche Schriften. gung des alten deutschen römischen Reiches
Neu bearbeitet und herausgegeben von Inge und Pe- setzte, Schiller merkte es sofort, die deutsche
ter Rippmann. Bd. 1. Darmstadt 1964. - Burdach, Frage auf die Tagesordnung der Weltge-
Konrad: Die älteste Gestalt des West-östlichen Di-
schichte -, war damit vollends hinfällig ge-
vans. In: ders.: Zur Entstehungsgeschichte des West-
östlichen Divans. Drei Akademievorträge. Hg. von worden. Hatte die Französische Revolution die
Ernst Grumach. Berlin 1955, S.7-50. - GUNDOLF, Renaissance der Antike auf republikanischer
S. 653f. - Henclanann, Gisela: Gespräch und Gesel- Basis betrieben, so das Napoleonische Impe-
ligkeit in Goethes West-östlichem Divan. Stuttgart, rium mit cäsarischer Intention. In Napoleons
Berlin u. a. 1975. - Kayser, Wolfgang: Beobachtun- Wunsch, G. möge für sein Pariser Hoftheater
gen zur Verskunst des West-östlichen Divans. In:
ein Caesar-Drama schreiben, berührten sich
PEGS.23 (1954), S. 74-96. - Mandelkow, Karl Ro-
bert: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente die deutsch-klassische und die französisch-im-
zur Wirkungsgeschichte in Deutschland. Bd. 2. periale Sphäre an exponierter, aber schon
München 1977. - Muschg, Adolf: Goethe als Emi- nicht mehr zündender Stelle. Der Anregung
grant. Zum West-östlichen Divan. In: ders.: Goethe des Kaisers folgte kein förmlicher Auftrag, und
als Emigrant. Auf der Suche nach dem Grünen bei auch G. ließ das Impromptu auf sich beruhen;
einem alten Dichter. Frankfurt/M. 1986, S. 73-104.
vier Jahre später, im Sommer 1812, suchte er
- Shareghi-Boroujeni, Caveh: Herrscher und Dich-
ter in Goethes und Hafis Divan. Hamburg 1979. - den Kaiser in einem Huldigungsgedicht, das
Wertheim, Ursula: Von Tasso zu Hafis. Probleme von dessen österreichischer Gemahlin galt, auf das
Lyrik und Prosa des West-östlichen Divans. Berlin Friedens-Bild des Augustus festzulegen.
1965. Aber zu dieser Zeit hatte Napoleon seinen
Michael Böhler hybriden Ausgriff nach Osten längst ins Werk
gesetzt. Es war der Anfang vom Ende; danach
galt es, Anhalt in andern Zonen der Über-
lieferung zu suchen. G. fand ihn in einer denk-
bar entlegenen Sphäre, in der persisch-ara-
bisch-islamischen Kulturwelt. Ihr nomadi-
scher Zug beglaubigte ihm einen »Freisinn« -
Der Winter und Timur ein zündendes Gedicht im Buch des Sängers
heißt so -, der sich nicht zuletzt an der offenen
poetischen Form bewährt. Man kann sie, in
Das Gedicht, das laut Tagebuch in Jena zwi- ihrer >>nngerundeten Immanenz«, mit einer
schen dem 11. und 15.12. 1814 entstanden ist, Blochsehen Wendung »eine Chiffre des Ei-
wurde zuerst in der Divan-Erstausgabe von gentlichen« nennen (Bloch, S.252). Mit der
1819 gedruckt. Auf diesen Erstdruck bezieht Geschlossenheit der antiken Muster ist auch
sich folgende Interpretation (Text in FA I, 5.1, der jambisch steigende Tonfall der klassischen
S. 70). Später in der von Eckermann und Gött- Periode aufgegeben, der das Drama, aber auch
ling revidierten Fassung, die sich von dem viele lyrische Formen der Epoche bestimmt
Erstdruck in geringfügigen orthographischen hatte. Ein fallender Ton tritt an seine Stelle,
Nuancen unterscheidet, im fünften Band der dessen Muster der Autor in spanischer Thea-
Ausgabe letzter Hand (Text in FA I, 5.1, tersphäre findet: der Divan ist, aufs Ganze
S.572). gesehen und durch Ausnahmen bekräftigt, tro-
chäische Welt.
Mit dem Untergang Napoleons war G.s Hoff- Nachdem G. mit dem Des Epimenides Erwa-
nung auf die Wiederkehr des römischen chen dem Wandel der Machtverhältnisse sei-
Reichs als einer lateinisch-universalistischen nen Tribut entrichtet hatte, wurde ihm die Ar-
Weltmonarchie unter den Auspizien gesell- beit am Divan zum Ausdruck der Opposition
398 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

gegen einen Jugendgeist, dessen linker, natio- Dienstverhältnissen. Ein poetischer Kosmos
nal-demokratischer Flügel auf die Entmach- entfaltet sich, der ebenso konservativ wie in-
tung der alten aristokratischen Gewalten dividuell ist und damit dem aufziehenden Bie-
zielte, indes der katholisch-reaktionäre Teil dermeier auf seine Weise voraus leuchtet. In
am liebsten den mittelalterlichen Ständestaat dem Bestreben, ein Objektives, Verbindliches
wiederherstellen wollte. Das eine war ihm so aus der Souveränität des Künstler-Ichs neu
wenig behaglich wie das andere. Er half sich und eigensinnig in Kraft zu setzen, steht das
gegen beide, indem er mit der neuen Ost- dichterische Ergebnis, das wie absichtslos
bindung, die ihre islamischen Fühler in Ge- Blüte um Blüte treibt und am Ende alles zu
stalt moslemischer Gottesdienste während der bunten Kapitel-Sträußen zusannnenbindet,
russischen Besetzung bis nach Weimar ausge- Beethovens, des um eine Generation Jünge-
streckt hatte, im weitesten Sinn ernst machte. ren, Spätwerk nahe. Dessen Bagatellen-Zyk-
Die Arbeit, noch davon entfernt, ein grö- len von 1822 und 1823 bilden so etwas wie eine
ßeres Ganzes ins Auge zu fassen, setzte im Juni Entsprechung zu G.s östlich gewandeter Ge-
1814 unmittelbar nach der Absendung des Epi- dichtversannnlung, in der, wie in jenen, das
menides-Textes ein, mit einem Trinklied von Aphoristisch-Prägnante, der ins Absolute ge-
mythischen Ausmaßen (»Hans Adam war ein triebene rhythmisch-klangliche Gestus neben
Erdenklos«; FA I, 3.1, S. 18), das wie ein Sich- den höchsten geistigen Ausdruck tritt.
Abstoßen von dem Opusculum majestätischer
Selbstverleugnung und -rechtfertigung ist. Die Einfügung des Herrscherbildes in diese
Dem antikisierend-allegorischen Maskenspiel Dichtwelt erwies sich als ein Problem, das von
folgte ein lyrisch-persönliches, das sich als un- den Auspizien jüngstvergangener Geschichte
gleich fruchtbarer erweist. Denn das Erstaun- nicht zu trennen war. Ebendies machte die
liche geschah: die konservative Retirade, die Aufgabe, soweit sie das hochpersönliche, in
gegen den Freisinn der Freisinnigen das no- zwei denkwürdigen Gedichten des Buches der
madische Schweifen »froh in alle Feme« Betrachtungen gefeierte Verhältnis zu Wei-
setzte, wurde schöpferisch, sie wurde produk- mars Großherzog überstieg (Hächste Gunst
tiv und damit selbst zu einem Element jenes und An Schach Sedschan und seinesgleichen),
Neuen, dem des Autors tiefempfundenes Miß- unlösbar. In einer Anmerkung aus jenem Kapi-
trauen galt. Daß G. den lateinischen Kaiser, tel der Noten und Abhandlungen, das auf ei-
den Bändiger und Verb reiter der Revolution, nen Künftigen Divan, also auf eine Erweite-
als für Deutschland zuträglich und notwendig rung des Werkes, vorausblickt, legt der Autor
angesehen hatte, hing damit zusannnen, daß sich und dem Leser davon Rechenschaft ab.
er seine eigene Disposition zum Anarchisch- «Buch des Timur. Sollte eigentlich erst gegrün-
Individualistischen als eine spezifisch deut- det werden, und vielleicht müßten ein paar
sche, national eigentümliche ansah, fruchtbar Jahre hingehen, damit uns die allzunah lie-
unter hierarchischen Verhältnissen, zerstöre- gende Deutung ein erhöhtes Anschaun unge-
risch unter demokratischen. Was ihn selbst, heurer Weltereignisse nicht mehr verküm-
den Schwankenden und Anfalligen, Wider- merte« (FA I, 3.1, S. 222).
spenstigen und Preisgegebenen, stützte, Dieser Satz, der das veröffentlichte Buch
mußte andern erst recht frommen, und wenn Timur ins völlig Provisorische herab stuft, ist
es nicht westliche Vorherrschaft war, der man sibyllinisch. Sein Klartext, dahingehend, daß
sich beugte, so galt es, das Heil in einem weit, von Timur nicht wirklich die Rede sein könne,
nämlich übernational gefaßten Osten zu su- da Timur Napoleon sei und dessen Untergang
chen. zu nahe liege, um unparteiisch behandelt zu
Der Divan als geistiger Ausdruck und dich- werden, - dieser Klartext wird diplomatisch
terische Form ist die Frucht eines Individua- verstellt, indem der Anschein erweckt wird,
lismus, der Anhalt bei dem scheinbar Konträ- von dem historischen Timur könne nicht unbe-
ren sucht: einer alten Welt in unerschütterten fangen die Rede sein, da Napoleon unvermeid-
Der Winter und Timur 399

lich mit ihm assoziiert werde. Wie schmerzhaft Art. »Zu Trost und Untrost den Wiederschein
das Thema für G. ist, zeigt das im weiteren Text eigner Schicksale erblicken« - offenbar liegt
der Note sich unvermittelt Rawn schaffende der Trost in dem Gewahrwerden des Um-
Entlastungsbedürfnis des Autors: »Erheitert stands, daß Napoleons Schicksal einem alten
könnte diese Tragödie werden, wenn man des Muster, dem Timur-Modell, folgt, und der Un-
fürchterlichen Weltverwüsters launigen Zug- trost darin, daß der Kaiser ihm nicht entrann.
und Zeltgefahrten Nussreddin Chodscha von Auch in fernöstlicher Verkleidung konnte
Zeit zu Zeit auftreten zu lassen sich ent- man 1816 mit solcher Unbefangenheit kein
schlösse. Gute Stunden, freyer Sinn werden Napoleon-Kapitel ausführen, und die Note der
hiezu die beste Förderniß verleihen«, fahrt der Druckausgabe bekundet ebendies, sie zieht
Text fort und fügt eine Nussreddin-Anekdote das Fazit: Es geht nicht. Es ging um so weniger,
über die exorbitante Häßlichkeit des Tyrannen als G. sich mit dem Festspiel, in dem er seinen
an (FA I, 3.1, S.222f.). Man spürt an einer Helden in den Orkus gestürzt hatte, gleichsam
solchen Stelle, was Charlotte Schiller meinte, den Rückweg abgeschnitten hatte. Jenes Buch
als sie in der Inkubationszeit des Divan, An- Timur, das, wie Beutler schreibt, in der ur-
fang Juli 1814, G.s sich in gravitätisch-ambiva- sprünglichen Konzeption als »der eigentliche
lenten Wendungen ergehende Distanz zu den Mittelpunkt und Kern des >Deutschen Di-
politischen Begebenheiten in einem Brief-Be- vans<<< »den Aufstieg und die Herrschaft des
richt in die Worte faßte: »Aber der Meister, Tyrannen ebenso schildern [sollte] wie seinen
fühlt man mit einer Art Schmerz, denkt von der Untergang« (Beutler, S.549), kam nicht zu-
Welt: Ich hab mein Sach auf nichts gestellt« (an stande. Zeit und Läufte verwiesen den Dichter
Prinzessin Caroline, 2.7.1814). auf die negativen Aspekte des gestürzten Cä-
Die Timur-Note stammt aus der Endphase sars, dessen Gestalt er in Epimenides in den
des 1819 verspätet erscheinenden Werkes. Op- Dämon des Kriegs und den der Unterdrückung
timistischer hatte sich im Februar 1816 die von verdoppelt hatte. Der Mongolenherrscher Ti-
G. verfaßte Zeitungsanzeige der werdenden mur-Leng, das ist Timur der Lahme (geb.
Sammlung gezeigt: «Timurname, Buch des Ti- 1336, gest. 1405), in Europa Tamerlan genannt
mur, fasst ungeheure Weltbegebenheiten, wie und unter diesem Namen von Marlowe wn das
in einem Spiegel auf, worin wir, zu Trost und Jahr 1600 zur Titelfigur eines exemplarischen
Untrost, den Wiederschein eigner Schicksale Dramas gemacht, bietet alle Möglichkeiten
erblicken« (FA I, 3.1, S.550). »Zu Trost und dazu: ein aus kleinadligen Verhältnissen zu
Untrost« - Ernst Beutler, der das erste der schrankenloser Machtvollkommenheit aufstei-
beiden Timur-Gedichte, Der Winter und Ti- gender Usurpator, der von Samarkand aus, sei-
mur, zu einer Zeit kommentierte, die ihm ein ner zu einem weitreichenden Kultur-Zentrum
Äußerstes an Aktualität verlieh: während Hit- ausgebauten Hauptstadt, in immer neuen
lers Raubzug in Rußland, nach den Nieder- Feldzügen ganz Mittelasien unterwirft, seine
lagen der deutschen Heere vor Moskau und in Heere bis nach Neu-Delhi führt und nach ei-
Stalingrad, hat diese Wendung auf seine Weise nem entscheidenden Sieg bei Ankara über den
gedeutet: »Trost insofern, als [das Gedicht] osmanischen Sultan zur Eroberung Chinas an-
weist, wie auch dem Tyrannen der Untergang setzt, bei der die Winterkälte ihn zurück-
bereitet ist, - Untrost, weil es zeigt, daß die schlägt; der 69jährige findet auf dem Feldzug
Kette des Unheils nicht abreißt« (S. 551). Das den Tod.
konnte nichts anderes heißen als: Gut, daß Dieses Ende gibt dem Dichter dIe Möglich-
Hitler fallt, schlecht, weil auch Deutschland keit, mit den Mächten, denen der Tyrann er-
dabei in die Katastrophe gerissen wird. Es war liegt, auch diesen selbst zur Naturkraft zu sti-
insofern eine angemessene Bestimmung. Die lisieren. G. selbst hat es so dargestellt: »Neue
Ambivalenz, die die mit nie gehörtem Wort - Arbeit der Divan«, notiert Sulpiz Boisseree am
Untrost - sich gleichsam selbst aufhebende 3.8. 1815 dessen Selbstkommentar, »Aneig-
Wendung bei G. hat, ist jedoch von anderer nung des Orientalismus; Napoleon, unsere
400 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Zeit bieten reichen Stoff dazu. Tirnur, Dschen- Verse zu erkennen. Es ist das »illos« und »eos«
gis-Khan, Naturkräften ähnlich, in einem des lateinischen Textes. »Circumibat autem il-
Menschen erscheinend«. Einige Tage später los Hyems cum ventis vehementibus, et sparsit
setzt Boisseree die Eintragung fort: »Tirnurs inter eos flatus suos glaream dispergentes«,
Winter-Feldzug - Parallel-Stück zu Napoleons hebt die Stelle aus Jones an, zu deutsch: »Es
Moskowitischem Feldzug. - Kriegsrat. Der umgab sie aber der Wintergott mit seinen hef-
Winter tritt redend auf als Saturn gegen den tigen Stürmen und jagte zwischen sie staubauf-
Mars - Fluch oder Verheißung - groß gewal- wirbelnd seinen Atem« (Übersetzung von
tig«. »Außerordentliche Menschen wie Napo- Beutler).
leon treten aus der Moralität heraus. Sie wir- Strophenlos, wie ein Monolog, kommen die
ken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer Verse einher, die dem spanischen Trochäus ein
und Wasser«, hatte G. 1807 zu Friedrich Wil- Äußerstes an Dringlichkeit abgewinnen. Was
helm Riemer gesagt (zitiert nach Middell, ein Gedicht scheint und wie ein Bericht an-
S. 552). In Epimenides hatte er sich veranlaßt hebt, erweist sich in seinem theatralen Cha-
gesehen, die Kräfte des Volkswiderstands ge- rakter: eine welthistorische Szene. Es ist ein
gen den Dämon des Kriegs und der Unter- Dialog, bei dem nur einer, der Stärkere,
drückung wenigstens sinnbildlich ins Spiel zu spricht, und es bleibt kein Zweifel, daß er dies
bringen, durch die Verkörperung von Liebe, ist, weil die Stimme des Rechts aus ihm
Glaube und Hoffnung, von denen die letztere spricht; die vierfache Gottesanrufung unter-
im Bund mit hilfreichen Genien zuletzt die streicht es. Wie hier der Winter zu Timur
Oberhand gewinnt. In Der Winter und Timur spricht der Dichter selbst, mit vorgehaltener
bietet dem auf Napoleon hin durchsichtigen Hand, zu den Deutschen, in einem dem Nach-
Eroberer die Natur selbst Einhalt, aber sie tut laß anvertrauten Gedicht, das Epimenides Er-
es nicht von ungefahr: der Winter, den G.s wachen, letzte Strophe heißt und, indem es die
Gedicht in Tirnurs Kriegsrat einbrechen läßt, Ländergier Preußens auf dem Wiener Kon-
tritt im Namen des Rechts vor ihn hin. Die greß geißelt, mit Sehergabe und Propheten-
moralische Instanz erscheint in der Gestalt ei- zorn in eine Zukunft blickt, da der Timur-Zug
ner Naturkraft. des Verderbens von einheimischen Seelenver-
Die Vorlage, die dem Autor Gelegenheit derbern ausgeht: »Verflucht sey wer nach fal-
dazu bot, fand sich in einem von langer Hand schem Rath, / Mit überfrechem Muth, - Das
in G.s Besitz befindlichen Buch. Der Orienta- was der Corse-Franke that / Nun als ein Deut-
list Johann Gottfried Eichhorn hatte es 1777 in scher thut. / Er fühle spät, er fühle früh / Es
Leipzig veröffentlicht und als Jenenser Pro- sey ein dauernd Recht; / Ihm geh' es, trotz
fessor acht Jahre später G. ein Exemplar ge- Gewalt und Müh', / Ihm und den Seinen
schenkt. Es legte eine von dem Engländer Wil- schlecht« (ALH 47, S. 252).
liam Jones 1774 in lateinischer Sprache her- »Der Thermometer fallt auf 28 Grade« (ver-
ausgegebene Sammlung arabischer Texte vor, mutlich Reaumur, also auf -55 0 Celsius), hatte
die auch eine Geschichte Timurs enthielt, die Napoleons Heeres-Bulletin vermerkt, als der
»von glühendem Haß gegen Tirnur erfüllte Oberfeldherr am 5.12. 1812 in Weißrußland
Darstellung des arabischen Chronisten Ibn die Reste einer Armee verließ, die »die große«
Arabschah aus der ersten Hälfte des 15. Jahr- geheißen und mit den erfrorenen Pferden auch
hunderts« (BeyerlBeyer, S. 757). Ernst Beutler ihre Kanonen und Eßvorräte verloren hatte.
(S. 548f.) und Hendrik Birus (S. 1164f.) legen Zwei Jahre später, am 11.12. 1814, schrieb G.
den lateinischen Text zusammen mit einer Der Winter und Timur. Als Nr.84 gehört das
deutschen Übersetzung vor. G.s Gedicht er- Gedicht zu jenem frühen Divan-Bestand, der
weist sich als eine freie Vers-Übertragung der zu Anfang von G.s zweiter Reise an Rhein und
Vorlage. Ein dreifach gesetztes »sie«, das Ti- Main in das einhundert Stücke umfassende
murs Heerscharen meint, steht unvermittelt und als Des deutschen Divans manigfaltige
am Anfang und gibt den Zitatcharakter der Glieder überschriebene Wiesbadener Register
Der Winter und Timur 401

eingeht. Es ist nicht das einzige Gedicht der blischer Bedeutung geladenen Wendung. Zwi-
veröffentlichten Sammlung, das den Namen schen Timur und Hafis war es, der Legende
des Mongolenherrschers nennt, aber es ist das nach, anders zugegangen: Hafis hatte mit ei-
einzige Timur-Gedicht in ihr. Daß es zustande ner lyrischen Wendung eben die Städte poe-
kam, ergab sich aus den vielfachen Vorzügen tisch verschenkt, deren Eroberung Timurs
der Vorlage: aus deren Gegenstand, Timurs Hauptziel gewesen war, Buchara und Samar-
Winterfeldzug; aus dem Aufstand der Natur, kand. Den Vorwurf des Herrschers hatte er mit
den der Text dämonisch personifiziert; aus geistreicher Devotion entschärft. G. hat Hafis'
dem berichthaften Duktus, der das dichtende Städte-Berufung in dem Divan-Gedicht Hält'
Subjekt hinter der Wucht des Vorgangs ver- ich irgend wohl Bedenken (FA I, 3.1, S.82)
schwinden macht; aus dem parteiischen Cha- übernommen, das damit verbundene Timur-
rakter dieses Berichts, der den angeherrschten Motiv scheint aber in Gestalt einer namenlo-
Eroberer als Landes- und Seelenzerstörer gei- sen Herrscher-Anrufung nur indirekt auf. In
ßelt; schließlich aus der Distanz zwischen dem der Handschrift des Deutschen Divan steht
historischen und dem zeitgenössischen Impe- dieses Gedicht als Nr. 57 unmittelbar vor dem
rator, wie ihn die Kennzeichnung Timurs als Rosenoel überschriebenen, das unter dem Ti-
eines Greises markiert - Napoleon war 1814 tel An Suleika nachmals an den Schluß des
erst 45 Jahre alt. Dies alles in dieser Verbin- Buches Timur tritt; Hält' ich irgend wohl Be-
dung mußte G. wie gerufen kommen; es ent- denken wird aus diesem Zusammenhang ge-
sprach dem in Norddeutschland herrschenden flissentlich ausgeschlossen.
Napoleonbild, und es stimmte zu seinem eige- Eine andere Spiegelung als die dort voll-
nen Vorbehalt gegenüber der Rußland-Unter- zogene begibt sich im Divan; sie ist in ein
nehmung des Imperators, wie ihn im Juni 1812 Gedicht eingelassen, das Timurs Namen
die Ihro der Kaiserin von Frankreich Majestät nennt, ohne dem Buch Timur anzugehören,
gewidmeten Stanzen bekundet hatten, ein und weist wie auf dieses voraus. Es steht am
Preis des Friedens und eine Mahnung zu sei- Ende von Rendsch Nameh, dem Buch des Un-
ner Erhaltung, die in die Schlußverse ausge- muths, und vollzieht durch seinen erst im drit-
gangen war: »Uns sei durch sie dies letzte ten Anlauf gefundenen Titel Timur spricht -
Glück beschieden - / Der Alles wollen kann, ursprünglich war der Text Hatem überschrie-
will auch den Frieden«. Vier Jahre später hatte ben, dann Timur - mit leichter Hand die Iden-
ein 1815 nachgetragener Prolog zu Epimenides tifikation des Reichsgründers und Länderver-
die Verse erneuert und zurückgenommen: wüsters mit dem, der hier dichterisch spricht,
»Den Frieden kann das Wollen nicht berei- dem Dichter-Ich, das in dem jambisch aufstei-
ten: / Wer alles will will sich vor allen mäch- genden Vierzeiler keine Wahl hat, denn sich
tig« (ALH 13, S. 260f.). als Wurm oder als Timur zu empfinden (FA I,
Der sich zur ingrimmigen Anrede stei- 3.1, S.360). In der vignettenhaften Strophe,
gernde Berichtsstil der Vorlage erließ es dem die, eine Zugabe des Neuen Divan, zum ersten
Dichter, sich in eine subjekthafte Beziehung zu Mal in der Ausgabe letzter Hand (ALH 5,
dem Usurpator zu setzen, der, indem er Timur S. 112) im Druck erscheint, treten beide in
ist, den Kaiser meint - und umgekehrt. In eins, der Herrscher im Reich der militärischen
Timurs legendärer Begegnung mit Hafis, dem und der im Reich dichterischer Eroberung.
Sänger, konnte er seine eigene mit Napoleon »Du Volk von Laffen« stand ursprünglich statt
gespiegelt finden, aber nichts derart greift im der »verlognen Pfaffen« - in Abwehr demo-
Divan Raum. Wie hätte sich auch eine Be- kratischer Zudringlichkeit ist darauf gedeutet,
gegnung dichterisch spiegeln und wiederge- daß es in der Kunst auf Superiorität ankomme.
ben lassen, bei der I'Empereur, der Weltge- Der Unmut des Hauptstücks, der sich gerade
bieter, den Dichter mit dem Ausruf empfangen noch heftig Luft gemacht hatte, hebt sich in
hatte: »Voilil, un hommel« - der französischen einem Übermut auf, der den Übergang zu dem
Version des »Ecce homo«, der mit tiefster bi- Buch der Sprüche macht.
402 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Literatur: Auch in diesem Gedicht, das den Timur-


Beutler, Komm. in: Goethe: West-östlicher Divan. Namen nennt, nicht im Titel, sondern in sei-
Unter Mitwirkung von Hans Heinrich Schaeder hg. nen Schlußversen, der Conclusio, geht es -
und erläutert von Ernst Beutler. Leipzig 1945. - Be- wie in den anderen Timur-Gedichten - um
yerlBeyer, Komm. in BA 5, S. 757. - Birus, Komm. in Übermut und Superiorität. Es hat Eingang in
FA I, 5.1, S. 1160-1167. - Bloch, Ernst: Das Prinzip das Buch Timur gefunden, für das ein einziges
Hoffnung. Frankfurt/M. 1959. - Burdach, Konrad:
Gedicht denn doch zu wenig gewesen wäre;
Zur Entstehungsgeschichte des West-östlichen Di-
vans. Drei Akademievorträge. Hg. von Ernst Gru- doch ist die Einbeziehung dieses Textes in die-
mach. Berlin 1955. - Lemmel, Monika: Poetologie in ses Hauptstück keineswegs hergeholt und
Goethes West-östlichem Divan. Heidelberg 1987, willkürlich, wie Konrad Burdach wollte, der
S. 58 und 48f. - Michelsen, Peter: Goethes Gedicht die vierte Strophe, auf die das Ganze zuläuft,
Der Winter und Timurund seine Vorlage. In: Formen für eine Anknüpfungszutat hielt, um das Ge-
innerliterarischer Rezeption. Hg. von W Floeck.
dicht dem Buch Tim ur gefügig zu machen. Die
Wiesbaden 1987, S.445-458. - Middell, Komm. in
West-östlicher Divan. Gesamtausgabe. Auf der Verse, die von der Zahl vier regiert werden - es
Grundlage der Ausgabe von Hans-J. Weitz neu hg. sind vier paarweis gereimte Vierzeiler mit
von Eike Middell. Leipzig 1965. - Mommsen, Ka- vierfüßigen Trochäen -, entstehen auf G.s
tharina: Goethe und die arabische Welt. Frankfurt/ zweiter Rhein-und-Main-Reise am Tag der An-
M. 1988. - Müller, Joachim: Zu Goethes Timurge- kunft in Wiesbaden. Im Vorgefühl der Wieder-
dicht. In: Beiträge zur deutschen und nordischen
begegnung bringt der Dichter seiner Frank-
Literatur. Fs. L. Magon. Berlin 1958, S.250-265.
Wieder in: ders.: Der Augenblick ist Ewigkeit. Goe- furter Muse, Marianne von Willemer, eine ori-
thestudien. Leipzig 1960, S. 165-186. - Nagel, Til- entalisch exzessive Huldigung dar. Er geht,
man: Timur der Eroberer und die islamische Welt kaum daß er von dem gescheiterten Welter-
des späten Mittelalters. München 1995. oberer zu sprechen begonnen hat, zu dem
Friedrich Dieckmann wichtigeren Thema, dem des Liebes-Dienstes,
über.
Er tut es in einer Weise, die die Timur-
Gestalt, deren menschenverderbender Über-
mut eben noch am Widerstand der empörten
Natur zerbrach, zu verklären und zu recht-
fertigen scheint, indem sie ihre Berufung mit
An Suleika leichter Hand in den Dienst der Liebe, unter
das Zeichen des Frauenlobs stellt. Für die Er-
höhung der Geliebten, so die Essenz der Verse,
Das Gedicht ist am 27.5. 1815 in Wiesbaden ist nichts zu teuer und nichts zu grausam, auch
entstanden und wurde unter dem Titel Ro- nicht der Untergang ganzer Heerscharen von
sen61 als Nr. 58 ins Wiesbadener Register ein- Rosen in der Destillation jenes duftenden Öls,
getragen. Der Erstdruck unter dem Titel An das ihr »mit Wohlgeruch zu kosen« bestimmt
Suleika, mit dem das Gedicht zu dem unmittel- ist (V. 1) und so viele Blumenopfer fordert, wie
bar anschließenden Buch Suleika überleitet, Timurs Herrschaft Seelen vernichtet hat. Daß
erfolgte in der Divan-Erstausgabe von 181 9 das Rosenöl als solches gar nicht wohlriechend
(Text in FA I, 3.1, S. 71). Auf ihn bezieht sich ist, sondern nur in einer Verdünnung, die die
die folgende Interpretation. Später im fünften Konzentration wieder auflöst, ist ein Detail,
Band der Ausgabe letzter Hand mit drei vor- das, als dem Sinn des Gedichtes fernliegend,
tragsrelevanten Zeichenveränderungen: Ein übergangen wird.
Semikolon am Ende von Vers acht bindet hier Der vernichtend-verschwenderische Um-
die zweite an die dritte Strophe; die Frage- gang des Selbstherrschers mit dem Rohstoff
zeichen am Ende von Vers vierzehn und sech- Mensch wird wie zur Entlastung des Genusses
zehn suchen die Conclusio des Gedichts ab- angeführt, den die Duftessenz dem Mädchen
zumildern (FA I, 3.1, S. 373). und ihrem Anbeter spendet - Timurs men-
An Suleika 403

schenverzehrende Herrschaft als bedenkenlos mit Goethe auszurufen: ,Sollte diese Qual uns
gehandhabtes poetisch-symbolisches Mate- quälen, / Da sie unsre Lust vermehrt, / Hat
rial. Sie wird ihrerseits zum Rohstoff, so wie in nicht Myriaden Seelen / Timurs Herrschaft
dem Gedicht Nachbildung der Brand Moskaus aufgezehrt?<<< (Marx, S. 323).
dazu herhält, die feurigen Nachwirkungen von Die Stelle treibt keinen Mißbrauch mit ih-
Hafis' Poesie zu illustrieren, in ungewöhnlich rem Zitat, erst recht nicht, wenn man bedenkt,
komplizierten Wendungen. Wie im Winter daß die von Timurs Herrschaft aufgezehrten
1812 der Gouverneur Rostopschin Moskau in Seelen zwar keiner Fortschrittsidee von
Brand steckte, sieht der Divan-Dichter sich menschlicher Geschichte zum Opfer fielen, G.
von Hafis' Poesie entflammt. Er lebt auf gro- in der Verdichtung der Rosenblätter zur Quint-
ßem metaphorischen Fuß, als gelte es, in die essenz des Duftstoffs aber ganz offenbar einen
Fußtapfen des Kriegsgotts zu treten, der den Akt sublimer Steigerung sieht. So hat auch
Autor zu Erfurt in den Bann seines Charmes Hegel die letzten Verse aufgefaßt; in jenem
und seiner Absichten geschlagen hatte. Kapitel der Vorlesungen über die Philosophie
Das metaphorisch ausgreifende Verfahren der Religion, das von »der Bestimmung des
ist unverfänglich, wo es in einem weiteren der Menschen« handelt und über »die Einheit der
den Timur-Namen berufenden Divan-Ge- göttlichen und menschlichen Natur« nach-
dichte der Geliebten weinselig, weinbeflügelt sinnt, heißt es, den Sinn der Verse ins Höchst-
»Timurs Reiche« zum juwelenspendenden Bedeutende steigernd: »Der Schmerz, den das
Fundus an die Hand gibt: »Dir sollten Timurs Endliche in dieser seiner Aufhebung empfin-
Reiche dienen, / Gehorchen sein gebietend det, schmerzt nicht, da es sich dadurch zum
Heer, / Badakschan zollte dir Rubinen, / Tür- Moment in dem Prozeß des Göttlichen erhebt.
kisse das Hyrkanische Meer« (FA 1,3.1, S. 81). Sollte jene Qual uns quälen, / da sie unsre Lust
Wie wenig unverfänglich jenes Suleika-Ge- vermehrt?« (Hegel, S.273f.). Daß Marx das
dicht ist, das, indem es das Buch Timur ab- Zitat von Hegel nahm - Bruno Bauer hatte die
schließt, dem Kapitel die Schlußbeleuchtung Vorlesungen 1840 in Berlin ediert -, wird auch
gibt, wird an dem G.-Leser Karl Marx deut- durch die Wendung nahegelegt, in der Marx
lich, der in einem seiner prägnantesten Texte, fragt, ob »die Menschheit ihre Bestimmung«
Die britische Herrschaft in Indien betreffend erfüllen könne.
und 1853 in der New York Daily Tribune ver- Rhythmisch werden die beiden Timur-Ge-
öffentlicht, die Folgen der die indisch-einhei- dichte durch das gemeinsame Metrum, den
mische Industrie mit überlegenen technischen spanischen Trochäus, zusammengehalten, der
Mitteln zugrunde richtenden britischen Kolo- sich in ihnen von zwei verschiedenen Seiten
nialherrschaft ins Licht setzt und nicht umhin zeigt: episch-dramatisch in der Kriegsrats-
kann, diese von »schnödestem Eigennutz« an- szene, lyrisch-beschwingt in dem Liebesge-
getriebene Umwälzung unter dem Aspekt des dicht. Das fragmentarische Buch Timur in sei-
historischen Fortschritts zu bejahen. Nicht um ner bizarren Heterogenität zeigt sich aus zwei
die Stupidität des Plattmachens althergebrach- poetischen Vollkommenheiten gebildet. Der
ter Verhältnisse könne es zuletzt gehen: »Die seelenverzehrende Eroberer, den die Schluß-
Frage ist, ob die Menschheit ihre Bestimmung wendung des Rosenöl-Gedichts als Quintes-
erfüllen kann ohne radikale Revolutionierung senz-Bereiter aus dem Rohstoff Mensch nahe-
der sozialen Verhältnisse in Asien. Wenn nicht, legt, scheitert in dem Winter-Gedicht an dem
so war England, welche Verbrechen es auch geharnischten Einspruch der Natur. Doch
begangen haben mag, doch das unbewußte stellt die Reihenfolge der beiden Gedichte die
Werkzeug der Geschichte, indem es diese Re- kausale Abfolge auf den Kopf. In der Verklei-
volution zuwege brachte. Dann haben wir, so dung enthusiastischen Frauendienstes hat der
erschütternd das Schauspiel des Zerfalls einer Seelen-Verbrauch der Großrnonade das letzte
alten Welt ftir unser persönliches Empfinden Wort; mit leichter lyrischer Hand - nur so
auch sein mag, vor der Geschichte das Recht, konnte die versteckte Napoleon-Huldigung
404 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

scheinbar unverfänglich werden - schafft eine sion, »stellt sich als ein alles bezwingender
Metaphysik des Genialen, und damit eine Usurpator dar, der mit seinem Talent die Ge-
Apologie von Herrschaft, sich Raum. müther eben so beherrscht hat, wie Napoleon
In einem Gespräch, zu dem Wielands Tod die Körper« (Menzel, S. 225).
den Anlaß gab, hat G. im Januar 1813 dem »Napoleon hat ihm imponiert, der größte
Weimarer Schriftsteller und Philanthropen Jo- Verstand, den je die Welt gesehen«, notiert der
hannes Daniel Falk gegenüber seine beson- rheinische Freund, Sulpiz Boisseree, am 8.8.
dere Monadologie entwickelt. Sie ist vom Na- 1815 über ein Gespräch mit G.; drei Tage vor-
turrecht der großen Persönlichkeit durchdrun- her hatte es geheißen: »Alle entschiedenen
gen, aristokratisch in einem elementaren Naturen seien ihm glückbringend, so auch Na-
Sinn. »Ich nehme«, zieht G. den Jüngeren ins poleon«. Das wahre Glück, so zeigt sich am
Vertrauen, »verschiedene Klassen und Rang- Ausgang des bruchstückhaften Timur-Buches,
ordnungen der letzten Urbestandteile aller ist einzig bei der Geliebten.
Wesen an, gleichsam der Anfangspunkte aller
Erscheinungen in der Natur, die ich Seelen
nennen möchte, weil von ihnen die Beseelung Literatur:
des Ganzen ausgeht, oder noch lieber Mona- Bahr, Ehrhard: Die Ironie im Spätwerk Goethes.
den - lassen Sie uns immerhin diesen Leib- Berlin 1972. - Burdach, Konrad: Zur Entstehungsge-
nizischen Ausdruck beibehalten! [ ... ] Nun schichte des West-östlichen Divans. Drei Akademie-
sind einige von diesen Monaden oder An- vorträge. Hg. von Ernst Grumach. Berlin 1955. -
fangspunkten, wie uns die Erfahrung zeigt, so Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Werke. Band 17.
Frankfurt/M. 1986. - Marx, Karl/Engels, Friedrich:
klein, so geringfügig, daß sie sich höchstens
Ausgewählte Schriften. Band 1. Berlin 1985. - Men-
nur zu einem untergeordneten Dienst und Da- zel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Zweiter
sein eignen. Andere dagegen sind stark und Theil. Stuttgart 1828. Neudruck hg. von Eva Becker,
gewaltig. Die letzten pflegen daher alles, was Hildesheim 1981. - Müller, Joachim: Zu Goethes
sich ihnen naht, in ihren Kreis zu reißen und in Timur-Gedicht. In: ders.: Der Augenblick ist Ewig-
ein ihnen Angehöriges, das heißt in einen keit. Goethestudien. Leipzig 1960. - Pyritz, Hans:
Leib, in eine Pflanze, in ein Tier, oder noch Goethe-Studien. Köln und Graz 1962.
höher herauf, in einen Stern zu verwandeln. Friedrich Dieckmann
Sie setzen dies so lange fort, bis die kleine
oder große Welt, deren Intention geistig in
ihnen liegt, auch nach außen leiblich zum Vor-
schein kommt. Nur die letzten möchte ich ei-
gentlich Seelen nennen. Es folgt hieraus, daß
es Weltmonaden, Weltseelen, wie Ameisen-
Gingo biloba
monaden, Ameisenseelen gibt, und daß beide
in ihrem Ursprunge, wo nicht völlig eins, doch
im Urwesen verwandt sind« (Gespräche, Bd. 2, Das Gedicht ist auf einem Reinschriftblatt aus
2, S. 771f.) der Sammlung der Folioblätter in G.s eigener
In seinen Begegnungen mit Napoleon, der Handschrift (R) erhalten. Es trägt unten links
ihm, Weimar am 14.12. 1812 inkognito durch- das Datum »d. 15. S[eptember] 1815«; rechts
querend, noch bei seiner Winterflucht aus davon sind zwischen Datum und Gedichttext
Rußland einen Gruß zugewinkt hatte, muß G. zwei gepreßte Ginkgo-Blätter, das linke größer
eine tiefdringende Bekräftigung dieser Weit- und mit geringfügig stärkerer Einkerbung als
sicht erfahren haben. Ein Opponent aus der das rechte, in fast rechtwinkliger Stellung der
jungen Generation, der durch Feindseligkeit Stiele zueinander durch schmale Einschnitte
hellsichtige Wolfgang Menzel, hat die Bezo- im Papier auf dem Blatt befestigt. Damit
genheit deutlicher als andere erkannt. »Gö- scheint nicht nur das Entstehungsdatum auf
the«, schreibt er 1828 mit unverhohlener Aver- den Tag genau bekannt und die botanisch-mor-
Gingo biloba 405

Blatiformen
406 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

phologische Vorstellung anschaulich doku- 2. Über die Entstehungsumstände sind vor


mentiert, welche G. mit dem im Gedicht Ge- allem aus dem Umkreis von G. eine ganze
sagten verband, das Reinschriftblatt vermittelt Reihe von Zeugnissen überliefert; aber diese
gerade durch die Verbindung von Datum und sind entweder untereinander widersprüch-
naturkundlichem Realiengehalt einen beson- lich, oder sie lassen sich schwer mit den we-
ders hohen Grad an Authentizität. nigen Äußerungen G.s bzw. mit seiner Datie-
Indessen täuscht dieser Eindruck: Gesichert rung vereinbaren. Wie kaum um ein anderes
sind weder die Angabe des 15. September als Gedicht des Divan rankt sich um Gingo biloba
unzweideutiges Indiz fUr die Entstehung des und um damit verbundene, von G. überreichte
Gedichts in seiner Gänze an diesem Tag noch Gedenkblätter des Baumes ein eigentlicher Er-
der aus dem Datum zu folgernde Entstehungs- innerungs- und Memorabilienkult: Günther
ort Frankfurt noch die Frage einer oder meh- Debon hat errechnet, daß bei Berücksichti-
rerer Entstehungsphasen; schwankend sind gung aller Zeugnisse G. zwischen dem 15. und
auch das Genus der Titelpflanze: der oder die 27.9. 1815 in Gesprächen und geselligem Bei-
Gingo biloba, die Schreibweise: Ginkgo oder sammensein fUnfmal von der Motivik der Rät-
Gingo (nach dem Japanischen gin-kyo, Silber- seI frage in der Mittelstrophe: »Ist es Ein le-
Aprikose), ja selbst die Betonung der Artbe- bendig Wesen? / Das sich in sich selbst ge-
zeichnung ist ungesichert: biloba oder bil6ba; trennt, / Sind es zwey? die sich erlesen, / Daß
ersteres naturwissenschaftlich korrekt gemäß man sie als eines kennt« Gebrauch gemacht
der linneschen Spezifikation bi-Ioba fUr zwei- und dabei viermal ein Blatt von einem Ginkgo-
lappig, das zweite prosodisch-euphonisch an- Baum gepflückt und überreicht haben müßte
gezeigt, indem gingo bil6ba einen sog. Ado- (Debon, S. 231; Hultzsch, S. 51f.).
neus bildet, das elegische Klage-Metrum auf 3. Bei den Zeugnissen handelt es sich z. T.
Adonis, z.B. im Abgesang der sapphischen um später aufgezeichnete Erinnerungen oder
Strophe (am genauesten zu diesen und andern gar von Dritten berichtete Gespräche. Da die
Unsicherheiten und Fehlern in der Gingo bi- Erstausgabe des Divan seit 1819 vorlag, sind
loba-Literatur Debon, S.227-236; ferner »Interferenzeffekte« etwa von der Art nicht
Weitz 1983, S. 223-225). Und schließlich wis- auszuschließen, daß einzelne Gedanken oder
sen wir ebensowenig, ob die gepreßten zwei Wendungen aus dem Gedicht nachträglich als
Ginkgo-Blätter der Reinschrift noch die ur- solche des Gesprächs oder einer Äußerung G.s
sprünglichen sind; sie geben in ihrer geringen erinnert wurden. Deshalb können diese Zeu-
Differenz das ganz Besondere und Typische gen nur mit Vorbehalt zur Bestimmung von
des Baumes gerade nicht augenfällig wieder. terminus ante oder post quem des Gedichts
Die Schwierigkeiten in der zuverlässigen Er- oder von Teilen davon beigezogen werden.
mittlung der Entstehungsdaten, -umstände Eine erste Erwähnung zum Gedicht bzw. zu
und -geschichte lassen sich im wesentlichen dessen Motivik findet sich in Sulpiz Boisserees
auf drei Faktoren zurückfUhren: Tagebuch unter dem 15.9. 1815: »G hatte der
1. Das Reinschriftblatt galt lange als ver- Wilmer ein Blatt des Ginkho biloba als Sinn-
schollen. Bereits 1836 konnte es sich nicht bild der Freundschaft geschickt aus der Stadt.
mehr im Archiv befunden haben, und noch Man weiß nicht ob es eins, das sich in 2 teilt,
1965 berichtete Hans Albert Maier in der text- oder zwei die sich in eins verbinden. So war
kritischen Ausgabe des Divan, Besitzer und der Inhalt des Verses«. Das Gedicht gehört
Aufbewahrungsort seien unbekannt, nur eine demnach in jenen zweiten Sommer, da G. er-
Fotografie habe sich erhalten (Bd. 2, S. 289 u. neut nach Frankfurt reiste, nachdem sich im
Abb. 3). Einige Jahre danach meldete sich der ersten Jahr freundschaftliche Kontakte zu den
damalige Besitzer des Blattes zu Wort (AI- Willemers angebahnt hatten, die sich dann im
brecht, S.32-40 u. Abb. 16, S. XVII). Doch zweiten Jahr vertieften und die Liebesbegeg-
auch die wiederaufgetauchte Reinschrift hat nung zwischen G. und Marianne von Willemer
nicht alle Probleme gelöst. in sich schlossen. Die Zeit vom 12. August bis
Gingo biloba 407

zum 17. September verbrachten das Ehepaar begreifliches, gefälliges und angenehmes, ja
Willemer, Rosine Städel - die Tochter Wille- verständiges und liebenswürdiges vorauszu-
mers aus erster Ehe und Vertraute Mariannes setzen, weil man viel sichrer sey alsdann den
-, Sulpiz Boisseree und G. zumeist auf der rechten Sinn herauszufinden, oder hineinzu-
Gerbermühle bei Frankfurt. Am 18. September legen« (WA Iv, 26, S. 84f.). Gestützt auf diese
reiste G. mit Boisseree nach Heidelberg ab; und andere Zeugnisse hat Ernst Beutler die
der Abschied war, wenn nicht für immer, so These vertreten, das Gedicht sei in zwei Pha-
doch für diese Reise G.s, endgültig gedacht. sen entstanden: die Mittelstrophe in Frankfurt
Auf Veranlassung von Boisseree und ohne Vor- (wo G. sich vorübergehend vom 8. bis 15. Sep-
wissen G.s folgten ihnen dann aber die Wille- tember aufhielt) am oder kurz vor dem 15.
mers am 23. September nach, am 26. Septem- September, die erste und dritte Strophe so-
ber trennten sie sich in Heidelberg; danach dann in Heidelberg im Umfeld des Abschieds
sahen sich G. und Marianne nicht mehr. Tags von Marianne und der Gespräche mit Georg
darauf schreibt G. an Rosine Städel einen in Friedrich Creuzer am 26. und 27. September
vielem verrätselten Brief, gesiegelt mit dem (S. 248-285). Andere G.-Philologen argumen-
roten Siegel eines bekränzten Januskopfs, dar- tieren für Heidelberg oder Frankfurt als Ent-
über ein Vogel mit gebreiteten Schwingen, an stehungsort und -datum (Debon, S. 227-236).
den Seiten Füllhörner (Weitz 1965, S.602), Erstdruck, mit der Schreibung »Gingo« ge-
dessen Verschlüsselungscharakter und dessen genüber »Ginkgo« in der Reinschrift im Titel,
eigentliche Adressatin er selbst andeutet: sowie mit geringfügigen Interpunktionsvari-
»Hiermit nun [ ... ] überliefre ich Ihnen, mit anten gegenüber Reinschrift und oben zitierter
den sämmtlichen Geheimnißen der neuern Briefversion, in der Erstausgabe: West-oestli-
Philologie, auch meine eignen, zu beliebigem eher Divan. Stuttgard, in der Cottaischen
Privatgebrauch«. Dieser Schlußwendung vor- Buchhandlung 1819. - Textgrundlage ist im
angestellt ist das Gedicht, erstmals vollständig folgenden die Frankfurter Ausgabe (FA I, 3.1,
ausgeschrieben - sofern man dem Datum auf S.78f.).
dem Reinschriftblatt mißtraut, wenn auch
noch ohne Titel, und eingelassen in diesen Das Gedicht von drei Strophen zu jeweils vier
erläuternd-verschleiernd ironischen Kom- Versen in vierhebigen Trochäen (dazu Kayser,
mentar: »ist ersichtlich daß ich mit grundge- S. 79f.) thematisiert nicht sowohl Rätsel und
lehrten Leuten umgehe [dem Medizinprofes- Paradox qua rhetorische Figur und kleine Text-
sor Dr. Nägeli und Hofrat Creuzer, dem Philo- form, als es diese zugleich mimetisch selbst
logen und Mythenforscher; d. Vf.], welche durchläuft: Die erste Strophe gilt der Her-
sich zwar an dem was uns mit äusseren Sinnen stellung von Veranlassungs- und Situationsbe-
zu fassen erlaubt ist gerne ergötzen, zugleich zug in der wundernd fragenden Betrachtung
aber behaupten daß hinter jenen Annehmlich- des geheimnisvollen Blatts aus Osten; die
keiten sich noch ein tieferer Sinn verstecke; zweite formuliert das Paradox von Zweiheit
woraus ich, vielleicht zu voreilig schließe, daß und Einheit als Rätselfrage; die dritte vollzieht
man am besten thäte etwas ganz unverstänu- den situativen Rückbezug auf das Rätselspiel
liches zu schreiben, damit erst Freunde und von Frage/Antwort und die Auflösung. Das
Liebende einen wahren Sinn hineinzulegen letztere freilich nur scheinbar: Die (auf)lö-
völlige Freyheit hätten. / Da jedoch jenes be- sende Antwort wird zwar vom sprechenden Ich
kannte wunderliche Blat, durch seine prosai- in Aussicht gestellt: »Solche Frage zu erwie-
sche Auslegung einigen Antheil gewonnen; so dem / Fand ich wohl den rechten Sinn«
stehe hier die rhythmische Übersetzung : [es (V. 9f.), eingelöst wird sie aber in der Form
folgt das Gedicht; d. Vf.] Kaum als ich dieses einer erneuten Frage an das angesprochene
geschrieben erfreute mich eine lange Unter- Du, die vordergründig lediglich »rhetorisch«
redung mit Hofr. Kreuzer deren Resultat war: klingen mag, d.h., deren implizite Antwort
es sey am besten gethan etwas faßliches und evident und also gegeben scheint, in Wirklich-
408 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

keit indessen Aufschub und Neu-Verweisung nicht immer leicht herauszufinden. Den Glau-
ist, indem die paradoxale Doppelnatur des benden genügte das strikte Wortverständnis,
Blattes in die in den Liedern sich manifestie- den Wissenden ward der höhere Sinn in ge-
rende Doppelnatur des Dichters überführt und heimen Weihen aufgeschlossen« (Parthey,
damit de facto dem angesprochenen Du als S. 362). G. sei, so gibt Parthey 1871 den Erin-
neues Rätsel aufgetragen wird: »Fühlst du nerungsbericht Creuzers von 1820 wieder, und
nicht an meinen Liedern / Daß ich Eins und dies wird in der G.-Literatur immer wieder als
doppelt bin?« ry. 11 f.). Damit wird die Ver- erhärtetes Faktwn hingestellt, »auf diese Erör-
weisstruktur eines Analogon auf zwei Ebenen terungen mit regstem Eifer ein [gegangen], als
eingeführt, deren eine »Blatt« und »Lieder« sie gerade bei dem Gingo biloba stillstandenj
zusammenführt, während die andere »Blatt« er pflückte ein Blatt und sagte: >Also ungefähr
und sprechendes Ich verknüpft; diese beiden wie dieses Blatt: eins und doppelt!< Creuzer
Ebenen sind freilich nichts weniger denn klar fand den Vergleich sehr glücklich und erhielt
voneinander geschieden, obwohl sie gänzlich am andern Morgen das Blatt nebst dem beifol-
Verschiedenes meinen. genden Gedicht von G. zugesendet« (ebd.).
Auf der einen Ebene geht es wn den Doppel- Wie verbürgt das Anekdotische im einzelnen
charakter des Blatts (wie der Lieder bzw. der auch gelten mag, so schließen sich doch das
Poesie) in einem hermeneutisch-semiotischen Gespräch mit Creuzer über den »Doppelsinn«
Verweisungszusammenhang: »Dieses Bawn's im antiken Mythos, der Brief G.s an Rosine
Blatt [ ... ] / [ ... ] / Giebt geheimen Sinn zu Städel mit der wortspielerisch verrätseinden
kosten, / Wie's den Wissenden erbaut« Rekurrenz von »äußere Sinne«, »tieferer
ry. 1-4). Das Blatt trägt in sich die beiden Sinn«, »wahrer Sinn«, »rechter Sinn« mit dem
Aspekte von »Gebilde« und »Sinn-Gebilde«, Gedicht Gingo bi/oba und dem darin themati-
jene Zweiheit von Signifikant und Signifikat, sierten »geheimen Sinn« und »rechten Sinn«
in die jede Zeichengestalt zerfallt, die im derart zusammen, daß sie alle im Doppelcha-
»Symbol« als ausgezeichnetem Zeichen gemäß rakter des Ginkgo-Blattes als Phänomen und
G.s Verständnis jedoch letztlich wiederum in Symbol konvergieren. Gemeinsam ist ihnen
eins zusammenfällt: »die Sache, ohne die Sa- ferner der mit diesem Doppelcharakter ver-
che zu sein, und doch die Sache« (WA I, 49.1, bundene Hermetismus: Der wahre, tiefere,
S. 141). Es ist dieser Doppelcharaktervon rea- rechte Sinn erschließt sich nur den Wissenden
ler Sache und Symbol, über den eine Spur vom oder Eingeweihten, den Liebenden und
Ginkgo-Blatt zu jenem Gespräch mit Creuzer Freunden. Das Ginkgo-Blatt verdichtet sich
führt, worüber G. auch im Brief an Rosine damit zwn Schibboleth, zwn Losungszeichen,
Städel (27.9. 1815) unmittelbar im Anschluß in dem sich die Sprache des Mythos dem My-
an die Wiedergabe des Gedichts berichtet, stagogen, die Sprache der Natur dem Natur-
ohne allerdings den Bezug zwn Ginkgo-Blatt kundigen, die Sprache der Liebe den Lieben-
als Gesprächsgegenstand explizit herzustel- den sowohl verkörpert wie zugleich mitteilt
len. Dieser Bezug findet sich dagegen im Be- und die ihrer Kundigen untereinanderverbun-
richt Creuzers über das Gespräch, der freilich den werden.
seinerseits lediglich von einem Dritten, Gu- Zwischen dieser hermeneutisch-semioti-
stav Parthey, überliefert ist. Creuzer habe in schen Dimension, worin sich eine Dialektik
seinen Ausführungen über die »symbolische von Doppelung und Einheit des Ginkgo-Blat-
Deutung und Sinnigkeit der hellenischen my- tes qua Symbol entfaltet und worin sich das
thologischen Personen und Erzählungen« ver- Gedicht Gingo bi/oba mit einer Reihe von the-
sucht, G. »auseinanderzusetzen, wie jede hel- matisch verwandten Gedichten des Divan wie
lenische Gestalt doppelt anzusehen sei, weil Segenspfänder, Talismane, Offenbar Geheim-
hinter der bloßen Realität ein höheres Symbol n!J3, Wink, Geheimschrift etc. verbindet, und
verborgen liege. [ ... ] Dieser Doppelsinn sei der morphologisch-naturkundlichen Dimen-
allen antiken Mythen immanent, wenngleich sion, worin sich Doppelung und Einheit des
Gingo biloba 409

Blattes qua botanisches Phänomen präsentiert, haben das Eigene, daß sie sich in jüngeren
wird zumeist kaum unterschieden. In der Tat Jahren in der Gestalt zeigen wie sie Jacquin
verwischt auch G. selbst diese Differenz, denn [der Wiener Botaniker Joseph Franz Freiherr
nur so gelingt es ihm, die Liebessymbolik und von Jacquin; d. Vf.] hat abbilden lassen, wo
Liebesbotschaft der mittleren Strophe mit der ein Einschnitt in dem Fächer kaum angedeutet
Abschiedsbotschaft und der Signalisierung in- ist [Jacquin, S.9; d. Vf.]. Dieser Einschnitt
nerer Gespaltenheit der dritten Strophe inein- aber nimmt an späteren Zweigen zu, wie an
anderzuspielen und das Widersprüchliche in beiden Blättern unter dem dadurch veranlaß-
der Analogiebildung harmonistisch zu über- ten Gedicht zu sehen [gemeint sein muß das
spielen. Reinschriftblatt; d. Vf.], und zwar endlich der-
Das morphologische Phänomen, welches gestalt, daß es zwey Blätter zu seyn scheinen«.
dem Ginkgo-Blatt seinen Symbol-Status ver- Auffallend an dieser Erklärung G.s, wonach
leiht, ist in der zweiten Strophe beschrieben: sich die Blattform mit fortschreitendem Alter
Es ist die unentscheidbare Frage, ob das Blatt des Baumes von der ursprünglich fächerförmi-
im Begriff sei, zum Fächer zusammenzuwach- gen Ganzheit zur zunehmend zweilappigen
sen oder sich in ein zweilappiges aufzuspalten. Doppelgestalt entwickle, ist der in der G.-For-
In dieser Ununterscheidbarkeit repräsentiert schung bislang nicht wahrgenommene Tatbe-
das Blatt einen »prägnanten Moment«, die In- stand, daß sie nicht nur botanisch eindeutig
differenz des Übergangs, in dem jene funda- falsch ist (entgegen Rüdiger, S. 311), sondern
mentalen Naturprozesse a) ko-präsent sind auch in Widerspruch zu den Versen drei und
und b) sich der beobachtenden Anschauung vier der Mittelstrophe von Gingo biloba steht.
sichtbar darbieten, die G. in Maximen und Die Frage: »Sind es zwey? die sich erlesen [Hv.
Riflexionen so beschreibt: »Grundeigenschaft v. Verf.], / Daß man sie als eines kennt« ließe
der lebendigen Einheit: sich zu trennen, sich sich sinnvoll erweise gar nicht formulieren,
zu vereinen, sich in's Allgemeine zu ergehen, wenn die Blätter nur diese eine Tendenz der
im Besondern zu verharren, sich zu verwan- Spaltung als alterungsmäßigen Entwicklungs-
deln, sich zu specificieren [ ... ]. Weil nun alle prozeß aufwiesen. Wie man sich bei aufmerk-
diese Wirkungen im gleichen Zeitmoment zu- samer Beobachtung einiger Ginkgo-Species
gleich vorgehen, so kann alles und jedes zu von unterschiedlichen Lebensaltern schnell
gleicher Zeit eintreten. [ ... ] deßwegen denn selbst überzeugen kann, trifft dies jedoch ge-
auch das Besonderste [ ... ] als Bild und Gleich- rade nicht zu - ganz im Gegenteil: Es sind eher
niß des Allgemeinsten auftritt« (FA I, 13, junge Bäume oder die jüngern Triebe an Au-
S. 48). Diese Befähigung zur ko-präsenten Ver- ßenzweigen und Kronästen älterer Bäume,
anschaulichung einander polar entgegenge- welche zweilappig gespaltene Blätter tragen,
setzter Naturprozesse, welche das Ginkgo- während die älteren und ganz alten Bäume
Blatt in die Nähe eines »Urphänomens«, wie vorwiegend gefächerte Blätter aufweisen
des Magneten z.B., rückt, ist nur deshalb mög- (dazu auch Molisch, S. 9). Für die Symbolkon-
lich - und darin liegt auch die botanische Be- struktion in der Mittelstrophe des Gedichts
sonderheit des Ginkgo biloba -, weil der evo- entscheidend ist indessen, daß sich die Varie-
lutive Prozeß des sich Trennens bzw. Vereinens täten von gefächerten und zweilappigen Blät-
in beiden Richtungen zugleich an ein und tern gerade nicht eindeutig bipolaren Struk-
demselben Baum beobachtbar ist, d.h. im turen wie jüngeren/älteren oder auch weib-
gleichzeitigen Auftreten von nicht eingekerb- lichen/männlichen Pflanzen, nördlichen/süd-
ten fächerförmigen Blättern, solchen mit tie- lichen Standorten zuordnen lassen, wie dies
fen Einschnitten und allen Übergängen dazwi- fast durchgängig in der G.-Literatur zu finden
schen. Im Begleitschreiben zu einer Sendung ist. Entgegen der (falschen) Evolvierungsbe-
naturkundlicher Materialien an den Großher- hauptung im Brief an Carl August vom 10.3.
zog Carl August vom 10.3. 1820 beschreibt G. 1820 muß G. dies 1815 noch gewußt bzw. beob-
selbst das Blatt so: »Die Blätter des Baums achtet und gesehen haben, denn nur so konnte
410 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

das Blatt auch zwn Symbol der Liebesvereini- achtung verdienen bei diesem Gedicht indes-
gung und zwn Liebeswink für Marianne wer- sen andere Formen der Wirkungsgeschichte
den. Ein Grund für das spätere Vorwalten der und Rezeption, die z.T. außerhalb der Lite-
einlinigen Spaltungstheorie mag im Schluß ratur- und Geistesgeschichte im engem Sinne
des Gedichts liegen, auf den hin sich das dia- liegen. Hier ist einmal jene eingangs erwähnte
lektisch vollkommene Symbol-Bild des »prä- Erinnerungs- oder Gedenkkultur in zumeist
gnanten Moments« der Mittelstrophe ver- oraler bzw. indirekter Überlieferung, verbun-
schiebt und im letzten Vers zugleich verformt: den mit einem gewissen Memorabilienkult wn
»Daß ich Eins und doppelt bin?«. Dem Brief an das Ginkgo-Blatt und den Baum festzuhalten.
Rosine Städel am Tag nach der Trennung von Da baut sich in der realen Wirklichkeit jener
Marianne beigeschlossen, transportiert das Gedächtnisrawn von eingeweihten Wissens-
Gedicht und mit ihm das Ginkgo-Blatt nicht trägern wn das Symbol gewordene Blatt auf,
nur die Losung der Zusammengehörigkeit, den G. in der ersten Strophe überhaupt erst
sondern markiert im Verschiebungs vorgang poetisch initiiert hatte. Dabei lassen sich ein
auf den Schlußvers und das sprechende Ich hin weiterer und ein engerer Kreis unterscheiden:
expressiv, »Fühlst du nicht«, und apologetisch Den engem bilden die Personen im Umfeld
zugleich die äußere Trennung wie die innere der Gerbermühle- und Heidelberg-Episode
Zerrissenheit des sprechenden Ich. In dieser und dann vor allem Marianne von Willemer
Hinsicht verläuft Gingo bi/oba im Bewegungs- und G. selbst, in deren weiterem brieflichen
ablauf des Gedichts geradezu gegenläufig zu Umgang und selbst über G.s Tod hinaus Ge-
Wiederfinden, das zwei Tage zuvor entstand dicht, Blatt und Baum zwn Schibboleth ge-
und mit dem es sich in der Lebensrhythmik heimen Einverständnisses und zwn Ausgangs-
von Trennen/Vereinen sowie im Anklang an punkt weiterer Zeichenketten versteckter An-
den platonischen Liebesmythos der zusam- spielungen werden. Das sind z.B. der Brief
menstrebenden Hälften berührt: Steht dort die Marianne von Will emers an G. vom 23.7.
Bewegung des Auseinanderstrebens und des 1817, G.s Brief an sie vom 20.10.1823, Ma-
kosmischen Einsamkeitsempfindens zu Be- riannes Geburtstagsbriefzu G.s 75. Geburtstag
ginn und der Vereinigungswille am Ende des vom 25.8. 1824 mit der Gedichtbeilage Zu Hei-
Gedichts, so hier zuerst die in der Frage der delberg, ihr Bericht an G. vom 17.12. 1831
Mittelstrophe beschworene Vision und Evoka- über einen Besuch in Heidelberg. Noch 1860
tion einer klassisch vollkommenen Schwebe- findet sich eine solche Zeichenspur in Emilie
lage, gefolgt vom Vergleichsbild einer schein- Kellners Bericht über Mariannes letzten Be-
bar gleich strukturierten Subjektstruktur des such in Heidelberg, wo diese beim Gingko-
Ich, deren Analogie indessen nur noch rheto- Bawn auf dem Schloß stehengeblieben sei und
risch aufrechterhalten werden kann, während »dann leise zu mir [sagte; d. Vf.], mich bedeu-
das ganze Gewicht des letzten Wortes der Dop- tungsvoll ansehend: >Dies ist der Bawn, von
pelung bzw. Trennung gilt. welchem er mir damals ein Blatt brach und
schenkte und mir dann das Gedicht machte
Seiner hoch verknappten Zusammenziehung und zuschickte«< (S. 47f.). Zwn weiteren Kreis
von naturwissenschaftlichen, mythologischen gehört neben Creuzer etwa der Orientalist
und hermeneutischen Theorieelementen im Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, dessen
sinnfälligen Symbol des Blattes und ihrer Ver- Biograph Karl Alexander Freiherr von Reich-
bindung mit dem Liebesmotiv ist es zuzu- lin-Meldegg 1853 von der >>Verehrung der Fa-
schreiben, daß das Gedicht Gingo biloba in milie Paulus für unsern Dichter« berichtet, die
der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte G.s ein von G. hervorgehobenes Blatt »mit der
gern beispielhaft beigezogen wird, insbeson- Aufschrift bewahrte: >Ein Blatt, auf welches
dere wo es wn G. den Naturwissenschaftler, Goethe aufmerksam machte«< (S. 290). Diese
wn seine Poetologie des Symbols, um die Ge- weitere Gedenkkultur im Zeichen des Ginkgo
stalt des Dichters geht. Ganz besondere Be- biloba setzt sich bis in den 1981 in der DDR
Gingo biloba 411

gegründeten »Freundeskreis Ginkgo« fort, det sie die Symbolik von Zweiheit und Einheit
dessen Zielsetzung zwar primär der Kultur- mit der Überwindung der Teilung und der
pflege und Gartenkunde des Baumes galt, des- Wiedervereinigung der beiden Deutschland,
sen erste Arbeitstagung 1984 aber symptomati- indem sich vor dem Hintergrund zweier senk-
scherweise in Weimar stattfand und dem recht stehender, einander spiegelbildlich
Thema Ginkgo im Zusammenhang mit G. ge- überlappender Gingko-Blätter die drei Stro-
widmet war (Schmid u.a., S. 7). phen von G.s Gedicht in drei handgeschrie-
Über den engem und weitem G.-Kreis und benen Langzeilen in den Farben Schwarz, Rot,
die geistesgeschichtlich-literarische Wir- Gold über die beiden Blätter hinziehen (Helga
kungs- und Rezeptionsgeschichte hinaus dif- Schmoll, S.91). Mehr dem Lokalkolorit des
fundiert das Gedicht Gingo biloba indessen in Genius loci verhaftet ist demgegenüber die
weite Bereiche der Volkskultur, von Literatur, Verwendung des Motivs in 29 im Raum stehen-
Malerei, Musik und Kunsthandwerk bis hin in den stilisierten Gingko-Blättern in Verbindung
die neuere Pharmaindustrie, wobei in den mit dem Sonnenmotiv aus Faust II in Horst
meisten Fällen die G .sche Reminiszenz, der Gläskers Wand- und Brunnenmosaik in der
Form- und Symbolgehalt des Blatts und der Landeszentralbank Frankfurt/M. (1984-
Mythos des Baums bis hin zu seiner nachge- 1988), deren Bauherr ausdrücklich »einen Be-
wiesenen Heilkraft bei zerebralen Durchblu- zug des Geldinstituts zu G. als dem größten
tungsstörungen und Himleistungsschwäche Sohn der Stadt« gewünscht hatte (Josef Adolf
(Schmid u.a., S.23-32) ein kaum mehr auf- Schmoll, S. 130).
lösbares Amalgam eingehen: Im Volksmund
wird der Gingko biloba oft als »Goethe-Baum«
bezeichnet. Motivaufnahmen mit dem Doppel- Literatur:
bezug auf G. und den Baum finden sich in der Albrecht, Herbert: Über den Fächerblattbaum
Lyrik von Otto Crusius' Gedicht Die beiden (Ginkgo biloba). In: JbSK.3 (1974), S.32-40. -
Ginkoblätter bis zu Peter Härtlings An den Beutler, Ernst: Die Boisseree-Gespräche von 1815
Ginkgo vor der Tür, in der Prosa von Hans und die Entstehung des Gingo-biloba-Gedichts. In:
ders.: Essays um Goethe. Leipzig 1941, S. 248-285.
Francks biographisch-historischem Roman - Debon, Günther: Das Blatt von Osten: Gedanken
Marianne (1953) bis Peter Handkes Erwäh- zum Gingo-biloba Gedicht. In: Euphorion. 73
nung in versuch über den geglückten Tag (1979), S.227-236. - Göres, Jörn: Zwei verloren
(1991/94) (losef Adolf Schmoll, S. 124-126). geglaubte Autographen aus Goethes West-östlichem
Oft mit G.schen Anleihen verbunden war Divan. In: GoetheJb. 53 (1973), S.265-280. -
schon der »Ginkgoismus«, d.h. die häufige Hultzsch, Erasmus: Goethe und die Ginkgobäume
seinerZeit. In: Schmid, Maria u.a. (Hg.), S. 49-54.-
Verwendung des Blattmotivs in Ornamentik
Jacquin, Joseph Franz Freiherr von: Über den
und Malerei zur Zeit des deutschen Jugend- Gingko. Aus den Jahrbüchern der Medicin für den
stils, während der Bezug auf G. verständli- Österreichischen Kaiserstaat. Wien 1819. - Kayser,
cherweise im französischen Japonismus des Wolfgang: Beobachtungen zur Verskunst des West-
Art Nouveau fehlt, und zu einer erneuten Re- östlichen Divans. In: PEGS.23 (1954), S.74-96. -
naissance kam es nach Hiroshima, wo der Kellner, Emilie: Goethe und das Urbild seiner Su-
leika. Leipzig 1876. - Maier, Hans Albert (Hg.):
Baum zum Überlebenssymbol und zum Symbol
West-östlicher Divan. Kritische Ausgabe der Ge-
einer Verbindung von Ost und West wurde (Jo- dichte mit textgeschichtlichem Kommentar von
sef Adolf Schmoll, S. 126f.). Eine ganz eigene Hans Albert Maier. 2 Bde. Tübingen 1965. - Moliseh,
»west-östliche Synthese« auf verschiedensten Hans: Marianne v. Willemer, Goethe und der Ginko-
Ebenen findet sich bei der in Deutschland le- baum. In: ChrWGV. 36 (1930), S.9-11. - Parthey,
benden japanischen Malerin und Graphikerin Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Privatdruck.
1871. - Reichlin-Meldegg, Karl Alexander Freiherr
Atsuko Kato, in deren Oeuvre das Gingo-Motiv von: Heinrich Eberhard Gottlob Paulus und seine
und der Bezug aufG. eine herausragende Rolle Zeit. Bd. 2. Stuttgart 1853. - Richter, Karl: Lyrik und
spielen: In Ginkgo biloba-2 (Japanische Tu- Naturwissenschaft in Goethes West-östlichem Divan.
sche und Pastell kreide) von 1991 z.B. verbin- In: Etudes germaniques. 38, No. 1 (1983), S. 84-101.
412 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

- Rüdiger, Horst: Pflanzensymbole in Goethes Di- lologie, Etymologie, Symboltheorien usw. von
van. In: Berger, Willi R. u.a. (Hg.): Goethe und Bedeutung zu sein. Von hier aus kann das
Europa. Essays und Aufsätze 1944-1983. Berlin,
Thema der Metamorphose des Lebens in lite-
New York 1990, S.300-313. - Schmid, Maria u.a.
(Hg.): Ginkgo. Ur-Baum und Arzneipflanze - My- rarische Schönschrift und die damit verbun-
thos, Dichtung und Kunst. Stuttgart 1994. - Schmoll dene Chiffrierung von Sinn eine entschiedene
gen. Eisenwerth, Helga: Zum Ginkgo-Motiv bei At- Richtung auf die Bedeutungsfunktion und die
suko Kato: West-östliche Synthesen. In: Schmid, rhetorische Eigendynamik der literarischen
Maria u.a. (Hg.), S.89-96. - Schmoll gen. Eisen- Schrift nehmen. Das auf den gleichen Tag da-
werth, Josef Adolf: Ginkgo biloba in Dichtung und
tierte Divan-Gedicht Geheimschrift stützt
bildender Kunst der Moderne. In: Schmid, Maria
u.a. (Hg.), S. 123-135. - Schnack, Friedrich: Gingko diese Vennutung. Hinzu kommt für Die schön
biloba. In: Goethe-Kalender. 33 (1940), S. 103-113. geschriebenen die letztlich auf ein religiöses
- Weitz, Hans-Joachim (Hg.): Marianne und Johann Bilderverbot zurückgehende orientalische
Jakob Willemer. Briefwechsel mit Goethe. Doku- Tradition einer filigranen Kalligraphie, die G.
mente, Lebenschronik, Erläuterungen. Frankfurt/ in diesem Gedicht auf ihre spannungsvolle Be-
M. 1965. - Ders.: Späte Berichtigung. In: Eupho-
ziehung zu Bedeutungsfragen prüft. Es ist
rion. 77 (1983), S. 223-225.
überliefert, daß G. sich an eben diesem Tag in
Michael Böhler arabischer Schönschrift geübt hat (vgl. WA I, 6,
S.325).
Handschriftlich ist das Gedicht auf einem
zweiseitig beschriebenen Blatt des Divan-
Konvoluts, der Original-Reinschrift (R), mit
dem Datum »Heidelberg, den 21.9. 1815«
überliefert. Der Erstdruck erfolgte in der er-
Die schön geschriebenen sten Einzelausgabe des Divan von 1819 bei
Cotta in Stuttgart. Die Ausgabe letzter Hand
und die Weimarer Ausgabe weisen nur gering-
Nach dem Sieg der Alliierten über die franzö- fügige Korrekturen auf. Das Gedicht wird im
sischen Truppen Napoleons Ende des Jahres folgenden nach der Frankfurter Ausgabe zi-
1813 unternahm G. nach sehr langer Zeit im tiert, und zwar in der Version des Erstdrucks
Sommer 1814 seine erste Reise in das heimat- (FA 1,3.1, S. 82ff.).
liche Rhein-Main-Gebiet. Im folgenden Jahr,
am 24.5. 1815, beginnt er eine zweite längere Die schön geschriebenen fügt sich der dialogi-
Reise, die ihn u.a. erneut nach Heidelberg schen Rhetorik des Buches Suleika, dem ach-
führt. Dort entsteht das titellose, nach seinem ten des Divan, ein, die von der Wechselrede
Incipit Die schön geschriebenen benannte Ge- persischer Liebeslyrik inspiriert ist und an den
dicht des West-östlichen Divan. G. selbst hat es Wechsel des frühen Minnesangs erinnert. Der
auf den 21.9. 1815 datiert. Biographisch be- Sprecher Hatem bezieht sich hier zurück auf
trachtet, gehört es in den Zusammenhang der Suleikas leicht ironische, eifersüchtige Rede:
erotischen Beziehung des älteren G. zur erheb- »Schöngeschrieben, deine Hand, / Prachtge-
lich jüngeren Marianne von Willemer. Den bunden, goldgerändet, / Bis auf Punkt und
drohenden Verwicklungen entzog sich G., in- Strich vollendet« (FA I, 3.1, S. 79). Hatem be-
dem er am 7. Oktober überraschend abreiste. tont den Wert seiner »dichtrisehen Perlen«
Neben den einschlägigen Quellen, die den (ebd., S. 83) gegenüber den weltlichen Gütern
gesamten Divan betreffen und z.T. von G. der Könige und beruhigt seine Geliebte damit,
selbst in den Noten und Abhandlungen aufge- daß sie keiner anderen als ihr vorbehalten
führt sind, scheint für die Entstehung dieses seien. Einen ganz anderen Vorzug der zu poeti-
Gedichts der Heidelberger Gesprächskreis mit schen Blättern verwandelten Liebe spielt G.
Johann Heinrich Voß, Heinrich Eberhard Gott- als literarische Dauer gegenüber dem flüch-
lob Paulus, Georg Friedrich Creuzer über Phi- tigen Augenblick des erotischen Erlebens aus.
Die schön geschriebenen 413

Die schriftgewordene Liebe behauptet sich als dritten Strophe intoniert die Metamorphose
Figur der Distanz, die das tatsächliche eroti- von Leben in Schrift, wenn »die Freud' am
sche »Ballspiel« (»Freude des Daseyns«; V. 12) Daseyn [Hv. v. Vf.]« der »Freude des Daseyns
reflexiv steigert (»Größer die Freud' am Da- [Hv. v. Vf.]« vorgezogen, Unmittelbarkeit also
seyn«; V. 13) und mit der Möglichkeit ausstat- von einer Figur der Reflexion und Distanz
tet, aus der Feme beliebig wiederholt werden überlagert wird. Im gleichen distanzierenden
zu können. Gestus taucht das lyrisch-erotische Ich als »ge-
Zu den voranstehenden und den folgenden widmetes Ich« (Y. 20) auf, das Ich gewisserma-
gereimten Vierzeilern bezeichnet dieses Ge- ßen in seiner metaphorischen Schrift-Fas-
dicht in formaler Hinsicht einen scharfen Ein- sung.
schnitt. Die reimlosen, in freien Rhythmen Gegen die Lücke der Trennung zieht die
gehaltenen Verse und die stark akzentuieren- abschließende fünfte Strophe, bildlich gespro-
den Vert>tellungen in der Syntax rufen den er- chen, »Dichtrisehe Perlen«, »zierlich gelesen
habenen Grundton der Hymnen aus den [Hv. v. Vf.]« (Y. 31/37) auf die poetische
1770er Jahren in Erinnerung. Anders als dort »Schnur« (Y. 27), von der vorher die Rede war,
findet sich das genialische Pathos hier, 40 versetzt sie mit »juwelenem Goldschmuck«
Jahre später, auf eine heitere Stillage abge- (Y. 38f.) und formt sie zum in sich vollendeten
mildert und vor allem elegisch versetzt. Zum Zirkel einer Halskette. Sie schließt nicht nur
einen ist die elegische Verschiebung natürlich den Kreis zur Geliebten, sondern auch den
im fortgeschrittenen Alter der männlichen Zirkel des Gedichts, indem sie auf die »schön
Liebesrolle begründet, G.s und seiner poeti- geschriebenen« und »herrlich umgüldeten
schen Transformation Hatem gleichermaßen. [ ... ] Blätter« (Y. 1~4) des Anfangs zurück-
Der tieferliegende Grund für die elegische kommt. Die Halskette aus poetischen Perlen
Verschiebung führt direkt ins poetologische und Edelsteinen zitiert auch jene aurea catena,
Zentrum dieses Gedichtes und des Divan ins- die die Sublimation und Spiritualisierung des
gesamt. Er betrifft die Metamorphose und Körpers und den Kreislauf der Seele im Neu-
Sublimation des Lebens, der Liebe in die kalli- platonismus symbolisiert. G. selbst hat sie
graphischen Züge der poetischen Schrift, die wiederholt, u.a. in den Wahlverwandtschaf-
Verwandlung der, wie es andernorts heißt, ten, als Symbol sublimierter Liebe, des »furor
»Fünf der Sinne« in den entscheidenden »Ei- amoris« im Sinne Marsilio Ficinos, verwendet.
nen Sinn für alle diese« (FA I, 3.1, S. 132f.) in G. favorisiert hier ein mediales Verständnis
der Kunst. von Poesie als sublimer Substanz der Liebe,
Die dritte Strophe pointiert in der Metapher die von allem Körperlichen und Zufälligen
eines Ballspiels, die aus der persischen Poesie »gereinigt« ist. Diese poetische Substanz
geläufig ist, die erotische Begegnung mit der weckt Assoziationen an das alchemistische Eli-
Geliebten als »Augenblick« (Y. 21) des erlebten xier' das ebenfalls die Vergeistigung des Prak-
Liebesglücks und konfrontiert sie sofort mit tikanten und die spirituelle Vereinigung der
ihrer Flüchtigkeit und der Dauer der Tren- Geschlechter ermöglicht. Das Buch Suläka zi-
nung. Die vierte Strophe beginnt mit der tiert die alchemistische Vereinigung mehrfach
»Tage« und >,Jahre« (Y. 24f.) dauernden Tren- in der geläufigen Metaphorik einer »Umklam-
nung, der realen Lücke, die nurmehr durch merung« von Sonne (Geliebter) und Mond
den poetischen Faden des Erinnerungs-Textes (Geliebte) (vgl. FA I, 3.1, S. 79). Wiederum
im imaginären »Glück« (Y. 27) gefullt werden metaphorisch bezogen auf die Fähigkeit der
kann. Die »tausendfältige [ ... ] Fülle« (Y. 26) Poesie, das Bild der Geliebten zu halluzinie-
des erotischen Ballspiels verschiebt sich zur ren, taucht diese alchemistische Substanz im
Metapher der »tausendfadigen« poetischen Gedicht An Suleika (FA I, 3.1, S.71) als Ro-
»Schnur meines Glücks« (Y. 27), aus dem das senöl auf, verschlossen in einer Parfümfla-
Gewebe, die Textur der Liebespoesie »ge- sche, die die Geliebte ganz buchstäblich als
klöpplet« (Y. 28) ist. Bereits der Anfang der sinnlichen Geruchseindruck konserviert und
414 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806~1819

gelegentlich freigibt. Nebenbei bemerkt ist zu füllen. Ausgehend von diesem biographi-
der Geruchssinn auch in Die schö'n geschrie- schen Interesse ließ sich earl Becker 1952 in
benen präsent. Die irritierende zweite Stro- wenigen Sätzen auch auf das Thema der Kalli-
phe, die sich schon durch ihre Kürze von den graphie ein. Unter gleichem Gesichtspunkt
übrigen abhebt, stört den erhabenen »Wohl- wertet Max Rychner das Gedicht als Höhe-
geruch« cv.
10) dieses Gedichtes durch eine punkt des achten Buches, ohne dies allerdings
profane Semantik, die ein ordinäres Stinken näher zu begründen (S.88). Gegenüber der
und Mundartliches vereint. biographischen Perspektive ging 1965 Inge-
G.s Liebesgedicht spiegelt auf der fiktiven borg Hillmann auf Distanz und betonte ausge-
Darstellungsebene eine 'tatsächliche' eroti- hend von einem Modell der »Kunstwerdung
sche Vereinigung vor und dementiert diese im des gelebten Lebens« (S. 91) die poetologische
gleichen Zug wieder, wenn es sie gegen die und selbstreflexive Dimension dieses Gedich-
Vorzüge poetischer Imagination ausspielt. Ge- tes und des Divan insgesamt. Den stark poeto-
mäß der programmatischen Formel des Ge- logischen bzw. auch rhetorischen Aspekt be-
dichts Gingo biloba (FA I, 3.1, S. 79), »daß ich stätigen des weiteren die Arbeiten von Erhard
Eins und doppelt bin«, bleibt Die schö'n ge- Bahr (1972), Gisela Henckmann (1975), Mo-
schriebenen einer grundlegenden Differenz nika Lemmel (1987) und vor allem Hannelore
von Mimesis und sprachlicher Eigendynamik Schlaffer (1984), die den Divan als implizite
verpflichtet. Es stellt den Augenblick erlebten »Theorie der Lyrik« (S. 219) und als Muster-
Liebesglücks dar und läßt ihn hinter der poeti- fall einer »Selbsterzeugung von Sprache«
schen Schrift als Substitution der Geliebten (S. 223) liest.
verblassen, deren Gestalt der poetisch Lie-
bende in der Signatur der Poesie ebenso liest
wie in der Schrift der Natur, von der das letzte Literatur:
Gedicht des Buches Suleika spricht. Die Poesie Bahr, Erhard: Die Ironie im Spätwerk Goethes
stellt nicht einfach Liebe dar, sondern sie ist ' ... diese sehr ernsten Scherze ... '. Studien zum
die zu Schrift kondensierte Liebe, die die Prä- West-östlichen Divan, zu den Wanderjahren und zu
senz des erfüllten Augenblicks in der Dauer Faust 11. Berlin 1972. ~ Becker, earl: Das Buch Su-
und distanzierten Wiederholbarkeit des Ge- leika als Zyklus. In: Varia Variorwn. Fs. Karl Rein-
dichts aufhebt. Gegen den »verödeten Strand« hardt. Münster, Köln 1952, S.225-252. - Henck-
cv.35) des Lebens hält G. seine lebendige,
mann, Gisela: Gespräch und Geselligkeit in Goethes
West-östlichem Divan. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz
poetische Imagination, auf deren Kunstfertig- 1975. - Hillmann, Ingeborg: Dichtung als Gegen-
keit und Kalligraphie er ebenso besteht wie auf stand der Dichtung. Untersuchungen zum Problem
ihrer organischen Natur als einer »Perle«, die der Einheit des West-Östlichen Divan. Bonn 1965. -
wie die »Regentropfen Allahs« in einer »Mu- Lemmel, Monika: Poetologie in Goethes West-öst-
schel« cv. 42f.) gewachsen ist. lichem Divan. Heidelberg 1987. ~ Rychner, Max:
Goethes West-östlicher Divan. In: ders.: Antworten.
Zürich 1961, S. 64-101. ~ Schlaffer, Hannelore: Ge-
Eine eigene Rezeptionsgeschichte von Die dichtete Theorie - Die »Noten und Abhandlungen«
schö'n geschriebenen läßt sich kaum ausma- des West-östlichen Divan. In: GoetheJb. 101 (1984),
chen. Sie beschreibt genau die Konjunktur des S.218-233.
gesamten Divan von anfänglicher Irritation DetlifKremer
und Ratlosigkeit und schließlich seit dem
Ende des 19. Jhs. wachsendem Interesse. Her-
man Grimms Veröffentlichung aus dem Jahre
1869 Goethe und Suleika ermöglichte das in
der G.-Forschung beliebte und produktive
Spiel von Erlebnis und Dichtung, das es er-
laubte, Suleika mit Mariann~ von Willemer zu
identifizieren, das Buch Suleika mit ,Leben (
Hochbild 415

Hochbild nem Geschehen berichtet, das erst in der letz-


ten Strophe auf das persönliche Erleben und
die Erfahrung des lyrischen Ich bezogen wird.
Niedergeschrieben in Weimar, am 7.11. 1815, Besonderes Kennzeichen dieser Darstellung
gehört Hochbild mit dem am gleichen Tag ent- ist das Ineinander der verschiedenen Ebenen,
standenen Gedicht Nachklang zu den letzten auf denen das zentrale Ereignis erzählt wird:
großen Liebesgedichten des Buchs Suleika im Der Bericht über das Geschehen zwischen Lie-
West-östlichen Divan, deren Entstehung in di- bendem und Geliebter wird einerseits als Er-
rektem Zusammenhang mit G.s letzter Begeg- scheinung im Bereich der Natur geschildert
nung mit Marianne von Willemer im Spät- und andererseits als mythologische Erzählung
sommer dieses Jahres zu sehen ist. Mehrere inszeniert.
Wochen hatte er im Laufe dieses Sommers im Mit der Nennung des Naturphänomens setzt
Hause der Willemers in Frankfurt verbracht; das Gedicht ein, die Sonne wird als Protago-
zu einem überraschenden Wiedersehen mit nist der Handlung vorgestellt. In der direkt
den Freunden kam es nach G.s Abreise noch nachgestellten Apposition »Helios der Grie-
einmal in Heidelberg, wohin ihm Willemer chen« wird dann sofort eine mögliche mytho-
und seine Frau nachgereist waren. Bald nach logische Deutung dieses Himmelskörpers an-
der Rückkehr entstanden in Weimar noch ei- geboten, die jedoch - zumal in der orientali-
nige Divan-Gedichte, die auf sehr unter- schen Welt des Divan - ohne absoluten Gültig-
schiedliche Weise die Trennung von der Ge- keitsanspruch bleibt. Entscheidend für den
liebten gestalten, darunter Hochbild und UJll- Fortgang und das Funktionieren des Gedichts
mondnacht. In der Reinschrift trägt Hochbild ist dabei die durch die Nennung von Helios
noch keine Überschrift; Erstdruck im Buch Su- erreichte Transposition der Sonne ins Männ-
leika des Divan von 1819. Im folgenden wird liche sowie die Evokation der mit der Vor-
nach der Frankfurter Ausgabe (FA I, 5.1, stellung des griechischen Sonnengotts verbun-
S. 94f.) zitiert. denen Eigenschaften des Wagenlenkers, der in
Das Gedicht Hochbild, das des Dichters Ver- seinem von feUrigen Rossen gezogenen strah-
hältnis zur Geliebten zugleich ins Mythologi- lenden Wagen täglich den Himmel von Ost
sche und ins Naturgesetzliehe überhöht, nach West durchmißt.
wurde immer wieder als »Allegorie des auf Mit der zweiten Strophe wird das Gesche-
Unvereinbarkeit und ewige Resignation ge- hen zunächst auf der Ebene der mythologi-
stellten Verhältnisses Goethes und Marian- schen Erzählung fortgesetzt - »Er sieht die
nens« (Burdach, S.396) gedeutet. Die sechs schönste Göttinn weinen« -, um die »Wolken-
Kreuzreimstrophen aus vierhebigen Jamben tochter, Himmelskind« in den wiederum fol-
mit wechselnd klingenden und stumpfen Ka- genden Appositionen auch als natürliche Er-
denzen erinnern nur noch von ferne an die scheinung zu deuten: Diese Umschreibungen
ebenfalls vierhebigen Kreuzreime der für das der »schönsten Göttinn« zielen nämlich nicht
Buch Suleika charakteristischen liedhaften etwa auf genealogische Vorstellungen griechi-
und zumeist dipodischen Trochäen. Der vier- scher Mythologie, sondern auf die Herkunft
hebige Jambus dagegen wird hier als Metrum des Naturphänomens Regen aus der Wolke, ja
»für nachdenklich reflektierende Verse« einge- allgemeiner vom Himmel. Die Verbindung des
setzt, »die nicht aus der Beglückung des Au- meteorologischen und mythologischen Be-
genblicks gesprochen werden, sondern aus reichs wird auch im Folgenden weitergeführt:
dem Schmerz über die Trennung, über die Un- mit der Ineinandersetzung vom »Scheinen«
erreichbarkeit der Geliebten oder aus reflek- der Sonne (V. 7) und dem »Blick« (V. 4, V. 15)
tierender Nachschau des Erlebten« (Helm, des liebenden Gottes, mit dem sowohl als me-
S.92). Dem distanziert-nachdenklichen Ton teorologisches Phänomen wie als Seelenzu-
entspricht der Gleichnischarakter dieses Ge- stand lesbaren Wort »Schauer« und in der me-
dichts, das in fünf Strophen zunächst von ei- taphorischen Verknüpfung der Tränen derwei-
416 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

nenden Göttin mit den Tropfen der Regen- Der Titel des Gedichts läßt sich sowohl auf
wolke. das hoch oben am Himmel zu beobachtende
Höhepunkt und zentrales Zeichen des Ge- Phänomen des Regenbogens als auch auf die
dichts aber ist der Regenbogen, der für G. Erhöhung der Liebes- und Trennungserfah-
nicht nur als meteorologische Erscheinung, rung in der poetischen Gestaltung beziehen.
sondern vor allem als Farbphänomen von be- Die das Licht widerspiegelnden »Perlen«, die
sonderer Bedeutung war. Als Zeichen der Ver- hier gleichermaßen als Metapher für die Trä-
söhnung war G. der Regenbogen schon aus nen der Göttin und die Tropfen der Wolke
dem Alten Testament vertraut; als Farberschei- eingesetzt werden, verweisen auch auf einen
nung ist er dem Naturwissenschaftler G. Sym- poetologischen, den ganzen Divan durchzie-
bol des zwischen den gegensätzlichen Polen henden, schon bei Hafis vorgegebenen Bildbe-
Licht und Finsternis im Medium der Trübe reich, in dem die Perle als Metapher für das
entstehenden Bereiches, in dessen »Abglanz« ästhetisch gestaltete Gebilde, für das lyrische
allein dem Menschen Absolutes zugänglich ist Gedicht, eingesetzt wird. Ergebnis und Ge-
(Faust 11, V. 4715-4727). winn der Begegnung zwischen Hatem und Su-
So ist G. der aus der Begegnung von Trübe leika sind eben die im Divan aneinanderge-
und Licht, von Regentropfen und Sonnen- reihten »dichtrisehen Perlen« (Die schön ge-
schein entstehende Regenbogen im allgemei- schriebenen; FA 1,3.1, S. 82-84), deren Entste-
nen ein Zeichen der Versöhnung und Vermitt- hung gerade durch die schicksalhafte
lung zwischen entgegengesetzten Sphären und Trennung beider bedingt ist - so wie der auf
im besonderen ein Symbol ästhetischer Phä- dunklem Grund leuchtende Regenbogen nicht
nomene. das Resultat einer dauernden Vermischung von
Auch in dem Gedicht Hochbild wird diese Sonne und Regenwolke ist, sondern einem
Deutung nahegelegt: Es ist der Bereich der Moment glücklichen Gegenübers der bei den
Dichtung, in dem die schicksalhafte Trennung sein gesteigertes Dasein verdankt. Daß dieses
der Liebenden in einer höheren Vereinigung Zeichen der Vermittlung und des Bundes im
überwunden werden kann. Die zentrale Rolle Gedicht Hochbild nicht für eine dauerhafte
des Regenbogens in diesem Gedicht hat in der Vereinigung der Liebenden stehen kann, son-
Kommentartradition immer wieder Anlaß ge- dern ihre grundsätzliche Getrenntheit voraus-
geben, die Geliebte des Sonnengottes selbst setzt, wird in der letzten Zeile der fünften
mit Iris, der griechischen Göttin des Regenbo- Strophe deutlich, auf die die Schilderung des
gens, gleichzusetzen. Für die hier durchge- Geschehens zuläuft, um dann abzubrechen.
führte Gleichnisrede aber ist es entscheidend, Drei kurze Kola aus fast ausschließlich ein-
daß der Regenbogen Resultat der liebenden silbigen Worten geben dem vergeblichen Ver-
Begegnung, nicht aber mit einem der beiden such des Liebenden Ausdruck, die Geliebte zu
Liebenden selbst identisch ist (Ihekweazu, erreichen: »Doch er! doch ach! erreicht sie
S. 295). Andererseits bleibt festzuhalten, daß nicht«.
in der Gestalt der »Wolkentochter« mit dem Das Gedicht Hochbild selbst gibt ein Bei-
Bereich der Trübe - dem die Wolke oder der spiel für das in ihm geschilderte Geschehen
Regen vom Farbenlehrer zugerechnet werden und stellt gleichzeitig sein eigenes Prinzip in
- gerade nicht der Gegenpol zum Licht, son- Frage: Die poetische Überhöhung wird in den
dern das Medium der Vermittlung von Licht letzten Versen des Gedichts wieder ins Kon-
und Finsternis zum Bild der Geliebten gewählt junktivische zurückgenommen: »Und wär' ich
ist. Die so unterschiedliche Bereiche wie My- Helios der große«; der resignative Ausklang -
thologie und Psychologie, Meteorologie und der dichterische Vergleich mit dem griechi-
Farbenlehre in-eins-setzende Gleichnisrede schen Sonnengott oder der Sonne hilft nicht
dieses Gedichts widersetzt sich einer einfa- angesichts der Erfahrung der Trennung - wird
chen Übersetzung ins eigentlich Gemeinte; die in dem am gleichen Tag entstandenen und
Bilder changieren. auch im Buch Suleika direkt folgenden Ge-
Hochbild 417

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"Hochbild" (Reinschrift)
418 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

dicht Nachklang aufgenommen und weiterge- somit im poetischen Medium der Divan-Dich-
führt. tung ab, wozu neben G.s eigenen Gedichten
und jenen von Marianne freilich auch jene
reizvoll verrätseIte Form des Zwiegesprächs in
Literatur: Chiffren-Gedichten gehört, in denen Mari-
Atkins, Stuart : Zum besseren Verständnis einiger anne und G. mit numeriertem Zeilenmaterial
Gedichte des West-ästlichen Divan. In: Euphorion. aus Joseph von Hammers Diwan-Übersetzung
59 (1965), S.178-206. - Burdach, Konrad (Hg.): des Hafis Botschaften austauschten, was G.
West-ästlicher Divan. Stuttgart, Berlin 1905 (= JA 5). wiederum im Gedicht Geheimschrift (FA I, 3.1,
- Helm, Katrin: Goethes Verskunst im West-östlichen S.98) thematisiert. Daß die biographischen
Divan. Göttingen 1955. - Ihekweazu, Edith: Goet-
Geschehnisse nicht ohne Zugriff auf die Dich-
hes West-östlicher Divan. Untersuchungen zur Struk-
tur des lyrischen Zyklus. Hamburg 1971. - Staiger, tung erschlossen werden können - womit wie-
Emil: Goethe und das Licht. In: Vier Vorträge zum derum die Deutung der Dichtung aus dem Er-
Goethe-Jahr 1982. München 1982, S. 7-88. lebten heraus problematisch wird -, konze-
Anne Bohnenkamp diert selbst Hans Pyritz, der sich in der Rekon-
struktion des »Liebesromans« (Korff, S.40)
bzw. des »psychologischen Romans« (Böck-
mann, S.207) wohl am weitesten vorgewagt
hat: >>Von dem entrückten Spiel aber, das jetzt
zwischen Goethe und Marianne anhebt wie
zwischen bewußtlos Wandelnden und doch auf
Wiederfinden einer Stufe der höchsten geistigen Klarheit
sich vollzieht - von ihm legt allein der Divan,
und in leisen Nachklängen der spätere Brief-
Wiedeifinden entstand am 24.9. 1815 in Hei- wechsel Zeugnis ab« (Pyritz, S.34). Am 18.
delberg. Einen Tag zuvor waren die Willemers September reiste G. mit Boisseree aus Frank-
- d.i. Johann Jakob von Willemer, seine Toch- furt Richtung Heidelberg ab, um dort mit dem
ter Rosette und seine Gattin Marianne, die Herzog Carl August zusammenzutreffen; der
Suleika des Divan - für G. völlig überraschend Abschied war - wenn nicht für immer, so doch
aus Frankfurt herreisend in Heidelberg einge- für diese Reise - endgültig gedacht. Auf Ver-
troffen. Es war der zweite Sommer, den G. in anlassung von Boisseree und ohne Wissen G.s
Frankfurt verbracht hatte, wo sich im ersten folgten ihnen indessen die Willemers am 23.
Jahr freundschaftliche Kontakte zu den Wille- September nach; auf der Reise entstand Ma-
mers anbahnten, die sich dann im zweiten Jahr riannes berühmtes Gedicht ffas bedeutet die
vertieften und die Liebesbegegnung zwischen Bewegung?Über das Wiedersehen, dessen un-
G. und Marianne in sich schlossen. Die Zeit mittelbarer poetischer Niederschlag Wieder-
vom 12. August bis zum 17. September hatten finden ist, berichtet wiederum Boisseree am
die Will emers , G. und Sulpiz Boisseree auf der 23.9. 1815 in seinem Tagebuch: »Mittags, als
Gerbermühle bei Frankfurt verbracht. Die Ta- wir bei Tische, kömmt Willemer unerwartet.
gebücher von G. und Sulpiz Boisseree berich- Ich hatte ihm, weil der Herzog immer erwartet
ten von geselligem Beisammensein, Besuchen, wurde, am Montag zu kommen geschrieben.
Musik, Lesen von Gedichten aus dem Divan. Nachdem wir eine kurze Weile gesessen und
Über die Tagebuchberichte hinaus und das, uns von der ersten Überraschung erholt,
was sich allenfalls noch aus dem BriefWechsel springt Goethe plötzlich auf, ich folge ihm in
zwischen Marianne und Willemer mit G. er- sein Zimmer, er sagt: >Wir können doch nicht
schließen läßt, geben die biographischen essen, während die Frauen im Gasthof war-
Quellen und Dokumente spärlichen Aufschluß ten. ( Das gibt ein precipicio von der ersten
über die Beziehung zwischen G. und Mari- Sorte! Ich ging hin zu den Frauen, und erst als
anne. Alles uns noch Zugängliche spielt sich ich sie bringe, setzt sich Goethe wieder zu
Wiederfinden 419

Tisch«. Am 26. September reisten die Wille- gard, in der Cottaischen Buchhandlung 1819;
mers wieder nach Frankfurt zurück; danach daneben im gleichen Jahr im Morgenblattfür
sahen sich G. und Marianne nicht mehr. gebildete Stände. Stuttgart, Cotta 1819, Nr. 207
Die Textgestalt des Gedichts erfuhr von der den 30. August. Als editorische Besonderheit
Reinschrift, einem zweiseitig beschriebenen, darf gelten, daß G. in der Ausgabe letzter Hand
auf den 24. September datierten Blatt noch das Gedicht gleich an zwei Orten aufnahm und
ohne Überschrift, zum Erstdruck neben klei- ihm allein schon damit eine besondere Stel-
nen Varianten in der Interpunktion eine inhalt- lung zuwies: Neben seinem angestammten
lich bedeutsame Änderung, die von zwei Fas- Platz in Suleika Nameh - Buch Suleika er-
sungen sprechen läßt (Marg, S. 63-66). Die scheint es buchstabengetreu noch einmal im
frühere und die des Erstdrucks seien von Vers Abschnitt Lyrisches unter der Gruppe Gott
21 in Strophe 3 an bis zu Beginn von Strophe 5 und Welt (ALH 3, S. 75). - Textgrundlage ist im
nebeneinandergestellt : Reinschrift -Fassung: folgenden die Frankfurter Ausgabe (FA, I, 3.1,
»Da erscholl in Jammerklagen / Was die Ewig- S.96f.).
keit verband / Und in schmerzlich strengen
Tagen / Einsam sich, allein empfand / / Denn Der zwiefache Standort im Buch Suleika und
das Oben und das Unten / Ward zum erstenmal unter Gott und Welt markiert die Doppelthe-
geschaut / Unter freyem Himmelsrunde / Tief matik von Liebe und Kosmogonie, die G. in
der Erde Schoos erbaut. / Ach da trennte sich Wiederfinden in eins verschmilzt. Mit dem
fur immer, / War doch der Befehl geschehn! / Liebesthema fügt sich das Gedicht in den Rah-
Feuerwasser in den Himmel / Wellenwasser in men des Buchs Suleika ein, wie ihn G. in der
die Seen / / Stumm war alles, still und öde« Ankündigung im Morgenblatt für gebildete
(FA I, 3.2, S. 1284). Dagegen die Erstdruck- Stände vom 24.2. 1816 umrissen hat: »Das
Fassung: »Rasch [erst: Und; d. Vf.], in wilden Buch Suleika, leidenschaftliche Gedichte ent-
wüsten Träumen, / Jedes nach der Weite haltend, unterscheidet sich vom Buch der
rang, / Starr, in ungemeßnen Räumen, / Ohne Liebe dadurch, daß die Geliebte genannt ist,
Sehnsucht, ohne Klang. / / Stumm war alles, daß sie mit einem entschiedenen Charakter
still und öde« (FA I, 3.1, S. 97). erscheint, ja persönlich als Dichterinn auftritt«
Boisseree berichtet am 3.10.1815 in seinem (FA 1,3.1, S. 550). Demgegenüber läßt sich der
Tagebuch von einem Gespräch mit G. über Schlußsatz von G.s Kurzcharakteristik auf den
»sein Gedicht von der Schöpfung, [ ... ] und wo mythisch-kosmogonischen Aspekt beziehen:
nur ein Gedanke verkehrt war und die ganze »Auch hier dringt sich manchmal eine geistige
Komposition gestärt und verdorben hat. Er Bedeutung auf und der Schleier irdischer
fands nachher und warf ihn heraus« - freilich Liebe scheint höhere Verhältnisse zu verhül-
ohne den falschen Vers zu nennen. Nach Wal- len« (ebd.). Der Doppelnatur des Gedichts fol-
ter Marg (S. 67-71) stehen der ursprünglichen gend, fluktuieren denn auch die zahlreichen
Fassung Ovids Metamorphosen und insbeson- Deutungen meist um die beiden thematischen
dere eine Stelle aus der Ars amatoria bis in Pole mit variierenden Gewichtungen und Ver-
einzelne Formulierungen hinein Gevatter. mittlungsversuchen zwischen ihnen.
Dort findet sich auch die Topologie von Oben Das sechsstrophige Gedicht in vierhebigen
und Unten, von Himmel und Erde, und diese Trochäen, dem bei weitem häufigsten und da-
streng dualistische Vorstellung muß es gewe- mit typischen Divan-Metrum (Kayser, S. 79f.),
sen sein, die G. im Rahmen seines Gedichts als ist einerseits symmetrisch um die Mittelachse
»verkehrten Gedanken« empfand, da sie mit nach der dritten Strophe angelegt, anderer-
seinem dynamischen Weltbild einer Schöp- seits gliedert es sich in einen äußern und in-
fungs-Dialektik von Expansion und Kontrak- nern Ring von zwei bzw. vier Strophen. Die
tion kollidierte. den äußeren Ring bildende erste und letzte
Erstdruck, mit dem Titel Wiederfinden, in Strophe lassen sich unmittelbar auf das uner-
der Erstausgabe: West-oestlicher Divan. Stutt- wartete Wiedersehen am 23. September in
420 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Heidelberg beziehen; sie können also mit dem Dichtung und Wahrheit (FA I, 14, S. 382-385)
freilich nicht unverfänglichen Begriff der >Er- je zwei Phasenmomente des Gesamtprozesses
lebnislyrik< charakterisiert werden. Der Aus- ausmachen. Zugleich stehen sie in einem Ver-
ruf »Ist es möglich«, mit dem das Gedicht ein- hältnis sowohl der Sukzession wie der Opposi-
setzt, ist zwar nicht in seiner Authentizität be- tion zueinander und bilden somit die typisch
zeugt, hat jedoch in der unverkennbaren Nähe G.sche Denkfigur der Dialektik von Polarität
zur alltagssprachlichen Redensart spontaner und Steigerung ab. Denn der erste Schöp-
Überraschung den Charakter eines Selbstzitats fungsprozeß erweist sich als unvollkommen,
aus der Wiedersehensszene und entspricht der sind doch seine Folgen Schmerz, Leiden,
auch in Gedichten von Marianne vereinzelt wortlose Qual der ins Unendliche zerstreuten
beobachtbaren Praxis, authentische Äußerun- Wirklichkeiten einerseits, der Einsamkeit
gen G.s zitierend aufzugreifen. Freilich wird Gottes andererseits. Erst mit dem zweiten
der biographische Situationsbezug in der un- Schöpfungsakt ist die Weltwerdung ganz und
mittelbar folgenden Gestirnsmetaphorik vollkommen, denn mit dem Prinzip der Ver-
»Stern der Sterne, / Drück' ich wieder dich ans einigung in Liebe wird die Schöpfung selbst
Herz!« sogleich im poetischen Medium allego- schaffungs- und reproduktionsfahig: »Allah
risch-metaphorischer Figurenbezüge aufge- braucht nicht mehr zu schaffen, / Wir erschaf-
fangen, und in solcher Gestirnsfigurativik im fen seine Welt« cv. 39f.).
Verein mit einer auf G.s Farbenlehre bezoge- Über das Thema der Liebe und die Motive
nen Farbmetaphorik, die das Gedicht an ein von Trennung und Vereinigung hebt sich nun
ganzes Netz symbolischer Sinnbezüge bindet, auch der Kontrast von persönlich-subjektiver
bewegt sich auch die zweite Anrede an die Sinnsphäre der Rahmenstrophen und von uni-
Geliebte in der letzten Strophe: »So, mit mor- versell kosmischem Geschehen der Binnen-
genrothen Flügeln / Riß es mich an deinen strophen in einem Korrespondenzverhältnis
Mund, / Und die Nacht mit tausend Siegeln / mikrokosmisch-makrokosmischer Analogie
Kräftigt sternenhell den Bund«. auf. Formal geschieht dies über die rhetorische
Mit der subjektiv-persönlichen Sinnsphäre Figur des Gleichnisses, mit dem »So« als Auf-
der Rahmenstrophen kontrastiert der innere takt zur letzten Strophe angedeutet. Nicht ein-
Ring von vier Strophen, der dem überpersön- deutig ist dabei entscheidbar, ob sich dieses
lich kosmischen Mythos von der Schöpfung »So« nur auf den Vereinigungsmythos der Stro-
der Welt gilt. Nicht mit strenger Konsequenz, phen vier und fünf bezieht, oder ob die Ana-
aber doch jeweils deutlichem Schwergewicht logiebildung auf den ganzen Schöpfungspro-
enthalten die einzelnen Strophen der Kosmo- zeß mit seinen zwei Phasen gerichtet ist. Meist
gonie je einen thematischen Grundgedanken: entscheidet man sich für das erstere, nach Carl
Strophe zwei und drei - übergehend noch in Friedrich von Weizsäcker spricht das »So« die
Vers eins und zwei von Strophe vier - bilden »platonische Teilhabe, die Methexis aus. Die
zusammen, was man einen Schöpfungsakt bzw. >Morgenröte< ist auch für uns >erschaffen<<<.
-mythos der Scheidung nennen kann, Strophe (S.353). Gerade die Eigentümlichkeiten des
vier und fünf sprechen von einer Weltenschöp- ganzen kosmogonischen Mythos im Rahmen
fung durch Vereinigung. Die beiden Schöp- der theologischen Tradition wie von G.s eige-
fungsakte vollziehen je für sich die Bewegung nem Denken fordern indessen eine Verschrän-
von Expansion: »Und sogleich die Elemente / kung der persönlichen Sinnsphäre auch mit
Scheidend auseinander fliehn«, und von Kon- dem ersten Teil, dem Scheidungsmythos : Be-
traktion: »Und mit eiligem Bestreben / Sucht merkenswert ist schon die ungewohnte Rich-
sich was sich angehört«, von Diastole und Sy- tung der Gleichnisfunktion, steht doch nicht
stole, die G. in Maximen und Rtiflexionen als etwa der Mikrokosmos persönlich-individuel-
»Grundeigenschaft der lebendigen Einheit« ler Liebe für das makrokosmische Geschehen
bezeichnet (FA I, 13, S.48) und die auch im der Weltenschöpfung, vielmehr dient umge-
Schöpfungsmythos G.s im achten Buch von kehrt in beinahe hybrider Vertauschung der
Wiederfinden 421

Weltwerdungsprozeß zur gleichnishaften Ar- genem Schöpfungsmythos im achten Buch von


tikulation des subjektiven Geschehens persön- Dichtung und Wahrheit, wo die Expansions-
licher Liebeserfahrung im Zeichen von Tren- bewegung des Auseinanderstrebens im Zei-
nung und Vereinigung. Unverkennbar ist auch chen des Lichts als der Schöpfung »bessere
das Moment der DistanzgeWinnung von der Hälfte« in ihrem Gegensatz zur »einseitigen
Gemütsbewegung der ersten Strophe durch Richtung Lucifers« in der »Konzentration« auf
die übergangslose synekdochische Verschie- sich selbst ausschließlich positiv bewertet
bung des Themas auf die allgemeinst-mögli- wird (FA I, 14, S. 383) - dies in auffallendem
ehe Ebene der Weltschöpfung. Im Lichte si- Gegensatz zur schmerzvoll vereinsamenden
gnifikanter Nuancen und Unterschiede sind Wirkung des Auseinanderfliehns der Ele-
auch die zahlreichen Berührungspunkte zur mente in der ersten Weltschöpfungsphase in
biblischen Genesis, zu antiken Mythen wie zu Wiederfinden.
solchen des Neuplatonismus, der Mystik und Insgesamt deuten diese Besonderheiten
Kabbalistik zu sehen: Während die Divan- For- darauf hin, daß die Kosmogonie der vier Bin-
schung im allgemeinen die Nähe zu ihnen her- nenstrophen in ihrer Ganzheit in naher Ver-
vorhebt, ist nicht zu übersehen, mit welch star- bindung mit der persönlich-subjektiven Sinn-
ker emotionaler Emphase G. den logotheti- sphäre der Rahmenstrophen gedeutet werden
schen Schöpfungsakt der Genesis mit der Be- muß. Diese Verbindung gelingt dann, wenn
tonung auf seinen schmerzlichen Folgen wir das Gedicht nicht nur als Liebesgedicht
belegt. Von Weizsäcker nimmt Vers vierzehn: und Kosmogonie, sondern zudem poetologisch
»Da erklang ein schmerzlich Ach!« nach dem als Aussage in eigener Sache lesen. Dazu legi-
»Es werde!« für den »Angelpunkt des Ge- timieren nicht nur die thematischen, motivli-
dichts. Er spricht das Geburtstrauma der Welt chen und figurativen Querbezüge zu den bei-
aus. [ ... ] Für die Geschöpfe ist die Schöpfung den im Divan kurz vorher stehenden Gedich-
nicht Lust«. Nach von Weizsäcker ein genuin ten Hochbild und Nachklang (heide 7.11.
G.scher Gedanke, denn »die drei Religionen 1815, Weimar) und den kurz zuvor entstan-
der hebräischen Tradition haben Gott nicht denen Die Sonne kommt! Ein Prachterschei-
mit der Verursachung des Schöpfungsschmer- nen! und Sag du hast wohl viel gedichtet?
zes belasten wollen und haben dafür den My- (beide vom 22.9. 1815, Heidelberg), sondern
thos des Sündenfalls eingesetzt« (S. 350). Fast auch das gleichentags entstandene An vollen
noch auffallender ist das von von Weizsäcker Büschelzweigen, das in deutlicher erotischer
nicht gedeutete Motiv der Einsamkeit Gottes, Symbolik den dichterischen Schaffensakt über
das in der christlich-neuplatonischen Tradi- ein Naturbild mit dem Zeugungsakt verbindet:
tion ebenfalls fehlt und das hier bei G. den »So fallen meine Lieder / Gehäuft in deinen
Anlaß zum zweiten Schöpfungs geschehen im Schoos« (FA 1,3.1, S. 90). Während Die Sonne
Zeichen von Eros bildet, in Ovids Ars amato- kommt! Ein Prachterscheinen! und Nachklang
ria, V. 467ff., sind es die Menschen, die auf eine Geschlechtersymbolik im Zeichen von
einsamem Lande umherirren. Dies Motiv evo- Sonne und Mond aufbauen, thematisieren Sag
ziert einen Anthropomorphismus, der den du hast wohl viel gedichtet?, Hochbild und
göttlichen Schöpfungsakt in hohe Nähe zum Nachklang das Dichtermotiv, das erstere ver-
kreativen Prozeß des Künstlers bringt und die schränkt mit dem Liebesmotiv, die letzteren
Einsamkeit Gottes in Verbindung mit dem de- bei den zudem mit der Gestirnsmetaphorik von
pressiven Vakuum im Künstler nach der Ent- Sonne und Mond. Hochbild und Nachklang
lassung des Geschaffenen aus sich selbst sehen entwickeln über die Gestirnsmetapher der
läßt. Zugleich verbindet sich natürlich das Sonne eine Rhythmik des künstlerischen
Einsamkeitsmotiv unmittelbar mit der persön- Schaffensprozesses zwischen grandioser All-
lich biographischen Sinnsphäre der ersten und machtsphantasie und depressiver Isolations-
letzten Strophe. Schließlich kontrastiert die angst, die ganz genau mit der Allmachtsge-
Kosmogonie in Wiederfinden auch mit G.s ei- bärde von »Es werde!« und dem »Einsam Gott
422 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

zum erstenmal !« in Wiederfinden korrespon- ganz in die Phantasie, deren Bewegung,


diert: »Die Sonne, Helios der Griechen, / Glück, Seligkeit herübergestellt. [ ... ] keine
Fährt prächtig auf der Himmelsbahn, / Gewiß subjektive Sehnsucht, kein Verliebtseyn, keine
das Weltall zu besiegen / Blickt er umher, Begierde [ ... ], sondern ein reines Gefallen an
hinab, hinan« in Hochbild (FA I, 3.1, S.94) den Gegenständen, ein unerschöpfliches Sich-
gegenüber Nachklang: »Es klingt so prächtig, ergehn der Phantasie, ein harmloses Spielen,
wenn der Dichter / Der Sonne bald, dem Kai- eine Freiheit in den Tändeleien auch der
ser sich vergleicht; / Doch er verbirgt die trau- Reime und künstlichen Versmaaße, und dabei
rigen Gesichter, / Wenn er in düstren Nächten eine Innigkeit und Frohheit des sich in sich
schleicht« (FA I, 3.1, S. 95). In allen diesen selber bewegenden Gemüthes, welche durch
Fällen mündet die Thematisierung solcher die Heiterkeit des Gestaltens die Seele hoch
>männlicher< Schaffens rhythmik aus der über alle peinliche Verflechtung in die Be-
Macht und Einsamkeit des (Dichter-)Worts schränkung der Wirklichkeit hinausheben«
heraus in das Bild oder den Wunsch eines (Hegel, S.239f.). Hegels Charakteristik von
männlich-weiblichen Schaffens im Zeichen Wiederfinden enthält alle wesentlichen Mo-
von Eros und Liebe ein. Insofern gestaltet Wie- mente der frühen Rezeption des Divan insge-
derfinden nicht bloß ein persönlich subjektives samt, sofern das Werk überhaupt auf ein gün-
Erlebnismoment in makro-mikrokosmischer stiges Echo stieß und nicht verständnislos
Verschränkung mit dem kosmogonischen Ge- weggelegt oder als Flucht aus der zeitgenössi-
schehen, sondern artikuliert - wenn auch me- schen Wirklichkeit in eine orientalische Phan-
taphorisch hoch verschlüsselt - eine Phänome- tasiewelt z. T. vehement abgelehnt wurde.
nologie und Kritik logothetischer Wirklich- Schon der erste Rezensent, der Orientalist Jo-
keitsschaffung und die Utopie ihrer Alterna- hann Gottfried Ludwig Kosegarten, hob das
tive: »Und ein zweytes Wort: Es werde! / Unbeschwerte daran hervor, und auf derselben
Trennt uns nicht zum zweytenmal« (FA I, 3.1, Linie, nur enthusiastischer, bewegt sich Hein-
S.97). rich Heines Urteil. Zu Recht hat Gisela Henck-
mann diese Frührezeption als eine solche der
Das Gedicht ist eines der meistinterpretierten Verlängerung der Tradition der Anakreontik
und emphatisch gepriesenen unter den Ge- und der Rokoko-Lyrik ins Biedermeier gese-
dichten des West-östlichen Divan: »das erha- hen (Henckmann, S. 10ff.). Mit der Entdek-
benste Liebesgedicht der Weltliteratur« kung der biographischen Zusammenhänge
(Schneider, S. 233), »glänzendstes Beispiel der zwischen der Divan-Dichtung, G. und Mari-
Liebesphysik und -metaphysik« (STAIGER, Bd. anne von Willemer durch Herman Grimm und
3, S.52), »abgründigstes und weitgespannte- deren Publikation im Aufsatz über G. und Su-
stes aller Gedichte des Buches Suleika« (Böck- leika (1869) setzt eine Rezeption ein, die den
mann, S.222), »Gipfel der kosmischen Lehr- Divan und da ganz besonders Wiederfinden
lyrik« G.s (GUNDOLF, S. 671). primär in biographischem Rückbezug und als
Eine der ersten expliziten Äußerungen zu Erlebnislyrik liest. Zeugnis davon ist etwa
Wiederfinden steht in Georg Wilhelm Fried- Konrad Burdachs Kommentar zu Wiederfinden
rich Hegels Berliner UJrlesungen über die As- in der Jubiläumsausgabe: »Am 24. Sept. 1815,
thetik (1820/21-1828/29), wo er G.s frühe Ly- dem Morgen nach Mariannens Eintreffen, auf
rik seiner späten gegenüberstellt und Wieder- dem Heidelberger Schloß gedichtet. Leiden-
finden mit Willkomm und Abschied vergleicht. schaftliches, erhabenes Bekenntnis der Emp-
Im Jugendgedicht sei »die Sprache, die Schil- findung für die wiedergefundene Geliebte«
derung zwar schön, die Empfindung innig, (JA 5, S.396). Und zu Strophe sechs: »Die
aber sonst die Situation ganz gewöhnlich, der neue, Mund auf Mund bekräftigte Liebesver-
Ausgang trivial, und die Phantasie und ihre einigung mit Marianne, tatsächlich geschlos-
Freiheit hat nichts weiter hinzugethan«. Ganz sen in der Tagesfrühe an paradiesischer Stelle«
anders in Wiederfinden: »Hier ist die Liebe (ebd., S. 398). Ihren Höhepunkt erfährt diese
Wiederfinden 423

das Werk auf die Lebensexistenz G.s und Ma- reden unzweideutig eine andere Sprache«; al-
riannes beziehende Rezeption in Hans Pyritz' les bleibe »geschützt durch orientalisches Ko-
»biographischer Studie«, wo es zu Wiederfin- stüm« (ebd., S. 42). Die ganze Ambivalenz, aus
den heißt: »Ein jubelnder Rausch der Vereini- der die Liebesgedichte des Divan, und dar-
gung strömt hier mit der Nachgewalt des Tren- unter insbesondere Wiederfinden mit seiner
nungsschmerzes und mit dem Schauder vor Verschränkung von privatester Begegnung und
der abermaligen Scheidestunde in den dunk- kosmogonischer Schöpfung, wohl nie heraus-
len Wirbel eines demiurgisch gestimmten zulösen sind, entfaltet Adolf Muschg: »Die
Grundgefühls zusammen [ ... ]. Sein Leid, die Wahrheit dieser Liebe war nicht Lüge, aber
Qual der Einsamkeit, wird zum Urleiden der Schein - um diesen Preis mutet uns heute noch
Welt erhöht; sein Glück, die Wonne des Wie- der wunderbare Schein des West-östlichen Di-
derverbundenseins, zum Urtrieb des WeItpro- van wie eine Wahrheit an. [ ... ] gerade die
zesses gesteigert« (S.44). Gegenbewegungen Form, die diese Gedichte kraft der Erschüt-
zu solcher Fixierung der Dichtung auf Lebens- terung ihres vorbereiteten schönen Scheins
umstände sind schon bei Hugo von Hofmanns- gewonnen haben, transzendiert die >Erlebnis-
thaI zu sehen, der davon spricht, wie hier alles dichtung«< (S. 86).
»einer fremden Welt angenähert oder zwi-
schen ihr und uns in der Schwebe [ist]: alles ist Das Gedicht wurde vertont von: earl Friedrich
doppeltblickend, und eben dadurch dringt es Zelter: Sopran und Klavier, D-Dur, Widmung
uns in die Seele; denn das Eigentliche in uns des Ms. vom 15.2. 1820 (Auskunft: Deutsche
und um uns ist stets unsagbar, und doch ist Staatsbibliothek Berlin) ; Erwin Lendvai: Kos-
dem Dichter alles zu sagen gewährt« (S. 440). mische Kantate für Männerchor und Orche-
In z.T. polemischer Entgegensetzung zu Hans ster, Es-Dur, 1932 (Zweite Strophe); Albert
Pyritz u.a. hält Paul Böckmann bezüglich der Moeschinger: Hohe Singstimme und Klavier,
Liebesgedichte fest: »Wir können [ ... ] sie B-Dur, 1944/46, Nr. 15 eines fUnfzehn Lieder
nicht als unmittelbaren GefUhlsausdruck einer umfassenden Zyklus (Auskunft: Universitäts-
momentanen Erregung auffassen [ ... ] niemals bibliothek Basel).
meint das Gedicht damit die konkreten An-
lässe, sondern immer nur ihre sinnbildlichen
Beziehungen. [ ... ] Was wir von dieser Liebe Literatur:
erfahren, erweist sich immer nur dadurch, daß Böckmann, Paul: Die Heidelberger Divan-Gedichte.
sie sich als wirkliche Liebe im zyklischen Spiel In: Goethe und Heidelberg. Hg. vom Kurpfalzischen
des metaphorischen Sprechens erfüllt« Museum. Heidelberg 1949, S.204-239. - Burdach,
Komm. in JA 5, S.396 u. S.398. - Cohn, Jonas:
(S.208f. u. S.216). Gegenüber dem leiden-
Goethes Gedicht Wiedeifinden. Versuch einer Sinn-
schaftlichen Liebesgeschehen betont er die deutung. In: AfPhilos. 1 (1947), S. 118-131. - GUN-
heiter gesellige Gesprächskultur als Grund- DOLF, S. 671. - Haller, Horst: Goethes Gedicht Wie-
lage der Begegnung wie auch des Divan als deifinden. Ein Beitrag zur Quellenfrage seiner Kos-
Dichtung insgesamt. In vergleichbarer Vor- mogonie. In: Pädagogische Rundschau. 15 (1961),
sicht vor dem unmittelbaren Situationsbezug S.101-104. - HAMMER - Hegel, Georg Wilhelm
Friedrich: Vorlesungen über die Aesthetik. Hg. von
verweist Emil Staiger auf das Altvertraute in
Heinrich Gustav Hotho. Zweiter Theil. Berlin 21843.
Thematik, Motivik und Symbolik von Wieder- - Henckmann, Gisela: Gespräch und Geselligkeit in
finden: »Dies alles hat Goethe längst in seinen Goethes West-östlichem Divan. Stuttgart, Berlin,
chromatischen, osteologischen und botani- Köln, Mainz 1975. - Hofmannsthai, Hugo von: Goe-
schen Schriften ausgeführt. Um so erstaunli- thes West-östlicher Divan. In: ders.: Gesanunelte
cher ist das Feuer - halb Leidenschaft, halb Werke. Hg. von Bernd Schoeller. Bd. 8. Frankfurt/
M. 1979/80. - Kayser, Wolfgang: Beobachtungen zur
pädagogischer Eifer - mit dem er seine Lehre
Verskunst des West-östlichen Divans. In: PEGS.23
vorträgt« (STAIGER, Bd. 3, S.52f.). Man tue (1954), S. 74-96. - Korff, Hermann August: Die Lie-
indessen »sehr unrecht, diesen Sommer in tra- besgedichte des West-östlichen Divans in zeitlicher
gischer Beleuchtung zu sehen. Die Dokumente Folge mit Einführung und entstehungsgeschichtli-
424 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806~1819

chem Kommentar. Stuttgart 21949. ~ Luther, Gisela: meinsam mit Willemers in Frankfurt ver-
Goethes Wiedeifinden. In: Lohner, Edgar (Hg.): In- brachte, mit Feuern auf allen Hügeln gefeierte
terpretationen zum West-östlichen Divan Goethes.
Jahrestag der Schlacht von Leipzig, der für
Darmstadt 1973, S. 250~276. ~ Marg, Walter: Goe-
thes Wiedeifinden. In: Euphorion. 46 (1952), Marianne und G. von besonderer Bedeutung
S. 59~ 79. ~ Midgley, David R.: Wiedeifinden: Cosmic gewesen war, fiel in diesem Jahr mit dem Voll-
vision and cultural fusion in the Westöstlicher Divan. mond zusammen. Eine Anspielung auf die Ver-
In: GLL. 36 (1982/83), S. 87~98. - Muschg, Adolf: abredung, bei Vollmond aneinander zu den-
Goethe als Emigrant. Zum West-östlichen Divan. In: ken, läßt sich auch in der für Marianne geän-
ders.: Goethe als Emigrant. Auf der Suche nach dem
derten Fassung der ersten Strophe des Divan-
Griinen bei einem alten Dichter. Frankfurt/M. 1986,
S. 73-104. ~ Pyritz, Hans: Goethe und Marianne von Gedichts Wie sollt' ich heiter bleiben
Willemer. Eine biographische Studie. Stuttgart vermuten: »Mir will es finster bleiben, / Im
31948. ~ Schneider, Wilhelm: Goethe: Wiederfinden. vollsten Mondenlicht« (Maier, Bd. 2, S. 320).
In: ders.: Liebe zum deutschen Gedicht. Freiburg i. Marianne ihrerseits schrieb zum Gedenktag
Br. 51963, S.232-247. - STAIGER, Bd. 3, S.42 u. des 18. Oktober einen Chiffernbrief an G., der
S. 52f. ~ Weizsäcker, Carl Friedrich von: Der Garten
unter anderem die folgenden, von G. leicht
des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen An-
thropologie. München und Wien 61978, S. 346~356. verändert auch in die Noten und Abhandlun-
gen (vgl. Ch!ffer; FA 1,3.1, S.214) aufgenom-
Michael Böhter menen Verse des Hafis enthält: »Ich habe keine
Kraft als die, Im Stillen ihn zu lieben. Wenn
ich ihn nicht umarmen kann, Was wird wohl
aus mir werden? Immer sehnt sich mein Herz
nach deinen Lippen« (HAMMER, Bd. 1, S.310
u. S.424). In seinem Gedicht Vollmondnacht
Vollmondnacht scheint G. nun auf diese Botschaft Mariannes
zu antworten, indem er das Motiv des letzten
Verses ihres aus verschiedenen Hafis-Stellen
Die eigenhändige Reinschrift des Gedichts zusammengesetzten Chiffernbriefes auf-
Vollmondnacht trägt das Datum des 24.10. nimmt. Dariiber hinaus bezieht er seinerseits
1815 und hat keine Überschrift; Erstdruck im Hafis-Verse ein. Nur wenige Seiten nach dem
Buch Suläka des Divan von 1819. Im folgen- von Marianne in ihrer Schlußwendung zitier-
den wird nach der Frankfurter Ausgabe (FA I, ten Hafis-Vers: »Immer sehnt sich mein Herz
3.1, S. 98) zitiert. Es ist das erste Gedicht, das nach deinen Lippen« fand G. im Diwan des
nach G.s Rückkehr am 11. dieses Monats von Dichters folgende Verse: "Gestern sah ich in
seiner Sommerreise an Rhein, Main und Nek- den Locken / Meines liebsten Bildes Wan-
kar in Weimar entstand. Am 26.10. 1815 gen, / Sie umgaben's wie die Wolken, / Die
schrieb G. an Johann Jakob von Willemer: den vollen Mond umfangen. / Ich will küßen,
»Am 18ten fuhr ich mit Freund Meyer auf küßen, sprach ich, / Sie entgegnete: 0 laß es, /
unsre Hügel um die Feuer welche aufThüring- Bis der Vollmond aus dem Zeichen / Dieses
ens Höhen, zwar nicht so reichlich und präch- Skorpions gegangen« (HAMMER, Bd. 1,
tig als am Mayn, aber doch ganz anständig und S.433f.). Nur leicht verändert nutzt G. die
fröhlich brannten, im Ganzen zu überschauen; Hafis-Zeile "Ich will küßen, küßen, sprach
da vergegenwärtigte ich mir die Freunde und ich« als Refrain seines eigenen Gedichts: "Ich
die über Franckfurts Panoram so zierlich auf- will küssen! Küssen! sagt' ich«. Anders als in
puncktirten Flämmchen, und zwar um so mehr dem ihn inspirierenden Hafis-Ghasel er-
als es gerade Vollmond war, vor dessen Ange- scheint G. der Vollmond nicht als konventio-
sicht Liebende sich jedesmal in unverbriich- nell orientalisierende Metapher für die Schön-
licher Neigung gestärckt fühlen sollen«. Am heit der Geliebten, sondern als Naturphäno-
18.10. 1815 hatten sich also zwei Anlässe des men und gleichzeitig als Zeichen für die Ver-
Gedenkens verbunden: Der im Vorjahr ge- bindung der Liebenden.
Vollmondnacht 425

Reinschrift
426 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Die Situation des Gedichts ist die eines sze- beschworen werden, ist uns in einer früheren,
nischen Dialogs, der sich jedoch von den übri- auf dem Reinschriftblatt durch einen Streifen
gen das Buch Suleika über weite Strecken be- mit der endgültigen Version überklebten Fas-
herrschenden Dialogen unterscheidet. Ge- sung überliefert. Hier ist das Reimschema der
sprächspartner sind hier nicht Liebender und ersten und dritten Strophe noch nicht durch-
Geliebte, Hatem und Suleika - sondern »die geführt, und auch die Auflösung des Gegen-
Herrinn«, Suleika, und ihre Dienerin. Es ist standbezugs zugunsten einer impressionisti-
jedoch ein asymmetrischer Dialog, der hier schen Schilderung dieser Nachtszene ist noch
geführt wird: Die Antworten der Herrin gelten nicht so weit geführt wie in der endgültigen
nicht eigentlich der fragenden Dienerin, son- Fassung: »Blicke her! die frischen Rosen /
dern wenden sich dem abwesenden Geliebten Leuchten in dem nächtgen Frischen. / Nieder
zu. Die Funktion des vorgeführten »äußeren« spielet Stern auf Stern. / Tausendfältiger Kar-
Dialoges zwischen den beiden Frauen besteht funkel/ Fliegt smaragden durch die Büsche /
gerade darin, Suleikas sehnsüchtiges Geden- Doch dein Geist [darüber: )Sinn<] ist allem
ken an den Geliebten anschaulich zum Aus- Fern!« (Maier, Bd. 2, S. 338). Wesentlich deut-
druck zu bringen; er verweist auf den »in- licher sind hier noch einzelne Bestandteile der
neren« Dialog mit dem Entfernten und ent- sommernächtlichen Szene zu erkennen: so
spricht so der Grundsituation des Buchs Su- etwa die durch die Büsche fliegenden, meta-
leika. phorisch als »Karfunkel« bezeichneten Glüh-
Die Rede der Dienerin, die mit dem Anruf würmchen, die nicht zuletzt durch den Ver-
der Herrin in der ersten Strophe einsetzt, er- zicht auf das Verb »fliegt« in der endgültigen
füllt für den Leser die Funktion einer kom- Fassung keineswegs mehr so eindeutig zu
mentierenden Berichterstattung, die die Si- identifizieren sind.
tuation der in den Gedanken an den Geliebten Das Gedicht besteht aus drei siebenzeiligen
versunkenen Geliebten einem Dritten, dem Strophen in vierhebigen Trochäen, die jeweils
Leser, überhaupt erst zugänglich macht. Wäh- von dem aus Hafis entliehenen Refrain be-
rend in der ersten Strophe die Dienerin ver- schlossen werden. Das Reimschema abcbac d
sucht, die Bewegung der metaphorisch als fällt dabei unter den Divan-Gedichten als eine
»Mundgeschwister« bezeichneten Lippen ih- besonders kunstvolle Form auf: eine Aus-
rer Herrin zu deuten und damit also die Rede nahme in der großen Gruppe der vierhebigen
der Herrin an den abwesenden Geliebten )zu Trochäen im Buch Suleika sowie im Divan
übersetzen (, folgt in der zweiten Strophe nach überhaupt. Anders als die einfacheren liedhaf-
der Aufforderung der Sprechenden an die Her- ten Strophen, die im Buch Suleika dominie-
rin, ihre Umgebung zu betrachten, eine Be- ren, erinnert die Reimkunst der Vollmond-
schreibung des nächtlichen Schauplatzes, den nacht an die raffinierten und artifiziellen Ver-
die Herrin selbst kaum wahrnimmt;. da sie in fahren romanischer Dichtungstraditionen. Be-
Gedanken bei dem Geliebten weilt. In der sonders kunstvoll ist in diesem Gedicht jedoch
dritten Strophe schließlich berichtet die Die- nicht nur die Anordnung der Reime, sondern
nerin über die Verabredung mit dem entfern- auch das »verführerische Klangspiei« (KoM-
ten Geliebten, bei Vollmond aneinander zu MERELL, S. 278) des Ganzen, dem es seine zau-
denken. Das Widersprüchliche, fast Paradoxe berisch-unwirkliche Atmosphäre verdankt:
dieser Situation einer Vereinigung in der Tren- Neben den - zum Teil gezielt unreinen - Rei-
nung wird in den Oxymora dieser letzten Stro- men verfügt es über eine Vielzahl weiterer
phe zum Ausdruck gebracht: »im Sauersüßen«, Klangkorrespondenzen (Assonanzen und Alli-
>>unglücksel'ges Glück«. terationen) im Versinneren. Auffallend und
Die Beschreibung der Sommernacht in der wirkungsvoll sind dabei in der ersten Strophe
zweiten Strophe, in der vor allem verschie- vor allem die Häufung der stimmlosen
dene, nicht eindeutig zu unterscheidende s-Laute, die Alliterationen auf I sowie die Do-
Lichterscheinungen dieser nächtlichen Szene minanz der hellen Vokale i und ü, die auch in
Geheimschrift 427

der dritten Strophe vorherrschen. Die Klang- blick«, richtet sich die Äußerung der Herrin
gestalt der zweiten Strophe ist durch ein so nicht an die Dienerin, sondern direkt an den
dichtes Netz von Binnenreimen und Assonan- entfernten Geliebten.
zen bestimmt (zweifel/Zweige, glühen/blü- Vollmondnacht läßt sich nicht nur entste-
hen, nieder!spielen, Stern auf Stern, faltiger! hungsgeschichtlich-biographisch mit der
funkei), daß das Gedicht sich allein dem Spiel Trennung von Marianne von Willemer in Ver-
dieser Klänge zu verdanken scheint: »Man bindung bringen, sondern steht vor allem auch
kann es bestimmen als ein Freiwerden der innerhalb des Buchs Suleika in diesem thema-
Klänge und Farben; Wirkliches ist dafür nur tischen Zusammenhang. Es folgt auf das in
Vorwand; es wird wahrgenommen, insoweit es kosmologische Dimensionen ausgreifende
zum Reiz wird, die im Reiz heftig und bis zum große Gedicht Wiederji'nden, dessen Nacht-
Entzücken angesprochenen Sinne vermischen und Sternenmetaphorik in Vollmondnacht ins
ihre Sphären, so wie es der Sprache und nur Sinnliche transponiert ist. Wie das folgende
ihr möglich ist« (KoMMERELL, S. 277). Gedicht Geheimschrift und auf andere Weise
Die dreimal wiederholte Refrainzeile als auch schon das Gedicht Hochbild (FA I, 3.1,
wörtliche Rede der angesprochenen Herrin ist S. 94f.) ist Vollmondnachtein Gedicht über die
klanglich durch die Dominanz der hellen Vo- geistige Vereinigung trotz räumlicher Entfer-
kale sowie der stimmlosen s-Laute mit dem nung. Wie hier das Vollmondversprechen, so
Ganzen des Gedichts zwar verbunden, sondert verbinden dort die Chiffembriefe bzw. die
sich in anderer Hinsicht jedoch deutlich von »Perlen« der Dichtung die Getrennten; der Au-
ihrer Umgebung ab: Der Refrain reimt mit genblick des gegenseitigen Gedenkens über-
keiner anderen Zeile und besitzt auch einen windet die Trennung.
eigenen Rhythmus. Suleika ist in ihrem
Sprachduktus deutlich von der Dienerin ge-
Literatur:
trennt; ihre sich wiederholende Äußerung ist
eben nicht eigentlich Antwort auf die Fragen HAMMEl\, Bd. 1, S.310 u. S.424. - Helm, Karin:
der Dienerin, sondern an den femen Gelieb- Goethes Verskunst im West-O'stlichen Divan. Göttin-
gen 1955. - Henckmann, Gisela: Gespräch und Ge-
ten gerichtete Sehnsuchtsformel und Be-
selligkeit in Goethes West-O'stlichem Divan. Stuttgart
schwörung, die ohne Reimkorrespondenz und u.a. 1975, S.67-69. - KOMMERELL, S.125 u.
ohne Antwort bleibt. Eindrucksvoll setzt G. S.276-280. - Maier, Hans Albert (Hg.): Goethe.
die anschaulich-lautmalerische Beschreibung West-O'stlicher Divan. Kritische Ausgabe der Ge-
der Situation durch die Dienerin in den ersten dichte mit textgeschichtlichem Kommentar. 2 Bde.
beiden Strophen in Opposition zu dem sich Tübingen 1965. (Bd. 2 enthält als Abbildungen 4 u. 5
die Wiedergabe der beiden Fassungen der eigen-
gleichförmig wiederholenden spiegelbildlich händigen Hs. des Gedichts Val/mondnacht.) -
in sich geschlossenen »Gegen-Satz« der ange- Solms, Wilhelm: Des Reimes ,holder Lustge-
sprochenen Herrin, die sich von den Fragen brauch<. Zur Reimlehre des West-O'stlichen Divans.
und Schilderungen der anderen nicht von dem In: GoetheJb. 99 (1982), S. 195-229.
einen, ihren Geist und ihre Sinne beherr- Anne Bohnenkamp
schenden Wunsch abbringen läßt. Läßt sich
der Refrain nach der ersten Strophe noch als
Antwort auf die Frage der Dienerin lesen
(»was heißt das Flüstern?«), im zweiten als
Begründung der Feststellung, daß ihr »Geist
allem fern« sei, so steht die in der dritten Geheimschrift
Strophe durch den Tempuswechsel leicht va-
riierte Refrainzeile endgültig außerhalb des
Dialogs. Aus der Vergangenheitsform »sagt' Das Gedicht Geheimschrift entstand auf der
ich« ist nun eine jede Distanz aufgebende Ge- zweiten Reise G.s in das Rhein-Main-Gebiet
genwart geworden: Jetzt, in diesem »Augen- im Sommer 1815. Genau wie Die schön ge-
428 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

schriebenen hat G. es in Heidelberg geschrie- G. in der ersten Strophe über die politische
ben und auf den selben Tag, den 21.9. 1815, Praktik verschlüsselter Depeschen ein. Ihre
datiert. Es gehört dem Buch Suleika des Divan verstellte »Wendung« cv.
7) hat den einzigen
an und nimmt die literarische Struktur seiner Sinn, »in's Gleiche« cv.
8) gestellt, d.h. als ein-
erotischen Beziehung zu Marianne von Wille- deutige »Sendung« cv.
5) entschlüsselt zu wer-
mer zum Anlaß. In den Noten undAbhandlun- den. Die »Diplomaten« cv.
1) und »Potentaten«
gen zum Divan weist G. selbst auf die mögli- cv. 3) spielen nebenbei auf den im Juni 1815
che »Verabredung« hin, »sich in Chiffern mit- beendeten Wiener Kongreß an, vor allem aber
zuteilen« und »Hafisens Gedichte« als Grund- verweisen sie auf die Herkunft von Geheim-
lage eines erotischen Briefwechsels zu schriften, Steganographien, im politisch-di-
nehmen (FA 1,3.1, S. 213), in dem die Zahlen- plomatischen Kontext (vgl. HwbA, Bd. 3,
folgen (arab. sifre) Seiten und Verse des ge- S. 453). Decodierbarkeit muß selbstverständ-
wählten Textkorpus bedeuten. Tatsächlich hat lich auch in einer verschlüsselten privaten Lie-
er mit Frau von Willemer auf der Basis einer beskorrespondenz erwartet werden, der die
Hafis-Ausgabe chiffrierte Liebesbriefe ausge- zweite Strophe ausdrücklich einen künstleri-
tauscht. Neben dieser oberflächlichen, biogra- schen Rang verleiht. Das lyrische Ich hebt den
phisch leicht einzusehenden Referenz bringt geheimschriftlich verfaßten Liebesbrief der
G. in einem Brief an Rosine Städel, eine Stief- »Herrinn« cv.9) in den Stand eines symboli-
tochter Frau von Willemers, vom 27.9. 1815 schen Mediums der »Liebesfülle« cv. 13). Als
den interessanteren hermeneutischen Aspekt Synekdoche der Geliebten, als schriftlicher
von Geheimschrift ins Spiel, das literarische Teil von ihr öffnet diese »Chiffer« cv. 10) in
Angebot und die Verweigerung von »chiffrier- einer Bewegung zwei Räume: den Raum »zwi-
tem« Sinn. Er weist darauf hin, daß die schen mir und ihr« cv.
16), um eine Lücke zu
),grundgelehrten Leute« in Heidelberg (10- füllen, und den intertextuellen Raum der Ha-
hann Heinrich Voß, Georg Friedrich Creuzer fis-Gedichte, der als »Revier« (ebd.) metapho-
u.a.) längst den »tieferen Sinn« hinter der risch in das Gedicht eingeführt und in der
sinnlichen Oberfläche erfaßt hätten (ebd.). Er dritten Strophe in architektonischen (»voll be-
zieht daraus den ironischen Schluß, »daß man wohntes Haus« [V. 20)) und naturhaft synäs-
am besten thäte etwas ganz unverständliches thetischen Metaphern (»Ein klingend Meer
zu schreiben, damit erst Freunde und Lie- von Liedern, / Geruchvoll überweht« [V. 23f.))
bende einen wahren Sinn hineinzulegen völ- variiert wird. Der Titel »Geheimschrift« baut
lige Freyheit hätten« (ebd.). Er fügt noch eine zum Text des Gedichtes eine unterschwellige
Abschrift von Gingo bi/oba bei, um klarzu- Spannung auf, da er selbst buchstäblich nicht
stellen, daß sowohl der »Sinn« als auch der wieder auftaucht, nur umschrieben als »Ge-
Autor »Eins und doppelt« sind (ebd.). heime Chiffern« cv.5), also selbst wieder chif-
Handschriftlich ist das Gedicht auf einem friert. Die Schlußstrophe formuliert diese
zweiseitig beschriebenen Blatt des Divan- Spannung noch ein Stück weiter aus, indem sie
Konvoluts, der Original-Reinschrift (R), mit die differentielle, letztlich aber entschlüssel-
dem Datum »Heidelberg, den 21.9. 1815« bare Grundstruktur der geläufigen Geheim-
überliefert. Der Erstdruck erfolgte in der er- schrift als »Geheime Doppelschrift« cv.
26)
sten Einzelausgabe des Divan von 1819 bei sprachlich verdoppelt und damit auf eine un-
Cotta in Stuttgart. Die Ausgabe letzter Hand auflösbare Figur der Differenz verweist, die
und die Weimarer Ausgabe weisen nur gering- den gesamten Divan als »Eins und doppelt«
fügige Korrekturen auf. Das Gedicht wird im durchzieht.
folgenden nach der Frankfurter Angabe zitiert, Formal ist Geheimschrift ganz regelmäßig
und zwar in der Version des Erstdrucks (FA I, aufgebaut. Es besteht aus vier Strophen zu je
3.1, S. 98f.). acht Versen, die über Kreuzreime melodisch
Beide Bedeutungen von »Geheimschrift«, die verschränkt sind und über drei Hebungen und
biographische wie die hermeneutische, führt alternierend stumpfe und klingende Kadenz
Geheimschrift 429

verfUgen. Die syntaktische Struktur fUgt sich tur - so in der dritten Strophe -, die wie-
der prosodischen Ordnung ein. Die ruhig ge- derum, wie so oft im Buch Suleika, über den
führten Sätze sind regelmäßig paaIWeise in Geruchssinn vermittelt ist. Schließlich stili-
der Weise auf die Strophen verteilt, daß je- siert sie sich zur Substitution der Liebe und
weils ein Kreuzreim die Länge eines Satzes des Lebens: eine Schrift, deren Pfeile ins
vorgibt. Für eine weitreichende phonetische »Mark des Lebens« treffen, ohne doch letztlich
und damit auch rhythmische Binnendifferen- mit dem Leben und der Liebe identisch zu
zierung gibt die SChlußstrophe ein auffalliges sein. Die Züge dieser poetischen Doppel-
Beispiel. Das Adjektiv »vollbewohnt« aus der schrift halten das Bild der geliebten Frau in
Wendung »Ein vollbewohntes Haus« intoniert ihrer platonisch sublimierten Form fest. Not-
in der dritten Strophe das stimmhafte »w« , das wendige Voraussetzung der poetischen Sub-
scharfe, stimmlose »f« und den dunklen Vokal limation ist allerdings die räumlich-leibliche
»0«, die in der Schlußstrophe in signifikanter Distanz zur Geliebten. In der Komposition des
Häufung vorkommen. Letztere beide umkrei- Buches Suleika nimmt das Gedicht Die schiin
sen in Verbindung mit dem ebenfalls signifi- geschriebenen u. a. deshalb eine zentrale Stelle
kanten Reibelaut »r« (»Geruchvoll« und »Mark ein, weil es das letzte ist, das von der Nähe der
des Lebens« [Y. 27]) das zentrale Wort »Dop- Geliebten spricht. Die folgenden Gedichte ha-
pelschrift« und stellen es in eine phonetische ben ihre Trennung zur Voraussetzung, und die-
Konfiguration mit «offinbaret« und <frommer« jenigen, die der männlichen Rolle zugeordnet
(y. 30), um dann allerdings die Rede des Ge- sind, behandeln die fortschreitende Metamor-
dichtes auf »gewahret« (Y. 31) und »schweigt« phose der Geliebten in Poesie.
(Y. 32) zu enden. Das sich unmittelbar an Geheimschrift an-
Auf phonetischer Ebene hat G. diesem Ge- schließende Gedicht mit dem Titel Abglanz
dicht eine Art Kommentar des Titels »Geheim- (FA I, 3.1, S. 99f.) führt die erotische Spiegel-
schrift« eingeschrieben, den er in der letzten funktion der Poesie aus, ein platonisches Bild
Strophe als »Geheime Doppelschrift« gleich- der fernen Geliebten zu zeichnen und damit
zeitig erläutert und verstellt. Wie alle »diplo- dauernd verfügbar zu halten: »Dann blick ich
matischen« Geheimschriften ist auch der chif- in meine Lieder, / Gleich ist sie [die Geliebte;
frierte briefliche Austausch zwischen Lieben- d. Vf.] wieder da« (Y. 15f.). Diese ganz im
den daran interessiert, eindeutig entziffert, Sinne der Romantik gehaltene poetische Spiri-
»in's Gleiche« gestellt zu werden. In dem tualisierung der Liebe dehnt G. im Schlußge-
Maße aber, wie die private erotische Korre- dicht des Buches Suleika auf jene Vorstellung
spondenz G.s und Frau von Will emers öffent- einer erotisch inspirierten Naturschrift aus,
lich, d.h. Literatur wird, erhebt sie Anspruch die, egal in welchem Element (Erde, Wasser,
darauf, eine doppelte Geheimschrift zu sein, Luft) sie geschrieben ist, immer wieder das
eine, die sich nicht in einer zufalligen bio- Bild der geliebten Frau zur Lektüre anbietet.
graphischen Konstellation auflösen läßt, son- Im Medium der platonischen Liebe überlagern
dern darüber hinaus als notwendige Gestalt sich Naturschrift und Poesie als Signaturen
poetischer Differenz überdauert. In poetischer einer ästhetischen Distanzierung der (Körper-)
Gestalt entwickelt diese »Geheimschrift« eine Welt. Neben dem politischen berücksichtigt
kontinuierliche doppelte Bewegung, die G. damit auch den magisch-esoterischen Ur-
gleichzeitig »offenbart« und »verschweigt«. G. sprung der Geheimschriften.
bindet sie an ein «unbedingtes Streben [Hv. v.
Vf.]« (Y. 25) und erinnert damit an das Autono- Eine eigene Rezeptionsgeschichte von Ge-
miepostulat der Poesie, irreduzible SChriftge- heimschrift läßt sich kaum rekonstruieren, da
stalt zu sein. die Belege äußerst spärlich sind. Stärker noch
Die poetische Geheimschrift avanciert zur als bei vergleichbaren Divan-Gedichten hat
synästhetischen Ersatzbildung der sinnlich Herman Grimms Veröffentlichung aus dem
wahrnehmbaren Welt, zur Metonymie der Na- Jahre 1869, Goethe und Suleika, die Forschung
430 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

auf einen biographisch-existenziellen Aspekt standen sein, denn an diesem Tag zitierte G.
festgelegt und eingeschränkt. G.s Hinweis auf die letzten beiden Verse in einem Brief an Jo-
chiffrierte Korrespondenz unter Liebenden hann Jakob Willemers Tochter Rosine Städel
hat hierzu ein übriges beigetragen. Über Kon- mit der Bemerkung, er müsse sich, um alles
rad Burdach (1896) und die Kommentare der auszusprechen, »wie bisher, [ ... ] in die Poesie
verschiedenen G.-Ausgaben bis hin zu Stuart flüchten«. Erstdruck am Beginn von Saki Na-
Atkins (1965) und Gerhard Neumann (1969) meh - Das Schenkenbuch im Divan von 1819
wird Titel und Begriff »Geheimschrift« kur- (FA I, 3.1, S. 104).
sorisch im Hinblick auf den codierten Umgang Gleich in diesem ersten Gedicht wird die
mit Gedichten des persischen Dichters Hafis bunte Szenerie des Schenkenlebens entfaltet,
interpretiert. Weder liegt für Geheimschrift wie sie dem gesamten Schenkenbuch als Hin-
eine genauere Analyse der intertextuellen Be- tergrund dient. Dazu ist G. einmal mehr durch
züge zu Hafis vor, noch findet sich in den zahl- den Diwan des persischen Dichters Hafis an-
reichen Gesamtstudien zum Divan ein Ver- geregt worden, der gleichfalls ein eigenstän-
such, das Gedicht auf seine literarische Struk- diges· Schenkenbuch enthält und die Schenke
tur hin zu lesen. Zumeist wird es nur nebenbei mit ihren freizügigen Sitten als bevorzugten
genannt oder völlig übergangen. Aufenthaltsort des Dichters exponiert - ein
Es liegt eine Vertonung des Gedichtes von Raum, in dem nicht nur das vom Islam ver-
dem herzoglichen Musikdirektor in Weimar hängte Weinverbot außer Kraft gesetzt ist. Mit
Kar! Eberwein vor. herausforderndem Unterton bekennt sich
denn auch der Dichter in G.s Divan zum
Schenkenleben: »Ja, in der Schenke hab' ich
Literatur: auch gesessen, / Mir ward wie andern zuge-
Atkins, Stuart: Zum besseren Verständnis ellllger messen« (V. 1f.).
Gedichte des West-Östlichen Divan. In: Euphorion. Dem tumultuarischen Treiben in der
59 (1965), S. 178-209. - HwbA, Bd. 3, Sp. 453-465.- Schenke (V. 3), das - je nach Tagesstimmung -
Burdach, Konrad: Goethes West-östlicher Divan in zwischen Frohsinn und Traurigkeit pendelt
biographischer und zeitgeschichtlicher Beleuch- (V. 4), entspricht auf formaler Ebene, daß das
tung. In: GoetheJb. 17 (1896), S. 3-40. - Neumann,
Gerhard: »Liebliches«. Ein Beispiel für Goethes
Gedicht erst ab Vers drei in ein regelmäßiges
Wortgebrauch. In: Euphorion. 63 (1969), S. 66-87. metrisches Schema findet (fünfhebiger Jam-
bus) und daß die Reimstruktur variiert: Zwi-
DetlifKremer
schen den zwei rahmenden Blockreimen
(V. 1-2 u. 10-11) stehen Kreuzreime und ein
ungewöhnlicher dreiteiliger Blockreim
(V. 3-5). Dieser bietet zugleich ein formales
Indiz für die Sonderstellung von Vers fünf:
»Ich aber saß, im Innersten erfreut«. Hier
Ja, in der Schenke hab' ich nämlich ändert sich die Perspektive des still in
der Ecke sitzenden Dichters, der - anders als
auch gesessen in Wt:zs, in der Schenke, waren heute - das
Treiben um sich herum nur beobachtet. Mit
Vers fünf kehrt sich der Blick des Dichters -
Von diesem Gedicht ist keine Handschrift G.s zusätzlich durch das adversative »aber« her-
erhalten. Möglicherweise verfaßte er es bis vorgehoben - von außen auf sein »Innerstes«.
zum 30.5. 1815, denn seit Burdach (WA I, 6, Diese Wendung zum »Ich« wird durch die Ge-
S. 314) wird vermutet, es sei bereits als Nr. 23 genläufigkeit von Rhythmus und Metrum auf
unter dem Stichwort »Schencke« im Wiesba- dieser ersten Silbe von Vers fünf noch betont.
dener Register vom 30.5. 1815 vermerkt. Spä- Der Dichter gedenkt »erfreut« seiner abwesen-
testens kann das Gedicht am 27.9. 1815 ent- den »Liebsten«: ein Rückblick auf die Geliebte
Vennächtniß alt persischen Glaubens 431

im vorangehenden Buch Suleika. Die Frage, leika (Einladung) dem gleichfalls einleitenden
»wie sie liebt« (Y. 6), weiß er zwar nicht zu Ja, in der Schenke darin entspricht, daß es die
beantworten, wohl aber die Einzigartigkeit Abkehr vom Treiben der Welt thematisiert. Im
seiner eigenen Liebe zu ihr zu umschreiben: Buch Suleika aber findet sich auch das Gegen-
die ausschließliche Treue zu dieser »Einen«, gedicht zu Ja, in der Schenke: In Wie sollt' ich
die Liebesfahigkeit, wie sie »ein Busen« über- heiter bleiben ist das Leiden an der Abwesen-
haupt hergibt und die bis ins »Knechtische« heit der Geliebten zu groß, so daß jede Form
geht (Y. 8f.). Daß sich der Dichter vor seiner dichterischer Artikulation versagt. Während
Geliebten »demüthigt, ja vernichtet« (Noten der Dichter in Ja, in der Schenke noch einmal
und Abhandlungen; FA I, 3.1, S. 222), ist ein die Liebe zur abwesenden Geliebten zu be-
von Hafis übernommenes Motiv, das G. in den schwören weiß, wird diese im Verlaufe des
Noten und Abhandlungen als Gegengewicht Schenkenbuchs zunehmend von der homoero-
zur genauso rechtmäßigen »Anmaßung« des tisch getönten Beziehung des Dichters zum -
Dichters präsentiert: Demütigung gegenüber anwesenden - Schenkenknaben verdrängt.
der Geliebten und Anmaßung gegenüber der Obwohl dieses Gedicht als immerhin erstes
Welt sind Teil der poetologischen Programma- des Schenkenbuchs einen besonderen Stellen-
tik (v gl. Derb und Tüchtig). So drängt die Aus- wert hat, ist es in der Divan-Philologie nur
nahme-Liebe den Dichter zur Artikulation, die marginal beriicksichtigt worden.
aber, da die Geliebte abwesend ist, nur im
Schreiben vennittelt werden kann. »Wo war Anke Bosse
das Pergament, der Griffel wo? / Die alles faß-
ten! - » (Y. 10-11), fragt der Dichter, zugleich
hilflos und emphatisch. Der folgende Gedan-
kenstrich markiert eine gewichtige Pause,
denn anschließend scheint der Dichter die
passenden Worte zu finden: »doch so wars! ja Vennächtniß alt persischen
so!«. In der Wiederaufnahme des »so« verleiht
er dabei seiner Erleichterung nicht nur be- Glaubens
sonderen Nachdruck, das bekräftigende »ja«
bildet letztlich auch ein Echo zum bekennend-
herausfordernden »Ja«, mit dem das Gedicht Dieses Divan-Gedicht hat G. wohl am 13. und
einsetzt. Außerdem stellen das »Ja« - als Be- 14.3. 1815 verfaßt; das Tagebuch vermerkt an
kräftigung oder Antwort gelesen - und die diesen Tagen »Glaubensbekänntniß des Par-
Partikel »auch« in dieser ersten Zeile einen sen« und »Alt Persischer Zustand«. Die unda-
dialogischen Rückbezug her zum Vorangegan- tierte Reinschrift - größtenteils von G.s
genen, dem Buch Suleika. Schreiber Johann August Friedrich John, Kor-
In der hier geschilderten Situation - der rekturen und Numerierung eigenhändig -
Dichter sitzt, abgeschirmt vom Treiben der trägt den vollständigen Titel und die Numerie-
Welt, in der Schenke, gedenkt der Geliebten rung »65.«. Unter dieser Nummer und dem
und will seine Gefühle niederschreiben - ist Stichwort Vtmnächtnis wurde das Gedicht in
die anakreontische, nun mit orientalischem das Wiesbadener Register aufgenommen.
Ambiente ausgestattete Motiv-Trias »Lieben, Erstdruck im Divan von 1819. Die Sonder-
Trinken, Singen« angesprochen, wie sie schon stellung des nach SiebenschläJerzweitlängsten
im Proömiumsgedicht des Divans (vgl. He- Gedichts des Divans zeigt sich darin, daß es
gire) vorgestellt wird. So ist es kein Zufall, daß fast ein selbständiges Divan-Buch bildet, das
diese sichtlich zentrale Situation schon im Parsi Nameh - Buch des Parsen. Es folgt dort
Buch Suleika präludiert wurde (Wenn ich dein nur noch das kurze, nicht zwingend auf die
gedenke und Nur wenig ist 's was ich verlange) Parsen bezügliche Gedicht Wenn der Mensch
und daß das Einleitungsgedicht zum Buch Su- die Erde schätzet (FA 1,3.1, S. 122-125).
432 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

Reinschrift
Vermächtniß alt persischen Glaubens 433

Die Entstehung des Gedichts fällt in die Glückseeligkeit der Heiligen darinne, / daß
Endphase der ersten intensiven orientalisti- sie derselben Licht gantz klahr sehen kön-
schen Studien G.s für den Divan. In diversen nen, / und zugleich Gott, / als wie in einem
Quellenwerken fand G. immer wieder Be- Strahlen zurück-werffenden Spiegel«. Auch
schreibungen der altpersischen oder parsi- auf den alles »Ungezieffer« tilgenden Acker-
schen Lebensweise und ihrer Sonnenreligion bau geht Sanson ein, vor allem aber auch auf
- so vor allem in den Voyages en Perse des die Situation der Sterbenden: »Sie pflegen in
Chevaliers Jean Chardin und in dem Bericht ihren Testamenten / wenn sie auffm Todt-
des Missionars Nicolas Sanson im Anhang zu Bette liegen / eine gewisse Summa Geldes zu
Adam Olearius' Reisebeschreibung. Deren vermachen / mit Bedingung / daß man aus den
Angaben verwertete G. teilweise bis ins Detail Bächen eine gewisse Anzahl von Heuschrek-
in seinem Gedicht. So berichtet bereits Char- ken / Schlangen / Kröten / und dergleichen
din (Bd. 2, S. 158 u. S. 179-185) von der tradi- Gewürme wegschaffen wolle [ ... J. Die Lufft
tionellen Sonnentau fe Neugeborener (vgl. reinigen / und die Städte vor den übeln Aus-
V. 29-32), durch die sie der Sonne als der Ma- dünstungen zu bewahren / das wird bey ihnen
nifestation Gottes geweiht werden, vom Ar- als eine gottseelige Sache gerechnet«. Weitere
beitsethos und vom zentralen Stellenwert des Anregungen dürfte auch Thomas Hydes Hi-
Ackerbaus, in dem die Parsen oder »Guebres« storia Religionis Veterum Persarum gegeben
nicht nur einen schönen und wichtigen Beruf haben. Dagegen kommt die Zend-Avesta-
sähen, sondern die erste aller Pflichten, die sie Übersetzung des Franzosen Abraham Hyacin-
gegen Gott zu entrichten hätten. In der Arbeit the Anquetil du Perron als direkte Quelle we-
an der Natur sähen sie daher den natürlichsten niger in Frage. Es fehlt nicht nur der Nachweis
und selbstverständlichsten Gottes-Dienst (vgl. für eine Lektüre durch G., das Avesta ist zu-
V. 37-48). Die Vernichtung unnützer Tiere, die dem die spätere schriftliche Kodifizierung der
nur von einer bösen Macht geschaffen sein ursprünglichen Naturreligion der Parsen
könnten, sei daher eine Tugend und gleichfalls durch Zarathustra (»Zoroaster«). G. aber geht
ein Verdienst gegen die gute Macht, gegen hier nicht nur dezidiert auf den Zustand vor
Gott (vgl. V. 45-48). Von den zeitgenössischen der Verschriftlichung zurück; es fehlen bei ihm
Parsen erzählt Chardin, daß sie seit tausend auch die dualistisch gegenübergestellten Gott-
Jahren unterdrückt seien und in Armut lebten. heiten Ormuzd (Gott des Guten) und Ahriman
Sanson (S. 12 u. S. 49f.) ging noch genauer auf (Gott des Bösen), die erst im Avesta in die
die Sonnenanbetung und den Feuerdienst ein, parsische Religion eingeführt wurden. Des-
wie sie besonders die mnfte und sechste Stro- gleichen nutzte G. Anquetil du Perrons Reise
phe des Gedichts beschreiben: »Fraget man nach Ostindien erst bei Abfassung des Prosa-
sie / warumb sie sich auff die Erde legen / Pendants zu Vermächtn!ß, des Noten-und-Ab-
wenn die Sonne auffgehet? / so antworten sie; handlungen-Kapitels Aeltere Perser (FA I, 3.1,
es geschehe aus schuldigen Respect gegen das S.148-152).
vollkommenste Geschöpff / nach dem Men- Daß G. denselben Themenkomplex nicht
schen / welches GOtt aus nichts gemachet. In nur poetisch behandelte, sondern noch einmal
demselben meynen sie auch / habe Gott seinen ausführlich in den Noten und Abhandlungen,
Thron auffgeschlagen / und daß selbiger aller- ist innerhalb des Divans einzigartig und dürfte
dings einer demüthigen Ehr-Bezeugung werth auf zweierlei zurückzuführen sein. Erstens
sey. [ ... ] Sie halten eben die Beschneidung so sollte der enge Quellenbezug des Gedichts
genau nicht; Denn ihre Magi heben nur die nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Faszi-
Kinder gegen die Sonne und an das Feuer / nation der parsischen Naturreligion für G. in
und wenn das geschehen / glauben sie / daß- ihrer weitgehenden Konvergenz mit seinen ei-
selbige schon ge heiliget seyn. In dem Um- genen naturreligiösen und lebenspraktischen
bkräyß der Sonnen meynen sie, sey das Para- Vorstellungen bestand - im »Monotheismus
deiß, und ihren Gedancken nach bestehet die mit dem Glauben an einen nur appellativisch
434 Von den Sonetten zum West-östlichen Divan. 1806-1819

benannten Schöpfergott«, in der »optimisti- und regelmäßig in fünfhebigen Trochäen und


schen, kämpferischen Ethik« und in der »Beto- in je zwei - stets weiblichen - Blockreimen pro
nung des Werts schweren<, aber nützlicher Strophe gehalten ist. Als »armer Frommer«
»Arbeit« (Lentz, S. 173f.). Zweitens betonte (Y. 2) hat der Sterbende nichts anderes als die
G., daß in seinen Augen eine Kenntnis der überkommenen Lehren des Parsentums zu
parsischen Religion und Sitten »um so nö- vermachen. Nach der Ansprache an die »Jün-
thiger ist, als ohne einen klaren Begriff von geren«, die weiterlebenden »Brüder«, expo-
diesem frühesten Zustande, die Umwandlun- niert er ein Oppositionsverhältnis zwischen
gen des Orients immer dunkel bleiben« (Mor- der Armut der Parsen und dem Reichtum des
genb la tt vom 24.2.1816; FA 1,3.1, S. 551). Die Königs (Y. 1-12). Während dieser äußerlich
Vorstellung von einem unverfälschten und da- bleibt, zeigt sich der Reichtum der Parsen in
mit »reinen« Urzustand - sei es in Religion, ihrem Glauben, welcher sich auf die »Allge-
Kultur oder Literatur - zieht sich nicht nur genwart Gottes in seinen Werken der Sinnen-
leitmotivisch durch G.s kultur- und sozialmor- welt« (Aeltere Perser; FA I, 3.1, S. 150) grün-
phologische Überlegungen in den Noten und det. So stellt der alte Parse dem »Gold« des
Abhandlungen; sie wird vielmehr im Falle der Königs das Licht der Sonne gegenüber. Der
parsischen Kultur explizit zum Fluchtpunkt Sonne als höchster und mächtigster Repräsen-
der Reflexionen gesetzt: »Wenn wir uns nun zu tation Gottes, deren lebenspendende Kraft für
einem friedlichen, gesitteten Volke, den Per- Gott als Schöpfer steht (Y. 17-20), gilt im Kern
sern wenden, so müssen wir, da ihre Dichtun- die parsische Anbetung. Feuer und Licht als
gen eigentlich diese Arbeit veranlaßten, in die irdischen Manifestationen dieses höchsten
früheste Zeit zurückgehen, damit uns dadurch Prinzips begegnen die Parsen mit Ehrerbie-
die neuere verständlich werde« (Noten und tung; beide zu hüten ist Teil des religiösen
Abhandlungen. Uebergang; ebd., S. 148). Hin- Kults (Y. 57-68).
tergrund des Gedichts ist die Randexistenz der Im Zentrum dieser »kultischen Dichtung«
zeitgenössischen Parsen, die - durch die Isla- (Beutler, S. 65) steht die siebte Strophe. Nach-
misierung Persiens im 7. Jh. verdrängt - »bis dem der alte Parse plastisch seine eigene Feu-
auf den heutigen Tag verachtet und be- eranbetung als glückspendende Lebensbasis
schimpft, bald geduldet, bald verfolgt« wur- dargestellt hat, bündelt er seine Erfahrungen
den, deren Religion sich aber trotzdem »hie zum zentralen lebenspraktischen Imperativ
und da in der frühesten Reinheit [Hv. v. Vf.]« des parsischen Glaubens. Das »heilige Ver-
hielt, »selbst in kümmerlichen Winkeln, wie mächtniß« (Y. 25), das der Titel präludiert,
der Dichter solches durch das Vennächtn!ß des gibt die Zeile wieder, die G. als einzige im
alten Parsen auszudrücken gesucht hat« (Ael- Divan hervorheben ließ: » S c h wer er
tere Perser; ebd., S. 151f.). So bot der Parsis- Dienste tägliche Bewahrung,/
mus G. die Möglichkeit, auf eine Religion ora- Sonst bedarf es keiner Offenbarung« (Y. 27f.).
ler Tradition rekurrieren zu können, die ur- Dieses Prinzip expliziert der Parse in den Stro-
sprünglicher, reiner ist als die großen Schrift- phen acht bis vierzehn (Y. 29-56) anhand eini-
und Offenbarungsreligionen orientalischen ger Gebote: die Taufe Neugeborener in der
Ursprungs wie Judentum, Christentum und aufgehenden Sonne, der Ackerbau, die Bestat-
Islam. tung der Toten an der Luft, die Bewässerung
Nicht zufällig gestaltete G. das Vennächtniß und die Unkraut- und »Untier«-Vertilgung sind
in Form eines mündlich vermittelten Testa- Teil des täglichen Dienstes des Menschen an
ments. Angeregt durch Sansons Hinweis auf der Natur. Während nämlich dem Feuer als
die »Testamenten [ ... ] auffm Todt-Bette«, bereits »reinem« Abbild Gottes kultische Ver-
legte er es einem alten, sterbenden Parsen in ehrung gilt, müssen die drei anderen Natur-
den Mund. Ein dieser Situation angemessener, elemente - Erde, Luft und Wasser - zunächst
feierlich-getragener Eindruck wird im Gedicht der Reinigung, Ordnung und Kultivierung
formal dadurch gestützt, daß es durchgängig durch den Menschen unterzogen werden.
Vennächtniß alt persischen Glaubens 435

Diese religiös-kultische Handlung ist als zum Gebirge »Darnavend« (V. 74) bis zu »Got-
Dienst an der Natur zugleich ein Dienst an tes Thron« (V. 68), der Sonne, aufsteigen.
Gott, durch den der Mensch - selbst im prakti- Diese apotheotische Vorstellung am Ende von
schen Handeln geläutert - Gott näherrückt Vermächtntß präludiert nicht nur den stufen-
(V. 53-56). Die zentrale Idee des Reinen als weisen Aufstieg der Seele Fausts in Faust 1I;
des Unverfälschten, Lauteren, Makellosen sie bildet auch die Brücke zu dem auf das Buch
durchzieht hier Kultisches wie Ethisches: Der des Parsen folgenden Buch des Paradieses, das
Reinigung der Natur entspringt wie selbstver- sich dann - allerdings im Kontrast - auf isla-
ständlich die Reinheit der Sitten. Doch die mische Paradiesvorstellungen konzentriert.
hier uneingeschränkt positiv dargestellten
»bürgerlichen Tugenden: Aufmerksamkeit,
Reinlichkeit, Fleiß« (Aeltere Perser; FA I, 3.1, Literatur:
S. 150) haben über den strengen Dualismus Beutler, Ernst: Goethes Divangedicht Vermächtnis
von Gutem und Bösem, Nützlichem und alt persischen Glaubens. In: Eckart. 18 (1942),
Schädlichem, Erhaltens- und Vernichtenswer- S.217-226. - Boyd, James: Notes to Goethe's
tem eine - hier nicht gezeigte - Schattenseite, poems. Bd. 2 (1786-1832). Oxford 1949, S. 185-196.
einen repressiv-naturunterdrückenden Zug. - Chardin, Jean de: Voyages du chevalier Chardin en
Perse, et autres lieux de l'orient. Nouvelle Edition
Dies läßt sich kaum zu einem »zarten, liebevol-
[... ]. 4 Bde. Amsterdam 21735. - GUNDOLF, S. 664.-
len Umgang mit der Natur« umstilisieren, wie Hyde, Thomas: Historia Religionis Veterum Persa-
ihn Katharina Mommsen meint hier heraus- rum, eorumque Magorum. Oxford 1700. - Lentz,
lesen zu können (S. 171). Wolfgang: Goethe und die altiranische Religion. In:
Doch die Idee des Reinen in Kombination Reiss, Hans (Hg): Goethe und die Tradition. Frank-
mit lebenspraktischen Ansichten findet sich furt/Mo 1972, S. 163-176. - Mommsen, Katharina:
West-östlicher Divan und Chinesisch-deutsche Jah-
auch frei von diesem negativen Aspekt mehr-
res- und Tageszeiten. In: GoetheJb. 108 (1991),
fach variiert im Divan und vor allem immer S. 169-178. - Olearius, Adam: Appendix: Betreffend
wieder in autobiographischen Äußerungen Des itzigen Persischen Hofs Staats- und Regierungs-
G.s, die sich über sein ganzes Leben verteilen Beschreibung: so als derselbe von dem Französis.
(vgl. schon G.s Tagebuch vom 7.8.1779). berühmten Missionario Hn. Sanson [... ] beschrie-
Die letzten Strophen des Gedichts nehmen ben worden. In: ders.: Des Welt-berühmten Adami
Olearii colligirte und viel vermehrte Reise-Beschrei-
die Eingangssituation wieder auf: Der ster-
bungen [... ]. Hamburg 1696. - Rudloff, Ellen Char-
bende Parse kommt auf seinen bevorstehen- lotte: Vermächtnisaltpersischen Glaubens. MA-The-
den Tod zu sprechen und entwirft eine escha- sis (Masch.). Stanford 1965.
tologische Vision. Demnach wird seine Seele
Anke Bosse
436

men tritt in den lyrischen Werken des 70jäh-


Das lyrische Spätwerk. rigen hervor als eher eine Intensivierung und
1819-1832 Steigerung bereits erprobter Sprachmöglich-
keiten, die jetzt aber im Bewußtsein des Rück-
und Rundblicks zu einer Höhe extremer Ver-
knappung, Prägnanz und Selbstverständlich-
Das Historische der eigenen keit zusammengefaßt werden. So besehen be-
Person steht die eigentümliche Leistung dieser auch
im Umfang beträchtlichen Schaffensperiode
nicht zuletzt in der Entwicklung einer ebenso
Die letzte Phase von G.s lyrischer Produktion gelösten wie durchgeistigten, poetisch höchst
steht im Zeichen zahlreicher Verknüpfungen konzentrierten Lyrik, in einem »ästhetischen
mit dem früheren lyrischen als auch dem zeit- Lakonismus [ ... ]; wo nur das Notwendigste,
gleichen epischen und dramatischen Werk, be- aber auch das Unerläßliche gehörig faßlich
sonders aber im Licht einer zunehmend be- dargebracht wird« (Individualpoesie, MA 13.1,
wußter wahrgenommenen Historizität der ei- S. 488). Dieser gelassene Lakonismus läßt al-
genen Position. G. empfindet es als das »Glück len Phänomenen ihr Gemäßes, das ihnen Ge-
des Alters«, daß »die historische Neigung [ ... ] hörige, und ist damit der Standpunkt einer
mit den Jahren immer mehr in uns überhand« »Poesie, wie sie meinen Jahren ziemt« (an Zel-
nimmt (an Nees von Esenbeck, 20.9.1822). Es ter, 11.5.1820). Mit der schlichten Transparenz
ist der umfassende Horizont des hohen Alters, einzelner Gedichte hat G. noch die Divan-
der einen »eigentlich dadurch den Augenblick Lyrik hinter sich gelassen (zu Eckermann,
immer besser beurtheilen« läßt, daß »man sich 12.1.1827), die indes im Plan des »geistig
selbst historisch wird« (an Justus Friedrich schreiben[s]« (Chinesisch-Deutsche Jahres-
Carl Hecker, 7.10.1829), wobei »historisch« und Tageszeiten) ihre Spuren hinterläßt.
nahezu das Gegenteil von historistisch ist: G.
war gegenüber der Geschichte ein radikaler Zunächst zum persönlichen und zeitgeschicht-
Zweifler, wie ein spätes Xenion deutlich lichen Hintergrund. Die Jahre von 1819 bis zu
macht: »Was kluges, dummes auch je geschah / G.s Tod sind in biographischer Hinsicht eine
Das nennt man Welt-Historia« (FA I, 2, S. 653). Periode von Krisen, Krankheiten und seeli-
So ist das Historische im G .schen Sinn gerade schen Erschütterungen, vor deren Hinter-
nicht das Einmalige, sondern die Wiederho- grund sich die gelassene Welt- und Selbstsicht
lung, die Annäherung von Vergangenheit und um so überraschender abhebt, wenngleich die
Gegenwart: »ob etwas in der vergangenen zunehmende Geschichtsskepsis nicht zu über-
Zeit, in femen Reichen oder mir ganz nah sehen ist - das Wort »absurd« wird zu einem
räumlich im Augenblicke vorgeht, ist ganz Lieblingsbegriff des späten G., wenn es um die
eins« (an Wilhelm von Humboldt, 1.12.1831). Charakterisierung seiner Gegenwart geht. Die
Die damit mögliche Gelassenheit gegenüber leidenschaftliche Begegnung mit Ulrike von
der aktuellen Gegenwart, aber auch gegenüber Levetzow im Marienbader Sommer 1823 - G.
der eigenen Vergangenheit eines langen Le- ertappte sich auf der »unmöglichsten aller
bens sowie vor der immer kostbarer werden- Synthesen« (an Christoph Ludwig Friedrich
den Zukunft des Greises hat für die späte Lyrik Schultz, 8.9.1823) - bescherte ihm zwar das
entscheidende Konsequenzen. »Liegt dir Ge- wohl erschütterndste seiner Gedichte, die so-
stern klar und offen, / Wirkst du Heute kräftig genannte Elegie von Marienbad, brachte ihn
frei; / Kannst auch auf ein Morgen hoffen, / aber auch an den Rand des Todes. Die beiden
Das nicht minder glücklich sei« (FA I, 2, fünfzigjährigen Jubiläen im Herbst 1825 - Carl
S.661). Augusts Regierung und G.s Ankunft in Wei-
Weniger die Ausbildung neuer Formen oder mar -, die Herausgabe des Schiller-Briefwech-
die Darstellung zuvor nicht behandelter The- sels, dann der Tod nächststehender Lebens-
Das lyrische Spätwerk. 1819-1832 437

partner, Charlotte von Steins im Januar 1827, und französischen Zeitschriften - besonders
des Herzogs im Juni 1828, gar des Sohnes im von Le Globe-, und im März 1825 bedachte er
Oktober 1830 in Rom, und zahlreiche Erkran- bereits »den projectirten Canal durch's mitt-
kungen machten mit die seelische Beanspru- lere Amerika von einem Meer zum andern«
chung der letzten Jahre aus. »Lange leben (WA III, 10, S. 26).
heißt gar vieles überleben, geliebte, gehaßte, Die dichterische Umsetzung von Beobach-
gleichgültige Menschen, Königreiche, Haupt- tungen etwa zum »Durchrauschen des Papier-
städte, ja Wälder und Bäume, die wir jugend- geldes«, zum »Anschwellen der Schulden, um
lich gesäet und gepflanzt. Wir überleben uns Schulden zu bezahlen« (MuR 480) im Faust /I
selbst«, heißt es in dem Brief an Gräfin Au- oder Wilhelm Meisters Wanderjahren mit ihrer
guste von Bernstorff (geb. zu Stolberg) vom Analyse des drohenden Maschinenwesens
17.4.1823. Trennungen und Abschiede sind kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß
flir den vielfach tragischen Unterton der spä- selbst die Lyrik ihren - freilich höchst eigen-
ten Gedichte mit verantwortlich: »Doch tük- willigen, poetisch »kohobierten« - histori-
kisch harrt das Lebewohl zuletzt« (An Werther, schen Ort einnimmt. Ein direkt zeitgeschicht-
FA I, 2, S. 457; vgl. Müller-Seidel 1990). licher Bezug dürfte freilich kaum irgendwo zu
Die 1820er Jahre mit der Fertigstellung der finden sein, wie G. auch Alessandro Manzoni
Wanderjahre sowie der Vollendung von Faust vorhielt, er habe »gar zu viel Respekt vor der
/I, der Autobiographie, der Italienischen Geschichte«. Doch äußert sich G. selbst in sei-
Reise, sind überdies die Zeit, in der G. rund nem zeitgenössischen Dialog eben mit Man-
zwei Fünftel seiner Briefe und etwa die Hälfte zoni über den anscheinend paradoxen Grund-
seiner Tagebücher schreibt, in der sich ein zug der Lyrik, zugleich - wie alle Dichtung -
großer Teil seiner in Gesprächen festgehalte- »eigentlich in Anachronismen« zu verkehren
nen Begegnungen mit den Zeitgenossen nie- (GA 14, S. 837f.) und doch als »höchste Lyrik«
derschlägt, in der er schließlich auch mit wa- »entschieden historisch« zu sein (ebd., S. 839).
chem und kritischem Geist die gesellschaft- »Ich habe auch meine Modernität nicht ver-
liche Entwicklung auf nahezu allen Gebieten- leugnen können«, läßt Eckermann G. am 3.11.
bis hin zum entstehenden G.-Kult - wahr- 1823 sagen. Das Historische ist dabei nicht
nimmt. Es ist in Deutschland das Zeitalter re- bloß eine Umformulierung von G.s Forderung,
staurativer Tendenzen, wie sie vor allem seit alle Gedichte müßten Gelegenheitsgedichte
der Ermordung August von Kotzebues in den sein. Vielmehr ist auch bei G. die »höchste
sogenannten Karlsbader Beschlüssen durchge- Lyrik« - um eine Formulierung Walter Killys
führt wurden. G. hat besonders die wirtschaft- zu gebrauchen - »entschieden historisch«. Da-
lichen, wissenschaftlichen und technischen mit wird das Historische zu einem Höhen-
Veränderungen verfolgt: »Junge Leute«, heißt begriff, wird die Lyrik zum umfassenden Blick
es am 6.6.1825 an Zelter, »werden viel zu früh des Türmers, der räumlich und zeitlich Nahes
aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgeris- und Fernes ebenso wahrnimmt wie die Be-
sen; Reichtum und Schnelligkeit ist was die dingtheit des eigenen Standorts: »Dem Turme
Welt bewundert und wornach jeder strebt; Ei- geschworen«, wie Lynkeus im fünften Akt des
senbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und Faust /I singt.
alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation
sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich
zu überbieten, zu überbilden und dadurch in
der Mittelmäßigkeit zu verharren. Und das ist
ja auch das Resultat der Allgemeinheit, daß
eine mittlere Kultur gemein werde, dahin stre-
ben die Bibelgesellschaften, die Lankasteri-
sche Lehrmethode, und was nicht alles«. G.
war ein aunnerksamer Leser der englischen
438 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

Das kommunikative Modell der lieder, Neugriechische Liebe-Skolien) und Ir-


land. Im April 1820 übersetzt G. den Pfingst-
Weltliteratur
hymnus T1!ni creator spiritus, die Terzinen von
1826 (Im ernsten Beinhaus war's) werden zum
Das Bewußtsein einer solchen anachronisti- Dialog mit Dante. 1827, am Ende dieser Epo-
schen, nur bedingt mit dem Verständnis durch che schreibt er den kleinen Zyklus der Chine-
die unmittelbaren Zeitgenossen rechnenden sisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten, dem
Historizität bildet sich bei G. über Jahre auf G. noch einmal persönlichste Tönungen seiner
zahlreichen Ebenen aus, am deutlichsten wohl Lyrik anvertraut hat, ohne daß die Befruch-
in der vielfach belegten Vorstellung der »Welt- tung durch die fernöstliche Kultur ähnlich
literatur«, die er in den letzten Jahren in un- streng strukturbildend geworden wäre wie die
terschiedlichen Kontexten formuliert. Sie um- persische beim Divan. Vielmehr liegt die Ver-
faßt nicht nur den für G. immer schon selbst- bindung jetzt in der Tendenz zur Verknappung,
verständlichen Dialog mit der antiken und eu- zum Kurz- und Dinggedicht, zu »Leichtigkeit
ropäischen Literatur aller Epochen, sodann und Zierlichkeit«, zur »strengen Mäßigung in
mit dem nahen, mittleren (indische Literatur) allem«, von der Eckermann G. am 31.1. 1827
und fernen Osten (chinesische Literatur), son- sprechen läßt - in jener Aufzeichnung, in der
dern meint explizit, »daß die lebendigen und auch das Stichwort von der die Nationallite-
strebenden Literatoren einander kennenler- ratur ablösenden »Epoche der Weltliteratur«
nen und durch Neigung und Gemeinsinn sich fällt.
veranIaßt finden, gesellschaftlich zu wirken« Diese letztlich kommunikative, humanisti-
(Allgemeine Betrachtungen zur Weltliteratur, sche Konzeption von »Weltliteratur« - G.
GA 14, S. 909). Daß damit nicht, wie es heute spricht von »geistigem Handelsverkehr« (Tho-
aufgrund der trivialisierten Rede von Weltlite- mas Carlyle, Leben Schillers, GA 14, S.934;
ratur scheinen könnte, einer Selbstverständ- vgl. Altenhofer) - hat überdies eine rezep-
lichkeit das Wort geredet wird, zeigen die tionsästhetische Seite: Sie will als Versamm-
gleichzeitigen nationalen, patriotischen Be- lung, als »Divan« angesehen sein, die nicht
mühungen, etwa um eine deutsche, französi- abgeschlossen ist, sondern mit der produkti-
sche oder italienische Oper. G.s Teilnahme an ven Beteiligung des Lesers rechnet. Entspre-
Manzoni, an Byron, Thomas Carlyle und Ho- chend G.s Selbsteinschätzung - »Im Grunde
non~ de Balzac, aber auch schon an Victor aber sind wir Alle kollektive Wesen, wir mö-
Hugo und Stendhal bildet einen der Hinter- gen uns stellen, wie wir wollen. Denn wie
gründe dieser Jahre. Die erneute Auseinan- Weniges haben und sind wir, das wir im rein-
dersetzung mit der Antike und der aristoteli- sten Sinne unser Eigentum nennen!« (zu Ecke-
schen Tragödientheorie schlägt sich neben rmann, 17.2. 1832) - sind auch die großen
Faust II auch in der jetzt erst deutlichen Affini- Spätwerke, die beiden Fassungen von Wilhelm
tät zur lyrischen Trilogie (Paria, Trilogie der Meisters Wanderjahre und Faust II als gänzlich
Leidenschaft, Howard's Ehrengedächtnis) so- offene, »kollektive Werke« angelegt, ist der
wie der attischen Komödie (Parabase, Epir- Leser durch »Miene, Wink und leise Hindeu-
rhema, Antepirrhema) nieder. In dieser letzten tung« (an Sulpiz Boisseree, 8.9.1831) also zum
lyrischen Phase nimmt dann der Dialog mit Dialog herausgefordert. Die jeweils letzten
fremden Sprachen und Kulturen, auch nach Teile der Autobiographie und der Italienischen
dem Divan, einen wesentlichen Raum ein; in Reise werden bewußt zu Archiv-Fiktionen ge-
der Ausgabe letzter Hand wird eine Gruppe formt. Inwiefern dieser auf Ergänzung und
Aus fremden Sprachen eingerichtet, die durch Entsprechung angelegte Gesprächscharakter
Übersetzungen aus Byron eröffnet wird und auch für die Lyrik gilt, hat G. verschiedentlich
auch Manzonis Napoleon-Ode Der finfte Mai explizit bekundet: »Wenn Ihnen ein glückli-
umfaßt, daneben Lieder aus Böhmen, Grie- ches Gleichniß aufgeht«, heißt es am 21.4.
chenland (Neugriechisch-epirotische Helden- 1819 an Carl Ernst Schubarth, »das sich nicht
Das lyrische Spätwerk. 1819-1832 439

lakonisch ausdrücken läßt, so suchen Sie es Des Lebens ernstes Führen, / Von Mütterchen
der Parabel zu nähern und hüten sich die Alle- die Frohnatur / Und Lust zu fabulieren« (FA I,
gorie in's Einzelne durchzuarbeiten. Ueber- 2, S.682), oder auch dem ganz unvennutet
läßt man's dem Leser, so thut es ein jeder nach entstandenen »Lebens lied« Um Mitternacht,
seiner Art; übernimmt man es selbst, so hat das in einer fiktiv stilisierten Weise Persön-
jedennann etwas zu erinnern«. Der gerade lichstes zwn Ausdruck bringt und in seiner
auch an Homer als vorbildlich wahrgenom- läßlichen, anakoluthischen Handhabung der
mene Lakonismus (an Joseph Stanislaus Zau- Syntax einen prägnanten Auftakt zur spätesten
per, 6.8. 1823) - oder auch der vom späten Lyrik G.s bildet: »Um Mitternacht ging ich,
Tizian nur mehr symbolisch oder abstrakt ge- nicht eben gerne, / Klein, kleiner Knabe, jenen
malte Samt, von G. als Analogon des eigenen Kirchhof hin / Zu Vaters Haus, des Pfarrers,
Stils wahrgenommen - erweist sich somit we- Stern am Sterne / Sie leuchteten doch alle gar
niger als Hennetismus denn als Provokation zu schön; / Um Mitternacht. / / Wenn ich dann
und Einladung. Die besonders in der späten ferner in des Lebens Weite / Zur Liebsten
Lyrik feststellbare Tendenz zur kühnen epi- mußte, mußte weil sie zog, / Gestirn und
grammatischen Verknappung, mitunter die Nordschein über mir im Streite, / Ich gehend,
Grenzen der Grammatik sprengend, verbindet kommend Seligkeiten sog; / Um Mitter-
sich mit der bewußten, ebenfalls kommunika- nacht. / / Bis dann zuletzt des vollen Mondes
tiv bzw. weltliterarisch, intertextuell, ausge- Helle / So klar und deutlich mir in's Finstere
richteten Konzeption dessen, was G. einmal drang, / Auch der Gedanke willig, sinnig,
»kein explicites, aber ein implicites Ganze«, schnelle / Sich wn's Vergangne wie um's Künf-
ein »organisches Fragment« nannte (an Chri- tige schlang; / Um Mitternacht« (FA I, 2,
stoph Friedrich Schultz, 27.8. 1820). Als S.474f.).
Eckennann unter dem Datwn des 29.1. 1827 Der für G.s Lyrik insgesamt bezeichnende
verständnislos gegenüber dem abgerissenen Charakter der Gelegenheitslyrik - »Willst du
und ein wenig unbefriedigenden Schluß eines dich als Dichter beweisen, / So mußt du nicht
serbischen Gedichtes blieb, meinte G.: »Das Helden noch Hirten preisen; / Hier ist Rho-
ist [ ... ] eben das Schöne; denn dadurch läßt es dus! Tanze du Wicht / Und der Gelegenheit
einen Stachel im Herzen zurück, und die Phan- schafr ein Gedicht!« heißt es am 14.10. 1821
tasie des Lesers ist angeregt, sich selbst alle an Zelter (vgl. auch FA I, 2, S. 640) - nimmt im
Möglichkeiten auszubilden, die nun folgen Spätwerk doch eine erst jetzt mögliche Nuance
können« (zu Eckennann, 29.1. 1827). an, insofern auch das persönliche Gedicht zum
Bruchstück einer großen Konfession werden
kann, wo die es gleichsam hervorbringende
»Gelegenheit« immer öfter mit der Historizität
Das Symbolische des eigenen des eigenen Lebens oder Werks zu tun hat. Das
Persönliche wird nicht schlichtweg objektiv,
Lebens-Werkes sondern »bedeutend«, zeichenhaft, - denn
»was soll das Reale an sich?« (zu Eckennann,
Vertritt diese Brücke zwischen Weltliteratur, 18.1. 1827). Das Symbolische des eigenen Le-
kollektivem Werk und Fragment G.s histori- bens oder Werkes hat dabei den Doppelcha-
sches Verhältnis nach außen, so bildet sich rakter, von dem G. schreibt: »Alles was ge-
auch entsprechend nach innen die Gelegenheit schieht ist Symbol, und, indem es vollkommen
zur historischen Reflexion des eigenen Stand- sich selbst darstellt, deutet es auf das Uebrige.
ortes: Besonders die reiche Arbeit an den auto- In dieser Betrachtung scheint mir die höchste
biographischen Schriften bietet immer wieder Anmaßung und die höchste Bescheidenheit zu
Anlaß, sich der eigenen - literarischen oder liegen« (an Carl Ernst Schubarth, 2.4.1818).
lebendigen - Herkunft zu vergewissern, sei es An Werther, 1824 zur 50. Wiederkehr der
im Spruch: »Vom Vater hab' ich die Statur, / Erstveröffentlichung des Romans geschrieben,
440 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

wird zur Begegnung mit dem eigenen Leben gen, Lyrisches vertrete »die alten Rubriken
und Werk und mündet dabei in die Reprise der ,Lieder', ,Balladen' und 'Vermischte Ge-
Tasso-Problematik, die schon als Motto der dichte«( (EibI, S.883) oder die Gemeinsam-
Elegie diente. Vermutlich gehört auch das viel- keit der Texte liege nur darin, daß die hier
diskutierte, erst 1829 gedruckte Gedicht Der gesammelten Gedichte »in keine der anderen
Bräutigam in diesen Kontext der Historizität, Gruppen von 1827 passen« (ebd., S. 1040). Un-
indem es wohl die Episode um Lili Schöne- ter dem schlichten, hochkarätigen Titel Ly-
mann aus Dichtung und Wahrheit (ausgeführt risches hat G. eine Art Vermächtnis hinter-
wahrscheinlich erst 1830) aufgreift; beide lassen, das dem Leser einiges zu tun (zu »sup-
Male wird ein Bezug auf das Hohe Lied Salo- plieren«) übrig läßt, indem es als Archiv he-
mos herausgestellt. Ein weiteres zentrales terogener Texte einen offenen Begriff dessen
Stück der Lebensgeschichte G.s verarbeitet vermitteln will, was Lyrik sein kann. Die pro-
dann auch das Terzinengedicht Im ernsten noncierten Äußerungen über die »höchste Ly-
Beinhaus war's, das eine Art Requiem auf rik«, die G. anläßlich Manzonis entwickelt
Schiller darstellt und erstmals in den Wander- hatte, lagen noch nicht lange zurück.
jahren 1829 gedruckt wurde. Die Strophe Zwi- Dieser Muster- oder Vermächtnis-Charakter
schen beiden Welten, womöglich schon viel frü- kommt auch dadurch zum Ausdruck, daß G.
her geschrieben, rückt in der Sammlung von hier wie in keinem zweiten Fall seiner Lyrik
1827 zum Dokument der Erinnerung auf (FA I, eine Reihe paradigmatischer Texte nebenein-
2, S. 473f.). andergestellt und damit seiner seit der Pan-
dora sich manifestierenden Neigung zum
Die seit 1822 vorbereitete und ab 1827 er- »Generischen« nachgegeben hat: Die Gruppe
scheinende Ausgabe letzter Hand ist ein in- Lyrisches wird eröffnet mit der sogenannten
tegraler Bestandteil des G.schen Spät- und Le- Ballade vom vertriebenen Grafen, die im
benswerkes. Für die Darbietungsstrategie sei- Tagebuch und in den Briefen nicht mit dem
ner (späten) Lyrik hat sie enorme Konsequen- Gattungstitel, sondern als Die Kinder, sie hö-
zen, indem hier der Bestand der Sammlung ren es gerne überschrieben worden war. Dann
von 1815 (Goethe 's Werke, 20 Bände, die Lyrik folgt die um die Legende gruppierte Trilogie
in Band 1 und 2) komplett in die ersten beiden Paria (lange Zeit als Des Paria Gebet bezeich-
Bände der Ausgabe letzter Hand überführt net), schließlich die Trilogie der Leidenschaft
wird, aber eine Ergänzung findet durch die mit dem Mittelstück der Elegie - deutliche
weitgehend seither geschriebenen Texte, die Zeichen, daß G. hier, wie anderen Falls im
dann in Band drei und vier gedruckt werden. Märchen (aus den Unterhaltungen deutscher
1827 neu hinzugekommene Gedichtgruppen Ausgewanderten) und der Novelle etwas Bei-
wie Kunst, Epigrammatisch und Parabolisch spielhaftes, die Reduktion des Individuellen
greifen Überschriften von 1815 auf und ver- zu verstehen geben wollte, wofür der Titel
doppeln daher innerhalb der Gesamtausgabe Lyrisches keineswegs »seltsam« ist (EibI,
diese Titel; auch findet sich nun neben der S.881). Vielmehr ist auch hier der Abstand
Spruchsammlung Gott, Gemüth und Welt, von »historischer« Gelassenheit am Werk, der
1815 eine Gruppe gedanklich anspruchsvoll- nicht eine dogmatische Regel aufzustellen sich
ster Texte als Gott und Welt neu zusammenge- anmaßt, sondern wo »eins auf das andere hin-
stellt. Vor allem hat G. für den dritten Band der deutet« (an Carl Friedrich Burdach, 25.1.
Ausgabe letzter Hand eine Gruppe mit dem 1818), als eine Art neuer »Divan«, eine letzt-
umfassenden, mißverständlichen Titel Lyri- lich dem Leser überlassene Aufgabe zur Syn-
sches komponiert und ihr nicht weniger als these des Reichhaltigen.
einige seiner späten Hauptwerke anvertraut, Das mit dem Refrain der Ballade verwandte
u.a. die Ballade, den Paria und die Trilogie der Motto zu Lyrisches stellt die folgenden Texte
Leidenschaft, sodann das besonders ge- unter die für die Konzeption der »entschieden
schätzte Um Mitternacht. Man kann nicht sa- historischen« Lyrik maßgebliche Spannung
Das lyrische Spätwerk. 1819-1832 441

von horizontaler Weite und vertrauter Nähe, binden. Mehrere analoge Fälle vereinigen sich
von Heiterkeit und Tragik (»So der Freude, so nicht zu geschlossenen Reihen, sie sind wie
dem Wehe«). Auch der Bezug zum Kosmos der gute Gesellschaft, die immer mehr anregt als
Natur (»Blinken doch auch so die Sterne«), gibt« (MuR 1247).
zum Ethischen (»Alles Gute«) wie zum Rezipi- Ganz in der Richtung einer Verständigung
enten steckt den Rahmen dessen ab, was »Ly- mit dem Leser liegen schließlich die nunmehr
rik« zu leisten vermag: »Töne Lied aus weiter häufigeren Selbstkommentare G.s, die in der
Ferne, / Säusle heimlich nächster Nähe, / So Nachfolge der Noten und Abhandlungen zu
der Freude, so dem Wehe! / Blinken doch auch besserem verständnfIJ des West-6stlichen Di-
so die Sterne. / Alles Gute wirkt geschwin- vans stehen. Sie sind kein Forum der Selbst-
der; / Alte Kinder, junge Kinder / Hören's im- darstellung, sondern Teil der Kommunikation
mer gerne« (FA 1,2, S. 447). und zugleich »Gelegenheit«, Bruchstücke ei-
Einen Anhaltspunkt für die innere Architek- ner Poetik vorzustellen. In dem Aufsatz Be-
tur der späten Lyrik, um durch »sich gleichsam deutende F6rdernis durch ein einziges geist-
in einander abspiegelnde Gebilde den gehei- reiches Wort kommentiert G. neben seinem
meren Sinn dem Aufmerkenden zu offenba- gegenständlichen Denkvermögen seine daraus
ren« (an earl Jacob Ludwig Iken, 27.9. 1827), resultierende Affinität zu Gelegenheitsgedich-
bilden die zyklischen Anlagen, hier besonders ten sowie die lebenslange Entstehung einzel-
der Trilogien (zu Eckermann, 1. 12. 1851). ner Gedichte (GA 16, S. 879ff.). In den Jahren
Diptychen bilden Eins und Alles mit vermächt- 1820/21 entstehen Aufsätze über die Harzreise
nis oder die erlesenen Dornburger Gedichte im Winter, die Ballade und die Urworte. Or-
vom Spätsommer 1828, Dem aufgehenden Voll- phisch, 1822 zu Howards Ehrengedächtnis,
monde und Früh wenn Tal, Gebirg und Garten. 1824 zu Die drei Paria.
Daneben hat G. die Gedichte zu Wilhelm
Tischbeins Idyllen sowie Zu meinen Hand-
zeichnungen jeweils aufeinander bezogen. Als
einen »kleinen bürgerlichen Roman« Kontexte der späten Lyrik
(MA 15.1, S.508) vereinigte er 1827 die zum
Teil schon deutlich früher geschriebenen Texte
wie Immer und Überall, März, April, Mai, Zum spezifisch historischen Ort der späten Ly-
Juni, Frühling über's Jahr und Für's Leben, rik gehört nicht nur der Rückblick auf das ei-
später dann die Chinesisch-Deutschen Jahres- gene Leben und Werk, nicht allein das Ge-
und Tageszeiten, die im Berliner Musenalma- spräch mit der Literatur der Welt, sondern
nach für das Jahr 1830 erschienen. auch die Integration der Nachbarkünste, Mu-
Als bedeutende Nachzügler zum Divan wa- sik und bildende Kunst. Die Gedichte werden
ren im Frühsommer 1820 auf der böhmischen zum Gedächtnisort der kulturellen Überliefe-
Reise fünf Gedichte entstanden, die alle ins rung, zum beweglichen Zentrum einer globa-
Buch des Paradieses aufgenommen werden, len intertextuellen Erinnerung. Vor allem ist
darunter Vorschmack, Einlass und Anklang. es - in eminenter Weise - der naturwissen-
Der Zyklus-Gedanke, der als offene Komposi- schaftliche Kontext, durch den sich die späte
tion das Einzelne in lockerem Rahmen beläßt, Lyrik von G.s früherem Werk und von dem
korrespondiert mit der sprachlich-stilisti- ihrer - spätromantischen oder biedermeierli-
schen Verfassung der späten Texte. Darin ma- chen - Zeitgenossen absetzt. Auch nach dem
nifestiert sich die von G. reflektierte »Mit- Abschluß der Farbenlehre (1810) hat sich G. in
theilung durch Analogieen«: »Mittheilung nahezu allen Feldern der Naturwissenschaft
durch Analogieen halt' ich für so nützlich als betätigt, mit Botanik, Morphologie und ver-
angenehm: der analoge Fall will sich nicht auf- gleichender Anatomie, Osteologie, Mineralo-
dringen, nichts beweisen, er stellt sich einem gie und Vergletscherung, schließlich auch mit
andern entgegen, ohne sich mit ihm zu ver- der Meteorologie befaßt. Das hat Auswirkun-
442 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

gen bis in die Lyrik, zunächst dergestalt, daß marer Prinzessinnen von 1820, mit Reproduk-
Gedichte erstmalig in den von G. veranstalte- tionen von Raffaels Gärtnerin und einem Kup-
ten Publikationsreihen gedruckt werden und ferstich von Elsheimer (FA 1,2, S. 576f.), zwei
im wörtlichen Sinn in den Kontext der Natur- ästhetisch und sprachlich komplexen Texten.
wissenschaften gestellt sind. Viele der 1827 Das Gedicht steht dabei weniger im Zeichen
unter dem Titel Gott und Welt gedruckten Ge- der »Erklärung« und Beschreibung als der Aus-
dichte im Stil naturphilosophischer Weisheit deutung: Es geht um Erregung des »inneren
erscheinen zuerst in den Heften Zur Morpho- Sinns« des Lesers (FA I, 2, S. 1115), um eine
logie, so die Urworte. Orphisch, Epirrhema, Annäherung »an den Zustand, in welchem der
Antepirrhema, Parabase, Allerdings und Pro- Zeichner sich befand, als er die wenigen Stri-
oemium, dann auch eine weitere Trilogie, die che dem Papier anvertraute« (Radierte Blätter,
aus der Naturwissenschaft gewonnen ist, Ho- nach Handzeichnungen von Goethe. Ueber
ward's Ehrengedächtnis: Indem sie das Ver- Kunst und Althertum III, 3, 1822; GA 13,
hältnis zwischen Naturwissenschaft und S.907). Auch hier also Teilnahme als kom-
Kunst, zwischen Analyse und Synthese (vgl. an munikatives - »interaktives« - Modell.
Soret, 2.7. 1828), Differenzierung und Verbin- An Bedeutung gewinnt jetzt aber auch die
dung selbst thematisiert, gehört sie zu den Musik, der sich G. durch zahlreiche Anregun-
wichtigsten Beiträgen dieser Lyrik (»Dich im gen (Zelter, Mendelssohn und andere Inter-
Unendlichen zu finden, / Mußt unterscheiden preten) öffnet: Höhepunkt dieser so zuvor
und dann verbinden«; FA I, 2, S.502). Be- nicht gegebenen Affinität ist das in die Trilogie
sonders in den eigentlichen Wolken-Strophen der Leidenschaft integrierte Gedicht Aussöh-
- bereits im Dezember 1817 - findet G. zu nung, das ursprünglich der polnischen Pia-
seinem vor Neologismen und semantisch- nisten Maria Szymanowska gewidmet ist. Aber
grammatikalischen Wagnissen nicht zurück- auch ein anderer Text der Marienbader Zeit
schreckenden Spätstil : »Ob' s fallend wässert, wie Aolshaifen setzt die musikalische Inspira-
oder luftig steigt«, »Ein Aufgehäuftes, flockig tion voraus. Die subtile Sangbarkeit vieler spä-
löst sich's auf« (FAI, 2, S.504). Wie wenig ten Verse, auch wo sie nicht als »Lieder« mar-
damit ein Erstarren im Formelhaften verbun- kiert sind, gehört zu den großen Überraschun-
den ist, zeigen die staunenswerten Texte aus gen von G.s Alterswerk, z.B. in St. Nepomucks
dem Marienbader Sommer 1823, kurz vor der VOrabend, vertont u.a. von Zelter und Hugo
großen Elegie: Du Schüler Howards und Wenn Wolf. Bei den Anmerkungen zu den Inschriften
sich lebendig Silber neigt - Meteorologie als schreibt G., zwar sei kein Gedicht Zelter ge-
wiederholte Spiegelung eines Liebesorakels. widmet, aber »alles Lyrische was ich seit drei-
Naturwissenschaftliches und Poetisches wer- ßig Jahren gedichtet« sei »als in seinem Sinne
den zu »Parallelgeschichten« (Unterhaltungen und Geiste verfaßt ihm zu eigentlicher musika-
deutscher Ausgewanderten, FA I, 9, S.1058) lischer Belebung gesendet worden« (FA I, 2,
kombiniert, wobei eines auf das andere hin- S. 601). Ein erstaunliches Selbstzeugnis in bio-
deutet und die Gesetzmäßigkeiten der Natur, graphischer wie ästhetischer Hinsicht ist das
»Spiraltendenz« oder »Systole und Diastole« kleine Gedicht an Fanny Mendelssohn vom
etwa, zu poetologischen Strukturen avancie- 13.10.1827 (»Wenn ich mir in stiller Seele /
ren. Den Chinesisch-deutschen Jahres- und Singe leise Lieder vor«; FA 1,2, S. 820).
Tageszeiten liegen Reflexe der Farbenlehre zu-
grunde.

Daneben kommt, wie schon immer bei G., der


bildenden Kunst eine wichtige Rolle zu, in den
kleinen Zyklen Wilhelm Tischbeins Idyllen
und Zu meinen Handzeichnungen oder auch in
den beiden Sendeblättern an die zwei Wei-
Das lyrische Spätwerk. 1819-1852 443

>Reine< und >weltanschauliche< chen nach der Niederschrift der Beinhaus- Ter-
zinen - verteidigt sich G. auf eine auch für
Lyrik
diese Texte erhellende Weise: »Als ethisch-
ästhetischer Mathematiker muß ich in meinen
Seit Karl Vietors und Erich Trunz' intensiver hohen Jahren immer auf die letzten Fonneln
Bemühung um die letzte Phase von G.s Ge- hindringen, durch welche ganz allein mir die
dichten hat man eher auf die rein lyrischen, Welt noch faßlich und erträglich wird«. Im
schlichten, aber höchst anspruchsvollen Texte Unterschied zur Schlichtheit der reinen Lyrik
geachtet, die ohne allzusehr betontes gedank- hat dann der Denkspruch-Charakter dieser
liches Gewicht auskommen und sich statt des- Texte im 20. Jh. mitunter provozierend ge-
sen die transparente Geistigkeit des Divan an- wirkt (Gottfried Benn). Die gnomische Ver-
geeignet haben. Die kunstvolle Unscheinbar- knappung bis in den einzelnen Vers etwa in der
keit von St. Nepomucks Vorabend: »Lichtlein Parabase: »Klein das Große, groß das Kleine«,
schwimmen auf dem Strome, / Kinder singen »Nah und fern und fern und nah« gibt diesen
auf der Brücken«, oder der Chinesisch-Deut- Texten ihre bisweilen hennetische Weisheit,
schen Jahres- und Tageszeiten: »Ziehn die die jedoch noch in ihrer Fonnelhaftigkeit le-
Schafe von der Wiese, / Liegt sie da, ein reines bendig bleibt, insofern sie - als lyrische Apho-
Grün«, hat ihre Faszination gerade auf Autoren rismen - den Leser in den Gedankengang hin-
und Komponisten der klassischen Modeme einholen (Epirrhema: »Nichts ist drinnen,
ausgeübt, wie Robert Musil, Rainer Maria nichts ist draußen: / Denn was innen das ist
Rilke oder Anton von Webern. Die schlichte außen«).
Sachlichkeit von Motiv und Bild verbindet sich Neuere Forschungen verfahren demgegen-
mit ironischer Transparenz und sprachlicher über deutlich vorsichtiger: Gefordert wird die
Kühnheit (»bescheidner Beugung«; FA I, 2, Berücksichtigung des ästhetischen Schwebe-
S.695) zu geistvoller, verklärter Heiterkeit. zustandes, des Gleichnis-, gar des Rollencha-
Andererseits fehlt auch nicht das Register lei- rakters dieser Gedichte, die weniger objektive
denschaftlichster Klage, die sich von den Aols- Wahrheit als gleichsam in Anführungszeichen
harfen zur Elegie noch steigert, wo selbst der subjektive Wahrhaftigkeit zu lesen, zu entzif-
Ausweg der Naturbetrachtung, »Naturgeheim- fern geben wollten (Gottfried Willems). -
nis werde nachgestammelt«, und der Dichtung Gleich eines der wichtigsten Gedichte der
sich verschließt: »Mir ist das All, ich bin mir letzten Jahre, die Paria-Trilogie, die 1823 ab-
selbst verloren«, das Gedicht mithin in seinen geschlossen wurde, läßt sich freilich in keine
eigenen Widerruf zu münden droht. Einen der hier vorgeschlagenen Gruppen befriedi-
letzten Gipfel von Liebes- und Naturlyrik bil- gend einordnen. Mit der Leidenschaft der Bal-
den die beiden Domburger Gedichte (FA I, 2, lade und der hohen Künstlichkeit ihrer Dik-
S. 700f.), antwortende Gegenbilder von Mond tion stellt sie eine Fonn sui generis dar, die
und Sonne. sich auch thematisch, als geradezu »dämoni-
Stets leichter zu beschreiben fielen der sche« Aporie der Vennittlung, jeder Verein-
G.-Philologie die venneintlich stärker inhalt- nahmung sperrt.
lich ausgerichteten Komplexe innerhalb der
späten Lyrik: Besonders die naturphilosophi-
schen Texte »der Weltschau, gewiß nicht der
Weltanschauung« (Müller-Seidel 1990, Spruchdichtung
S. 515), die in lehrhafter (Eins und Alles, ver-
mächtnis) wie persönlich betroffener Fonn
(Im ernsten Beinhaus war's) auftreten kann, Den umfangreichsten Anteil der Lyrik in die-
teils auch direkt die Natur ins Bild erhebt (Ho- sen Jahren nehmen die knapp 600 Spruchge-
ward's Ehrengedächtnis). In einem Brief an dichte ein: Von den mehr als 2800 Versen hat
Sulpiz Boisseree vom 3.11. 1826 - wenige Wo- G. etwa zwei Drittel selbst veröffentlicht, wo-
444 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

bei er drei Abteilungen zunächst in Kunst und ner lesen«; FA I, 2, S. 630; im folgenden nach
Altertum erscheinen ließ und sie dann mit drei dieser Ausgabe mit Versangabe zitiert). G. be-
weiteren in die Ausgabe letzter Hand auf- schäftigte sich seit 1807 intensiv mit allerhand
nahm. Sie stehen jetzt unter der Überschrift Sprichwortsammlungen und altdeutschen
Zahme Xenien, eine von G. bewußt fonnu- Sprüchen, die Gedichtausgabe von 1815 ver-
lierte »contradictio in adjecto im eigentlichen sammelt solche in lyrischer Fonn ebenso wie
Sinne« (an Carl Friedrich Christian Anton von der Divan. Die Wahlverwandtschaften und die
Conta, 11.9. 1820): Sie knüpft einerseits an die Wanderjahre weisen Aphorismensammlungen
stacheligen Gastgeschenke (»Xenion«) an, die auf, und die Briefe und Gespräche des alten G.
G. seinerzeit mit Schiller zusammen verfaßt bieten zahlreiche Entsprechungen zu den
hatte, andererseits suggeriert sie Altersmilde, Sprüchen in Prosa wie in Versen. Indem sich
ohne daß diese Sprüche irgendwie hannlos die Spruchverse geistreich und ironisch selbst
wären, im Gegenteil: Sie zielen zwar kaum kommentieren: »,Du sagst gar wunderliche
mehr auf einzelne, direkte Gegner, sind aber Dinge!< / Beschaut sie nur, sie sind geringe; /
auf ihre Weise schonungslos und radikal, etwa Wird Vers und Reim denn angeklagt, / Wenn
wenn es darum geht, Mißstände der als absurd Leben und Prosa das tollste sagt?«
empfundenen Gegenwart anzuprangern. (Y. 996-999), verwehren sie einander den Cha-
Die wenigsten dieser Zahmen Xenien sind rakter des Endgültigen und Urteilenden. Die
exakt datierbar, doch folgen sie wie die späte »Spannung von lakonischer Beiläufigkeit und
Lyrik insgesamt dem Gesetz eines histori- gedanklicher Bedeutsamkeit« (Preisendanz
schen Standpunkts, dem Rund- und Rückblick 1952, S. 165) lädt zu Aus- und Unterlegungen
nämlich auf nähere und fernere Probleme der vieldeutig ein (Y. 428f.), wobei auch das
eigenen Person wie des öffentlichen Wirkens. Sprachspiel (»Bin ich alleiner«, V. 603; »Alt-
Das Verhältnis zwischen einzelnem Spruch Tümer« und »Neu-Tümer«, V. 644ff.) und die
und allgemeinem Anspruch hat Wolfgang Schrift selbst mit herangezogen werden (Y. 570
Preisendanz sichtbar gemacht: »Die Macht der spricht von der »Charade«; vgl. V. 612ff.). In
Fonnel macht das Gestrüpp der Erfahrungen ihrer bisweilen hennetischen Kauzigkeit, zwi-
und Zufälle übersichtlich, sie erspart zwar schen Zynismus und Humor schwankend, re-
nichts, aber sie kann als Fonnel jeden einzel- flektieren die Spruchgedichte auch den grei-
nen konkreten Fall vertreten; gerade indem sie sen Rückzug ins Schweigen: »Was ich nicht
das tut, weist sie aber auf eine Musterhaftig- loben kann / Davon sprech' ich nicht«
keit des Erfahrens hin, in der sich Uranfäng- (Y. 905f.) und relativieren zugleich alles Fixie-
liches und Immer-Wiederkehrendes vereinen. rende: Geboten werden rätselhaft verknappte,
Die Bilder des ,Bildersaals< weisen nicht auf zur Auflösung herausfordernde und daher
eine einmalige, unwiederbringliche mensch- nicht monologische Fonneln: »Viel Denken,
liche Situation zurück, sie beziehen sich auf mehr Empfinden / Und wenig Reden«
eine ursprüngliche und ewig wiederkehrende (Y. 370f.). Weitaus die meisten der Sprüche
conditio humana des Erfahrens, Fühlens und aber verdanken sich einer »replikhaften Be-
Ereignens« (1952, S. 112). Es geht nicht mehr zogenheit« (Preisendanz 1952, S. 122), einer
wie in den früheren Xenien um Polemik oder Antwort auf Gesagtes oder Gedachtes. Diese
Satire, aber wohl auch nicht um »die Selbst- Gesprächshaltung kommt auch dort zum Tra-
darstellung der inneren Situation des Unmutes gen, wo es um die Fonnulierung von Lebens-
allein« (ebd., S. 168); wie im Divan herrscht regeln geht, die oftmals an künftige Leser
»Übersicht des Weltwesens, Ironie« (WA I, 7, adressiert sind, an die »Enkel«: »,Was ist denn
S. 76), bisweilen mit mephistophelischer Bos- deine Absicht gewesen / Jetzt neue Feuer an-
heit. zubrennen?< / Diejenigen sollen's lesen, / Die
Bewußt geben die Zahmen Xenien die antike mich nicht mehr hören können« (Y. 29-32).
Fonn des Distichons auf (»Wir sind vielleicht Bis zum Schluß interessiert sich G. für »das
zu antik gewesen, / Nun wollen wir es moder- Tun« mehr als für »das Getane« (Y. 236f.), so
Das lyrische Spätwerk. 1819-1832 445

daß auch jetzt noch der Streit mit den natur- dem Greise selbst / Noch immer Wein und
wissenschaftlichen Gegnern, besonders den Beutel«; V 742f.) , dann wieder kommen sie
Newtonianern und dann den Vulkanisten, natürlicherweise in den Umkreis der weltan-
seine Fortsetzung findet. Auch gegen die Ro- schaulichen Weisheitsfonneln (»Wenn im Un-
mantik, gegen die orthodoxen Metriker, gegen endlichen dasselbe«; V 1766ff.). Die Schluß-
die indische Vielgötterei, gegen die Illusionen gedichte der Chinesisch-Deutschen Jahres-
von Demokratie und Pressefreiheit, wie G. sie und Tageszeiten sind zu Recht mit der Fonn
sieht, wird nicht wenig Pulver verschossen. der Zahmen Xenien in Verbindung gebracht
Bei aller Skepsis - gerade gegenüber der Ge- worden (Wohlleben, S. 287f.), sowie auch um-
schichte - macht sich nicht der Eindruck der gekehrt Annäherungen der Sprüche an die
Verzweiflung breit, sondern der einer mitunter »reine« Lyrik zu beobachten sind (z.B.
recht unverblümten Heiterkeit: »Sollte man »Freunde flieht die dunkle Kammer«). Vor al-
das nicht bescherzen / Was uns verdrießt?« lem dann der wohlkalkulierte Ausgang der
(V. 770f.). Gegenüber der Dreistigkeit des tat- sechsten Gruppe der Zahmen Xenien zeigt in
sächlichen Erlebens bleibt alles Gesagte doch der Verschränkung von ironischer Skepsis ge-
zurück: »Wird Vers und Reim denn ange- genüber der Originalität: >>Vom Vater hab' ich
klagt, / Wenn Leben und Prosa das tollste die Statur«, und dialektischem Bekenntnis zur
sagt?« (V. 998f.), wird damit zugleich aber in Einmaligkeit den hohen künstlerischen An-
seiner Bedingtheit sichtbar und eingeordnet spruch dieser Spruchgedichte: »Teilen kann
und nicht als mäkelnde »Lazarettpoesie« (zu ich nicht das Leben, / Nicht das Innen noch
Eckennann, 24.9. 1827) absolut: »Kein Stünd- das Außen, / Allen muß das Ganze geben, /
chen schleiche dir vergebens, / Benutze was Um mit euch und mir zu hausen. / Immer hab'
dir widerfahren. / Verdruß ist auch ein Teil des ich nur geschrieben / Wie ich fühle, wie ich's
Lebens, / Den sollen die Xenien bewahren. / meine, / Und so spalt' ich mich, ihr Lieben, /
Alles verdienet Reim und Fleiß / Wenn man es Und bin immerfort der Eine« (V. 1836-1843).
recht zu sondern weiß« (V. 1183ff.).
G. zeigt sich hier auch von einer persönli-
ehen Seite, die freilich über das Individuelle
hinausgeht: »Ein alter Mann ist stets ein König An Personen. Gelegenheitslyrik
Lear!« (V. 52). Es ist daher mehr als das Gesetz
nur dieser Spruchdichtung, daß, wer »in dem
Gestern Heute sah / Dem geht das Heute nicht Die eigentlichen Gelegenheitsgedichte oder
allzunah«. Diese historische Relativitätstheo- »an Personen« gerichteten Texte aus einem
rie versteht sich als wesentlich zukunftsorien- Zeitraum von etwa zwei Jahrzehnten sind zu
tiert (»wer im Heute sieht das Morgen«; einem Teil in der Ausgabe letzter Hand unter
V 1175ff.), dialogisch auf künftige Leser aus- dem Titel Inschriften, Denk- und Sendeblätter
gerichtet. - Die Zahmen Xenien bieten nicht versammelt. Ihre Gemeinsamkeit liegt mehr
zuletzt ein Forum der Poetik, etwa des thera- als in früheren Jahren in der mitunter sehr
peutischen Verhältnisses von »Dichtung« und gewagten sprachlichen Gestalt und in der sym-
»Wahrheit«: »Mich könnte dies und das be- bolischen Dehnung des Einzelnen auf ein All-
trüben, / Hätt' ich's nicht schon in Versen ge- gemeines hin. Wie nahezu »ein Nichts zum
schrieben« (V. 676f.). Das Leiden zu sagen und höchsten Schatz verwandelt« werden kann, re-
dadurch, wo nicht zu heilen, doch zu lindern, flektieren die Gedichte selbst (hier An Grafen
das macht den humorvollen, lebendigen Cha- Paar, 16.8. 1818, FA I, 2, S. 586), andere lassen
rakter dieser Texte aus, die gleichsam abge- den Anlaß Vordergrund sein für eine den gan-
legte Schlangenhäute sind (V. 1571). - Thema- zen Horizont absteckende Erkenntnis, so in
tisch bleiben die Zahmen Xenien nicht von der Dem Fürsten Hardenberg. Zum 70sten Ge-
späten Lyrik isoliert, sondern greifen mitunter burtstag (FA I, 2, S.582f.). An Lord Byron
jedenfalls Motive des Divan auf (»Bleibt doch (FA I, 2, S.583f.) ist Deutung und Bewunde-
446 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

rung einer genialen Persönlichkeit, in der dividualität ernstgenommen, sondern in geist-


Mahnung und Ermunterung dessen, der »sich voller Weise auf allgemeine Erfahrungen hin
selbst im Innersten bestreitet«, aber zugleich transparent gemacht. Hier »wird auch das Ze-
ein komplexes Stück Zeitkritik und histori- remoniell zur Herzenssprache« (KoMMERELL,
sches Selbstbekenntnis G.s. Ein Sprachkunst- S. 190). G. nimmt es mit dem Positiven, dem
werk der späten Lyrik ist das Gedicht Ihro bloß Tatsächlichen, >>Dicht so ernsthaft«, son-
Hoheit der Prinzessin Maria zum 3.2. 1820 mit dern erhält ihm die lebendige »Eigenschaft des
dem für diese Phase charakteristischen Be- Problems«, indem jede Gelegenheit - deren es
ginn: »Sanftes Bild dem sanften Bilde / Unsrer freilich bedarf - Movens einer eben histori-
Fürstin widmet sich« (FA I, 2, S. 576), ebenso schen, überindividuellen (»ironischen«) Refle-
schon das virtuose An Geheimerat von Wille- xion wird (an Graf Kaspar von Stemberg, 26.9.
mervon 1815 (ebd., S. 584f.). 1826). Wenn G. vermutlich im Juli 1822 fol-
Daß auch persönlich Unmittelbares in ge- genden Vierzeiler an Ulrike von Levetzow
sellschaftlich vertretbare Form gebracht wer- schickt: »Die Gegenwart weiß nichts von
den kann, zeigen die Gedichte an Ulrike von sich, / Der Abschied fühlt sich mit Entsetzen, /
Levetzow aus den Marienbader Sommern Entfernen zieht dich hinter dich, / Abwesen-
1822/23, die im Vorfeld der Elegie Nähe und heit allein versteht zu schätzen« (FA I, 2,
Feme als Spiel von innerem und äußerem Se- S. 803), so hat sich der persönliche Charakter
hen noch zu bewältigen vermögen: »Am hei- der Gelegenheit ganz in die Allgemeingültig-
ßen Quell verbringst du deine Tage, / Das regt keit ausdifferenziert - ein Beispiel, das daher
mich auf zu innerm Zwist; / Denn wie ich dich für die Durchlässigkeit der Grenze zwischen
so ganz im Herzen trage / Begreir ich nicht Gelegenheitsdichtung und sogenannter Welt-
wie du wo anders bist« (FA 1,2, S. 594). Einige anschauungslyrik Zeugnis ablegt.
dieser Gedichte hat G. seiner SChwiegertoch- Von der großen Spannweite innerhalb der
ter Ottilie als »Fallsterne, wie sie in schöner späten Gelegenheitslyrik zeugt dann auch der
klarer Nacht vorüber streifen« am 14.8. 1823 Kontrast zwischen geradezu barock aufgequol-
mitgeteilt. - Das bedeutende Dialoggedicht lenem Titelprunk, wo es um adlige oder frei-
zwischen Marianne von Willemer und G. von maurerische Anlässe geht (FA I, 2, S. 814), und
1825 knüpft noch einmal an die Divan-Dich- der denkbar knappen, titellosen Ding-Mit-
tung an, indem es den Schmerz der Entfernung schrift der Schokoladengeschenke an Ulrike,
- die getrockneten Blumen von Mariannes die in jeder Hinsicht des Aufhebens wert ist:
Sendung - in die Unmittelbarkeit des Wortes, »Genieße dies nach deiner eignen Weise, / Wo
als einer frischen Blume, aufhebt (FA I, 2, nicht als Trank, doch als beliebte Speise« (FA I,
S. 808f.). - Intertextuelle Bezüge können auch 2, S. 805).
der Kaschierung eigener Sympathien dienen,
so in Der zierlichsten Undine, gerichtet an Wil-
helmine von Münchhausen (FA 1,2, S. 597). In
anderen Fällen weitet sich der Anlaß gar ins Stilistische Eigenheiten
Soziale und Utopische, womit sich die Nähe
der Wanderjahre verrät: Zu Thaers Jubelfest
(14.5.1824; FA I, 2, S. 60tf.). Der eigentümliChe Sprachstil, den G. im Alter
entwickelt hat, ist vornehmlich am zweiten
So besehen ist die späte Gelegenheitsdichtung Teil des Faust beschrieben worden, gilt aber
nichts anderes als eine am jeweiligen Fall ori- auch rur die Prosakunst der Novelle und zu-
entierte Auslese der gesamten späten Lyrik, mindest einzelner Passagen der Wanderjahre
wenn auch Lehrhaft-Weltanschauliches in bei- und läßt sich auch in den Briefen dieser Jahre
läufiger Weise gesagt werden kann. Zwar ist nachweisen. Eine neuere grundlegende Arbeit
ein unmittelbarer Anlaß gegeben, aber er wird zur Sprachgestalt der späten Lyrik liegt nicht
nicht als historischer Einzelfall in seiner In- vor, doch hat die G .-Philologie seit Paul
Das lyrische Spätwerk. 1819-1832 447

Knauth (1898) und Ernst Lewy (1913) immer »Fügsam glückliche Geschäfte« (Dem Fürsten
wieder auf einzelne Konstanten hingewiesen, Hardenberg), »Klein kleiner Knabe« (Um Mit-
die für den chiffrenhaften, andeutenden Cha- ternacht), »Seiner einzig teuren Mutter«,
rakter dieser Texte, ihre von G. gewollte »In- »Göttlich-unverändert-süßen« (Legende). -
kommensurabilität« - »je inkommensurabler Parallelismen und Epanalepsen werden bevor-
und für den Verstand unfaßlicher eine poeti- zugt gebildet: »an Streife Streifen« (Stratus),
sche Produktion, desto besser« (Eckermann, »die lieblichste der lieblichsten Gestalten«
6.5.1827) -mit verantwortlich sind. Zwischen (Elegie), »Wie Schädel Schädeln« (Im ernsten
höchster Sprachverdichtung kann bisweilen Beinhaus war's), »Baum an Bäumen« (Tisch-
schiere Alltagsrede treten: »Du hast gut reden, beins Idyllen, Nr. 3), »Kühle kühlt« (Tischbeins
dacht' ich« (Elegie, FA I, 2, S. 461). Freilich Idyllen, Nr. 10), »lieblich lieblichen« (Tisch-
lassen sich diese Sprach- und Stil eigenheiten beins Idyllen, Nr. 14).
bei G. nicht nur in der Lyrik nachweisen. Mit diesen Wortneubildungen und Kompo-
sita sowie der Neigung, dasselbe Wort in dop-
Am auffallendsten ist zunächst die Vorliebe für pelter grammatikalischer Funktion zu nutzen,
Neologismen, die unter Beiziehung unter- als Subjekt und Prädikat, als Subjekt und Ob-
schiedlicher Wortarten gebildet werden. Nah jekt, zeichnet sich bereits eine der großen Ten-
Verwandtes (»Machtgewalt«: Cumulus; »Wut- denzen dieser späten Lyrik ab: Sie arrangiert
begier« : Legende; »Hoffnungslust« : Elegie; ein unaufdringliches Nebeneinander, eine lok-
»schwarzvertieft«: Dämmrung) wird ebenso kere Fügung oder einen zyklischen Zusam-
verknüpft wie weiter Auseinanderliegendes menhang, wie ihn G. auch im Großen immer
(»Hochberuf«: Eins und Alles; »Schmerzens- mehr schätzt. Die schon seit den Unterhaltun-
lust«: Tischbein, Nr.9). Auch Abstrakta wie gen deutscher Ausgewanderten formulierte
"Sittentag« (Vermächtnis) oder »Wunscherfül- Vorliebe für »ParalleIlgeschichten« manife-
lung« (Ziehn die Schafe), die »Gott-Natur« (Im stiert sich jetzt auch immer deutlicher stili-
ernsten Beinhaus), finden in die Lyrik Ein- stisch und sprachlich (an Carl Jacob Ludwig
gang. Besonders beliebt sind Wortkompositio- Iken, 27.9. 1827). Statt strenger Fügung und
nen, die mit »über-« beginnen: »Überwucht« Hierarchie herrscht ein läßliches, aber durch-
(Wenn am Tag Zenit und Ferne), »überselig« aus organisiertes Nebeneinander, eine wieder-
(Dem aufgehenden Vollmonde), »überfrei« holte Spiegelung. Das als Sammlung noch im-
(Homer wieder Homer) , »überschätzlich« mer unverzichtbare, von der Forschung aber
(FA I, 2, S.800), »überweltlich« (Elegie), verschüttete Buch von Knauth spricht vom el-
»überschnell«, »überfüllen«, »überreich« (Aus- liptischen »Hinwerfen der BegriHe« (S. 84).
söhnung). Aber auch Dreiergruppen, beson- Konsequenterweise hat G. diese Eigenheit
ders in der Legende (ferner: »Wasserspiegel- auch in der Syntax der späten Gedichte zum
Plan«: Howard's Ehrengedächtnis), Substan- Ausdruck gebracht, wenn Strophen oder ganze
tivierungen von Adjektiven (»Das Morgende«: Gedichte nicht eine geschlossene Satzkon-
Elegie, »die morgendliche«: Legende), Infini- struktion aufweisen, sondern die Wortstellung
tiven (»Welch Übereilen I«~, »Göttlich-einzigem ungewöhnlich handhaben und auch gramma-
Erscheinen«: Paria-Legende, FA I, 2, S. 453f.) tikalisch »offen« bleiben: Ein markantes Bei-
und auch lakonische Wortkürzungen lassen spiel dafür ist das oben zitierte Gedicht Um
sich mehrfach beobachten (»Laß den Macro- Mitternacht, ferner Wenn am Tag Zenit und
cosmos gelten, / Seine spenstischen Gestal- Ferne (FA I, 2, S. 690) und Der's gebaut vor
ten !«: Entoptische Farben; >>nicht verkünden / fonfzig Jahren (FA I, 2, S. 822), auch noch das
Durft' er anvertraute Fehle«: St. Nepomuck's zweite der Dornburger Gedichte, Früh wenn
Vorabend). Tal, Gebirg und Garten. Die sechste Strophe
Nahverwandt mit dem Phänomen des Neo- des späten Vermächtnisses riskiert sogar ein
logismus ist die Doppelung von Adjektiven, Anakoluth: »Und war es endlich dir gelun-
wobei das eine oftmals undekliniert bleibt, wie gen, / Und bist du vom Gefühl durchdrun-
448 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

gen: / Was fruchtbar ist allein ist wahr; / Du Allerdings hat er sich nicht in den Quietismus
prüfst das allgemeine Walten, / Es wird nach zurückgezogen (zu Eckermann, 17.2. 1829),
seiner Weise schalten, / Geselle dich zur klein- sondern in einer Weise Neues in der Lyrik
sten Schar« (ebd., S. 686). geschaffen, das seinesgleichen sucht. An einer
Neben diese Läßlichkeit des semantischen Stelle der Farbenlehre, im Abschnitt über Sca-
und syntaktischen Materials tritt als weitere liger, hat G. wohl am deutlichsten sein späte-
Tendenz diejenige zu lakonischer Verknap- res lyrisches Verfahren beschrieben, als er die
pung, zur Komprimierung der sprachlichen Eigenheiten des Griechischen und des Latei-
Textur, zu der auch schon die ParalleIlismen nischen voneinander absetzte: »Das Griechi-
und Komposita beigetragen haben. G. unter- sche ist durchaus naiver, zu einem natürlichen,
stützt sie aber auch auf syntaktischer Ebene heitern, geistreichen, ästhetischen Vortrag
(»Aufersteht ein Riesenbildnis«: Legende), so- glücklicher Naturansichten viel geschickter.
dann durch die lange Zeit als unnatürlich emp- Die Art, durch Verba, besonders durch Infini-
fundene Vorliebe für den Superlativ: »Den Ge- tiven und Partizipien zu sprechen, macht jeden
liebtesten« (An Gräfin Marie von Einsiedel), Ausdruck läßlich; es wird eigentlich durch das
»wünschenswertester Beruf« (Vermächtnis), Wort nichts bestimmt, bepfählt und festge-
»Allerschönste Farbenspiele«, »Herrlichstes« setzt, es ist nur eine Andeutung, um den Ge-
(Entoptische Farben), »dem sehnlichsten Er- genstand in der Einbildungskraft hervorzuru-
warten« (Früh wenn Tal, Gebirg und Garten), fen« (GA 16, S. 387). Ein dem entsprechendes,
»die lieblichste der lieblichsten Gestalten« vollkommenes Beispiel der späten Lyrik ist die
(Elegie). In eine ähnliche Richtung weisen die Nr. 14 aus Wilhelm Tischbeins Idyllen: »Wirket
absoluten oder adverbialen Genitive, die eine Stunden leichten Webens, / Lieblich liebli-
Präposition ersetzen können: »Ernstester Ge- chen begegnend, / Zettel, Einschlag längsten
rechtigkeit«, »frohen Busens, / Reiner Sitte, Lebens, / Scheidend, kommend, grüßend,
holden Wandeins« (Legende), »bescheidner segnend« (FA 1,2, S. 521).
Beugung« (WeIß wie Lilien), »Holden Lichts«
(Dämmrung senkte sich von oben), »Reiner
Bahn« (Dem aufgehenden Vollmonde). Die Literatur:
zahlreichen Auslassungen bzw. Ersetzungen Altenhofer, Norbert: »Geistiger Handelsverkehr«.
von >>Und« (Eins und Alles, V. 4f.) und des be- Poetik und Hermeneutik beim späten Goethe. In:
stimmten Artikels (»Muse ruft zu Bach und Kimpel, DieteriPompetzki, Jörg (Hg.): Allerhand
Tale«: Immer und Überall; »Knabe saß ich, Goethe. Frankfurt/M., Bern, New York 1985,
Fischerknabe«: Lust und Qual), besonders in S. 357-370. Wieder in: ders.: Poesie als Auslegung.
Schriften zur Hermeneutik. Hg. von Volker Bohn u.
der Paria-Legende auch des Zeitwortes, arbei-
Leonhard M. Fiedler. Heidelberg 1993, S. 167-181.
ten diesem Lakonismus ebenso zu wie die for- - Eibl, Komm. in FA I, 2.- Hübner, Arthur: Goethe
melhaften, sentenzhaften Verdichtungen. und die deutsche Sprache. In: ders.: Kleine Schrif-
ten zur deutschen Philologie. Hg. von Hermann Ku-
G. hat diese Spracheigentümlichkeiten selbst nisch u. Ulrich Pretzel. Berlin 1940, S.254-267. -
bedacht - auch das gehört zum ,Historischen< Killy, Walter: Das wahre Bild. Johann Wolfgang von
Goethe. In: ders.: Wandlungen des lyrischen Bildes.
seiner späten Zeit. In der Überlegung, daß
Göttingen 1956, S. 10-29. - Knauth, Paul: Goethes
»jedem Alter des Menschen [ ... ] eine gewisse Sprache und Stil im Alter. Leipzig 1898. - Lee, Mer-
Philosophie antwortet« (MuR 806), ordnet G. edith: Studies in Goethe's Lyric Cydes. Chapel Hili
dem Greis den »Mysticismus« zu: »Er sieht, 1978. - Lewy, Ernst: Zur Sprache des alten Goethe
daß so vieles vom Zufall abzuhängen scheint: (1913). Wieder in: ders.: Kleine Schriften. Berlin
das Unvernünftige gelingt, das Vernünftige 1961, S.91-105. - Müller-Seidel, Walter: Goethe
und das Problem seiner Alterslyrik. In: Unterschei-
schlägt fehl, Glück und Unglück stellen sich
dung und Bewahrung. Fs. Hermann Kunisch. Berlin
unerwartet in's Gleiche; so ist es, so war es, 1961, S. 259-276. Wieder in: ders.: Die Geschicht-
und das hohe Alter beruhigt sich in dem, der lichkeit der deutschen Klassik. Stuttgart 1983,
da ist, der da war, und der da sein wird«. S. 251-267. - Ders.: Lyrik, Tragik und Individualität
Zahme Xenien 449

in Goethes später Dichtung. In: Buhr, Gerhard u.a. erschien in G.s Korrespondenz erstmals 1820,
(Hg.): Das Subjekt der Dichtung. Fs. Gerhard Kaiser. sogleich ausgelegt: »Bedenkt man, daß die
Würzburg 1990, S.497-518. - Preisendanz, Wolf-
gang: Die Spruchfonn in der Lyrik des alten Goethe
Überschrift: Z ahm e Xe nie n eine contra-
und ihre Vorgeschichte seit Opitz. Heidelberg 1952. dictio in adjecto im eigentlichen Sinne enthält;
- Ders.: Die Spruchfonn in der Lyrik Goethes. In: so läßt es sich vermuthen, daß hie und da
GoetheJb. 108 (1991), S. 75-84. - Segebrecht, Wulf: etwas von der alten wilden Natur hervorblik-
Goethes Erneuerung des Gelegenheitsgedichts. In: ken werde; es ist bekannt, daß man die ange-
GoetheJb. 108 (1991), S. 129-136. - STAIGER, Bd. :5. bornen Eigenheiten nicht leicht durch Kunst
- Stöcklein, Paul: Stil des Alters bei Platon und
und Erziehung austreiben könne« (an Conta,
Goethe. In: ders.: Wege zum späten Goethe. Dich-
tung, Gedanke, Zeichnung. Interpretationen um ein 11.9. 1820). Erinnert war damit an die von G.
Thema. Hamburg 21960, S. :5:51-:561. - Trunz, Erich: und Schiller gemeinsam verfaßten Xenien. Die
Goethes späte Lyrik. In: ders.: Ein Tag aus Goethes »wilde Natur« jener »Gastgeschenke« hatte tat-
Leben. Acht Studien zu Leben und Werk, München sächlich in der 1820 in Ueber Kunst und Al-
1990. S. 147-166. - Vietor, Karl: Gedichte des Alters. terthum (I1, 3) erschienenen ersten Gruppe
In: ders.: Goethe. Dichtung, Wissenschaft, Weltbild.
von Zahmen Xenien »hervorgeblickt«, öfter als
Bern 1949, S.260-280. - Ders.: Goethes Altersge-
dichte. In: ders.: Geist und Form. Aufsätze zur deut- nur »hie und da« - wobei nicht allein die Ziele
schen Literaturgeschichte. Bern 1952, S. 144-19:5. - der aggressiven Distichen aus den 90er Jahren
Willems, Gottfried: Mit »Phisick geseegnet« oder erneut ins Visier genommen waren, sondern
mit »Metaphisick gestraft«? Goethes Gedichte über Lebens- und Weltansicht in umfassenderem
Gott und Welt und das Problem ihrer Auslegung. In: Sinne. Die beiden 1821 und 1824 in Ueber
GoetheJb. 108 (1991), S. 191-206. - Wohlleben, Joa-
Kunst und Alterthum (III, 2; IV, 3) folgenden
chim: Über Goethes Gedichtzyklus Chinesisch-deut-
sche Jahres- und Tageszeiten. In: SchillerJb. 29 Gruppen bestätigten jene »contradictio in ad-
(1985),S.266-:500. jecto« ebenfalls; die Verse selbst deuteten wie-
derholt ironisch darauf hin - z.B. in Wort-
Mathias Mayer spielen mit Begriffen wie »nichtig« und »ver-
rückt« (V. 74-76, V. 810-813) oder durch das
Reimwort »lahm« : »Die Xenien sie wandeln
zahm, / Der Dichter hält sich nicht ftir lahm; /
Belieben euch aber geschärftere Sachen, / So
wartet bis die wilden erwachen« (V. 1135-1138;
vgl. V. 424-427).
Zahme Xenien In G.s Tagebuch findet sich unter dem 26.1.
1825 die Notiz: »Nach Tische die Sammlung
der zahmen Xenien durchgegangen und deren
Unter dem Titel Zahme Xenien versammelte Einschaltung in die kleinen Gedichte über-
G. die meisten gereimten Sprüche, die er seit legt«. Dies betraf die Ausgabe letzter Hand.
etwa 1815 bis zum Ende seines Lebens nieder- Eckermann berichtete, er habe schon im Win-
schrieb. Nur wenige sind einzeln datiert, nur ter 1823/24 »verschiedene Abteilungen zah-
einige stammen nachweislich aus der Zeit vor mer Xenien aus den konfusesten Konvoluten«
1815. Erste Gruppierungen solcher Sprüche zusammengestellt (6.5. 1824). Und Kanzler
hatte G. unter den Überschriften Gott, Gemüth von Müller beschrieb die Materiallage ähn-
und Welt und Sprichwörtlich in die Gedicht- lich: »Nachmittags bei Goethe, der eine
sammlung der Werkausgabe von 1815 aufge- Menge kleiner, beschriebner Zettel mit Denk-
nommen. Das Buch der Sprüche im Divan sprüchen vor sich hatte« (7.2. 1825). Zum glei-
brachte 1819 ebenfalls eine beträchtliche An- chen Tag heißt es in G.s Tagebuch: »Nach Ti-
zahl. Einzelne erschienen zuvor und danach sche Sonderung und Ordnung der kleinen
verstreut. Der Titel, dem schließlich die mei- Sprüche«. Diesbezügliche Notizen finden sich
sten restlichen und später entstandenen ge- in den Tagebüchern von 1825 bis zum Februar
reimten Sprüche subsumiert werden sollten, 1827 öfter; seit dem 15.3. 1826 betrafen sie
450 Das lyrische Spätwerk. 1819-1852

»die drey letzten Bücher« (IV-VI). Erst unter bedeutende Anzahl, welche vielleicht niemals
dem 17.1. 1827 findet sich die einzige inhalt- öffentlich erscheinen zu lassen räthlich ist«.
lich bestimmte Eintragung: »Einige Gedichte Bei aller gebotenen Rücksicht auf das »Urtheil
naturphilosophischen Inhalts zur 6. Abthei- der Welt« und trotz der angeblich nur aus-
lung der Zahmen Xenien«. Am 15.2. 1827 ist nahmsweise durchbrochenen Absicht, »jede
im Tagebuch notiert: »Die Göttlingsche Revi- Controvers im Ästhetischen, Sittlichen, ja
sion der Zahmen Xenien durchgesehen und Wissenschaftlichen zu vermeiden«, habe er
benutzt. [ ... ] Noch einiges zu den Zahmen doch »als Mensch dem menschlichen Gefühl
Xenien aufgesucht und eingeschaltet«. Und am nicht widerstreben« wollen, »welches uns bei
folgenden Tag wurden Manuskriptteile, die unfreundlicher und unartiger Erwiderung ei-
auch die neuen Abteilungen der gereimten ner wohlgemeinten Gabe natürlich zu über-
Sprüche enthielten, an die Cottaische Drucke- fallen pflegt«. Er habe daher »bis auf den heu-
rei geschickt - mit der eine frühere ähnliche tigen Tag« bei allen Versuchen, seine »Wir-
Anweisung (G. an Frommann, 8.7. 1821) wie- kung zu stören, zu schmälern, zu vernichten
der aufnehmenden Anordnung: »Die Xenien [ ... ], mit dem besten Humor ein Schnippchen
werden Seite für Seite gedruckt und darf von in der Tasche geschlagen« und, »ganz im Stil-
keinem Blatt auf das andere etwas herüber len«, seinen »Gegnern etwas angehängt [ ... ],
genommen werden«. Der dritte Band der Aus- ohne dadurch dem Öffentlichen beschwerlich
gabe letzter Hand schloß 1827 mit den nahezu zu sein oder zu irgend einer Erschütterung
unverändert aus Ueber Kunst und Alterthum Anlaß zu geben«. Das gelte außerdem auch
übernommenen Abteilungen 1-111, der vierte »von solchen Gedichten politischen Inhalts,
Band und damit die letzte autorisierte Ge- wo es ebenso gefährlich, für diese oder jene
dichtsammlung G.s endete im gleichen Jahr Seite auch nur scheinbar dichterisch sich zu
mit den Abteilungen IV-VI der Zahmen Xe- erklären oder sich zu unvermeidlicher Quet-
nien. Das überlieferte Druckmanuskript (HI48) schung zwischen beide zu stellen«. Spätere
legitimiert die in der Ausgabe letzter Hand Verfügung überlasse er seinen Freunden
vollzogene typographische Anordnung der (WA I, 42.2, S. 54f.; nicht autorisierter Titel:
Sprüche, die später lediglich in der Weimarer Über die Incommunicabilien unter den Para-
Ausgabe reproduziert worden ist (Tabelle FA I, lipomenen) .
2, S. 1169f.). Diese Anordnung bezeugt, trotz Im Hinblick auf die nachgelassenen Zahmen
der vorbereitenden Mitwirkung verschiedener Xenien, an die sowohl hinsichtlich jener
Helfer, die ausdrückliche Absicht des Dich- »Schnippchen« - in den Sprüchen ist aus-
ters, die Zusammengehörigkeit oder den kom- drücklich davon die Rede (V. 1466-1473) - als
plementären Charakter bestimmter Sprüche auch angesichts der Sorge um politische
besonders hervorzuheben bzw. die inhaltliche »Quetschung« in besonderem Maße zu denken
Nähe gelegentlich durch räumliche Zäsuren zu ist, handelten die Verfügungsberechtigten
relativieren. rasch, obwohl sie zu klagen fanden: »Des Rät-
Das autorisierte sechsteilige Corpus der selhaften ist doch oft allzuviel« (Gespräche,
Zahmen Xenien umfaßt 1843 Verse. Im Nach- 3.1, S. 658). Schon die Nachgelassenen Werke
laß fanden sich weitere rund eintausend Verse, der Ausgabe letzter Hand brachten unter dem
die mit Ausnahme einzelner Sprüche, deren »zahmen« Titel zwei weitere Gruppen (Bd. 7,
Zuordnung strittig ist, als Zahme Xenien anzu- 1833; Bd. 16, 1842) sowie eine Reihe von Sprü-
sehen sind. Viele von ihnen gehören zu der chen als Politica (Bd. 16, 1842). Die soge-
eher »wilden« Kategorie von Texten, die G. nannte Quartausgabe (Bd. 1, 1836) fügte noch-
erst einmal im »Walpurgissack« aufbewahrte mals eine Gruppe hinzu und verteilte eine An-
(Gespräche, 5, S.92f.) und zu deren Kenn- zahl von Sprüchen in anderen Rubriken. Die
zeichnung er vermutlich schon im Mai 1822 Weimarer Ausgabe stellte aus dem bis dahin
diktierte: »Unter den zurückgebliebenen oder veröffentlichten Nachlaß die Gruppen VII-IX
vielmehr zurückgehaltenen Gedichten ist eine zusammen und publizierte weitere unge-
Zahme Xenien 451

druckte Zahme Xenien (JVA 1,5.1 und 5.2). Die halb überwunden, wenn der Dichter sich ent-
Frankfurter Ausgabe folgt der Gruppierung schließt, ihn zu »bescherzen« (V. 770f.). Ein
der Weimarer Ausgabe und berichtigt deren Resümee kann lauten: »Nehmt nur mein Le-
Irrtümer (FAI, 2, S.621-683 u. S.715-747; ben hin, in Bausch / Und Bogen, wie ich's
unsere Textgrundlage, auch fUr die durchge- fUhre; / Andre verschlafen ihren Rausch, /
hende Verszählung; Verse aus dem Nachlaß Meiner steht auf dem Papiere« (V. 1079-1082).
sind im folgenden zusätzlich durch N gekenn- Relativ selten kommen Reaktionen der Zeit-
zeichnet). genossen auf dieses Lebens-Werk zur Sprache,
Insgesamt umfassen die Zahmen Xenien also etwa die Pseudo- Wanderjahre oder Urteile der
knapp 3000 Verse. Sie bilden ein kaleidosko- Newtonianer und Vulkanisten über den Natur-
pisches Panorama, dessen Teile bei wechseln- wissenschaftler G. (Abt. V) - gelegentlich auch
der Dominanz einzelner Themen sehr weitge- der Faust (V. 141-144 N, V. 253-260 N), dessen
hend aufeinander bezogen sind. Dieses Ge- zweiter Teil noch nicht veröffentlicht war.
flecht relativiert die Selbständigkeit der ein- Konkrete Polemik gegen die »Lumpe« und das
zelnen Sprüche. So fUhrt die beliebte, durch »Pack« ist dabei meistens von grundsätzlichen
motivische wie sprachliche Prägnanz begün- Aussagen, Maximen und Sentenzen begleitet.
stigte Isolierung im handlichen Zitat oft in die Unter diesen Aspekten wird bei allen Unter-
Irre. Daß die einzelnen Zahmen Xenien bis auf schieden die partielle inhaltliche Verwandt-
wenige Ausnahmen keine Überschriften ha- schaft der Zahmen Xenien mit den unter ähnli-
ben, kann als zusätzliche Unterstützung des chen Entstehungsbedingungen als Maximen
kaleidoskopischen Wechselspiels angesehen und Riflexionen zusammengefaßten Prosa-
werden. Die Verflochtenheit wird zudem sprüchen erkennbar.
durch die Adressierung unterstützt: Nur selten Polemisch-prinzipiell erscheint auch die
ist - wie noch in den Xenien der 90er Jahre - Mischung von Bekenntnis und Distanzierung
ein ganz bestimmter Gegner oder Meinungs- bei der Diskussion des Alters als der fUr den
träger angesprochen, sondern meistens steht Dichter der Sprüche »aktuellen« Phase des
das entpersonalisierende Du oder Ihr, auch biographischen wie des historischen Prozes-
dort, wo ein individueller Adressat zu ver- ses, auf den er zurückblickt in der wiederholt
muten oder leicht zu erraten ist. So sind die formulierten Absicht, Erfahrungen und Leh-
Zahmen Xenien weitgehend auch ohne Detail- ren den »Enkeln« zu vererben: »Erwachsne
kommentar verständlich. Es handelt sich zwar gehn mich nichts mehr an, / Ich muß nun an
nicht um einen Zyklus im strengen Sinne, aber die Enkel denken« (V. 11f.). Gleichsam pau-
um ein poetisches Produkt »zyklischer Denk- schal wird der Weltlauf summiert - »Drei hun-
weise« (Flitner, S. 22), um einen Werk-Zusam- dert Jahre sind vorbei« und »Dreihundert
menhang spezieller Art. Jahre sind vor der Türe« - und mit dem vielzi-
tierten Appell kommentiert: »Entzieht euch
Zu den dominierenden Themen des Spruch- dem verstorbnen Zeug, / Lebend'ges laßt uns
werks gehört die teils bekenntnishaft, teils lieben!« (V. 686-701). Orientierung auf Leben-
diskursiv behandelte Problematik der Dichter- dig-Gegenwärtiges und konservierende Vor-
Existenz. Das 1827 vorangestellte Horaz- sicht im Umgang mit dem Alten vertragen sich
Motto gibt, unter beziehungsvoller Berufung durchaus in dieser Abrechnung mit dem »Geist
auf die Satire, einen Grundton an: Dichtung ist der Zeiten« (V. 536): »Die Welt geht ausein-
das einzig zuverlässige Gefäß fUr die geheimen ander wie ein fauler Fisch, / Wir wollen sie
Gedanken des Dichters, die Sprüche insbe- nicht balsamieren« (V. 1329f.) - aber auch:
sondere dienen als ein Behältnis fUr jede Art »Althergebrachtes weiter führen, / Das Neue
von »Verdruß«, der als »Teil des Lebens« hin- klüglich retardieren« (V. 1633f.). Herausfor-
zunehmen ist: »Alles verdienet Reim und derndes Selbstbewußtsein und gelegentlich
Fleiß / Wenn man es recht zu sondern weiß« defensive Selbstbehauptung des Menschen G.,
(V. 1185-1188). Zudem ist der Verdruß schon der sich historisch sieht, stehen in ähnlichem
452 Das lyrische Spätwerk. 1819-1852

Spannungsverhältnis. Exzeptionalität und Au- die Kirchengeschichte als »Mischmasch von


ßenseitertum werden als gewollte und erlit- Irrtum und von Gewalt« (V. 636 N) und das
tene Erfahrungen vorgezeigt: »Sage mir kei- produktive Protestieren; schließlich Bekennt-
ner: / Hier soll ich hausen! / Hier, mehr als nisse im Ton der späten Vermächtnis-Gedichte
draußen / Bin ich alleiner« ry. 600-603) - »Ja! - teils an den Schluß des für die Leser der 20er
ich rechne mir's zur Ehre, / Wandle fernerhin Jahre bestimmten Spruchwerks gestellt, teils
allein! / Und wenn es ein Irrtum wäre, / Soll es im Nachlaß zurückbehalten (Abt. VI sowie
doch nicht eurer sein!« ry. 77-80 N). Und der V. 456-459 N und V. 599-602 N).
meist sofort relativierten Selbstkritik - »Ich Redeweise und Tonart dieser Sprüche rei-
habe mich nie verrechnet, / Aber oft verzählt« chen von appellativem Ernst bis zu höhnisch-
ry. 159f.) - steht die schroffe Zurückweisung resignierender Verachtung. »>Mephisto
fremden Urteils zur Seite: »Den Dichter könnt scheint ganz nah zu sein! ( / Es däucht mich
ihr mir nicht nehmen, / Den Menschen geb' fast, er spricht mit ein« ry. 153f. N): Die Ver-
ich euch preis; / Auch der darf sich nicht schä- mutung trifft auf viele Stellen zu. Als ein struk-
men, / Greift doch an euren Steiß« ry. 500-503 turierendes Prinzip wird der Widerspruch vor-
N). Insgesamt ist in Hinblick auf Literatur und geführt, unerläßliche erkenntnisfördernde
Kunst die in den gereimten Sprüchen vielfach Methode, sei es selbst in einer »Köcherei« zum
angelegte läßliche Toleranz am seltensten im »Ragout von Wahrheit und von Lügen«
Spiel. Philiströser Herablassung, die den gan- ry. 169f., 18Of.). Derart provozierende Vers-
zen Menschen zu »übersehen« meint - »>Wohl und Spruchpaarungen gehören zu den am häu-
kamst du durch; so ging es allenfalls«< -, ließ figsten angewandten Mitteln dieses Prinzips.
sich dagegen mit sarkastischer Gelassenheit Sie finden sich oft auch dort, wo es um Selbst-
erwidern: »Mach's einer nach und breche charakteristik des Dichters geht - deutliche
nicht den Hals« ry. 99f. N). Und viele konnten Warnungen einschließend vor dem Mißverste-
gemeint sein, wenn sie lasen: »Ein bißchen hen der Teile als unwiderleglicher Lebens-
Ruf, ein wenig Ehre, / Was macht es euch für weisheiten.
Not und Pein! / Und wenn ich auch nicht Goe- Diesem im Wortsinne dialektischen - auf
the wäre, / So möcht' ich doch nicht [ ... ] sein« die Kunst der Unterredung im Widerspruch
(V. 115-118 N). gegründeten - Verfahren entspricht die weit-
Die notgedrungen stichwortartige Aufzäh- gehend dialogische Struktur der Zahmen Xe-
lung der Themen, die in den Zahmen Xenien nien. Aus ihr resultiert auch der Eindruck äu-
eine oftmals mehrdeutige Rolle spielen, ergibt ßerst bewegter Vielfalt bei scheinbar »gleich-
zumindest für den alten G. gleichsam ein Wör- förmiger« Versgestalt. Neben den gereimten
terbuch in nuce, das die Benutzung der Drei- oder Viertaktern mit freier Senkung
Spruchsammlung als »Stechbüchlein« nahele- kommen hier kaum andere Versformen vor.
gen konnte: Wahrheit und Irrtum, Reflexion Die dominierende Versform ist den Quellen
und Tat, die Persönlichkeit in der Geschichte - und Traditionen verpflichtet, die in G.s ge-
der Modellfall Napoleon, »vor Gottes Thron« samtes Spruchwerk hineingewirkt haben:
gestellt, vor dem »am jüngsten Tag« das ganze Sprichwortsammlungen aus dem 16. und 17.
Sündenregister des »Helden« dem offengelas- Jh. sowie insbesondere der von G. seit den
senen Reim zufolge nur ein Furz ist frühen Werken bis in den Faust hinein geübte
ry. 743-756 N) -, Vanitas und Unsterblichkeit, Knittelvers. Schon in der Sammlung Sprich-
Gutes und Schlechtes, Politik der »Tyrannen« wö"rtlich von 1815 stand: »Diese Worte sind
und Dummheit der »Menge«, Tradition und nicht alle in Sachsen, / Noch auf meinem eig-
Umgestaltung, Anarchie und Bürgerpflicht, nen Mist gewachsen« (FA I, 2, S. 406). Was die
die »Teutschen« und die »Deutschen«, Presse- Verskunst betraf, so konnten die Verfechter
freiheit und Theater, Kunst und Mythologie - strenger Regeln in den Sprüchen zudem man-
besonders der Inder -, Form und Absurdität in chen Seitenhieb finden und das Prinzip: »Ein
Kunst und Leben, Toleranz und Dogmatismus, reiner Reim wird wohl begehrt, / Doch den
Zalune Xenien 453

Gedanken rein zu haben, / Die edelste von nur von fern bedrohlich das Trauerreglement:
allen Gaben, / Das ist mir alle Reime wert« »Dieses Heft Persönlichkeiten / Spar' ich euch
(V 1453-1456). auf späte Zeiten: / Scheidend will ich nicht
Die dialogische Struktur der Zahmen Xe- betrüben, / Ihr sollt lachen, meine Lieben«
nien, längst überzeugend als Modifikation ei- (V 542-545 N).
ner epigrammatischen Grundstruktur defi- G.s Zahme Xenien sind Gelegenheitsge-
niert (vgl. Preisendanz), ist vielgestaltig, mit dichte überwiegend spontanen Ursprungs, im
zahlreichen Mischungen und Übergängen des Wortsinne »gelegentlich« aufgezeichnet und
Sprechens ausgestattet. Der direkte, auch auf ihre Art - wenngleich quantitativ kleine -
ohne typographische Kennzeichnung als wört- »Bruchstücke einer großen Konfession«: »Was
liche Rede und Gegenrede erkennbare Dialog ich sag' ist Bekenntnis« (V 274). Ihre Genese
tritt auf als Frage und Antwort, Behauptung kann als ausreichender Beleg gelten gegen je-
und Entgegnung, Feststellung und Bestäti- den Versuch, das umfangreiche Corpus als Sy-
gung, Vorwurf und Widerlegung, Provokation stem zu lesen. Dennoch sind die Verflechtun-
und Abwehr. Die in der Aufklärung so aus- gen so offensichtlich, daß andererseits auch
giebig rezipierten antiken Vorbilder von So- die vereinzelnde Auflösung der Summe in Ver-
krates bis Lukian bleiben erkennbar, gleich- satzstücke zum beliebigen Gebrauch am Cha-
sam ins Modern-Private transponiert. Dane- rakter des Werkes vorbeigeht. Die Rezeptions-
ben nimmt das oft ebenfalls dialogisch struk- geschichte war jedoch weithin von der florile-
turierte Selbstgespräch des Dichters gisch isolierenden Tendenz bestimmt. Am
beträchtlichen Raum ein. Diese besonders prä- ehesten ist dieses Verfahren für diejenigen
gnante Form inneren Monologs benutzte G. in Sprüche zu akzeptieren, die fast wie Fremd-
den Zahmen Xenien mit Vorliebe auch zum körper im orakelhaft-abgehobenen Ton des
Widerspruch gegen unerwünschte Vereinnah- Bakis oder des Faust-Schlusses erscheinen
mungo Repliken auf an anderer Stelle »Zitier- (v gl. den Untertitel zu Abt. II sowie die Sprü-
tes« oder auf stillschweigend vorausgesetzte che Nichts vom Vergänglichen, Alles auch M ei-
gängige Meinungen zielen ebenfalls in diese nende; V. 109-112, 1482-1484). Auch die von
Richtung. Hinter allzu betont betulicher Re- G. für den Schluß der gedruckten Sammlung
deweise des Dichters kann und sollte Düpie- zusammengestellte Reihe »naturphilosophi-
rung zumindest vermutet werden, insbeson- scher Gedichte« - die meisten sind umfang-
dere bei philiströsen Platitüden und Ratschlä- reicher als die übrigen Sprüche - haben teils
gen wie z.B. dem Spruch Bürgerpflicht eigenständigen Charakter und das Gewicht
(Y. 902-905 N), der angesichts seines Datums »letzter Worte« (Wenn im Unendlichen das-
(6.3. 1832) oft als G.s »letztes Gedicht« apo- selbe, Teilen kann ich nicht das Leben;
strophiert wird. V. 1766-1773, 1836-1843). Ihnen und den im
Der dialogischen Vielfalt ist die sprachliche unmittelbaren Sinne autobiographischen
Vielfarbigkeit des späten Spruchwerks gemäß. Sprüchen - bis hin zu Vom Voter hab' ich die
Sachlich-bündig bis zum Lakonismus - bei Statur (V 1824-1835) - gilt die dauerhafte Vor-
weitestgehendem Verzicht auf Metaphorik-, liebe der Rezipienten. Einige wurden als in-
unverblümt bis zum Grobianischen, apodik- zwischen nahezu anonymisierte Spruchweis-
tisch pointiert, selten ausführlicher »beredt« - heiten populär. Manche Vorzugsstücke be-
Humor, Ironie und Sarkasmus in vielen Ab- schäftigten die Interpreten wiederholt, so das
stufungen vom Gestus spaßhafter Abmahnung vermutlich älteste, Wär' nicht das Auge son-
bis zur höhnischen Abfertigung kennzeichnen nenhaft (1805; V. 724-727), das mehrfach mit
die Tonart. Unversöhnlichkeit und Bemühung speziellen Abhandlungen bedachte Amerika,
um Milde sind nahe benachbart: »Ihr Bestien, du hast es besser (V 691-702 N) oder - je nach
ihr wolltet glauben, / Ich sollte höflich sein? / Standpunkt des Betrachters mehr oder weni-
Der Hund der seine Steine kennt / Er scheißt ger ernst genommen oder verharmlost - die
auch auf den Stein« (V 574-577 N) - dagegen nachgelassenen besonders »wilden« Sprüche
454 Das lyrische Spätwerk. 1819-1852

über die Kirchengeschichte, über die Ereig- Dieser Druck liegt den folgenden Ausführun-
nisse von 1815-1815 und über die Deutschen. gen zugrunde (nach FA I, 2, S. 695-699). Die
Daß die ähnlich »unpatriotischen« Äußerun- Gedichte eröffneten den Musenalmanach, der
gen im Ton der Sprüche, die Thomas Mann in ansonsten neben einigen Gedichten von Jo-
Lotte in WeimarG. in den Mund legte, alsbald hann Peter Eckennann vor allem spätroman-
für authentisch genommen wurden, ist hier zu tisch geprägte Lyrik enthielt. Bereits zu Be-
erwähnen. Als eigenständiges Werk sind die ginn des Jahres 1827 hatte sich G. mit chine-
Zahmen Xenien nur selten behandelt worden sischer Literatur beschäftigt; er las den Vers-
(Thomas Dietzel, Hans-Heinrich Reuter, Otto roman Hua Dsien Gi (Die Geschichte vom
H. Smital). Eine vollständige Einzelausgabe Blumenpapier) in der englischen Übersetzung
des Werks ist noch nie erschienen. von Peter Perring Thoms, die unter dem Titel
Chinese Courtship 1824 in London erschienen
war. Wie Eckennann unter dem 51.1. 1827
Literatur: berichtet, war G. unter anderem von der Dar-
Dietzel, Thomas: Goethes Zahme Xenien. Eine con- stellung der Natur in dem Roman beeindruckt:
tradictio in adjecto. In: Clasen, Thomas u.a. (Hg.): »Die Goldfische in den Teichen hört man im-
Goethe. Vorträge aus Anlaß seines 150. Todestages. mer plätschern, die Vögel auf den Zweigen
Frankfurt/M. 1984, S. 145-173. - Flitner, Wilhelm: singen immerfort, der Tag ist immer heiter
Goethe im Spätwerk. Glaube - Weitsicht - Ethos. und sonnig, die Nacht immer klar; vom Mond
Bremen 1957. - Preisendanz, Woifgang: Die Spruch-
ist viel die Rede«. Unter der Überschrift The
form in der Lyrik des alten Goethe und ihre Vorge-
schichte seit Opitz. Heidelberg 1952. - Reuter, Hans- Songs of a Hundred Beautiful Warnen enthielt
Heinrich: Goethes Zahme Xenien. In: JbGG. N.F. 26 die Ausgabe von Thoms auch die Übersetzung
(1964), S. 92-135. - Smital, Ouo H.: Goethes Zahme von 100 chinesischen Gedichten nebst einigen
Xenien. Diss. Wien 1951. - Stephenson, Roger H.: Anmerkungen; es handelt sich um eine Aus-
Goethe's ,Sprüche in Reimen': A Reconsideration. wahl aus einer Sammlung chinesischer Ge-
In: PEGS. 49 (1979), S. 102-130.
dichte, deren Titel richtig übersetzt Neue Ge-
Regine Gtto dichte auf die Bilder von hundert schönen
Frauen lautet. Einige dieser Gedichte hat G.
ins Deutsche übertragen und, versehen mit
Anmerkungen, die zum großen Teil aufThoms
zurückgehen, in dem Aufsatz Chinesisches ver-
öffentlicht; er erschien 1827 im ersten Heft des
sechsten Bandes seiner Zeitschrift Ueber
Chinesisch -Deutsche Kunst und Alterthum. Chinesische Literatur
Jahres- und Tageszeiten und Kultur hatte G. schon früher kennenge-
lernt; allerdings blieb seine Kenntnis eher
spärlich. Er war mit der China-Mode des 18.
Jhs. vertraut; in den 90er Jahren las er die
Die Gedichte der Chinesisch-Deutschen Jah- deutsche Übersetzung des Romans Hao Kiou
res- und Tageszeiten entstanden zum größten Tschuan, die 1766 unter dem Titel Haoh Kjöh
Teil im Mai und Juni 1827. Erhalten sind Tschwen, d. i. Die angenehme Geschichte des
Handschriften G.s zu einzelnen Gedichten so- Haoh Kjöh, erschienen und nach einer eng-
wie die von Johann August Friedrich John ge- lischen Übersetzung gearbeitet war; zwischen
schriebene und von G. durchgesehene, aller- 1815 und 1817 beschäftigte er sich mit Reise-
dings nicht mehr vollständige Reinschrift des berichten von China-Reisenden und mit der
Zyklus. Erstmals gedruckt wurden die Ge- Übersetzung eines chinesischen Dramas. Erst
dichte in dem von Moritz Veit u.a. heraus- 1827 allerdings wurde G. durch die Beschäfti-
gegebenen, im September 1829 erschienenen gung mit chinesischer Literatur, insbesondere
Berliner Musen-Almanach für das Jahr 1830. mit den Gedichten, auch zu eigener lyrischer
Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten 455

Produktion angeregt. Am 12.5. 1827 zog er in von der Wiese, oder beim dreizehnten, Die
sein Gartenhaus an der 11m und verbrachte stille Freude wollt ihr stären, auf beliebte, im
dort die nächsten Wochen bis zum 8.6. 1827; 18. und 19. Jh. häufig gebrauchte Liedformen
hier wurden die Chinesisch-Deutschen Jahres- zurückgreift. Das subtile Spiel mit literari-
und Tageszeiten im wesentlichen geschrieben. schen Formen ist ein Merkmal der Chinesisch-
Während dieser Zeit und auch in den Monaten Deutschen Jahres- und Tageszeiten. So wählt
danach beschäftigte sich G. weiter mit chine- G. etwa für das fünfte Gedicht Entwickle dei-
sischer Literatur; er las die vierbändige fran- ner Lüste Glanz, eine Anrede an einen Pfau,
zösische Übersetzung des Romans Yü Giau Li, eine achtzeilige Strophenform, die im 18. Jh.
die Abel Remusat 1826 unter dem Titel Iu- vielfach für Huldigungsgedichte verwendet
-kiao-li ou Les deux cousines in Paris heraus- wurde; im vorangehenden Gedicht Der Pfau
gebracht hatte, und eine gleichfalls von Remu- schreit verbindet er das Thema der Häßlich-
sat herausgegebene Sammlung chinesischer keit mit Unregelmäßigkeiten in Metrik und
Novellen, die 1827 unter dem Titel Contes chi- Reimgebung. Wie der Titel Jahres- und Tages-
noises in Paris erschienen war. Am 1.8. 1827 zeiten bereits signalisiert, handelt es sich bei
ergänzte und bearbeitete G., wie sein Tage- den Texten meistenteils um Naturgedichte.
buch ausweist, die Chinesisch-Deutschen Jah- Dabei spielen jedoch die Tageszeiten nur eine
res- und Tageszeiten, die er zumeist verkür- geringe Rolle; lediglich zweimal, im fünften
zend Chinesische Jahreszeiten nannte. Danach und achten Gedicht, wird mit dem Abend eine
blieb der Zyklus liegen. Erst zwei Jahre später, Tageszeit benannt. Deutlicher ist die Orientie-
als Carl Friedrich Zelter bei G. um Unter- rung an den Jahreszeiten. Die ersten fünf Ge-
stützung für den Berliner Musen-Almanach dichte lassen sich dem Frühling zuordnen; im
bat, bereitete er - nach einigem Zögern aller- sechsten wird der Sommer genannt ry 41).
dings, wie aus seinem Brief an Zelter vom Die folgenden Gedichte - und davon am deut-
19.7. 1829 hervorgeht - die Veröffentlichung lichsten das neunte: Nun weiß man erst was
vor. Am 13.8. 1829 heißt es im Tagebuch: »Die Rosenknospe sei - verweisen auf den Herbst.
Gedichte für Berlin abschließlich zusammen- Der Winter allerdings fehlt; die Sammlung
gestellt«. Am 15. August schickte G. sie an endet mit spruchartigen Gedichten, in denen
Zelter, der sie an die Herausgeber des Musen- die Begegnung mit Natur in Betrachtungen der
Almanachs weiterleitete. Nur wenige Wochen Altersweisheit überführt wird. Wie in anderen
später, am 8.9. 1829, konnte Zelter berichten: Gedichtzyklen G.s wird jedoch auch in den
»Der neue Ber!. Almanach spaziert mit be- Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten
herzten Schritten durch die Stadt. Die Buch- der zyklische Charakter vornehmlich durch
binder können nicht schaffen, was verlangt textuelle Verknüpfungen und Korresponden-
wird. Die Chines. Jahreszeiten ziehn wie ein zen zwischen den Gedichten hergestellt. So
neuer Komet«. bilden die Rosen-Gedichte IX, X und XI einen
Der Zyklus um faßt vierzehn Gedichte. kleinen Zyklus im Zyklus; die drei abschlie-
Durchweg handelt es sich um Kurzgedichte, ßenden Gedichte lassen sich als Wechselrede
wobei G. vorrangig vier- und ach tz eilige Stro- verstehen, deren Thema Geselligkeit heißt,
phenformen verwendet; das achte Gedicht, wobei im Schlußgedicht in der Paarung der
Dämmrung senkte sich von oben, das zu den beiden Zweizeiler explizit Rede und Gegen-
bekanntesten der Sammlung zählt, ist mit sei- rede, Frage und Antwort aufeinanderfolgen.
nen zwei achtzeiligen Strophen das längste. Zu den Korrespondenzen zwischen den Ge-
Die Strophenformen variieren. Sehr kunst- dichten gehören auch die Motive, die als chi-
volle, von G. selbst geprägte und auch nur hier nesische bezeichnet werden können und die
gebrauchte Formen wie im Eingangsgedicht G. vor allem dem Roman Hua Dsien Gi ent-
Sag was kännt' uns Mandarinen stehen neben nommen hat. Mandarine, Pfauen, die Gärten
eher einfachen, bei denen G. immer wieder, und die Ausübung kunstvoller Poesie gehören
etwa beim dritten Gedicht, Ziehn die Schafe dazu oder in Dämmrung senkte sich von oben
456 Das lyrische Spätwerk. 1819-1852

»Chinesisch-Deutsche Tages- und Jahreszeiten« (Reinschrift)


Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten 457

der Mond, die Weidenzweige und die leichte G. wurde im Frühsommer 1827 von der Lek-
Bewegung in der Natur. In diesem Gedicht türe chinesischer Literatur wohl auch deshalb
nennt er den Mond allerdings auch »Luna« zu eigener Produktion angeregt, weil er in der
01. 14) und fügt damit eine anakreontische Re- chinesischen Dichtung, zum al in der Lyrik,
miniszenz ein; wie schon im Spiel der Formen aber auch der bildenden Kunst, die er damals
gehärt zum Anspielungshorizont und zur In- zur Kenntnis nahm, Analogien zum eigenen
tertextualität der Chinesisch-Deutschen Jah- Altersstil entdeckte. Die Besonderheiten und
res- und Tageszeiten auch die eigene literari- der Rang der Altersdichtung G.s sind erst im
sche Tradition. Darauf verweist schon die Zu- 20. Jh. hinreichend erkannt worden; das gilt
sammenfügung der Adjektive chinesisch- auch für die Chinesisch-Deutschen Jahres- und
deutsch im Titel. Sie ist zudem eine Tageszeiten, die im 19. Jh. kaum beachtet wur-
Anspielung auf den Titel des West-O"stlichen den und erst etwa seit den 30er Jahren dieses
Divans. Beiden Sammlungen liegt die Begeg- Jhs., verstärkt dann in den letzten Jahren, zu-
nung mit einer fremden Kultur zugrunde; in nehmendes Interesse fanden und in ihrer Ei-
beiden wird die Kulturbegegnung zum Thema. genart gewürdigt wurden. Heute gelten der
Sehr verschieden war allerdings, wie schon an Zyklus und insbesondere das achte Gedicht
der unterschiedlichen Zahl an Gedichten in Dämmrung senkte sich von oben als Höhe-
beiden Sammlungen sichtbar wird, die Inten- punkte G.scher Alterslyrik. Gegenständliche,
sität der Kulturbegegnung. In den Chinesisch- zumeist dem Bereich der Natur zugehörige
Deutschen Jahres- und Tageszeiten ist das Chi- Motive, die in präziser Stilisierung, mit einer
nesische weitgehend auf die Übernahme eini- Tendenz zur fast formelhaften Verknappung
ger Motive beschränkt, die der Sammlung ein präsentiert werden, die Verbindung von spar-
spezifisches Kolorit verleihen; die Auseinan- samer Aussage und hoher Anschaulichkeit, das
dersetzung mit der fremden Kultur verbleibt artifizielle Spiel mit literarischen Formen sind
eher allgemein. Darin erinnert der Zyklus an ebenso Merkmale von G.s Altersstil wie das
bestimmte Aspekte von G.s Konzept einer Spiel der Andeutungen, das den Leser zur Mit-
Weltliteratur, das er sich in den späten 20er arbeit und zum Aufdecken der intertextuellen
Jahren erarbeitete. Weltliteratur, so postu- Bezüge anregt und das zugleich die Vieldeutig-
lierte G., solle durchaus das »allgemein keit und Ausdeutbarkeit der Texte erhöht; zu
Menschliche« zum Ausdruck bringen \NA I, ihm gehört weiter die Zurücknahme des Sub-
41.2, S.305), also das Besondere der jewei- jektiven, wie sie etwa an den Änderungen
ligen Kultur hinter sich lassen und gerade da- deutlich wird, die G. an den Schlußzeilen des
durch zum Fortschreiten der Bildung der fünften Gedichts vorgenommen hat. Kenn-
Menschheit beitragen. Wie Eckermann be- zeichnend für G.s Altersstil sind aber auch die
richtet, kam G. am 31.1. 1827, als von seiner immer wieder vorkommenden Nachlässigkei-
Lektüre des chinesischen Romans Hua Dsien ten in Metrum, Reimgebung und selbst in der
Gi die Rede war, auf den Begriff der Welt- Syntax. Der gelassen-spielerische, artifizielle
literatur zu sprechen: »National-Literatur will und insofern auch ironische Umgang mit den
jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt- Möglichkeiten lyrischen Sprechens ist jedoch
Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt mit hoher Ernsthaftigkeit der Aussage verbun-
dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen«. den. So gehört zum Altersstil eine Tendenz zur
So lassen sich die Chinesisch-Deutschen Jah- Lehrhaftigkeit, zur Verkündung von Alters-
res- und Tageszeiten als ein Versuch in welt- weisheit; sie bestimmt in den Chinesisch-
literarischem Schreiben verstehen; insofern Deutschen Jahres- und Tageszeiten in der Ab-
ist die Allgemeinheit der Verweise auf chinesi- folge der Texte von den Naturgedichten hin zur
sche Literatur und Kultur, in denen weniger spruchartigen Gnomik des letzten Paarreims
das Spezifische und damit Trennende als viel- immerhin die Struktur des Zyklus. Vor allem
mehr das Gemeinsame der Kulturen betont aber führen die Gedichte immer wieder vor,
wird, durchaus konsequent. was als symbolische Lektüre von Natur be-
458 Das lyrische Spätwerk. 1819-1852

zeichnet werden kann. Dem vorgestellten Na- zeilen des Zyklus ausgesprochene Wendung
turphänomen wird in der Wiedergabe im Ge- zur Lebenspraxis, zu Arbeit und Tätigkeit ist
dicht, in der Präsentation im Kunstwerk Sinn durchaus konsequent: »Sehnsucht in's Ferne,
zugesprochen; es wird - mit einer Lieblings- Künftige zu beschwichtigen, / Beschäftige dich
wendung des späten G. gesagt - bedeutend. So hier und heut im Tüchtigen«.
folgt im dritten Gedicht auf die Wiedergabe
einer Naturbeobachtung ein Blick voraus in
die Zukunft; beides wird zu einem Bild von Literatur:
Hoffnung und Wunsch auf Glück, wobei G. in Debon, Günther: Goethes Chinesisch-Deutsche Jah-
den Farben und im Motiv des sich lichtenden res- und Tageszeiten in sinologischer Sicht. In: Eu-
Nebels Vorstellungen seiner Farbenlehre auf- phorion. 76 (1982), S. 27-57. - Lee, Meredith: Goe-
nimmt, die auch sonst in den Chinesisch-Deut- thes Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten.
schen Jahres- und Tageszeiten wiederkehren: In: Debon, Günther u.a. (Hg.): Goethe und China-
China und Goethe. Bern u.a. 1985, S. 57-50. - Meck-
»Ziehn die Schafe von der Wiese, / Liegt sie
lenburg, Norbert: Naturlyrik als Glaubensbekennt-
da, ein reines Grün, / Aber bald zum Para- nis. Das Rosenlob aus Goethes Chinesisch-Deut-
diese / Wird sie bunt geblümt erblühn. / / schen Jahres- und Tageszeiten. In: ders. (Hg.): Na-
Hoffnung breitet lichte Schleier / Nebelhaft turlyrik und Gesellschaft. Stuttgart 1977, S. 74-87. -
vor unsern Blick: / Wunscherfüllung, Sonnen- Preisendanz, Wolfgang: Goethes Chinesisch-Deut-
feier / Wolkenteilend bring' uns Glück« (III). sche Jahres- und Tageszeiten. In: SchillerJb. 8
(1964), S. 157-152. - Trunz, Erich: Goethes späte
So gehört zu der im Zyklus vorgestellten Natur
Lyrik. In: DVjs. 25 (1945), S.409-452. - Wagner-
auch eine eigentümliche Spannung. AufBewe- Dittmar, Christine: Goethe und die chinesische Lite-
gung und Veränderung, wie sie schon der Jah- ratur. In: Trunz, Erich (Hg.): Studien zu Goethes
resablauf, in dem die »Rosenzeit« vorübergeht Alterswerken. Frankfurt/M.1971, S.122-128. -
(V. 76), signalisiert, antwortet das »Unver- Wohlleben, Joachim: Über Goethes Gedichtzyklus
gängliche«, das »ewige Gesetz / Wonach die Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten. In:
SchillerJb. 29 (1985), S. 266-500.
Ros' und Lilie blüht« (V. 95ff.). Fast durchweg
ist der Ort der Naturphänomene, die in den Reiner Wild
Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten
vorkommen, der Garten; vorgestellt wird eine
gebändigte, vom Menschen bearbeitete, mit-
hin eine - im ursprünglichen Sinne des Wortes
- kultivierte Natur. Aspekte des Bedrohlichen
bleiben deshalb ausgespart; wo sie, wie im
achten Gedicht, als »schwarzvertiefte Finster-
Metamorphose der Tiere
nisse« aufscheinen (V. 65), können sie besänf-
tigt werden: »Und durch's Auge schleicht die
Kühle / Sänftigend in's Herz hinein« (V. 75f.). Das Hexametergedicht wurde 1820 in den Hef-
Solche Gelassenheit ist ein Merkmal der Al- ten Zur Morphologie (I, 2) unter der Über-
tersdichtung G .s, und es mag auch sein, daß G. schrift Athroismos erstmals abgedruckt. In der
sie in seiner Lektüre chinesischer Literatur Ausgabe letzter Hand erschien es mit geän-
wiederfand, sie als chinesisch und als ein dertem Titel unter der Rubrik Gott und Welt,
Kennzeichen spätzeitlicher Zivilisiertheit eingeordnet zwischen Die Metamorphose der
empfand, denn »strenge Mäßigung«, läßt Ek- Pflanzen und Urworte. Orphisch. Der ur-
kermann (51.1. 1827) ihn sagen, habe »das sprüngliche Titel, der etwa Anhäufung, An-
chinesische Reich seit Jahrtausenden erhal- sammlung, Versammlung bedeutet, bezieht
ten«. Vor allem aber bleiben damit die Natur- sich auf die im Gedicht enthaltene Sammlung
gedichte der Chinesisch-Deutschen Jahres- von Kerngedanken G.s zur Morphologie. Der
und Tageszeiten bezogen auf Gesellschaftlich- tierische Organismus kann damit nicht ge-
keit; die in der Maxime der beiden Schluß- meint sein, denn G. definiert das Tier ja ge-
Metamorphose der Tiere 459

rade als organische Ganzheit, die sich von ei- Das Gedicht Metamorphose der Tiere ist als
ner bloßen Ansammlung von Teilen wesentlich Bruchstück des geplanten, jedoch nie vollen-
unterscheiden soll. Mit Ausnahme der Inter- deten größeren Lehrepos zu betrachten, denn
punktion in Vers 57 wurde der Text nicht ver- die ersten Verse lassen auf einen ihm logisch
ändert. Im folgenden wird die Fassung der vorausgehenden Text schließen. G. vermittelt
Ausgabe letzter Hand, die die Frankfurter Aus- nicht nur einige zentrale naturwissenschaft-
gabe wiedergibt (FA 1,2, S. 498ff.), zitiert. liche Einsichten, sondern überträgt die veran-
Ein genaues Entstehungsdatum ist nicht be- schaulichte Lehre modellhaft auf das mensch-
kannt. Es wird angenommen, daß ein Entwurf liche Leben. Ausdrücklich wird die Erkenntnis
1798/99 entstand, in der Zeit, in der G. ein auf die Gesellschaft ausgeweitet. Die anhand
großes Lehrepos über die Natur plante. Hin- der Beobachtung tierischer Gestaltbildungs-
weise auf die Entstehungszeit bieten das Tage- prozesse erkannte Organisationsweise der Na-
buch, worin sich am 18.1. 1799 der Eintrag tur fungiert als Modell für die Handlungsweise
»Ideen zu einem Natur Gedichte« findet, sowie des Menschen. Dem naturwissenschaftlichen
G.s Briefwechsel mit seinem Freund Kar! Lud- Inhalt entspricht formal der epische Vortrag in
wig von Knebel, der an einer Übersetzung der reinen Hexametern, der streng methodische
Lukrezschen Lehrdichtung De rerum natura Aufbau und die starke Tendenz zur Genera-
arbeitete. Nachdem er das erste Buch der lisierung. Mit der auf die Vermittlung ethi-
Übersetzung Knebels erhalten hatte, schrieb er scher Vorstellungen zielenden, aufkläreri-
am 22.1. 1799 an diesen: »Indem ich es durch- schen Absicht korrespondiert insbesondere
las hat sich manches bey mir geregt«. Die Ana- die Metaphorik, die eine emotionale Betrof-
lyse von Hugh B. Nisbet zeigt, daß der Einfluß fenheit des Naturbeobachters impliziert.
der Lukrez-Rezeption G.s nirgends stärker ist
als im ersten Teil von Metamorphose der Tiere Das Gedicht beginnt unvermittelt mit dem
(Nisbet, S. 110). Thematisch verweist das Ge- Monolog eines fiktiven Lehrers, der einen un-
dicht auch auf G.s tiermorphologische Arbei- genannten Wegbegleiter auffordert, von einem
ten, vor allem auf den 1795 entstandenen Auf- »Gipfel« (Y. 2) das »weite Feld der Natur« (Y. 3)
satz Erster Entwurf einer allgemeinen Einlei- zu betrachten. Dieser Beobachterstandpunkt
tung in die vergleichendeAnatomie, ausgehend versinnbildlicht das Erkenntnisniveau des Ge-
von der Osteologie (FA I, 24, S. 227-262). Zu- dichts. Die metaphorische Bezeichnung der
dem klingen Vorstellungen Kants an, mit des- Natur als »Göttin« (Y. 4) bzw. ihre Charakte-
sen Philosophie G. sich in den 90er Jahren risierung als Mutter impliziert, daß der emo-
erstmals auseinandersetzte. Auch die Form tional angesprochene Mensch sich in ihr auf-
des Gedichts spricht für die Entstehung vor gehoben fühlt. Über die Natur wird ausgesagt,
1800, insofern G. den Hexameter nach 1800 sie müsse, als Spenderin der »Lebensgaben«
nicht mehr für größere Texte verwandte. Ein (Y. 4), um ihre Kinder nicht besorgt sein, denn
handschriftlicher Entwurf wird nach Schrift- für alle Lebewesen sei gesetzmäßig gesorgt.
und Papierbefund in diese Zeit datiert (JVA I, Durch die Ankündigung eines »höchsten Ge-
53, S. 549f.). Am 10.11. 1806 verzeichnet G.s setzes« (Y. 7), das jedes Leben »zwiefach« (Y. 6)
Tagebuch: »Hexameter zur Morphologie«. bestimme, wird der Anspruch erhoben, die
Eindeutig ist nicht festzustellen, worauf sich Organisationsweise der Natur verständlich zu
dieser Eintrag bezieht. Möglicherweise hat G. machen. Einerseits seien die Bedürfnisse der
eines der bei den naturwissenschaftlichen Lebewesen, ihrer jeweiligen Art gemäß, be-
Lehrgedichte in den Kontext der wissenschaft- schränkt, andererseits finde jedes Lebewesen
lichen Abhandlungen eingefügt; oder er hat in der Welt, in die es hineingeboren werde, ein
ein noch unfertiges Gedicht in seine endgül- Übermaß an Mitteln, seine Bedürfnisse zu be-
tige Form gebracht. friedigen.
Der mittlere Teil enthält die Hauptaspekte
für die Beschreibung des tierischen Organis-
460 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

"Über den Zwischenkiifer des Menschen und der Thiere« (Kupfertafel)


Metamorphose der Tiere 461

mus. Thema ist hier die zoologische Gestalt- Dem »Kreis« ry. 34) der hier betrachteten
lehre G.s, die in konzentrierter Form anhand Lebewesen wird >innere Einheit< zugespro-
von Beispielen vermittelt wird. So wird be- chen, so daß die Natur als ein auf einem imma-
hauptet, jedem tierischen Organismus sei un- nenten Prinzip basierendes Gebilde erscheint,
ter teleologischem Gesichtspunkt Selbst- dessen Potenzen durch den Zwang zum Maß-
zweckcharakter zuzusprechen: »Zweck sein halten beschränkt sind. Jegliches geistige
selbst ist jegliches Tier« ry. 12). Kein Tier sei Streben, welches aufVerselbständigung ausge-
dazu bestimmt, einem äußeren Zweck, bei- richtet sei und sich auf willkürliche Weise äu-
spielsweise der Bedürfnisbefriedigung eines ßere, sei von vornherein aussichtslos und da-
anderen Tieres, zu dienen. Dem Lebewesen her sinnlos ry. 33ff.). So sei es der »Mutter«
als solchem wird damit >innere Zweckmäßig- ry. 46) Natur auch nicht möglich, ihre »Gaben«
keit< zugesprochen (Kant, S. 239f.). Alle Lebe- ry. 8) einer einzigen Art zuzumessen. Im Hin-
wesen seien im Hinblick auf ihre jeweilige blick auf das Ganze wirke sich solche >Natur-
Organisation »vollkommen« ry. 12). ökonomie< positiv aus, denn Schönheit der
Aufgrund der analogen Entstehungsweise Gestalt und Reinheit der Bewegung werde nur
organischer Gestalten deute jede von ihnen durch das Prinzip der Ausgewogenheit ermög-
auf ein »Urbild« ry. 15) hin. Durch die Doppel- licht ry. 36-39). Auf diese Weise werden
deutigkeit des Begriffes »Glieder« ry. 14) wird >Schönheit< und >Reinheit< als ästhetische Be-
eine Entsprechung von Einzelnem und Gan- griffe abgeleitet. Auch das >Göttliche< wird
zem, von Mikrokosmos und Makrokosmos, nicht mehr als ein übernatürliches, sondern
postuliert: Gemeint ist zum einen die Aus- als ein innerweltliches Prinzip begriffen, dem-
bildung der Organe eines Organismus und zufolge alle Teile des Organismus zu einem
zum anderen die Reproduktion der Lebewesen harmonischen Ganzen zusammenwirken.
als Bestandteile einer genealogischen Reihe. Im Schlußteil wird das höchste Lebensge-
Durch die optimale Anpassung von Bedürfnis- setz durch vier Paare von Gegenbegriffen -
und Organisationsstrukturen an die jeweiligen »Macht und Schranken«, »Willkür und Ge-
Lebensbedingungen sei eine Harmonie der setz«, »Freiheit und Maß«, »Vorzug und Man-
natürlichen Verhältnisse generell gewährlei- gel« - und den Ausdruck »bewegliche Ord-
stet ry. 22 ff.). nung« ry. 50ff.) beschrieben. Letztere bestehe
Ausgehend von der anfangs geäußerten aufgrund eines Antagonismus zwischen den
These, »jegliches Leben« ry. 7) werde »zwie- gewaltigen, in alle Richtungen drängenden
fach bestimmt« ry. 6), entwickelt der Autor in Naturkräften und den sie in bestimmte Bahnen
einem zentralen Abschnitt ein allgemeines Or- lenkenden und beschränkenden Naturgeset-
ganisationsmodell der Natur ry. 25-32). zen. Auf diese Weise sei der Natur eine Rich-
Grundaussage dieses Modells ist, daß die »im tung, ein Telos, vorgegeben. Auch wenn das
Inneren« ry. 33) fest begründete Gestalt der Gesicht der Welt sich ständig verändere, sei
Tiere, die aufgrund von Wechselwirkungen eine Entwicklung prinzipiell nur im Rahmen
auf vielfaltigste Weise variiere, hinsichtlich einer apriori bestehenden Naturordnung
ihres Grundorganisationsplanes identisch möglich. Sie anzuerkennen sei unumgänglich,
bleibe. Die sich wesentlich entsprechenden aber auch erfreulich. Denn der Mensch könne
Bildungsprozesse werden als Wirkungen der- die Natur als Vorbild studieren und dabei die
selben immanenten »Kraft« ry. 29) betrachtet, eigene Bestimmung als höchste Erfüllung be-
die ihre Wirksamkeit nur innerhalb apriori greifen. Durch die Bezeichnung der Natur als
bestehender Gesetzesschranken entfalten »heilige Muse« ry. 52) wird die gesetzmäßige
könne. Diese Beschränkung »im heiligen Bildung der Tiere als Symbol für eine sinn-
Kreise lebendiger Bildung« ry. 30) wird positiv volle Produktivität des Menschen aufgefaßt.
bewertet, weil sie für die Bildung vollkomme- Die durch die Naturbeobachtung gewonne-
ner Wesen prinzipiell notwendig sei nen höchsten Begriffe ließen sich auf die Ge-
ry. 29-32). sellschaftsordnung und die Herrschaftsform
462 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

übertragen cv.
54 ff.). Der Mensch solle sich an tersucht, stellt nicht nur einige Analogien zwi-
den Bildungen der Natur orientieren, um zu schen den Lehrgedichten G.s und Lukrez' fest,
erkennen, zu welchem Verhalten er von Natur sondern bemerkt auch gravierende Unter-
aus bestimmt sei. Dadurch wird das höchste schiede. Während Lukrez die Natur ausge-
Lebensgesetz zur Richtlinie für das mensch- dehnt beschreibe, stelle G. seinen Gegenstand
liche Handeln gemacht. Als exemplarische Tä- selektiv und konzentriert dar. G.s Optimismus
tigkeiten des Menschen werden das Philoso- und enthusiastischen Glauben an die Mensch-
phieren, Produzieren, Dichten, Herrschen heit sieht er in krassem Gegensatz zu Lukrez'
und das Erforschen der Natur genannt. Sie düsteren Beschreibungen des natürlichen Exi-
seien jedoch nur dann als sinnvoll anzusehen, stenzkampfes (Nisbet, S. 109).
wenn die Maxime berücksichtigt werde, sich
selbst in seinem Handeln nach Maßgabe der G. bringt das Bild der Natur in seiner klassi-
Vernunft zu beschränken. Diese Übertragung schen Dichtung programmatisch auf eine be-
einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis auf ruhigend klare, den Betrachter vor Irritatio-
den Menschen und damit auf den Bereich, in nen bewahrende, gleichsam gereinigte Form,
dem ethische Normen gelten, wird gewisser- um insgesamt eine positive Weitsicht zu ver-
maßen als ,frohe Botschaft< verkündet. »Freue mitteln. In diesem Sinne kann das Gedicht
dich, höchstes Geschöpf, der Natur, du fühlest Metamorphose der Tiere zudem dichtungs-
dich fähig / Ihr den höchsten Gedanken, zu theoretisch interpretiert werden. Auch für den
dem sie schaffend sich aufschwang, / Nachzu- Dichter ist die Natur nicht nur »Mutter« cv.
23
denken« cv.57-59). Indem die Sonderstellung u. V. 46) und »Göttin« cv.
4), sondern auch
des Menschen auf seine Reflexionsfähigkeit »Muse« cv. 60). Aufgrund ihrer organischen
zurückgeführt wird, erscheint der Einzelne Schaffenskraft, mit der sie Leben in mannig-
moralisch verpflichtet, mit seinem geistigen faltigen Ausprägungen bewirkt, kann sie für
Vermögen besondere Leistungen zu vollbrin- ihn zum Inbegriff der gestaltenden Produktivi-
gen. Wenn der Begleiter am Schluß aufgefor- tät und zum Vorbild für den künstlerischen
dert wird: »Hier stehe nun still und wende die Schaffensprozeß werden. Aber gerade deshalb
Blicke / Rückwärts, prüfe, vergleiche, und gilt auch hier die These, daß >>nur [ ... ] be-
nimm vom Munde der Muse / Daß du schau- schränkt [ ... ] das Vollkommene« cv.
32) mög-
est, nicht schwärmst, die liebliche volle Ge- lich sei. Unter poetologischem Gesichtspunkt
wißheit« cv.59ff.), dann bedeutet das nicht kann der Schluß folglich nur so verstanden
nur, daß er sich der vorgebrachten naturwis- werden, daß eine Dichtung, die sich an be-
senschaftlichen Lehre durch methodische sagte Grundsätze hält, wahre Anschauungen
Schritte vergewissern soll. Er soll sich zu- vermittelt und keine Schwärmerei ist. Dem-
gleich auch, und zwar durch die Kunst, die nach stellt G. hier an den Dichter die Forde-
Gewißheit eines universellen Lebensgesetzes rung, mit seinen Eindrücken und Phantasie-
verschaffen und sich entsprechend verhalten. gebilden reflektierend, prüfend und verglei-
Natur erhält also insofern Vorbildcharakter, als chend zu verfahren wie ein Naturforscher. Me-
sie dem Einzelnen die Einsicht vermitteln thodisches Erfassen des Wesentlichen,
kann, wie er im praktischen Leben auf ethisch Genauigkeit, Stimmigkeit und Anschaulich-
sinnvolle Weise zu handeln habe. keit zählen für ihn nicht mehr zu den bloßen
Tugenden, sie sind darüber hinaus Erforder-
Das Gedicht Metamorphose der Tiere fand in nisse literarischer Gestaltung.
der Forschung relativ wenig Beachtung. Hein-
rich Düntzer verweist aufParallelstellen in G.s
Aufsatz Erster Entwwf einer allgemeinen Ein- Literatur:
leitung in die vergleichende Anatomie, ausge- Cramer, Friedrich: »Denn nur also beschränkt war je
hend von der Osteologie (S. 171f.). Nisbet, der das vollkommene möglich« - Gedanken eines Bio-
die deutsche Lukrez-Rezeption im 18. Jh. un- chemikers zu Goethes Gedicht Metamorphose der
Howard's Ehrengedächtnis 463

Tiere. In: Glaser, Horst Albert (Hg.): Goethe und die menden Gedichte Atmosphäre und Wohl zu
Natur. Referate des Triestiner Kongresses. Frank- merken - allerdings noch ohne Überschriften -
furt/M., Bem, New York 1986, S. 119-131. - Dünt-
zer, Heinrich: Goethe's lyrische Gedichte. 3., neu- als Einleitungs- bzw. Schlußgedicht in Zur Na-
bearb. und erweiterte Aufl. 13 Bde. Leipzig 1896-98, turwissenschaft überhaupt (Bd. 1, H.4, 1822,
Bd. 11, Leipzig 1897, S. 169-173. - Kant, Immanuei: S. 322-327). Die drei Gedichte wurden später
Kritik der Urteilskraft. Hg. von Karl Vorländer. Ham- in die Rubrik Gott und Welt aufgenommen
burg 71990, §66. - Nisbet, Hugh B.: Lucretius in (ALH 3, S. 73-107). Dort wurde das dritte Ge-
18th-Century Gennany. With a Commentary on dicht Wohl zu merken durch das sinnverwandte
Goethe's Metamorphose der Tiere. In: MLR.81
(1986), S. 97-115. Gedicht Entoptische Farben, vielleicht irrtüm-
lich, von der Gruppe getrennt. - Textgrund-
MaikeArz lage ist im folgenden die Leopoldina-Ausgabe
(1,8, S. 234-237).

Das Gedicht entstand im Kontext von G.s. me-


teorologischen Studien T-ersuch einer Witte-
rungslehre und besonders aus seiner Bewun-
Howard' sEhrengedächtnis derung für die Arbeit Luke Howards
(1772-1864), des englischen Chemikers und
Meteorologen, der nach dem Modell der Lin-
neschen Typologie der Pflanzen und Tiere die
Dieses Gedicht und die mit ihm verbundenen moderne Klassifikation der Wolken - Zirrus,
Texte wurden in mehreren Stufen verfaßt. Das Kumulus, Stratus, Nimbus und verschiedene
Gedicht selbst bestand ursprünglich nur aus Zwischenformen - begründete. Howards Wol-
den im Dezember 1817 entstandenen Ab- kentheorie erschien zum ersten Mal 1803 in
schnitten Stratus bis Kumulus (Y. 23-52 der seiner Abhandlung On the Modifications of
endgültigen Fassung), bereits mit dem end- Clouds, and on the Principles oftheir Produc-
gültigen Titel, und erschien so zuerst als tion, Suspension, and Destruction (Tilloch 's
Schluß des Aufsatzes Wolkengestalt nach Ho- Philosophical Magazine, Bd.16, Nr.62,
ward in G.s Zeitschrift Zur Naturwissenschaft S.97-107; Nr.64, S.344-357; Bd. 17, Nr.65,
überhaupt (Bd. 1, H.3, 1820, S. 124f.). Bald S.5-11). G. lernte sie aber erst Ende 1815
danach gab G. seinem Londoner Korrespon- durch den T-ersuch einer Naturgeschichte und
denten Johann Christian Hüttner die Erlaub- Physik der Wolken des Hallischen Physikers
nis, das Gedicht mit einer englischen Über- Ludwig Wilhelm Gilbert kennen, der Ho-
setzung von Sir John Bowring in England zu wards Aufsatz in seiner Zeitschrift Annalen
veröffentlichen; Hüttner wies aber darauf hin, der Physik veröffentlichte (Bd. 51, Stück 9,
daß der Zusammenhang zwischen den vorhan- 1815, S. 1-48). In den Tag- und Jahreshiften
denen Strophen und der Leistung des eng- 1815 notierte G.: Ȇber meiner ganzen natur-
lischen Meteorologen Luke Howard dem Le- historischen Beschäftigung schwebte die H 0 -
ser ohne weitere Erläuterung nicht völlig klar war dis ehe Wolkenlehre«. Seine Begeiste-
sein dürfte. Um diesem Mangel abzuhelfen, rung für diese Lehre läßt sich leicht erklären:
schrieb G. Ende März 1821 drei einleitende Howard hatte demonstriert, daß die verschie-
Strophen (Y. 1-22) und einen kurzen Kommen- denen Wolkenformen nicht zufällig entstehen,
tar mit dem Titel Goethe zu Howards Ehren sondern das ErgebniS physikalischer Gesetze
(vgl. G. an Hüttner, 4.4. 1821). Das vollstän- sind, deren Wirkung in den verschiedenen
dige Gedicht mit Kommentar, in deutscher Schichten der Atmosphäre eine jeweils unter-
und englischer Fassung, erschien bald darauf schiedliche Gestalt annimmt. Howards meteo-
in Gold's London Magazine (Bd. 4, 1821, rologische Leistung schien G. mit seiner eige-
Nr. 19, Juli). G. veröffentlichte dann die glei- nen morphologischen Arbeit und seiner Suche
chen Texte und ergänzte die beiden umrah- nach typischen Formen in Tier- und Pflanzen-
464 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

welt eng verwandt zu sein (LA I, 9, S.264). reichen in Verbindung bringt. Die dritte und
Sein Vergnügen darüber drückte sich nicht nur erkenntnistheoretisch anspruchsvollste ist
im Howard-Gedicht aus; es regte ihn dazu an, diejenige des Wissenschaftlers Howard, der
weitere Auskünfte über Howards Leben und »mit reinem Sinn« (Y. 16) die scheinbar zu-
Persönlichkeit einzuholen (G. an Hüttner, fälligen Wolkengestalten auf wenige typische
25.9. 1821). Zu seiner großen Freude erhielt Hauptformen reduziert und ihnen Namen gibt.
G. dann einen Brief von Howard selbst mit Die vier Verben in Vers 21 deuten dann die vier
einer autobiographischen Skizze, die er so- Hauptformen der Wolken nach Howards Klas-
gleich ins Deutsche übersetzte und veröffent- sifikation sowie deren charakteristische Bewe-
lichte (Zur Naturwissenschaft überhaupt, Bd. gungen an, nämlich Stratus (steigt), Kumulus
2, H.I, 1823, S. 7-19; LA I, 8, S. 287-295). Was (sich ballt), Zirrus (zerflattert) und Nimbus
G. an Howard besonders hochschätzte, war (fallt).
seine Verbindung von christlicher Demut - Die Progression von unterster zu oberster
Howard war Quäker - und wissenschaftlicher Erkenntnisebene setzt sich auf konkrete Weise
Akribie; an Hüttner, 7.3. 1822: »Auch hier er- in den vier nachfolgenden, mit Überschriften
gibt sich die Erfahrung aurs neue, daß zarte versehenen Abschnitten fort, die den Haupt-
sittliche Gemüther fur Naturerscheinungen teil des Gedichts ausmachen. Jeder Abschnitt
die offensten sind«. beschreibt eine der vier Wolkenformen, die
zugleich eine symbolische Bedeutung erhalten
Die erste Zeile des Gedichts enthält eine fUr und - wie so oft in G.s Naturpoesie - zu
G.s Alterslyrik typische mythologische An- menschlichen Erlebnissen in Beziehung ge-
spielung: Die altindische Gottheit Camarupa setzt werden. In Übereinstimmung mit G.s
verkörpert die gleiche wandelbare Vielgestal- Metamorphosenlehre treten die Wolken nicht
tigkeit wie der klassische Proteus. Um die Zeit als statisch-invariante, sondern als dynami-
des West-ästlichen Divans war G.s Interesse sche, d.h. sich verändernde Formen auf. Im
fUr orientalische Kultur besonders stark; so Abschnitt Stratus wird die unterste Wolken-
enthält die zweite Strophe des Gedichts eine form als breite Schicht dargestellt, die sich aus
weitere Anspielung auf die indische Kultur- aufsteigenden Wasserdünsten in der Nähe der
welt, auf das Epos Megha Duta (Der Wolken- Erdoberfläche bildet. Kumulus vergegenwär-
bote) des Dichters Kalidasa (5. Jh.), in wel- tigt die imposante Erscheinung der mittleren
chem ein im Exil lebender Ehemann einer vor- Wolkenform, die sich bis in die höheren Re-
überziehenden Wolke seine Liebesbotschaft gionen der Atmosphäre hinauftürmt, und deu-
an die abwesende Frau anvertraut (G.s Kom- tet bereits (Y. 38) die Möglichkeit ihrer Ver-
mentar; LA I, 8, S.238). G. lernte das Epos wandlung in die Gewitterwolke (Nimbus) an.
1817 in der englischen Übersetzung Horace H. In der Zirrus-Strophe wird die aufsteigende
Wilsons kennen (The Megha Duta or Cloud Bewegung bis in die oberste Schicht der Atmo-
Messenger. Calcutta 1814). Die dritte literari- sphäre fortgesetzt; die Zirruswolke gewinnt
sche Anspielung in den einleitenden Strophen durch ihre Nähe zum Himmel einen religiösen
bezieht sich auf Shakespeare, in dessen Dra- und ethischen Symbolgehalt. Die letzte Stro-
men von phantastischen Wolkenformen mehr- phe, Nimbus, steht in scharfem Kontrast zur
mals die Rede ist (Hamiet, II, 2; Antony and vorhergehenden, da der steigenden Bewegung
Cleopatra, IV, 12). der Wasserdünste jetzt die fallende Bewegung
Die drei einleitenden Strophen beschreiben des Regens entgegengesetzt wird. Der Schluß
drei mögliche Reaktionen auf den ständigen des Gedichtes fUhrt aber zur höheren Ebene
Wechsel der Wolkengestalten. Die erste und zurück: Die Wolkenbildung symbolisiert das
einfachste ist ein rein passives »Staunen« höhere Streben des schöpferischen Geistes,
(Y. 6). Die zweite ist eine kreative Tätigkeit der dem auf alltäglicher Ebene die deskriptive
Einbildungskraft, die die Wolkengestalten mit Aufgabe der Wissenschaftssprache gegen-
bekannten Formen aus anderen Erfahrungsbe- übersteht.
Howard' sEhrengedächtnis 465

Howards Lehre wird im Gedicht nicht ein- zen Dialog zwischen Schüler und Lehrer, wo-
fach übernommen und gepriesen; sie wird zu- bei dieser den Bemühungen des Schülers, die
gleich an G.s eigene Metamorphosenlehre an- ständig wechselnden Erscheinungen der At-
gepaßt, indem G. nicht so sehr Howards Wol- mosphäre gedanklich aufzufassen (Y. 1-4), mit
kentypen an sich als vielmehr ihre Entwick- einem Hinweis auf Howards Wolkenlehre zu
lung und Umbildung darstellt. Die reflexiven Hilfe kommt (Y. 5-8). Die Lehrerstimme deu-
Verben: hebt sich's, löst sich's aufusw. vermit- tet aber bereits über Howards analytische Ein-
teln den Eindruck, als ob die Wolken sich wie teilung hinaus, indem sie zugleich nahelegt,
lebendige Organismen verhielten und eher daß eine synthetische Denkweise nicht we-
durch innere Impulse als durch äußere Kräfte niger notwendig sei (Y. 6). Dieser Gedanke
getrieben würden (Schöne, S.32). Die Ho- wird im Schlußgedicht Wohl zu merken weiter
wardschen Formen, wie G.s Urpflanze und ausgeführt, das somit als unmittelbare Fort-
osteologischer Typus, stellen nur das archety- setzung des ersten Gedichts zu verstehen ist.
pische Modell im unaufhörlichen Gestalten- Das Schlußgedicht bringt die Grundüberzeu-
wechsel dar. Das »Urphänomen« der Meteoro- gung des alten G. zum Ausdruck, "daß So n -
logie, das G. wenige Jahre später im Steigen dern und Verknüpfen zwei unzertrennli-
und Fallen des Barometers und im Streit zwi- che Lebensakte sind [ ... ] wie Aus- und Ein-
schen den oberen und unteren Schichten der atmen« (LA I, 10, S. 386). Die analytische
Atmosphäre zu erkennen meinte (Vr!rsuch ei- Denkweise ist zwar unerläßlich, wenn man
ner Witterungslehre), wird im Gedicht noch dem individuellen Charakter jeder natürlichen
nicht erwähnt, obgleich der Gegensatz von Gestalt gerecht werden soll (Y. 6 u. V. 9); aber
steigender und fallender Bewegung bereits zur für den Künstler insbesondere (Y. 5) ist die
Sprache kommt (Y. 33f.). Das G.sche Prinzip synthetische Anschauungsweise noch wichti-
der Polarität ist hier wirksam, sowohl in der ger, wenn er das »Folge-Leben« der Natur
Natur als auch im Bereich der menschlichen (Y. 4), d.h. ihre Einheit und Kontinuität, in
Erfahrung. Das mit der Polarität verwandte plastischen Formen erfassen will, in denen
Prinzip der Steigerung - d. h. der aufsteigen- auch die Übergänge (Y. 11) zwischen den ver-
den, durch die Wechselwirkung gegensätzli- schiedenen Gestalten sichtbar werden.
cher Kräfte bewirkten Progression hin zu im-
mer höheren Daseinsstufen -liegt der Struktur Howard's Ehrengedächtnis läßt sich nicht
des ganzen Gedichts zugrunde. Um das Prinzip leicht in eine der traditionellen lyrischen
der Steigerung zur vollen Geltung zu bringen, Formtypen einstufen. Es gehört zu jenen di-
kehrt G. sogar die Reihenfolge von Howards daktischen Gedichten mit starkem lyrischem
Liste der Wolkenarten (Zirrus, Kumulus, Stra- Einschlag und ausgeprägtem Symbolgehalt,
tus) um (Schöne, S. 29). Schließlich bleibt Ho- die für G.s philosophische Altersdichtung ty-
wards Klassifikation für G. in einem wichtigen pisch sind. In diesem Zusammenhang ist es
Punkt unzulänglich, da sie nur analytisch vor- zugleich als Lobgedicht auf eine bestimmte
geht und die Unterschiede zwischen den Wol- Person einmalig. Lobgesänge dieser Art sind
kenformen betont, ohne zugleich auf syntheti- freilich in der didaktischen Poesie im allge-
sche Weise deren grundsätzliche Verwandt- meinen keineswegs einzigartig; an dieser
schaft zur Geltung zu bringen. Um diesem Stelle kann z.B. auf mehrere Abschnitte des
Mangel abzuhelfen, fügte G. 1822 die umrah- Lehrgedichts von Lukrez hingewiesen wer-
menden Gedichte Atmosphäre (ALH 3, S. 93) den, die dem Andenken Epikurs gewidmet
und Wohl zu merken (ebd., S. 98) hinzu. Diese sind (De rerum natura, I, 62-79; III, 1-30; V,
zwei Gedichte dienen in erster Linie dazu, den 1-54; VI, 1-42). Wie in anderen späten Natur-
didaktischen Gehalt der Trilogie zu unterstrei- gedichten G.s gewinnen die betreffenden Na-
chen und ihn in den weiteren Kontext von G.s turerscheinungen eine zusätzliche ethische
Naturauffassung einzugliedern. Das einlei- und ästhetische Bedeutung: Im Howard-Ge-
tende Gedicht Atmosphäre enthält einen kur- dicht wird die Bewegung der Wolken zum
466 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

Symbol der zweifachen Bestimmung des Men- eine ausländische Leserschaft geschrieben,
schen als »tätig-leidendes« Wesen, das an zwei und das Gedicht als Ganzes ist einem aus-
verschiedenen Daseinsbereichen teilhat, und ländischen Wissenschaftler zugeeignet. Diese
Howards Wolkenlehre liefert dem Maler und Umstände sowie die Anklänge an Shakespeare
Dichter ein symbolträchtiges Material, »daß er (Y. 9-12) und an die indische Literatur (Y. 1-5
es fasse, fühle, bilde« (Wohl zu merken, V. 12). u. V. 13f.) verleihen dem Gedicht einen inter-
Der alte G. ist wie immer darum bemüht, trotz nationalen Charakter, der auf jenen Begriff der
des spezialisierten und fragmentarischen Cha- Weltliteratur vorausdeutet, den G. wenige
rakters des modernen Wissens die Einheit der Jahre später als Arbeitsziel für Dichter aller
Wissenschaft als organisches Ganzes und die Länder aufstellte.
Zusammengehörigkeit von Kunst und Wissen-
schaft zu verteidigen. Daß nicht nur der
»Poet«, sondern auch der »Maler« im Schluß- Literatur:
gedicht erwähnt wird (Y. 5), ist übrigens kein Engelhardt, Wolf vonlWenzel, Manfred: Kommen-
Zufall; besonders nach seiner Begegnung mit tar zu Howard's Ehrengedächtnis und damit ver-
Howards Wolkenlehre führte G. zahlreiche wandten Schriften. In: FA I, 25, S.1044-1064. -
Zeichnungen von wechselnden Wolkenbildun- Hennig, John: Goethe's Interest in British Meteo-
gen sowie von den verschiedenen Wolkenty- rology. In: MLQu. 10 (1949), S.321-337. - Keller,
Werner: >Die antwortenden Gegenbilder •. Eine Stu-
pen nach Howards Klassifizierung aus (Corpus
die zu Goethes Wolkendichtung. In: JbFDtHochst.
Vb, Nr. 223-264). (1968), S. 191-236. - Liepe, Gertrud: Luke Howard
(1772-1864). In: JbFDtHochst. (1972), S. 59-107.-
Mehrere andere Gedichte G.s befassen sich Schöne, Albrecht: Über Goethes Wolkenlehre. In:
ebenfalls mit Meteorologie und sogar mit Ho- Jb. Akad. Wiss. Göttingen (1968), S. 26-48.
wards Lehre (besonders Du Schüler Howards; Hugh B. Nisbet
WA I, 53, S. 557). Wolken und andere atmo-
sphärische Erscheinungen spielen freilich
auch lange vor den meteorologischen Studien
von 1815 bis 1825 eine wichtige Rolle in seiner
Lyrik (Keller, S. 202-209). Aber erst nach der
Begegnung mit Howards Schriften wird den
einzelnen Wolkentypen ein symbolischer Ge- Wilhelm Tischbeins Idyllen
halt zugesprochen, wie vor allem in Faust II,
worin die majestätische Kumuluswolke mit
Helena und die ätherische Zirruswolke mit Am 27.5. 1821 erhielt G. von Tischbein eine
Gretchen assoziiert werden (Y. 10057-10066; Auswahl von aquarellierten Skizzen zu den 44
Keller, S. 223). G.s meteorologische Symbolik kleinen Ölgemälden mit idyllischen Motiven,
erreicht ihren Höhepunkt in der Bergschluch- die der Maler im Winter 1819/20 für den Her-
ten-Szene am Schluß des Dramas, die Albrecht zog Peter Friedrich von Oldenburg angefertigt
Schöne als »das letzte Kapitel seiner Wolken- hatte. Dargestellt sind Landschaften, Hirten-
lehre« bezeichnet (S. 45); auch hier ist das szenen, Tier- und Baumgruppen, Satyrn und
Strukturprinzip eine aufWärtssteigende Bewe- zahlreiche schwebende weibliche Figuren,
gung durch die Atmosphäre, deren sukzessive Nymphen und Göttinnen. Mit seiner Sendung
Schichten mit immer höheren Bereichen gei- knüpfte Tischbein an den 1786 in Italien erwo-
stig-seelischer Erfüllung in Verbindung ge- genen, aber nie verwirklichten Gedanken ei-
bracht werden. ner gemeinsamen Produktion in der so stark
Howard's Ehrengedächtnis ist schließlich visuell bestimmten Gattung der Idylle an.
das einzige Gedicht G.s, das er mit einer eng- Wenngleich nicht ohne Reserve gegenüber
lischen Übersetzung veröffentlichte; die er- Tischbein, ließ sich G. durch die Zeichnungen
sten drei Strophen wurden ursprünglich für zu begleitenden Versen anregen, ja die so ak-
Wilhelm Tischbeins Idyllen 467

tualisierten Themen ließen ihn nicht los: als einer zuverlässigen und leicht zugängli-
Während der folgenden Wochen, die er in Ma- chen zitiert (BA 20, S. 264-282).
rienbad verbrachte, wurde er »vom Geiste ge- Das kleine Werk ist hochkomplex: Der Kom-
trieben« (an Tischbein, 20.12.1821), die Verse bination von Vers und Prosa entspricht die Ver-
wiederum durch einen Prosakommentar zu er- bindung von Reflexion und suggestiver Evoka-
läutern. Diese Prosatexte, auf der Basis der tion, von colloquialer Ironie und verhalten-
nur noch erinnerten - da bereits zurückge- eindringlichem Seelenton. Im Zyklus von
sandten - Bilder verfaßt, übersetzen Tisch- sechzehn prosimetrischen Segmenten, dem
beins Idyllensemantik, indem sie sie beschrei- eine Einführung in Tischbeins Kunst prälu-
ben, in G.s eigene. Das so entstandene pro- diert, vereinigen sich drei Gattungen: Bild-
simetrische Kunstgebilde veröffentlichte interpretation, Lyrik und Idylle. Die funda-
G. 1822 im dritten Band von Über Kunst und mentale Bedeutung der »Idee des Idyllischen«
Alterthum; in der Ausgabe letzter Hand wurde für G.s gesamte Dichtung ist bekannt. Er selbst
es in die Kunstschriften aufgenommen, wäh- verweist im ersten Segment auf sein lugendge-
rend die Verse allein noch einmal in der Ge- dicht Der Tfandrer. Innerhalb der Kette idylli-
dichtsammlung erschienen. Diesem Verfahren scher Dichtungen, die von der sehnsuchtsvol-
folgen die meisten modemen Ausgaben. Es len Anschauung einfachen häuslichen Glücks
entsteht dadurch die mißliche Situation, daß zu der Vision kruder Zerstörung eines befrie-
die mit den Gedichten eng verklammerten deten Raums in der Philemon-und-Baucis-
Prosatexte auszugsweise in den Kommentar Episode von Faust II reicht, haben die Ge-
verwiesen werden, so daß der Kunstcharakter dichte zu Tischbeins Idyllen einen besonderen
des Gesamttextes zerstört wird. Dessen Auf- Stellenwert. Nachdem G. in Hermann undDo-
nahme lediglich in die theoretischen Schriften rothea die epochentypische Überführung der
hat sicher seine Rezeption beeinträchtigt. Das Idylle in die zeitgenössische Bürgerwelt mit-
Problem kompliziert sich dadurch, daß gemäß vollzogen hat, wendet er sich wieder der ar-
der Ausgabe letzter Hand sechs zusätzliche chaisierend-überzeitlichen Arkadien-Szenerie
Verse - zu später übersandten Zeichnungen - zu, in der »menschlich natürliche, ewig wie-
den im Kontext der Gesamtschrift befindli- derkehrende, erfreuliche Lebenszustände ein-
chen trotz veränderter Stilebene ohne Markie- fach wahrhaft vorgetragen werden« können
rung angehängt sind. Unerläßlich für die Be- (BA 20, S.271). Elemente dieser Szenerie
schäftigung mit Wilhelm Tischbeins Idyllen ist überformen dann die Mimesis adligen Lebens
Erich Trunz' monographische Darbietung des in der Novelle und erhöhen den Schluß zu
1extes, welche die Zeugnisse der Entstehung, einem idyllischen Wunschbild der Versöhnung
Bemerkungen zur Überlieferung, einen aus- von Mensch und wilder Natur im Medium des
führlichen Kommentar und einige Bilddoku- Tierfriedens. Seine zyklische Anordnung der
mente zusammenstellt. Ein weiteres komple- Segmente betont G. selbst, indem er auf die
mentäres, unabdingbares Instrument ist die Bezüge des ersten zum letzten verweist und
Ausgabe von Keiser, der eine Wiedergabe des das Ende des neunten ausdrücklich als
Erstdrucks, Reproduktionen der Oldenburger »Schwelle« kennzeichnet. Die Struktur folgt
Gemälde und Tischbeins Erläuterungen zu einer gewissen Hierarchisierung der Idyllen-
diesen vorlegt. Die Gemälde und G.s umfang- welt: Wenn der Weg in der ersten Hälfte von
reiche Sammlung von anderen Tischbein-Blät- der Landschaft nicht nur zur Menschen-, son-
tern müssen dem Mangel abhelfen, daß das dern auch zur Faunenexistenz und dann zum
ihm zugesandte »grüne Buch« im Zweiten Kentauren als einer edleren Form des Ani-
Weltkrieg verschollen ist. Erstdruck und Text malisch-Menschlichen führt, so dominiert in
der Ausgabe letzter Hand wie auch die teil- der zweiten das Übermenschliche in Gestalt
weise erhaltenen Handschriften (Trunz, der schwebenden, tanzenden Luft- und Was-
S.72ff.) weichen nur wenig voneinander ab; sergeister, deren Element auch im geistigen
im folgenden wird nach der Berliner Ausgabe Sinn ein »höheres« ist. Zugleich wird diese
468 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

Mitte der Sequenz aber auch bestimmt vom hörig. An der Prosa interessiert ihn der von G.
Extrem der Erfahrung des Irdischen, dem als herausgearbeitete Gegensatz des Phantasti-
»tragisch« gedeuteten Abschied. Ein integrales schen und des »Charakteristischen« (S.59f.),
Element dieser Idyllendichtung ist »unser an den Gedichten der Altersstil mit seiner Ver-
Tischbein«, der immer wieder berufene einigung von Leichtigkeit und mythischer
»Künstler«: Er nimmt den für alle bedeutende Leuchtkraft sowie die Bezüge zu anderen Wer-
Idyllik konstitutiven Platz des »Wandrers« ein, ken. Für Emil Staiger beginnt mit dem Ge-
des betrachtenden Subjekts, durch das der samttext die »dem Leben entfremdete« Poesie
Harmonie der Friedens-Enklave in der Spie- des alten Dichters, der nur diskret andeutet,
gelung des Bewußtseins eine tiefere Dimen- daß er den Glauben an die »dauernde Wirk-
sion zuteil wird. Dieses Subjekt erhält hier lichkeit des Schönen« als Illusion durchschaut
aber eine Doppelfunktion : In bezug auf die hat (S.221f.). Staiger betont die Bedeutung
Außenwelt ist der noch am »objektiven Wah- des neunten Segments, in dem das »Abschei-
ren« orientierte Tischbein Betrachter, in bezug den« als »Grundmotiv aller tragischen Situa-
auf das »poetisch-plastische All« seiner Bilder tionen« erkannt wird - eine Konzeption, die
aber der Erzeuger von Idyllik. Die letztere Peter Szondi dann vertiefend als Einsicht in
Funktion wird von der des Kommentar-Autors die dialektische Struktur des Abschieds als ei-
wiederholt. Die stete Thematisierung dieser nes Zusanunenfalls von Einssein und Entzwei-
doppelten Funktion gibt der dargestellten ung gedeutet hat. Für Staiger ist indes das
Welt ihren konsequenten Kunstcharakter. Die- Vertrauen auf geistige Wiederherstellung des
ser bezeugt sich auch in der sehr artifiziellen Verlorenen das letzte Wort dieser Dichtung.
Sprache der Verse, die in der ruhigen Klarheit Eva Bosshardt hat die Idyllen als Teile von G.s
der Prosa ihre ausgleichende Folie hat. Zu der später Landschaftslyrik eingehend untersucht
einfachen Struktur kreuzweise gereimter Tro- und dabei erhellende Bezüge zu Hackerts
chäen kontrastiert eine äußerst eigenwillige, Theorie der Landschaftsmalerei hergestellt.
zuweilen schwer verständliche Syntax. Der Im übrigen verrät diese Arbeit die Schwierig-
Verzicht auf Artikel gibt den Gestalten schär- keiten, die dem Verständnis für G.s Altersstil
fere Konturen: »Mutterarm ist Kinderwiege« aus der traditionellen Ablehnung des Allegori-
(ebd.); die Wortwahl intensiviert das Gesche- schen erwuchsen. Die Änderung der Perspek-
hen: »Was wir lechzen zu erzielen« (ebd., tiven zu positiver Bewertung des Artifiziellen
S. 276); Anspielungen schaffen eine religiöse hin läßt Gerhard Neumann die Tiefe eines
Resonanz: »Heute noch im Paradiese« (ebd., zentralen Textelernents erschließen, des Wor-
S. 271); Verknappung fokussiert das Wesent- tes »lieblich«, das er als Bezeichnung für Dop-
liche: Die musikalischen Faune heißen »zie- peltes, durch Wiederholung sich Spiegelndes
genfüßige Ohren« (ebd., S. 272). erkennt.
Wenn Friedrich Wilhelm Riemer von dieser Heute verleiht gerade das manifest Artifi-
>meuen Art des Ausdrucks« sogleich angetan zielle in seinem Spannungsverhältnis zum
war (an G., 17.10. 1821), so zeigte sich in der Festhalten an einem gewissen Grad von Ob-
Forschung das Sensorium dafür erst spät. Es jektgebundenheit dem Text sein Interesse. Das
war Max Kommerell, der auf die Bedeutung Artifizielle bezeugt sich zunächst in der Selbst-
dieser Idyllen aufmerksam machte, angezogen reflexion des kommentierenden Subjekts, das
vor allem durch die Versanunlung typisch eine ambivalente Poetik einflicht. Entspricht
G.scher Motive. Sein Urteil zeigt ihn freilich die dem Landschaftsdarsteller zuerteilte Be-
noch im Bann der Erlebnis-Poetik: Ohne Rück- stimmung, »aus dem Wirklichen [ ... ] das Be-
sicht aufTischbein und die Prosatexte soll man deutende« zu ziehen, G.s klassischer Symbol-
die Gedichte als »unmittelbare Lebensspiege- vorsteIlung, so fUhrt die den »schönsten Sym-
lungen« erkennen (S. 115). Auch Erich Trunz bolen« zuerkannte Polysemie in eine andere
trennt in seiner Studie die Prosa noch von den Richtung. In diese weist auch die Sympathie
Gedichten ab als einer anderen Textsorte zuge- für das >Anthropomorphische<, das nicht nur
Zu meinen Handzeichnungen 469

Tischbeins Sylphiden bezeichnet, sondern der Holden, / Erd und Himmel silbern, gol-
auch G.s eigenes Gedicht über einen Gegen- den« (S.272). Schließlich aber erscheint die
stand, der selbst das Prinzip der Reflexion ver- Natur, lange Zeit die Basis G.scher Idyllik, als
sinnlicht: die alte Eiche, die inmitten eines Fremde. Das letzte Bild enthüllt eine vegeta-
Wasserspiegels den Himmel und sich selbst tionslose »Natur, wie sie gebirgisch auf sich
erblickt. In die Richtung einer allegorischen selbst ruht« (S.282). Von diesem Bild aus
Zeichensprache geht auch G.s Aufmerksam- Berg, Höhle, Wasser und Licht heißt es: »Selt-
keit auf Details wie die ineinandergreifenden, sam, wie es unserer Seele / Schauderhafte
zur Erde gesenkten Stäbe auf dem Bild des Laute spricht« (ebd.). Das kann bedeuten, daß
abschiednehmenden jungen Paars. Zu den die Natur die Schauder erregenden Laute zum
Spiegelungsmomenten des Textes gehört zu- Menschen hin spricht, aber auch, daß sie sei-
dem die Ironie, die sehr wohl weiß, daß die nen eigenen Lauten Sprache gibt. Wir kennen
Vollkommenheit des dargestellten Urlebens die Bandbreite der Bedeutungen von »Schau-
sich nur seiner Reinigung durch die Kunst ver- der« bei G. Hier scheint das Wort eher das
dankt. Ein modernes Moment des Textes ist Erschrecken vor einem Fremden als ehrfürch-
seine Offenheit: Für das fünfzehnte Segment, tige Scheu zu meinen, vor einem Fremden, das
in dem Sylphiden als Wolken gedeutet wer- der Mensch auch in sich selbst findet. Das
den, hat G. kein Gedicht geschrieben, da Ho- Spiegelungsverhältnis von Subjekt und Natur
wards Ehrengedächtnis hierfür eintreten wäre dann zugleich Einssein und Entzweiung,
könne. Unbeantwortet bleibt die Frage, ob die wie der Abschied.
Grenzerfahrung des »Abscheidens« wirklich
durch geistige Sublimation bewältigt werden
soll oder ob hier der von Theokrit mit dem Tod Literatur:
des Daphnis eingeführte und von Poussin im Atkins, Stuart: Goethe's Novelle as Pictorial Nar-
»Et in Arcadia ego«-Motiv wiederholte unheil- rative. In: Mahlendorf, Ursula R./Rickels, Laurence
bare Riß in der Idyllenwelt erneuert wird. Die A. (Hg.): Poetry Poets Translation. Würzburg 1994,
S.73-81. - Bosshardt, Eva: Goethes späte Land-
Frage hängt zusammen mit der nach der Er- schaftslyrik. Diss. Zürich 1962, S. 65-109. - Keiser,
scheinungsweise von Natur in dieser Dich- Herbert Wolfgang (Hg.): Johann Wolfgang Goethe:
tung. Das erste Segment beschreibt die Ver- Wilhelm Tischbeins Idyllen. München 1970. - KOM-
wandlung der Fundamente antiker »Prachtge- MERELL, S.114-117. - Neumann, Gerhard: .Lieb-
bäude« in einen scheinhaften »Naturhügel«, liches<. Ein Beispiel für Goethes Wortgebrauch. In:
den die Vegetation wieder in Besitz nimmt, Euphorion. 63 (1969), S.66-87. - STAIGER, Bd. 3,
S. 220-228. - Szondi, Peter: Versuch über das Tragi-
wie im lugendgedicht die Tempeltrümmer. In sche. Frankfurt/M. 1961. - Trunz, Erich: Goethe,
der in diesem Segment zitierten Stelle aus Der Tischbeins Idyllen. In: ders. (Hg.): Studien zu Goe-
Wandrerfehlt die dort formulierte Anklage ge- thes Alterswerken. Frankfurt/M., S. 7-74.
gen die gleichgültige Natur ebenso wie im
Renate Böschenstein
Idyllentext selbst. Es heißt vielmehr: »Der Na-
tur ist's wohlgeraten« (S. 266). Auffallend ist
aber die Betonung der >,vorfallenheiten der
leblosen Natur« (S.268), für die Tischbein
eine Vorliebe zugeschrieben wird; erwähnt
werden seine Darstellungen des Vesuvs und Zu meinen
der Lava, obgleich sie nicht zu den Idyllenblät-
tern gehören. Im sechsten Segment wird das Handzeichnungen
urtümliche Familienleben zwar ausdrücklich
als »Natur« erklärt, doch deren Verhalten ähn-
lich wie im Dornburger Gedicht Früh wenn »Im Gefühl übrigens, daß diese Skizzen, selbst
Tal, Gebirg und Garten - vom Verhalten der wie sie gegenwärtig vorgelegt werden, ihre
Menschen abhängig gemacht: »Wo ihr huldiget Unzulänglichkeit nicht ganz überwinden kön-
470 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

Die Stadt Bilin bei Teplitz


Zu meinen Handzeichnungen 471

nen, habe ich ihnen kleine Gedichte hinzuge- gedichts, wieweit es nämlich, vom Bild sich
fügt«; den Arbeiten eines Liebhabers, die »et- lösend, poetische Autonomie erlangt: Beim
was zu denken und zu wünschen übrig lassen, zweiten Druck, in Ueber Kunst und Alterthum,
mag man wohl mit guten Worten eine schick- werden die Radierungen ersetzt durch die
liche Nachhülfe gönnen« (FA 1,2, S. 1115). Der Überschriften, die nun allein für die Land-
leichte Ton, mit dem G. den kleinen Zyklus schaftsbilder einzustehen haben, denn um Be-
vorstellte, mag dazu beigetragen haben, daß schreibung des visuellen Bestandes kümmern
dieser bis heute so gut wie unbeachtet geblie- die Verse sich kaum. Ein schon Gestaltetes
ben ist. Zu Unrecht: Die sechs Gedichte zeigen wird nochmals im Bewußtsein reflektiert,
Strukturen der G .schen Alterslyrik in einer »wiederholte Spiegelung« auch dies, wobei die
interessanten und komplexen Ausprägung. Realien zurücktreten, der geistige Gehalt aber
1821 veröffentlichte der Weimarer Kupfer- »zu einem höheren Leben« emporgesteigert
stecher Karl August Schwerdgeburth ein Heft wird (BA 16, S.389f.). Dabei aber läßt der
Radierte Blätter nach Handzeichnungen (Skiz- Dichter souverän die nun entzweigeschnitte-
zen) von Goethe, unter Mithilfe der Maler Karl nen Fäden einfach hängen, indem die Verse im
Wilhelm Holdermann und Karl Wilhelm Lie- einzelnen sich ja immer noch auf das weg-
ber, die G.s Skizzen bearbeiteten und ergänz- gelassene Bild zurückbeziehen: »Hier sind wir
ten. Die Begleitgedichte für das Heft entstan- [ ... ] still zu Haus« (Hausgarten), »Hier sind,
den vom 23. bis 25.9. 1821, wenige Wochen so scheint es, Wandrer wohl bedacht« (Beque-
nach dem Zyklus Wilhelm Tischbeins Idyllen. mes Wandern) - mit einer Deixis, die indes
In Ueber Kunst und Alterthum des Folgejahrs nicht mehr nur aufs Landschaftsblatt weist,
veröffentlichte G. eine Anzeige des Hefts und sondern mehr noch auf eine als exemplarisch
fügte die Gedichte bei, die erst hier ihre Über- erkannte und in knappster Abbreviatur sugge-
schriften erhielten. In der Ausgabe letzter rierte Lebenssituation. Dem Dichter scheint
Hand erscheinen sie an zwei Stellen, in den es Spaß zu machen, den Leser mit ein wenig
Schriften zur Kunst und - ohne die anzeigende Hermetik zu konfrontieren; wenn der die Blät-
Vorrede, die den Zusammenhang mit den ter konsultiert hat, versteht er besser, aufweI-
Zeichnungen erläutert - in den Gedichten. che Weise sie entbehrlich sind. Diesen Umweg
Erstdruck und Text der Ausgabe letzter Hand wird auch die folgende Darstellung einschla-
weichen nur unerheblich voneinander ab. Im gen. Zum Wechselspiel zwischen Bild und Text
folgenden wird nach der Frankfurter Ausgabe tritt ein Moment des Autobiographischen
zitiert, die den Text der unter der Rubrik Kunst hinzu. Dem Dichter sind die Zeichnungen
gedruckten Fassung der Gedichte in der Aus- wert als Gedenkblätter; sie stehen für ihn in
gabe letzter Hand wiedergibt (Text in: FA 1,2, vielfachen Bezügen, die ein anderer nicht aus
S.523-526). dem Blatt liest. In der Reflexion über das Bild
Zu fünf der Radierungen sind mehr oder vollzieht sich hier im Gedicht zugleich eine
weniger ausgeführte Zeichnungen G.s bekannt komplexe Selbstbegegnung des Ich mit einem
(Corpus IV b, S. 47); beim Vergleich mag man Stück seiner Vergangenheit - nochmals also
die unbedenkliche Kunstfertigkeit der Bear- die Problematik der ausgesparten Referenz,
beiter, die G. gutmütig gewähren ließ, wohl angedeuteter und vorenthaltener Zusammen-
etwas bedauern. Die Äußerungen G.s und an- hänge.
derer zu dem Heft sind zusammengestellt bei Der kleine Zyklus ist streng gebaut; auch die
Gerhard Femmel (Corpus VII, S. 202). Die Ge- Anordnung erzeugt Bedeutung, nach dem Ver-
dichte mit Vorrede und Radierungen sind neu fahren von G.s Altersdichtung, »durch einan-
erschienen als Beilage zu Bd. 23, Nr.5-6 der der gegenüber gestellte [ ... ] Gebilde den ge-
Chronik des Wiener Goethe-Vereins 1909 und heimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offen-
bei Wolfgang Hecht. baren« (an Iken, 27.9. 1827). Das erste Ge-
Die Entstehungsgeschichte aktualisiert dicht, Einsamste Wildnis, gibt Anlaß und
gleichsam eine Gattungsproblematik des Bild- Rahmen, dann folgen Hausgarten (2), Freie
472 Das lyrische Spätwerk. 1819-1852

Welt (5), Geheimster Wohnsitz (4), Bequemes skizze aus der Zeit der Campagne in Frank-
Wandern (5), Gehinderter verkehr (6) - fort- reich; G. hat das Gedicht 1822 dem autobio-
schreitend dem Prinzip der Polarität gemäß. graphischen Bericht eingefügt; es feiert dort
Dabei deuten »vorerst« (2) und »ferner« (3) die erinnerte Rückkehr in die junge Weimarer
Stufen an; wie etwa in Um Mitternacht klingt Häuslichkeit zwischen den zwei Feldzügen.
die Vorstellung Lebenslauf an, ohne hier indes Zärtlich aber läßt das Gedicht sein Zentrum
durchgehend mitzustrukturieren. halb verschwiegen: ,>Von Tür zu Türe sieht es
Die Themen der Kreativität und des ge- lieblich aus« - auf dem Blatt von 1792 blickt
scheiterten Zeichnens bestimmen das einlei- die junge Mutter aus der Haustür zu dem Kna-
tende Gedicht. »Ich sah die Welt mit liebevol- ben, der vor einer andern Tür draußen am
len Blicken / Und Welt und ich wir schwelgten Boden sitzt; das gilt Christiane und August.
im Entzücken« - in zwei Zeilen die Grundform Der flache antikische Giebel des kleinen Hau-
von G.s Weltverhalten, woraus sein Dichten ses indes und die zwei Orangenbäumchen wei-
und sein Zeichnen durch alle Verwandlungen sen zurück zum Ich der Romischen Elegien, das
hindurch sich immer wieder nährten: das das Gärtchen besucht, wo Faustina mit dem
Auge als Organ der Weltberührungen, das lie- kleinen Sohn wohnt; dahinter erscheint
bevolle Andringen des Ich, dem die Natur ant- schließlich Der Wandrervon 1772, der in einer
wortet, als Grundlage einer Wirklichkeit, in Szenerie von überwachsenen antiken Ruinen
der Subjekt und Objekt miteinander verwandt von der jungen Frau mit dem Kind auf dem
sind. Dabei welches Selbstbewußtsein in dem Arm freundlich gelabt wird, bevor er weiter-
grandiosen Kürzel "Welt und ich wir. .. <d Den geht. Unabschließbar scheint das Spiegelspiel
folgenden Versen indes spürt man an, daß das zwischen Text, Bild und anderen Texten, Erin-
Problem der sich versagenden Kreativität im nerung und anderen Erinnerungen, das in die
Zeichnen - »unvermögend Streben, Nachge- Vergangenheit zurückleuchtet, auf der Suche
lalle« - noch immer nicht ganz verwunden ist. auch nach dem Urbild der eigenen Frühe.
Auch die »Jüngern«, die jetzt seine Zeichnun- Darob wird das konkrete Einzelne gleichsam
gen bearbeiten, »fehlen«, wenn sie so "unver- diaphan, fast nichts Gegenständliches mehr ist
zagt« mit fertigem Strich den Sinn auszuspre- im Gedicht evoziert, die abstrakte Sprache
chen wagen - wie weit hier G.s Skepsis vor aber vibriert von allem Nicht-Gesagten: "WO
dem fixierenden Wort in die Malerei über- Leben sich zum Leben freundlich regt«.
tragen oder bloß eine gewisse Distanzierung Dem zur Idylle komplementären Zug in die
gegenüber der Praxis seiner Helfer angedeutet Feme gilt Freie Welt; aber wie zuvor Idylle aus
wird, muß offenbleiben. Jedenfalls, während der Spannung zur Weite gesehen wurde, so
die Blätter von "Bergwald und Gebüsch« sich erwächst hier aus der Trennung, aus dem Hin-
"immer frisch« erneuern (V. 1f.), wird es bei ausstreben bald wieder ),halbe Hoffnung«,
den radierten und gezeichneten Blättern damit »holder Wunsch« nach neuen Vereinigungen:
enden, daß sie "welken« und »fallen« (V. 16). »Begegnen ist ein höchstes Liebeglück«. Daß
So schließen wenige Gedichte G.s; war dieses hier der Individuationsprozeß von dieser fort-
Versagen von Kreativität eine narzißtische laufenden Dynamik geprägt erscheint, steht
Wunde, wo G. sich von seiner Sterblichkeit im Zusammenhang mit der historisch neuen,
bedroht fühlte? betont mütterlichen Sozialisation, wie Haus-
Mit (2) und (3) beginnt die Folge der ein- garten sie veranschaulicht.
ander polar zugeordneten Stücke; die beiden Geheimster Wohnsitz bezeichnet das Zen-
artikulieren zusammen das G.sche Grundmo- trum der Reihe und zugleich eine höhere
tiv von Beschränkung und Weite, Wanderer Stufe, der Bereich des Naturhaft-Familialen
und Idylle. Hausgarten zeigt, wie das Prinzip liegt zurück. Hinter dem evozierten Tempel,
der wiederholten Spiegelung sich im Bereich »in hehrer Einsamkeit« und zugleich »im Frie-
der Erinnerung auseinanderfaltet. Die Verse den« gelegen, »geschützt durch Mauern, mehr
des 72jährigen kommentieren eine Garten- durch Licht und Recht«, werden G.s Erfahrun-
Zu meinen Handzeichnungen 473

gen mit den Geheimen Gesellschaften sicht- »Plackerei« und »Hindernis« (Gehinderter 1ier-
bar, mehr noch seine wiederholten Gestaltun- kehr). Bezeichnend ist, daß auf dieser Stufe
gen des Themas der kleinen Schar Gleich- das Landschaftliche ganz zum allegorischen
gesinnter, die auf rein menschliche Weise ei- Zeichen wird, besonders im letzten Stück. Ein
nem »höchsten Sinn« sich »weihen« - von den Blick auf das Blatt verdeutlicht dies: eine ber-
frühen Geheimnissen bis zu den Wanderjahren. gige Küstenlandschaft mit Kastell und Burg
An den Bund der Wanderer dort erinnert die und Blick aufs Meer, offensichtlich aus italie-
»fromme Pilgerschar« hier, »gehend, kom- nischen Erinnerungen komponiert. Wo sonst
mend, Jahr für Jahr«, die im Tempelbezirk ein wäre dergleichen bei G. mit Verdruß und Be-
geistiges »Wohnen« erlernen müssen. Mit die- hinderung assoziiert? Ist es nur die Konstella-
sem verknüpft sich die poetologisch interes- tion innerhalb der Reihe, die den späteren
sante Einbettung des Tempels in die Land- Kommentator veraniaßt, dem Bild jetzt eine so
schaft: »Wer Buchten kennt, Erdzungen, wird negative Bedeutung zuzuordnen, weil auch der
es finden«. Das zugehörige Blatt, eine der be- Unmut eine Stelle finden muß? Die letzte
sonders geglückten, zart lavierten Zeichnun- Zeile reflektiert solche Willkür und unterbrei-
gen G.s - ein breitgezogenes Wasser, auf einer tet sie gleichsam dem Leser zur Beurteilung:
entfernten Halbinsel die Gebäude, beidseits »Es ist vielleicht zu düster aufgefaßt«.
des weiten Tals lichte Felsen -, ist ohne Zwei- Dem Verzicht auf das in sich geschlossene
fel eine komponierte Ideallandschaft, wie G. Kunstgebilde, der sich beim Überblick über
sie oft entworfen hat. Die Aufforderung zum den inhaltlichen Bestand und die vielfachen
Suchen ist eine Mystifikation des Lesers; die Verweisungsstrukturen gezeigt hat, entspre-
»Buchten« und »Erdzungen« weisen nicht auf chen weitere Aspekte der Gestaltung und
irgendwelche Reiserouten G.s, sondern hin- Sprachgebung, die für die formgeschichtliche
über in die soeben erschienenen Wanderjahre Situierung des Zyklus interessant sind. Die
(1. Fassung). Da sucht Wilhelm am Lago Mag- Strophen umspielen bloß die Stanzenform:
giore gemeinsam mit seinem Malerbegleiter in Bald fehlen zwei Verse, bald sind zwei zuviel;
der Realität zu finden, was dieser - ergriffen dazu verschwindet durch die einfache Reihung
von der Gestalt Mignons, die er als Leser der von Paarreimen die innere Spannung der
Lehrjahre kennt - zuvor auf visionär erfunde- Stanze auf das pOintierend-abschließende
nen Bildern als Mignons Heimat entworfen Verspaar hin, es .ballt sich, nicht mehr: Auch
hatte. »Prachthäuser, weitläufige Klöster [ ... ] von innen lockert sich die Struktur. Und Lok-
und Buchten, Erdzungen [ ... ] wurden ge- kerung, Offenheit zeigt sich auch in dem unbe-
sucht« (WA I, 24, S. 354) - und am Ende jenes kfunmerten Nebeneinander verschiedenster
Kapitels ja wieder entsagend zurückgelassen. Sprachregister. Prosanah-Alltägliches: »Da
Mit diesem verschlüsselten Wink an den Leser kommt es her, da kehrt es wieder hin« (Haus-
öffnet sich ein Blick auf wiederholte Spiege- garten) steht neben zeremoniell Hochstilisier-
lungen - zwischen Kunst und Leben, Kunst tem, in dem aber auch Herzenswärme zu spü-
und Künsten - von fast abgründiger Komplexi- ren ist: »Sei ihm des Zieles holder Wunsch
tät; ein Trost den Entsagenden, dem »eignen erreicht« (Freie Welt). Gnomischer Affirma-
Stand«? Alles aber bleibt ganz leicht, ein tion: »Begegnen ist ein höchstes Liebeglück«
Scherz mit dem Leser. (Freie Welt) steht ironische Selbstreflexion des
Nach dem vierten Stück verbleibt im folgen- Textes gegenüber - »Wir sagen nicht, wir hät-
den den Ausdrücken wie »Wanderer«, »Wal- ten's oft gesehn« (Bequemes Wandern) -, wie
ler«, »Reisende« die Bedeutung jener Pilger- überhaupt die mit der autobiographischen
schaft durchs Leben im höhern Sinn. Dabei Selbstreflexion verbundene Ironie das Ganze
geht es sich bald »leicht« und »beherzt«, wo erhellt. Eine verknappende, scheinbar klare
jede »Mühe [ ... ] gehoben« scheint (Bequemes Syntax verzichtet einfach darauf, die Bezüge zu
Wandern), bald werden die Pfade »eng« und es ordnen: »Der Künstler froh die stillen Blicke
scheint »völlig weglos« zu stocken vor lauter hegt«, heißt es in Hausgarten; drei Augen-
474 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

paare sind hier im Spiel - aber in welchem den Stellenwert des Zeichnens und die Bedeu-
eigentlich? Es paßt zu alledem, daß der von tung des Scheiterns auf diesem Gebiet auf der
vorne her streng gebaute Zyklus in einem offe- Ebene der psychischen Strukturen von Krea-
nen Ende ausläuft, und zwar doppelt: inhalt- tivität und der verschiedenen psychischen Im-
lich, indem das angedeutete Schema Lebens- plikationen von Wort und Bild untersucht. Die
lauf einfach abbricht mit einem Steckenblei- Geschichte von G.s Zeichnen auf der Ebene
ben im Verdruß; formal dadurch, daß das seiner Selbstdeutungen darzustellen, wie es
Schlußgedicht, anstelle der für G. fast unent- etwa Wolfgang Hecht tut, bleibt unbefriedi-
behrlichen Abrundung, in der letzten Zeile gend, weil gerade in diesem Gebiet die Selbst-
sich selbst in Frage stellt. Dazu, auf andern deutungen fühlbar etwas von Beschwichtigung
Ebenen, das Auseinandertreten von Zeichen und Rationalisierung an sich haben; die so oft
und Bedeutung für das allegorisch verfahrende wiederholte Beteuerung des Verzichts zeigt vor
Bewußtsein und jene Lust am Artifiziellen - allem, wie schwer dieser fiel, obwohl G. doch
wie sie schon den Divan belebt und die dem dichtend Kreativität in überreichem Maß ein
Bildgedicht als solchem eignet, das Kunst in Leben lang erfuhr. Paul Stöcklein auf intuitive
Kunst spiegelt -, die hier noch potenziert wird Weise und Kurt Eissler auf psychoanalytischer
durch eine Vielfalt von Intertextualität, die mit Grundlage haben erste Fragen in dieser Rich-
Biographischem sich überkreuzt. Immer han- tung gestellt.
delt es sich um offene Strukturen, in denen der
Text über sich hinausweist: Der Gehalt ist
nicht im Gedicht aufgehoben, er entsteht Literatur:
durch das Spiel der Reflexe, die der Text frei- Bosshard, Eva: Goethes späte Landschaftslyrik. Zü-
setzt. rich 1962, S. 44-64. - EISSLER, S. 1349-1354. - Fem-
Daß in alledem sich etwas ankündigt, das mel, Gerhard: Corpus der Goethe-Zeichnungen. 7
auf die offenen Strukturen und die gewollte Bde. Leipzig 1958-1973. - Hecht, Wolfgang: Goethe
Künstlichkeit moderner Texte vorausweist, ist als Zeichner. Leipzig und München 1982, S. 7-30 u.
mehrfach an G.s Alterslyrik gezeigt worden. S. 221-231. - KOMMERELL, S. 117f. - Stöcklein, Paul:
Wege zum späten Goethe. Hamburg 21960, S. 163-
Das besondere Interesse der Gedichte Zu mei- 218.
nen Handzeichnungen scheint nun darin zu
liegen, daß sie gerade in ihrem merkwürdigen Verena Ehrich-Haifeli
Zwischencharakter andeuten, wie solche
Strukturen des Artifiziellen auf natürliche
Weise entstehen können: nämlich aus der
Weiträumigkeit des Bewußtseins eines alten
Mannes, der ein unabsehbar weites Feld von
Werken und Tagen übersieht und dem jedes
Einzelne von vornherein in so vielen Bezügen
Eins und Alles
erscheint, daß es zurücktritt hinter dem deu-
tenden Spiel ihrer Reflexe. G. nennt das auch
nicht künstlich; er kann es noch nennen: »des Laut der Datierung der eigenhändigen Hand-
Lebens Leben Geist« (FA 1,3.1, S. 390). schrift ist das Gedicht am 6.10. 1821 in Jena
Die Forschung hat den Zyklus bisher fast entstanden. G. hat es - nach einem Vorabdruck
unbeachtet gelassen. Max Kommerell und in Cottas Morgenblatt fir gebildete Stände
nach ihm Emil Staiger hoben seine Bedeutung vom 24.9. 1823 - zuerst als Abschluß des Hef-
innerhalb der Alterslyrik hervor, ohne jedoch tes 11, 1 (1823) von Zur Naturwissenschaft
in Einzelnes einzutreten. Eva Bosshards Kapi- überhaupt publiziert. In der Ausgabe letzter
tel über den Zyklus bleibt vorwiegend im Au- Hand hat er es 1827 unter das Rubrum Gott
tobiographischen, das poetische Verfahren und Welt gestellt (Text in FA I, 2, S. 494). Unter
wird nicht Thema. Es fehlt eine Studie, die dieser Überschrift findet der Leser, neben an-
Eins und Alles 475

derern, die Gedichte Weltseele (wahrscheinlich (V. 4), zu entfliehen, sehnt sich der Einzelne
1802), Dauer im Wechsel (1803), Die Meta- nach einer Aufgabe des Ich, nach einem erlö-
morphose der Pflanzen (1798) und Unvorte. senden Durchbrechen des principium indivi-
Orphisch (1817). G. gibt hier also, verknappt duationis. Aber der Text spricht in Wahrheit
gesagt, eine Summe seiner späteren Welt-An- nicht vom Ende der Existenz, sondern von ei-
schauung, und das im buchstäblichen Sinn. nem emphatischen Beginn, einer Art höherer
Zwar umkreisen diese Gedichte, und nicht zu- Menschwerdung: der Selbst-Findung (V. 1) im
letzt Eins und Alles, auch in abstrakter Begriff- Grenzenlosen, dem »Genuß« (V. 6) des Sich-
lichkeit und Gedankenftihrung den Grund und Aufgebens, der Überwindung der erkenntnis-
die Mitte unserer Existenz, aber sie sind in hindernden Vereinzelung. Die folgenden Stro-
erster Linie eine Sprache gewordene Anschau- phen machen deutlich, daß der enigmatisch
ung von Leben und Kosmos. Die gelassene und anmutende Gedichtbeginn eine Steigerung im
genaue Betrachtung der Dinge, so insinuiert Geist anvisiert, eine Konzentration des Ich auf
die Bildlichkeit der Texte, bringt jene Meta- eine erftilltere Stufe der Existenz, in der zwar
phorik hervor, die an sich schon Erkenntnis die störende Alltäglichkeit und Begrenzung
darstellt, weil die tiefste Erkenntnis von Gott überwunden ist, aber nicht als Moment einer
und Welt anschaulich und im sprachlichen Bild elementaren Negierung der Welt (Schopen-
vermittelbar ist. hauer), sondern als Voraussetzung einer nur so
Das scheint im vorliegenden Gedicht etwas erreichbaren Weisheit. Das Ich muß sich von
differenzierter zu sein, verweist doch schon der quälenden Individuation befreien, um frei
der Titel auf die pantheistische Idee von der zu sein ftir die eigentliche Individuation, die
All-Einheit der Welt, des Göttlichen und des eines paradoxen Ineinander und Miteinander
Menschlichen, von Materie und Geist. Aber es von Schöpfung und Zerstörung.
wird im Fortgang des Gedichts evident, daß Davon ist zu Beginn noch nicht die Rede,
sein eigentliches Zentrum nicht eine philo- weshalb die erste Strophe eigentümlich in der
sophische Spekulation im herkömmlichen Schwebe bleibt - denn es scheint ja noch nicht
Sinn bildet. Vielmehr besteht es in einem Auf- ausgemacht, daß die genußvolie Aufgabe des
ruf zum schöpferischen Handeln, einem Sich- Ich rein positiv zu evaluieren wäre. Sie ist es
Regen des seiner kreatürlichen Endlichkeit auch nur, wenn der Sprung in das Grenzenlose
bewußten Menschen, der den Glauben an die Teil einer das Ich wahrlich erst legitimieren-
ewige Schöpferkraft, die produktive Sinnhaf- den Metamorphose wird. Erst wenn das so von
tigkeit von »Weltseele« (V. 7) und »Weltgeist« der minderen Alltäglichkeit gelöste Ich offen
(Y. 8) umsetzt in den Glauben an die unend- ist rur die Ankunft der »Weltseele« (Y. 7) -
liche Verwandlung alles Seienden im Medium »dann« (V. 8) zeigt sich das Ich bereit ftir die
des unwandelbaren und unzerstörbaren Seins. Erfahrung einer höheren Existenz- und Erfah-
Somit verbinden sich, wie in anderen späten rungsform, die G. als Auseinandersetzung mit
lyrischen Texten G.s, Konzeptionen von Dauer dem - nun gewiß nicht hegelianisch zu ver-
und Unsterblichkeit mit der welt-immanenten stehenden - »Weltgeist« (V. 8) entwirft. Nur in
Erlösungslehre eines sich im Hier und Jetzt fortgesetzter Steigerung, geleitet von Tradi-
erfüllenden Lebens-Telos. Nur indem der Ein- tion und geistig-mitstrebender Zeitgenossen-
zelne seine Endlichkeit in gestaltend-verwan- schaft, gelangt das Ich zu einer Anschauung
delnder Tätigkeit bejaht, partizipiert er an der oder Erfahrung - wer vermöchte da eine di-
einzig möglichen Form von Dauer: der ewigen stinkte Unterscheidung zu treffen - des Ur-
Metamorphose alles Kreatürlichen. grunds alles Geschaffenen.
Die erste Strophe erinnert, liest man sie Hier, wie an noch manchen anderen Stellen
nicht ganz genau, an Schopenhauersche oder im Spätwerk, weicht G. einer begrifflichen Fi-
buddhistische Weltüberwindungs- oder Welt- xierung, einer Verfestigung dessen, »der alles
verneinungstheoreme. Der Welt des Willens, schafft und schuf« (V. 12), aus. Daß es nicht der
dem »heißen Wünschen, wilden Wollen« christliche Gott ist, sagt der Fortgang der Stro-
476 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

phen deutlich; die Überschrift legt zudem dividualitäts- wie form vernichtenden Über-
nahe, jede Personifikation als unzulässige schreitung der inneren und äußeren Gesetze -
Simplifizierung abzulehnen, trotz des Ru- aber gerade das Spätwerk entwirft in kühnen
brum-Titels. Und in der dritten Strophe wird Bildern und Formeln die Gewißheit eines den
vollends klar, daß es nicht um die Anbetung Menschen und die Welt tragenden Grundes.
eines ganz Anderen geht, sondern um die in Innerhalb der von ihm zu erkennenden Mög-
ein Bild gefaßte, gesteigerte Seins-Erfahrung lichkeiten und Grenzen muß der Einzelne die-
des Einzelnen, dann nicht mehr Vereinzelten, sen Prozeß der Erfüllung und Vergeistigung
im »lebendigen Tun« r:v. 15). Im schaffenden leisten und zu Ende führen. So ist er Teil der
Verwandeln treffen sich Eins und Alles, das All-Einheit; nicht als kontingentes Partikel
All-Eine in der unsubstantiierbaren Singulari- ohne Herkunft und Finalität, sondern als
tät. Darin löst sich die Starre ängstlicher Be- kleine Monade, in deren Sein und Tun sich die
grenztheit hin auf die emphatische Logik der große Welt-Monade spiegelt, fortsetzt und er-
Neuschöpfung aus dem Geist des an anderer füllt.
Stelle - im Gedicht Selige Sehnsucht aus dem Davon handelt der Schluß des Gedichts, in
West-ästlichen Divan - beschworenen »Stirb knapper und, ähnlich dem Beginn, nicht leicht
und werde!« (FA I, 3.1, S.25). Die zentrale verständlicher Fügung. Das Werdende (»Es«)
Verfehlung des menschlichen Daseinszwecks drängt zu differenten Gestalten und Gestaltun-
besteht in der wandlungsunfähigen Beharrung gen, so unterliegt es dem Gesetz der Verwand-
auf der Vereinzelung des Ich; nur wenn das Ich lung. Diese Verwandlung jedoch konstituiert
sich bereit macht zur Erfahrung eines höheren keinen Zyklus des Lebens im strengen Sinn.
Zustands im lebendigen Tun, nur dann kann es G.s späte Gedichte sprechen zwar bildlich
sich entwickeln und partizipieren an einem häufig von Tod und Auslöschung, aber nicht
Aufstieg zu erfüllterem Sein - analog der eigentlich von Verfall und Sterben. Im Gedicht
Schlußsequenz des Zweiten Teils des Faust. Die Metamorphose der Pflanzen (1798), das G.
Als tätig Verwandelnder wiederholt der in der Ausgabe letzter Hand in unmittelbare
Mensch die Existenzweise der Natur, deren Nachbarschaft von Eins und Alles geriickt hat,
tiefster Logos die Metamorphose ist, die Ent- endet die Entwicklung der Pflanze, von der der
wicklung, die Verwandlung bei gleichzeitiger größte Teil des Textes real und metaphorisch
Beibehaltung der elementaren Formen und handelt, mit der das Leben weitergebenden
Gesetze. Indem der Mensch die Welt verwan- Vermählung, der Vereinigung unter dem Zei-
delt, erfüllt er sein entelechetisches Formge- chen der Fortdauer. »Und hier schließt die Na-
setz. tur den Ring der ewigen Kräfte; / Doch ein
Die Frömmigkeit dieses Weltmodells liegt neuer sogleich fasset den vorigen an, / Daß die
nicht in der Anbetung einer transzendenten Kette sich fort durch alle Zeiten verlänge, /
und von uns durch einen Abgrund getrennten Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne,
Wesenheit, sondern im Glauben an die struk- sei« (Die Metamorphose der Pflanzen; FA I, 2,
turelle und überdauernde Sinnhaftigkeit des S.497, V. 59-62). Verwelken und Absterben
Kosmos. Das Streben des Ich erscheint als not- bleiben unerwähnt. Das mag, abgesehen von
wendiger Ausdruck seiner inneren Wahrheit, der immanenten Logik der Lebensfeier des
nicht als Hybris oder destruktive Vermessen- Gedichts, die nicht vom Individuum, sondern
heit angesichts einer entgöttlichten Welt. von der Gattung spricht, zusammenhängen mit
Zwar ist sich G. der im Menschen schlum- der schon den Zeitgenossen seltsam und ego-
mernden und immer wieder hervorbrechen- zentrisch anmutenden Aversion G.s gegen den
den Zerstörungs kraft sehr wohl bewußt - und Anblick von Kranken, Sterbenden und Toten,
seine bedeutenden Werke, vom Werther über eine geradezu neurotische Todesfurcht, deren
Iphigenie, Tasso und die Wahlverwandtschaf- ins Produktive gewendete Kehrseite die Kraft
ten bis zu den bei den Teilen des Faust, fixieren zur eigenen Fortdauer und künstlerischen Lei-
gen au die Momente der gefährlichen und in- stung als Feier von Leben und Dauer darstellt.
Eins und Alles 477

Die Verstörung angesichts des individuellen der Botanik darauf hingewiesen, »daß unser
Endes initiiert nun nicht eine nihilistische Ver- tätigster, einzelner Anteil innerhalb dem Wohl
zweiflung, sondern eine Idee von Dauer, die des Ganzen völlig verschwinde« (FA I, 24,
nichts mit der christlichen Seelen-Unsterb- S. 534). Die Formulierungen dieses Prosatex-
lichkeit, aber auch nichts mit der materialisti- tes, in denen es G. um »das Zusammenwirken
schen Ewigkeit einer einheitlichen Welt-Sub- der Einzelnen im Bereich der Wissenschaft«
stanz zu tun hat. Statt dessen insistiert der alte geht (Eibi, Komm. in FA I, 2, S. 1084f.), neh-
G. auf einer nur in Paradoxa wiederzugeben- men vieles aus dem kurz danach entstandenen
den Vorstellung einer Dauer im Wandel (ana- Gedicht vorweg. In dessen erstem Teil wird
log dem Gedichttitel Dauer im Wechsel, 1803), demnach das Aufgehen des einzelnen, die Na-
einer Unvergänglichkeit der Substanz, die ge- tur erkennenden Forschers im großen Ganzen
rade nur dadurch gegeben ist, daß die Form, der Gemeinschaft der Forscher (Weltseele, V. 7)
die vergängliche Hülle, »in Nichts« zerfcillt und dem der erkannten und sich selbst erken-
(V. 23). Dieses Zerfallen des Singulären ist die nenden Natur (Weltgeist, V. 8) gestaltet. Im
notwendige Voraussetzung einer Fortdauer des zweiten Teil wird dieser Gedanke verallgemei-
Ewigen im Sein. Dadurch wird der Mensch, nert und »ausgeweitet auf das Verhältnis der
wird die erfahrbare Natur weder als trügender Individualität zum Kosmos« (Eibi, Komm. in
Schein abgewertet noch inthronisiert als letzt- FA I, 2, S. 1085).
mögliche Erfahrungstatsache. Das Seiende ist G. selbst hat einige Tage nach der Nieder-
vielmehr der je andere und stets notwendige schrift des Gedichts auf dessen hohen An-
Ausdruck des Seins. In der Bewegung des spruch, aber auch auf dessen Gefahrdung hin-
»Stirb und werde!« erfüllt es die fortdauernde gewiesen, als er am 28.10. 1821 an Friedrich
Aufgabe der Epiphanie des Ewigen. Dies wird Wilhelm Riemer schrieb: »Diese Strophen
im Menschen und den Dingen »geheimnisvoll enthalten und manifestiren vielleicht das Ab-
offenbar«, wie G. schon in seinem großen Ge- struseste der modemen Philosophie. / Ich
dicht Harzreise im Winter schrieb (FA I, 1, werde selbst fast des Glaubens, daß es der
S.324, V. 83), und der Kunst ist aufgegeben, Dichtkunst vielleicht allein gelingen könne,
diese »sehr ernsten Scherze« (an Wilhelm von solche Geheimnisse gewissermaßen auszu-
Humboldt, 17.3. 1832) in angemessener, d.h. drücken, die in Prosa gewöhnlich absurd er-
rätselhaft-offenbarer Weise zu Sprache und scheinen«. Aus dieser Selbsteinschätzung G.s
Bild werden zu lassen. ist aber nicht abzuleiten, wie Dietze dies tut,
Eins und Alles ist - insbesondere in den das ganze Gedicht sei mißlungen, die beiden
werkimmanenten Auslegungen - unhistorisch Schlußverse gar »fragwürdig« und »unsolide«
als religiöse Aussage gedeutet worden. Sym- (Dietze, S. 328f.).
ptomatisch hierfür ist die Interpretation von In der Tat hat G. die letzte Strophe von Eins
Erich Trunz, der in ihm, ähnlich wie in der undAlles in seinem Anfang 1829 entstandenen
Hymne Ganymed, das »Aufgehen in das Gött- Gedicht Vermächtnis wieder aufgenommen.
liche« und damit »ein Aufgeben der mensch- Angeregt von der öffentlichen Resonanz, die
lichen Existenzform als einzelner« gestaltet diese letzte Strophe dadurch erfahren hatte,
sieht (Trunz, Komm. in HA 1, S.571), eine daß die >,versammlung deutscher Naturwis-
Formulierung, die dem Wortlaut der ersten senschaftler und Ärzte« sie im Spätsommer
Strophe durchaus widerspricht. Erst wenn 1828 ihrem Berliner Kongreß als Motto vor-
man sieht, daß dieses Gedicht bei G. in ganz anstellte (vgl. Dietze, S.329 u. Anm.), ver-
genauen textlichen Bezügen steht, wie sie Wal- kehrte G. ihre Aussage in der ersten Strophe
ter Dietze als erster ausführlich analysiert hat, von Vermächtnis in ihr Gegenteil: »Kein Wesen
läßt sich die konkrete Bedeutung der abstrak- kann zu nichts zerfallen, / Das Ew'ge regt sich
ten Begriffe ausmachen. In seinen Heften Zur fort in allen, / Am Sein erhalte dich beglückt!«
Morphologie (I, 4, 1821) hatte G. in einer Re- (FA I, 2, S. 685). Das ist weniger als »Wider-
zension von Nees von Esenbecks Handbuch ruf« eines mißglückten Gedichts, denn als po-
478 Das lyrische Spätwerk. 1819-1852

lare »Ergänzung«, so Kommerell (S.208), ei- Auf diese Fassung bezieht sich vorliegende In-
ner Aussage zu verstehen, in der das »Abstru- terpretation (Text in FA I, 2, S. 450-456).
seste der modemen Philosophie« gefaßt ist. Die stoffliche Vorlage von den vertauschten
Erst indem sie beide Wahrheiten, die einander Köpfen hatte G. in einer verharmlosten Va-
logisch ausschließen, nebeneinander bestehen riante schon Anfang der 1770er Jahre aus einer
läßt, wird die Dichtung zur Bewahrerin von Reisebeschreibung (von Olfert Dappert) ken-
»Geheimnissen«, »die in Prosa gewöhnlich ab- nengelernt. 1783 stieß er in Pierre Sonnerats
surd erscheinen, weil sie sich nur in Wider- Reise nach Ostindien auf eine Version (Ab-
sprüchen ausdrücken lassen, welche dem druck der Quelle in FA I, 2, S. 1045f.; vgl.
Menschenverstand nicht einwollen« (an Rie- Dietze, S. 283f.), die sich ihm »so tief in den
mer, 28.10.1821). Sinn« drückte, daß er sie »vierzig bis funfzig
Jahre lebendig und wirksam im Innern er-
hielt«: so G. 1823 in Bedeutende FO"rdemis
Literatur: durch ein einziges geistreiches Wort, wobei er
Dietze, Walter: Poesie der Humanität. Anspruch und auch den »baldigst mitzuteilenden Paria« auf-
Leistung im lyrischen Werk Johann Wolfgang Goe- führt. Es dauerte bis 1807, bis sich im Tage-
thes. Berlin, Weimar 1985, S.514-529. - Eibl, buch die Erwähnung des Motivs findet, von
Komm. in FA I, 2, S. 1084-1086. - Glockner, Her- dem »Weibe in dem indianischen Mährchen,
mann: Eins und alles. Drei philosophische Gedichte in deren Hand sich das Wasser nicht mehr
Goethes. In: Die Sammlung. 15 (1960), S. 647-652. ballt« (27.5. 1807). G. arbeitete an dem Ge-
- Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Die Entwicklung
des Goetheschen Naturdenkens im Spiegel seiner dicht, das zeitweilig sicher als Entsprechung
Lyrik - am Beispiel der Gedichte Mailied, Selige der indischen Ballade Der Gott und die Baja-
Sehnsucht, Eins und Alles. In: GoetheJb. 99 (1982), deregedachtwar, 1813, dann wieder 1816/17,
S. 11-51. - KOMMERELL, S. 208-211. - Trunz, Komm. als er unter dem Eindruck des altdeutschen
in HA 1,S.571. Hildebrandliedes sogar eine Tötung des Soh-
nes durch den Vater erwog (in dem damals
Bernhard Sorg/Redaktion
fixierten Fragment).
Vermutlich war Das Gebet des Paria als Ge-
sanlttitel geplant; seit wann die trilogische
Form vorgesehen war, ist umstritten (Blumen-
thai, S. 194; Dietze, S. 292). Ende 1821 wurde
die Arbeit an dem Gedicht erneut intensiviert.
Paria Im März 1823 lag die Trilogie schließlich vor.
Eckermann und Humboldt bekamen sie im
Herbst zu sehen. Ihre Ratlosigkeit gab 1824
Anlaß, dem Verständnis durch den mit Ecker-
Die Paria-Trilogie, eines der lyrischen Haupt- mann gemeinsam verfaßten Essay Die drei
werke des späten G., ist handschriftlich nur Paria aufzuhelfen. Dieser Aufsatz hat die spä-
von Johns Hand überliefert (H148); zwei Frag- tere Interpretation des Gedichtes nicht wenig
mente von je etwa zehn Versen sind als eigen- geprägt. Kurz zuvor waren zwei Dramen von
händige Bleistiftaufzeichnung von 1816/17 Michael Beer und Casimir Delavigne mit einer
(WA I, 5.2, S.358; FA I, 2, S.855) und wohl Handlung ebenfalls aus der untersten indi-
1823 (Blumenthai, S. 197) erhalten. Der Erst- schen Gesellschaftsschicht aufgeführt worden,
druck der Trilogie erfolgte, ohne den Gesamt- die allerdings deutlicher politisch und gesell-
titel, 1824 in Ueber Kunst und Alterthum (Bd. schaftskritisch ausgerichtet sind.
4, Heft 3, S. 1-11; Text in MA 13.1, S. 83-88).
1827 stellte G. sie in der Ausgabe letzter Hand Stilistisch gehört das Werk zu den gewagte-
in die wichtige Gruppe Lyrisches, zwischen sten, in der lakonischen Verknappung extrem-
die Ballade und die Trilogie der Leidenschaft. sten Texten des späten G. Artikel und (Hilfs-)
Paria 479

Zeitworte werden ausgespart, Antithesen di- »Wunder« zu glauben, wird mit der Legende
rekt nebeneinander gestellt (»Weisen Wollens, eingelöst. G. liebte bekanntlich diese generi-
wilden Handeins«; Legende, V. 97), Adjektive schen Titel und flankierte die Paria-Trilogie
aneinandergereiht und substantiviert, ein- mit der Ballade und der Marienbader Elegie
zelne Satzglieder komprimiert und der adver- aus der Trilogie der Leidenschaft.
biale Genitiv bevorzugt: »frohen Busens, / Rei- Die dem Umfang (145 Verse) und dem Ge-
ner Sitte, holden Wandeins« (Legende, V. 12f.) wicht nach freilich dominante, ihrer Funktion
sowie »Ernstester Gerechtigkeit« cv.4). Das in nach aber doch abhängige Legende greift den
der Legende fast zum Balladenton gesteigerte letzten Vers des Gebetes auf und präsentiert
Versmaß des vierhebigen Trochäus - nur in eine »Wunder«-Geschichte von der Frau des
den Rahmengedichten gereimt und in regel- sozial hochgestellten »Bramen<<. Das Zeichen
mäßigen Strophen - begegnete auch im Baja- ihrer reinen Seele, daß sie das Wasser zur
deren-Gedicht. Zunächst überraschend er- Kugel ballen kann (vgl. Lied und Gebilde aus
scheint, daß G. hier seine in den Divan-Noten, dem Divan), zerbricht durch göttliche Einmi-
wo er von den »jedem reinen Gefühle« ver- schung und zerstört die menschliche Ordnung
haßten »indischen Ungeheuern« spricht ryYA I, von Familie und Gesellschaft: In der tragi-
7, S. 43), in Briefen oder dem Zwölften Buch schen Doppeldeutigkeit, »schuldig, keiner
der Autobiographie geäußerten Vorbehalte ge- Schuld bewußt« cv. 49) - während Sonnerat
genüber dem vielgestaltigen indischen Götter- von »Lustbegierde« spricht -, bleibt ihr Inne-
himmel überwunden zu haben scheint. Indes- res schon hier »ein Geheimnis« cv.
145). Es
sen galten diese stets der indischen Kunst, wird von ihrem Mann zwar nicht mehr im
nicht der hochangesehenen Literatur, und zu- Zorn, wie in der Vorlage, sondern in seiner
dem begegnet auch hier - und damit ist die »ernstesten Gerechtigkeit« cv.4) dennoch als
Wahl konsequent - eine Monstrosität, die Zeichen der Schuld gelesen. In ebenso stum-
wohl nur im indischen Gewand formuliert mer wie gewaltsamer Übereilung tötet er sie.
werden konnte, auch wenn G. gegenüber den Im Sohn, der das vom Schwert rinnende Blut
Quellen deutliche Milderungen vorgenommen als Beweis der Unschuld deutet, ersteht neben
hat: So etwa, daß der Ehemann, nicht der der väterlichen Kulturordnung der Ehe (»Gat-
Sohn, die Frau (die Mutter) tötet. Auch daß tin«; V. 66) das liebende Verzeihen des Natur-
das Werk »mit Intention als Trilogie gedacht bezugs (»Mutter«; V. 67). Durch ihn wird die
und behandelt wurde«, wie Eckermann unter Brahmanin für ewig dem Leib einer - ver-
dem 1.12. 1831 berichtet, dient einer versöhn- brecherischen - Pariafrau verbunden, weil er
lichen Regie, indem die eigentliche Katastro- im liebevollen Übereilen den Kopf auf den
phe in die Mitte gestellt und durch einen Rah- falschen Rumpf setzt.
men ausgleichend umschlossen wird. G. äu- Im Mittelpunkt steht damit die widernatür-
ßerte sich zu dieser Form im selben Gespräch. liche Doppelgestalt des »Riesenbildes«, das als
aus dem Tod auferstandenes ewig ist und zwi-
Das »Gebet« des Paria wendet sich direkt an schen Himmel und Erde steht. Die Vermittlung
»Brama«, den höchsten Gott und WeItenschöp- zwischen dem Geringsten und dem Höchsten -
fer der hinduistischen Religion, und stellt der »ein furchtbares Drittes«, wie G. im Essay sagt
menschlichen, sozialen Hierarchie von Edlen ryYA I, 41.2, S. 102) -, zwischen Paria und
- »die Bramen [ ... ] die Rajas und die Reichen« Gott, ist ermöglicht durch das Opfer der be-
cv.4f.) - und Schlechten die gläubige Erwar- jammernswerten Gestalt. Sie kann im Wider-
tung eines göttlichen Ausgleichs entgegen, der streit von »weisem Wollen« als Erbe ihres
auch die sozial Geächteten als seine Kinder brahminisehen Anteils und »wildem Han-
anerkennt cv.2). Das »Gebet« mündet somit - deln«, dem Stigma des Paria-Körpers, nicht
analog zu Der Gott und die Bajadere - in den zur Ruhe kommen. Die frohe Botschaft, daß
Wunsch nach einem Zeichen der Verbindung für Brahma »keiner der Geringste« cv.125) ist,
mit dem Gott cv.
20). Die Bereitschaft, an ein sondern daß er alle hört, kann nur um den
480 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

Preis »durch alle Welten« verkündet werden, seligend einwirkt« (WA I, 41.2, S. 102). Auch
daß sich die Doppelnatur der grausenhaft Um- Kar! Eibl (S. 1047) handelt von der formulier-
gestalteten geheimnisvoll in sich selbst ver- ten »Vermittlung von Göttlichem und Gering-
schließt. Der Trost für die vielen ist mit dem stem«, Walter Dietze gar von der Einfügung
Schmerz des Einzelnen erkauft, die Verkündi- der »verallgemeinerten Paria-Problematik in
gung 01. 123) geschieht gleichsam auf dem das deutsche Humanismuskonzept des ,Rein-
Rücken des Verstummens. Das Göttliche zeigt menschlichen<<< (S.269). Von Vermittlung ist
sich hier, analog zum Motto des vierten Teils auch bei Emil Staiger die Rede (S. 219), von
von Dichtung und Wahrheit, »nicht sowohl mit Humanisierung schon bei Eduard Castle
dem Irdischen als [ ... ] mit dem Widergöttli- (S.356). Lieselotte Blumenthai wollte »die
chen in ewigem Kampf verstrickt« (Schaeder, neue Lehre von der Gleichheit aller Men-
S.149). schen« verkündet sehen (S. 199). Näher bei
Der Dank des Paria ist dann wieder als Rol- der im Werk G.s außergewöhnlichen Disparat-
lenlyrik, als Rückkehr zum Rahmen, zu lesen, heit des Textes waren Hans Heinrich Schaeder
nicht als authentische Antwort auf die Le- und Max Kommerell geblieben: »Die in sich
gende. Der Paria findet in der Wundererzäh- und mit der Gottheit Unversöhnliche wird den
lung das, was er gesucht hatte - die »Neu- Menschen Versöhnerin« (KoMMERELL, S.
begründung einer Berufungsinstanz« (Dietze, 427).
S. 312). Mit der Vorstellung von der durch den Eine Deutung, die nicht auf Vermittlung
Schmerz vergöttlichten Frau verharmlost er zielt, sondern die aporetische Unbegründet-
die qualvolle, endlose Zwietracht der Brahma- heit aller menschlichen Gerechtigkeit ins Zen-
nenfrau. Sie nennt sich selbst in der Legende trum rückt, hat Mathias Mayer vorgeschlagen:
an keiner Stelle eine Göttin, auch wenn sie als Die menschliche Gerechtigkeit des Brahminen
aus dem Tod Zurückgerufene unsterblich ist wäre demnach nicht von Gewalt unterscheid-
und >>Unter Göttern sein« wird 01. 98); aller- bar, wohl aber von der göttlichen Gerechtig-
dings sprechen sie der Dank des Paria und keit des Gewährenlassens abzusetzen, die
auch G. in seinem Aufsatz als Göttin an, wie es nach dem Wort des Markus-Evangeliums (Mk
auch in der Quelle bei Sonne rat der Fall war. 5,45) »über Gerechte und Ungerechte« regnen
Das Gedicht berührt sich auf allerdings wi- läßt (vgl. dazu G.s Wort über Gerechtigkeit im
derständische Weise mit der religiösen The- Gespräch mit Riemer 1810; Gespräche, Bd. 2,
matik des Alterswerks (Divan, Wanderjahre, S. 563). Mit der Verführung 'von oben< wider-
Faust 11), indem es ein ambivalentes Götter- spricht sie allerdings der christlichen Gnaden-
bild entwirft, das ebenso eine Verführung 'von vorstellung, so daß G.s Gedicht hier zwischen
oben< unternehmen wie auch dem Geringsten beiden Möglichkeiten ein nicht harmonisier-
in seiner Not Gehör schenken kann. Die Entsa- bares furchtbares Drittes aufzeigt.
gungsvorsteIlung der Wanderjahre wird hier Literarisch haben Rudolf Borchardt (Der
im Hinblick weniger auf die Gemeinschaft als unwürdige Liebhaber) und Thomas Mann (Die
auf den zur Entsagung gezwungenen Einzel- vertauschten Köpfe) G.s Paria-Trilogie fortge-
nen problematisiert; damit verliert auch das schrieben.
Pathos der Auswanderung viel von seiner be-
freienden Wirkung 01. 121 der Legende).
Mit dem Hinweis auf die anderen Vermitt- Literatur:
lergestalten G.s - etwa Makarie in den TfGn- Blumenthai, Lieselotte: Goethes Paria. In: Goe-
derjahren - ist die Paria-Trilogie oft im An- theJbWien. 81/83 (1977-1979), S.185-200. -
schluß an G.s Selbstdeutung interpretiert wor- Castle, Eduard: Die drei Paria. In: ders.: In Goethes
den. Der Aufsatz Die drei Paria spricht davon, Geist. Wien 1926, S. 351-368. - Dietze, Walter: Poe-
sie der Humanität. Anspruch und Leistung im lyri-
daß hier »das Höchste, dem Niedrigsten einge- schen Werk Goethes. Berlin 1985, S.267-314,
impft, ein furchtbares Drittes darstellt, das je- S. 471-487. - Eibl, Komm. in FA I, 2, S. 1043-1049.-
doch zu Vermittelung und Ausgleichung be- KOMMERELL, S. 417-429. - Mayer, Mathias: 'Opfer
Trilogie der Leidenschaft 481

waltender Gerechtigkeit<. Goethes Paria-Trilogie in einen roten Lederumschlag geheftet und in


(mit einem Exkurs zu Thomas Mann). In: SchillerJb. eine mit blauem Papier überzogene Mappe mit
XXXIX (1995), S. 146-161. - Schaeder, Hans Hein-
dem Titel »Elegie. September 1823« gelegt
rich: Goethes Erlebnis des Ostens. Leipzig 1938,
S. 139-155. - STAIGER, Bd. 3, S. 214-220. wurde (H155 im GSA; Faksimile bei Suphan).
In dieser Form durften G.s engste Vertraute,
Mathias Mayer Carl Friedrich Zelter, Wilhelm von Humboldt
und Johann Peter Eckermann, das Gedicht zu-
erst lesen. Die Strophe 14 bis Vers 83: »Wir
heißen's: fromm seyn!« ließ G. 1825 in Ueber
Kunst und Alterthum (V, 2), das vollständige
Gedicht erst 1827 in der Ausgabe letzter Hand
(Bd. 3, S.24-29) drucken. Die Überlieferung
mit den Faksimiles aller Handschriften der
Trilogie der Leidenschaft Elegie findet sich bei MichellBehrens (1983);
das Faksimile der Urschrift mit dem Parallel-
druck der ersten vollständigen Niederschrift
Unter diesem Titel hat G. 1827 im Bd. 3 der (HI52) und der Reinschrift (HI55) bei Behrensl
Ausgabe letzter Hand erstmals drei Gedichte Michel (1991). Nach dieser Ausgabe wird die
zusammengefaßt, die zu unterschiedlichen Reinschrift des Gedichts im folgenden zitiert,
Zeitpunkten und aus verschiedenen Anlässen da sie deren Wortlaut diplomatisch getreu wie-
in den Jahren 1823 und 1824 entstanden wa- dergibt, während die neueren Ausgaben (FA I,
ren. Das erste, An Werther, wurde im März 2, S.457-462 u. MA 13.1, S.135-139) ihn in
1824 auf Anregung des Verlegers Christian leicht modernisierter Form abdrucken.
Friedrich Weygand in Leipzig als Einleitung zu Das letzte Gedicht der Trilogie, das als er-
einer Jubiläumsausgabe des Werther verfaßt, stes noch in Marienbad zwischen dem 16. und
die dieser 50 Jahre nach der von ihm verlegten 18.8. 1823 entstanden war, wurde von G. am
Erstausgabe des Romans veranstaltete, und zu- 18. August in einer französischen Fassung in
erst ohne Überschrift in der Neuen Ausgabe das Album der Petersburger Hofpianistin Ma-
der Leiden des jungen Werther, von dem Dich- rie Szymanowska eingetragen (französischer
ter selbst eingeleitet, Leipzig 1825 publiziert. Text in FA I, 2, S. 1152). Unter dem Titel Aus-
Den Mittelteil der Trilogie mit dem generi- söhnung, unter dem es dann in deutschspra-
schen Titel Elegie schrieb G. zwischen dem 5. chiger Wortgestalt seinen Platz als Ausklang
und 12.9. 1823 auf der Rückfahrt von Karlsbad der großen Liebesklage fand, erfolgte der
nach Jena in der Reisekutsche. Die erste frag- Erstdruck in der Ausgabe letzter Hand (Bd. 3,
mentarische Niederschrift in einem Exemplar S.30; ein zweites Mal unter dem Titel An
des Grosherz. Weimarischen Schreib-Calen- Madame Marie Szymanwoska in Bd. 4,
ders für das Jahr 1822 ist erhalten und be- S. 122). Sowohl An Werther wie Aussöhnung
findet sich seit 1980 im Freien Deutschen werden im folgenden zitiert nach der Frank-
Hochstift, Frankfurt (Hs. 20195). Die ebenfalls furter Ausgabe, deren Textwiedergabe auf ei-
noch während der Reise angefertigte erste nem kritischen Vergleich der drei für die Text-
vollständige Niederschrift, in der jedoch Titel herstellung relevanten Drucke der Ausgabe
und Motto noch fehlen, befindet sich seit 1980 letzter Hand (CI, C2a, 0) beruht, wobei die für
größtenteils in der Autographensammlung des die Textwiedergabe der Frankfurter Ausgabe
Stadtarchivs Hannover (Sammlung Cule- konstitutive »orthographische Modernisie-
mann), ein Einzelblatt daraus im GSA (HI52; rung« (FA I, 1, S. 741) mangels einer Alterna-
Sigle nach WA I, 3, S. 381). Unmittelbar nach tive in Kauf genommen werden muß.
seiner Ankunft in Weimar fertigte G. zwischen
dem 17. und 19. September eine Reinschrift Das Gedicht An Werther beginnt mit der An-
auf besonders schönem Schreibpapier an, die rede an die fiktionale Figur des Romanhelden
482 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

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Trilogie der Leidenschaft 483

als »Schatten«. Die homerische Bezeichnung sich dadurch »zu einem neuen Leben berech-
für die Bewohner der Unterwelt schlägt leit- tigt«, während seine Freunde den Roman miß-
motivisch den Grundton des folgenden an. Das verstehen und sich deshalb das Leben nehmen
Gedicht erweist sich als Totenbeschwörung, (FA I, 14, S. 639). Die produktive Bewältigung
wobei der fiktive Tote des frühen Romans und des vom Tode bedrohten Lebens durch die
das lyrische Ich des Jahres 1823 einander im Dichtung, dieses Programm, auf das er sein
Laufe des Textes immer näher kommen, so daß Wirken als Autor lebenslang ausgerichtet
am Ende jeder Unterschied zwischen ihnen hatte, schreibt G. seiner Dichtung am Ende
aufgehoben scheint. Damit wird zugleich die des Einleitungsgedichts der Trilogie erneut als
Differenz zwischen dem frühen Tod des Ro- Aufgabe vor.
manhelden und dem langen Leben des Autors
eingeebnet: »Zum Bleiben ich, zum Scheiden Damit ist die Ziel richtung des zweiten Ge-
du, erkoren, / Gingst du voran - und hast nicht dichts, der Elegie, von vornherein festgelegt.
viel verloren«, lauten die Schlußzeilen der er- Ihr Anlaß ist die endgültige Trennung G.s von
sten Strophe (V. 9f.). Ulrike von Levetzow, mit der ihn in Marienbad
Mit dem Begriff des »Scheidens« ist das zen- und dann in Karlsbad ein Liebesverhältnis ver-
trale Motiv benannt, in dem Leben und Ster- bunden hatte. Doch der dichterische Text geht
ben ununterscheidbar eins werden. Präludiert über dieses biographische Faktum, das die
in dem Kompositum »Scheidesonne« (V. 8), in meisten Interpreten zur Grundlage ihrer Aus-
dem die Sehnsucht nach Leben und das Wis- legung machen, weit hinaus. Er unternimmt
sen um die Unvermeidbarkeit des Untergangs ein letztes Mal den Versuch, angesichts des
eine paradoxe Einheit eingegangen sind, wird Abschieds von der Geliebten den lebensge-
das Leben Werthers wie das des Autors als schichtlichen Verlust poetisch zu kompensie-
eine einzige Folge von Abschiedsszenen inter- ren. Doch was seit dem Werther immer wieder
pretiert, wobei auf jedes Wiedersehen »das gelungen war, scheitert im Alter tragisch. Das
Scheiden« folgt (V. 35), so daß schließlich der zeigt sich schon an dem der Reinschrift erst-
Verlust des geliebten Menschen als einzige malig vorangestellten Motto aus dem Tasso:
Konstante in den Wechselfällen des Lebens »Und wenn der Mensch in seiner Quaal ver-
erscheint; denn »tückisch harrt das Lebewohl stummt / Gab mir ein Gott zu sagen was ich
zuletzt« (V. 38). Die Schlußstrophe legt offen, leide«. Die Veränderung, die aus dem »wie ich
was sich hinter dieser Lebenserfahrung des leide [Hv. v. Vf.]« des Dramas ein »was ich
alten G. verbirgt: »Und wir verschlungen wie- leide [Hv. v. Vf.]« macht, weist auf das para-
derholter Not, / Dem Scheiden endlich - doxe Ergebnis des Großgedichts voraus. Dich-
Scheiden ist derTod!« (V. 45f.). So kündigt der tung bewährt sich nicht mehr als Bewältigung
Abschied von der Geliebten den Tod nicht nur des Leidens. Der Dichter rettet sich nicht
an, er »ist« der Tod selber. Am Ende des Ge- mehr dadurch, daß er ausspricht, wie er leidet,
dichts erscheint das Leben so in eine Abfolge sondern dem Dichter selbst steht jetzt das
von Todesmomenten verwandelt. Ende des Lebens vor Augen. Die Elegie sagt,
In den letzten Zeilen des Textes wird diese was er leidet: den Tod.
existentielle Erfahrung im Rückgriff auf den Die erste Strophe, die, wie an der Urschrift
Werther poetologisch reflektiert: »Wie klingt ablesbar, vor den anderen entstanden ist und
es rührend wenn der Dichter singt, / Den Tod von G. in der Reinschrift durch einen ge-
zu meiden, den das Scheiden bringt!« (V. 47f.). schweiften Strich von den übrigen Strophen
Das hat G. mit dem Werther, wie er in Dichtung getrennt wurde, eröffnet die Alternative, unter
und Wahrheit bekennt, programmatisch rea- der das Liebeserlebnis im nachfolgenden
lisiert. Indem er das tödliche Liebeserlebnis in dichterischen Text gesehen wird: »Das Para-
einen fiktionalen Text einbringt und damit dies, die Hölle steht dir offen« (V. 3). Schon
»die Wirklichkeit in Poesie verwandelt«, rettet hier macht G. unmißverständlich deutlich, daß
er sich aus der tödlichen Bedrohung und sieht sein Text nicht die poetische Evokation eines
484 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

realen Liebeserlebnisses ist, sondern vielmehr Wolkenbildern gegenüber der wissenschaftli-


die verschiedenen Möglichkeiten literarischen chen Klassifikation der Wolkenerscheinungen
Schreibens durchbuchstabieren und auf die durch Luke Howard abgewertet. Hier wird es
Probe stellen soll. Als unübersehbares Zeichen als exemplarische Methode der symbolischen
hierfür wird im Text der ersten Strophe die Naturdichtung vorgeführt und zugleich als
Geliebte als abgeschiedene eingeführt. Heißt leere Phantastik abgetan. So kommt der Ver-
es doch von ihr: »Sie tritt an's Himmelsthor« such, die Geliebte in symbolischen Naturbil-
(Y. 5). Die Geliebte als Tote, nicht die neun- dern zu beschreiben, ebenfalls nicht ans Ziel.
zehnjährige Ulrike von Levetzow erweist sich Wieder findet der Schreibende sich auf sich
so von Anfang an als der eigentliche Gegen- selbst zurückgeworfen: »In's Herz zurück!« er-
stand des dichterischen Textes. mahnt er sich (Y. 45) und fuhrt damit den Be-
In diesem Sinne ist die Elegie schon an ih- griff ein, der seit dem Stunn und Drang als das
rem Beginn poetologisch. In ihrem weiteren produktive Zentrum aller dichterischen Tätig-
Verlauf reflektiert sie die verschiedenen Modi, keit gilt.
unter denen dichterisches Schreiben möglich Nachdem die symbolische Repräsentation
ist. In den Strophen zwei bis fünf vollzieht es der Geliebten in der Natur gescheitert ist, be-
sich als Neuinterpretation des biblischen My- sinnt der Dichter sich auf die eigene Innerlich-
thos vom Leben des ersten Menschenpaares keit. Doch während in der frühen Lyrik das
im Paradies. Die scheinbar stetig wiederkeh- Herz als autonomer Ursprung der dichteri-
rende selige Zeit kommt jedoch dadurch ab- schen Schöpferkraft figuriert - »Hast du's
rupt an ihr Ende, daß das lyrische Ich aus dem nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend
Paradies vertrieben und auf sich selbst zurück- Herz«, heißt es bezeichnenderweise in der
geworfen wird. »Mismuth, Reue, Vorwurf, Prometheus-Hymne (FA I, 1, S. 204) -, er-
Sorgenschweere« sind die Folgen (Y. 29). scheint es jetzt als reine Matrix, in die »das
In den Strophen sechs und sieben unter- Bild der Lieben, / Mit FlammenSchrift [ ... ]
nimmt G. einen neuen Versuch der dichte- geschrieben« (Y. 53f.) wird. Der Gegensatz
rischen Vergegenwärtigung der Geliebten. zwischen dem frühen und dem späten Gedicht
Eingeleitet durch die rhetorische Frage: »Ist verdeutlicht den radikalen Umschwung in G.s
denn die Welt nicht übrig?« (Y. 31), evoziert Auffassung von der Dichtung. Sie wird nicht
der Text Natur und Landschaft als göttlichen mehr als geniale creatio ex nihilo verstanden,
Kosmos, als deren Teil das Bild der Geliebten sondern als »Schrift«, mit der der Dichter sich
beschworen wird. Damit wird der genaueste die eigene Individualität erschreibt. Doch
Vollzug symbolischen Denkens vorgeführt. schon das Bild, mit dem das in der Erinnerung
Das großartige, von der Knappheit und Ab- sich selbst »bewahrende« Ich als »zinnen hohe
straktionskraft der G.schen Altersdiktion ge- Mauer« charakterisiert wird (Y. 55), verrät den
prägte Bild, das den Himmel als Zeichen einer Rückzugscharakter dieser Position. Wie auch
überirdischen Macht feiert: »Und wölbt sich das auff<illige Kompositum »FlammenSchrift«
nicht das überweltlich Grosse, / Gestaltet bald als Menetekel zu lesen ist, in dem einerseits
und bald gestaltenlose« (Y. 35f.), ist zugleich das Schmerzhafte des Schreibvorgangs, ande-
Hinweis auf den Gestaltwandel der Geliebten, rerseits seine Vergeblichkeit zum Ausdruck
die in der nächsten Strophe im Bild der Wolke kommen. Schon 1807 hatte G. es im XVI. So-
als »schlanck Gebild aus lichtem Duft« er- nett auf Petrarcas Liebe zu Laura bezogen, die
scheint (Y. 40). Aber diese Evokation, die auch am Karfreitag begann und »leider unbelohnt
die konkrete Erinnerung an die Geliebte als und gar zu traurig« endete (FA 1,2, S. 259). So
Tänzerin miteinschließt, wird von vornherein scheitert auch hier die Bemühung des Autors,
als Trugbild der Phantasie entlarvt. Schon in die Erinnerung an die Liebe dem eigenen In-
seinem Gedicht Howard's Ehrengedächtnis nern einzuschreiben, weshalb er sich schließ-
(1820/21) hatte G. das »poetische« Verfahren lich »im wüsten Raum beklommner Herzens-
des Herauslesens konkreter Gestalten aus den leere« wiederfindet (Y. 70).
Trilogie der Leidenschaft 485

In einem letzten, äußersten Versuch der Schrift, des Paulus-Briefs an die Philipper (4,
dichterischen Vergegenwärtigung bietet der 7), erscheinen. Mit diesem Verweis auf den
Autor schließlich die Sprache der religiösen Ursprung des metaphysischen Gehalts der
Mystik auf, wobei er die Geliebte als Sonne Dichtung ist zugleich deren subjektiver Cha-
erscheinen läßt. So weitet sich die Elegie an rakter gesetzt: »vergleich ich [Hv. v. Vf.] wohl«,
ihrem Höhepunkt zum kosmischen Weltge- schreibt G., damit die Kontingenz und Belie-
dicht. Der Vergleich der Geliebten mit der bigkeit neuzeitlicher Liebeslyrik betonend.
Sonne enthält zudem einen Hinweis darauf, Deshalb auch muß die Erscheinung der Ge-
daß sich das große Altersgedicht insgeheim liebten, die in der sechzehnten Strophe mit
auf einen der kanonischen Texte der abend- einer persönlichen Anrede an den Dichter ein-
ländischen Dichtungstradition, auf Dantes Di- geführt wird, von vornherein als fiktionales
vina Commedia, bezieht, deren Dichter von Geschehen charakterisiert werden: »Es ist als
sich sagt: »Ich bin ein Mensch, der immer,! wenn [Hv. v. Vf.] Sie sagte« (V. 91). In ihrer
wenn Liebe ihn behaucht, es wohl bemerket, ! Rede übernimmt die Geliebte G.s Lebensma-
Und wie sie in mir spricht, so muß ich's sagen« xime, den gelebten Augenblick zu nutzen:
(Purg. 24, 52ff.) und der von Beatrice, seiner »Drum thu wie Ich und schaue, froh verstän-
Geliebten, die dem Licht der aufgehenden dig,! Dem Augenblick in's Auge!« (V. 97f.),
Sonne verglichen wird (Purg. 30), vom irdi- lautet ihr Ratschlag an den Geliebten. Inhalt
schen Paradies zur Anschauung Gottes geführt und Form des gesprochenen Wortes stimmen
wird. Diese Transformation der irdischen in hier aufs genaueste überein. Die Gegenwart
himmlische Liebe ist es, die seit dem späten der Sprecherin ist an die mündliche Rede ge-
Mittelalter die Intensität der poetischen Lie- bunden, in der »die Gunst des Augenblickes«
besäußerung verbürgt. G. bedient sich dieses als die einzig menschenwürdige Daseinsform
traditionellen Topos, wenn er die Bindung an gepriesen wird (V. 104). Damit aber ist der
die Geliebte als Religion deutet: »Wir heis- Widerspruch zum Tun des Dichters, dessen
sens's: fromm seyn!« (V. 83). Schreiben die Abwesenheit der Geliebten vor-
Der Anspruch, in der großen Tradition der aussetzt, in seiner extremen Form offengelegt:
abendländischen Liebesdichtung zu stehen, Die Unmittelbarkeit der Oralität, fiktional ver-
hat auch in der Form der Elegie ihren Nieder- gegenwärtigt, erweist sich als der absolute Ge-
schlag gefunden. Die Versform des jambischen genpol zum schriftlichen Text des Gedichts,
Elfsilblers, in der schon Dante seine Dichtung das aus der Distanz zum gelebten Leben her-
abgefaßt hatte, garantiert G.s Dichtung den vorgeht.
hohen Ton, der der Liebesklage angemessen So kann die Elegie, beginnend mit dem Aus-
ist. Allerdings treten bei ihm die Stanzen nicht ruf: »Nun bin ich fern!« (V. 109) in ihren
in der kanonischen Form der achtzeiligen Schluß strophen nur das Scheitern der vermit-
Strophe auf, sondern sind auf jeweils sechs telten Unmittelbarkeit und damit zugleich das
Verse pro Strophe verkürzt. Scheitern der verschiedenen Versuche, das
Die Gültigkeit des mystischen Gehalts der Bild der Geliebten zu beschwören, konstatie-
Dichtung, wie sie sich in diesen mittleren ren. Daher ist der Kampf zwischen Leben und
Strophen manifestiert, wird von G. von Anfang Tod, der im Gedicht unterschwellig in dem
an in doppelter Weise eingeschränkt. »Dem Bemühen, das Bild der abwesenden Geliebten
Frieden Gottes, welcher euch hienieden! zu vergegenwärtigen, ausgefochten wurde, in
Mehr als Vernunft beseliget - wir lesen's -! die Person des Autors selbst verlegt: »Schon
Vergleich ich wohl der Liebe heitern Frieden« rasst's und reisst in meiner Brust gewaltsam,!
(V. 73ff.). Dieser Beginn der »mystischen« Wo Tod und Leben grausend sich bekämpfen«
Strophen dreizehn und vierzehn der Elegie (V. 117f.). Ganz und gar unzureichend ist die
läßt die »Seligkeit« der Liebe als Ergebnis von Deutung mancher Kommentatoren, die in die-
Lektüre, das Gedicht selbst als kommentie- sen Versen einen Hinweis auf G.s Erkrankun-
rende Weiterschreibung einer kanonischen gen im Februar und im November 1823 sehen
486 Das lyrische Spätwerk. 1819-1852

wollen (so Eibl, Komm. in FA I, 2, S. 1055). geschichte des Dichters, wobei diese säkulare
Weiter führt da schon die Einsicht, daß diese Passion wie die christliche im Wort der völli-
Verse eine Kontrafaktur einer der ältesten und gen Verlassenheit und Verzweiflung endet: Die
bekanntesten Hymnen der Christenheit dar- Götter »richten mich zu Grunde« (V 138).
stellen, der von Wigo von Burgund stammen-
den Sequenz der Ostennesse, in der es heißt: Mit Aussöhnung, dem Schlußgedicht der Tri-
»Mors et vita duello conflixere mirando: dux logie, sucht G. die radikale Negativität ihres
vitae mortuus, regnat vivus«. Bei G. geht aus Mittelteils in einem versöhnlichen Ausklang
diesem »wunderlichen Kampf« der Dichter aufzuheben. Obwohl als erstes geschrieben,
nicht wie Christus siegreich als Fürst des Le- werden in diesem Gedicht die Zusammenbrü-
bens hervor, er ist vielmehr der Herrscher des che und Leidensgeschichten, welche die bei-
Todes, seine Wiederholungen - »er wiederholt den später entstandenen bestimmen, in vielfa-
Ihr Bild zu tausend malen« (V 122) - sind nicht cher Weise vorausgesetzt. Dieser Zusammen-
in der Lage, die mythische Todesverfallenheit hang der drei Texte, deren erster durch einen
zu durchbrechen, die sich im »Scheiden« ma- Zeitraum von acht Monaten von dem letzten
nifestiert. So muß das Resümee, mit dem der getrennt ist, läßt andeutungsweise die Homo-
Autor seine verschiedenen Versuche, das Bild genität und innere Folgerichtigkeit von G.s
der Geliebten zu beschwören, quittiert: »Wie dichterischer Weitsicht erahnen.
könnte dies geringstem Troste frommen?« So resümiert die erste Strophe der Aussöh-
(V 125), auch als Negativurteil über das dich- nung noch einmal den in der Elegie darge-
terische Schreiben insgesamt gelesen werden. stellten Verlust, den das »Herz« erleidet und
Folgerichtig können die letzten beiden Stro- den die im geschriebenen Wort evozierte Erin-
phen, die vom Vorhergehenden wiederum nerung nicht kompensieren kann. Statt dessen
durch einen geschweiften Strich abgesetzt wird in der zweiten Strophe eine andere Spra-
sind, nur feststellen, daß Natur und Kunst an- che, die der »Töne« und der »Tränen«, einge-
gesichts der Endlichkeit des Lebens machtlos führt. Beide sind Fonnen des Ausdrucks der
sind. Programmatisch beginnt der Schlußteil Sehnsucht nach dem Leben, die jenseits der
der Elegie mit der Aufforderung: »Verlasst gesprochenen oder geschriebenen Worte lie-
mich hier, getreue Weggenossen!« (V 127). gen. Schon seit der »rührenden Komödie«
Durch das Scheitern der Erinnerung im Christian Fürchtegott Gellerts, erst recht aber
Schreiben wird der Autor auf sich selbst zu- seit dem ersten bürgerlichen Trauerspiel, Les-
rückgeworfen. Zugleich versinken ihm Natur sings Miss Sara Sampson, ist die Sprache der
und Gesellschaft in Bedeutungslosigkeit, wo- Tränen Ausdruck der wortlosen Kommunika-
durch auch die eigene Identität zerstört wird. tion empfindsamer Seelen. Andererseits hat
Diesen Befund fonnuliert auf das genaueste G. selbst in einem Brief an Zelter aus Marien-
die Anfangszeile der Schlußstrophe : »Mir ist bad im Hinblick auf die Konzerte der Szyma-
das All, ich bin mir selbst verlohren« (V 133). nowska von der »ungeheuren Gewalt der Mu-
Nirgendwo sonst in der deutschen Literatur ist sik« gesprochen, die ihn befähigt habe, »die
die Gefährdung des produktiven Subjekts, das ganze Fülle der schönsten Offenbarung Got-
im Mittelpunkt der kulturellen Identitätsbil- tes« in sich aufzunehmen (24.8. 1823). Hier
dung der G .-Zeit steht, nirgendwo ist sein nun wird der »Götter-Wert der Töne wie der
Weltverlust präziser und dramatischer in Tränen« als Gegenbild zu der dem Tode ver-
Worte gefaßt worden als in diesem Vers. Die fallenen Welt des geschriebenen Wortes be-
Verwandlung des Lebens in Poesie hat sich als schworen (V 12).
unmöglich erwiesen, weil es immer schon der Im Kontext der Trilogie ist Aussöhnung
Tod ist, der in der Dichtung vorherrscht. So demnach als Gegenentwurf auf die Elegie be-
erweist sich die Elegie als Widerruf des Glau- zogen. Das läßt sich schon daran ablesen, daß
bens an die welt- und identitätsstiftende das Gedicht dieselbe sechszeilige Stanzenstro-
Macht der Dichtung und zugleich als Leidens- phe aufweist wie die Elegie. Aber auch inhalt-
Trilogie der Leidenschaft 487

lieh sind die Bezüge außerordentlich eng. War Karte setzt, und suchte sie ohne Übertreibung
in An Werther der Mensch »verschlungen wie- so hoch zu steigern als möglich«.
derholter Not« (V. 45) und hatte die Elegie »ein Diese Äußerung ist in ihrer bewußten
herrliches Geflecht verschlungner Minnen« Falschaussage selbst wieder interpretationsbe-
gefeiert (V. 20), so wird nun von der Musik dürftig. Offenbar kommt es G. darauf an, das
gesagt, daß sie »verflicht zu Millionen Tön' um Gedicht als unmittelbaren Niederschlag einer
Töne« (V. 8). Die Strukturgleichheit von Lei- leidenschaftlichen Liebesaffäre erscheinen zu
den, Liebe und Musik führt die in den ersten lassen. Deshalb die Verzerrung der Entste-
beiden Texten aufgetretenen Aporien schein- hungsgeschichte, die erst seit der Wiederent-
bar einer Lösung zu. So kann Aussöhnung in deckung der Urschrift berichtigt werden
seiner dritten Strophe mit der utopischen Vor- konnte. Am Schluß jedoch läßt der rätselhafte
stellung von sprachloser Kommunikation und Vergleich mit dem Spieler die Wahrheit durch-
»ewig« dauernder Liebe enden, die durch die scheinen. In der Tat hat G. in der Elegie auf die
vorhergehenden Gedichte schon von Anfang »Gegenwart« gesetzt, indem er die Geliebte im
an als leerer Wunschtraum entlarvt ist. Daß geschriebenen Text zu vergegenwartIgen
auch G. dies gewußt hat, beweist die Schluß- sucht. Zugleich aber hat er wie ein Hasardeur
apotheose, in der Musik und Liebe gemeinsam alles auf eine Karte gesetzt und damit - was er
verherrlicht werden. Sie ist seltsam unpersön- natürlich nicht explizit sagt - alles verloren.
lich formuliert: »Dafohlte sich [Hv. v. Vf.] - 0 Die Interpreten und Kommentatoren haben
daß es ewig bliebe! - / Das Doppel-Glück der diese Sätze, ohne sie wirklich zu verstehen,
Töne wie der Liebe« (V. 17 f.). Indem G. die immer wieder zitiert (vgl. Trunz, Komm. in
Musik, die nach einem Wort Thomas Manns HA 1, S. 585 u. Kraft, S. 218f.) und aus ihnen
die »Zweideutigkeit als System« darstellt, zum die romantische Legende vom letzten, tragi-
rettenden Äquivalent der Liebe stilisiert, schen Liebeserlebnis des alten G. gesponnen.
macht er unbewußt die abgründige Ambiva- In ihrer kanonischen Form findet sie sich bei
lenz um so deutlicher, deren Stigma die im Friedrich Gundolf, für den G. »unentrinnbar
dichterischen Text geschriebene Liebeserin- von ihr [Ulrikej d. Vf.] besessen« ist, so daß
nerung trägt. die Elegie zum Ausdruck »der zerrüttenden
Liebesleidenschaft schlechthin« wird (S. 708
Die Rezeption der Trilogie hat sich von vorn- u. S. 712). Erich Heller konstatiert knapp und
herein auf eine biographische Auslegung der bündig: »Die Elegie atmet in der reinsten Hö-
Elegie konzentriert. Diese Festlegung des Tex- henluft der romantischen Liebesmythologie«
tes auf einen seiner vordergründigen Aspekte (S. 113), und noch 1990 charakterisiert Erich
ist von G. selbst bewußt gesteuert worden, um Trunz das Gedicht folgendermaßen: »Es ist der
von ihrem eigentlichen Gehalt abzulenken. seelische Zustand nach der Trennung. Wie
Eckermann gegenüber erläuterte er am 16.11. Wellen und Wellentäler folgen Leidenschaft
1823, als er ihm die Elegie zum zweiten Mal zu und Versuche, durch Vernunft und tröstliche
lesen gab: »Sie sehen das Produkt eines höchst Gedanken ihrer Herr zu werden. Leiden-
leidenschaftlichen Zustandes [ ... ] als ich schaft, Betrachtung, Rückblick und wieder
darin befangen war, hätte ich ihn um alles in Leidenschaft« (Trunz 1990, S. 152).
der Welt nicht entbehren mögen, und jetzt Gegen diesen den Philologen von G. selbst
möchte ich um keinen Preis wieder hinein- in den Mund gelegten tragischen Liebesroman
geraten. [ ... ] Morgens acht Uhr auf der ersten sprechen schon die autobiographischen Äuße-
Station schrieb ich die erste Strophe und so rungen aus der Zeit selbst. Dem Tagebuch ist
dichtete ich im Wagen fort und schrieb von zu entnehmen, daß G. in der Zeit vom 11.7. bis
Station zu Station das im Gedächtnis Gefaßte 17.8. 1823, in der er in Marienbad nicht nur
nieder, so daß es Abends fertig auf dem Pa- mit Amalie von Levetzow und ihren drei Töch-
piere stand. [ ... ] Ich setzte auf die Gegenwart, tern, sondern auch mit dem Großherzog und
so wie man eine bedeutende Summe auf eine seiner Entourage, dem König von Holland, der
488 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

Pianistin Szymanowska und anderen zusam- terisiert und damit die Formulierung der Ele-
men lebte, das Leben als unbeschwertes Fest gie vom ))Geflecht verschlungener Minnen«
erfahren hat, in dem mondäne Gesellschaften, (V. 20) vorweggenommen: ))Soviel also zuerst:
Bälle, »kleine Spiele und Tanz« die Zeit aus- daß ich die kurzvergangene Zeit in Marienbad
füllten (Tagebuch, 17.7., 18.7., 20.7., 24.7., ohne Unbilden ja heiter und wie ins Leben
25.7.,26.7.,27.7.,28.7.,50.7.,5.8.1825). Am zurückkehrend zugebracht habe, auch mich
24.7. 1825 »vermeldet« er an Zelter, »daß es jetzt so wohl befinde als ich mich lange Zeit
mir besonders wohl geht [ ... ] Der Großherzog nicht gefühlt [ ... ] Mich von allen solchen [po-
wohnt in der Mitte und glücklicherweise ist litischen; d. Vf.] wie von ästhetischen Gesprä-
die ganze Nachbarschaft von schönen Frauen chen und Vorlesungen zu befreien hatte ich
und verständigen Männern eingenommen«. mich auf sechs Wochen einem sehr hübschen
Anders die Zeit vom 25.8. bis 5.9. 1825, die G. Kinde in Dienst gegeben, da ich denn vor allen
zurückgezogen, gleichsam en famille, mit den äußern Unbilden völlig gesichert war« (an Zel-
Levetzows zubringt. Familienintimität und ter, 24.8. 1825).
elegische Stimmung herrschen vor: »Unter uns Wohl aber hat er die Abreise aus Marienbad
Geschichten der Marienbader Verhältnisse« als den endgültigen Abschied von einem unbe-
oder: »Nachts zusammen. Die jüngeren zeitig schwerten, festlichen Leben verstanden. Wil-
zu Bette. Blieb mit Frau von Levetzow und helm von Humboldt, dem G. als einem der
Ulricken in vielfachen Erinnerungen«, heißt es ersten die Elegie anvertraute, hat das schon
nun im Tagebuch (29.8. u. 51.8. 1825). Aber richtig gesehen und nach der Lektüre an seine
auch jetzt berichtet er nach Weimar anläßlich Frau geschrieben: ))Es ist mir sehr klar ge-
seiner Geburtstagsfeier mit den Levetzows, worden, daß Goethe noch sehr mit den Ma-
»daß der Vater in das neue Jahr hinüber tanzen rienbader Bildern beschäftigt ist, allein mehr,
mußte. Gern gesteh ich, daß ich mich solchen wie ich ihn kenne, mit der Stimmung, die da-
Wohlbefindens an Leib und Geist lange nicht durch in ihm aufgegangen ist, und mit der
erfreute, und wünsche nur diese thätige Hei- Poesie, mit der er sie umsponnen hat, als mit
terkeit mit zu euch zu bringen« (an August von dem Gegenstand selbst. Was man also vom
G., 50.8. 1825). Heiraten und selbst von Verliebtheit sagt, ist
Dieser Wunsch ist in der Tat auch nach dem teils ganz falsch, teils auf die rechte Weise zu
»allgemeinen, etwas tumultuarischen Ab- verstehen« (19.11. 1825).
schied« aus Karlsbad in Erfüllung gegangen Ins Poetologische übertragen, hat die bio-
(Tagebuch, 5.9. 1825). Noch von der Reise graphistische Fehldeutung noch weitere
meldet er an Amalie von Levetzow: »Alle Kreise gezogen. So wird die Ausnahmestel-
Leute berufen mich über meine Gesunde Hei- lung der Elegie von den meisten Interpreten
terkeit« (9.9. 1825) und an earl Friedrich damit begründet, daß in ihr jugendliche Lie-
Reinhard schreibt er am 14.9. 1825, also nach besglut und Weisheitsformeln des Alters eine
Vollendung der Elegie, aus Jena: »Sie finden einzigartige Synthese eingegangen seien. Als
mich ganz frey und nach einer glücklichen Kur erster hat Georg Simmel in seinem G.-Buch
heiter und thätig«. Von einer tragischen, le- von 1915 diese Wertung vorgetragen: ))Das Er-
benszerrüttenden Leidenschaft lassen sich in schütternde der Elegie, das ihr eine vielleicht
den unmittelbaren Lebenszeugnissen nir- einzige Stellung in der Weltliteratur gibt, ist
gendwo Spuren auffinden. Es wird wohl eher dies: daß ein ganz unmittelbares, in voller Le-
so gewesen sein, wie Friedrich Sengle nüch- bendigkeit strömendes Fühlen sich ausdrük-
tern das Verhältnis G.s zu Ulrike deutet: als ken will und dafür nur die erstarrten, resultat-
))Minnedienst«, den der Herzog aus Eigenin- haften, sentenziösen Formen vorfindet, die
teresse und in seiner impulsiven Art mit einem aus einem ganzen langen Leben auskristalli-
))Heiratsangebot« umfunktioniert habe (S. siert sind« (S. 208). Bis in die Formulierung
467 ff.). G. hat es selber seinem vertrauten hinein ähnliche Wertungen finden sich bei
Freund Zelter gegenüber ganz ähnlich charak- Gundolf (S.711), Kommerell (S.156f.) und
Trilogie der Leidenschaft 489

Staiger (Bd. 3, S. 122). Erich Heller faßt der in seiner eindringlichen Analyse der Para-
schließlich die communis opinio zusammen, diesmetapher in der Elegie deren poetologi-
wenn er die Elegie als »eines der größten lyri- sche Aussage herausarbeitet und dabei zu dem
schen Gedichte der Weltliteratur« bezeichnet Ergebnis kommt: »Als Elegie betont dies Ge-
(S.94). dicht den tödlichen Charakter der Dichtkunst«
Eine weitere gängige Auslegung der (S.252).
Elegie legt den Akzent auf ihre religiösen Noch wesentlich weiter geht Marianne
Aspekte. Auch dieser Interpretation hat G. Wünsch mit ihrer Formulierung, in dem Ge-
selbst vorgearbeitet, indem er zunächst die dicht ereigne sich die »Totalkatastrophe des
vierzehnte Strophe mit ihrer Definition der Sinnes« (S. 187). Mit diesem von systemtheo-
Frömmigkeit isoliert von ihrem negativen retischen Grundsätzen geleiteten Urteil ist je-
Kontext veröffentlichte, so daß die Verse doch ein Abstraktionsgrad erreicht, der die
als Verehrung eines »höhern, reinem, un- spezifische historische Konkretion des Textes
bekannten« gelesen werden konnten (V. 80). verfehlt. Dennoch gibt die Analyse der Autorin
Damit aber wird die Aussage des Textes in wichtige Hinweise zu einem angemesseneren
ihr Gegenteil verkehrt, eine Tendenz, der die Verständnis der Trilogie, von der sie zurecht
G.-Philologie nur allzu bereitwillig gefolgt feststellt, sie rekapituliere »Signifikante und
ist. Kommerell hat sie als erster in die repräsentative Texte verschiedener Teilphasen
schlichte Formel gefaßt: »In den wenigen Wor- der Goethezeit« (S. 181). In der Tat vergegen-
ten dieser beiden so oft angefUhrten Strophen wärtigt das Großgedicht in Zitaten und An-
bekennt Goethe, inwiefern die Liebe fUr ihn spielungen eine exemplarische Abfolge frühe-
eine religiöse Erfahrung ist« (S. 154). Diese rer G.scher Texte. Das beginnt mit der Wer-
sachliche Feststellung wird von Staiger zu ther-Paraphrase des ersten Gedichts, geht mit
hymnischem Jubel gesteigert, wenn er G. »die dem Tasso-Zitat zur Frühklassik über, um mit
gesamte von Weltlichkeit strahlende Fülle des der Elegie auf die klassische Liebesdichtung
Herzens in das heilige Liebesfeuer der Stillen der Römischen Elegien als auf ihr Gegenmo-
im Lande« zurückverwandeln läßt (Bd. 3, dell sich zu beziehen und schließlich mit der
S. 122), und von Erich Heller weltliterarisch zentralen Metapher des »Paradieses« auf das
untermauert: »Seit Dante gibt es kein Liebes- Buch des Paradieses aus dem West-östlichen
gedicht, das mit der irdischen Liebe so theo- Divan zurückzuverweisen. Diese Abfolge, in
logisch Wucher treibt wie die Elegie« (S. 118). der G. paradigmatisch die eigenen Texte vom
Solche und ähnliche Sätze zeugen mehr von Sturm und Drang bis zu seiner Spätzeit auf-
der heimlichen religiösen Sehnsucht der Phi- reiht, ist dadurch charakterisiert, daß in ihr
lologen als von einer genauen Lektüre des jeweils die Hoffnungen, die sich fUr ihn mit
G.schen Textes. dem dichterischen Schreiben .verbanden, von
der Erfahrung des Alters her negiert werden.
Die von G. selbst ins Werk gesetzte Verschleie- Die bewußten Zitate fungieren somit als Kon-
rung der Bedeutung der Elegie beginnt mit trafaktur des eigenen Lebenswerkes. In dieser
ihrer Einfugung in die Trilogie, wodurch ihr Perspektive muß die Trilogie als negativer
mit dem Schlußgedicht Aussöhnung ein ihre Kommentar zu den eigenen inzwischen histo-
Negativität aufhebender Nachklang angefUgt risch, ja sogar kanonisch gewordenen Texten
wird, und setzt sich fort mit der bewußten gelesen werden. Alles andere als unmittelba-
Steuerung der Rezeption, durch die G. die rer Ausdruck der Leidenschaft, ist sie viel-
wahre Intention seines Textes, die radikale mehr selber die sekundäre Schrift, als die sie
Absage an seine bisherige Auffassung von inhaltlich die Dichtung definiert.
Dichtung und Dichtertum, vor seinen ersten Die Elegie endet mit einer Anspielung auf
Lesern zu verheimlichen suchte. Erst in jüng- die mythische Figur der Pandora, die
ster Zeit ist die Forschung über die G.schen G. 1807/08 in dem gleichnamigen »Festspiel«
Vorgaben hinausgegangen, so Mathias Mayer, (FA 1,6, S. 661-699) gestaltet hatte. Diese Be-
490 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

zugnahme ist identifikatorisch und widerle- fahr; / Sie drängten mich zum gabeseligen
gend zugleich. Dichtkunst und Gestalt der Ge- Munde, / Sie trennen mich, und richten mich
liebten sind in diesem Zitat eins geworden, in zu Grunde« cv.
135ff.). Von »Wiederkunft« und
eine Dritte verwandelt, in Pandora, die schon damit von Versöhnung des grundlegenden Wi-
im »Festspiel« als Allegorie der Dichtkunst in derspruchs der menschlichen Existenz ist hier
jugendlicher Frauengestalt erscheint (anders nicht mehr die Rede. Die mythische Figur des
Mayer, S. 252). An ihr entzündet sich dort der Epimetheus wird ebenso wie die historische
Zwiespalt der menschlichen Existenz: »Ach! des Tasso überblendet durch das lyrische Ich,
warum, ihr Götter, ist unendlich / Alles alles, das sich in den »zu Grunde gerichteten« Dich-
endlich unser Glück nur!« (FA I, 6, S.679, ter verwandelt hat. So bestätigen auch die
V. 498f.; wiederholt in V. 522f.). In der Zwi- Schlußverse der Elegie die Lesart, die Trilogie
schenzeit zwischen dem ersten Kommen der sei G.s radikaler Widerruf seiner symboli-
Pandora und ihrer Wiederkunft, in der das schen Natur- und Kunstauffassung.
»Festspiel« angesiedelt ist, ist Epimetheus, ihr
Gemahl, von ihr getrennt. Mit Worten, die in
der Trilogie wiederkehren, erinnert er sich an Literatur:
ihr wortloses Abschiednehmen : »Wer von der Behrens, Jürgen u.a. (Hg.): Johann Wolfgang Goe-
Schönen zu scheiden verdammt ist, / Fliehe the: Elegie von Marienbad. Urschrift September
mit abgewendetem Blick! / Wie er, sie schau- 1823. Frankfurt/M., Leipzig 1991. - CONRADY,
end, im Tiefsten entflammt ist, / Zieht sie, S. 461-467. - Eibl, Komm. in FA I, 2, S. 1055-1057.-
ach! reißt sie ihn ewig zurück. / / Frage dich GUNDOLF, S. 707-714. - Heller, Erich: Vom Dichten
und Verstummen - Betrachtungen über die Marien-
nicht in der Nähe der Süßen: / Scheidet sie?
bader Elegie. In: ders.: Im Zeitalter der Prosa. Lite-
scheid' ich? Ein grimmiger Schmerz / Fasset rarische und philosophische Essays. Frankfurt/
im Krampf dich, du liegst ihr zu Füßen / Und M.1984, S.87-123. - KOMMERELL, S.148-163. -
die Verzweiflung zerreißt dir das Herz« (ebd., Kraft, Werner: Zur Marienbader Elegie. In: Text +
V. 761ff.). Kritik. Sonderband Johann Wolfgang von Goethe.
Im Unterschied zum Ich des Gedichts bleibt München 1982, S. 215-221. - Mayer, Mathias: Dich-
ten zwischen Paradies und Hölle. Anmerkungen zur
Epimetheus jedoch weiterhin die Möglichkeit,
poetologischen Struktur von Goethes Elegie von Ma-
Pandoras »Bild« zurückzurufen. In der zen- rienbad. In: ZfdPh. 105 (1986), S.234-256. - Mi-
tralen Szene des Festspiels evoziert er im Dia- chel, Christoph u.a. (Hg.): Elegie von Marienbad.
log mit seinem Bruder Prometheus die Ab- Faksimile einer Urschrift. Frankfurt/M. 1983. -
wesende. In großartigen Bildern feiern die Sengle, Friedrich: Das Genie und sein Fürst. Die
beiden die erste Erscheinung Pandoras in Ge- Geschichte der Lebensgemeinschaft Goethes mit
dem Herzog earl August von Sachsen-Weimar-Ei-
stalt der Venus victrix, so daß Epimetheus sich
senach. Stuttgart, Weimar 1993, S. 467-474. - Sim-
Trost zusprechen kann: »Treu blieb ihr Bild; mel, Georg: Goethe. Leipzig 1913, S. 208f. - STAI-
noch immer steht es gegen mir« cv.581). Aus GER, Bd. 3, S. 108-127. - Suphan, Bernhard (Hg.):
dieser Möglichkeit, die Vergangenheit zu erin- Goethe: Elegie. September 1823. Reinschrift. Wei-
nern, fließt auch die Möglichkeit der Hoffnung mar 1900 - Trunz, Komm. in HA 1, S. 585. - Ders.:
auf eine Wiederkunft Pandoras in der Zukunft. Ein Tag aus Goethes Leben. München 1990,
S. 149-156. - Wünsch, Marianne: Zeichen - Bedeu-
Beide, Vergangenheit wie Zukunft, sind in der
tung - Sinn. Zu den Problemen der späten Lyrik
Elegie verlorengegangen, daher ihre Ausweg- Goethes am Beispiel der Trilogie der Leidenschaft.
losigkeit. Die Ambivalenz des Schönen, der In: GoetheJb. 108 (1991), S. 179-190.
schmerzliche Riß zwischen unendlicher Sehn-
Bernd Wille
sucht und Endlichkeit des Lebens kann durch
erinnerndes Schreiben nicht mehr geheilt
werden. So wird der Kontext des »Festspiels«
von G. in der Elegie zugleich angespielt und
negiert: »Sie prüften mich verliehen mir Pan-
doren, / So reich an Gütern, reicher an Ge-
Im ernsten Beinhaus war's 491

einmal unter vermischte Gedichte gedruckt,


Im ernsten Beinhaus war' s versehen mit der Überschrift Bei Betrachtung
von Schillers Schädel.
Die Weimarer Ausgabe CNA I, 3, S.93-94)
Im März 1826 wurde das Weimarer Land- ordnete es - ohne Überschrift - in die Ge-
schaftskassengewölbe, in dem Schiller in der dichtabteilung Gott und Welt ein, ebenso die
Nacht vom 11. zum 12.5. 1805 bestattet worden Gedenkausgabe (GA 1, S. 522) und die Berli-
war, durchsucht, um die Gebeine des Dichters ner Ausgabe (BA 1, S. 548-549); die Hambur-
zu sichern, die an einen würdigeren Ort ver- ger Ausgabe (HA 1, S. 366-367) brachte es in
legt werden sollten. Unter den 23 Schädeln, der Abteilung Alterswerke zur Gedichtgruppe
die aus der Gruft zutage gefördert und nach Die weltanschaulichen Gedichte, in der Frank-
erfolgloser erster Begutachtung in die Woh- furter Ausgabe (FA I, 2, S. 684-685) findet es
nung des Weimarer Bürgermeisters Karl Leb- sich unter Supplement zur Sammlung von
recht Schwabe gebracht wurden, fand dieser 1827, außerdem als Schluß von Wilhelm Mei-
den Schillersehen heraus; Fachleute bestätig- sters Wanderjahren (FA 1,10, S. 774); am Ende
ten seine Entdeckung. des Romans steht es auch in der Münchner
Am 17.9. 1826 wurde Schillers Schädel wäh- Ausgabe (MA 17, S.713-714). - Am 24.10.
rend einer Feierstunde auf der Großherzogli- 1827 sprach G. in einem Brief an Carl Fried-
chen Bibliothek in Weimar niedergelegt. G. rich Zelter von den Terzinen und nannte sie
nahm aus Rücksicht auf seine Gesundheit an »Die Reliquien Schillers«. Deshalb wurde das
dem Akt nicht teil. Die von ihm verfaßte Rede Gedicht in der Jubiläums-Ausgabe (JA 1,
CNA I, 42.2, S.75-77) trug sein Sohn August S. 285-286) mit der Überschrift Schillers Reli-
vor. Am 23. September wurde das Skelett, das quien versehen. - Die folgenden Bemerkun-
zum Schädel paßte, zusammengebracht und an gen beziehen sich auf den Erstdruck des Ge-
den folgenden Tagen in der Bibliothek gerei- dichts von 1829.
nigt. Am 24. September kam der Schädel für Nach dem Epilog zu Schillers >Glocke(
zwei Tage in G.s Haus. In dieser Zeit, nämlich (1805) sind die Terzinen die zweite poetische
in der Nacht zum 26. September und am fol- Würdigung, die G. seinem bewunderten
genden Tag, schrieb G. die Terzinen; er setzte Freund, der im Gedicht mit keinem Wort er-
das Datum des 25.9. 1826 unter den Text. Die wähnt wird, zuteil werden ließ. Sie sind der
Handschrift des Gedichts befindet sich ver- Ausdruck der im Laufe der Jahre immer deut-
mutlich in Privatbesitz (vgl. WA I, 3, S. 399). licher ausgesprochenen Überzeugung, daß
1829 erschienen die Terzinen - wie in der Schiller groß und edel wie ein Heiliger, daß
Handschrift: ohne Strophentrennung - im 23. ihm sogar eine »echte Christus-Tendenz einge-
Band (S.285-286) der Ausgabe letzter Hand boren« gewesen sei (an Zelter, 9.11. 1830).
von G.s Werken, und zwar als Schluß von Wil- Und so waren G. die aus dem Kassengewölbe
helm Meisters Wanderjahren, durch den Druck zusammengetragenen Gebeine »heilige Reste«
mit kleinen lateinischen Lettern auffallend ab- (Brief an Kanzler von Müller, 28.9. 1826), die
gehoben von dem auf der vorangehenden Seite es zu verehren galt. Er, der vermutlich nie im
endenden Text Aus Makariens Archiv in gro- Kassengewölbe war, stellte sich vor, daß ihm
ßer Fraktur-Schrift, versehen mit dem ohne »Im ernsten Beinhaus«, in dem Schädel und
Durchschuß unter dem Gedicht sich anschlie- Skelette durcheinanderlagen, bevor »Schädel
ßenden Zusatz, auch in Antiqua-Schrift: »(Ist Schädeln angeordnet« cv. 2) wurden, um den
fortzusetzen. )«. Schillersehen unter ihnen herauszufinden, das
In der von G.s Nachlaßverwaltern Johann Wunderbare widerfahren sei: daß er »Un-
Peter Eckermann und Friedrich Wilhelm Rie- schätzbar herrlich ein Gebild gewahrte«
mer besorgten Edition Goethe 's nachgelassene cv. 18), dessen Wirkung seine Übernatürlich-
Werke (Bd. 7 [=Bd. 47 der Ausgabe letzter keit beglaubigte: »Als ob ein Lebensquell dem
Hand], S. 71-72) wurde das Gedicht 1833 noch Tod entspränge« cv.21).
492 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

Die ausgedachte Situation: G. wird im Kas- Person Singular - vom offenbaren Geheimnis
sengewölbe von Schillers Schädel förmlich an- der Einbeziehung des Menschen, des »Adep-
gezogen, so daß er seiner »gewahr« wird, be- ten«, in die Gott-Natur-Einheit. Ihm wird das
vor einem anderen durch Schauen, Verglei- Tote lebendig, und zwar durch »die Form«
chen und Messen die Entdeckung gelingt - (y. 22) des Erblickten: »Die gottgedachte Spur,
diese Situation fUhrt den Leser umstandslos die sich erhalten!« (y. 23). Die Form, in der
aus der »Wirklichkeit« historischer Ereignisse sich das Wesen des Seienden abdrückt, ist un-
in die »Wahrheit« persönlichen Erlebens und sterblich und bewahrt das Sein des Gewese-
Erkennens, die allein poetisch zu vermitteln nen; und sie verbindet - »Orakelsprüche spen-
ist. Gewiß hat sich G. von den Bemühungen, dend« (y. 26) - die Gegenwart mit der Zukunft.
Schillers Schädel zu identifizieren, berichten Mag auch der Schädel, den der »Adept« in der
lassen; aber die Berichte konnten, als G. den Hand hält, »in Wirklichkeit« gar nicht der
Schädel vor sich hatte, nicht mehr sein als Schillers sein, so ist er es doch »in Wahrheit«,
Anregungen für die Imagination, aus der die weil sich in ihm, dank naturphilosophischer
deutliche Anschauung des Durcheinanders Überzeugung und dichterischer Einbildungs-
von Gebeinen kommen mußte, eine Anschau- kraft, der »Geist« des vor über zwei Jahrzehn-
ung, die dem ersten Teil des Gedichts (y. 1-14) ten Verstorbenen erhalten hat; denn der Geist
vordergründig sein Gepräge gibt: »Schädel - zu denken ist: Schillers Geist - schuf sich
Schädeln angeordnet« (y. 2), »derbe Knochen« diese erhaltene Form, nicht anders als die
(y. 5), »Entrenkte Schulterblätter« (y. 7), »Die Werke, die er hinterließ; darauf vermutlich
Hand, der Fuß zerstreut aus Lebensfugen« nimmt der letzte Vers des Gedichts Bezug.
(y. 9). Daneben und darüber hinaus fUhrt die- Dem Ungewöhnlichen (ja Außergewöhnli-
ser Teil aber auch aus der angeschauten Ge- chen) des »Gegenstands«, der durch das Ge-
genwart der Toten in die vergangene Welt der dicht anschaulich gemacht werden soll, ent-
Lebendigen, erinnernd, was diese Menschen spricht dessen lyrische Form. Zwar hatte sich
sich einst antaten: »die sonst sich haßten« G. schon in früheren Jahren mit Terzinen be-
(y. 4), »die sich tödtlich schlugen« (y. 5). schäftigt, so bei der Lektüre von August Wil-
Schließlich: Vergebens wie das Leben ist der helm Schlegels Terzinen-Gedicht Prometheus
Tod; »vertrieben« aus dem Grab und wieder (vgl. G. an Schiller, 21.2. 1798), und er hatte
unter die Menschen gebracht, finden sie keine auch einmal bestimmt: »Terzinen müssen im-
Zuwendung. »Und niemand kann die dürre mer einen großen reichen Stoff zur Unterlage
Schale [den Schädel; d. Vf.] lieben, / Welch haben, wenn sie gefallen sollen« (von Müller,
herrlich edlen Kern sie auch bewahrte« 29.9. 1823), aber er hatte sich dieser Versform
(y. 13-14). Niemand? »Doch mir Adepten war vor der Niederschrift des Schiller-Gedichts nie
die Schrift geschrieben«, setzt der zweite Teil bedient. Vermutlich wäre das Gedicht in einer
des Gedichts (y. 15-30) ein, der auf die Toten- anderen Form - oder vielleicht auch gar nicht-
klage, auf Vergänglichkeits- und Vergeblich- geschrieben worden, wenn sich G. nicht im
keits-Erinnerung, aufMemento-mori- und Va- August und September 1826 gründlich mit der
nitas-Gedanken das Lebenslob folgen läßt, das von Karl Streckfuß besorgten Übersetzung der
freilich nur vom »Eingeweihten« auszuspre- Divina Commedia Dantes beschäftigt hätte,
chen ist, der den »heil'gen Sinn« (y. 16) der die ihm unmittelbar zu einigen Betrachtungen,
Schrift als Offenbarung empfangen und ver- besonders zu solchen über die »Anlage des
standen hat. Diese Schrift ist das Buch der Dante'schen Höllenlocals« Anlaß gab (vgl. WA
Natur als das Buch Gottes, auf das in den er- I, 42.2, S.70-74). Das Studium der Divina
sten beiden der vier zusammenfassenden Commedia gehört wohl auch zu den Voraus-
Schlußverse hingewiesen wird: »Was kann der setzungen des vermutlich um die Jahreswende
Mensch im Leben mehr gewinnen / Als daß 1826/27 in Terzinen geschriebenen ersten
sich Gott-Natur ihm offenbare?« (y. 31-32). Monologs im zweiten Teil des Faust
Der zweite Teil des Gedichts spricht - in der 1. (y. 4679-4727). Weitere Terzinen-Dichtungen
Im ernsten Beinhaus war's 493

sind von G. nicht überliefert. - Durch das von der Beschäftigung mit Lavaters Physio-
Reimschema (a-b-a / b-c-b / c-d-c etc.) ist jede gnomischen Fragmenten über die von Franz
Strophe mit den sie umgebenden Strophen Joseph Gall angeregten phrenologischen Stu-
verknüpft, es bildet sich also eine Terzinen- dien und die eigenen morphologischen Arbei-
kette; dadurch wird sowohl die Geschlossen- ten bis hin zur Auseinandersetzung mit der
heit des Ganzen betont als auch eine Zäsur Todesproblematik und deren Behandlung in
(hier innerhalb der 5. Terzine) besonders ak- Kunst und Religion seit der Antike. Franz H.
zentuiert. Außerdem treiben sich die einzel- Mautner versucht durch eine Interpretation
nen Terzinen jeweils voran, bis sie im ab- der letzten vier Verse des Gedichts - V. 31-32:
schließenden Quartett (V. 31-34; Reimschema »Überleitung« zu V. 33-34; dieses Verspaar ein
j-k-j-k) - gerade dadurch, daß dieses sich von Fragment im Sinne Friedrich Schlegels und
den vorangehenden zehn Terzinen zu lösen »in Form und Inhalt ein Aphorismus«
scheint, indem es ins Allgemeine übergeht - (S. 1157) -,wahrscheinlich zu machen, daß
zum Höhepunkt gelangen. hier der Übergang zu der von G. angekündig-
Die Forschung hat dem Gedicht einige be- ten Fortsetzung erkennbar sei. Wolfgang Mar-
merkenswerte Untersuchungen gewidmet tens liefert eine genaue motivgeschichtliche
(Müller, Vietor 1944 (1), Mautner, Martens); Untersuchung besonders der Eingangsverse,
sie hat sich aber auch mit mehr oder weniger die »das motivische Requisitar alter christli-
wichtigen Details beschäftigt: mit der ver- cher Dichtungen des Memento Mori« (S. 280)
meintlich ungeklärten Datierung des ersten aufgreifen, um dieses im zweiten Teil des Ge-
Gedichtteils (James Taft Hatfield), mit der dichts im Triumph des überdauernden Lebens
Frage, wie das dem Gedicht nachgesetzte »(Ist aufzuheben. Zu der sich hier bekundenden
fortzusetzen.)« zu verstehen sei (Wundt, Vie- Auffassung G.s sieht Martens Parallelen in
tor 1944 (1), (2) und 1945, Hohlfeld, Lederer), Werken Karl Philipp Moritz' und Barthold
oder mit dem weit gewichtigeren Problem der Hinrich Brockes'.
G .schen Terzinendichtung im allgemeinen Max Kommerell hat mit wenigen Sätzen zu
und dieses Terzinengedichts im besonderen zeigen versucht, daß im Gedicht der drohen-
(beiläufig Sulger-Gebing, eingehender Bern- den Vernichtung des Individuellen dadurch
heim). Günther Müller deutet das Gedicht als widerstanden wird, daß es im Typischen auf-
»Werde-Einheit, in der das Betrachtete und gehoben wird: »das Leben verzehrt sich, in-
das Betrachten überhaupt erst wirklich« seien dem es Geist wird, und der Geist erbaut sich
(S. 143), als »dichterische Wirklichkeit«, in eine körperliche Form, die beharrt. Das sind
der »das im Ineinander von Anschauen und die Gedanken; doch sie werden in diesem Ge-
Angeschautem Erfahrene zur 'Erscheinung«< dicht bei weitem überwogen von der Geste.
gebracht werde; dabei gründe das Gedicht auf Das ungeheure Dasein dieses Überlebenden,
G.s Erfahrung der »Polarität der Diastole und der den Schädel eines vor gut zwanzig Jahren
Systole«, wie sie sich besonders »auf der Höhe verstorbenen Freundes, mit dem zusammen er
der beiden letzten Zeilen« auspräge (S. 148f.), eine dichterische Überlieferung begründete,
Karl Vietor stellt die Entstehungsgeschichte in der Hand hält, und dabei nicht vom Grausen
des Gedichts dar, liefert dann Vers-ftir-Vers- geschüttelt wird, sondern seine Stimme zu ei-
Erläuterungen, wobei er alle wesentlichen Be- nem beinah dröhnenden Naturgebet erhebt -
griffe, Bilder und Vorstellungen in den Kon- das ist wohl der größte autobiographische Mo-
text des G.schen Werkes und damit auch sei- ment in Goethes Gedichten« (S. 183).
nes Lebens bringt, und interpretiert schließ- Es mag dahingestellt bleiben, ob G. bewußt
lich die ausgedachte Situation (im Beinhaus) die Tradition aufgegriffen hat, in die sein Ge-
und das sich darin vollziehende Ereignis (die dicht gehört. Sicher ist, daß er hier wie nir-
Offenbarung) als die Summe der ftinfzigjähri- gends sonst, angeregt durch die Betrachtung
gen Entwicklung naturwissenschaftlicher und von Schillers Schädel und eingedenk seines
ästhetischer Erkenntnisse und Ansichten G.s, natürlicherweise nicht mehr femen eigenen
494 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

Todes, das ihm von früh an unleidliche Thema standenen Gedicht Schwebender Genius über
von Vergängnis, Grab und Moder poetisch zu der Erdkugel, das G. an dem Tag, an dem
bewältigen versucht hat, indem er die Erfah- Schillers Schädel auf der Weimarer Bibliothek
rung einer tiefen Betroffenheit beschwor: niedergelegt wurde, noch einmal abschreiben
»Daß in des Raumes Moderkält' und Enge / ließ und dessen Schluß lautet: »Memento
Ich frei und wännefühlend mich erquickte / mori! gibt's genug, / Mag sie nicht hererzäh-
Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge« len; / Warum sollt' ich im Lebensflug / Dich
ry. 19-21). Die Fiktion, der Suche nach Schil- mit der Gränze quälen! / Drum, als ein alter
lers Gebeinen beigewohnt zu haben, hat die Knasterbart, / Empfehl' ich dir docendo: /
Funktion, das Entsetzliche des Nur-Toten »au- Mein theurer Freund, nach deiner Art, / Nur
thentisch« zu vennitteln; denn so ließ sich wir- viverememento!« (JVA I, 4, S. 134). Doch wäh-
kungsvoller und glaubhafter versichern, daß rend diese »Gedenke zu leben«-Aufforderun-
sich im Einzelfall (Schiller ist nur ein Bei- gen, die nichts mit dem Horazischen »Carpe
spiel!) erkennen (erfahren) lasse, wie sich das diern« zu tun haben, nur für die Zeit zu gelten
Leben über den Tod hinaus bewahre - wenn scheinen, in der die Menschen körperlich exi-
sich nämlich im Gefäß des Geistes (auch dies stieren, überschreitet G. mit seinem Schädel-
nur ein Beispiel?) dessen Eigentümlichkeit of- Gedicht die »Gränze«, hinter der er den als
fenbare: »Die gottgedachte Spur« ry. 23). Von lebendig wahrnimmt, dessen Göttlichkeit sich
dieser Betrachtung ist es nicht weit zur pan- abgedrückt hat in den Resten seines Körpers.
theistischen »Gott-Natur«-Überzeugung, nach Diesen Übertritt vollzog G. nur einmal, weil er
der das Geistwesen Mensch ein dauernder Teil nur einmal eine Reliquie in Händen hielt -
der göttlichen Substanz ist. Als Bestätigung Schillers Schädel.
dieser Überzeugung dient »das Geisterzeugte«
ry. 34), das nicht schwinden kann, da es einmal
Literatur:
vorhanden ist. Der den Schädel Betrachtende,
der »Adept«, dem die Offenbarung zuteil Bernheim, Roger: Die Terzine in der deutschen
wurde, kann aus dem Dunkel des Beinhauses Dichtung von Goethe bis Hofmannsthai (= Diss.
Bern). Düsseldorf 1954, S.55-41. - Feise, Ernst:
den Blick »zum Sonnenlicht« ry. 30) wenden
Goethes Terzinen. In: PMLA.59 (1944),
und sich mit ihm, das nicht vergeht, verbin- S. 1162-1166. - Hatfield, James Taft: Goethe's Poem
den, vielleicht in der Hoffnung, daß ihm aus Im ernsten Beinhaus. In: PMLA.56 (1921),
dieser Verbindung mehr »Geisterzeugtes« ge- S. 429-435. - Hohlfeld, Alexander R.: Zur Frage
lingen werde, vielleicht auch in ruhiger Erwar- einer Fortsetzung von Goethes Wilhelm Meisters
tung des Todes, der das Geschaffene nicht an- Wanderjahre. In: PMLA. 60 (1945), S.399-420. -
KOMMERELL, S. 182-183. - Lederer, Max: Noch ein-
nihiliert.
mal Schillers Reliquien. In: MLN.62 (1947),
Das Gedicht läßt sich, wie vor allem Vietor S. 7-12. - Martens, Wolfgang: Goethes Gedicht Bei
gezeigt hat, in allen Einzelheiten mit jeweils Betrachtung von Schillers Schädel, motivgeschicht-
entsprechenden Äußerungen G.s in Überein- lich gesehen. In: SchillerJb. 12 (1968), S. 275-295.-
stimmung bringen. So findet sich beispiels- Mautner, Franz H.: ,Ist fortzusetzen<: Zu Goethes
weise seine Ansicht, daß die Schädelfonn vom Gedicht auf Schillers Schaedel. In: PMLA.59
(1944), S.1156-1162 (auch in: ders.: Wort und We-
Gehirn und dieses vom Geist bestimmt wer-
sen. Kleinere Schriften zur Literatur und Sprache.
den, bereits in den Tag- und lahreshiften 1805 Frankfurt/M. 1974, S. 256-243). - Müller, Günther:
bzw. in der Campagne in Frankreich 1792 Goethe: Schillers Reliquien. In: Burger, Heinz Otto
(JVA I, 33, S.240-241). Auch die Grundten- (Hg.): Gedicht und Gedanke. Halle 1942, S. 140-151
denz des Gedichts ist vielfach belegbar, am u. S.451 [leicht gekürzt auch in: Wiese, Benno von
knappsten wohl im Wahlspruch, den die Tunn- (Hg.): Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte.
Interpretationen. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur
gesellschaft in Wilhelm Meistes Lehrjahre für
Frühromantik. Düsseldorf 1956, S.279-289 u.
den Saal der Vergangenheit gewählt hat:» G e - S.442]. - Sulger-Gebing, Emil: Goethe und Dante.
denke zu leben« (JVAI, 23, S.19S), aus- Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte.
führlich, fast heiter-verspielt in dem 1826 ent- Berlin 1907, S.38, S.65 u. S.77. - Vietor, Kar!:
Dem aufgehenden Vollmonde! 495

Goethes Gedicht auf Schillers Schädel. In: PMLA. 59


beiliegende Strophen verwenden so wird
(1944), S. 142-183 (mit einigen Veränderungen auch
michs freuen sie neu belebt zurückzunehmen«.
in: ders.: Geist und Form. Aufsätze zur deutschen
Literaturgeschichte. Bem 1952, S. 194-233 u.
Ob Zelter, der die Anregung mit Interesse auf-
S.328-337. - Ders.: [ohne Titel, anschließend an nahm (an G., 30.8. 1828), das Gedicht kompo-
Mautner und Feise]. In: PMLA.59 (1944), nierte, ist nicht ermittelt. Eine eigenhändige
Abschrift sandte G. am 23.10. 1828 an Ma-
S. 1166-1172. - Ders.: Zur Frage einer Fortsetzung
... (Antwort). In: PMLA.60 (1945), S.421-426. - rianne von Willemer mit den Worten: »Mit
Wundt, Max: Goethes Wilhelm Meister und die Ent- dem freundlichsten Willkomm die heitere An-
wicklung des modemen Lebensideals. Berlin, Leip-
zig 21932, S. 346-348.
frage: wo die lieben Reisenden am 25. August
sich befunden? und ob Sie vielleicht den kla-
Norbert Oellers ren Vollmond beachtend des Entfernten ge-
dacht haben?« Mariannes Antwort vom 2. No-
vember, auf das Weimarer Gedicht An den
Mond und auf den Schlußvers des Domburger
Gedichts anspielend, erinnert daran, daß der
Mond schon seit dem Divan (Vollmondnacht)
Dem aufgehenden ein Gegenstand des vertraulichen Zwiege-
sprächs zwischen ihnen gewesen war: »Hätte
Vollmonde! / Domburg ich ahnen können, wie in diesem Augenblicke
September 1828 wirklich des Freundes Auge mild über meinem
Geschick weilte, ich würde gern mit ihm ge-
rufen haben: >Überselig ist die Nacht!c« Sämt-
liche Ausgaben der Gedichte G.s haben den
Am 7.7. 1828 zog sich G. aus Weimar nach Titel, z.T. mit ergänztem Tagesdatum, und die
Domburg zurück, um nach dem Tod Carl Au- Variante »schmerzlich schneller« anstelle von
gusts am 14.6. 1828 bei »dem schmerzlichsten »schneller, schneller« aus der Abschrift von
Zustand des Innern [ ... ] wenigstens« seine lohn übernommen. Das Gedicht erschien zu-
»äußern Sinne [zu] schonen«, vor allem »jenen erst in den Nachgelassenen Werken (Bd. 7 =
düstern Functionen«, d.h. den Bestattungsfei- ALH 47). Die authentische Fassung, datiert
erlichkeiten, zu entgehen (an Zelter, 10.7 .. »Domburg d. 25. August 1828«, erschien erst-
1828). Während des fast neunwöchigen Auf- mals in: Goethes Brüifwechsel mit Marianne
enthalts widmete er sich, wie seine Briefe und von Willemer. Hg. von Max Hecker. Leipzig
Tagebücher bezeugen, eingehend meteorolo- 1936. Dieser Text liegt hier zugrunde.
gischen und botanischen Betrachtungen und Das zweite Gedicht wird anhand von Tage-
Studien: Barometerablesungen, Aufzeichnun- bucheintragungen und Teilen eines Briefes an
gen über Nebel- und Wolkenbilder, Wetter- Zelter (6.-11.9., abgesandt 5.10.) auf oder um
prognosen, praktischen Überlegungen zum den 8.9.1828 datiert. In dem Brief ist ver-
Weinbau, botanischen Werken u.a. Die Wech- merkt, daß, »wenn bei uns der Barometer auf
selbeziehung von Naturbetrachtung und poe- 28" steht, kein Wölkchen mehr am Himmel
tischer Anschauung ist in den beiden Gedich- sein darf, der Ostwind frisch und lebhaft bläst
ten evident. und uns nur die hellere Bläue des Himmels
Das erste Gedicht, von G. selbst datiert, noch andeutet daß etwas Trübendes in der At-
wurde unmittelbar angeregt durch die Nacht mosphäre vorhanden und zwischen uns und
des 25.8. 1828, für die das Tagebuch mitteilt: dem Unendlichen Finstern ausgedehnt sei<<.
»Schöner Aufgang und Fortschritt des Voll- Dieses Gedicht erschien zuerst 1832 im
mondes«. Eine Abschrift des Gedichts von 10- Deutschen Musenalmanachfür das Jahr 1833,
hann August Friedrich lohn legte G. dem Brief herausgegeben von Adalbert von Chamisso
an Carl Friedrich Zeltervom 26.8.1828 bei mit und Gustav Schwab. Handschriften sind nicht
der Bemerkung: »Magst du einige Noten an überliefert. Hier liegt die Frankfurter Ausgabe
496 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

Winterliche Mondnacht am Schwansee bei Weimar


Dem aufgehenden Vollmonde! IDornburg September 1828 497

zugrunde (FA I, 2, S.700f.). - Im Erstdruck möglicht das Sichzurechtfinden. Sie stellt


folgten, nur durch einen Strich von dem Ge- Ordnung her [ ... J. Die poetische Sprache da-
dicht getrennt, zwei weitere Strophen, deren gegen ist an der Stabilität nicht interessiert,
authentischer Zusammenhang mit dem Dorn- sondern an der Bewegung; sie zielt nicht auf
burger Gedicht weder ganz unwahrscheinlich Ordnung, sondern auf Lebendigkeit. Sie gibt
noch zweifelsfrei zu erweisen ist (Und wenn sich nicht mit dem Abgesonderten zufrieden,
mich am Tag die Feme; FA I, 2, S. 1348). Beide sondern will das Übergängliche« (S. 118). An-
Gedichte sind in den meisten Ausgaben als deregg deutet weiter auf den elliptischen Aus-
Diptychon zusammengestellt. Früher wurde druck und die »generelle Abstraktheit der
irrtümlich oftmals Der Bräutigam hinzuge- Sprache« im zweiten Gedicht sowie auf die
fügt. rätselhafte Gliederung des Satzbaus. Auf die
Mehrere Kommentatoren betonen vor allem Frage nach der Kohärenz dieses Gedichts geht
die grandiose Symbolik der Gedichte als Aus- auch Marianne Wünsch ein, speziell auf die
druck von G.s Lebens- und Naturfrömmigkeit: Eingliederung der Verse neunf.: »Die syntakti-
»Trost, Hoffnung, Glaube, Seligkeit - in dieser sche Störung des ungrammatikalischen und
Steigerung begleitet die Seele das Wachsen syntaktisch zweifach beziehbaren Gliedes Vers
des Mondlichts« (Vietor, S. 131) oder als Zeug- 9f. [ ... ] entsteht durch den Versuch, den Men-
nis einer »Ehrfurcht der allwaltenden Mächte« schen in einen Naturablaufzu integrieren, und
(an Zelter, 26.8. 1828). Für Kar! Vietor sind zwar so, daß er einerseits auf einen solchen
G.s letzte Gedichte »lauter Gedichte des ob- reagiert und andererseits die Reaktion eines
siegenden Lichts« und »damit lauter Ausdruck solchen durch sein Verhalten auslöst« (S. 287).
der Lebensgläubigkeit des alten Dichters« Nicht jeder mag aber gern die Vermutung
(S. 151). Für Joachim Müller wird das zweite Wünschs akzeptieren, der Hauptsatz des Ge-
Gedicht »in tiefsinniger Symbolik zu einem dichts sei aufzufassen als: »Früh am Abend -
Lebensgedicht, zu einem Dankgedicht ans Le- wird die Sonne den Horizont vergolden«, d.h.
ben, das auch dem Abschiednehmenden im »früh am Abend« als »Teil der meteorologi-
Sonnenglanz noch die Fülle, im Abendgold die schen Prognose« (ebd.). Allerdings bleibt die
Erfüllung spiegelt« (Müller 1959, S. 31). Erich Syntax zunächst undurchsichtig; selbst wenn
Trunz bezeichnet das Mondlied ebenfalls als der Gedichtanfang als: »Wenn in der Frühe«
»ein Gedicht vom siegenden Licht. Und Licht gedeutet wird, ist noch unklar, ob die wenn-
ist für Goethe Offenbarung des Göttlichen«. Er Sätze der Verse eins bis acht als temporal oder
findet in den Dornburger Gedichten »eine als konditional aufzufassen sind. Unter Aus-
großartige Symbolik, die das Wesen der Welt klammern der Verse neunf. sind es Konditio-
und die Innerlichkeit des Ich ins tiefste nalsätze, Schilderung eines reinen Naturvor-
Gleichmaß bringt«, als Ausdruck der »Sereni- gangs oder eine Wettervorhersage. Erst mit
tät des höchsten Alters« (S. 424f.). Jüngst hat diesen Versen wird aber die Metaphorik des
auch Werner Keller das zweite Gedicht als Me- Gedichts deutlich, wobei denn durch den Kon-
tapher für den Lebenstag gedeutet. Die drei ditionalsatz (V. 9f.) die vorhergehenden wenn-
Tageszeiten seien »transparent für Lebenssta- Sätze zum Temporalen relativiert werden, also
dien und Bewußtsseinsstufen«; das Gedicht etwa: Wenn du am frühen Morgen, da die Auf-
bewege sich dialektisch von der jugendlichen lösung von Nebelschichten und ein frischer
Sehnsucht über »die Kollision von Leiden- Ostwind schon einen wolkenfreien Tag ver-
schaft und Gesetz« zur Synthese der vorweg- heißen, mit reinem Herzen eine profunde
genommenen Erfüllung im Alter (S. 5f.). An- Dankbarkeit empfindest, so wird die Herrlich-
dere Ansätze tendieren eher zu Sprach- und keit des Sonnenuntergangs in farbensymbo-
Strukturanalyse. Johannes Andereggs Studie lischer Pracht deinen Seelenzustand sowohl
zum zweiten Gedicht geht auf die Verschieden- widerspiegeln als auch bestätigen. Damit ent-
heit von wissenschaftlicher und poetischer hüllt sich auch die Fügung »dem sehnlichsten
Sprache ein: »Wissenschaftliche Sprache er- Erwarten« nicht lediglich als Erwartung eines
498 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

schönen Tags, sondern als Ausdruck der Hoff- hen aus trochäischen Vierhebern mit Kreuz-
nung schlechthin. Weitere sprachliche Ambi- reim, im ersten mit alternierendem klingen-
valenzen wären noch zu erwähnen, z.B. »Ne- den und stumpfen Ausgang. Das entspricht
belschleiern« (Dativ): Hier ist wohl »von« oder auch der syntaktischen Gliederung. Im Mond-
»aus« impliziert; »der Großen, Holden«: zu- gedicht bilden die Verspaare je eine Satzein-
nächst wohl auf die Sonne als »eine Offenba- heit, wobei die vierzeiligen Strophen durch
rung des Höchsten« zu beziehen (zu Ecke- den Kreuzreim gebunden werden, während im
rmann, 11. 3. 1832), eventuell weiter auf die zweiten Gedicht die durchgehende, wenn auch
Natur oder gar auf die kosmische Schöpfung. lockere syntaktische Fügung der wiederholten
Beide Dornburger Gedichte schöpfen aus Nebensätze (wenn ... und ... wenn ... und ...
dem dichten Motivgewebe des G.schen Wer- dankst ... wird) durch Zeilensprung, durch
kes, vornehmlich aus der Symbolik der Alters- den klingenden Ausgang sämtlicher Verse so-
lyrik: Sonne/Mond, Tag/Nacht, Licht/Fin- wie durch die energische Dynamik des Rhyth-
sternis, Klarheit/Nebel. Von früh an waren mus getragen wird. Das erste Gedicht wirkt
Lichtmotive (Sonne, Mond, Sterne) wesentli- ruhiger in der Kadenz, immer wieder nach je
cher Bestandteil von G.s lyrischer Bildlichkeit. zwei Versen anhebend, das zweite leichter,
Schon in den Briefen an Charlotte von Stein fließender, erst am Ende zur Ruhe kommend -
tauchte der Topos des gegenseitigen Anden- obwohl mit Rallentando in der letzten Stro-
kens bei Mondlicht auf (z.B. 23.8. 1776, 13.9. phe. Das erste hat die Form einer Anrede,
und 10.12. 1777,2.-3.1. 1779). Jägers Nacht- fragend, flehend, verlangend, das zweite die
lied, An den Mond, Um Mitternacht ging ich, einer zuversichtlichen, wenngleich konventio-
Der Bräutigam, der Elfenchor aus Faust II nellen Aussage. Das erste einmal intim-kind-
cv.4642-4649), Dämmrung senkte sich von lich, beinahe kokett cv. If., V. 4f.), einmal
oben u.a. feiern das Licht von Mond oder grandios-anschwellend; im zweiten ist keine
Sonne als Quelle des Trostes, der Zuversicht, Spur solcher Vertrautheit, sondern scharf opti-
der tiefsten Ruhe oder der Hoffnung. Vor allem sche Aufnahme landschaftlicher Formen und
die späte Lyrik resümiert häufig die Bildlich- Farben. Kadenz und Stimmung der Gedichte
keit des Lichts und die Symbiose von Tag und sind durch die Wortwahl unterstrichen: Im er-
Nacht. Früh wurden auch Wolke, Schleier oder sten herrschen eher statische oder passive Ver-
Flor zu Symbolen für Verhüllung und Enthül- balformen, im zweiten vorwiegend dynami-
lung, das Reale und das Wahre, Erwartung und sche oder progressive Bildungen, zumal die
Erfüllung - so etwa in Zueignung, in Fausts Partizipialformen: sich enthüllen, sich füllen,
Anschauung des Sonnenlichts als farbiger Ab- tragend, streitet, verjagend, bereitet, wei-
glanz im Schleier des Wassersturzes dend, scheidend. In beiden Gedichten wird
cv.4704-4727), in den Unvorten cv.36f.), der lyrische Ausdruck durch Assonanz und Al-
schließlich - wohl dem zweiten Dornburger literation untermalt. Am frappierendsten sind
Gedicht am nächsten - in Chinesisch-Deutsche wohl die betonten o-Vokale des Verses 10: »der
Jahres- und Tageszeiten, IH. Großen, Holden«, weitergeführt in »Sonne«
Daß die Dornburger Gedichte als sich er- und abgeschlossen durch den Reim »Horizont
gänzende Gegenstücke konzipiert wurden, ist vergolden«.
zu vermuten: das eine nacht-, das andere tag- Bei aller Verschiedenheit der syntaktischen
bezogen; in dem einen umfinsternde Wolken- Gliederung weisen beide Gedichte eine deut-
massen, in dem anderen Nebelschleier und liche strukturelle Ähnlichkeit auf. Die ersten
Wolken. Dem Kampf zwischen Mond und Wol- acht Verse bieten eine Schilderung des seeli-
ken, Licht und Finsternis entspricht im zwei- schen bzw. landschaftlichen Zustands. In der
ten Gedicht der Streit zwischen Feuchtem und dritten Strophe tritt jeweils eine Stimmungs-
Trockenem, Wolken und Ostwind. Lebens- änderung ein, gleichsam ein Wendepunkt der
und Seinsbejahung drückt sich in beiden durch lyrischen Entwicklung als Reflex oder Erwide-
Lichtmetaphorik aus. Beide Gedichte beste- rung auf das Vorhergehende, wobei der Par-
Der Bräutigam 499

allelismus durch Anwendung eines adverbia-


len Genitivs an genau gleicher Stelle betont
Der Bräutigam
wird: »Reiner Bahn« / »Reiner Brust« und ver-
allgemeinerter Ausdruck der Affirmation den
Schluß bildet. Zwar ist diese Affirmation in G. hat dieses Gedicht niemals erwähnt. Es
beiden Fällen nicht ohne Bedingung ausge- gehört zu seinen umstrittensten lyrischen Pro-
sprochen: »Schlägt mein Herz auch schneller, duktionen. Lange wurde es den sogenannten
schneller« bzw. »Dankst du dann [ ... ] / Reiner Dornburger Gedichten zugerechnet, oftmals
Brust<<. Das erinnert an die Schlußwendung mit Dem aufgehenden Vollmonde! und Früh
von Der Bräutigam: »Wie es auch sey das Le- wenn Tal, Gebirg und Garten zur Trilogie ver-
ben, es ist gut« oder der Lynkeus-Verse (Faust bunden. Diese Zuordnung ist nicht mehr halt-
II, V. 11302 f.): »Es sei wie es wolle, / Es war bar, seit Lieselotte Blumenthai 1953 wahr-
doch so schön!« Seligkeit, nicht ohne Kompro- scheinlich machen konnte, daß das Gedicht
rniß mit der Wirklichkeit der Entfernung; Er- wohl 1824, spätestens Anfang 1825 entstanden
füllung, nicht ohne gebührenden Dank an die sein dürfte.
»allwaltenden Mächte«. Charakteristisch für Der Erstdruck erschien anonym im Septem-
G.s Alterslyrik sind beide Gedichte in der so ber 1829 in der von G.s Schwiegertochter Otti-
schlichten wie subtilen Synthese von Geschau- lie herausgegebenen Zeitschrift Chaos (1. 19.,
tem und Empfundenem, von Erlebnis und Nr. 3). Alle späteren Drucke folgen dem Erst-
Symbolik, in der dankbaren Aufnahme des Ge- druck mit unterschiedlichen, vor allem die In-
gebenen und im bejahenden Überblick über terpunktion betreffenden Abweichungen.
das Leben, wie es auch sei, als Ganzes. Handschriftlich ist das Gedicht auf der an-
deren Seite eines Blattes überliefert, das die
Lynkeus-Verse 9289-9304 aus Faust II enthält
Literatur: (3. Akt, Innerer Burghof). Eine einzelne hand-
Anderegg, J ohannes: Das Abgesonderte und das schriftliche Notiz legitimiert eine Abweichung
Übergängliche. Zu Goethes Konzept von poetischer des Erstdrucks von der vollständigen Hand-
Sprache. In: DVjs. 56 (1982), S. 102-122. - Baum- schrift (Y. 4). Den einzigen dem handschrift-
gart, Reinhard: Magie und Vernunft. Früh, wenn Tal, lichen Befund adäquaten Druck legte Blumen-
Gebirg und Garten. In: Reich-Ranicki, Marcel (Hg.): thai mit ihrer Analyse zur Datierung vor
Frankfurter Anthologie. Bd. 12. Frankfurt/M. 1989,
(S. 108; Faksimiles nach S. 112). Dieser Text ist
S. 77-79. - Keller, Werner: Ein Dornburger Gedicht.
In: Gete-nenkan. 32 (1990), S. 4-6. - Killy, Walther: hier zugrunde gelegt.
Wandlungen des lyrischen Bildes. Göttingen 1956, Datierung, Titel und Gehalt des Gedichts
S.10-16. - Müller, Joachim: Zwei Altersgedichte regten zu kontroversen Deutungen an, zu-
Goethes. In: ZfDkde. 56 (1942), S. 185-189. -Ders.: nächst zu Spekulationen über biographische
Tageszeit, Jahreslauf, Lebensalter in Goethes Dich- Bezüge. Blumenthai bringt das Gedicht mit
tungen. In: JbGG. N.F. 21 (1959), S. 25-53. - Petsch, der Trilogie der Leidenschaft in Verbindung,
Robert: Goethes Mondlyrik. In: ZfdB.4 (1928),
S.297-308. - Schadewaldt, Wolfgang: Mond und indem sie sowohl auf gewisse Übereinstim-
Sterne in Goethes Lyrik. In: Reiss, Hans (Hg.): Goe- mungen zwischen den Gedichten als auch auf
the und die Tradition. Frankfurt/M. 1972, S. 58-83. Anklänge im Konzept eines nicht abgesandten,
- Trunz, Erich: Goethes späte Lyrik. In: DVjs. 23 wohl für Ulrike von Levetzow bestimmten
(1949), S.409-432. - Vietor, Kar!: Goethes Alters- Briefes verweist. Detlev Schumann zieht G.s
gedichte. In: Euphorion. 33 (1932), S. 105-153. -
Schilderung seiner Verlobung mit Lili Schöne-
Wahl, Hans: Die Dornburger Schlösser. In:
SchrGG.36 (1923), S.5-43. - Wünsch, Marianne: mann im Siebzehnten Buch von Dichtung und
Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes. Stuttgart Wahrheit heran: »Es war ein Zustand, von wel-
1975, S. 286-288. chem geschrieben steht: 'ich schlafe, aber
mein Herz wacht(<< (WA 1,29, S. 57). Der Vers
John Williams
aus dem hier zitierten Hohenlied (5, V. 2), der
mit der Anfangszeile des Gedichts korrespon-
500 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

diert, lautet in G.s Prosa-Übersetzung des alt- nerung an nähere und fernere Vergangenheit
testamentlichen Textes: »Ich schlafe, aber »die das Gedicht bestimmende Struktur und
mein Herz wacht« (JVA I, 37, S. 306). Weitere, einen charakteristischen Zug der Goetheschen
den biographischen Bezug relativierende Be- Alterslyrik überhaupt« (S.275). Er gibt den
züge zum Hohenlied hat Walter Müller-Seidel Anklängen an das Hohelied, insbesondere den
nachgewiesen. Paul Stöcklein wehrt den »un- Bezügen zu Herders Liedern der Liebe von
seligen Biographismus« ab. Für ihn ist das Ge- 1778, volle Gültigkeit, räumt auch dem Bio-
dicht »ein Rollengedicht im damaligen Ge- graphischen einen Platz ein, betont aber letz-
schmack der Zeit«. Es spreche »eine von Goe- ten Endes die Doppeldeutigkeit von Themen
the erschaute und geschaffene, einer bestimm- und Motiven, zumal des umstrittenen Todes-
ten Handlung eingeschaffene Figur, nämlich motivs.
,der Bräutigam<<<. Übrigens sei das Gedicht Wenn wir davon ausgehen, daß Vers vier
»eine Synthese biblischer und volkstümlicher doch als historisches Präsens zu lesen ist, dann
Züge« (S. 228f.). Für Werner Keller liefern Bi- läßt sich die temporale Struktur des Gedichts
blisches und Antikes, Hoheslied und Aldo- einerseits als die 24 Stunden von der ersten
brandinische Hochzeit, die Urbilder des Ge- Mitternacht zur nächsten, andererseits als die
dichts: »Im lJrbild des auf der Schwelle har- Zeitspanne zwischen zwei zeitlich weit ausein-
renden Bräutigams hat der Dichter seine Ent- ander liegenden Mitternachtsstunden verste-
sagung angedeutet« (S. 167). Marianne hen. Im ersten Fall bleibt das Gedicht im Dies-
Wünsch geht auf die enigmatische Zeitstruk- seitigen verhaftet. Es beschreibt den Zustand
tur des Gedichts ein und stellt die Vermutung, eines jungen Bräutigams, der über die zwangs-
es durchlaufe die Zeit von einer Mitternacht läufige, durch Arbeit und Sitte bedingte Tren-
zur nächsten, in Frage, da allein das Tempus nung von der Geliebten klagt. In Vers vierzehn
des Verses vier dieser Auffassung im Wege wäre dann die Schwelle der Brautkammer ge-
stehe. Während die meisten Interpreten die meint, wobei der Bräutigam sich den künfti-
Gegenwart der Sprechsituation auf die Mitter- gen Vollzug des Bundes erhofft. Im zweiten
nachtsstunde der Verse dreizehnf. verlegen, Fall ist das Gedicht als Erinnerung des Al-
wobei an eine andere, in mehr oder weniger ternden an den jugendlichen Bräutigamsstand
ferner Vergangenheit liegende Mitternacht er- aufzufassen, also als Rückschau aus dem mit-
innert wird, schlägt Wünsch als alternative ternächtlichen Augenblick des Jetzt auf den
Gegenwart des Gedichts den Zeitpunkt des mitternächtlichen Augenblick des Damals,
Verses vier, also den Morgen nach jener ersten wobei Erlebnisse und Affekte der damaligen
Mitternacht, vor. Demnach bezögen sich die Existenz symbolisch zusammengezogen er-
Strophen zwei und drei auf eine Zeit vor der scheinen zu den Tageszeiten Mitternacht,
ersten Strophe. In Vers dreizehnf. werde wie- Morgen, Mittag, Abend. Aus dieser Erinne-
der die »erste« Mitternacht vergegenwärtigt, rung sowie aus der Mystik der Mitternachts-
nur eben in neuer Perspektive; in Vers fünf- stunde erwächst dann in ungezwungener Asso-
zehnf. kehre dann das Ich zur Gegenwart des ziation die künftige Perspektive von Vers fünf-
Verses vier zurück (S. 30tf.). Heinz Schlaffer zehn. Dem vormaligen Verlangen nach Wie-
geht von der These aus, daß das Gedicht »das dervereinigung jenseits der Schwelle der
Verhältnis von Arbeit und Liebe« zum Vorwurf Brautkammer gesellt sich die gegenwärtige
habe. Im Gegensatz zur typisch bürgerlichen Sehnsucht nach Wiedervereinigung jenseits
eskapistischen Literatur hebe G. hier gerade der Todesschwelle zu.
die Entfremdung hervor, die dem Mißverhält- Formal bemerkenswert ist Der Bräutigam
nis zwischen kapitalistischer Produktion und wegen seiner wechselnden Rhythmen und sei-
bürgerlicher Privatheit entspringt, indem er ner antithetisch-chiastischen Struktur (hierzu
den Arbeitstag als »prosaische Negation des vor allem Stöcklein, S.232-246 und Wünsch,
Poetischen« ins Gedicht selbst aufnimmt S.291-297). Die jambischen Fünfheber wer-
(S. 83). Walter Müller-Seidel sieht in der Erin- den häufig durch Zeilensprung verlängert, zu-
Vennächtnis 501

mal über die klingenden Ausgänge der Verse Literatur:


eins, fünf, sieben, neun, dreizehn hinweg. Vor
BEUTLER, Bd. 2, S. 77-81. - Blumenthai, Lieselotte:
allem in der zweiten Strophe wird der Rhyth- Goethes Gedicht Der Bräutigam. In: JbGG. N. F. 14/
mus vom lang ausgedehnten Satz getragen bis 15 (1952/55), S. 108-135. - Hertz, Gottfried Wil-
zur Mitte des Verses sieben, wo dann die hin- helm: Goethes Gedicht Der Bräutigam. In: GRM. 19
strömende Bewegung des Satzes durch die tro- (1931), S. 221-224. - Hof, Walter: Um Mitternacht.
chäische Betonung nach den Zäsuren der Verse Goethe und Charlotte von Stein im Alter. In: Eu-
phorion. 45 (1950), S. 50-82. - Keller, Werner: Goe-
sieben und acht aufgehalten wird: »welch er-
thes Gedicht Der Bräutigam und die Aldobrandini-
quicktes Leben« bzw. »lohnend wars und gut«. sehe Hochzeit. In: GRM.18 (1968), S.152-171. -
Ähnliches belegen Vers vierzehn »wo sie ruht«, Müller-Seidel, Walter: Goethes Gedicht Der Bräuti-
Vers fünfzehn, wo die ersten sechs Silben gam. In: ders.: Die Geschichtlichkeit der deutschen
nacheinander als betont zu lesen sind, Vers Klassik. Stuttgart 1983, S.266-277. - Schlaffer,
sechzehn, wo die jambische Struktur durch- Heinz: Der Bürger als Held. Frankfurt/M. 1975,
S.51-85. - Schumann, Detlev: Bemerkungen zu
einanderkommt zugunsten der trochäischen.
zwei Goetheschen Gedichten. In: JbGG. N.F. 25
In Struktur und Bildlichkeit drückt das Ge- (1965), S. 182-205. - Stöcklein, Paul: Goethes Ge-
dicht eine Reihe gespannter Oppositionen aus. dicht Der Bräutigam. Eine Interpretation. In: ders.:
Antithetisch dreht sich die erste Strophe um Wege zum späten Goethe. Hamburg 21960,
die Paarungen: Nacht/Tag, schlafen/wachen, S. 221-262. - Wünsch, Marianne: Der Strukturwan-
»als wär es Tag«/»als ob es nachte«, Wahn des dei in der Lyrik Goethes. Stuttgart 1975, S.290-
508.
Zusammenseins/Bewußtsein des Getrennts-
eins. Die zweite Strophe ist bestimmt durch lohn Williams
die Opposition von Tätigkeit und Rast, Glut
des Tags und Kühle des Abends, Erschöpfung
und Erquickung, Entfernung und Nähe. In der
dritten Strophe dominieren Wechselseitigkeit
und Antithese: Hand in Hand, Auge ins Auge,
»Segensblick« der Sonne und Blickwechsel der
Liebenden, Schwinden des Lichts und Hoff- Vermächtnis
nung auf seine Wiederkehr. In der letzten
Strophe sind zwei Verse auf die Gegenwart,
einer auf die Zukunft gerichtet: ein Sich-Proji-
zieren im Geist, vermittelt durch »der Sterne Am 12.2. 1829 vermerkt G. in seinem Tage-
Glanz«, über den Raum hinaus zur »Schwelle«, buch die »Abschrift des Vermächtnisses«. Auch
was auf einen weiteren Schritt über die Zeit Eckermann bezieht sich unter diesem Datum
hinaus ins Jenseits deutet. Am Schluß steht die auf das »überaus herrliche Gedicht: >Kein We-
bejahende, wenngleich bedingte Übersicht sen kann zu nichts zerfallene«, das G. ihm
über das Ganze des Lebens. Erste und letzte vorgelesen und nach eigenen Angaben als »Wi-
Strophe sind durch den Refrain »Um Mitter- derspruch der Verse: >Denn alles muß zu
nacht« verbunden, wobei aber die Verschie- nichts zerfallen, / Wenn es im Sein beharren
denheit der Situationen durch echoartige wille etc. geschrieben« habe. Zum Ärger des
Wendungen untermalt wird. Auf das zwei- Dichters seien diese von Berliner Freunden
felnd-konzessive »soviel er bringen mag« ant- »bei Gelegenheit der Naturforschenden Ver-
wortet das versöhnlich-konzessive »wie es sammlung [ ... ] in goldenen Buchstaben aus-
auch sey«; auf die Klage »Was ist es mir« ant- gestellt« worden. In Wahrheit besteht jedoch
wortet die Affirmation »es ist gut«. Indem das kein Widerspruch. Auch sind die plakativ iso-
Ich über Vergangenheit und Gegenwart zur lierten Schlußverse aus Eins und Alles nicht
vorweggenommenen Synthese in der Zukunft »dumm«, wie Eckermann G. verstanden haben
hinausblickt, wird hier das Thema des Ver- will (ebd.), wenn man die Kontexte berück-
lustes, das der Marienbader Elegie quälend sichtigt.
zugrunde lag, zwar schmerzlich-elegisch, letz-
ten Endes jedoch versöhnlich-affirmativ sub-
limiert.
502 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

261
muena~me gel\la~t ",erben ti6t. 1)et 1)urdJfd}nftt
\)on ~dben gt~t ftineth"eg~ ba~ 2'Ba~rt.

rolan fagt: ~l\Ifrd)tn ~roel,) entgegengefe$tetl


ro?tfnungen (fege Me !IDa~rr}eft mitten fnne. Se!::-
netlroegs! :l)i1~ !.'problem Uellt baAI\I[fdJen, bits UIb'
fdJaubare, ba~ ew(g t~dtlge feben tn mu~e gcbadJt.

Ver m ä c h t n i f s.
Hein 'V.sen kann Eu nichts ~ 'rrallen,
Das E .....·ge ngt sich fort in alleD,
Am eyn erhalt .. dich begl ückt!
Das 51:'yn i t ewig, denn Gesetze
BewaJlreo. die lebend'gcn SeIliHn
Aus ..... clellen sich das II geschmückt.

Dil8 Wat.re war seholl J,ing t gefunden.


Hat edle G~istcl'sehaft verbunden,
Das alte Wahre {a s' C8 al!. •
Verdank' es, ErdeDsohn, dem WeiseR
Der ihr die Sonne zn umkreisen
Und dem Geschwister wies die Bahn.

Sofort Dnn wende dich nach inneu,


Das CentTum findest dll da drinnen
Woran kein Edler ~weifell1 lDog.
Wirs t keino Regel da 'l'CrlDitse.,
Denn da. selbstständige GelTiUR
11, 80=' deillolJl Sin.nt_,.

Ausgabe letzter Hand


Vennächtnis 503

Umnächtnis wurde 1829 zunächst in Band 22 Werdens). Zahlreiche Anklänge, Korrespon-


der Ausgabe letzter Hand an das Ende des denzen und Motivverwandtschaften finden
zweiten Teils der Wanderjahre gestellt, da die sich in den Briefen, Tagebüchern, Gesprächen
Gedichtbände der Ausgabe bereits 1827 er- und naturwissenschaftlichen, vor allem mor-
schienen waren. In der von Eckermann und phologischen Bemerkungen der Jahre 1828/
Riemer unter dem Titel Goethe's Nachgelas- 1829. Mehrfach begegnet hier der Gedanke
sene Werke herausgegebenen Ergänzung der des >alten Wahren< im Zusammenhang mit
Ausgabe letzter Hand (ALH 41-60) findet sich dem >fruchtbaren Wahren<, des Miteinanders
vermächtnis auch unter den vermischten Ge- von sinnlicher Anschauung und Gesetzesden-
dichten (ALH 47, S.73f.). In Goethes poeti- ken, von Sinnlichkeit und Phantasie, von Er-
schen und prosaischen Werken in zwei Bänden fahrung und Idee. Es wird das Selbsttätige des
(Stuttgart und Tübingen 1836/37) wird das Subjekts, das bis zur Idee als Gesetz der Er-
Gedicht erstmals in die Reihe Gott und Welt scheinung sich erheben kann, ebenso ange-
aufgenommen und folgt hier dem bereits 1823 führt wie immer wieder das Denken des Seins
erschienenen Gedicht Eins und Alles, auf des- als Tätigkeit, als lebendige Einheit und Zu-
sen Schlußverse sich G. im Gespräch mit sammenhang von scheinbar Gegensätzlichem.
Eckermann bezieht. Die wichtigsten späteren
Ausgaben haben sich dieser Einordnung ange- Aufschluß über Konzeption und Darstellungs-
schlossen. Unserer Interpretation liegt der weise des Gedichts verschafft auch der ver-
Erstdruck zugrunde, wie er in der Frankfurter gleichende Blick auf die sogenannte, seit den
Ausgabe (FA I, 2, S.685f.) wiedergegeben Studien Max Kommerells und Kar! Vietors
wird. überhaupt erst nachdrücklicher bedachte AI-
terslyrik G.s. Zwar ist deren vermeintliche Ei-
In den weiteren entstehungsgeschichtlichen genart auch durch vorher und früher schon
Umkreis von vermächtnis fallen Ereignisse wie Ausgebildetes bestimmt, aber was sie in be-
der Tod des Herzogs Car! August (14.6. 1828), sonderem Maße zu prägen scheint, gilt auch
G.s Aufenthalt in Dornburg (7.7.-11.9. 1828) für vermächtnis: die spezifizierende und ob-
sowie Studien zur Neubearbeitung der Schrift jektivierende Imaginationsweise, die eigen-
über die Metamorphose der Pflanzen für die tümlich eröffnete Tiefenstruktur und produk-
deutsch-französische Ausgabe, darunter Lek- tive Mehrdeutigkeit von Begriffs- und Erfah-
türen Augustin Pyrame De Candolles und Joa- rungssprechen .
chim Jungius'. In Domburg entstanden die
Gedichte Dem aufgehenden Vollmonde! und Wenn es auch kein Lehrgedicht im engeren
Dornburg September 1828, die Umarbeitung Sinn, sondern eher philosophische Dichtung
der Wanderjahre schritt fort. Wieder in Wei- oder >Gedankenlyrik< ist, so verkörpert das
mar, verfaßte G. das von Felix Mendelssohn- vermächtnis-Gedicht wie die anderen »Denk-
Bartholdy komponierte Tischlied Zelters sieb- verse« der Gruppe Gott und Welt doch eine
zigster Geburtstag und Anfang 1829 weiteres Spielart didaktischer Poesie. Ähnlich dieser,
zur Italienischen Reise (Zweiter Römischer deren Reiz und Schwierigkeit G. sehr differen-
Aufenthalt) . ziert reflektiert (Über das Lehrgedicht; WA I,
42.2, S.225-227) und in der Metamorphose
Der Motiv- und Gedankenkreis des Gedichts der Thiere poetologisch deutet (WA 1,3, S. 91),
berührt sich in vielem mit dem, der auch für soll auch in vermächtnis über das poetisch Ver-
den Zyklus Gott und Welt charakteristisch ist. mittelte von Wissen und Erfahrung der
Hingewiesen sei hier nur auf Verwandtes in »schöne Begriff« (V. 50), die »liebliche volle
Procemion (Bedeutung des inneren Zentrums Gewißheit« (V. 61) erreicht werden. Dabei
und Universums), in Dauer im Wechsel (Be- deuten der »schöne Begriff« und die »liebliche
deutung des Augenblicks als Ewigkeit), in Eins volle Gewißheit [Hv. v. Vf.]« des Zugedachten
und Alles (Bedeutung des Umschaffens, des sicher nicht auf das nur Ornamentierte und
504 Das lyrische Spätwerk. 1819-1832

poetisch Verhüllte daran. Vielmehr ist der geübte Selbstlosigkeit« hervorgehoben, da das
schöne wie volle Sinn der Verse selber zu den- Ich, »vergesellschaftet mit den Seinsgewal-
ken. Die Übersetzung oder Auflösung des Ge- ten«, in der »Gleichförmigkeit des eignen We-
dichteten in zuvor Gedachtes jedenfalls ist sens mit der Welt« aufgeht (KoMMERELL,
auszuschließen. S. 204f.). Im übrigen aber gilt Vermächtnis als
ein »unerschöpfliches« Gedicht, denn nicht
Freilich ist gerade dies dem Gedicht - sowie sind hier einfach Sprüche und Sentenzen zu
anderen aus Gott und Welt - oft widerfahren. allgemeinem Gebrauch hinterlassen und ver-
Dieses Mißverständnis ist Folge der Schwie- macht worden, sondern umfassende »Mensch-
rigkeiten im Umgang mit Gedankenlyrik vor lichkeit«, die alle Strophen nur andeutungs-
dem Hintergrund einer verbreitet liedorien- weise umschreiben, nicht »mit logischen Fu-
tierten Lyrikerwartung in Deutschland. Wie gen« verklammern (STAIGER, Bd. 3, S.213).
jüngst erörtert wurde (vgl. Willems), hat vor Zwar ist Vermächtnis ein »durchaus rückwärts
allem die lebensphilosophisch fundierte Inter- gewandtes Gedicht, das nicht zu neuen Ufern
pretation von Gedankenlyrik das Gedankliche aufbricht, sondern entschlossen eine Bilanz
vorrangig zu isolieren und zu extrahieren ge- zieht« (ebd.). Zu warnen aber ist davor, das
sucht, die Reflexion auf Poetisches der Denk- Gesamtwerk G.s von hier aus überhaupt ver-
verse nur nachgeordnet oder oft unterlassen. stehen zu wollen, da schon das Schaffen der
Der eigentümliche, partiell noch der Aufklä- mittleren Zeit, erst recht das Spätwerk, »in
rung zugehörende Rang einer poetischen dem sich der Dichter immer wieder die Frei-
Gleichnisrede von Wissenschaft und Weisheit heit zu Abenteuern der Phantasie und Sprache
wurde häufig verkannt, der gleitende, auch nimmt« (ebd., S. 213f.), in Vermächtnis keine
skeptisch sich bescheidende Sinn subjektiver Entsprechung findet.
Weltdeutung zu rasch vereindeutigt oder als In den meisten Kommentaren zum Gedicht
der objektiv gewissere fixiert. wird die Kunst der Verse zwar vermerkt, aber
kaum eingehender durchdacht, gelegentlich
Vermächtnis, das meist nur im Zusammenhang gar bestritten, da sie, »rein künstlerisch be-
mit der von Gundolf so genannten »Kosmi- trachtet«, eher problematisch, »gedanklich
schen Lehr-Lyrik« aus Gott und Welt, aber aber [ ... ] eines der beachtenswertesten Zeug-
kaum einmal umfassend ftir sich interpretiert nisse seiner [G.s; d. Vf.] gereiften Einsicht«
wurde, gilt als eine der »knappsten Formeln« darstellen (Paasch, S. 162). Dabei deutet die
(GUNDOLF, S. 671) fUr G.s Weltbild. Seine Be- Siebenzahl sechszeiliger Strophen mit vierhe-
griffe sind nicht »Konstruktionen«, sondern bigen Jamben schon in der Reimstruktur auf
»Anschauungen«, »vergeistigte und schließlich eine charakteristische Gliederung des Spre-
verselbständigte Zeichen« (ebd., S. 672). Der chens von Weisheit und Lebensregel hin. Ten-
Vergleich mit Eins und Alles läßt dabei keinen denziell schließt der Schweifreim (aa b cc b) in
Widerspruch erkennen; in Eins und Alles wird den Zeilen drei und sechs mit männlicher Ka-
aufgewiesen, »was erkanntermaßen sein denz akzentuierend ab, was in den Paarreimen
muß«, in Vermächtnis aber das, »was sittli- mit weiblicher Kadenz jeweils entwickelt
chermaßen sein soll« (GUNDOLF, S. 674). Das scheint. Auch syntaktisch bilden die Paarreim-
Komplementäre der beiden Gedichte liegt zeilen oft einen Satz, dessen Ausftihrungen je
auch darin, daß in Eins und Alles die poetische in den kurzen Folgesätzen (V. 3 u. 6) durch eine
Beschreibung der Metamorphose vorliegt, in Maxime, Sentenz, Aufforderung noch einmal
Vermächtnis das Rühmen des »Dauernden in zusammengefaßt und bedeutungsvoll pointiert
der Verwandlung, des Ewigen im Kosmos« werden. Es überwiegt überhaupt das Paratakti-
(Vietor 1949, S.263). In einer Art poetolo- sche des Sprechens sowie eine damit konver-
gischer Reflexion auf den Ton des Weisheits- gierende Art des erfahrungs reichen AnfUhrens
sprechens in den Gedichten der Reihe Gott von Gewißheit und Rat, wobei Kennzeichen
und Welt wird in Vermächtnis die »am Weltall des Nominalstils hervortreten.
Vermächtnis 505

Auch die Lautung läßt eine kompositorische der, vertiefender Hinsicht. Deutet die zweite
Absicht erkennen. Im öfteren Zusammenspiel Strophe auf den produktiven Umgang mit dem
mit dem Diphthong ei überwiegen die Vokale »alten Wahren« (V. 9) des Weltbegreifens, so
e, a und i, die in wechselnder Länge, Abtönung die dritte auf die Möglichkeit und erleuch-
und Akzentuierung auftreten und insgesamt tende Kraft des inneren unabhängigen Gewis-
das ,Gewisse<, unbeirrt Orientierende und sens. Die vierte Strophe führt dann im An-
Vergegenwärtigende des im Vermächtnis Zu- schluß an die zweite Bilder der epistemologi-
gedachten symbolisieren. Die dunklere Lau- schen Erwartung und Modalität herauf; die
tung jedenfalls - bis auf den in Verbindung mit fünfte Strophe spricht im Anschluß an die
Vergangenem oder vergangener Zukunft (Fu- dritte vom erreichten Bewußtsein des zeitli-
tur 11) auftretenden u-Vokal im Paarreim zu chen Einstands, in dem Gegenwart und Ewig-
Beginn der Strophen zwei und sechs sowie im keit eines sind. Die Strophen sechs und sieben
Zwischenreim der Strophe sieben - ist weitge- deuten auf eine Zeit nach der Erfüllung und
hend ausgeschlossen. produktiven Realisierung des Vermächtnisses;
jene auf das erwiesene fruchtbare Wahre, das
Thematisch ist das im Vermächtnis Eröffnete, dem »allgemeinen Walten« (V. 34) abgeht,
Zugesicherte und Übertragene immer wieder diese endlich auf das »Liebewerk« (V. 37) eines
mit der Aufforderung verbunden, sich seiner neuen Vermächtnisses im Sinne des erfüllten,
in dem Sinne produktiv zu bemächtigen, der womit der Kreis des Ganzen sich schließt und
mit der beglückten Selbsterhaltung am »Sein« doch wieder geöffnet wird.
(V. 3) und dem Bewußtwerden, daß der »Au-
genblick [ ... ] Ewigkeit« sei (V. 30), vor allem Dies jedenfalls der vorläufige Versuch einer
erschlossen wird. Beides setzt Tätigkeit und Besinnung auf die Ordnung des Gedichts;
Streben voraus, die alle aus sich wirkenden denn der eindringlichere läßt bald erkennen,
Wesen, in denen das Ewige seinerseits tätig daß die Denkverse des Vermächtnisses ähnlich
und schaffend sich »fort regt« (V. 2), erhalten. wie »jegliches Leben« durch das »höchste Ge-
»Das Sein ist ewig« (V. 4): nicht regelnde oder setz« der Natur, von dem in der Metamorphose
erklärende »Gesetze« lassen dies erkennen, der Thiere die Rede ist (WA I, 3, S. 89, V. 7),
sondern solche, die »bewahren« (V. 4f.), die offenbar »zwiefach bestimmt« (V. 6) sind. Auf-
den Bestand und die Wahrheit der »lebend'gen bau und Folge der Strophen scheinen zunächst
Schätze« (V. 5) nicht als faktisch abgeschlos- ein »gemess'nes Bedürfniß« (V. 8) zu erfüllen;
sene und fixierte Weltgegebenheit, sondern ihre Sprachlichkeit im einzelnen aber hat »un-
als werdende und wirkende sichern. So ent- gemessene Gaben« (ebd.). Sie dringen auch
steht auch der schön geordnete Wirkungszu- ins ,Gemessene< ein, so wie dieses wiederum
sammenhang des Alls, das sich aus solchen in sie.
Schätzen »geschmückt« hat (V. 6). Der Zerfall Läßt sich in Strophe zwei das »alte Wahre«
»zu nichts« (V. 1) ist ausgeschlossen. Ihn kennt noch als das immer Neue verstehen, weil es in
als endgültigen auch das Gedicht Eins und den produktiven Aneignungen verbundener
Alles nicht, da es wie Vermächtnis vom Ge- »Geisterschaft« (V. 8), in die sich auch der
dankenbild des Tätigen, immer wieder schaf- Empfänger des Vermächtnisses produktiv ein-
fend-umschaffenden Ewigen bestimmt ist. ordnen soll, als das immer weiter entfaltete
Werden und Vergehen, Schaffen und Umschaf- Wahre erscheint, als etwas, das war und sein
fen schlagen in der Ewigkeit des Seins fort- wird, so ist der folgende Bezug auf den »Wei-
während ineinander um. sen« (V. 10) - mag es denn Kopernikus sein -
Die Ordnung und Folge der Strophen läßt wider den ersten Anschein schwierig. Was
erkennen, daß, wie schon angedeutet, in der dem »Weisen« zu verdanken sei, mag zwar
ersten der Gehalt des Vermachten am umfas- auch mit dem eben Ausgeführten noch in Ver-
sendsten zur Sprache kommt. Die folgenden bindung zu bringen sein, aber daß er der Erde
Strophen und Teile entfalten ihn in wechseln- und ihrem »Geschwister« (V. 12) die »Sonne zu
506 Das lyrische Spätwerk. 1819-1852

umkreisen [ ... ] wies [Hv. v. Vf.] die Bahn« Sprechen am Schluß der Strophe: je für sich
01. 10-12), scheint sich weniger auf die ent- und verbunden in »wandle«, in »sicher wie
faltete Wahrheit des heliozentrischen Weltsy- geschmeidig« 01. 23), in »Auen« und »reich-
stems selbst als auf das zu beziehen, was in begabter Welt« 01. 24).
»wies die Bahn« bedeutet scheint. Nämlich Auch die sechste Strophe zielt auf ein ange-
einmal das, was der Weise im Weisen (»wies«) messenes Miteinander von Sinnlichem und
nach alter Bedeutung wissen macht, was er der Geistigem, von Lebensgenuß und Vernunft
Natur selber gleichsam 'zu wissen< gibt als die und damit auf das entsprechende Miteinander
'alte<, hier entfaltete ,Wahrheit<, die »Bahn«, von »Füll'« und »Segen« 01. 25). Denn da, »wo
die der Weise noch einmal schafft, indem er Leben sich des Lebens freut« 01. 27), sind re-
sie denkt. flektierte Bewußtheit des Lebens und Lebens-
Ein anderer, damit verschwisterter Sinn freude miteinander verschränkt. Und ver-
könnte sich aus den von G. in den Jahren schränkt sind in einer vorläufig abschließen-
1826/29 öfter durchdachten Verfahrensproble- den Aussage des Gedichts auch die Zeiten.
men einer ihm angemessen erscheinenden Na- Was sie aufheben oder erst noch bringen wer-
turwissenschaft entwickelt haben: im Zusam- den, ist zugleich da, ist im Augenblick, in der
menhang mit dem generell bedachten Mitein- ewig währenden Gegenwart da. Das immer
ander von Analyse und Synthese etwa der Ge- tätige Sein, das »alte Wahre« als das neu ent-
danke vorlaufender Maximen, Apeq;us und faltete Wahre, das Selbständige, je gegenwär-
Abstraktionen, denen Naturphänomene dann tige Gewissen, die Verschränkungen von Sinn-
,folgen<. Der Sinn ist ebenso zwie- und mehr- lichem und Geistigem, jenes von diesem gefe-
fach wie das, was in Strophe drei gedacht und stigt, dieses von jenem lebendig erhalten, all
gedichtet wird. Das innere »Zentrum« 01. 14), diese einzelnen Weisheiten deuten auf die um-
das »selbständige«, von keiner Regel abhän- fassende der aufgehobenen Zeit und damit auf
gige »Gewissen« 01. 17) als »Sonne« des »Sit- alle tätig erhaltenen und sich am ewigen Sein
tentags« 01. 18) scheint überhaupt erst die Be- tätig erhaltenden Wesen, die »zu nichts« 01. 1)
dingungen zu nennen, ohne die das Befolgen nicht zerfallen können.
des Aufrufs zum »alten Wahren« und das wahre Das danach in der sechsten und siebten
Weltdenken des Weisen unmöglich wären. Da- Strophe Ausgesprochene setzt bereits voraus,
bei ist das »Gewissen« als eine aus dem »Zen- daß gelungen ist, was das Vennächtnis auftrug,
trum« selbständig zielende Kraft, die Denken daß zum durchdringenden »Gefühl« 01. 32)
und Anschauen des Natur- und Weltwahren wurde, was der Inbegriff alles Gewußten ist:
ennöglicht, offenbar und vor allem auch sitt- »Was fruchtbar ist allein ist wahr« 01. 33). Da-
liche Kraft. Diese wiederum scheint aus keiner bei deutet »fruchtbar« noch einmal auf das
vorgegebenen Regel abgeleitet, sondern selbst ewige, produktiv tätige Sein, das »allein« wahr
»Sonne [Hv. v. Vf.] deinem Sittentag« zu sein. ist, also keine andere Wahrheit neben sich hat,
Das Begriffliche findet im Gleichnis zu einer höchste Wahrheit und Inbegriff auch dessen
schönen, damit zur umfassendsten Bedeu- ist, was im Vermächtnis zuerst gesagt wurde:
tung. »Kein Wesen kann zu nichts zerfallen,1 Das
Auch in Strophe vier eröffnet erst das gleich- Ew'ge regt sich fort in allen«. Verglichen damit
nishafte Sprechen den vorläufigen Sinn des hält das »allgemeine Walten« 01. 34), das »nach
geistigen Anschauens, des kombinatorisch- seiner Weise« schaltet 01. 35), eben nicht
synthetischen Erkennens, in vollem Maße. »fruchtbar« ist, sondern regelt und verwaltet,
Das »mit frischem Blick bemerke« 01. 22) poin- einer Prüfung nicht stand. Die Wahrheit des
tiert zunächst noch einmal, daß sinnenhaftes Vennächtnisses ist dem »allgemeinen Walten«
Schauen und Denken miteinander zu verbin- und »seiner Weise« nicht denkbar, und nur der
den seien. Die schöne und vielsinnige Deu- »kleinsten Schar« 01. 36), den Wenigen, die
tung des angemessenen Natur- und Welter- sich zu ihr .gesellen<, gewiß. Eine historische,
fragens aber leistet erst das metaphorische politische, gesellschaftliche Dimension hat
Vennächtnis 507

das, was »allein [ ... ] wahr« ist, offenbar nicht. JbGG.7 (1920), S. 154-162. - Richter, Karl: Natur-
So wird auch das weitere Fortdenken und Fort- wissenschaftliche Voraussetzungen der Symbolik am
Beispiel von Goethes Alterslyrik. In: GoetheJbWien.
zeugen des im vermächtnis Eröffneten eben
92/93 (1988/89), S. 9-24. - Ders.: Wissenschaft und
nicht öffentlich dem »allgemeinen Walten« zu- Poesie auf »höherer Stelle« vereint. Goethes Elegie
gesprochen. Vielmehr ist »von Alters her, im Die Metamorphose der Pflanzen. In: Segebrecht)
stillen, / Ein Liebewerk, nach eignern Willen« Wulf (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Bd. 3.
(Y. 57f.) zu hinterlassen. Auf eine allgemeine, Klassik und Romantik. Stuttgart 1983-1984,
vergesellschaftende Wirkung ist das vermächt- S. 156-186. - STAIGER, Bd. 3) S. 199-236. - Trunz,
Erich: Goethes späte Lyrik. In: DVjs. 23 (1949),
nis nicht bedacht. Dem »allgemeinen Walten«
S.409-432. - Vietor) Karl: Goethe. Dichtung. Wis-
steht ein Werk >>nach eignern Willen«, der öf- senschaft. Weltbild. Bern 1949. - Ders.: Goethes
fentlichen Wirksamkeit steht eine »im stillen« Alter&sprache. In: Euphorion. 33 (1932), S. 105-152.
und individuell zugedachte, steht das »Liebe- - Willems, Gottfried: Goethe. Ein »Überwinder der
werk« gegenüber. »Philosoph« und »Dichter« Aufklärung«? Thesen zur Revision des Klassik-Bil-
(Y. 59) schaffen ein Liebewerk, eine Schöpfung des. In: GRM. N.F. 40 (1990» S. 22-40. - ders.: Mit
»Phisick geseegnet« oder mit »Metaphisiek ge-
der individuell tätigen und individuell zu den-
straft«? In: GoetheJb. 108 (1991), S. 191-205.
kenden Liebe. Im Horizont der vermachten
Gewißheit eines tätigen und immer wieder er- Hans Geulen
neuerten Seins ist auch die denkende und
dichtende Liebe eine tätige, erneuernde.
Wenn es in diesem Sinne »wünschenswerte-
ster Beruf« (Y. 42) ist, den »edlen Seelen vorzu-
fühlen« (Y. 41), dann deutet dieses zuletzt Ver-
machte im Gedicht nicht auf Exklusives, son-
dern auf wirksame Erneuerung und damit im-
mer auch auf Befreiung »im stillen« durch das
»Liebewerk, nach eignern Willen«, der, umge-
ben vom »allgemeinen Walten« sonst, am Be-
sonderen eines anderen, dem im vermächtnis
gedichteten wie gedachten Allgemeinen fest-
hält.
Noch komplexere Bedeutung als die hier
aufgeführte mag das Gedicht offenbaren oder
weislich auch wieder entziehen. Der ideologi-
sche Gebrauch freilich, den fragwürdiges Ge-
denken und politische Rhetorik oft davon
machten, hat es immer wieder reduziert, zu
Plunder und Phrase entstellt.

Literatur:
Eichhorn, Peter: Idee und Erfahrung im Spätwerk
Goethes. Freiburg, München 1971. - GUNDOLF,
S. 671-681. - Keller, Werner: Goethes dichterische
Bildlichkeit. Eine Grundlegung. München 1971. -
KOMMERELL, S. 203-215. - Krolop, Kurt: Späte Ge-
dichte Goethes. In: GoetheJb. 97 (1980), S. 38-63.-
Müller-Seidel, Walter: Goethe und das Problem sei-
ner Alterslyrik. In: Laazorovicz, Klaus (Hg.): Unter-
scheidung und Bewahrung. Berlin 1961, S. 259-276.
- Paasch, Richard: Goethes Gedicht Vermächtnis. In:
508

Knebel ließ er am 11. Mai wissen: »Reinicken


Versepen muß ich mitnehmen. Die Correcktur so eines
Stücks ist eine Sache die sich nur nach und
nach macht«. Am 2. Juli hieß es an denselben:
Reineke Fuchs »Reinecken habe ich starck durchgeputzt«. In
seinem Antwortbrief freute sich Knebel mit
dem Freund darüber, »daß sich >Reineke der
Am 12.5.1793 verließ G. Weimar, um vor Fuchs< bei dem Donner der Kanonen so unter
Mainz zu seinem Herzog zu stoßen. Carl Au- Deinen Händen verbessert« (GRÄF 1, 1,
gust hatte den vereinigten preußisch-öster- S.254). Auch andere Korrespondenten wur-
reichischen Armeen ein Truppenkontingent den auf dem laufenden gehalten, Friedrich
zugeführt, das Koalitionsheer wollte die im Heinrich Jacobi etwa oder Herder, dem G. am
Herbst 1792 von den Franzosen eingenom- 15. Juni aus dem Lager bei Marienborn nach
mene und republikanisch gewordene Stadt Weimar berichtete: »Ich komme nun fast nicht
Mainz ihrem geistlich-kurfürstlichen Herren mehr vom Zelte weg, corrigiere an Reineke
zurückgewinnen. G. ging nicht gern von zu und schreibe optische Sätze«. Gerade Herder
Hause fort, eher aus Pflichtgefühl gegen den hatte nicht geringen Anteil daran, daß sich G.
herzoglichen Freund und Mäzen. Innerhalb ei- des alten fabulösen Stoffes vom Reineke Fuchs
nes Jahres war es schon das zweite Mal, daß annahm. Er bereitete um die Jahreswende
ihn die kriegerischen Ereignisse im Gefolge 1792/93 die fünfte Sammlung seiner Zerstreu-
der Französischen Revolution von Frau und ten Blätter zum Druck vor, worin er auf das
Kind entfernten, ihn aus seinem neuen Haus Reineke-Epos hinwies, es als einzigartige
am Frauenplan und aus ruhiger, meist natur- »Deutsche Epopee« pries und meinte, es spie-
wissenschaftlicher Arbeit rissen. Im Herbst gele wie kein anderes Werk die »politischen
des vorangegangenen Jahres war er mit dem Ränke«; auch biete es »anschauliche Wahrheit«
gegenrevolutionären Heer bis Valmy vorge- über die Welt des 15. Jhs., sei »Fabel der Welt,
rückt, dann setzte plötzlich, wie er an Johann aller Berufsarten, Stände, Leidenschaften und
Gottfried Herder nach Weimar meldete, »ein Charaktere« (HSW 16, S. 218f.). Solche Äuße-
schreckliches Kriegs- und Fluchtwesen« rungen reaktivierten in G. manche ältere Er-
(JVA 1,33, S. 243) ein. Es begann ein schmach- fahrungen, die er mit dem Fuchs-Stoff ge-
volles Heimlaufen »zwischen Koth und Noth, macht hatte. Schon in den 60er Jahren war er
Mangel und Sorge, Gefahr und Qual, zwischen wahrscheinlich mit einer volksbuchhaften Fas-
Trümmern, Leichen, Äsern und Scheishaufen« sung bekannt geworden. 1782 las er im Kreis
(an Herder, 16.10.1792). Rasch hatten sich po- der Herzoginmutter Anna Amalia aus Gott-
litisches und soldatisches Spiel in blutigen scheds Reineke-Übersetzung vor, und 1783 ge-
Ernst verwandelt und, da bei den Preußen die lang ihm der Erwerb der schon seit längerem
Ruhr ausbrach, mit häßlichem Unflat ge- begehrten 56 Kupferstiche des Niederländers
mischt. Zurück in Weimar, hörte G. bald von Allaert van Everdingen zum Reineke Fuchs
wilden Mordszenen in Paris und im Januar (vgl. GRÄF 1, 1, S. 240ff.).
1793, daß der französische König Ludwig XVI. Mitte Dezember 1793 schickte G. die ersten
unter der Guillotine starb. drei Reineke-Gesänge an den Verleger Johann
In der letzten J anuarwoche 1793 notierte G. Friedrich Unger nach Berlin. Im Jahr darauf
die ersten Verse seines Epos Reineke Fuchs. Er erschien Reineke Fuchs in zwölf Gesängen in
las Freunden die ersten fertiggestellten Ab- Goethes neue Schriften (Zweyter Band. Berlin
schnitte vor. Dann nahm er das Rohmanuskript 1794, S. 1-491). Der Fuchs, das »uralte Welt-
mit zu den Belagerungsschanzen vor Mainz, kind [ ... ] in seiner neusten Wiedergeburt«, so
ergänzte und feilte es in den Gesprächs- und G.s Widmungsexemplar an Georg Christoph
Beobachtungspausen, in seinem Zelt, auf dün- Lichtenberg (9.6.1794), war zu Pfingsten 1794
ner Matratze. Den Freund Karl Ludwig von wieder los. Die Werkausgabe bei Cotta
Reineke Fuchs 509

(1806-1810) brachte das Werk im zehnten des uns bekannten Fuchs-Epos. In der Ge-
Band (1808), die Vollständige Ausgabe letzter schichte lebt schon manch bitterer Spott auf
Hand (Taschenausgabe 1827-1830) in Band 40. die Kabalen bei Hofe und innerhalb der Kurie,
Die textkritisch avancierteste Edition ist die- besonders die Schwelgereien in der tierischen
jenige Siegfried Scheibes in: Werke Goethes. Königsresidenz sind Gegenstand der Satire.
Hg.von der Deutschen Akademie der Wissen- Um 1150 schreibt der flämische Magister Ni-
schaften zu Berlin. Bände »Epen« 1.12. Berlin vardus aus Gent das lateinische Distichenepos
1958/1963 (Text- und Apparatband). Scheibe Ysengrimus. Hier wird der dumme und ge-
gibt Auskunft über die Handschriftenlage : In fräßige Wolf vom klugen Fuchs, der den Na-
G.s eigener Handschrift, Notizbuch von wahr- men »Reinardus« trägt, in immer neu es Unheil
scheinlich 1793, sind nur wenige Verse über- geschickt; zusätzliche Episoden bereichern die
liefert, in der Handschrift des Schreibers Jo- Wolf-Fuchs-Kontroverse.
hann Jakob Ludwig Geist (entstanden zwi- Die lateinisch geschriebenen Fuchs-Erzäh-
schen 1795 und 1807) die ersten vier Gesänge, lungen wurden im 12. und 13. Jh. von volks-
allerdings im Versbestand unvollständig. sprachlichen abgelöst. Das geschah zuerst in
Frankreich, wo sich von der zweiten Hälfte des
G. hat seinen Reineke Fuchs später eine »zwi- 12. bis zur Mitte des 13. Jhs. aus vielen einzel-
schen Übersetzung und Umarbeitung schwe- nen stofflichen Verzweigungen (»branches«)
bende Behandlung« (GRÄF 1, 1, S.275) ge- ein großes zyklisches Sammelwerk in altfran-
nannt. Damit deutete er - obgleich er die Ar- zösischer Sprache bildete: der »Roman de
beit in den Ausgaben seiner Werke stets unter Renart«. Kurz nach 1192 entstand auch im
die Originalschöpfungen einreihte - auf die deutschsprachigen Elsaß ein reichhaltiges, in
lange und reiche Überlieferung des Fuchs- sich geschlossenes Epos aus mittelhochdeut-
Stoffes hin. Was 1793 in revolutionärer und schen Reimpaaren: Reinhart Fuchs. In ihm bot
kriegerischer Weltlage, auch in privatem Un- Heinrich der Glichezaere eine satirische Ab-
mut »behandelt« wurde, war ein verzweigtes rechnung mit der stau fischen Herrschaft sei-
Gefüge VOn Schelmenstücken, von List- und nes Jahrhunderts. Der Fuchs erhielt seine für
Gewaltstreichen, Geschichten von Verrat, die Fortwirkung des Stoffs festbleibende cha-
Selbstsucht, Leid und Schlaumeierei, und es rakterliche Prägung, auch die meisten seiner
war bereits seit Jahrhunderten zur epischen Freunde, seiner Widersacher und Opfer waren
Konsistenz tierischer Charaktere und Schick- nun als Figuren vorhanden und profiliert.
salsläufe verfestigt. Schon lange vor G. sah Um das Jahr 1265 verfaßte der flämische
man - wie er selbst - einen »Hof- und Regen- Dichter Willem unter Zusammenfassung der
tenspiegel« darin, verstand das fabulöse Ge- französischen »branches« sein mittelnieder-
wirk als Abbild einer Menschengesellschaft in ländisches Epos 11ln den Vos Reynarde, wel-
unheil er Welt, als Allegorie ungerechter Herr- ches rund hundert Jahre später (um 1375) eine
schaft ebenso wie egoistischen Strebens um Neubearbeitung und Erweiterung erfuhr. Die
die Gunst der Mächtigen und nach der eigenen Erzählung dehnte sich jetzt bereits über 7794
Pfriinde. Im Mittelalter waren die Abenteuer Verse. 1479 erschien in Gouda, 1485 in Delft je
und Streiche des Fabelfuchses, jener beispiel- eine Prosaauflösung des Epos: Der Kreis der
haften Figur der europäischen Fabelwelt, in Motive, die Anordnung der Episoden waren
einen größeren erzählerischen Zusammen- für die Zukunft gefestigt.
hang gebracht worden (Scheffler, S. 93). Deut- Ein gewisser Hinrek van Alckmer zeichnete
lich geschah das in der Ecbasis Captivi (Ent- verantwortlich für einen überarbeiteten Neu-
weichung eines Gifangenen) aus den 40er Jah- druck des Reynarde- (oder Reinaert-) Epos,
ren des 11. Jhs., worin der räuberische Wolf der um 1487 in Antwerpen herauskam. Das
von den Tücken des Fuchses berichtet, denen Werk war nunmehr in vier Bücher und viele,
er selbst am Ende zum Opfer feillt. Die Erzäh- jeweils mit Überschriften versehene Kapitel
lung des Wolfs enthielt bereits einige Motive unterteilt, mit Illustrationen in Holzschnitt
510 Versepen

versehen und schaltete - dies eine entschei- übertrug und alles zusammen mit dem nieder-
dende Neuerung - hinter jedem Kapitel eine deutschen Epentext im Jahr 1752 herausgab:
moral didaktische Erläuterung in Prosa ein, die »Heinrichs von Alkmar / Reineke der Fuchs /
sogenannte "Glosse«. Hinrek van Alckmers mit schönen Kupfern. Nach der Ausgabe von
Text scheint die direkte Vorlage gebildet zu 1498 ins Hochdeutsche übersetzet, und mit ei-
haben für das niederdeutsche Knittelvers- ner Abhandlung, von dem Urheber, wahren
Epos Reynke de vos, das 1498 in der Mohn- Alter und großen Werthe dieses Gedichtes ver-
kopf-Druckerei zu Lübeck erschien. Sein Ver- sehen, von Johann Christoph Gottscheden.
fasser übernahm die Bücher- und Kapitelein- Leipzig und Amsterdam, verlegts Peter
teilung des Vorgängers und ebenso dessen Ver- Schenk, 1752. Leipzig, gedruckt bey Johann
fahren, jede Episode durch eine längere Gottlob lrnmanuel Breitkopf, 1752<<. Dem Text
Betrachtung in Prosa zu kommentieren. Das beigegeben war also, wie der Untertitel ver-
Werk ist als Erbauungsbuch für die höheren sprach, eine ausführliche philologisch-histori-
und reicheren Stände aufzufassen, eine Art sche Untersuchung; beigegeben waren auch
Adelsspiegel fur das hanseatische Patriziat, viele zierlich radierte Tierszenen des Nieder-
dem das sündliche Verhalten der tierischen länders Allaert van Everdingen - jene von G.
Hofgesellschaft und insbesondere des teuf- bewunderten. Die Gottschedische Ausgabe
lisch schlauen Fuchses zur Beherzigung vor- von 1752 lag vor G., als er sich im Frühjahr
gelegt und ausgelegt wird, damit man am 1793 anschickte, das Fuchs-Epos neu zu fas-
schlechten Beispiel lerne. sen; daneben blickte er auf die Delfter Prosa
1539 kam eine neue Ausgabe des Lübecker von 1485, welche 1783 in einem Neudruck wie-
Reynke de VOs in Rostock heraus. Im Versteil dererschienen war.
kaum, im Glossenteil hingegen gänzlich ver-
ändert, griff sie unmittelbar in die Glaubens- Die Welt des G.schen Reineke Fuchs ist eine
auseinandersetzungen des 16. Jhs. ein. »Diese mittelalterliche, eine Weltmit Königund Kron-
neue Rostocker Reineke-Fuchs-Bearbeitung«, vasallen, mit Papst und Bischöfen, mit Präla-
schreibt Christian Scheffler, »wollte mitstrei- ten, Beichtvätern und Wallfahrern, Klöstern,
ten im konfessionellen Kampf gegen die Sit- Beginen und Vigilien. Vieles vom alten Rechts-
tenlosigkeit des Klerus der katholischen Kir- wesen wird in ihm mitgeführt; man lernt die
che, gegen die Herrschaft des Papstes«; sie war Verbindlichkeit des Eidschwurs kennen (IX,
»ein protestantisches Bekenntnis« (S. 93). 264f.), erfährt etwas über forensische Beweis-
Der Lübeck-Rostocker Reynke de VOs ist verfahren (1,247; VII, 83; IX, 12ff.), über die
1539 ins Dänische, 1544 ins Hochdeutsche, »Rechte des freien Mannes« auf dreimalige ge-
1567 ins Lateinische, 1621 ins Schwedische richtliche Vorladung (III, 176ff.), über die Re-
übertragen worden - zumeist mit den Rostok- geln des Zweikampfs (XI, 337ff.) oder die dem
ker Glossen. Um 1700 wurde der Reynke, in König unterstellte Hals- und Blutgerichtsbar-
hochdeutsche Prosa aufgelöst, zu einem Volks- keit (I, 166). Von der lateinischen Ecbasis Cap-
buch und auch für ärmere Käuferschichten er- tivi von 1045 bis zur Fassung von Lübeck und
werbbar. Aber daneben sind manche nieder- Rostock haben die Tiergeschichten immer
deutsche Neuauflagen des Versepos zu ver- mehr Rechtswissen und Moralbrauch aufge-
zeichnen. Am wichtigsten wurde eine Neu- nommen, sich mit Welt- und Menschenkennt-
ausgabe des Lübecker Textes durch den nis gesättigt. Diese bunte böse Welt lädt G. zu
Helmstedter Professor Friedrich August Hack- Nach- und Neuerzählung ein. Ein Xenion kom-
mann, sie erschien 1711 in Wolfenbüttel. Und mentiert die Adaption des Stoffes: »Vor Jahr-
es war kein Geringerer als Johann Christoph hunderten hätte ein Dichter dieses gesungen? /
Gottsched, der von dem Hackmannschen Text Wie ist das möglich? Der Stoffist ja von gestern
eine hochdeutsche Prosaübersetzung anfer- und heut« (WA 1,5.1, S. 244).
tigte, neben den »katholischen« Glossen aus Es geht um Raub, Mord, Betrug, Vergewalti-
Lübeck auch die »protestantischen« Rostocker gung und Landfriedensbruch in den alten Hi-
Reineke Fuchs 511

storien, um »causae maiores« also. Daß sie vor von sich geben, seinen Zorn auf die kriegeri-
dem Richtstuhl des Königs verhandelt werden, schen Zeitläufte einmischen, die ihn von sei-
an seinem Hoftag und zu Pfingsten, wo nach nem Weimarer Glück entfernen - wovon er so
mittelalterlicher Reichsordnung die Stände ungern weggeht wie Reineke von seiner Frau
zur Versammlung gerufen wurden, hebt das und von Burg Malepartus. Selbst den blut-
Geschehen auf die staatliche Ebene und gibt untennengten Kot der mißratenen Kampagne
dem Prozeß den Rang einer Staatsaktion. Der - »Äser und Scheishaufen« (G. an Herder,
Kern der hochpolitischen Begebnisse ist eine 16.10.1792) - bewältigt der Dichter im penibel
große Gerichtsverhandlung - welche Ge- gezeichneten Bild der kämpfenden und ge-
schichte wäre geeigneter, Gericht zu halten schundenen Großtiere Wolf und Bär, die in
über die eigene Zeit? auffallender Weise mit ihrem Blut stets auch
G. indes sprach in jenen Tagen öfter davon, Kot und Gestank lassen, die immer wieder
er wolle sich »von der Betrachtung der Welt- »mit Unrath besudelt, mit ätzendem Unflath«
händel« (an Jacobi, 2.5.1793) ablenken und (I, 28) beschmutzt sind.
sich zerstreuen. Wir müssen hier keinen Wi- Was G. in seinem Reineke Fuchs zugleich
derspruch sehen. Als der Dichter 1822 in sei- poetisierte und ächtete, was er dichtend-nach-
ner autobiographischen Schrift über die verun- dichtend »ftir nichtswürdig« erklärte, waren
glückte »Campagne in Frankreich« auf den nicht ausschließlich die sich ablösenden Re-
Spätsommer 1792 zurückblickte, äußerte er: gimes der Französischen Revolution, war nicht
»Die Welt erschien mir blutiger und blutdür- nur die Welt des höfischen Absolutismus sei-
stiger als jemals [ ... ] Aber auch aus diesem nes Jahrhunderts im allgemeinen oder des
gräßlichen Unheil suchte ich mich zu retten, vorrevolutionären Frankreich im besonderen,
indem ich die ganze Welt ftir nichtswürdig sondern »die ganze Welt«, will sagen: der
erklärte, wobei mir denn durch eine beson- ganze Umkreis zeitgenössischer Intrigen- und
dere Fügung Reineke Fuchs in die Hände kam. Machtpolitik. G.s Nachdichtung tilgt nichts
Hatte ich mich bisher an Straßen-, Markt- und von der Hof- oder Klerusschelte des überlie-
Pöbel-Auftritten bis zum Abscheu übersättigen ferten Reineke-Corpus - man erinnere sich an
müssen, so war es nun wirklich erheiternd, in die ungerechte Teilung von Beute »nach Hof-
den Hof- und Regentenspiegel zu blicken: art« (X, 392), an die Gold- und Schatzgier des
denn wenn auch hier das Menschengeschlecht Monarchen in genauer Verbindung mit seiner
sich in seiner ungeheuchelten Thierheit ganz Unrechtlichkeit cv, 150ff.), an die Kritik pfäffi-
natürlich vorträgt, so geht doch alles, wo nicht scher Unkeuschheit (z.B. II1, 150) und klerika-
musterhaft, doch heiter zu, und nirgends fühlt len Ämterschachers (VIII, 282ff.). Gegen die
sich der gute Humor gestört« (WA 1,33, S. 266). revolutionäre Front andererseits zielt vor al-
Kunst bannt die Schrecken der Realität, lin- lem der von G. neugedichtete Fluch über den
dert den Verdruß und entspannt. Was in der »irrigen Wahn« der Weltverbesserer: »Doch
politischen Wirklichkeit Abscheu, in der mili- das schlimmste find' ich den Dünkel des irri-
tärischen Angst erregt, im literarischen Werk gen Wahnes, / Der die Menschen ergreift: es
kann es »erheitern«. Indem G. mit Hilfe des könne jeder im Taumel/Seines heftigen Wol-
alten satirischen Corpus die bedrückenden lens die Welt beherrschen und richten. /
Welthändel in die anschauliche Hofsphäre ver- Hielte doch jeder sein Weib und seine Kinder
setzt, das Menschliche in die Tierwelt über- in Ordnung, / Wüßte sein trotzig Gesinde zu
trägt, die grause Tatsächlichkeit in die Sprache bändigen, könnte sich stille, / Wenn die Tho-
hebt, gelingt ihm Beruhigung und Festigung ren verschwenden, in mäßigem Leben er-
des eigenen Ich. Das mittelalterliche Gewand freuen. / Aber wie sollte die Welt sich ver-
der Satire zeigt die Dinge einfacher, und es bessern? es läßt sich ein jeder / Alles zu und
distanziert sie. Spielerischer als sonst darf der will mit Gewalt die andern bezwingen. / Und
Dichter seinen Haß auf politischen Hochmut, so sinken wir tiefer und immer tiefer ins Arge«
höfische Intriganz oder empörerische Unruhe (VIII, 152-160).
512 Versepen

Es ist ein politisches Credo, wie wir es in Aber im 15. Jh. hatte sich das Werk, hatte seine
diesen Jahren ähnlich aus G.s gegenrevolutio- Intention sich gegenüber den vorausgegange-
nären Arbeiten kennen: aus dem Bürgerge- nen Bearbeitungen auch geändert. Es war auf
neral, den Aufgeregten, den Unterhaltungen den erzählerischen Fluß weniger Wert gelegt
deutscher Ausgewanderten oder dem Frag- als auf die didaktische Nutzung der Einzel-
ment über die Reise der Söhne Megaprazons. episode zu ständemoralischen und seelsorge-
Heiter wie strafend gilt die Satire beiden Sei- rischen Zwecken. Die einzelnen Begebnisse
ten, dem Ancien regime wie der Revolution, wurden ohne Rücksicht auf den Zusammen-
wenn auch der Angriff auf die Revolution eine hang der Erzählung punktuell zu sittlichen und
Nuance heftiger ausfallt; man vergleiche dazu heilsgeschichtlichen Betrachtungen ausge-
das Schreiben, mit welchem der Dichter am münzt, und für das glossatorische Textver-
28.6.1794 ein Widmungsexemplar an Char- ständnis verwies die Gestalt des Fuchses auf
lotte von Kalb überreichte. »Hier, liebe Freun- die Listen des Teufels, wurde das Ensemble
din«, hieß es darin, »kommt Reinecke Fuchs seiner Ränke zum Sündenspiegel, warnte die-
der Schelm und verspricht sich eine gute Auf- ser füchsische Streich vor Hochmut, jener vor
nahme. Da dieses Geschlecht auch zu unsern Ehebruch.
Zeiten bei Höfen, besonders aber in Repu- G. ließ die Glossen aus Lübeck wie Rostock
bliken sehr angesehn und unentbehrlich ist; so beiseite; er entstaute den Erzählfluß und voll-
möchte nichts billiger sein, als seine Ahnherrn zog so etwas wie eine Säkularisation seiner
recht kennen zu lernen«. Vorlage. Die vertikale Verknüpfung von Ein-
zelepisode und moralisch-religiöser Sinndeu-
Die zitierten neun Verszeilen machen im übri- tung wich nun einer horizontalen Verbindung
gen schon mehr als die Hälfte dessen aus, was der Episoden mit- und nacheinander. Zur
G. dem von Gottsched vorgelegten Bestand Übersicht und Gliederung wurde das Gesamt-
quantitativ hinzugefügt hat; insgesamt sind es geschehen in zwölf etwa gleich lange Kapitel
siebzehn Zeilen (VIII, 152-160, 171-177; XII, unterteilt, von denen die meisten markant ein-
379). Es war dem Dichter nicht um eine poli- setzen - man denke an den Botengang des
tisch aktualisierende Adaption des Stoffes zu Bären (11) oder des Katers (III) nach Male-
tun, um eine Schlüsselsatire, wie sie in seiner partus, daran, wie Reineke beginnt, sein Lü-
Zeit und danach in der Epoche des Vormärz gennetz zu knüpfen (V), oder wie er geschoren
mehrfach aus Reineke gemacht wurde. Seine und geölt zum Zweikampf erscheint (XII).
Absicht und sein Verfahren zielten auf ande- Über die Zwölfgliederung legt sich zudem eine
res. deutliche Zweiteilung des ganzen Erzähl- wie
»Es ist mir gelungen«, berichtet G. am des erzählten Prozesses: Mit dem Gesang VII
2.5.1793 dem Freund Jacobi und würdigt da- wird, genau in der Eposmitte, der hohe Ein-
mit sein Bemühen, sich durch die Beschäfti- gangs ton (I) wieder aufgenommen, die Tier-
gung mit der alten Fuchsiade »von der Be- welt strömt erneut zum Hofe - es »ergötzte
trachtung der Welthändel abzuziehen«. Er ver- sich festlich die beste Gesellschaft« (VII, 5) -,
rät zugleich, wie er mit seiner Vorlage ver- und wieder fehlt wie zu Beginn jener eine, der
fahren ist: Der neue Fuchs ist »in Zwölf alsbald zum Inhalt der Gespräche und zum
Gesänge abgetheilt und wird etwa 4500 Hexa- Grund wichtiger Zuriistungen wird.
meter betragen« (ebd.). Nach Fertigstellung G. nennt seine Abschnitte »Gesänge«. Das
des Epos sind es exakt 4312 Hexameter, bei klingt anspruchsvoll und erinnert an große
den zwölf Gesängen bleibt es. Von Alckmer bis Vorbilder, an die Gesänge von Friedrich Gott-
Gottsched war die Fuchsiade in vier Bücher lieb Klopstocks Messias oder mehr noch an
abgeteilt, ein Buch umschloß die erste Hälfte llias und Odyssee, an epische Gedichte also,
der Handlung, in die zweite Hälfte teilten sich die gleichfalls in Gesänge aufgeteilt sind. In 24
die drei restlichen Bücher. Das war wenig pro- solcher Gesänge bieten sich Homers Epen dar,
portionierlieh und erschwerte die Übersicht. die Vergilisehe Aeneis in zwölf. Das klassische
Reineke Fuchs 513

Vorbild scheint also beim Namen »Gesang« wie Den Dichter faszinierte nicht nur der den
bei der Zwölfzahl im Spiel zu sein. Die Fuchs- Epen Homers und Vergils vergleichbare Welt-
Geschichten werden nach antiker Art neuge- gehalt, seinen seit der italienischen Reise er-
faßt und die Aktionen der Tiere den Helden- wachten Formwillen drängte es auch proso-
kämpfen vor Troja, den Leiden und Taten des disch zum klassischen Maß. Gut ein dreiviertel
Odysseus oder des Aeneas angenähert. Hier- Jahr lang war G. bemüht, den Versen seines
bei konnte sich G. des Beifalls von Herder Tierepos »Aisance und Zierlichkeit zu geben«,
gewiß sein, dieser hatte schon die älteren Re- wie er sich gegenüber dem Freund Jacobi aus-
daktionen der Fuchsiade den Homerischen drückte (18.11.1793). Zu metrischen Ratge-
Werken an die Seite gesetzt und nahm an G.s bern wählte er sich Herder und Christoph
Neufassung begeisterten Anteil. Fast gleich- Martin Wieland, die in formalen Dingen libe-
lautende Botschaften sandte er im April 1793 raler erschienen als die »Herren von der strik-
an Jacobi und Gleim und erzählte ihnen vom ten Observanz« (G. an Meyer, 25.12. 1805), der
Fortschreiten der »ältesten und ewigen« (an Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß zum
Jacobi, 5.4.1793), der »ersten und größesten Beispiel. Dem Klassizistisch-Regelhaften und
Epopöe deutscher Nation, ja aller Nationen dem Schulmäßig-Antiquarischen wollte sich
seit Homer« (an Gleim, 12.4.1793) - im En- G. hier nicht bequemen. Kein Wunder, daß der
thusiasmus des Briefschreibers waren die äl- strenge Voß seine Verse für durchweg
tere Überlieferung und G.s Neuschöpfung »schlechte Hexameter« hielt, wenn er G. selbst
schon nicht mehr zu trennen. Übrigens hatte gegenüber sich auch eher diplomatisch äu-
bereits Gottsched in hochzielendem Vergleich ßerte: »Der Versbau [sei] leicht und ohne An-
an Homer erinnert und den Alckmer als spruch auf zwecklosen Ausdruck, so wie ihn
»Homers Nachahmer« und seinen »Reinaert« die Idylle und das Epigranun verlangt« (GRÄF
als »recht nach dem Muster der Odyssee und 1, 1, S. 257) - Gattungen also, die für das
der Aeneis« gerühmt (Birke, S. 439 u. S. 442). klassische Verständnis dem Rang nach deut-
Auch der Fabeldichter Lichtwer meinte, auf lich unter dem großen Epos stehen, dem der
ein barockes Urteil zurückgreifend: »Und antikisierende G. doch nacheifern wollte.
Reinecke der Fuchs gibt, wie ein Morhof Doch dieser läßt sich nicht beirren und mei-
sprach, / Dem göttlichen Homer an Weisheit stert - nach seinen knappen und ungelenken
wenig nach« (Pott, S. 118). früheren Hexameter-Versuchen (Er und sein
Von einer komischen Parodie der klassi- Name, 1780; Geweihter Platz, 1782) - den al-
schen Heldenepik zu sprechen, wie es zuwei- ten Langvers hier mit souveräner Anmut. Das
len geschieht, ist abwegig (vgl. Schwab, metrische Gewand schmiegt sich zwanglos
Menke 1983). Trotz einiger homerisierender dem jeweiligen Sinn, ein feiner Plauderton ist
Wortformeln : »die gerichtlichen Worte« (I, häufig vernehmbar, oft drängen die Sätze un-
21), »die neuermunterten Vögel« (I, 3) und der kompliziert wie in Prosa voran. Wo es Stok-
Wahl von Tieren anstelle von menschlichen kungen oder rhythmische Brüche gibt, signali-
oder halbgöttlichen Helden sind Geschehen siert dieses meistens eine gewollte Bedeutung
und Tiercharaktere von anderer Wucht als die - man vergleiche etwa Vers I, 12. Steife Ge-
Figürchen von Pausback (Physignathos) und setze für Versgrenze und Zäsur respektierte G.
Bröselklau (Psicharpax) und die läppischen wenig, sondern ordnete sie gern dem Sinn und
Manöver der Quaker und Nager im »Frosch- natürlichen Sprachfluß unter.
mäusekrieg«, der »Batrachomyomachia« aus Als Beispiel seien die drei Eingangsverse
dem 4. oder 3. vorchristlichen Jh., woran ei- betrachtet. »Pfingsten, das liebliche Fest, war
nige Interpreten denken. Solches Bescherzen gekommen; es grünten und blühten / Feld und
hätte der hohen Wertschätzung des Stoffs wi- Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und
dersprochen, worin G. den Ratgebern Gott- Hecken / Übten ein fröhliches Lied die neu-
sched und Herder folgte. ermunterten Vögel« (I, 1-3). Der erste Vers ist
bis zur Kadenz aus Daktylen gebildet, kein
514 Versepen

Trochäus hemmt am Anfang oder in der Mitte jisch erschien G. die Interjektion »schyt«, er
des Verses die froh schwingende und frei tö- machte in Gottscheds Gefolge daraus: »Nicht
nende Kunde vom anhebenden Maienfest. In ein Haar!« (VIII, 91). Gegenüber den Vorbil-
starkem Kontrast dazu finden sich im folgen- dern wirkt es leichter, wenn Lampe, der »red-
den Vers vier trochäische Takte; rhythmisch liche Mann«, nicht mehr »bei der Kehle«, son-
stützen sie die Vielgliedrigkeit der Beschrei- dern »beym Kragen« gepackt (I, 75) und dem
bung, sind doch nicht weniger als sechs ein- Wolf, der statt am »Kinn« nunmehr »unter dem
zelne Orte genannt, an denen sich das Friih- Barte« murmelt (X, 358), durch die Pranke des
jahr farbig und klingend offenbart. Achtet man Löwen eine »blutige Glatze« zuteil wird (X,
auf die Verszäsuren, so erstaunt deren häufiger 373) - die Einflihrung des leicht spaßigen
Platzwechsel in den drei aufeinanderfolgen- Worts »Glatze« für »Schopf« (auch X, 394) lin-
den Zeilen: in der ersten Zeile eine Haupt- dert den krassen Bericht und zeigt, ähnlich wie
zäsur im vierten, eine Nebenzäsur im ersten der Tausch von »Kehle« gegen »Kragen«, eine
Takt, in der zweiten Zeile eine kräftige Zäsur Tendenz weg von der Sphäre des spezifisch
im zweiten, in der dritten eine mildere im und grob Animalischen. Das gilt ebenso für die
dritten Takt. Wie die Zäsuren in Vers 2 - vor Wortfelder der Fortbewegung und der Nah-
allem die (klassizistisch gesehen) regelwid- rungsaufnahme. Da »gehen, kommen oder lau-
rige Hauptzäsur im zweiten Takt - sehr schön fen Goethes Handlungsfiguren nicht«, beob-
die Aufzählung der bunten und klingenden achtet Hubertus Menke, »sie wallen, wandeln
Orte stützen, kündet ihr freier Platzwechsel oder spazieren. Menschliche und tierische Be-
durch die drei Verse hin insgesamt von der reiche sind deutlich voneinander getrennt:
allseits lösenden Wonne des Friihlings. Und Statt zu fressen oder zu vertilgen, schmaust,
gleich schön kündet davon das leichte Fließen verzehrt und tafelt die Goethesche Hofgesell-
der Sätze über die Grenzen der beiden ersten schaft« (Menke 1983, S. 15f.). In artiger Weise
Verse hinaus, das Enjambement, das ein wich- fragt Grimbart den Fuchs: »Wo laßt ihr, Neffe,
tiges Charakteristikum des ganzen Reineke die Augen / Wieder spazieren?« (I1I, 436f.),
Fuchs ist. So zeigte sich G. gleich in der ersten und in eben diesem schönen Konversationston
größeren Arbeit, die er in antiker Form vor- schnurrt der Kater: »Thut mir die Liebe« (111,
nimmt, erstaunlich sicher und entging jeder 47), was bei Gottsched banaler lautete: "Wollt
Künstlichkeit. Ihr mir einen rechten Gefallen tun«.
Auch liebt es der Kater, sich mit religiösem
Kein Zweifel, G. hob die Reineke-Überliefe- Anklang auszudriicken. »Sollt' ich mich etwa
rung auf ein neu es ästhetisches Niveau. Doch erlösen vom großen Übe!?« (111, 163), fragt er
geschah das nicht allein dadurch, daß er - mit im Ton einer Vaterunser-Bitte, als er gefesselt
Gottscheds prosaischer Hilfe - die vieltausend ist; bei Gottsched heißt es an dieser Stelle:
derb geknittelten Zeilen des Lübeck-Rostok- »Ob er sich vielleicht losmachen könnte«, im
ker Textes in elegante Hexameter verwan- niederdeutschen Text: »eft he syck konde loe-
delte, auch durch die Wahl seiner Worte wirkte zen« - man ermißt den Abstand zu G. Litur-
der Dichter. Er milderte, er entschwerte oder gische Assoziationen weckt der G.sche Aus-
heiterte auf und würzte auch manche Phrase druck »salben«; so werden dem Wolf im Zwei-
mit blasphemischem oder erotischem Doppel- kampf die Augen »gesalbt« (XI, 389; XII, 59).
sinn. Gottsched schreibt einmal etwas bläßlich: »die
Eine »langbeinige Hure« mäßigt sich zur Augen treffen«, ein andermal hingegen dra-
»langbeinigen Mähre« (VIII, 74). Isegrims ge- stisch: »die Augen ausgepisset«, während G.
quälte Hoden - Gottsched nannte sie »Brüder« ein Wort wählt, das an kirchlichen Brauch,
- werden zu »empfindlichsten Theilen« (XII, auch an den Segnungsakt mit dem Weihwas-
171). Wo derselbe Isegrim bei Gottsched »von serwedel gemahnt, dessen Stelle hier des
hinten etwas fahren« ließ, heißt es jetzt: »Er Fuchses beharnte Rute vertritt. Ein Hauch von
lös 'te / Sich vor Angst« (XII, 178f.). Zu plebe- Blasphemie weht über solche Passagen.
Reineke Fuchs 515

Auch dem witzig-erotischen Tone sei nach- und macht uns den Text durch leise Frivolität
gelauscht. Erotik ist im Reineke-Epos auf ille- amüsant. Es wird ein französischer Geist, ein
gale Buhlerei und Vergewaltigung beschränkt: leichter Anflug Lafontainescher Eleganz und
auf das Verhältnis des Fuchses zur Wölfin Gie- Perraultscher Galanterie in solchen Passagen
remund. Es fallt auf, daß G., anders als die erschmeckbar.
Vorlagen, die Wölfin nicht ausschließlich zum
Opfer des lüsternen Reineke macht, sondern Auf diese Weise wird die Fuchsgestalt neu mo-
auch eine »Neigung der Wölfin / Zu dem delliert. Sein Mut, etwa bewiesen im Aben-
schändlichen Fuchse« berichtet (III, 94f.) - teuer mit dem Fischführer (I, 105f.) oder im
zweifellos eine psychologische Witzigung des finalen Zweikampf mit dem Wolf, seine
Tradierten. Gleichwohl wird die Wölfin von Schläue und diplomatische Gewandtheit, das
Reineke in Fallen gelockt, wo seiner Begehr- körperlich wie geistig Rege machen aus dem
lichkeit nicht mehr zu wehren ist. An solchen Rotrock nicht mehr ein Wambild des schlin-
Stellen weicht G. merklich vom alten Text ab. genlegenden Teufels wie in den glossatori-
Schreibt Gottsched: Der Fuchs »fiel sie schleu- schen Vorlagen, sie gewinnen ihm Sympathie;
nig an«, so wählt G. den verschmitzteren Aus- wir bangen bei jedem Abenteuer mit ihm um
druck »macht' ihr zu schaffen« (II1, 121); gibt einen guten Ausgang. Wie seine verbale Ero-
Gottsched die geschlechtslose Wendung: Er tik, so stellen auch seine Reflexionen, selbst
»überwältigte mein Weib« und entkräftigt da- seine Unruhe, seine Ängste, von denen wir im
bei das gröbere niederdeutsche »vorweldigede Unterschied zu den anderen Großtieren erfah-
myn wyff«, so gebraucht G. die in passender ren, ihn über diese. Der Fuchs ist Persönlich-
Art doppeldeutige, weil auch sexuelle, Formu- keit mit differenziertem Innenleben, wir se-
lierung: »Er kam und übermannte sie« (XI, hen und horchen in ihn hinein, der epische
19); und sehr anders als in den Vorlagen, näm- Fabelfuchs bietet als einziges Tier die Mög-
lich frivol und zweideutig, klingt jetzt, wie der lichkeit der Einfühlung. Der Leser läßt sich
Malefikant sein Verhalten gegen die festge- sogar seine Überheblichkeit gefallen - in den
frorene Wölfin erklärt: »daß ich ihr redlich moraltheologisch bestimmten Fassungen der
geholfen! / Denn ich schob und wollte mit al- Vergangenheit ein Sinnbild sündhaften Hoch-
len Kräften sie heben« (XI, 71 f.). Unüberhör- muts -, da sie einhergeht mit Grazie. Man ist
bar sind auch Reinekes Freßgelüste mit se- geneigt, an den »Schalk« Mephisto zu denken,
xuellen Anklängen untermalt, Jagdfreude und der ja gleichfalls mehr intellektuellen Genuß
erotisierte Augenlust vereinigen sich in seiner· bietet als zerknirschende Höllenangst. Mephi-
immer wieder genannten »Begierde«. Wir le- sto wie Reineke sind überlegene Figuren, ent-
sen: »Da verdrehte der Schalk die gierigen larven die falschen Emphasen und schönen
Augen im Kopfe. / Ja vor allem gefiel ihm ein Worte, stören mit schneidender Sentenz die
Hahn, der jung und gemästet / Hinter den an- Selbsttäuschungen, sind die zur Wahrhaftig-
dem spazierte, den faßt' er treulich ins Auge« keit treibende Unruhe. Wie Mephisto die wir-
(III, 420-422); oder in Worten des füchsischen kungsvollen sarkastischen Szenenschlüsse ge-
Roues selbst: »Lampe reizte mich sehr; er hören, so treffsicher spricht Reineke das Ge-
sprang herüber, hinüber, / Mir vor den Augen setz aus, dem alle folgen: »Raubt der König ja
herum, sein fettes Wesen gefiel mir« (VIII, selbst so gut als Einer, wir wissen's; / Was er
95 f.). Geradezu wie einen Balztanz beschreibt selber nicht nimmt, das läßt er Bären und
Reineke die Bewegung des Hasen - und sich Wölfe / Holen, und glaubt, es geschähe mit
selbst als einen Feinschmecker, der dem nicht Recht« (VIII, 109ff.).
widerstehen kann. Fast durchgehend wird die Reineke erkennt, daß man ihn wegen Taten
füchsische Reiß- und Beißlust mit erotischem anklagt und belangt, die andere wie selbst-
Beiklang inszeniert. Das erhebt sie über die verständlich begehen, daß er sich für Hand-
bare Gefräßigkeit der übrigen Großtiere, es lungen rechtfertigen muß, die man jenen nicht
deutet schon Kultivation und Raffinesse an zur Schuld rechnet. Diese gespaltene Moral
516 Versepen

der Gesellschaft in eins mit ihrem Löwen- und nun! Zur Weisheit bekehre / Bald sich jeder,
Wolfsgesetz: der Fuchs faßt sie in treffende und meide das Böse, verehre die Tugend! /
Worte. Er ist der Analytikerdieser tierischen Dieses ist der Sinn des Gesangs, in welchem
Sozialwelt. Um den Raubtiercharakter der der Dichter / Fabel und Wahrheit gemischt,
Funktionsträger gleichsam ad oculos zu de- damit ihr das Böse vom Guten / Sondern mö-
monstrieren, lockt er sie in Situationen, in get, und schätzen die Weisheit, damit auch die
denen sie Regel und Motiv ihres Handeins Käufer / Dieses Buchs vom Laufe der Welt sich
entlarven, der Bär seine Genäschigkeit, der täglich belehren. / Denn so ist es beschaffen,
Kater seine lagdlust, der Wolf seine Freß- und so wird es bleiben, und also / Endigt sich unser
der Löwe seine Habgier. Der welt- und seelen- Gedicht von Reinekens Wesen und Thaten: /
kundige Reineke packt sie alle bei ihren Uns verhelfe der Herr zur ewigen Herrlich-
Schwächen, Wünschen, Trieben, bei ihrer ge- keit! Amen« (XII, 373fL).
lehrten Eitelkeit, bei ihren Macht- und Aus der Gottschedischen Vorlage hat G. die
Glücksphantasien. Wie ein Experimentator Kembegriffe »Tugend«, »das Böse«, »Lauf der
läßt er sie agieren, daß es nur noch ein Rea- Welt« und »Weisheit« übernommen, ebenso
gieren ist, und zieht bei diesen arglistig-ge- den Hinweis auf die Erwerbbarkeit des
nauen Proben sogar die Menschen als Exeku- Buches. Von ihm hinzugefügt sind die Wort-
tanten in sein Kalkül. So ist er die ganz über- folgen »sich täglich belehren«, »denn so ist es
legene Gestalt; mit skeptischer Distanz zum beschaffen, so wird es bleiben« und das aus-
tierischen Getriebe vertritt er darin die Stelle lautende »Amen«, mit dem er ein Pendant zum
der Reflexion. Was er tun muß, wie alle an- Anfangswort »Pfingsten« schafft und der ge-
dem, der eigenen Natur gehorchend, und weil samten Erzählung einen geistlichen Rahmen
es so geht in Natur und Gesellschaft, das tut er, gibt. Mit der ersten Hinzufügung erinnert G.
anders als alle andern, ohne moralische Betäu- an die täglich vorzunehmenden Stundenge-
bung oder die Dumpfheit eines guten Gewis- bete, das Brevier der Geistlichen, mit der
sens. Er handelt mit Bewußtsein und Selbst- zweiten an die gottesdienstliche Formel »per
bewußtsein, und daraus gewinnt des Fuchses omnia saecula saeculorum« (»von Ewigkeit zu
Bosheit ihr mephistophelisches Licht. Ewigkeit«); so vermehrt er den geistlichen
Durch Reineke spricht G. zu den Lesern. Wortschatz und steigert die liturgischen An-
Ihm vertraut er sogar sein politisches Credo klänge. In selbstbefreiendem Mutwillen treibt
an, sein Wort über die öffentliche »Tierheit« er einen sacht blasphemischen Scherz mit den
der Zeit, in jenen dem alten Corpus zugefüg- religiösen und moralischen Imperativen des
ten Versen (VIII, 152-162). Was der Dichter in alten Abgesangs. Spielerisch rückt er den »Ge-
seinen zeitlich benachbarten Entwürfen und sang« und seine Lektüre in den Rang einer
Werken einen würdigen Landedelmann (Der gläubigen Verrichtung wie Brevier- und Bibel-
Bürgergeneral) , einen korrekten Hofrat (Die lesen, durch das man »sich täglich belehren«
Aufgeregten), eine artige Baronesse (Unter- soll. Nicht in die Heilsgeschichte soll man sich
haltungen deutscher Ausgewanderten) über hier freilich versenken, sondern in die un-
die Wirrnisse der politischen Gegenwart sa- selige Welt mit ihrer fortwährenden Nieder-
gen läßt, hier kommt es aus dem Mund des tracht. Eine »unheilige Weltbibel« (Tag- und
Fuchses, des Schelmen und scharfsinnigen lahres-Hifte 1793) hat der Dichter daher das
Schlingels und klingt darum minder streng als Epos genannt und es seinem frommen Freund
anderswo und weniger bitter, als wenn es der lacobi ironisch für die »gewöhnlichen Bet-
Erzähler selbst über die ins Tierische verfa- stunden« empfohlen (7.6.1793).
belte Welt hingespochen hätte. Doch nutzt G. die hergebrachte Form der
Aber das letzte Wort ließ G. dem Fuchse abschließenden Moral nicht nur zu distanzie-
nicht, sondern wandte sich, wie der Erzähler render Ironie; auch ein ernsthafter Ton ist ein-
in den Vorlagen von 1498 und 1539, wiederum gemischt. Die Formel, »denn so ist es beschaf-
selbst an den Leser. »Hochgeehrt ist Reineke fen, so wird es bleiben«, erinnert daran, daß
Reineke Fuchs 517

die zeitgenössischen Leiden unter Revolution, zahlreiche Neu- und Weiterdichtungen des
Krieg und Reaktion nicht so außergewöhnlich Fuchs-Stoffes im ausgehenden 18. und in der
sind, sondern Elemente der Menschheitsge- ersten Hälfte des 19. Jhs. Neuerliches Inter-
schichte im ganzen und darum vielleicht eher esse erregte der G.sche Reineke Fuchs im Vor-
ertragbar. Und der Terminus »Weisheit« - im märz, als ihn Wilhelm Kaulbach 1846 für eine
Unterschied zur Vorlage gleich zweimal ge- Neuausgabe des Cotta-Verlags illustrierte. Die
braucht - meint in diesen Jahren bei G. recht Stiche waren geistreich und bissig; eine Tafel
spezifisch eine Haltung ruhiger und freundli- etwa zeigte den Thron des Königs und Richters
cher Distanz zu den Wirren der Welt, insbe- von Tierknochen umstreut, auf ihm Nobel
sondere den Stürmen der internationalen Poli- selbst mit einem Szepter, welches in eine grap-
tik - man vergleiche die Elegie Hermann und schende Hand auslief: Symbol für die tiefe
Dorothea vom Jahr 1796. Das Wort »Amen« Heuchelei der tierischen Räubergesellschaft.
endlich besiegelt den Rat zur freundlichen und Die staatlichen Stellen in Bayern wollten das
umgänglichen Gelassenheit gerade angesichts Erscheinen des Buches verhindern (Scheffler,
einer unfreundlichen Weltgeschichte und hat S.104).
so auch einen schönen und ernsten Sinn. In Jacob Grimms Abhandlung Reinhart
»Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, Fuchs (1834) fand, kurz nach G.s Tod, die
daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch Reineke-Philologie einen ersten Höhepunkt.
innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns Der G.schen Bearbeitung trat Grimm nicht
von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die ohne Kritik gegenüber, er bemängelte ihren
auf uns drücken. [ ... ] Die muntersten wie die erhöhten Kunstanspruch und den Verlust an
ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, Naivität: »Goethes Gedicht zeugt laut für die
durch eine glückliche geistreiche Darstellung epische Kraft der auch ein klassisches Gewand
so Lust als Schmerz zu mäßigen«. Das schrieb tragenden Fabel, hat aber ihre natürliche, ein-
G. 1815 in Dichtung und Wahrheit (JVA I, 28, fache Vertrautheit oft daran gegeben« (S.
S. 213f.), und es ist, als hätte er dabei auch auf CLXX) - Reserve gegen das Galante und Ironi-
Reineke Fuchs, sein munterstes Werk, zurück- sche des Werks.
geblickt. Die germanistische Forschung, sofern sie
sich überhaupt G.s Reineke Fuchs zuwandte,
Von den Zeitgenossen wurde G.s Reineke beschäftigte sich die folgenden hundert Jahre
Fuchs mit gespaltenem Echo aufgenommen. lang vornehmlich mit dessen Entstehungsge-
Johann Heinrich Voß empfand die antikisie- schichte - so Hans Gerhard Gräf in seinem
rende Fassung des alten mittelalterlichen Stof- Kompendium Goethe über seine Dichtungen
fes als abwegig. Schillers Freund Christian von 1901 - oder mit der Suche nach G.s Quel-
Gottfried Körner attestierte dem Werk insge- len und Vorlagen - so Martin Lange und Käthe
samt keinen hohen Rang. Anders Schiller Scheel. Fragen des G.schen Verses und vor
selbst, der es für »das beßte poetische Pro- allem den Eigenheiten von Versende und Zä-
dukt« hielt, »was seit sovielen vielen Jahren in surwandte sich Ernst Feise zu; auf seine Arbeit
Umlauf gekommen ist« (an W von Humboldt, konnte Ulrich Hötzer zurückgreifen, als er auf
25.1.1796); seine Bitte an Wilhelm von Hum- die eigentümliche Qualität des G .schen Hexa-
boldt, das Werk in den Horen zu rezensieren, meters zu sprechen kam. Seine endgültige
wurde nicht realisiert. Karl Ludwig von Kne- textphilologische Ausgabe erfuhr das Epos zu
bels Lob war erwartbar. Nicht unberührt durch Anfang der 60er Jahre durch Siegfried
die kritischen Urteile, vor allem von Voß, be- Scheibe, eine umfassende Interpretation
riet sich G. einige Male mit August Wilhelm durch Lothar Schwabs Buch Vom Sünder zum
Schlegel über eine metrische Besserung, doch Schelmen. Schwab verfolgte erstmals minu-
unterblieb eine solche. tiös, wie G. aus den zahlreichen allegorischen
Zusammen mit Herders Neuinterpretation »fabelen« des spätmittelalterlichen und refor-
des Reineke bot G.s Fassung den Anstoß für mationszeitlichen Reynke ein durchkompo-
518 Versepen

niertes Epos, aus dem Sündenspiegel eine neke-Fuchs-Dichtung und ihre Bearbeitungen bis in
weltliche Erzählung, aus dem füchsischen Sa- die Neuzeit. In: Rombauts, E.lWelkenhuysen, A.
(Hg.): Aspects of the medieval animal epic. Leuven
tan - öfter in spielerischer Beibehaltung der
1975, S. 85-104. - Schwab. Lothar: Vom Sünder zum
alten Teufelsassoziationen - den witzigen Schelmen. Goethes Bearbeitung des Reineke Fuchs.
Schelm gebildet hat. Namentlich die durch- Frankfurt/M. 1971. - Werke Goethes. Epen. Bd. 1:
gängige Ironie macht den Reineke Fuchs zu Text. Bd. 2: Überlieferungen, Varianten und Para-
einem Höhepunkt in der Geschichte des Rei- lipomena. Bearbeitet von Siegfried Scheibe. Hg. von
neke-Stoffes und im Schaffen des Dichters G. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu
Berlin. Berlin 1958/1963.
zu einem eigenständigen Werk.
Hans-WolfJäger

Literatur:
Bergmann, Christian: Stilistische Untersuchungen
dreier Fassungen des Tierepos vom Reineke Fuchs.
Diss. Leipzig 1963. - Birke, Joachim (Hg.): Johann
Christoph Gottsched. Ausgewählte Werke. Bd. 4.
Berlin 1983. - Düwel, Klaus: Zum Stand der Rein-
hart-Fuchs-Forschung. In: Bianciotto, G./Salvat, M.
(Hg.): Epopee animale. Fable. Fabliau. Paris 1984,
S. 197-213. - Feise, Ernst: Der Hexameter in Goe-
thes Reineke Fuchs und Hermann und Dorothea. In:
MLN.4 (1935), S.230-237. - Gottsched, Johann
Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst. In:
Birke, J. (Hg.): Johann Christoph Gottsched. Ausge-
wählte Werke. Bd. 6. Teil 2. Berlin 1973, S.439 u.
S.442. - GRÄF 1, 1, S.240-260. - Hötzer, Ulrich:
.Grata Negligentia< - .Ungestiefelte Hexameter<.
Bemerkungen zu Goethes und Mörikes Hexameter.
In: DU. 16 (1964), H.6, S.86-108. - HSW 16. -
Jäger, Hans-Wolf: Reineke Fuchs (1974). In: Lütze-
ler, P. M./McLeod, J.E. (Hg.): Goethes Erzählwerk.
Stuttgart 1985, S. 103-133. - Jauss, Hans Robert:
Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung.
Tübingen 1959. - Lange, Martin: Goethes Quellen
und Hilfsmittel bei der Bearbeitung des Reineke
Fuchs. In: Programm Nr.507 des König!. Gymna-
siums zu Dresden-Neustadt. Dresden 1888. -
Menke, Hubertus: Ars vitae aulicae oder descriptio
mundi perversi? Grundzüge einer Rezeptions- und
Wirkungsgeschichte des Erzählthemas vom Reineke
Fuchs. In: Jb. des Vereins für niederdeutsche
Sprachforschung 1975176, S. 94-136. - Ders.: .Denn
so ist es beschaffen, so wird es bleiben<. Goethes
Reineke Fuchs. Privatdruck der Goethe-Gesellschaft
Kiel 1983. - Pott, Ernst Ludwig Magnus von (Hg.):
Magnus Gottfried Lichtwer's Schriften. Halberstadt
1828. - Prien, Friedrich (Hg.): Reynke de Vos. Halle
1887. (= Lübeck-Rostocker Reynke de Vos). - Röcke,
Werner: Fuchsjagd und höfischer Friede. Das nie-
derdeutsche Tierepos Reynke de vos von 1498. In:
Wenzel, Horst (Hg.): Adelsherrschaft und Literatur.
Bern u.a. 1980, S. 287-328. - Scheel, Käthe: Goethes
Reineke Fuchs und seine Quellen. In: Mitteilungen
aus dem Quickborn. 40 (1949), S. 43-45. - Scheffler,
Christian: Die deutsche spätmittelalterliche Rei-
Hernnann und Dorothea 519

Hernnann und Dorothea insbesondere die mit »Weimar« und »Erfurt«


glossierten Partien. Jene Anekdote situiert
Göcking mit zwei offenbar widersprüchlichen
Angaben ins »Oettingische« und nach »Alt-
Entstehung mühi«. Den betreffenden Passus als Beispiel
für die »wunderbare Führung GOttes« einlei-
tend und ihn mit dem Paulus-Wort von Gottes
Herrmann und Dorothea, das wichtigste Zeug- unerforschlichen Wegen summierend, berich-
nis für G.s Auseinandersetzung mit der Fran- tet er von einer »Saltzburgischen Dirne [ ... ],
zösischen Revolution, sein bedeutendster Ver- die der Religion wegen Vater und Mutter ver-
such, »dieses schrecklichste aller Ereignisse in lassen hatte«: wie sie dem Sohn »eines reichen
seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu ge- Bürgers« gefiel, den sein Vater »offt zum hey-
wältigen« (yYA II, 11, S. 61), und zugleich »fast rathen angespornet«; wie der Sohn ihr anbie-
das einzige« seiner »größeren Gedichte«, dem tet, »bey seinem Vater« zu »dienen« und and-
er sich nie entfremdete (zu Eckermann, 18.1. rerseits bei diesem die Erlaubnis zur Heirat
1825), - »dieses Lieblingsgedicht« G.s (an einholt, nachdem »der Vater nebst seinen
Christoph Friedrich Ludwig Schultz, 8.7. Freunden und dem herzugeholten Prediger
1823) nimmt eine Sonderstellung auch in Hin- sich lange vergeblich bemühet hatte, ihm sol-
blick auf seine Entstehungsgeschichte ein. Von ches aus dem Sinne zu reden«; wie dies alles
den letzten Versen abgesehen, ging die Formu- bei der Begegnung der irregeführten »Saltz-
lierung des Texts, am 11.9.1796 begonnen und burgerin« und des um deren Täuschung nicht
nach verschiedentlichen Unterbrechungen am wissenden Vaters zu einem Mißverständnis
7.6.1797 abgeschlossen, mit einer für Schiller führt, das der Sohn schließlich mit seinem
»unbegreiflichen Leichtigkeit und Schnellig- Heiratsantrag ausräumt. »Das Mädgen« ist »es
keit« (Schiller an Körner, 28.10.1796) vor sich, auch zufrieden«, erhält zur »Verlobung« ein
und G. selbst wollte »die Kühnheit« seines »Ehe-Pfand«, das sie, »so fort in den Busen«
»Unternehmens nicht eher wahrgenommen« greifend, mit einem »zweyhundert Ducaten«
haben, »als bis das Schwerste schon überstan- schweren »Mahl-Schatz« aufzuwiegen im-
den war« (an Johann Heinrich Meyer, stande ist (ebd., S. 671f.).
5.12.1796). Die »Idee« allerdings und das Nach einem Zeugnis Böttigers soll das »Su-
»Sujet« hatte G. »zwei« (Böttiger, S.74) oder jet« ursprünglich fürs Theater bestimmt ge-
»mehrere Jahre schon mit sich herumgetra- wesen sein, wie denn G. und Schiller in ihrem
gen« (Schiller an Körner, 28.10.1796). Wie BriefWechsel auch noch an der narrativen Ge-
man sehr bald entdeckt hat, geht dieses »äu- stalt des Texts Affinitäten zum Drama aus-
ßerst glückliche« Sujet - »ein Sujet wie man es machten. Für die »idyllisch-epische« (an Kör-
in seinem Leben vielleicht nicht zweymal fin- ner, 20.7.1797) Gestaltung, wie schon diese
det« (an Meyer, 28.4.1797) - auf eine »spär- doppelte Klassifikation vermuten läßt, gaben
liche und im schlechten Sinn erbauliche« zwei Anregungen den Ausschlag. Darauf hat
(STAIGER, Bd. 2, S. 237) Anekdote zurück, die G. in einem Gedicht hingewiesen, das, noch
in verschiedenen Fassungen überliefert ist. während der Arbeit an Herrmann und Doro-
Gleichwohl und trotz G.s in dieser Hinsicht thea entstanden, dieses Werk in den Horen
beharrlichem Schweigen läßt sich die Quelle hätte ankündigen sollen (was jedoch auf Schil-
identifizieren: Gerhard Gottlieb Günther Gök- lers Bedenken hin unterblieb): In der Elegie
kings Vollkommene Emigrations-Geschichte Herrmann und Dorothea wird »erst [ ... ] des
von denen aus dem Ertz-B!fJthum Saltzburg Mannes« gedacht, der »vom Namen Homeros I
vertriebenen und grijJtentheils nach Preussen Kühn uns« befreite, und in zweiter Linie »des
gegangenen Lutheranern (Frankfurt, Leipzig Dichters [ ... ], der seine Luise [ ... ] dem [ ... ]
1734), ein Werk, das G. auch über die fragliche Freund [ ... ] verband« (yYA I, 1, S.294). Ob-
Anekdote hinaus benutzt zu haben scheint, wohl erst nach Friedrich August Wolf erwähnt,
520 Versepen

ist die Inspiration durch Vossens Luise-Idyllen denen Wolf auf Übereinstimmungen der
älter als das durch Wolfs Prolegomena ange- Homerischen Epen und des Alten Testaments
regte Studium des Homerischen Epos und als wie auch auf Parallelen in der Überlieferung
der Versuch, deren philologische Erkenntnisse und der philologischen Erschließung der bei-
dichterisch umzusetzen. Zwar erschienen die den Korpora hinweist und damit seine wissen-
Prolegomena ad Homerum im selben Jahr schaftsgeschichtliche Abhängigkeit verrät; be-
(1795) wie die erste Buchausgabe der Luise, ruht Wolfs Homer-Kritik doch auf einem bibel-
doch war G. zumindest das dritte und auch philologischen Vorbild, einer Einleitung ins
entstehungsgeschichtlich letzte Luisenidyll - Alte Testament (1780-1783) von Johann Gott-
auf dieses allein bezieht sich die knappe Para- fried Eichhorn, der die analytische Methode
phrase der Elegie - seit der separaten Erst- bereits erfolgreich erprobt und etwa nachge-
publikation im Merkur (1784) bestens ver- wiesen hatte, daß die fünf Bücher Mosis un-
traut, wie aus seinen sehr beifälligen Äußerun- möglich von einem einzigen Autor stammen
gen hervorgeht. Schwerer tat er sich anfäng- können. Obschon Wolf sein Modell nicht aus-
lich mit Wolfs Homer-Analyse, der zufolge die drücklich als solches und nur beiläufig in einer
Homerischen Epen Kompilationen relativ ei- Fußnote erwähnt hatte, studierte G. nicht nur
genständiger »Rhapsodien« sein sollten. Wolfs die beiden Primärkorpora, sondern auch die
analytischer Ansatz war G. zunächst in einer entsprechenden Sekundärtexte sozusagen syn-
kurzgehaltenen >,vorrede zur Bias« begegnet, optisch, zum Zeugnis nicht zuletzt seiner akri-
welche ihn furs erste entschieden »schlecht bisch genauen Lektüre der wissenschaftlich
erbaut« hatte (an Schiller, 17.5.1795). Zu wie sprachlich sehr anspruchsvollen Prolego-
überzeugen vennochten ihn erst die ausführli- mena.
cheren Darlegungen der Prolegomena ad
Homerum, die übrigens ihrerseits nicht ei-
gentlich von Homer schlechthin, sondern
hauptsächlich wieder nur von dem einen der Gliederung und
unter diesem Autornamen überlieferten Epen
handeln. Diesen ältesten Autornamen der
Gesangsüberschriften
abendländischen Literaturgeschichte als le-
gendarische Fiktion abtuend, liquidierte Wolf Daß die eine der in der Elegie erwähnten In-
den fast ebenso alten Gemeinplatz von der spirationsquellen die andere überfonnt hat,
Anmaßung, es mit dem »Originalgenie des läuft nicht eben nur auf eine deutsch-griechi-
Homers« (Robert Wood in der Übersetzung sche Symbiose hinaus, wie sie die Namen des
Frankfurt a.M. 1773) aufnehmen zu wollen, Werktitels chiffrieren - und wie sie ja auch
und indem er unter dem neu bestimmten Be- schon für die Luise charakteristisch wäre, als
griff der »Rhapsodie« eine Vor- und Grund- deren Parodie Gleim Herrmann und Dorothea
fonn der frühgriechischen Großepen rekon- verwünschte -, sondern vielmehr zeichnet sich
struierte, tilgte er ein für die Definition der im Ablösungsverhältnis jener bei den Vortexte
Gattung sonst konstitutives Merkmal. Die so eine Tendenz ab, das antikische Moment als
definierte »Rhapsodie« legte den Rahmen für ein immer schon gegebenes sukzessiv zu ver-
G.s Versuch fest, selbst »Homeride zu sein« stärken. Diese Tendenz bestimmte insbeson-
(WA I, 1, S. 294), d.h. in einem uno actu rezi- dere einen Vorgang, der das äußere Erschei-
pierbaren Text, der auf eine einzige Hand- nungsbild des Werks prägen sollte: die Entste-
lungssequenz beschränkt bleiben sollte. hung der »doppelten Inschrifften« (an Schiller,
Nach seiner weiteren Lektüre zu schließen- 8.4. 1797), bei der jeweils ein Musenname und
»Ich studire jetzt in großer Eile das alte Testa- ein habituell antizipativer Untertitel zusam-
ment und Homer« (an Schiller, 19.4.1797)-, mentraten. Die Musentitel setzen eine antike
scheint sich G. besonders für diejenigen Par- Tradition fort und verweisen auf einen Autor,
tien der Prolegomena interessiert zu haben, in in dem man seit alters her einen Homer der
Herrmann und Dorothea 521

Geschichtsschreibung gesehen hatte, auf He- Untertitel, Das Zeitalter, einen einschlägigen
rodot, dessen neun Bücher ebenfalls unter sol- Schwerpunkt antizipiert; die komische Muse
chen Titeln überliefert und noch in den Aus- Thalia auf einen, den die mehr oder weniger
gaben des 19. Jhs. gedruckt wurden. Schon die beschränkten »Bürger« allein bestreiten; Mel-
Rezensionen oder auch ein anspielungsreiches pomene, als Muse der Tragödie, auf einen, der
Epigramm Varnhagen von Enses beweisen, mit Sonnenuntergang und aufziehendem Ge-
daß zeitgenössische Rezipienten diesen Tradi- witter beginnt und mit einem schlechten
tionszusammenhang durchaus zu würdigen Omen endet.
wußten, an dem schon G.s erster Musentitel Welchen Wert G. auf den antikisierenden
keinen Zweifel mehr läßt. Indem G. den Na- Teil seiner »doppelten Inschriften« legte, geht
men der Kalliope, der Muse epischer Dich- daraus hervor, daß er um der Neunzahl der
tung, über den ersten Gesang und mithin vor Musennamen willen die frühere, minutiös
das ganze Werk setzte, stellte er ganz offen- ausgewogene Gliederung des Texts aufgab, in
sichtlich eine Beziehung zum Textgenus her, der dieser noch nicht auf neun, sondern auf
wie er sie offenbar schon beim ersten Binnen- nur sechs Gesänge konzipiert war, vielleicht
titel des Herodoteischen Korpus zu sehen den sechs Stunden »von Nachmittag 3 Uhr bis
glaubte, dessen erstes Buch in jenen Ausgaben Abends um 9 Uhr« entsprechend, in welche die
den Namen der Klio, der Muse der Geschichts- erzählte Zeit nach einem vermutlich auf G.
schreibung, zufallig im Titel fUhrte (zufallig selbst zurückgehenden Zeugnis Böttigers »ein-
deshalb, weil die Reihenfolge der Titel in der geschlossen« sein sollte (Böttiger, S. 73). Solch
entsprechenden Redaktion dem Musenkatalog eine Balance der Erzähl- und der erzählten
des Hesiod folgte und somit eine besondere Zeit wäre in der neunteiligen Fassung ge-
Bedeutung auch nur einer Titelposition gar wahrt, da in ihr, einem erst in diese neun-
nicht intendiert sein konnte). teilige Fassung eingefUgten Vers zufolge (I, 7),
Was die übrigen Musentitel von Herrmann die Handlung bereits »Mittags«, also drei Zeit-
und Dorothea angeht, so ist die Frage nach einheiten früher beginnt. Die neunteilige
ihrer Motivierbarkeit nur differenziert zu be- Gliederung und damit die Voraussetzung fUr
antworten, zum al in Hinblick auf Musen ohne die antikische Titelgebung gewann G., indem
verbindliche Domäne, bei denen indessen die er die drei in der sechsteiligen Fassung läng-
Möglichkeit besteht, die Beziehung zum je- sten Gesänge (den dritten, vierten und sech-
weiligen Gesang über die appellativische Be- sten), und zwar zuerst den unter diesen wie-
deutung ihres Namens zu fUhren (so steht z.B. derum längsten (den vierten), halbierte. Da-
Polyhymnia, die ,Vielessingende<, vor dem bei, und das erklärt die graduell sehr verschie-
thematisch disparatesten Gesang). Eher asso- dene Motivierbarkeit der Musentitel, wurden
ziativ scheint die gleichwohl unbestreitbare die drei neuen Gesangsgrenzen so gezogen,
und jedenfalls kaum bestrittene Beziehung daß jeweils eine der resultierenden Segment-
zum Gesangstext auch beim letzten Titel, Ura- hälften (der nachmals dritte, sechste und achte
nia, zu sein, wo sich eine Unterscheidung von Gesang) möglichst genau zu einer bestimm-
Namensbedeutung und Musenpatronat erüb- ten, d.h. je zu einer gattungsmäßig festgeleg-
rigt. Die ,himmlische< Urania galt als »Vor- ten Muse paßte und außerdem der Musenan-
steherinn der Sternseherkunst« (Hederich, Sp. ruf, nun erst in den Plural gesetzt, sinniger-
2478f.). Die Emphase immerhin, die auf dem weise unmittelbar hinter den letzten Mu-
letzten Titel als solchem liegt, ist durch eine sennamen zu stehen kam.
literaturgeschichtlich eminente Stellung die- Obwohl sie in der Überlieferung immer
ser einen Muse gedeckt. Sehr genau jedoch schon als solche, also paarweise auftreten,
sind über den Ersttitel Kalliope hinaus die Na- kamen die »doppelten Inschriften« dadurch
men der nach literarischen Gattungen defi- zustande, daß die erst spät konzipierten
nierten Musen auf die je entsprechenden Ge- Musentitel ältere, eher gewöhnliche Rubriken
sänge bezogen: Klio auf einen, der schon im überlagerten. Diese lassen sich aus den Unter-
522 Versepen

titeln der »doppelten Inschriften« rekon- G. »auch mit um die augenblickliche Ausbrei-
struieren, wenn man diejenigen eliminiert, tung zu thun« war (an Humboldt, 15.5.1797;
die an den drei neuen Gesangsfugen stehen. Konzept WA IV, 12, S. 121 f.) - und je nach
Es ergibt sich so eine chiastische Reihenfolge, Preislage verschieden ausgestattet und illu-
die auf einer Symmetrie der sechsteiligen striert. Auf die Illustration hatte G. vergeblich
Anlage selbst beruht: »Schicksal und Anteil«, Einfluß zu nehmen versucht, indem er bemer-
»Herrmann«, »Die Bürger« - »Der Welt- kenswerterweise auf Kupfern nach Sujets
bürger«, »Dorothea«, »Herrmann und Doro- nicht des vorliegenden, sondern des eben zu-
thea«. vor abgeschlossenen Erzählwerks Wilhelm
Meisters Lehrjahre bestand und dazu auch
mindestens zwei konkrete Vorschläge machte,
die sich beide auf das vierte Buch der Lehr-
Überlieferung jahre und den darin verwundeten Wilhelm be-
ziehen: wie dieser im sechsten Kapitel VOn der
»schönen Amazone« und Philine und im neun-
Zum Teil wenigstens ist der Prozeß der neuen ten von Philine allein umsorgt wird. Die Auf-
Titelgebung und der Neueinteilung, der in- lage des Erstdrucks war mit 6000 Exemplaren
nere Zusammenhang des einen und des an- stark übersetzt, namentlich wegen der bald
dem im ältesten Textzeugen unmittelbar doku- schon auftauchenden Raubdrucke, denen Vie-
mentiert, in einer Handschrift - von ein paar weg auch mit den billigsten Ausstattungen
wenigen Fragmenten abgesehen der einzig er- nicht hatte zuvorkommen können. Entschei-
haltenen -, die zu gleichen Hälften in zwei dende Bedeutung erlangten im weiteren Ver-
Foliofaszikel zerfällt und hierin jene ursprüng- lauf der Textgeschichte zwei solcher Nach-
liche Symmetrie wie auch die zäsierte Entste- drucke, deren einer, ohne Orts- und Verlags-
hungsgeschichte und G.s Absicht reflektiert, angabe auf 1798 datiert, als Vorlage des an-
vorab die ersten »drey [nachmals vier; d. Vf.] dem, 1806 in Reutlingen verlegten diente, der
Gesänge« separat zu publizieren, wovon er die Druckfehler seiner korrupten Vorlage
dann aus rezeptionsästhetischen Bedenken übernahm und noch viel mehr falsche Lesarten
und aus Rücksicht auf »den [ ... ] leidigen in den Text einführte.
Mammon« absah (an Schiller, 26.10.1796). Für den entsprechenden Band seiner Werke,
Das erhaltene Manuskript repräsentiert ganz der 1808 erscheinen sollte, gedachte G. Herr-
verschiedene Stadien der Entstehungs- und mann und Dorothea »nach neueren prosodi-
selbst der Editionsgeschichte, da G. auch nach schen Überzeugungen« zu überarbeiten (an
der Publikation damit arbeitete. Vorstufe der Cotta, 14.6.1805), wie sie Johann Heinrich
verlorenen Satzvorlage und Abschrift einer ih- Voß in jenen Jahren entwickelt hatte, dessen
rerseits verlorenen Vorstufe - bis auf die letz- gleichnamigen Sohn G. denn auch zu Rate zog.
ten 93 Verse, die der Schreiber auf G.s Diktat Die Zusammenarbeit mit Voß jun., der das
hin eingetragen hat -, weist dieses Manuskript Foliomanuskript mit seinen Korrekturvor-
unter anderen viele Autorkorrekturen auf, die schlägen förmlich übersät hatte, blieb indes-
teils schon in die Erst-, teils aber auch nur in sen auf halber Strecke liegen, und G. nahm die
die jüngeren und teils in gar keine Ausgabe schließlich sehr moderat ausfallende Revision
eingegangen sind. des Wortlauts allein in die Hand, nur ganz
Wenige Monate nach der Niederschrift jener selten auf Vossens und auch nicht konsequent
letzten Verse, im Oktober 1797, erschien in auf seine eigenen Korrekturen des Manu-
Berlin bei Friedrich Vieweg d. Ä. der von Wil- skripts zurückgreifend. Weil er allem An-
helm von Humboldt besorgte Erstdruck, in schein nach kein Exemplar der Erstausgabe
den besseren Exemplaren als Taschenbuchfür mehr besaß, legte er der neuen Edition den
1798 - die »Kalendergestalt« war »das be- damals offenbar am leichtesten zugänglichen,
quemste Vehikel« für ein »Gedicht«, bei dem es und das heißt jenen Reutlinger Druck zu-
Hernnann und Dorothea 523

grunde, dessen Korruptelen er bei flüchtiger zweite der Hausfreund des Gastwirths. Beide
Sichtung nur hie und da emendierte, so daß referiren was sie gesehen. [ ... ] (Ende des er-
viele davon in die Ausgabe der Werke von 1808 sten Gesangs.)
gelangten. Auf dieser, als der letzten, für die Hennann [ ... ] tritt dann in die Stube und
G. Hernnann und Dorothea nochmals durch- erzählt, daß er [ ... ] den eigentlichen Emigran-
gegangen war, beruht direkt oder indirekt der tenzug nicht mehr angetroffen, wohl aber ei-
Text aller noch zu G.s Lebzeiten erschienenen nen einzelnen Wagen [ ... ] von einer treffli-
wie auch der wissenschaftlichen Ausgaben und chen beihergehenden jungen Dime getrieben,
insbesondere die maßgebliche historisch-kri- eingeholt habe. Die Treiberin bittet ihn mit
tische Edition Siegfried Scheibes (1958/63), edelm Stolze um Hülle und Leinwand für die
die allerdings einen in zweierlei Hinsicht im Wagen befindliche, grade [ ... ] entbundene
kompilierten Text bietet: wo der Text von 1808 junge Frau. Hennann langt [ ... ] sein mütter-
die Abweichungen des Reutlinger Raubdrucks liches Paket hervor und eilt ihr, als der Wagen
übernimmt, kehrt sie zur Textgestalt der Erst- schon vorwärts ist, um dem im nächsten Dorfe
ausgabe zurück; und sie nimmt die Lesarten Nachtquartier machenden Zuge nachzukom-
einer Korrekturliste auf, die, von G. im Juni men, noch einmal nach, und hier gibt er der
1797 erstellt, im Erstdruck nicht mehr berück- holden Treiberin auch noch die Lebensmittel
sichtigt ist. Dessen Text, nach dem hier zitiert [ ... ]. Reflexionen der Gesellschaft. Der Vater
wird, gibt nur die Frankfurter Ausgabe wieder wiederholt seinen [ ... ] Wunsch [ ... ] gegen
(FA 1,8, S. 807-833). den Sohn, er möge sich doch bald von den
Töchtern des gewerbsamen Kaufmanns [ ... ]
eine zur Frau aussuchen. Es sei gut, eine be-
mittelte Frau sich zu wählen. [ ... ] Nun er-
Die neun Gesänge widert Hermann seine Zweifel. [ ... ] der Vater
[ ... ] schilt den Sohn einen Bauerntölpel, der
ihm nie Ehre machen werde, und versichert
Nach den beiden Hauptphasen seiner Arbeit, gradezu, ein armes Mädchen werde er nie als
im Dezember 1796 und im April 1797, las G. Schwiegertochter über die Schwelle kommen
die je entstandene Werkhälfte einer kleineren lassen. [ ... ] Hermann schleicht betrübt zur
Gesellschaft vor. Böttiger, der beiden General- Thüre hinaus. (Zweiter Gesang.)
proben beizuwohnen die Gelegenheit hatte, [ ... ] die gute Mutter [ ... ] geht ihm [ ... ] bis
nutzte diese dazu, die einzelnen Gesänge fol- an den großen Birnbaum [ ... ] nach. Hier be-
gendennaßen zu paraphrasieren: schleicht sie den Sohn [ ... J. Rührende Ge-
ständnisse des Sohns [ ... ] - Tröstender Zu-
»In einem niedlichen Landstädtchen ohnfern spruch. [ ... ] (Dritter [nachmals dritter und
dem Rhein ist [ ... ] Alles, was Füße und Wagen vierter; alle weiteren Einfügungen v. Vf.] Ge-
hatte, hinaus auf die Landstraße gegangen, um sang [dessen erste Hälfte - den nachmals drit-
dort einen langen Zug von Auswandernden ten -, einen politischen Disput der 'Bürger<,
[ ... ] vorüberziehen zu sehen. [ ... ] Der Wirth Böttiger überspringt].)
zum goldenen Löwen [ ... ] ist [ ... ] zu Hause Eben hat der Prediger ein treffliches Wort
geblieben, hat aber seinen [ ... ] Sohn Her- [ ... ] gesprochen, als die Mutter mit dem
mann zu Wagen hinausgeschickt, und die sorg- Sohne hereintritt und [ ... ] den Entschluß ih-
same Mutter hat ihm ein Paket alte Leinwand res Hermann dem Vater kund thut, worauf
[ ... ] sowie auch Mundprovision mitgegeben, auch dem Sohne die Zunge gelöst wird. Der
um den Nothdürftigsten damit auszuhelfen. Prediger stimmt ein. Der Apotheker erbietet
Unterredung des [ ... ] Wirths mit seiner Frau sich sogleich, [ ... ] ins Dorf zu fahren. Endlich
[ ... ] Unterdessen [ ... ] kommt auch der ge- willigt der überwundene Vater ein, daß Her-
schäftige Apotheker und der ehrwürdige junge mann sogleich mit dem Prediger und Apothe-
Pfarrherr zurück, der erste der Nachbar, der ker hinausfahren soll. Jene Beiden sollen sich
524 Versepen

nach dem guten Namen und den Umständen zu den Ihrigen zurückzukehren. [ ... ] Alles
des Mädchens erkundigen. Dies soll entschei- entwickelt sich« (Böttiger, S. 70-80).
den. [ ... ] Die Abgesandten gehen, nachdem
ihnen Hermann [ ... ] das Mädchen kenntlich
gemacht hat. - So weit las Goethe [im Dezem-
ber 1796] auch den 4ten [nachmals fünften] Modifikationen und
Gesang vor.
Ausgestaltungen der Quelle
[ ... ] im sechsten [ ... ] erzählt der Richter
jener fliehenden Menge dem Pfarrherrn eine
Großthat vom Mädchen [ ... ]. Hermann ent- Daß das Sujet von Hernnann und Dorothea
läßt seine Begleiter, die nun zurückfahren. aus der konfessionell-religiösen Propaganda
[ ... ] Hermann bleibt in Gedanken verloren stammt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
[ ... ]. Nicht als ob es schon etwas besagen müßte,
Siebenter Gesang. Da tritt Dorothea plötz- daß die auktoriale Instanz in streng neutraler
lich [ ... ] selbst hervor. Sie kommt [ ... ], reines Erzählhaltung die Rede von »Gottes Hand und
Brunnenwasser [ ... ] zu schöpfen. Hier finden Finger« (11, 52) je an handelnde Personen de-
sich die Liebenden. [ ... ] Ihre im Quelle sich legiert, um freilich die eine auszunehmen, der
spiegelnden Gesichter begegnen sich. [ ... ] solche Reden von Amts wegen zustünden: Der
Aber [ ... ] als nun das Mädchen fragt: Warum Geistliche, »der Kluge« (IX, 108), dem G.
kamst du hierher? antwortet er sich verstel- »seine eigenen sittlichen Überzeugungen«
lend: Dich als Haushälterin [ ... ] zu dingen. (STAIGER, Bd. 2, S.241) in den Mund gelegt
Sie entschließt sich auf der Stelle; sie will, hat, vermeidet es mit hierfür bezeichnender
statt ein herumstreifendes Leben zu führen, Konsequenz, den religiösen Diskurs aufzu-
dienen. Hier eine der schönsten Stellen über greifen. Sinnbildlich für dessen ramponierte
die Bestimmung des Weibes. [ ... ] Abschied Ehr- und Glaubwürdigkeit steht das »ver-
von den Ihren im Garten. Eine Scene, wobei bräunte« Aushängeschild der »Apotheke zum
der Vorleser und wir die Thränen im Auge Engel«, den Berufspatron der »Offizin« und
hatten. »den gräulichen Drachen [ ... ] ihm zu Füßen«
Achter Gesang. Nun wandeln sie [ ... ] den darstellend, das der Apotheker, weil die fi-
Fußpfad zur Stadt [ ... ]. Ein Gewitter thürmt nanzielle »Fordrung« ihn »schreckte«, »vergol-
sich vor der untergehenden Sonne. Wechsel- den zu lassen« sich nicht entschließen konnte
gespräch. [ ... ] So gelangen sie unter den Birn- (I1I, 107-110); eine hier noch harmlos kom-
baum. [ ... ] Dorothea tritt fehl und sinkt dem merzielle Profanation, welche aber doch die
vorausgehenden Jüngling an die Brust. Aber er außerreligiöse Verftigbarkeit der biblischen
bekämpft sich, er bleibt starr und unbeweg- Szene bezeugt und insofern auf deren politi-
lich. [ ... ] sche Vereinnahmung vorausweist, wie sie im
Neunter Gesang. Ängstliches Harren im ideologischen Kontext des Werks und seiner
Hause des Gastwirths. Endlich treten sie wie Wirkungsgeschiche einsetzte: die Assoziation
höhere Gestalten zur Stubenthüre ein. Gewal- der apokalyptischen mit der Drachentötung
tige Misverständnisse. Ehe der auf die Seite Siegfrieds, der, wie Hermann der Cherusker,
gerufene Pfarrherr dem [ ... ] Vater das Ver- zum Symbol eines gegen Frankreich gerichte-
ständniß öffnen und ihm sagen kann, daß die ten Nationalbewußtseins avancieren sollte.
eigentliche Brautwerbung noch gar nicht ge- Auch jenseits eines orthodoxen Diskurses
than sei, platzt dieser los und bewillkommt sie verweigert der Text verbindliche Antworten
als Braut. Dies muß Dorothea als bittern Spott auf die Frage nach »einer von außen herein
nehmen. Ihr gekränkter Stolz macht sich Luft. übernatürlich eingreifenden Kraft, die man
Der Pfarrherr reizt sie absichtlich noch mehr. sonst vom Heldengedicht unzertrennlich
Nun gesteht sie selbst ihre Liebe zu Hermann, dachte« (Böttiger, S. 77), wenngleich ihm oft
aber auch den festen Entschluß, auf der Stelle eine »Ahnung vom Zusammenhang einer
Hernnann und Dorothea 525

sichtbaren und unsichtbaren Welt«, und sei es spricht und es der tragikomische Fortgang der
auch nur in »leisen Spuren« (Sengle, S.647) Handlung verbietet zu entscheiden, ob eines
unterstellt wurde. Die Möglichkeit immerhin von beidem berechtigt ist, die abergläubisch-
einer entsprechenden Lektüre hält vor allem metaphysische Interpretation oder aber deren
ein Motivkomplex offen, der das ganze Werk ironische Distanzierung.
durchzieht, ein Parallelismus nämlich von In die unmittelbare Gegenwart des Ersten
Handlung und Witterung. Hat Herrmanns Va- Koalitionskriegs - »ohngefähr« in den August
ter schon in den allerersten Versen »mit Nach- 1796 (an Meyer, 5.12. 1796) - und ins rechts-
druck« auf den wolkenlosen Himmel hinge- rheinische Gebiet verlegt, stimmt die Hand-
wiesen (I, 44-50), so werden von dem Moment lung in ihrem Grundriß weitgehend mit jener
an, da Herrmann Dorothea unter dem Vor- »kleinen Verlobungsgeschichte« (STAIGER, Bd.
wand seines verfänglichen Antrags nach Hause 2, S.238) überein. Indem sie nun aber in ei-
führt, »gewitterdrohende« »Wolken« und die nem ackerbürgerlichen Milieu angesiedelt
durch sie entstehende »ahndungsvolle Be- wird, dessen doppelte Subsistenz gewisserma-
leuchtung« erwähnt (VIII, 1-4), in der »Schat- ßen in eine bürgerliche und eine vorbürger-
ten dunkeler Nächte« (VIII, 54-56) zusehends liche, rein agrarische, differenziert und so auf
die Oberhand gewinnen und schließlich das Vater und Sohn verteilt ist, spitzt sich deren
schlechte Omen verursachen, daß Dorothea Konflikt zu. Der Vater und Wirt wehrt sich
»beim Eintritt ins Haus« (VIII, 101) über die jetzt nicht mehr nur gegen eine Mesalliance
»roheren Stufen« stolpert (VIII, 89). Die Eng- des Sohns, sondern er versucht mit dessen
führung des »drohenden Wetters« (VIII, 5) und Verheiratung sein eigenes Sozialprestige zu
der unter dem Signum der Melpomene sich heben. Der diametrale Abstand zwischen den
abzeichnenden Tragödie, wird im Musenanruf Ansprüchen des Vaters und den Wünschen des
mit seiner doppelsinnigen Rede von den »Wol- Sohns kompliziert das Handlungsmuster er-
ken«, die über das »Glück« »des lieblichen Paa- heblich. Auf den zudringlichen Vorschlag des
res« »sich heraufziehn« (IX, 1-5), verdeutlicht. Apothekers hin gibt der Wirt seine Einwilli-
Die so insinuierte Fühlung mit einer kosmolo- gung nur noch unter dem Vorbehalt einer »Prü-
gischen Sphäre kulminiert in der vorläufigen fung«, welcher der Apotheker und der Geist-
Katastrophe, indem der Ausbruch des gefürch- liche, ironisch zu »Spähern« stilisiert, das
teten »Wetters« mit dieser zusammenfällt. »Mädchen« im benachbarten »Dorf« unterzie-
Auch wenn danach, nachdem die vermeint- hen sollen und welche schließlich in den Auf-
liche Katastrophe als Peripetie zum Guten sich tritt des Richters und den Exkurs über »das
erwiesen hat, weitere Erwähnungen des Wet- Zeitalter« münden wird. Zuvor aber muß im
ters unterbleiben, so kann das kaum darüber Streit »der Männer« signifikanterweise die
hinwegtäuschen, daß jener sympathetische einzige gegen die Quelle eingeführte Haupt-
»Zusammenhang« letztlich doch gekappt ist, person vermitteln, die Mutter, die dem Ge-
und daß eine wohl begründete Wetterprognose nerationenkonflikt eine entschieden ödipale
des Vaters am Ende Lügen gestraft wird, be- Note verleiht und nicht zufällig am Ende der
zeichnet die geistesgeschichtlich kritische Si- ersten Werkhälfte unterm Birnbaum genau die
tuation eines Texts, der die Unmöglichkeit ver- Stelle einnimmt, die gegen Ende der zweiten
läßlicher Weltdeutungen in Form diverser von Dorothea besetzt wird. Dieser Erweite-
Mißverständnisse drastisch vor Augen führt: rung des in der Quelle vorgegebenen Personals
in Herrmanns Unfähigkeit beispielshalber, das steht dessen Reduktion um die Mehrzahl der
für ihn schmerzliche Zeichen am Ringfinger »Freunde« auf den einen Apotheker gegen-
Dorotheas richtig zu lesen (VII, 101; VIII, 65); über, der strukturell zwiefach und je negativ
oder wenn Dorothea jenes Omen mit zwar profiliert ist: als konservativer »Bürger« gegen
»scherzenden Worten« und unter Berufung nur den fortschrittlichen Wirt und gegen den dra-
auf »bedenkliche Leute« (VIII, 99f.), aber maturgisch stark aufgewerteten Geistlichen
gleichwohl als ein entschieden schlechtes an- als in jedem Sinn ungleicher »Gefährte«; ein
526 Versepen

nicht umsonst der epischen Sprache entnom- dem bürgerlichen Ideal angeglichen, welches
mener Begriff: weist die Ungleichheit der bei- die Dorothea selbst in den Mund gelegten
den immer zusammen agierenden »Gefährten« Worte auf den einen Nenner des »Dienens«
doch auf Odysseus und Diomedes, das be- bringen (VII, 114-128). Der schon in den Lehr-
rühmteste Heroenpaar der Homerischen Epen jahren höchst ambivalenten Faszination ama-
zurück. zonischer Züge genau entsprechend, ist von
Am eindrücklichsten und jedenfalls nach der »Heldengröße« notabene allein »des
Ausweis der Rezeptionsgeschichte sehr kühn Weibes« bezeichnenderweise nur mehr im Zu-
ist die Gestalt des »Mädgens« gestaltet, »her- sammenhang der zum »Marmorbild« eingefro-
ausgehoben« (Humboldt, S.184) zumal aus renen Szene die Rede, wo »der sinnige Jüng-
den sie umgebenden »Weibern«, auf die sich ling« »die herrliche Last« der Stolpernden,
typischerweise die gleichmacherische Technik jetzt vollends Hilfsbedürftigen »mit Mannes-
des Epos beschränkt, verschiedene Sprechakte gefühl« auffängt (VIII, 89-98). Jene »männ-
kollektiv auf einen zu kontrahieren (VII, 190, liche« »Tat« Dorotheas aber bleibt in die Ver-
198). Dem schüchternen, geistig nicht sonder- gangenheit entrückt, wenn auch als dialektisch
lich agilen und in eroticis ganz unerfahrenen »schönes« Korrelat, so eben doch unter der
Herrmann ist Dorothea weit und immerhin in Signatur zerrütteter Verhältnisse, aus denen
einem Grad überlegen, der den tradierten Ge- Dorothea nun in eine gesicherte Existenzform
schlechterdiskurs in Frage stellt. So wird die übertritt, und offensichtlich erübrigen sich in
Anekdotenhandlung etwa dahin modifiziert, dieser solche mit dem Chaos assoziierten
daß Herrmann seine Hemmungen bis zuletzt Emanzipationsphänomene, wie sie im Um-
von sich aus nicht zu überwinden vermag und kreis der Revolution tatsächlich nachgewiesen
Dorothea das »erwünschte geständnis« (Bar- sind. Innerhalb der Familie, der die Verwaiste
bara Schulthess, zit. nach MA 4.1, S.1088) integriert wird - »an der Tochter Statt, der
ihrer Gefühle dem Rollenklischee entgegen leider frühe verlornen« (VII, 66) - und deren
zuerst ablegen muß. Kompositorisch wird die »Quaternität« sie zum Zeichen der »Ganzheit«
Asymmetrie der beiden Hauptfiguren so abge- (Jung, S. 123) komplettiert, ist Dorotheas Exi-
fangen, daß die weibliche, erst im letzten stenz ganz aufs »Haus« festgelegt, auf daß sich
Werkdrittel auftretend, lange nur mittelbar er- der Mann »dem Feinde sicher« entgegenstel-
scheint: über den Botenbericht Herrmanns, len kann; eine Rollenteilung, die beider Iden-
dessen erster Kontakt mit Dorothea im Zei- tität zu verbürgen scheint. Jetzt erst redet
chen ihrer Sorge für ein Neugeborenes steht; Herrmann die sich an seinem »Arm [ ... ] hal-
über die Retrospektive sodann des Richters, tende« Dorothea mit ihrem Namen an, um sei-
der »vor allen« eine »hochherzige« »Tat« er- nerseits die eigene Selbstgewinnung im para-
wähnt, wie nämlich Dorothea »bewaffnet« doxen Komparativ des Possessivpronomens zu
»sich und die Ihren« gegen die »wilde Begier« artikulieren: »Du bist mein; und nun ist das
»verlaufnen Gesindels« zur Wehr setzte (VI, Meine meiner als jemals« (IX, 299-318).
104-118, 179-182); endlich über eine Mauer- Was die räumliche Entfaltung des lapidaren
schau des Apothekers (VI, 137-145), den ein- Handlungsschemas betrifft, so stilisiert sie
zigen Passus, der einen andern, Herrmanns den Schauplatz je und je zum locus amoenior:
Beschreibung »der reinlichen Kleider« (V, »den glücklichen Winkel/Dieses fruchtbaren
168-176), mehr und minder wörtlich wieder- Tals und seiner Krümmungen« (I, 11 f.), das
holt und dadurch die charismatische Erschei- »Städtchen« und selbst noch »das kühlere Säl-
nung desto stärker auratisiert. Von dem Mo- chen« (I, 160). Der schon sprachlich, in den
ment an jedoch, da Dorothea in persona auf- notorischen Diminutiven wirksame Hang zu
tritt, wird das gewagte, mit den konventionel- jener »Beschränkung«, die nach Jean Pauls De-
len Frauenbildern unvereinbare Syndrom der finition jedes idyllische »Vollglück« bedingt
mittelbar vergegenwärtigten Züge zugunsten (Jean Paul, S. 259), zeigt sich besonders auch
der mütterlich-altruistischen simplifiziert und daran, wie der Text immer wieder auf den
Herrmann und Dorothea 527

Grenzen seiner Handlungsräume insistiert, scheinet« (IX, 223-225). Solch ein Schluß
angefangen bei den »stärkeren Mauern« des hätte die Anekdotenhandlung entscheidend
»Sälchens« (I, 160ff.) über die »Mauer des verkürzt, welche ja damit endet, daß die ver-
Städtchens« mit dem »Graben« und dem meintlich Verarmte ein »Ehe-Pfand« nicht so-
»wohlumzäuneten Weinberg« davor (IV, wohl erhält, als daß sie ihrerseits die »Verlo-
20-23) bis hin zu den »Fluten des Rhein- bung« mit einem »Mahl-Schatz« von »zwey-
stroms« als eines »Walls, um abzuwehren den hundert Ducaten« bekräftigt. Nicht nur, daß in
Franken« (I, 190-195). Auf diese und andere Herrmann und Dorothea die Suspendierung
Weise verbannt - das »Elend« der Flüchtlinge des ökonomischen Kalküls sich in dessen Di-
wird lange nur über Botenberichte vermittelt -, mension keineswegs mehr auszahlt; in der ur-
ist das Ausgegrenzte natürlich immer auch sprünglichen, kürzeren Fassung sollte das
schon wieder einbezogen, so daß das idylli- »künftige Glück« noch nicht institutionell ga-
sche Reservat von Anfang an als ein prekäres rantiert werden und die Emphase des letzten
erscheint. An sich keineswegs neu und späte- Nomens stattdessen auf der Offenheit des ,Un-
stens in Vergils Eklogen bereits faßbar, doch endlichen< liegen. Gewiß hat das wie die
nun ins äußerste forciert, sprengt diese Dia- >>Versichrung« eines ausdrücklich nur »künfti-
lektik den Rahmen der Gattung. gen Glücks« mit G.s Reserve gegenüber bün-
digen Werkschlüssen zu tun, wie sie in den
Fortsetzungen seiner berühmtesten Texte und
auch dieses einen sich augenfallig behauptet
Der definitive Werkschluß hat.
Das Schwergewicht dieser Fortsetzung liegt
offensichtlich auf einer Gegenüberstellung der
Das starke Gefalle zwischen der heimgesuch- »zwey Gesinnungen in die sich jetzt beynahe
ten und der heilen Sphäre, dessentwegen die die ganze Welt theilt« (an Herzogin Louise,
verschiedensten Grenzlinien beschworen wer- 13.6. 1797; Konzept, WA IV, Bd. 12, S.76).
den müssen, ließe sich poetologisch als Effekt Voraussetzung dafür aber, für Dorotheas
»epischer« Elemente beschreiben, mit denen »Erinnrung« an ihren ersten Bräutigam, der als
ein zunächst »idyllisch« angelegtes »Gedicht« Sympathisant der Revolution dieser zum Opfer
versetzt und überfremdet wurde; ein Vorgang, fiel, Voraussetzung für das Zitat seiner Ab-
der sich darin niederschlug, daß G., kaum schiedsrede und für Herrmanns konservative
hatte er es zu »versificiren« (WA III, 2, S.47) Replik darauf, ist ein nun gleichsam nachge-
begonnen, sein »Gedicht« nicht mehr als »idyl- holtes Verlobungsritual, bei dessen Vollzug der
lisches«, sondern hinfort nur noch als »epi- Geistliche nach der Bewandtnis des Rings an
sches« bezeichnete. Wie die idyllische Be- Dorotheas Finger fragt - eine Frage, die sich
schränkung aufbricht, kann man exemplarisch eigentlich erübrigen müßte, da der jetzt
am Schluß des Werks studieren, der schon von gleichwohl »staunende« Geistliche schon seit
seinem rezeptionsgeschichtlich verhängnis- seinem Gespräch mit dem Richter wissen
vollen Stellenwert her Beachtung verdient. Al- sollte, daß der »Tod« des ersten Bräutigams
les, die Handschrift, die Zeugnisse zur Entste- den Symbolwert dieses Rings annulliert hat.
hungsgeschichte, aber auch gewisse Unge- Diese und andere Unstimmigkeiten rühren
reimtheiten des Texts selbst deuten daraufhin, von der entstehungsgeschichtlichen Sonder-
daß jene zuletzt ins Manuskript diktierten stellung des definitiven Werkschlusses her.
Verse einem schon als Ganzes konzipierten Alle vorhergehenden Erwähnungen nämlich
Korpus aufgesetzt wurden und daß Herrmann der ersten Verlobung und ihres Rings stehen in
und Dorothea ursprünglich anders, nämlich Versen (VI, 186-190; VII, 101; VIII, 65), die G.
durchaus harmonisch enden sollte: mit »Um- nachträglich »eingeschoben« hat, um den erst
armung und Kuß« als >>versichrung / Künftigen spät konzipierten Schluß »bey zeiten vorzube-
Glücks im Leben, das nun ein unendliches reiten« (an Schiller, 19.4. 1797).
528 Versepen

Obwohl die »neue Verbindung« in der Fort- das Glück [ ... ] bereitet und [ ... ] die herrlich-
setzung der früheren Fassung doch noch rituell sten Hoffnungen aufschließt« (IX, 292f.) - das
abgesegnet wird, bleibt die Offenheit des »Glück« selbst wird hier wieder vertagt -, trübt
Schlusses, und zwar auch schon im Bindungs- das an sich schon gestundete »Glück im Le-
ritual selbst gewahrt. Dieses, wenngleich von ben«, verleiht ihm aber auch eine gewisse
einem Geistlichen, in Anwesenheit eines Zeu- Tiefe und Wahrhaftigkeit. Das »Glück« der ei-
gen und mittels der elterlichen Eheringe ar- nen ist nun aufgewogen durch das Unglück
rangiert, wird dennoch und mehrmals als Ver- eines andern, und das »Leben« selbst erscheint
lobung bezeichnet, ohne daß damit freilich die im allerletzten und desto emphatischeren
Möglichkeiten des zeitgenössischen Brauch- Wort dieses andern als »trüglich«.
tums überschritten würden. Die Faktizität der Ineins mit dem Phantasma absoluten
ausdrücklich so angesprochenen Verlobung, »Glücks im Leben« wird die Isolation der in-
wie sie die Anekdote vorgibt, ist um so auf- tegren Kleinwelt so durchbrochen, daß sich
fälliger, als die Ausgestaltung des Rituals deren ideologischer Überbau immerhin einer
denkbar weit von dieser Quelle sich entfernt Kontroverse aussetzen muß. Nachdem der ge-
und sich ganz an den Schluß des dritten Lui- schichtliche Hintergrund zuvor jeweils nur als
senidylls, und das heißt an eine Trauung, an- ausgegrenzter und insbesondere die Revolu-
lehnt. Wenn trotz dieser Affinität am Faktum tion in ihren »Ausläufern« (Kaiser, S.48) nur
einer Verlobung festgehalten wird, so hat das indirekt vergegenwärtigt war, und auch das
mit dem wesentlich vorläufigen Status dieser vornehmlich aus der zutiefst skeptischen Per-
Institution zu tun, die ja auch das seinerseits spektive des Richters, kommt im verstorbenen
nur vorläufige Ende der Lehrjahre markiert: Bräutigam eine mit der Revolution solidari-
»Unter allen Festen ist das Hochzeitfest das sche »Gesinnung« gewissermaßen selbst zu
unschicklichste« CVVA 1,22, S. 213). Wort. Auf dieses letzte Wort des Verstorbenen
Die an der früheren wie an der Einleitung wird Herrmann replizieren, um seinerseits das
der endgültigen Schlußpartie, an der getilgten allerletzte Wort zu behalten, das ihm der Er-
wie dann auch an der nachgeholten Verlobung zähler, ganz hinter die direkten Reden zurück-
manifeste Tendenz, das Ende des Werks offen- tretend, in der endgültigen Fassung des
zuhalten, erreicht in dessen neuem Finale, in Schlusses überläßt. Trotzdem oder auch ge-
der Gegenüberstellung jener »zwey Gesinnun- rade deshalb bleibt der ideologische Konflikt
gen« eine extreme Ausprägung. Wieder bis in doch unentschieden, zum Zeichen einer »ei-
den Wortlaut der letzten Verse sich nieder- gentümlichen geistigen Offenheit« (ebd.,
schlagend, der im hierfür entscheidenden Ad- S.50) und G.s bezeugter Absicht gemäß, »die
verb (»künftig« [IX, 314]) mit dem früheren zwey Gesinnungen [ ... ] neben einander [Hv. v.
Werkschluß identisch ist, hat sie selbst noch Vf.]« darzustellen. Nicht von ungefähr taucht
auf die allerersten Worte des Gesangs Urania / dieses Adverb auch in der Beschreibung einer
Aussicht zurückgewirkt: Nach der Fortsetzung Geste auf, mit der Dorothea den entsprechen-
der ursprünglichen Fassung wurde ein zu- den Sinnzusammenhang buchstäblich ins Bild
nächst antonymischer Untertitel Aussicht und setzt: Sie steckt ihre beiden Verlobungsringe
Nähe um sein zweites, gleichsam idyllisches »neben einander« (IX, 297).
Glied gekürzt. Nicht allein den Anspruch auf
Endgültigkeit nimmt der definitive Werk-
schluß zurück, sondern er relativiert das
glückliche Ende auch als solches, während der
frühere Schlußvers lediglich andeutete, daß
das »künftige Glück« ein »unendliches« nur
»scheinet«. Dorotheas »Erinnrung« (IX, 256)
an den verstorbenen »Guten« und »Edlen«, ge-
nau auf den Moment gelegt, »da [ ... ] die Liebe
Hernnann und Dorothea 529

Reaktionen auf die Revolution G. zwar »auf die konkreteste Weise einzelne
Symptome« der Französischen Revolution dar-
stellt, »die sich im Schicksal [ ... ] von betroffe-
Ideologische Differenzen sind an den »neben nen Grenzbezirken [ ... ] zeigen«; daß er sich
einander« stehenden »Gesinnungen« freilich aber aufs »Allgemeine und Moralistische« zu-
nur mehr sehr schwer abzulesen. Sie werden rückzieht, »sobald es sich um die Sache im
letztlich auf die Alternative reduziert, die je ganzen handelt«; und daß er es venneidet, auf
schon »fürchterliche Bewegung / Fortzuleiten« »die politisch-ökonomischen Tiefenbewegun-
oder aber, wie es »dem Deutschen geziemt«, gen der Epoche« sich einzulassen (Auerbach,
ihr im Namen von »Gott und Gesetz« (IX, S.393 u. S.395). So wird in Herrmann und
305f.) stabile Familien- und Besitzverhältnisse Dorothea wohl die Rivalität zwischen Groß-
entgegenzuhalten. Der vornehme Gestus, die und Kleinbürgern andeutungsweise und der
»Gesinnung« des andern stehenzulassen, ohne Konflikt zwischen Besitzbürgern und Proleta-
ausdrücklich dagegen zu polemisieren, geht riern mitunter schonungslos dargestellt; das
mit einer Paraphrase dieser »Gesinnung« ein- eigentliche Potential jedoch der Revolution
her, die, als Zitat Authentizität suggerierend, bleibt ausgeblendet. Vom Adel, in Gestalt ei-
in ihrem pietistisch-resignativen Timbre je- nes »Barons«, ist nur beiläufig einmal die Rede
den revolutionären Impetus vennissen läßt: und nicht in Hinsicht auf die Herrschaftsver-
»Alles« sei »jetzt auf Erden einmal« in Bewe- hältnisse des »Städtchens«, in dieser Hinsicht
gung geraten, »Besitz«, »alte heilige Fonnen«, vielmehr und mehnnals vom »Rat« und von
»Grundgesetze [ ... ] der festesten Staaten«, Ämtern der »Bürger«, was alles zusammen
selbst »die Welt, die gestaltete«, scheine sich eine Illusion bürgerlicher Autonomie hervor-
»rückwärts [ ... ] in Chaos und Nacht« (IX, zurufen sehr geeignet scheint.
260ff.) auflösen und - .systolisch c sozusagen- Die Diskrepanz der Ideologien wird zumal
»neu sich gestalten« zu wollen, und noch die dadurch geschönt und abgeschwächt, daß die
intimsten Beziehungen würden »von dem »Gesinnung« des andern, wie sie im Zitat prä-
Strudel der Zeit ergriffen, von Allem zu schei- sentiert wird, Tendenzen aufgreift bzw. weiter-
den« (IX, 180), so daß »nun ein jeder«, ohne- führt, die schon für den Exkurs des Richters
hin und immer schon »ein Fremdling [ ... ] auf bestimmend waren: die Nähe einerseits zu bi-
Erden«, »mehr [ ... ] als jemals« vereinsamt sei blischen Topoi - so hat der Richter die Revolu-
(IX,262-274). tionsbegeisterung zum Pfingstereignis stili-
War in der Erzählung des Richters, aus der siert -, die noch in Wortwahl und Diktion die
Sicht der bald heimgesuchten »Nachbarn«, Säkularisation chiliastisch-eschatologischer
aber in Zusammenhang noch mit den »ersten Vorstellungen und damit das religiöse Substrat
Verkündern der Botschaft« und abgesetzt vom der revolutionären Hoffnungen bloßlegt; an-
später »verderbten Geschlecht«, immerhin von dererseits die kosmische Dimensionierung
»Freiheit«, »Gleichheit«, »vom Rechte der der historischen Vorgänge, wie sie in der Me-
Menschen« und sogar von dem »Band« die taphOrik des Richters anklang. So etwa in der
Rede, das vordem »der Müßiggang und der klimatologischen: »Aber der Himmel trübte
Eigennutz in der Hand hielt« (VI, 6-41), so sich bald« (VI, 40), die ihrerseits, im Wort vom
sucht man in den Worten ausgerechnet des »ersten Glanz der neuen Sonne« (VI, 8), wie-
ersten Bräutigams vergebens nach deutlichen der ins Religiöse hinüberspielen kann. Diese
Spuren revolutionären Gedankenguts. Dies ist zweite Tendenz, vor allem in den meteorologi-
ebenso bezeichnend wie die Beharrlichkeit, schen Metaphern für G.s und nicht nur G.s
womit die anderweitigen Darstellungen des sprachliche Bewältigung der Französischen
»Zeitalters« sich auf Neben- und Folgeerschei- Revolution schlechthin typisch, läßt sich al-
nungen der Revolution beschränken; bestätigt lenthalben in Herrmann und Dorothea nach-
es doch Erich Auerbachs globale Qualifizie- weisen, etwa in einem Vergleich Hernnanns,
rung der G.schen Revolutionsdichtungen: daß der in bemerkenswerter Spannung zu seinem
530 Versepen

beherzten Schlußwort und der Überzeugung Oppositionen der Begriffspaare »Tod« und
steht, »Macht [ ... ] gegen [ ... ] Macht« den »Leben«, »Alter« und »Jugend« und formuliert
»Frieden« (IX, 317f.) herbeiführen zu können: mit dem Wort vom »ewigen Kreis« ein Inter-
»was sind nun Fluten und Berge / Jenem pretament des Texts (IX, 47-54). Das Konzept
schrecklichen Volke, das wie ein Gewitter da- einer Wiederkunft des immer Gleichen, wie es
herzieht!« (IV, 82f.). der geistliche Würdenträger expliziert, lag be-
Mit naturgesetzlichen werden die histori- reits den Worten des weltlichen zugrunde, des
schen Vorgänge letztlich auch über die Ereig- Richters, der dieses Konzept recht eigentlich
nisse gleichgestellt, die, ihrerseits auf den sa- verkörpert. Da ihn der Geistliche »mit Josua
kral markanten Wochentag fallend - »es war oder mit Moses« verglichen hat (Y, 227), setzt
ein Sonntag wie heute« (11, 113) -, sich »nun« »der Richter« schon als solcher die Reihe die-
dezimal jähren und deren Parallelen zur Ge- ser Namen bzw. die entsprechenden Titel der
genwart in wenig dezenter Weise ausgezogen ersten beiden alttestamentlichen Korpora fort.
werden: im ersten Gesang schon, wo der Apo- Solcher Transparenz der Figur wird die ihr in
theker bei seinem Botenbericht »im Vorbey- den Mund gelegte Rekapitulation des »Zeit-
gehen« (an Thomas Holcroft, 29.5. 1801) ei- alters«, werden deren durchgängige Bibelre-
nen Vergleich mit dem »Brande vor zwanzig / miniszenzen darin gerecht, daß sie Zeitge-
Jahren« zieht (I, 121f.); in der Erzählung der schichte immer wieder auf eine schriftlich be-
Mutter von diesem Brand und ihrem eigenen glaubigte Vergangenheit projizieren. Indem
Verlöbnis (11, 108-157), die Herrmann in sei- der Richter jenen Vergleich des Geistlichen
ner Absicht ermuntern soll, »zu frein im Krieg aufgreift, ihn jedoch von seiner eigenen Auto-
und über den Trümmern« (11, 157) - auf das ritätsperson ablenkt, vergleicht er seinerseits
»Beispiel« (11, 108) der Eltern wird sich Herr- »unsere Zeit« mit »den seltensten Zeiten, / Die
mann dann wirklich berufen (Y, 105-107)-; die Geschichte bemerkt, die heilige wie die
schließlich wieder am Ende, wo die Ringe der gemeine« (Y, 229 f.); so freilich, daß er »diesen
Eltern zu Symbolen der »neuen Verbindung« Tagen« im Superlativ der »seltensten Zeiten«
werden: »Fest ein Band zu knüpfen, das völlig einen Sonderstatus gleichwohl konzediert. Ein
gleiche dem alten« (IX, 244). Daß die Analogie Hang zur Analogiebildung schlägt sich darüber
zur Vergangenheit genau auf der Linie der Ten- hinaus auch in der Art nieder, wie er die »hei-
denz liegt, die historischen Vorgänge natür- lige« in einem Atemzug mit der »gemeinen«
lichen anzugleichen, zeigt sich vice versa an Überlieferung nennt, eine zweifellos durch
den Konturen jener vergangenen Ereignisse, Wolfs Prolegomena angeregte Gleichsetzung
daran, wie der »Brand«, dessen Ursache unter und um so signifikanter, als die Verjüngung der
die Leerstellen des Texts fällt, als eine durch- »Geschichten« im folgenden nur am Exodus
aus natur- und eigengesetzliche Katastrophe exemplifiziert und die behauptete Analogie
erscheint: »erzeugend sich selber den Zug- zur weltlichen Überlieferung also nicht einge-
wind« (11, 118). löst wird: »auch uns erschien er in Wolken und
Unmittelbar vor dem anspielungsreichen Feuer« (Y, 237f.).
Auftritt des neuen Paars - er ist den Home- Die vielfältigen Operationen, welche die
rischen Schönungsszenen nachempfunden Gegenwart an historische oder natürliche Par-
und im Türrahmen zum tableau vivant erstarrt allelen binden, dienen augenscheinlich dazu,
- bringt die dem Autor am nächsten stehende das »schrecklichste aller Ereignisse [ ... ] dich-
Figur die Konvergenz von Gegenwart und Ver- terisch zu gewältigen«. Das beispiellos Be-
gangenheit auf eine Formel, und zwar in den drohliche dieser »Ereignisse« wird so negiert
allerjüngsten Versen des Texts, die G. nach- und geradezu verdrängt, wie sich denn die
träglich »eingeschoben« hat, »um das Ganze psychologische Bedeutung dieses Verbs auch
klarer und faßlicher zu machen« (an Schiller, schon auf die räumliche Differenzierung des
19.4. 1797). Auf die Todesangst des Apothe- Anekdotenschemas, auf jene assertorisch-re-
kers entgegnend, zersetzt der Geistliche die petitiven Erwähnungen garantiert heiler
Herrrnann und Dorothea 531

Grenzen anwenden läßt. Daß hinter dem apo- wie das »Tor« (11, 143), unter dem die ersten
tropäischen Gestus, womit solche Grenzen be- Sätze gesprochen werden, und das »Pförtchen«
schworen werden, letztlich das bessere Wis- in der Stadtmauer (IV, 19-21), das, auch hierin
sen um seine Vergeblichkeit stehen dürfte, le- jenen »Lustorten« vergleichbar, die ParzelIie-
gen jedenfalls etliche hier einschlägige Fehl- rung des Raums suspendiert und den Sied-
leistungen nahe. Den Rhein z.B., dessen lungs- mit dem Naturraum sozusagen aus-
angeblich »allverhindernder Graben« als der söhnt.
nicht bloß >natürliche<, sondern als ein von Nicht zufällig enthält eine jener Szenen,
»Gott« verliehener Schutz berufen wird, hat- wenn Herrmann und Dorothea »ihr Bild in der
ten die »Franken« zur Zeit der Handlung be- Bläue des Himmels« gespiegelt sehen (VII,
reits überschritten. Das Intervall zwischen 41-47), eine emphatische Umsetzung des
»Städtchen« und »Dammweg«, das von den er- G.schen Symbolbegriffs als eines Versuchs,
sten Versen an die Distanz zum »Elend« mar- Kontingentes ans »Allgemeine« zu vermitteln.
kiert, wird mit einem schon »fest beschlos-
senen« »Chausseebau« fallen. Und »die ent-
schlossenen Völker«, mit denen Herrrnann
sich und die Seinen in den allerletzten Sätzen Funktionen der Fonn
vergleicht und auf deren eines sein Name ver-
weist, werden sich dem hochgemuten Tenor
seiner Worte zum Trotz und in fataler Kon- Daß das einzige als solches identifizierbare
sequenz der Assoziation Hermanns des Cher- Homer-Zitat (VII, 107) im Kontext dieser viel-
uskers als solche entpuppen, die dem »Feind leicht eindrücklichsten Wahrnahme des Sym-
zusammenstehend erlagen« (IX, 308-310). bolkonzepts steht, weist auf die inneren
All die Versuche, die Gegenwart gleichsam Gründe ftir die äußerliche Verfremdung des
zu exorzieren, ihr desintegratives Potential in Sprachduktus. Ist es in Herrmann und Doro-
Analogien zu bannen, laufen letztlich auf das thea wie sonst nirgends geglückt, die home-
reaktionäre, von Roland Barthes so genannte rische oder eigentlich die Sprache der Voß-
Ideologem vom »Ewigen Menschen« (Barthes, schen Odyssee-Übersetzung zu adaptieren, so
S. 128) hinaus, das unter beinahe gleichem wohl auch aufgrund einer akuten Faszination
Namen in G.s Wort vom »reinen menschlichen des »reinen menschlichen«. Das Postulat eines
der Existenz« erscheint, welches er »in dem eh und je gegebenen »menschlichen der Exi-
epischen Tiegel von seinen Schlacken abzu- stenz« scheint seinen Geltungsanspruch in der
scheiden« sich bemüht habe (an Meyer, 5.12. Synthese zu behaupten, zu der ein bürgerlich-
1796). Dieser Läuterungsprozeß, der darin modernes Sujet und die älteste literarische
implizierte Vorrang existentieller U rphäno- Form hier zusammenfinden, zum Zeichen aber
mene gegenüber ihren historischen Modifika- auch einer Nähe, in der sich das deutsche Bür-
tionen, läßt sich am Text selbst verschiedent- gertum zur altgriechischen Kultur zu sehen
lich nachvollziehen. Die »Merkmale« des geneigt war. Daß die letztlich uneinholbar ata-
»Weltzustands« und seiner »prosaischen Ord- vistische Form eine dennoch schon empfind-
nung« (Hegel, S. 417), vom Tabak bis zum mo- liche Spannung erzeugte, lassen allerdings die
dischen Kult der Zauberjldte, sind konsequent Versuche vermuten, diese auf das aktuelle oder
an die Exponenten des Bürgertums gebunden, aber das archaische Moment zu reduzieren:
während die männliche Hauptperson von der eine Prosaauflösung des deutschen Texts
Entfremdung bürgerlicher Produktionsweise (1823) respektive dessen altsprachlichen He-
verschont bleibt. Die statuarisch ausgestalte- xameterübersetzungen, deren eine, Arminius
ten Szenen der Gesänge Mutter und Sohn, Do- et Theodora (1822), G. dem Original vorzog,
rothea und Herrmann und Dorothea sind an weil die »Form« darin zu ihrem »Ursprunge
Orten situiert, deren Vegetation in eine unvor- zurückgekehrt« sei (zu Eckermann, 18.1.
denkliche Vergangenheit zurückreicht, ähnlich 1825).
532 Versepen

Wie aber die zentralen Szenen und Personen Rezeptions- und


ins Archetypische reichen und alles Zeitspezi-
Forschungsgeschichte
fische an ihnen tunlichst abgeblendet ist, so
wird andrerseits die »Fonn«, ihr Abstand zum
»Ursprunge« nicht sonderlich strapaziert. Die Die Rezeptionsgeschichte von Herrmann und
nach Fontanes Urteil »schaudervollen« (Fon- Dorothea weist einen beispiellos abrupten Ver-
tane, S.462) Hexameter sind ohne philologi- lauf auf. Zu seiner Zeit als »Gipfel [ ... ] un-
sche Pedanterie gehandhabt und mit einer serer ganzen neueren Kunst« (Schiller an
»grata negligentia« (Riemer zit. nach GRÄF, 1, Meyer, 21.7.97) gefeiert und kurz nach Er-
1, S.175), die G. als »Wahrzeichen« (ebd., scheinen in die WeIt- wie auch in andere
S. 176) des Werkcharakters titulierte, als er Fremdsprachen übersetzt, blieb das Werk an-
gegen Vossens und Riemers Rat eine »sieben- derthalb Jahrhunderte verbindliches Element
füßige Bestie« (ebd.) »fürchterlich lachend« des literarischen Kanons, um dann in der
stehenließ (Voß jun., zit. ebd., S. 175). Wo sie zweiten Hälfte und erst recht im letzten Drittel
über das Metrum oder etwa die Kumulation des 20. Jhs. aus dem allgemeinen Bewußtsein
von Partizipien hinausgehen, beispielshalber zu schwinden. Sein einst unvergleichlicher Er-
bei der Imitation zentrifugaler und hyperbato- folg läßt sich nur aus einem Zusammenspiel
rischer Wortstell ungen, halten sich die sprach- verschiedener, je nach Rezeptionsgruppe ver-
lichen Verfremdungen an die Grenzen des schieden zu gewichtender Faktoren erklären,
Grammatischen. Neologische Nominalkompo- und es fragt sich, ob dabei literarische Qualitä-
sitionen, das weithin bequemste Mittel, >Grä- ten über den Kreis der Fachzünftigen hinaus
zität< lexikalisch zu konnotieren, erscheinen ernstlich ins Gewicht fallen. Für die Begeiste-
nur ganz vereinzelt, und vollends singulär sind rung jedenfalls breiter Rezeptionskreise, der
spezifisch homerische Gestaltungsfonnen: die »Schneider - Nätherinnen - Mägte« (zit. nach
minutiöse Beschreibung eines Vorgangs (näm- Prokop, S. 248), die G.s Mutter zufolge Herr-
lich des Anschirrens, in wirkungsvollem Kon- mann und Dorothea lasen, wird im Gegenteil
trast zur stark raffenden Beschreibung der ei- eine gewisse »Einfachheit der Diction« (Hum-
gentlichen Wagenfahrt) ; das Homerische boldt, S.313) den Ausschlag gegeben haben
Gleichnis, das ein entoptisches Phänomen der und die Eingängigkeit des in seinen Grund-
Farbenlehre dichterisch verwertet; die Wie- linien trivialen Handlungsschemas, an dessen
derholung eines längeren Passus mit unhome- »Stoff« auch »die herrschenden politischen
risch breiten Variationsabständen; der Musen- Parteien [ ... ] interessiert« (Körner, zit. nach
anruf und die Anreden, die der Erzähler je an MA 4.1, S. 1087) sein mußten.
handelnde Personen richtet. Obgleich sich Wie schon in Vossens Luise und entlang je-
konkrete Vorbilder im einzelnen nur selten ner Assoziationskette von Griechentum, Bür-
eindeutig ausmachen lassen - so ist die Ein- gerlichkeit und Deutschland konnte das Bür-
führung des Geistlichen derjenigen Nestors gertum in Herrmann und Dorothea als einem
nachgefonnt -, zeugen die Anverwandlungen »Epos von der Familie und dem Privatbesitz,
homerischer Fonnalia von deren intimer dieser Substanz des deutschen Geistes«
Kenntnis und von einer profunden Reflexion (Hehn, S. 45), sich selber zum Ideal des »rei-
über die Bedingungen, in denen sich moderne nen Menschlichen« stilisiert sehen. Rezepti-
Dichtung vom alten Epos z.B. als einem, wie onshistorisch wirkte sich dies so aus, daß die
auch Wolf wieder betonte, wesentlich münd- distanzierenden Reflexe gerade bei der Prä-
lichen notwendig unterscheidet. sentation typischer »Bürger« lange nicht wirk-
lich gewürdigt wurden. Als Verklärung »der
deutschen Bürgertugend« (ebd.) gelesen, und
hierin besteht der qualitative Unterschied zum
quantitativ vergleichbaren Erfolg des Werther,
stand Herrmann und Dorothea im Dienst der
Hernnann und Dorothea 533

herrschenden Verhältnisse und nicht mehr ei- Herrmann und Dorothea selbst: August Wil-
ner Artikulation sozialer Konflikte. Statt die- helm Schlegels Rezension von 1797 und Wil-
ser bildete ein nationales und immer mehr helm von Humboldts Monographie, die, noch
nationalistisches Moment das für die Selbst- im Publikationsjahr des Primärtexts begonnen
vergewisserung der Rezipienten entschei- und wenige Monate später abgeschlossen,
dende Kriterium. 1799 als Erster Theil der dann freilich nicht
Solche Vereinnahmungen des Texts und ihre weiter gediehenen Aesthetischen J.'ersuche er-
zusehends aggressive Wendung gegen den gal- schien. Beides, daß Humboldt eine ästhetische
lischen »Erbfeind« (Sintenis, S. 142), die Wahl Theorie anhand von Herrmann und Dorothea
der jeweils bemühten Textzitate beweist es, zu entwickeln versuchte und daß er alle
hängen wesentlich an jenem, wie man geflis- weiteren »Versuche« solcher Art diesem einen
sentlich übersah: nachträglich aufgesetzten hintanstellte, bezeugt die geradezu epochale
Schluß. Mit Herrmanns Ein- und Abgrenzung Bedeutung, die dieses eine Werk in den Augen
dessen, was ihnen bzw. was ihnen »nicht [ ... ] der Zeitgenossen hatte, exemplarisch nicht
geziemt«, hatte G. »den Deutschen einmal ih- nur für G.s »Eigenthümlichkeit« (Humboldt,
ren Willen gethan« (an Schiller, 3.1. 1798), S. 116), sondern für »die poetische Gattung«
wie er es auch ausdriicklich billigte, als »man« schlechthin und vorbildlich insbesondere für
sein Werk »dem Zeitgeist [ ... ] als ein Opfer »die epische Art«, die Humboldt in eine
dar[zu ]bringen« sich anschickte (an Heinrich »heroische« und eine »bürgerliche« differen-
Carl Abraham Eichstädt, 27.1. 1814). Bis heute ziert. Wenn er, Herrmann und Dorothea der
gilt Herrmann und Dorothea als »deutsches letzteren subsumierend, den Begriff der
Nationalepos« (Lützeler, S. 248f.), und als sol- »bürgerlichen Epopee« (ebd., S. 269) selber als
ches verstanden, konnte es »herzerfreuend« »unpassend und unangenehm« (ebd.) empfin-
(Varnhagen von Ense, zit. nach MA 4.1, det, so scheint sich darin die aporetische
S. 1093) zitiert werden, als die Nationalver- Grundstruktur des Primär- und eine gewisse
sammlung 1849 einen Kaiser wählte. Fragwürdigkeit des Sekundärtexts zu verra-
Seine so einheitliche wie intensive Rezep- ten, welcher »mit größter«, mit nachgerade
tion verdankte das Werk nicht zuletzt seinem verdächtig großer »Ausführlichkeit und
Status als kanonischer Schultext, den es über Griindlichkeit« (Schiller an G., 18.5. 1798)
ein Jahrhundert zu halten vermochte. Welcher aufzuzeigen versucht, wie sich »ächt« Episches
Stellenwert ihm zumal in der Gymnasialbil- »bei dieser unpoetischen Lage unsrer Zeit«
dung lange noch zukam, bezeugt eindriickli- (Humboldt, S. 306) zu behaupten vermag. Von
cher vielleicht als alles andere Günter Grass, G. und Schiller denn nicht allzu euphorisch
der die Bildungsinhalte des beriichtigten aufgenommen, nahm der »Versuch« Hum-
Kriegsabiturs auf das makabre Asyndeton boldts in seiner überschwenglichen Begeiste-
»vormittags Hermann und Dorothea, nachmit- rung den weithin bestimmenden Tenor der
tags das Gewehr 98 K« reduziert (Grass, Rezeptionsgeschichte vorweg. Daß schon
S. 102); und wenn es in der Nachkriegszeit Humboldt Herrmann und Dorothea als Verklä-
eher still geworden ist um »das deutscheste« rung und Affirmation herrschender Verhält-
(Alfred Dove, zit. nach MA 4.1, S. 1093) Werk nisse verstand und verstehen wollte, zeigt sich
G.s und die neuere Sekundärliteratur zu einem überdeutlich an seiner Kritik einer Stelle, die
signifikant großen Teil aus der angelsächsi- er als einzige von seinem pauschalen Lob aus-
schen oder der Schweizer Germanistik nahm und die ihm, »so oft« er sie las, »jedes-
stammt, dann hat das auch mit den militaristi- mal den gleichfdrmigen Strom zu unterbre-
schen und chauvinistischen Rezeptionszusam- chen schien« (ebd., S. 184f.): die Erwähnung
menhängen zu tun, die z.B. in Ferdinand von jener »männlichen« »Tat«, durch die sich Do-
Saars Nachdichtung ganz offen zutagetreten. rothea am weitesten vom Ideal eines »häus-
Die friihesten Sekundärtexte von heute noch lichen Mädchens« entfernt, wie Humboldt um-
erheblicher Bedeutung sind fast gleich alt wie gekehrt ihre Rede vom »Dienen« als wahrer
534 Versepen

»Bestimmung« des »Weibes« nicht genug zu S.468) und weil andrerseits die bürgerliche
rühmen weiß. Gesellschaft alle »Totalität« epischer Poesie
In der Rezension August Wilhelm Schlegels, verunmöglicht habe, sieht Hegel deren einzig
der sich sehr abfällig über Humboldts »Ver- gangbare Überlebensform in der »Beschränkt-
such« äußerte, geht es wie in diesem primär heit« des »idyllischen Epos« (ebd., S. 468), ftir
darum, das Verhältnis von modernem Sujet das er nur zwei Beispiele geben »will«: »die
und archaisierendem Duktus zu klären. Wie ,Luise' von Voß« und »vor allem [ ... ] Goethes
Wolf, dessen Prolegomena er mit Herrmann Meisterwerk«. Den entschiedenen Vorrang des
und Dorothea bereits in Beziehung bringt, be- letzteren exemplifiziert Hegel an den in bei-
schreibt Schlegel die Homerischen Epen und den Werken erwähnten Getränken. Konsu-
ihre Sprache historistisch, um dann aufzuzei- miere man in der Luise Kaffee und werde so
gen, wie G. bei seinen Einverwandlungen ge- »der ganze heutige Weltzustand« (ebd., S. 468)
nuin Episches vom historisch Bedingten zu vorausgesetzt und einbezogen, so begnüge
subtrahieren wußte. Aus diesem Ansatz haben man sich in Herrmann und Dorothea mit Wein
sich Resultate ergeben, die in vielem gültig als einem nahezu zeitlosen Kulturprodukt
geblieben sind, in Hinblick etwa auf den (ebd., Bd. 1, S.257f.). Daß Kaffee in Herr-
»flüchtigen Anstrich vom Alterthümlichen« mann und Dorothea ebenfalls, hier aber zur
(Schlegel, S. 214) in der Diktion, die sparsame Ironisierung eines »Bürgers« vorkommt, un-
Verwendung bestimmter und die gänzliche Ab- terschlägt oder übersieht Hegel, und auch
senz anderer Formalia, auf die »Wahl« eines wenn er »einen unberechtigten Sprung« kon-
»mittlern« Sozialmilieus (ebd., S. 202) und die statiert, um ihn gleich in bonam partem zu
nur hintergründig einbezogenen »Weltbege- werten, scheint er den Text sehr genau und
benheiten« (ebd., S. 207), auf die Substitution doch ganz unkritisch zu lesen: »Da das Land-
des Schicksals durch den Zufall, wie sie ftir städtchen nicht in seinen politischen Verhält-
den Roman typisch sei, auf die Affinität zu nissen erscheint«, so fehle »die Vermittlung
dieser Gattung überhaupt und damit auch zur des Zusammenhanges« zu »der in unserer Zeit
Odyssee und die reziproke Distanz zur /lias. größten Weltbegebenheit«; »doch gerade
Da aber auch Schlegel in Herrmann und Doro- durch das Weglassen dieses Mittelgliedes« be-
thea »ein vollendetes Kunstwerk im großen wahre »das Ganze seinen eigentümlichen Cha-
Stil« sieht, das »zugleich [ ... ] vaterländisch« rakter«, der sich dadurch ergebe, daß G. »mei-
sein muß (ebd., S. 221), so tendiert er seiner- sterhaft« jene »Weltbegebenheit« »ganz in die
seits dazu, herunterzuspielen, was dem Ferne zurückgestellt« habe (ebd., Bd. 2,
»volksmäßig« (ebd.) Biedern entgegensteht: S.468).
vor allem die Asymmetrie des Paars, daß Doro- In der umfangreichen Literatur aus der
thea »an Gewandtheit und Anmuth, an heller zweiten Hälfte des 19. und den ersten Jahr-
Einsicht und besonders an heldenmäßiger zehnten des 20. Jhs., von den Abhandlungen
Seelenstärke merklich überlegen ist« (ebd., über metrische Spezial probleme bis zur geo-
S.209); oder in bezug auf die mit Schlegels graphischen Kontroverse über das »Urbild«
Wort nur mehr »drolligen« »Bürger« und des »Städtchens«, gehen positive Wertung und
»selbst« den Apotheker, dessen »offenherziger positivistische Methode mitunter seltsame
Egoismus« »nirgends Unwillen« erregen darf Symbiosen ein. Wie ideologisch die Rezep-
(ebd., S. 208). tionsmotive letztlich blieben, verraten die so
Ein weiteres Zeugnis ftir die seinerzeit frag- fragwürdigen wie verzweifelten Bemühungen,
lose Bejahung des Werks wie auch ftir das lite- allen Einwänden gegen das »Epos vom deut-
rarische Sensorium der Zeitgenossen, das sich schen Bürgertum« (Petsch) zuvorzukommen
daran bewähren konnte, ist in Hegels Asthetik oder aber sie leidenschaftlich zu diffamieren:
zu sehen. »Nachdem sich die eigentliche Idylle wenn etwa jene massive Unstimmigkeit des
in ihrer süßlichen Sentimentalität und Verwäs- Werkschlusses hartnäckig und mit halsbre-
serung zu Grunde gerichtet« (Hegel, Bd. 2, cherischem Scharfsinn geleugnet oder wenn
Hernnann und Dorothea 555

versucht wird, »die siebenfüßige Bestie« mit- stehung nur eben erwähnt; daß er hingegen
tels prosodischer Manöver als echtbürtigen auf G.s anfangliche Skepsis gegenüber der
Hexameter auszugeben, und vollends wenn Wolfschen These mit übergebührlichem Nach-
Heinrich Düntzer einen "bösen Angriff« ab- druck hinweist und aus seiner eigenen Ab-
wehrt und allen Ernstes behauptet, das Wort lehnung der mittlerweile sehr gut fundierten
von der "Nacht« als der »schönen Hälfte des Homer-Analyse keinen Hehl macht. Auf der
Lebens« (IV, 199) sei nicht im sexuellen Sinn Basis seines unitarischen Homer-Bilds legt
zu nehmen (Düntzer, S. 256-245). Staiger en detail dar, wie es in Herrmann und
Seit der Mitte des 20. Jhs. hebt man gerne Dorothea ganz ausnahmsweise gelungen sei,
auf das »Menschlich-Gültige« ab (Mayer, »die deutsche Bürgerlichkeit [ ... ] klassischer
S. 91), auf das »gesetzhafte Leben« (Gerhard, Gestaltung« (ebd., S. 254) gefügig zu machen,
S.58) in »Grundformen und Grundverhältnis- sie ins »unvergängliche, zeitlos gültige Wesen
sen« (Schadewaldt, S. 151), wie sie in Herr- des Menschen« (ebd., S. 251) abzuklären, den
mann undDorothea als »heilendes Gegenbild« »mannigfaltigen Reichtum des zeitgenössi-
(Weber, S. 12) einer »fortschreitenden Verro- schen Lebens [zu] erhalten, ohne das Wahre
hung der Zeit« (Schröder, Bd. 2, S.579) in und Echte zu stören« (ebd.). Auch Staiger geht
»gemäßigter Humanität« (Vietor, S. 155) ge- bei seiner vorbehaltlosen Würdigung des Texts
genübergestellt werden. Die »transzendentale über dessen Wortlaut hinweg, wo er jene, wie
Obdachlosigkeit« (Lukacs, S. 26) der Modeme es scheint, weiterhin anstößige Asymmetrie
und das Bedürfnis, sie zu kompensieren, des Paars zugunsten der männlichen Hälfte
schlägt sich in einer Unterdrückung eben der korrigiert. So rechtfertigt er Herrmanns ge-
Momente nieder, durch die der Primärtext sei- wollt mißverständlichen Antrag >>nicht nun<
nerseits an der modemen Sinnkrise teilhat. mit der »Angst, das Mädchen zu verlieren«,
Diesem einen ungebrochenen Glauben an eine von der allein im Text die Rede ist, sondern
»höhere Hand« unterstellend, die »doch auch über diese wenig >männliche< Verzagtheit hin-
[ ... ] leise zu führen scheint« (Schadewaldt, aus mit den allernobelsten Beweggründen:
S. 152), werden seine Ambivalenzen im Sinne »Achtung vor der Fremden, Scheu, von ihrer
einer »Gewißheit« vereindeutigt, »daß ein augenblicklichen Not und seiner Überlegen-
Ewiges besteht, [ ... ] daß immer noch die heit einen unzarten Gebrauch zu machen,
Gnade waltet und daß des Einen Schöpfergei- Schonung der Gefühle, die sie vielleicht für
stes Kraft und Liebe uns umfangt« (STAIGER, einen anderen hegt« (ebd., S. 247).
S.244). Repräsentativ für diese Rezeptions- Wie deutlich Staiger hierin auch in einer
epoche ist das entsprechende Kapitel in Stai- langen Tradition bürgerlicher Rezeption be-
gers Goethe, das freilich, gleichlang wie die fangen bleibt, so wegweisend sind seine Beob-
den Lehrjahren und dem Faust I gewidmeten, achtungen zum »Widerspiel« von »moderner
in seiner Einläßlichkeit von der mehrheitlich Bürgerlichkeit« und »homerischer Sprache«
miszellenhaften Sekundärliteratur sich unter- (ebd., S.258) für die neuere Forschung ge-
scheidet und dem Text als einem »Zenith« des worden. In dieser bildet die spezifische For-
Gesamtwerks noch einmal jene Bedeutung zu- mung des Texts, offenbar immer befremdli-
schreibt, die er im Kanon allmählich einge- cher anmutend, einen Schwerpunkt des Inter-
büßt hat. Zur kulturkonservativen Absicht, esses, und zwar so, daß ihr Verhältnis zur
dem entgegenzuwirken, stimmt der Umstand, »Bürgerlichkeit« mehr und mehr als ein pro-
daß Staiger anders als Schlegel und wie Wolf- blematisches und als Mittel einer für Staiger
gang Schadewaldt an der Identität des ältesten freilich noch »liebevollen« (ebd., S.259) und
Autors als einer Grundgröße humanistischer »wohlwollenden« (ebd., S.251) Ironie be-
Bildung festhält; daß er bei seiner sonst so schrieben wird. Sieht Staiger in den home-
umfassenden Diskussion des Texts und ein- rischen Stilisierungen eben nur einen »Anflug
schlägiger Autorzeugnisse den nach deren von Humon<, so wird die archaistische Sprei-
Ausweis entscheidenden Faktor der Werkent- zung der Form bald schon als »Inkongruenz«
536 Versepen

(Samuel, S. 94f.) und unversöhnliche »Diskre- nis zu dem für ihn »schrecklichsten aller Er-
panz« (RyderiBennett, S.358 [Abstract]) ta- eignisse«.
xiert, so daß selbst die »mutigen Hengste« und
»schäumenden Rosse« ironisch überhöhte Ak-
kerklepper sein sollen (Seidiin, S. 21 f.). Zwar Literatur:
fehlt es nicht an Versuchen, die nun sehr stark Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklich-
empfundene Abständigkeit des Stils mit dem keit in der abendländischen Literatur. Bern 1946. -
Erzählten zu versöhnen, so als »Hereinnahme Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt/M.
des Fremden«, welche als »Heimholung« einer 1964. - Bättiger, Kar! August: Literarische Zustände
und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Kar! Au-
»im Zeitverlauf heimatlos gewordenen Form«
g[ ust] Bättiger's handschriftlichem Nachlasse. Hg.
(ebd.) die Integration der vertriebenen Doro- von Kar! Wilhelm Bättiger. 2 Bde. Leipzig 1838
thea nachvollziehe; aber noch und gerade sol- (Nachdruck Frankfurt/M. 1972). - Bürger, Christa:
che Harmonisierungsversuche reflektieren Hermann und Dorothea oder: Die Wirklichkeit als
den stattgehabten Wandel der Altertumsrezep- Ideal. In: Barner, Wilfried u.a. (Hg.): Unser Com-
tion und namentlich eine nicht mehr identi- mercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik.
Stuttgart 1984, S.485-505. - Craig, Char!otte M.:
fikatorische, sondern sachlich-distanzierte
Bourgeois Settled Versus Bourgeois Unsettled: Some
Sicht zumal der griechischen Antike, welche Observations on the Refugee Problems in Goethe's
dem Bürgertum einst seine später zusehends Hermann und Dorothea. In: GN. 21 (1990), S. 5-9. -
verblaßten Utopien zu antizipieren schien. Düntzer, Heinrich: Ein bäser Angriff auf Goethes
Daß in diesem Wandel ideologischer Vor- Hermann und Dorothea. In: GoetheJb. 21 (1900),
aussetzungen ein wesentlicher Grund für die S.236-245. - Eibl, Kar!: Anamnesis des .Augen-
blicks<. Goethes poetischer Gesellschaftsentwurf in
nur mehr marginale Stellung des Werks liegt,
Hermann und Dorothea. In: DVjs. 58 (1984),
zeigt sich an der Rezeptionsgeschichte der S. 111-138. - Elsaghe, Yahya A.: Untersuchungen zu
durch dieses inspirierten Texte. Teils ganz ver- Hermann und Dorothea. Bern, Frankfurt/M., New
gessen (wie Melchior Meyrs Wilhelm und Ro- York, Paris 1990. - Ders.: Der Schluß von Goethes
sina) , teils einem völligen Desinteresse an- Hermann und Dorothea aus entstehungsgeschichtli-
heimgefallen (wie Hebbels Mutter und Kind) cher Sicht. In: SchillerJb. 35 (1991), S.57-72. -
Fontane, Theodor: Sämtliche Werke. Hg. v. Walter
und insgesamt, wenn man Mörikes Idylle vom
Keitel: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Bd. 1. Hg.
Bodensee ausnimmt, eher peinlich und peinli- v. Jürgen Kolbe. Dannstadt 1969. - Gerhard, Me-
cher jedenfalls als Herrmann und Dorothea litta: Leben im Gesetz. Fünf Goethe-Aufsätze. Bern,
berührend, beglaubigen jene anderen Texte ex München 1966. - Geulen, Hans: Goethes Hermann
negativo die Qualitäten dieses zwischen Ironie und Dorothea. Zur Problematik und inneren Genese
und Pathos eigentümlich changierenden des epischen Gedichts. In: JbFDtHochst. 1983,
S. 1-20. - Gäcking, Gerhard Gottlieb Günther: Voll-
Werks, das immerhin auch außerhalb der
kommene Emigrations-Geschichte von denen aus
Fachwissenschaft rezipierbar blieb. Das dem Ertz-Bißthum Saltzburg vertriebenen und gräß-
gleichwohl geringe Interesse der jüngeren und tentheils nach Preussen gegangenen Lutheranern.
jüngsten Forschung ist schon quantitativ, an Frankfurt, Leipzig 1734. - GRÄF 1, 1. - Graham, Ilse:
nur noch spärlich erscheinenden Monogra- A delicate Balance: Hermann und Dorothea. In:
phien leicht zu erkennen. Schwerpunkte Goethe. Portrait ofthe Artist. Berlin, New York 1977,
S. 297-312. - Grass, Günter: Werke. 10 Bde. Bd. 3:
werkspezifischen Frageinteresses, neben den
Katz und Maus. Eine Novelle, Hundejahre. Roman.
immer wieder diskutierten Funktionen der Darmstadt, Neuwied 1987. - Hederich, Benjamin:
Form, sind nach wie vor die gattungstypologi- Gründliches mythologisches Lexicon. Leipzig 1770
schen Weiterungen, das Verhältnis zur literari- [Nachdruck Darmstadt 1986]. - Hegel, Georg Wil-
schen Tradition und neuerdings die im »refu- helm Friedrich: Sämtliche Werke. Bd. 14. Hg. v.
gee epic« (Helbig) thematischen »refugee pro- Hermann Glockner. Stuttgart 1954. - Ders.: Ästhe-
tik. 2 Bde. Hg. v. Friedrich Bassenge. 2. Aufl., Frank-
blems« (Craig). Meistens jedoch gerät Herr-
furt/Mo o.J. - Hehn, Victor: Ueber Goethes Her-
mann und Dorothea innerhalb übergreifender mann und Dorothea. Hg. von Albert Leitzmann und
Fragestellungen ins Blickfeld der Forschung, Theodor Schiemann. Stuttgart 21898. - Helbig,
im Zusammenhang vor allem mit G.s Verhält- Louis E: Goethe's Hermann und Dorothea as a Refu-
Achilleis 537

gee Epic. In: Urginski, Alexej (Hg.): Goethe in the der, Rudolf Alexander: Gesammelte Werke. 5 Bde.,
twentieth century. New York, Westport, London Frankfurt/M. 1952, Bd. 2. - Seidlin, Oskar: Über
1987, S. 139-146. - Holmes, T. M.: Goethe's Her- Hermann und Dorothea. Ein Vortrag. In: Klassische
mann und Dorothea: The Dissolution of the Embatt- und moderne Klassiker. Goethe - Brentano - Ei-
led Idyll. In: MLR.82 (1987), S. 109-118. - Hum- chendorff - Gerhart Hauptmann - Thomas Mann.
boldt, Wilhelm von: Aesthetische Versuche. Erster Göttingen 1972, S. 20-37. - Sengle, Friedrich: Bie-
Theil: Über Goethes Hermann und Dorothea. In: dermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld
Gesammelte Schriften. Hg. von Albert Leitzmann. zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. 3
17 Bde., Berlin 1903-1920 [Nachdruck ebd. 1968], Bde. Stuttgart 1971-1980. Bd. 2 (1972). - Sintenis,
Bd. 2 [1904]. - Jean Paul: Werke. Hg. v. Norbert F.: Zur Verwertung von Goethes Briefen. In: Goethe
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Die Revolution und Hermanns Schluß rede zwei
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S. 216-267. - Lukacs, Georg: Die Theorie des Ro- Achilleis
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die Formen der großen Epik. Neuwied, Berlin '1965.
- Lypp, Maria: Ästhetische Reflexion und ihre Ge-
staltung in Goethes Hermann und Dorothea. Berlin Achilleis ist ein unvollständiges Versepos G.s,
1967. - Dies.: Bürger und Weltbürger in Goethes das Homers Ilias thematisch und formal un-
Hermann und Dorothea. In: JbGG. N. F.31 (1969), mittelbar fortsetzen sollte. Zum Verständnis
S. 129-142. - Martens, Wolfgang: Halten und Dau- des einzig fertiggestellten Ersten Gesangs (651
ern? Gedanken zu Goethes Hermann und Dorothea.
Verse) müssen die Schemata, die den auf acht
In: Wittkowski, Wolfgang(Hg.): Verlorene Klassik?
Ein Symposium. Tübingen 1986, S. 79-98. - Mayer, Gesänge angelegten dichterischen Gesamt-
Hans: Zur deutschen Klassik und Romantik. Pfullin- plan umrißhaft erkennen lassen, und die Para-
gen 1963. - Morgan, Peter: The Critical Idyll. Tradi- lipomena mit herangezogen werden.
tional Values and the French Revolution in Goethe's Zeitlebens hatte G. ein inniges Verhältnis zu
Hermann und Dorothea. Columbia (South Carolina) den Epen Homers; immer wieder und insbe-
1990. - Petsch, Robert. In: Deutsche Grenzlande. 14
sondere an den Schnittpunkten seiner Ent-
[1935], S. 128-134. - Prokop, Ulrike: Die Illusion
vom Großen Paar. Bd. 1: Weibliche Lebensentwürfe wicklung hat er !lias und Odyssee in seinen
im deutschen Bildungsbürgertum 1750-1770, Frank- eigenen Bildungsprozeß absichtsvoll einbezo-
furt/Mo - Ryder, Frank G.lBennett, Benjamin: The gen. Er verstand sich nach eigenem öfteren
Irony of Goethe's Hermann und Dorothea: Its Form Bekunden als »letzter Homeride« (JVA I, 1,
and Function. In: PMLA.90 (1975), S.433-446. - S. 207). Die Versepen Reineke Fuchs und Her-
Saine, Thomas P.: Charlotte Corday, Adam Lux and
mann und Dorothea zeigen G.s Bemühen, in
Hermann und Dorothea. In: Faulhaber, Uwe u.a.
(Hg.): Exile and Enlightenment. Studies in German den 90er Jahren eigene Dichtungen in enger
and Comparative Literature in Honor of Guy Stern. Anlehnung an den Stil Homerischer Epik zu
Detroit 1987, S. 87-96. - Samuel, Richard: Goethes schaffen. Zeitgleich studierte er gemeinsam
Hermann und Dorothea. In: PEGS.31 (1961), mit Schiller die Homerischen Epen als muster-
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dien. Natur und Altertum. Zürich 1963. - Scheibe,
poetologische Gesetze abzuleiten. Die epoche-
Siegfried: Zu Hermann und Dorothea. In: Grumach,
Ernst (Hg.): Beiträge zur Goetheforschung. Berlin machenden Prolegomena ad Homerum (1795)
1959, S.226-267. - Schlegel, August Wilhelm: von Friedrich August Wolf beeindruckten G.
Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking. 12 folgenreich. Vor diesem Hintergrund tauchte
Bde., Leipzig 1846f., Bd. 11, Leipzig 1847. - Schrö- in einem Brief an Schiller der Gedanke auf, zu
538 Versepen

untersuchen, »ob nicht zwischen Hectors Tod suchten, gab es in der Antike in erheblichem
und der Abfahrt der Griechen von der Trojani- Umfang. G. schöpfte das mythologische Mate-
schen Küste, noch ein episches Gedicht inne rial aus solchen Quellen, nämlich den roman-
liege? oder nicht?« (23.12.1797). Bald darauf artigen Werken von Dictys Cretensis (4. Jh. n.
dachte G. konkreter dariiber nach, wie ihm Chr.) und Dares Phrygius (5.16. Jh. n. Chr.) in
ein Gedicht gelingen könnte, »das sich an die der Ausgabe von Jacobus Perizonius (Amster-
Ilias einigennasen anschließt« (an Schiller, dam 1702). Daneben benutzte G. das Mytholo-
12.5.1798). Im März 1798 entwarf er ein erstes gische Lexikon von Benjamin Hederich (Leip-
Schema, ein Jahr darauf ein wesentlich detail- zig 1741). Für die dichterische Gestaltung wa-
lierteres zweites für ein Epos über den Tod des ren neben den Homerischen Epen selbst vor
AchilI. Für den 5.4.1799 ist in Tagebuchno- allem die Werke des Sophokles und Hesiod, in
tizen der Abschluß der dichterischen Ausfüh- geringerem Maße auch die des Aischylos, des
rung des ersten Gesanges dokumentiert. Zur Euripides, Vergil und Ovid von prägender Be-
Ausarbeitung der folgenden Gesänge kam es deutung.
nicht mehr; Friedrich Wilhelm Riemer berich- Am Schluß der Iliaswerden die Trauerfeiern
tet: »Die Achilleis geriet durch andere Studien für den gefallenen Hektor und die Verbren-
und Beschäftigungen ganz in Stocken, derge- nung seines Leichnams geschildert. Dies wird
stalt, daß sie erst wieder bei der Herausgabe am Anfang der Achilleis aufgegriffen, und es
seiner Schriften 1806 [ ... ] zur Sprache kam; folgt die bewegende Schilderung von Achills
wo er mir seine Absicht, die Achilleis in einen Reaktion: Er sieht von feme den lodernden
Roman zu verwandeln, mitteilte« (Pol1mer, Scheiterhaufen, fühlt sich an den Tod des
S. 216). Ein solcher Plan wurde von G. nicht Freundes Patroklos erinnert und denkt an den
umgesetzt. eigenen, bevorstehenden Tod. So beginnt er,
Das Epos-Fragment ist in der Handschrift ein würdiges, gemeinsames Grabmal zu
des Schreibers Johann Jakob Ludwig Geist bauen, das für die Asche des Freundes und
nach G.s Diktat überliefert und enthält eigen- späterhin auch für die eigene bestimmt ist. Der
händige Verbesserungen des Dichters; ebenso Schauplatz wechselt - die Götter beraten auf
ist das zweite Schema der Gesänge 1 bis 6 mit dem Olymp über das weitere Geschehen. Ein
Korrekturen G.s versehen, das unter den Pa- ausgedehntes Göttergespräch bildet das Zen-
ralipomena überliefert ist. Eine Schreiberab- trum des ersten Gesangs und deutet vorberei-
schrift enthält das älteste Schema und bezeugt tend die Hauptthemen des Epos an. Die Götter
Änderungsvorschläge von Johann Heinrich sind uneins; Zeus bleibt vorerst unentschie-
Voß und Riemer (alle Hss. im GSA). Die Achil- den, und der erste Gesang endet in einem die
leis-Dichtung wurde erstmals im Jahre 1808 in menschliche Existenz thematisierenden Zwie-
Band zehn von G.s Werkausgabe publiziert; gespräch zwischen Athene und AchilI über
zur Überlieferung des Fragmentes und der Heldentum und Tod.
Schemata vgl. Werke Goethes. Epen. 2. Über- Das Verständnis der folgenden sieben Ge-
lieferung, Varianten und Paralipomena. Bear- sänge erschließt sich nur umrißhaft aus G.s
beitet von Siegfried Scheibe. Hg. von der stichwortartigen Schemata. Es läßt sich etwa
Deutschen Akademie der Wissenschaften zu folgender Fortgang erkennen: In Heeresver-
Berlin. Berlin 1963. sammlungen der Troer (2. Gesang) und der
G. verstand sein Epos in jeder Hinsicht als Griechen (3. Gesang) werden Stimmen laut,
direkte Fortsetzung der llias; der erste Vers den Krieg zu beenden. Auf Vorschlag von Paris
der Achilleis schließt unmittelbar an den letz- und Helena soll der Kriegsanlaß - der Raub
ten der llias an. Auf ein Proömium nach Art der Helena - dadurch beseitigt werden, daß
antiker Epen, das seinem Werk Eigenständig- als Äquivalent eine troische Königstochter an
keit hätte verleihen können, verzichtete G. Li- Menelaos übergeben wird. Nach tiefgreifen-
terarische Werke verschiedenster Gattungen, den Auseinandersetzungen stimmen die bei-
die die Homerischen Epen fortzusetzen ver- den Kriegsparteien zu, und Kassandra und Po-
Achilleis 539

lyxena werden den Griechen übergeben. Forscher zur Grundlage nehmen, der in De-
Achili verliebt sich sofort heftig in Polyxena tails abweichende Positionen vertritt. Die Ur-
(4. u. 5. Gesang), will sie heiraten und ändert sachen für den Abbruch der Arbeiten an der
seine Haltung grundlegend. Die bisher domi- Achilleis sind aus den bisher bekannten Zeug-
nierenden Todesgedanken weichen Lebens- nissen G.s nicht sicher erkennbar. An Bedeu-
plänen. Die Hochzeit soll stattfinden, und die tung mag für G. eine Einsicht gewonnen ha-
Kriegsparteien hoffen auf Aussöhnung. Da ben, die er in einem Brief an Schiller formu-
greifen die Götter ein; Zeus entbindet die liert hat: »Die Bias erscheint mir so rund und
Olympier von dem vorher ausgesprochenen fertig [ ... ], daß nichts dazu noch davon gethan
Gebot, Zurückhaltung zu üben. So stiften sie werden kann« (16.5.1798). Des Dichters Ab-
die Menschen an, den vermeintlich nahen wendung von dem in Hexametern verfaßten
Frieden zu boykottieren. Intrigen werden an- Epos war wohl mitbegründet durch den mo-
gezettelt. Die Hochzeitsfeier llndet statt, und dem-sentimentalischen Charakter des Achil-
Achill wird während dieser Feier im Tempel les-Sujets, der einer wirklichen Homernach-
ermordet. Die Trojaner fliehen. Die Macht- folge im Wege stand. Außerdem bewegte G.
verhältnisse ändern sich, alle Friedenshoff- ein Defizit an »Welthaftigkeit« (Schwinge,
nungen sind zerstört (6. u. 7. Gesang). Im ach- S.52) in seinem Entwurf: »Ferner enthält der
ten und letzten Gesang wird Achill in dem von Gegenstand ein bloses persönliches und pri-
ihm selbst errichteten Grabhügel beigesetzt. vat Interesse, da hingegen die Bias das Inter-
Achills Waffen werden gegen seinen Willen esse der Völker, der Welttheile, der Erde und
Ajas vorenthalten, worauf dieser Selbstmord des Himmels umschliesst« (an Schiller,
begeht. Der Vertraute Achills stirbt wie er 16.5.1798). Die poetische Eigenständigkeit
selbst. des Werks wurde in der Wissenschaft konträr
Trotz des fragmentarischen Charakters sind bewertet. Die Urteile reichen vom Verdikt
in der Dichtung und den Entwürfen Züge mei- »verkünstelten Alexandrinertums« (Hettner,
sterhafter Komposition erkennbar. Dem Vers- S.280) im vorigen Jahrhundert bis zu einer
epos liegt folgender Entwurf zugrunde: »AchilI Wertschätzung als echt Goethisch und gleich-
weiß, daß er sterben muß, verliebt sich aber in zeitig dem Geiste Homers verpflichtet (Rein-
die Polyxena und vergißt sein Schicksal rein hardt, passim). G. dichtete bewußt im Stil und
darüber, nach der Tollheit seiner Natur« (Poli- Geiste Homers. Aber er änderte auch mit sanf-
mer, S. 216). Zwei Motivlinien, Tod und Liebe ter Hand: Zeus ist in der Achilleis erhabener
Achills, durchziehen das Epos; sie werden ge- dargestellt als bei Homer, und der teils rüde
nau in der Mitte des Epos peripetieartig zu- Umgang der homerischen Götter untereinan-
sammengeführt, an dieser Stelle entbrennt der ist deutlich gemildert zugunsten eines ge-
Achills heftige Liebe. Beide Linien sind durch hobeneren Stils. Eher aussageschwache Epi-
das ganze Epos hindurch miteinander eng theta, die in den Homerischen Epen der münd-
verflochten, wobei das Liebesmotiv das des lichen Dichtungstradition geschuldet sind,
Todes retardiert. Das Prinzip der Retardation fehlen in G.s Epos-Fragment. Rein G.sches,
hatte G. als »eine Haupteigenschafft des epi- Unhomerisches also llndet sich ebenso deut-
schen Gedichts« verstanden (an Schiller, lich: die wechselseitige Einheit von Natur und
19.4.1797). Mensch; eine differenziertere Psychologie in
Die bisherige Forschung zur Achilleis krei- der Personenzeichnung; Wirkungen von G.s
ste um drei Fragestellungen: die Rekonstruk- Erlebnis der französischen Revolution schei-
tion des Gesamtepos, die Ursachen für den nen faßbar; die Aufwertung des Begriffes
Abbruch der Arbeiten an der Dichtung sowie Hoffnung, die an die Urworte. Orphisch erin-
die interpretatorischen Überlegungen über nert. Ares ähnelt eher dem Bild des Kriegers
Homerisches und G.sches im Epos. Die unent- im 4. Akt des Faust II als seinem Homerischen
behrlich gewordene Rekonstruktion des Epos Vorbild, so wie das Bildmotiv des Grabbaus
durch Wolfgang Schadewaldt wird auch der dem Ende des Faust näher steht als einer
540 Vers epen

Homerischen Episode. Das Grundmotiv der schon früh durch die Volksbücher bei mir ein-
Achilleis - der Zwiespalt Achills zwischen hel- gedrückt hatte, episch zu behandeln, um an
denhaftem Ruhm und leidenschaftlicher Liebe diesem Leitfaden die hervorstehenden Puncte
- ist aus Homer nicht zu erklären. »Der Kern der Religions- und Kirchengeschichte nach
der Achilleis ist >modem<<< (Reinhardt, Befinden darzustellen« (WA I, 28, S. 307) und
S. 302), also trotz enger Anlehnung an Homer sie mit der in den apokryphen Acta Petri tra-
von G.s Weitsicht geprägt. dierten Legende von der Wiederkunft Christi
Die Wirkung des Werkes war allerdings zu zur »denkbar kühnsten Messiade« (JG Fischer-
allen Zeiten gering: Zeitgenössische Leser in- Lamberg 4, S. 347) zu verschmelzen, nur par-
teressierten sich kaum dafür; später wurde das tiell ausgeführt. Von diesem frühesten Versuch
Fragment als mißglückt und »antiquarisch« be- einer Epopöe in der gebundenen Rede freier
wertet. Das Achilleis-Fragment und die da- Knittelverse haben sich nur diejenigen Frag-
zugehörigen Entwürfe hatten keine außerwis- mente erhalten, über deren Entstehung Jo-
senschaftliche Rezeptionsgeschichte. hann Caspar Lavaters Tagebuch seiner Reise
nach Bad Erns, auf der ihn G. 1774 begleitete,
Aufschluß gibt: »Sprach mit Goethe am Fen-
Literatur: ster, von der Auferstehung Christi. -- / / Um 2
Fries, Albert: Goethes Achilleis. Oiss. Berlin 1901. - Uhr reißten wir ab. Ich schlief viel. Goethe
Hederich, Benjamin M.: Lexicon Mythologicum. rezitierte viel von seinem ewigen Juden. Ein
Leipzig 21741. - Hettner, Hennann: Geschichte der seltsames Ding in Knittelversen«, vermerkt
deutschen Literatur im 18. Jahrhundert. Braun- Lavater am 28. Juni und am 15. Juli: »zum
schweig 21872. - Morris, Max: Goethe-Studien. Bd.
Eßen neben Goethe. Von [ ... ] seinem ewigen
2. Berlin 21902, S. 129-173. - Perizonius, Jacobus:
Oictys Cretensis et Oares Phrygius Oe bello Troiano. Juden« (Funck, S. 293 u. S. 297). Das läßt ver-
Amsterdam 1702. - Pollmer, Arthur: Friedrich Wil- muten, daß sich G. im Frühsommer 1774 mit
helm Riemer und seine Mitteilungen über Goethe. Stoff und Ausarbeitung des Versepos beschäf-
Leipzig 1922. - Regenbogen, Qtto: Über Goethes tigt hat; spätere Indizien dafür, wie der Eintrag
Achilleis. In: ders.: Griechische Gegenwart. Leipzig von bout-rimes Johann Jacob Heß' vom 15.6.
1942, S.5-42. Wieder in: ders.: Kleine Schriften.
1775 in das Tagebuch der Schweizer Reise -
München 1961, S.495-539. - Reinhardt, Karl: Tod
und Held in Goethes Achilleis. In: Beiträge zur gei- »Herr Göthe sollt' uns Juden m a h I e n / und
stigen Überlieferung. Godesberg 1947. Wieder in: theologische Ca bai e n / Mit der geübten
ders.: Tradition und Geist. Göttingen 1960, Mahlers- H a n d / Dies sey auch seines Geistes
S.283-308. - Schadewaldt, Wolfgang: Goethe-Stu- P fan d!« (JG Fischer-Lamberg 5, S.448) -
dien. Natur und Altertum. Zürich, Stuttgart 1963, deuten eher auf Vortrag des Vorhandenen denn
S.283-300 (Fausts Ende und die Achilleis) u.
auf weitere Fortführung des Gedichts.
S. 301-395 (Goethes Achilleis). - Schwinge, Ernst-
Richard: Goethc und die Poesie der Griechen. Stutt- In seiner Lebensbeschreibung hat G. in der
gart 1986. kompositorischen Verschränkung von Biogra-
phie und Werkgenese den Ewigen Juden als
Christian-Friedrich Collatz
poetische Manifestation des »Christenthums
zu meinem Privatgebrauch« (WA I, 28, S. 306),
als Signatur seiner 1772 erfolgten pelagiani-
schen Absonderung von der Frankfurter »Brü-
dergemeine so wie von andern werthen Chri-
stenseelen« (ebd., S.304f.) behandelt. Das
Der ewige Jude entspricht zwar nicht dem faktischen Entste-
hungszusammenhang des Versepos, verweist
jedoch auf affine Motive der Kirchen- und In-
G. hat den im Fünfzehnten Buch von Dichtung stitutionenkritik etwa im Briif des Pastors zu
und Wahrheit referierten »wunderlichen Ein- *** an den Neuen Pastor zu *** wie auch auf
fall, die Geschichte des ewigen Juden, die sich stilistische Verwandtschaft der späteren Arbeit
Der ewige Jude 541

mit dem Jahrmarktifest zu Plundersweilem rocken Heidenthum«, zu dem die christliche


oder dem Fastnachtsspiel vom Pater Brey. Und Religion depraviert sei: »Da fiel mir der ewige
auch wenn die weit ausgeführte Exposition des Jude wieder ein, der Zeuge aller dieser wun-
Sujets in Dichtung und Wahrheit und die In- dersamen Ent- und Auswicklungen gewesen
tention, die Figur des ewigen Juden zur Ver- und so einen wunderlichen Zustand erlebte,
bindung episodischer Reihung ausgewählter daß Christus selbst, als er zurückkommt, um
Situationen aus der »Religions- und Kirchen- sich nach den Früchten seiner Lehre umzu-
geschichte« zu nutzen, sich nach einhelligem sehen, in Gefahr geräth, zum zweitenmal ge-
Urteil der Forschung eher dem erneuten Blick kreuzigt zu werden. Jene Legende: v e n i 0
G.s auf seine Quellen zu verdanken scheint als iterum crucifigi, sollte mir bei dieser
der Autopsie der Epopöe, deuten die Impulse Katastrophe zum Stoff dienen« (!VA I, 30,
zu weiterer Ausarbeitung des Gedichts, wie sie S. 192). Es ist demnach, auch wenn diese »Ka-
die autobiographischen Schriften dokumentie- tastrophe« umfassende Revision und Modifi-
ren, darauf, daß und wie G. dieses komposito- kation des Vorhandenen impliziert hätte, nicht
rische Prinzip zu nutzen plante. Dies gilt für auszuschließen, daß G. 1786 bei Vorbereitung
das 1825 im Sechzehnten Buch von Dichtung der Schriften auch den Ewigen Juden zu über-
und Wahrheit beschriebene »werthe Ingre- arbeiten plante.
diens zu jenem Gedichte«, als das er den »Be- Welchen der 45 bekannten Drucke des
such, den der ewige Jude bei Spinoza abge- Volksbuchs, die von der Erstpublikation 1602
legt« (!VA 1,29, S. 12 u. S. 11), ansah, und das unter dem Titel Kurtze beschreibung und Er-
als summierende Explikation seiner frühen zehlung / von / / einem Juden / mit Namen
Spinozarezeption fungieren sollte; dieser Ahasverus bis 1774 in mannigfacher Variation
»Einfall, der als vorübergehender Scherz nicht und mit den genretypischen Aktualisierungen
ohne Verdienst gewesen wäre«, überstieg in erschienen, G. als die noch die Retrospektive
G.s Überlegungen allerdings die in der epi- der Autobiographie bestimmende Quelle ge-
sodischen Struktur des Versepos bestimmten nutzt hat (vgl. Heitz/Ritter, S. 77-82; Neubaur,
Grenzen in einem Maße, daß er >>nicht dazu S. 66), läßt sich nicht genauer bestimmen. Un-
gelangte etwas aufzuschreiben« (!VA I, 29, klar ist auch, ob ihm die seit dem 7. Jh. tradier-
S. 12). Es gilt auch für die gewichtigere und ten legendarischen Erzählungen vom Auftre-
dem Erhaltenen gemäße Reminiszenz an den ten des ewigen Juden, die der als Chrysosto-
»Plan zu dem großen Gedicht der Ankunft des mus Dudulaeus Westphalus auftretende Ver-
Her r n, oder dem ewigen Juden«, den G. »in fasser des Volksbuchs zum Tatsachenbericht
Gesellschafft eines wackem päbstlichen Offi- von einer 1547 erfolgten Begegnung mit dem
zirs« nach dem Tagebuch der Italiänischen protestantischen Theologen Paul von Eitzen
Reisefür Frau von Stein am 22.10. 1786 auf der transformiert hatte und die sich in seiner Vor-
Fahrt nach Giredo »recht ausgedacht« zu haben lage, der Chronica maiora des Benediktiners
beschreibt (!VA I1I, 1, S. 313 u. S. 314f.). Die Matthaeus Parisiensis (1259; gedr. London
Druckfassung der Italiänischen Reise verlegt 1571 u. Basel 1582; dazu Neubaur, S.48ff.),
diese Passage auf den 27. Oktober, rückt sie auf kompiliert fanden, bekannt waren. G. folgt
dem Weg nach Rom also diesem »Mittelpuncte seiner Quelle in einzelnen Motiven, etwa in
des Katholicismus« deutlich näher, sie läßt als der in Dichtung und Wahrheit aus der Per-
Reisebegleiter einen Priester fungieren, der spektive Ahasvers geschilderten Charakteri-
G. dem Reisetagebuch nach tatsächlich ab dem sierung Christi als eines »Ketzers«, eines »ver-
25. Oktober gegenübersaß, und schildert prä- führers des Volcks« und »Auffrührers« (Neu-
zisierend den »Plan« als den Grundkonflikt baur, S. 57 - Nachdruck von Druck X des Volks-
der Epopöe, den in diesem zuspitzend fingier- buchs) oder dem zur >ewigen< Wanderung
ten Szenar um so offensichtlicheren Kontrast verdammenden Fluch des Heilands; anderes,
zwischen der »Reinheit« des Urchristentums wie der im Volksbuch benannte Schusterberuf
und dem kontemporären »unförmlichen, ja ba- der Sagengestalt, gab ihm Anlaß, es für die
542 Vers epen

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/

»Der ewige Jude« - Fetzen


Der ewige Jude 543

Exposition der epischen Figur mit Eigenem, schriften. Zu nennen ist (in der Zählung von
etwa den eigenwilligen Charakterzügen des WA) als Hl zunächst ein Mundum, das auf vier
»Dresdner Schusters« Johann Gottfried in Quart gefalteten und ineinandergelegten
Haucke (WAl, 28, S.307; vgl. WA I, 27, Foliobogen auf den Blättern zwei und drei in
S. 167ff.) zu verweben. Er folgt ihr vor allem Reinschrift den »ersten Fetzen« des Ewigen
darin, in der diachronen Reihung kirchen- und Juden, auf den Blättern vier und fünf in deut-
religionskritischer Stationen die Zeugenschaft lich flüchtigerer, von Korrekturen durchsetzter
eines authentischen Beobachters nutzen zu Schrift das »Ereigniß« der Konfrontation Chri-
wollen. Schon deshalb bleiben antisemitische sti mit dem zeitgenössischen Protestantismus
Invektiven des Volksbuchs unberücksichtigt, (WA 1,28, S. 310) enthält. Die Anordnung der
auch wird die Figur des ewigen Juden nicht, Handschrift hätte G. erlaubt, nach Bedarfwei-
wie es eine weitere Quelle G.s, Johann Jacob tere Bogen einzuarbeiten. H2, die obere Hälfte
Schudts Jüdische Merckwürdigkeiten, unter- eines Folioblatts, bietet einzelne, der epischen
nommen hatte, als Allegorie der Judenheit ge- Komposition nicht eindeutig zuzuordnende
deutet (vgl. Schudt, V. Buch, Cap. 13, Passagen, HO, ebenfalls ein Foliobogen, in er-
S. 448-512). Stimulierend für den widerlagen- ster, korrigierter Niederschrift die Exposition
den Pol der Epopöe, die auf Lukas 18, 8 auf- der Wiederkunft Christi und, diagonal auf der
ruhende spiritualistische Chiffre radikaler Rückseite geschrieben, einen Entwurf der Ein-
Kirchenkritik in der »Schäzzung des Volcks« gangsverse, H4 schließlich, wiederum ein ein-
(an Fahlmer, Ende August 1774) durch den zelnens Folioblatt, bringt in vermutlich erster
wiederkehrenden Christus, könnten dagegen Niederschrift die Passage der Wiederkunft
die Knittel auf der Rückseite des Titelblatts selbst. G. selbst hatte entschieden, die »Frag-
einiger Drucke des Volksbuchs über die escha- mente des e w i gen J u den [ ... ] nicht mitzu-
tologische Bedeutung des »Jüd Aschverus« ge- theilen« (WA I, 35, S.5); der Erstdruck er-
wirkt haben: >,veracht ihn nicht / laß wandren folgte in einer Zusammenstellung der Hand-
hin / / Weil Gott ihn geben solchen Sin: / / Das schriften durch Riemer und Eckermann (Goe-
er von Christo seinem Sohn / / Rett alles guts / the 's poetische und prosaische Werke. Erster
doch laß ich schon / / Dein Urtheil selbst / wie Band. Erste Abtheilung. Stuttgart und Tübin-
es mag sein / / Gott sieht und kent das Hertz gen 1836, S. 145-147), ihm folgt die Ausgabe
allein« (Neubaur, S. 74). Von den zeitgenössi- letzter Hand (ALH 56). Für die Weimarer Aus-
schen Anregungen, die G. für den Ewigen Ju- gabe (WA I, 38, S.53-64) hat Jacob Minor
den nutzen konnte - Jacob Minor hat sie pe- erneut die Handschriften zugrunde gelegt (zur
nibel aufgeführt (Minor, S.4-46) - sei hier Anordnung der Fragmente ebd., S.450-456,
lediglich die Ballade The Wandering Jew, die zu Modifikationen der Interpunktion
Thomas Percy aus der Sammlung Samuel Pe- S. 198f.); einzelne, aus dem Erstdruck über-
pys' unter die Reliques ofAncient English Poe- nommene Lesefehler korrigiert die Weimarer
t')' aufgenommen hatte, genannt (Vol. 11, Buch Ausgabe (WA I, 53, S. 535). Einen in Lautstand
3, in der Ausgabe Leipzig 1866: S.246-251); und Interpunktion handschriftengetreuen Ab-
sie folgt eng den Vorgaben des Volksbuchs, druck bietet Max Morris (JG Morris 4,
bietet aber auch einen Hinweis auf das von G. S. 48-57); die von Siegfried Scheibe besorgte
erst später aufgenommene Motiv der erneuten Ausgabe der Epen innerhalb der von der Deut-
Kreuzigung Christi: »If he heare any one blas- schen Akademie der Wissenschaften zu Berlin
pheme, I Or take God's name in raine, I He herausgegebenen Werke G.s bringt den edito-
teils them that they crucifie / Their Saviour rischen Grundsätzen entsprechend in Band
Christ again« (Y. 117-120). eins (1958), lediglich die als endgültige Fas-
Wenn G. 1813 konstatiert, daß »Anfang, zer- sung angesehene Handschrift zwei und faßt
streute Stellen, und der Schluß« (WA I, 28, das übrige unter die in Band zwei (1963,
S.310) des Versepos vorlagen, beschreibt er S. 13-46) mit detaillierter Beschreibung der
damit recht treffend die erhaltenen Hand- Textzeugen präsentierten Paralipomena. Dem-
544 Vers epen

gegenüber hat es Hanna Fischer-Lamberg (JG wollte G. die ilun vertraute Deutungsperspek-
Fischer-Lamberg 4, S. 95-103; der detaillierte tive der Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-
Kommentar S.346-349; vgl. MA 1, historie Gottfried Arnolds, jegliche Objektiva-
S.880-882) unternommen, auf verläßlicher tion religiösen Glaubens als Verfallserschei-
Textgrundlage in der Anordnung der Hand- nung zu begreifen, bereits hier in ähnlicher
schriften den kompositorischen Intentionen Form nutzen, wie es in den erhaltenen Passa-
G.s Rechnung zu tragen; nach ihrer Verszäh- gen der Wanderung des nach 3000 Jahren zur
lung wird im folgenden zitiert. Prüfung der von ilun gestifteten Religion wie-
dergekehrten Christus durch das protestanti-
Die erhal tenen Textzeugen erlauben schon ma- sche Deutschland und seiner Begegnung mit
terialiter - in der Anordnung des Textes wie im dem amtskirchlichen »geistlich Schaaf«
Schriftduktus - Rückschlüsse auch auf die Ent- (Y. 210) auch im zweiten epischen Erzählstrang
stehungsbedingungen des Ewigen Juden, die (Y. 198-294) in satirischer Pointierung ausge-
G. in enger Korrespondenz zu den das traditio- führt ist. Ausgearbeitet allerdings liegen außer
nelle epische Cano parodierenden Eingangs- der Exposition des ersten »Fetzens« und den
versen beschreibt als spontanen und sprung- episodischen Fragmenten dieser Wanderung
haften, für die Entstehungszeit habituellen des unerkannten und verkannten Christus le-
Versuch, »was unvermuthet hervorbrach zu fi- diglich die Passagen vor, die - nach der knapp-
xi ren« (JVA I, 29, S. 14). Dem entspricht, daß burlesk vorbereitenden Szene zwischen Gott-
er das Versepos als leicht zu ergänzende oder vater und Sohn - seine erneute Menschwer-
zu modifizierende Sequenz in sich relativ ab- dung schildern (Y. 112-181). G. entwirft diese
geschlossener und eigenständiger »Fetzen« Herabkunft als in Erinnerung, Empfindung
und szenischer Impromptus zu komponieren und Reflexion aus dem Impuls göttlich-erbar-
plante. Aufschluß geben die Handschriften - mender Liebe gegenüber Schöpfung und Ge-
und zwar sowohl H2 wie auch die Paralipo- schöpf sich entfaltende Vermenschlichung
mena von HO - auch darüber, daß von Anfang Christi (V. 112-150), die sich der irritierenden
an daran gedacht war, die diachrone Abfolge Widersprüchlichkeit der »Welt voll wunder-
der Erfahrungen des wandernden Juden im baarer Wirrung I Voll Geist der ordnung träger
Verlauf der »Religions- und Kirchenge- Irrung« (Y. 136f.) bewußt bleibt. Daß bei erster
schichte« (JVA I, 28, S. 307) und die synchrone Bestandsaufnalune diese Welt sich trotz des
Darstellung der Konfrontation des wiederkeh- erlösenden Kreuzestodes und des Versuchs,
renden Christus mit den Erscheinungsformen »das Reich Gottes hinein zupropfen«, weiter-
kontemporärer Religiosität zu kombinieren. hin als »nicht gut nicht bös nich[t] gros nicht
Exponiert hat G. die epische Figur des ewigen klein I so scheisig als sie sollte seyn« (Y. 169 u.
Juden in der nicht widerspruchsfreien Kon- V. 166f.) zeigt, bietet dann den Ausgangspunkt
tamination historischer und zeitgenössischer dafür, Christus nun selbst die Verkehrung sei-
religiöser Strömungen (»War halb Essener ner Lehre in der kirchlichen Institutionalisie-
halb Methodist, I Herrnhuter mehr Separa- rung erfahren zu lassen.
tist«; V. 25f.) als »Original«, das schon »aus WoraufG. 1813 mit dem »Ereigniß, wodurch
Originalität I [ ... ] andern Narren gleichen das Gedicht zwar geendigt, aber nicht abge-
thät« (Y. 28 u. V. 29 f.). Seine »Herz Frömmig- schlossen wird« (JVA I, 28, S.31O), anspielt,
keit« steht dabei in drastischem Kontrast zu wie also die Itinerarien Ahasvers und Christi
dem Tableau kirchen- und institutionskriti- zusammengeführt werden sollten, bleibt un-
scher Motive, in dem die Zustände der »gar klar. Einen Hinweis auf den Fortgang des
verdorbnen Kirchenzeit« (V. 23f.) wie die satu- Epos, der in den Textzeugen allerdings keinen
rierte Priesterschaft (Y. 31-42), aber auch die Rückhalt hat, bietet lediglich die Ideenskizze
wenig religiösen Motive und Verhaltensweisen aus dem Tragblatt. Aller/ey Notanda während
ihrer spiritualistischen und rationalistischen der 1. Reise in Italien enthaltend, die eine Ge-
Kritiker (Y. 43-83) geschildert sind. Offenbar fangennalune Jesu durch seinen irdischen
Der ewige Jude 545

Stellvertreter Pius VI. (1775-1799) - »Will ihn ten Kunstmitteln distanziert. Diese »parodi-
einsperren ihn nicht weglaßen wie ihn der stisch Geistreiche« (WA 1,26, S. 371) Indienst-
Kayser« - ebenso vorsieht wie das in Anspie- nahme des Versmaßes sollte jedoch nicht ver-
lung auf Lukas 16, 8 vorgetragene »Lob des kennen lassen, daß es bei seiner Wahl auch
ungerechten Haushalters« durch einen »Jesui- darum zu tun war, in einer »Aussprache, die
ten Troß« (WA 1,32, S. 453). Pius VI., nur dem nach dem natürlichen Accent geschieht«
Gerücht nach während einer Visite am Wiener (Breitinger, S.468), eine metrische Adäqua-
Hof 1782 von Joseph 11. festgesetzt, gilt in tion zur ex negativo zu folgernden oder in der
dieser Skizze als »Schönster der Menschen- Figurenrede gegebenen Darstellung der Reli-
kinder« (ebd.); er war von G. sonst als »der gion Christi zu finden.
beste Schauspieler der hier seine Person pro-
ducirt« (an Carl August, 3.2. 1787) apostro- Die spärlich einsetzende Rezeption der Frag-
phiert worden und als exponiertes Beispiel der mente des Ewigen Juden blieb zunächst auf die
»geistlichen Mummereyen« (an Knebel, 19.2. naheliegenden Fragen zur Genese und Datie-
1787) auch in der ausgearbeiteten Italiäni- rung des Werks und seines Stellenwerts inner-
schen Reise Anlaß für die Reminiszenz an die halb des Oeuvres der späten Frankfurter Zeit
Legende vom zu erneuter Kreuzigung zurück- (so bei Heinrich Düntzer) konzentriert; von
gekehrten Christus (WA 1,30, S. 202). Wie G. Beginn an wurde sie zudem konturiert durch
die Konfrontation Christi mit seinem ein »un- die Auseinandersetzung mit der in Dichtung
förmliches, ja barockes Heidenthum« (ebd., und Wahrheit gegebenen Deutungsperspektive
S. 192) repräsentierenden Stellvertreter aus- und die Rekonstruktionsversuche einer neuen
gestalten wollte, ist ungewiß. Arbeitsstufe, wie sie G. in der Italiänischen
G. hat die poetischen Lizenzen weidlich ge- Reise prädisponiert hatte (so bei Max Morris).
nutzt, die ihm die Adaption des freien Knittel- Als wesentlicher und noch prägender Impuls
verses bot, den er mit variierender Silbenzahl, der Forschungsgeschichte ist die Monographie
häufig jambisch geordnet und mit vornehm- Jacob Minors anzusehen. Sie bietet nicht nur
lich durch den Satzrhythmus bestimmten He- eine - wenn auch nicht in allem stichhaltige -
bungen als Vierheber einsetzt - bis hin zum kompositionelle Zuordnung der Textzeugen,
Wechsel der Reimfolge zu Kreuzreim oder um- sondern auch deren einläßliche Kommentie-
schließendem Reim. Das Metrum erlaubte rung, eine weit angelegte Interpretation mit
nicht nur archaisierende Distanz für die satiri- ausführlich beigeführten Kontextbezügen und
schen Invektiven gegen Konventikelwesen wie nicht zuletzt ein Panorama der stoffgeschicht-
Amtskirche, es eröffnete auch in den Figuren- lich oder strukturell dem Ewigen Juden ver-
reden und selbst im Monolog des wiederkeh- wandten Texte, möglicher Anregungen und
renden Christus die Perspektive ironischer Re- Quellenbezüge. Dort, wo sie nicht im umfas-
flexion. Zudem bietet es die Möglichkeit, in senderen Rahmen größerer Arbeiten zu Leben
der durchgängig eingesetzten Travestie bibli- und Werk zum Exempel der Vielfältigkeit und
scher Texte einen Verweiszusammenhang auf Spannweite der poetischen Produktivität G.s
die religiöse Dimension der Epopöe zu inte- im Jahre 1774 beigezogen werden, sind die
grieren, der ihrem episodischen, burlesken Fragmente des Versepos seitdem vornehmlich
Duktus gemäß ist. Und schließlich parodiert aus der Perspektive ideengeschichtlicher Fra-
G. in der Wahl des »leichten Rhythmus« und gestellung, seltener als Artefakt in den Blick
des »sich willig anbietenden Reims« (WA I, 29, geraten. Sie gelten dann als radikales Element
S.83) auch den Stil der religiösen Epen John der Kirchen- und Religionskritik G.s aus spi-
Miltons oder Friedrich Gottlieb Klopstocks, nozistischen (Martin Bollacher) oder spiritua-
insonderheit dort, wo er sich in deutlicher listischen (Peter Meinhold) Prämissen.
Reminiszenz (so ist in V 126 u. V 139 auf Mes-
sias III, 1 ff., vielleicht auch auf VIII, 101 ff.
angespielt) von den dort ostentativ eingesetz-
546 Versepen

G. rechnete den Ewigen Juden zu den »In- dern ihren jeweiligen Beitrag zu übergreifen-
vectiven aller Formen« seiner späten Frank- der Humanität entfaltpndes - und ebenfalls
furter Jahre, zu den »Excentricitäten [, denen] nicht vollendetes - Pendant, Die Geheimnisse.
ein redliches Bestreben zu Grunde lag« (yVA I,
29, S. 84). Dies mag zunächst insofern gelten,
als das epische Szenar eine Pointierung frü- Literatur:
herer pietistisch-herrnhuterischer Kirchen- Bollacher, Martin: Der junge Goethe und Spinoza.
und Institutionenkritik erlaubte, indem es de- Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epo-
che des Sturm und Drang. Tübingen 1969. - Brei-
ren Argumentationsmuster nun auch gegen
linger, Johann Jacob: Fortsetzung der Critischen
den Sezession ismus der »Schwärmer und In- Dichtkunst. Zürich 1740. - Düntzer, Heinrich: Über
spiranten« (JG Fischer-Lamberg 5, S.114) Goethes Bruchstücke des Gedichts Der ewige Jude.
richtete und als Zeugen der Verfallsgeschichte In: ZfdPh. 25 (1893), S. 289-303. - Funck, Heinrich
der christlichen Religion den wandernden Ju- (Hg.): Goethe und Lavater. Weimar 1901. - Goethe,
den, als Zeugen ihrer ursprünglichen Wahr- Johann Wolfgang: Epen. Bd. 2: Überlieferung, Va-
rianten und Paralipomena. Bearb. von Siegfried
heit Christus selbst auftreten ließ. Auch diese
Scheibe. Berlin 1963, S. 13-46. - Heitz, Paul/Rilter,
Radikalisierung impliziert zunächst ein Kon- Friedrich (Hg.): Versuch einer Zusammenstellung
zept religiöser Toleranz, wie es bereits im Brüif der deutschen Volksbücher des 15. und 16. Jahr-
des Pastors zu *** an den Neuen Pastor zu *** hunderts nebst deren späteren Ausgaben und Lite-
entwickelt war, ihr Fundament bleibt »die ratur. Straßburg 1924. - Meinhold, Peter: Goethe zur
göttliche Liebe, die vor so viel hundert Jahren, Geschichte des Christentums. Freiburg, München
1958. - Minor, Jacob: Goethes Fragmente vom ewi-
unter dem Namen Jesus Christus, auf einem
gen Juden und vom wiederkehrenden Heiland. Ein
kleinen Stückgen Welt, eine kleine Zeit als Beitrag zur Geschichte der religiösen Fragen in der
Mensch herumzog« (JG Fischer-Lamberg 5, Zeit Goethes. Stuttgart, Berlin 1904. - Morris, Max:
S. 110), und entsprechend ist ihr Thema wei- Goethe in Rom. In: ders.: Goethe-Studien. Bd. 2.
terhin eine anthropomorphe Christologie, die Berlin 21902, S. 110-117. - Neubaur, Ludwig: Die
zu beschreiben unternimmt, wie aus »unserm Sage vom ewigen Juden. Leipzig 1884. - Schnitzler,
Ülto: Ewiger Jude. In: Ranke, Kurt (Hg.): Enzy-
unbegriffnen Gotte« (Y. 7) ein »berührlicher«
klopädie des Märchens. Handwörterbuch zur histo-
(an Stolberg, 26.10. 1775), ein »Menschen rischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 4.
Kind« (Y. 75) werden kann. Als Beitrag zu die- Berlin, New York 1984, SI" 577-588. - Schudt, Jo-
ser nicht zu transzendierenden Anthropomor- hann Jacoh: Jüdische Merckwürdigkeiten, vorstel-
phie der Gottesvorstellung ist G.s poetischer, lend was sich Curieuses [ ... ] mit denen in alle IV
durch Versmaß und Genre ironisierend aus- Theile der Welt, sonderlich durch Teutschland, zer-
streueten Juden zugetragen. Sammt einer vollstän-
balancierter Entwurf der Gestalt Christi im
digen Franckfurter Juden-Chronick. 4 Thle. Franck-
Ewigen Juden anzusehen, auch er auf diese furt, Leipzig 1714-1717. - STAIGER, Bd. 1,
Weise eines der »Conzepte die der Mensch von S. 112-129. - Wittkowski, Georg: Goethes Ewiger
seiner eignen Natur hat« (an Lavater, Jude. In: ders.: Miniaturen. Leipzig 1922,
9.4.1781). Die Diskrepanz zwischen weit ge- S.88-102.
spanntem und noch wenig konzisem Plan und Heinrich Clairmont
dem Ausgeführten legt nahe, das Erhaltene
des Versepos als eine der »vorübergehenden
Productionen« (yVA I, 29, S.84) dieser Phase
anzusehen. Als poetische Manifestation an-
thropologisch grundierter überkonfessioneller
Religiosität jedoch, als solcherart »kühnere Die Geheimnisse
Griffe in die tiefere Menschheit« (yVA I, 55,
S. 4), weisen die »Fetzen« des Ewigen Juden
auf ihr spiegelbildlich entworfenes, nicht Bei dem Fragment Die Geheimnisse handelt es
mehr »Abweichung, Mißbrauch noch Entstel- sich um den Anfangsteil eines großangelegten
lung« (yVA I, 41.1, S. 104) der Religionen, son- Versepos, 1784/85 entstanden und erstmals
Die Geheimnisse 547
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1789 im achten Band der bei Göschen erschei- reflektierte, vielmehr geriet er im Zuge der
nenden Schriften gedruckt. Die Arbeit an dem Fürstenbundpolitik, die Carl August verfolgte
Werk begann im Sommer 1784. Am 24. Juli und bei der er dem Herzog als Geheimsekretär
sandte G. drei Stanzen (Doch glaube keiner, zur Seite stehen mußte, auch in Widerspruch
Doch was der Mensch in seinen Erdeschran- zu seinem Fürsten. Gelegentliche Erfolge in
ken, Wohin er auch die Blicke) an Charlotte von der amtlichen Tätigkeit wurden immer mehr
Stein, eine weitere (GewIß, ich wäre schon so durch sich aufstauende Konflikte überschattet.
ferne) folgte am 24. August. Nur diese Textteile Der Aufsatz Über den Granit spricht die Ge-
sind handschriftlich überliefert. Die Stanze spaltenheit seines derzeitigen Lebens deutlich
Doch glaube keiner ist als zweite Strophe in aus. Nur begrenzte Zuflucht und Befriedigung
das Fragment aufgenommen, die drei anderen gewährten Liebe und Freundschaft: Die Bezie-
sind später einzeln veröffentlicht worden. Am hungen zu Charlotte von Stein, von der er sich,
8. August entstand die Zueignung, »zum Ein- wie in wiederholten Bekenntnissen bezeugt,
gang [des Epos; d. Vf.] bestimmt, statt der bei der Arbeit am epischen Werk besonders
hergebrachten Anrufung und was dazu gehört« inspirieren ließ, wie die zu Herder, die im
(an Johann Gottfried und Caroline Herder, Austausch über den ersten Teil der Ideen einen
8.8. 1784). In den folgenden Monaten bis Gipfelpunkt erreichten, waren bei aller Inten-
März/April 1785 wuchs das Werk zu dem Um- sität nicht spannungslos. Ältere Freundschaf-
fang, den wir kennen. Danach taucht es in der ten, wie die zu Johann Kaspar Lavater und
Korrespondenz, soweit diese überliefert ist, Friedrich Heinrich Jacobi, gerieten im Gefolge
nicht mehr auf. Daß G. es 1789 als Fragment jetzt zum Ausbruch drängender weltanschau-
publizierte, darf als Zeichen dafür genommen licher Gegensätze unter heftige Belastungen.
werden, daß er - zumindest für lange Zeit, Nicht zuletzt durch das Öffentlichwerden des
wahrscheinlich aber auch damals schon end- Spinoza-Streits im Mai! Juni 1785 dürfte der
gültig - nicht mit der Weiterführung und Voll- Gedanke an eine Weiterführung des Epos ob-
endung rechnete. Tatsächlich hat er an dem solet geworden sein. Schon damals war ihm
Text nicht mehr gearbeitet, und so hat es auch bewußt, daß »das Unternehmen [ ... ] zu unge-
in der Druckgeschichte - wenn man davon heuer« für seine »Lage« war, zumal er sich mit
absieht, daß in der ersten Cotta-Ausgabe der Arbeit daran ohnehin »wohl noch sehr im
1806-1810 noch die Zueignung vorangestellt Vorhofe« befand (an Knebel, 28.3. 1785). Der
war - keinerlei irgendwie nennenswerte Ver- endgültige Abbruch des Versuchs indessen er-
änderungen gegeben. Im folgenden wird nach gab sich aus dem Druck der Umstände, er war
der Weimarer Ausgabe (WA I, 16, S. 169-183) Teil jener komplexen Krise, die zur Flucht
zitiert. nach Italien führte.
Erst 1816 kam G. noch einmal auf das Werk
Die Geheimnisse entstammen einer Phase von zurück. Auf die Anfrage eines Kreises junger
G.s Leben, die durch große äußere und innere Verehrer in Königsberg antwortete er öffent-
Schwierigkeiten und Widersprüche gekenn- lich mit einem Aufsatz Die Geheimnisse. Frag-
zeichnet ist. G. war in seiner Weimarer Exi- ment von Goethe, in dem er nicht nur seine
stenz immer tiefer in eine kaum noch lösbar Lesart des ausgeführten Anfangs mitteilte,
erscheinende Krise geraten. Gerade in den sondern auch über den Gesamtplan des Epos
Sommermonaten 1784 wurde ihm die Vergeb- Auskunft gab. Diese aus der Rückschau auf
lichkeit seiner mühevollen und entsagungsrei- einen drei Jahrzehnte zurückliegenden Schaf-
chen politischen Arbeit aufs neue und immer fensvorgang formulierten Erläuterungen sind
unabweisbarer bewußt. Nicht nur, daß er im ein für die Interpretation dieses problemati-
Juni bei den landständischen Verhandlungen schen Werkes wichtiges Zeugnis, das zwar
in Eisenach intensiv die eigene Ohnmacht ge- viele Dunkelheiten dunkel beläßt, aber die In-
genüber den starren und unveränderlichen tention des Ganzen allem Anschein nach ver-
Staatsverhältnissen erfuhr und entsprechend läßlich darstellt.
548 Versepen

Das eigentliche Textkorpus bilden 44 Stan- lich hier zu wohnen und Gott im Stillen zu
zen. Diese achtzeilige, nach dem Reimschema dienen Verpflichtung übernommen. Ein drei-
ab ab ab cc verfahrende und somit streng ge- zehnter, den sie für ihren Obern erkennen, ist
schlossene und in sich ruhende Strophenform, eben im Begriff von ihnen zu scheiden. [ ... ]
auch Ottaverime genannt, übernahm G. aus doch hatte er in den letzten Tagen seinen Le-
der italienischen Renaissance-Epik, insbeson- benslauf zu erzählen angefangen, wovon dem
dere von Ariost und Tasso. Nur in den Geheim- neu angekommenen geistlichen Bruder eine
nissen jedoch diente sie ihm für ein episches kurze Andeutung [ ... ] zu Theil wird. Eine ge-
Werk, dagegen griff er in der lyrischen Gat- heimnißvolle Nachterscheinung festlicher
tung, insbesondere für Huldigungs- und Wid- Jünglinge [ ... ] macht den Schluß« (WA I, 41.1,
mungsgedichte, immerhin aber auch für so ge- S. 102). Die Figur, deren Wahrnehmungen und
wichtige bekenntnishafte Gedichte wie der Erlebnissen die Erzählung folgt, ist ein junger
Zueignung zum Faust, dem Epilog zu Schillers Ordensgeistlicher namens Marcus. Im Zen-
Glocke, dem Tagebuch und Unvorte. Or- trum des Erzählens indessen steht jener drei-
phisch, des öfteren darauf zurück. Zutreffend zehnte Ritter, der den bedeutungsschweren
nannte Gundolf sie geistig straff, sinnlich Namen Humanus trägt und jener »Obere« ist,
schwer und zeremoniös zugleich (GuNDOLF, der nun »eben im Begriff« ist, Abschied zu
S.676). In den ausgeführten Stanzen ist sie nehmen. Die Vergegenwärtigung seiner Bio-
souverän gehandhabt. Gemessen und ohne graphie macht einen erheblichen Teil des
Hast fließt die Erzählung, ein feierlicher, pa- Fragments aus und bezieht sich doch nur erst
thetisch gehobener, zugleich natürlicher und auf seine jungen Jahre, nicht auf sein späteres
unrhetorischer Ton prägt die Sprache, und der Wirken. Dieser Lebensweg hat Vorbildcharak-
Eindruck von Harmonie waltet vor. Dennoch ter. Der wichtigste Wesenszug darin ist die
bleiben Zweifel. Natürlich läßt sich nicht sa- Bereitschaft zur Selbstüberwindung. Darfman
gen, wie die Strophenform sich bewährt hätte, im Hintergrund durchaus G.s Ringen um die
wenn das Epos weitergediehen wäre; mögli- eigenen Lebensprobleme und -ziele sehen -
cherweise hatte die Erkenntnis, eine proble- nicht zufalligwurden in diesen Jahren Begriffe
matische Formentscheidung getroffen zu ha- wie Entsagung und Resignation erstmals
ben, daran Anteil, daß die Arbeit an dem Werk Schlüsselworte für sein Welt- und Menschen-
abgebrochen wurde, ohne jemals wieder auf- bild -, so geht es doch zugleich um weit mehr:
genommen zu werden. um das Leitbild des Menschlichen, das für G.
Zwei Eröffnungsstanzen kündigen ein und Herder in diesen Jahren im Begriff der
»wunderbares Lied« an, das vielen, ja allen Humanität seinen eigentlichen Namen erhielt.
Menschen zugedacht ist; ausgesprochen aber Nun steht der Abschied des Humanus aus dem
wird auch, daß es von niemandem je ganz ent- Ordenskreis unmittelbar bevor, weil - nach
rätselt werden kann. Hingewiesen wird auf ein G.s Erläuterung von 1816 - »sein Geist sich in
verborgen liegendes Ziel, dem die Menschen ihnen allen verkörpert, allen angehörig keines
sich offenbar in einem unendlichen Prozeß in- eigenen irdischen Gewandes mehr bedarf«
dividueller wie gemeinschaftlicher Bemühun- (WA 1,41.1, S. 104), und zugleich kommt, von
gen annähern sollen. nicht näher bezeichneten, offenbar wissenden
Danach setzt die Er.lählung ein, für die hier und lenkenden Oberen entsandt, Marcus an,
die von G. 1816 gegebene Lesart zugrunde ge- um als Nachfolger des Humanus die Leitung
legt wird: »Man erinnert sich, daß ein junger des Kreises zu übernehmen.
Ordensgeistlicher, in einer gebirgigen Gegend In der Ordensgemeinschaft sollten offen-
verirrt, zuletzt im freundlichen Thale ein herr- sichtlich wesentliche geistig- und ethisch-reli-
liches Gebäude antrifft, das auf Wohnung von giöse Entwicklungsformen der Menschheit
frommen geheimnißvollen Männern deutet. vereint vorgeführt werden. Darauf deuten
Er findet daselbst zwölf Ritter, welche nach nicht nur die Mitteilungen G.s von 1816, es
überstandenem sturmvollem Leben [ ... ] end- läßt sich auch schon daraus erschließen, daß in
Die Geheimnisse 549

dem Bericht über das Tun des Humanus die friedvollen und dienstbereiten menschlichen
Bestrebungen großer Protagonisten der Zusammenlebens. Für dessen Konturierung
Menschheitsgeschichte - Moses, Herakles, wählte G. das Bild einer klösterlichen, religiö-
Christus - erinnert und gegenwärtig gemacht sen Gemeinschaft. Diese läßt sich freilich
sind. Wahrscheinlich sollten die einzelnen Or- nicht an eine bestimmte, zumal institutionell
densmitglieder für unterschiedliche histori- verfaßte Form von Religion binden. Weit mehr
sche Formen der Religion stehen, allerdings in ist der Bezug auf die geistig-kulturellen Be-
einem hochidealisierten Sinn und unter be- strebungen und Kämpfe in der Entstehungs-
wußtem Verzicht auf jene Abweichungen, Miß- zeit des Werkes geeignet, die Intentionen
bräuche und Entstellungen, »wodurch jede Re- deutlich zu machen, von denen der Dichter
ligion in gewissen Epochen verhaßt wird« sich leiten ließ.
(ebd.), und durch ihr Zusammenleben in »De- Für die avanciertesten Geister der 80er
muth, Ergebenheit, treuer Thätigkeit im from- Jahre des 18. Jhs. war die These von der be-
men Kreise« (ebd., S.105) ein Beispiel für sonderen Aktualität und Vorrangigkeit der re-
Menschen unterschiedlichster Weltkreise und ligiösen Problematik in den zeitgenössischen
Zeiten geben. »Der mit Bruder Marcus herum- Auseinandersetzungen, die Immanuel Kant
wandelnde Leser oder Zuhörer wäre gewahr 1784 in seinem Aufsatz Beantwortung der
geworden, daß die verschiedensten Denk- und Frage: Was ist Aujklärung? öffentlich vortrug,
Empfindungsweisen, welche in dem Men- unstrittig. Lessings späte Werke, Die Erzie-
schen durch Atmosphäre, Landstrich, Völker- hung des Menschengeschlechts und Nathan der
schaft, Bedürfniß, Gewohnheit entwickelt Weise, waren in diesem Sinne geschrieben und
oder ihm eingedrückt werden, sich hier am können durchaus als Inspirationsquelle für G.s
Orte in ausgezeichneten Individuen darzustel- Fragment verstanden werden. Herder stellte
len und die Begier nach höchster Ausbildung, in seinen Ideen die Religion als »die höchste
obgleich einzeln unvollkommen, durch Zu- Humanität des Menschen« (HSW 15, S.161)
sammenleben würdig auszusprechen berufen heraus. Nicht Ablehnung, sondern Humanisie-
seien« (ebd., S. 105). Auf dem Wege des Be- rung und Historisierung der Religion und ih-
suchs bei den Rittermönchen wäre schließlich rer Erscheinungsformen bestimmten die Ten-
»der Leser durch eine Art von ideellem Mont- denz dieser zeitgenössischen Bemühungen.
serrat geführt« (ebd., S. 102) worden. Diese Auch G. zielte auf eine Wesens- und Funk-
auf einen realen Ort bezogene Lokalisierung, tionsbestimmung von Religion, die konse-
durch das Attribut als gleichnishaft gekenn- quent auf das Humane darin und seine Förde-
zeichnet, stammt ursprünglich nicht von G. rung orientierte. Seine Kritik richtete sich ge-
selbst. 1800 hatte Wilhelm von Humboldt das gen Weltverneinung, Menschenverachtung
Benediktinerkloster auf dem Montserrat in und Intoleranz, seine positiven Leitvorstellun-
Katalonien besucht und sich durch dessen gen liefen auf eine diesseitig und anthropozen-
Lage und Verfassung intensiv an die Ordens- trisch gerichtete, historisch und psychologisch
gemeinschaft der Geheimnisse erinnert ge- differenzierte Auffassung von Mensch und
fühlt. G. nahm 1816 die Assoziation auf. Seit- Welt hinaus. Dabei hielt er sich aus öffentli-
dem ist die Vorstellung von der im Fragment chen Debatten und Kontroversen heraus, nicht
dargestell ten Ordensgemeinschaft oftmals an zuletzt, weil ihm verletzende Polemik nach der
dem Bild des Klosters auf dem Montserrat allzu oft von Zeitgenossen geübten Praxis zu-
festgemacht worden. Überdies kamen im wider war. Kein Hehl machte er jedoch aus
Laufe der Zeit auch andere Assoziationen, so seinem Widerwillen gegen jegliche, auch un-
an die Gralssage, ins Spiel. gewollte Form von Indoktrination und Pro-
Was das Epos in seinem ausgeführten Teil selytenmacherei und gar von Unterstellungen,
darstellt und - nach der Auskunft von 1816 - in Ausgrenzungen und Verfolgungen. Wenn es
seinen nicht ausgeführten Teilen darstellen galt, vertrat er seinen Standpunkt mit Festig-
sollte, zielte auf ein exemplarisches Muster keit und Nachdruck. So wies er 1782 Lavaters
550 Versepen

bekehrungssüchtige Bemühungen ab und be- nen neben vielen anderen führenden Zeitge-
kannte sich dazu, daß »in unsers Vaters Apo- nossen auch G. gehörte, auf einem langwie-
theke [ ... ] viel Recepte« (4.10.1782) seien, so rigen Kongreß in Wilhelmsbad nach der Über-
distanzierte er sich im Spinoza-Streit 1785 von windung von Krisenerscheinungen und nach
Jacobi und hielt dessen Verdikt über einen an- einer Neuorientierung ihrer Tätigkeit gesucht
geblichen, nur pantheistisch drapierten Athe- hatten - umsonst übrigens, denn im weiteren
ismus des Philosophen seine Lobpreisung Spi- spaltete sich die Bewegung noch dramatischer
nozas als »theissimum ia christianissimum« auf als zuvor. Während auf der einen Seite der
(9.6. 1785) entgegen. Das Projekt der Geheim- Illuminatenorden als radikaler Seitentrieb der
nisse steht in untrennbarem Zusammenhang Freimaurerei zunächst einen großen Auf-
mit den geistigen Auseinandersetzungen die- schwung nahm, formierten sich auf der an-
ser Jahre. deren Seite die Gold- und Rosenkreuzer zu
Dieser Befund erhält verstärkte Evidenz, einem immer schärfer antiaufklärerischen und
wenn man bedenkt, in welcher Weise G. in mystizistisch orientierten Geheimorden, der
dem epischen Werk unmittelbar Themen und seinerseits nach politischer Macht strebte.
Gegenstände damals aktueller Diskussionen Schließlich ist noch zu erwähnen, daß in den
und Streitigkeiten berührte. Für Zeitgenossen 80er Jahren das Projekt einer Religions- und
lag durchaus die Vermutung nahe, daß das be- Kirchenvereinigung, begrenzt freilich auf die
reits im Titel angespielte Motiv des Gehei- Christenheit, in Schwang war, allerdings
men, des Verrätselten, des Nicht-Erschließba- durchweg in obskure Aktivitäten mündete.
ren den Bezug zum zeitgenössischen Problem- Dieser Kontext macht klar, in welchem Aus-
feld geheimer Verbindungen und Gesellschaf- maß die Geheimnisse aktuelle Themen auf-
ten eröffnete. Das Motiv des von Rosen nahmen und ideologischen Sprengstoff in sich
umschlungenen Kreuzes, das an zentraler bargen. Deutlich sichtbar wird aber auch so-
Stelle steht, verwies auf das Rosenkreuzerturn gleich, wie ungeniert und souverän G. mit die-
- noch 1788 sprach Caroline Herder von den sen Themen und Problemen umging und sie
Geheimnissen als einem »Gedicht über die Ro- für seine Zwecke nutzte, die auf wesentlich
senkreuzer« (Caroline an J.G. Herder, 12.9. anderes ausgerichtet waren. Gewiß gemahnt
1788). Schließlich sind in dem Werk bei Gele- die Ordensgemeinschaft des Epenfragments
genheit eines genaueren Berichts über das an templerische Traditionen, ist insbesondere
Klosterinnere deutliche Hinweise auf eine auch die Biographie des Humanus unmittelbar
mittelalterlich-ritterliche Gemeinschaft gege- mit den ritterlichen und mönchischen, den
ben, in der die Ordensbrüder verbunden sind; kriegerischen und asketischen Existenzformen
für die Zeitgenossen war die Anspielung auf des Tempelherrenordens verbunden. Indessen
den Tempelherrenorden unübersehbar. Das al- ist das alles als Tradition vergegenwärtigte
les führt geradewegs auf zeitgenössische De- und in symbolischen Bildern in Erinnerung
batten und Kämpfe zurück. Bereits in Anknüp- gerufene Vergangenheit; selbst die mönchisch-
fung an vorgängige Diskussionen hatte Les- asketischen Formen, die bei G. selbst in diesen
sing 1780 in seinen Freimaurer-Gesprächen Krisenjahren ziemlich verwundern mägen,
Ernst und Falk die Templer als die »Freimäu- sind nur Verweise auf den ethischen Kern der
rer ihrer Zeit« (Lessing, S. 575) bezeichnet durch Humanus repräsentierten Lebenslehre:
und eine geschichtliche Verbindung der mo- »Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, / Be-
demen Geheimgesellschaft mit dem berühmt- freit der Mensch sich, der sich überwindet«
berüchtigten, grausam unterdrückten und aus- (V. 191f.). Gar die zweimal vollzogene Be-
gelöschten mittelalterlichen Orden angedeu- schwörung des Rosenkreuz-Symbols zielt auf
tet; danach hatten 1782 Nicolai und Herder humane Werte jenseits dessen, was sich mit
einen heftigen Streit über diese Frage ausge- dem Rosenkreuzerturn der 80er Jahre in
tragen. Indessen war 1782 gerade auch das Deutschland verband. »Es schwillt der Kranz,
Jahr, in dem die deutschen Freimaurer, zu de- um recht von allen Seiten / Das schroffe Holz
Die Geheimnisse 551

mit Weichheit zu begleiten« (Y. 71f.). So steht bliziert wurde, schon abseits vom Strom der
das Symbol für eine Intention, die, über die Geschichte befand. Einer jäh zu Ende gehen-
gewohnte Beziehung auf das Christentum hin- den Zwischen- und Übergangszeit zugehörig,
ausführend, auf Humanisierung der Lebens- wurde es von neuen Ereignissen überholt und
formen und -ziele gerichtet ist. Das Bild des verdrängt. Das dichte zeitgeschichtliche Wur-
mit Rosen umkränzten Kreuzes ist am ehesten zelgeflecht wurde immer weniger identifizier-
inspiriert durch die Erinnerung an die ideale bar, und überdies verlagerten sich die realen
Rosenkreuzergemeinschaft, von der Johann Interessen in rasender Schnelligkeit. G. ging
Valentin Andreae zu Beginn des 17. Jhs., poe- auf größere Distanz auch zu Lebensformen
tisch fabulierend und nicht auf eine reale Ge- und -vorstellungen, die ihr Zentrum in Reli-
heimgesellschaft bezogen, geschrieben hatte; gion und Religiosität, zumal überkommener
nicht zufällig interessierte man sich in Weimar und vorherrschender Spielart, hatten. Als er
in den frühen 80er Jahren lebhaft für Andreae. freilich 1816 auf das Fragment aus den mitt-
Was im Fragment auf Geheimes deutet, hebt achtziger Jahren zurückkam, meinte er, mit
sich grundsätzlich von dem oftmals banalen seiner Dichtung damals der Zeit »einigerma-
und obskuren Geheimtreiben der Zeit ab. ßen vorgeeilt« zu sein, und sah die Entwick-
Nicht um Geheimbündelei im Zeichen von lung im Sinne seiner damaligen Intentionen
realen Machtbestrebungen geht es, sondern positiv verlaufen, hätten doch »seit jener Epo-
um eine Botschaft, die, wurzelnd in der Bezie- che die Ideen sich erweitert, die Gefühle ge-
hung zu den widerspruchsvoll verschlungenen reinigt, die Ansichten aufgeklärt«. Nicht mehr
Entwicklungswegen der Menschheit, im poeti- jedoch war nun im Rahmen eines großgedach-
schen Gewand humane Wegweisung für Ge- ten utopischen Entwurfs von einer exemplari-
genwärtiges und Zukünftiges geben will. Inso- schen Gemeinschaft die Rede; befestigen
fern steht das Ethos des Fragments durchaus könne man sich vielmehr nun, so schrieb er,
auch in der Nähe der Iphigenie. Die in ihm »in den Gesinnungen [ ... ], in welchen ganz
verwendeten Formen poetischer Verbildli- allein der Mensch auf seinem eigenen Mont-
chung sind vor allem der Absicht unterstellt, serrat Glück und Ruhe finden kann« (WA I,
ein Ideal menschlicher Gemeinschaft zu ent- 41.1, S. 105). Übriggeblieben war also ledig-
werfen, in dem alle Ausprägungen von Reli- lich ein Modell von individueller Befindlich-
giosität - im Sinne der Beziehung auf ein keit, dem die Montserrat-Assoziation weit an-
Übergeordnetes und Ganzes - vollständig von gemessener war als dem Entwurf von
den Bedürfnissen und Interessen menschli- 1784/85.
chen Zusammenlebens bestimmt sind. In der Rezeptionsgeschichte des G .schen
Die Einleitungsstrophen der Geheimnisse Oeuvres haben die Geheimnisse keine bedeu-
verheißen, daß der geistige Raum dieser Dich- tende Rolle gespielt. Aus der Sicht der politi-
tung für alle Menschen offenstehen und Ge- schen Kämpfe des 19. Jhs. - von den anti-
winn bringen soll. Das Fragment wurde in- napoleonischen Befreiungskriegen bis zur
dessen zunächst nur, freilich mit auffaJliger Konstituierung des Bismarckschen Kaiser-
Bedeutungsschwere, in einem innersten, eso- reichs - konnte sich kaum Interesse für sie
terisch anmutenden Zirkel von Vertrauten und entwickeln. Wenn zum Ende des Jahrhunderts
Gleichgesinnten zur Kenntnis gegeben und re- das Fragment als poetisches Bekenntnis zur
zipiert. Es blieb auch nach der Veröffentli- Humanität eher Beachtung fand, geschah das
chung eine Art von mystisch-geheimnisvollem in einem höchst abstrakten Sinne, abgehoben
Erkenntnissignal für einen Kreis der Einge- von den Widersprüchen der modemen Wirk-
weihten, und es mußte dies um so mehr blei- lichkeit und insofern auch kaum die Chance
ben, als es sich, voll von Zeichen und Anspie- eröffnend, hinter die konkreten zeitgeschicht-
lungen im Sinne der Bestrebungen der 80er lichen Ursprünge und Zusammenhänge des
Jahre - zumal der verborgenen, nicht öffent- Werkes zu kommen. Die allmähliche Aufdek-
lich gemachten -, zu dem Zeitpunkt, da es pu- kung dieser zeit- und kulturgeschichtlichen
552 Versepen

Verwurzelungen, die von der positivistischen Literatur:


Quellenforschung (z.B. Morris, Bianqui) be- Bianqui, GE'mevieve: Etude sur le Poeme des Geheim-
gonnen und in geistesgeschichtlich inspirier- nisse. [Erstdruck 1926.] In: dies.: Etudes sur Goethe.
ten Interpretationen (Gundolf, Bornhausen ) Paris 1951. - Bornhausen, Carl: Wandlungen in
fortgesetzt wurde, hat die Geltung und Wir- Goethes Religion. Ein Beitrag zum Bunde von Chri-
kung des Fragments nicht wesentlich ver- stentum und Idealismus. Berlin 1923. - Farinelli,
Arturo: Goethe und der Montserrat. In: JbGG. N. F. 8
stärkt. Am ehesten könnten neue kulturge-
(1943), S. 192-203 u. S.280-299. - GUNDOLF,
schichtliche Bemühungen, etwa das im Wach- S. 301-303 u. S. 376. - HSW 13. - Lessing. Gesam-
sen befindliche Interesse für die untergrün- melte Werke. Hg. von Paul Rilla. Bd. 8, Berlin 1956.
digen Tendenzen des vorrevolutionären 18. - Morris, Max: Goethes Fragment Die Geheimnisse.
Jhs. oder das Interesse für die Vorgeschichte In: GoetheJb. 27 (1906), S. 131-143. - STAIGER, Bd.
heutiger ökumenischer Bestrebungen, wieder 1, S. 487-496.
Aufmerksamkeit auf das Werk lenken. Hans-Dietrich Dahnke
553

An dem reinsten Frühlingsmorgen 21


Register der Gedichttitel An den Mond (Füllest wieder) 2, 134, 153,
und der Gedichtanfänge 173,174,180-187,220,495,498
An den Mond (Schwester von dem ersten
Licht) 44-50,180,181,183
An den Schlaf 38
Wenn ein Gedichtanfang in mehreren Versio- An des lust'gen Brunnens Rand 315
nen überliefert ist und im GHB in mehreren An die Entfernte 25, 64
Versionen zitiert wird, erscheint die Anfangs- An die Freier 242
zeile im Register in der Fassung der ALH. An die Günstigen 25
An ein goldnes Herz, das er am Halse trug 75
Abglanz 429 An ein Weihnachts-Kind 338
Abschied (War unersättlich ... ) 303, 304 An einen jungen Prahler 38
Ach ich war auch 55 An Frau Clementine von Mandelsloh 338
Ach, ihm mangelt 241 An Geheimerat von Willemer 446
Ach, ihr Götter! 20,25, 155, 198 An Grafen Paar (Dem Scheidenden ist jede
Ach! mein Hals ist 226 Gabe wert) 445
Ach! um deine feuchten Schwingen 299,319 An Gräfin Marie von Einsiedei 448
Ach! unaufhai tsam strebet das Schiff 223, An Hafis 389-393
243-247 An Kenner und Liebhaber 56, 74, 75, 117,
Ach was soll der Mensch 198 155, 156
Ach! wer bringt die schönen Tage 19,25 An Lord Byron 446
Ach wie sehn ich mich nach Dir 66 An Luna 44-49, 183
Achilleis 537-540 An meine Lieder (Seid, geliebte kleine Lie-
Alexis und Dora 223,243-247 der) 38
Alle Pappeln hoch in Lüften 442 An Schach Sedschan und seines Gleichen
Allerdings 301,442 297,398
Alles auch Meinende 453 An Schwager Kronos 3, 9, 20, 58, 62-69, 80,
Alles gaben Götter 3 88,107,118-120,155,190,220
Alles kündet Dich an! 25 An Silvien 297,300
Alles war nur ein Spiel! 242 An Suleika 318,401-404,413
Allleben 308,316 An Venus 44,49
Als ich noch ein Knabe war 55,74, 128, 155 An vollen Büschelzweigen 3,421
Als kleines artges Kind 302, 304 An Werther 5,28,437,440,481-483,487,489
Als Minerva jenen Liehling 125 ANArKH, Nöthigung 361
Als noch, verkannt und sehr gering 24, 223, Anekdote unsrer Tage 155
287 Angedenken du verklungner Freude 75
Als wenn das auf Namen ruhte! 396 Anklage 327
Also das wäre Verbrechen 2, 223, 517, 519 Anklang 441
Am Flusse 25 AnmutigTal 2,26,149,150,163-169
Am heißen Quell 446 Annette an ihren Geliebten 38
Am jüngsten Tag, vor Gottes Thron 303, 305 Antepirrhema 28,253,301,373,438,442
Amerika, du hast es besser 453 Antwort (Freilich wollen sie) 241
Amor bleibet ein Schalk 12,226 Äolsharfen 442, 443
Amor als Landschaftsmaler 258 April 441
Amyntas 223,250-253 Arm an Beutel 223, 288
An Annetten 38 Atmosphäre 442, 463, 465
An Belinden 55, 76, 82, 134 Auch in die allergröbste Lügen 38
An Christel 19, 155 Auch von des höchsten Gebirgs 223, 248, 249
554 Register der Gcdichttitel und der Gedichtanfange

Auf Adler dich zur Sonne schwing 57 Dänunrung senkte sich von oben 2,8, 182,
Auf Christianen R. 56 447,448,455,498
Auf dem Land und in der Stadt 56 DAIMQN, Dämon 357
AufdemSee 2-4,7,9,19,76,139-142,145, Dank des Paria 480
174, 197 Das Beet schon lockert 8, 441
AufMiedings Tod 19,24,169-173 Das erste gibt mir Lust genug 341
Augen sagt mir, sagt 441 Das Glück der Liebe 46,48
Aus einem Stammbuch von 1604 28 Das Göttliche 20, 108, 150, 196, 198,
Aus wie vielen Elementen 308,316,396 201-205,365
Aussöhnung 28,442,447,481,486,489 Das ist Italien, das ich verließ 221, 226, 233
Auserwählte Frauen 320 Das Lied vom braun Annel 55, 71
Das Lied vom eifersüchtigen Knaben 56, 71
Balde seh ich Rickgen wieder 65,66 Das Lied vom Grafen Friederich 71
Ballade 27,296,440,441,479 Das Lied vom Herren und der Magd 71
Bedecke deinen Himmel, Zeus 2, 8, 11, 20, Das Lied vom Herrn von Falckenstein 55, 71
57,58,63,67,69,93,97,101,107-119,150, Das Lied vom jungen Grafen 56, 71
155,157,174,198,201,202,204,258, Das Lied vom Lindenschmidt 71
484 Das Lied vom Pfalzgrafen 71
Bedenk', 0 Kind 55, 155 Das Lied vom verkleideten Grafen 55, 71
Bedenklich 317 Das Lied vom Zimmergesellen 71
Beherzigung 198 Das Mädchen spricht 299, 303, 304
Bei allen Musen und Grazien 513 Das Schrey(e)n 38,44
Bei dem Glanze der Abendröte 21 Das Sonett 22,225,274-276, 297
Bequemes Wandern 471,472,473 Das Tagebuch 296, 339-342, 548
Berechtigte Männer 320 Das Veilchen 63
Berg auf und Berg ab 58, 72 Das Wasser rauscht' 21, 147, 153,209-212,
Bergschloß 22, 336 290
Bey Mondenschein im Paradeis 383 Das Wiedersehn 298
Beyname 308,328,390 Daß du nicht enden kannst 316,380-384,
Bleibe, bleibe bei mir 70, 76 393
Brief 122 Daß du zugleich mit dem heiligen Christ 338
Brief an Lottchen 56, 175 Daß wir solche Dinge lehren 301,320,413
Bringst du die Natur heran 301 Dauer im Wechsel 2, 15,25,28,200,224,
Bücket euch, wie sichs geziemt 241 277-280,282,475,477,503
Bundeslied 25,56,155,156 Deine Liebe, dein Kuss mich entzückt! 315
Bürgerpflicht 453 Dem aufgehenden Vollmonde 15, 182,441,
443,447,448,495-499,503
Cathechetische Induction 55 Dem Fürsten Hardenberg 446, 447
Catechisation 155 Dem Geier gleich 7,20,54,67,69, 119, 147,
Charade 27,300,303 149,150,156,157,159-163,220,354,441,
Christgeschenk 303 477
Climene lebt in tausend Sorgen 38 Dem Himmel wachse entgegen 65
Cupido, loser eigensinniger Knabe 257-260 Dem Scheidenden ist jede Gabe wert 445
Dem Schicksal 3,9, 198
Da droben auf jenem Berge 22, 336 Den Dichter könnt ihr mir nicht nehmen 452
Da du nun Suleika heißest 310,319 Den kleinen Strauß, den ich dir binde 55, 76
Da hatt ich einen Kerl zu Gast 55, 74 Den künftgen Tag 56, 156,440
Da ist's denn wieder wie die Sterne wollten Den 6. Juni 1816 300
361 Den 15 Junius 1775 64
Register der Gedichttitel und der Gedichtanfänge 555

Denck- und Trostsprüchlein 56, 74 Derselben 297


Denn was der Mensch 28 Des Maurers Wandeln 352-354
Der Adler und die Taube 55, 63, 73, 74 Des Menschen Seele 20, 147, 150, 153, 195,
Der aechte Moslem spricht vom Paradiese 196, 197, 198,220
320,441 Des Paria Gebet 440,478,479
Der Besuch 19,22 Dich verwirret, Geliebte 2, 15,28,223,
Der Bräutigam 440,497-501,503 253-256,265,280,282,331,458,469,476
Der Damm zerreißt 346-349 Dichten ist ein Uebermuth 9,308,316,331,
Der Deutsche dankt 308,327,366,390 374-377,394,431
Der du mit deinem Mohne 38 Dichter lieben nicht zu schweigen 25
Der du von dem Himmel bist 54, 149, 173, Die Bekehrte 21
174,187-194 Die bleibt nicht aus! 360
Der Edelknabe und die Müllerin 298 Die Braut von Corinth 223,288-293
Der ewige Jude 540-546 Die Feinde sie bedrohen dich 13
Der Fischer 21, 147, 153,209-212,290 Die Flut der Leidenschaft sie stünnt verge-
Der fünfte Mai 438 bens 314
Der getreue Eckart 296 Die Gegenwart weiß nichts von sich 446
Der Gott und die Bajadere 223,288,291-293, Die Geheimnisse 205,206,209,284,473,
478,479 546-552
Der Griechen Mythentum und Fabel 297 Die glücklichen Gatten. 25
Der Kenner 56, 74, 75, 117 Die Königin steht 305
Der König in Thule 56, 63, 72, 131-134 Die Leidenschaft bringt Leiden! 28,442,447,
Der Morgen kam 2, 147, 153, 154,205-209, 481, 486, 489
284,498,547,548 Die Liebende abermals 299, 304
Der Mufti las des Misri Gedichte 327 Die Liebende schreibt 299, 303, 304
Der Müllerin Reue 298 Die Liebhaber 38
Der Musensohn 267,269 Die Lustigen von Weimar 298
Der neue Amadis 55,74, 128, 155 Die Metamorphose der Pflanzen 2, 15,28,
Der neue Pausias und sein Blumenmädchen 223,253-256,265,280,282,331,458,475,
223,298 476
Der Pfau schreit häßlich 455 Die Nacht 46,49-51
Der Sänger 217-219 Die Nebel zerreißen 21,270-272
Der Schatzgräber 223,288 Die Nektartropfen 125
Der Schmetterling 49 Die Perle die der Muschel entrann 314
Der Spiegel sagt mir ich bin schön! 317 Die Rettung 19
Der Teufel hol das Menschengeschlecht! 155 Die schön geschriebenen 314,318,412-414,
Der Totentanz 296, 342-346 416,427,429
Der Türmer der schaut 296, 342-346 Die schöne Nacht 50
Der untreue Knabe 212 Die Sonne, Helios der Griechen 314,318,
Der wahre Genuß 19 319,415-418,422,427
DerWandrer 55,57,63,64,67,69,124-127, Die Sonne kommt! Ein Prachterscheinen!
155,157,191,298,467,469,472 413,421
Der Winter und Timur 310,318,383, Die Spröde 21
397-402 Die stille Freude wollt ihr stören 455
Der Zauberlehrling 223, 288, 293, 294 Die strenge Gränze doch umgeht gefällig 359
Der zierlichsten Undine 446 Die wandlende Glocke 296
Derb und Tüchtig 9,308,316,331,374-377, Die Weisen und die Leute 29,298,301
394,431 Die Welt sie ist so groß 442,463,465
Der's gebaut vor funfzig Jahren 447 Die Xenien sie wandeln zahm 449
556 Register der Gedichttitel und der Gedichtanfange

Dies wird die letzte Thrän' nicht sein 63, 75, Ein Meister einer ländlichen Schule 24
76,146,336 Ein Reicher 155
Diese Worte sind nicht alle in Sachsen 298, Ein reiner Reim wird wohl begehrt 452
452 Ein Spiegel er ist mir geworden 429
Dieses Baum' s Blatt, der von Osten 313, 318, Ein Strom entrauscht 302-304, 334-336
404-412,414,428 Ein Veilchen auf der Wiese stand 56, 63, 72
Dieses Heft Persönlichkeiten 453 Ein wunderbares Lied ist euch bereitet 205,
Dir hat, wie du mir selbst erzählt 38 206,209,284,473,546-552
Dir mit Wohlgeruch zu kosen 318, 401-404, Ein zärtlich jugendlicher Kummer 63, 66
413 Eine schädliche Frucht 153
Dir zu eröffnen 299 Einer Einzigen angehören 28, 152
Doch solcher Gränze, solcher ehrnen Mauer Einladung 431
362 Einlass 320, 441
Donnerstag nach Belvedere 298 Eins und Alles 15,28,200,277,282,301,441,
Dornburg September 1828 8, 15,441,443, 443,447,448,474-478,501,503-505
448,469,495-499,503 Einsamste Wildnis 4,471
Draussen am Orte 441 Einschränkung 149
Dreihundert Jahre sind vor der Türe 451 Einst gieng ich 44
Dreistigkeit 376 Eislebens Lied 9,155, 198
Dringe tiefzu Berges Grüften 441,448 Elegie 2,3,5, 15, 17,28,436,440,443,446,
Du dem die Musen 56, 74 447,479,481-490,501
Du gefällst mir so wohl 298 Elegie auf den Tod des Bruders meines Freun-
Du prophet' scher Vogel du 25 des 38
Du sagst gar wunderliche Dinge! 444 Elemente 308,316,396
Du Schüler Howards 442,466 Elisium 69
Du siehst so ernst, Geliebter! 299,303,304 EADIL, Hoffnung 362
Du versuchst, 0 Sonne 300 Entoptische Farben 301,447,448,463
Durch allen Schall und Klang 297, 398 Entsagen 303
Durch Feld und Wald zu schweifen 267,269 Entwickle deiner Lüste Glanz 455
Entwöhnen sollt' ich mich 303,304
Edel sei der Mensch 20, 108, 150, 196, 198, Epilog zu Schillers Glocke 24,225,283-287,
201-205,365 491,548
Ehret wen ihr auch wollt! 9, 12 Epimenides Erwachen, letzte Strophe 400
Ein Adlerjüngling hob die Flügel 55, 63, 73, Epirrhema 28,253,301,373,438,442,443
74 Epoche 27,299,303,484
Ein alter Mann ist stets ein König Lear! 445 Er und sein Name 513
Ein andres (Kophtisches Lied) 260-263 Ergo bibamus! 298
Ein bißchen Ruf, ein wenig Ehre 452 Erinnerung (Willst du immer weiter schwei-
Ein Blick von deinen Augen 299, 303, 304 fen?) 2
Ein freundlich Wort 446 Erklärung eines alten Holzschnittes 19,24,
Ein gleiches 173, 187, 191-194 156, 157, 170, 179,288
Ein Gleichnis (Es hatt ein Knab) 55, 74, 124, Erlkönig 21,147,150,153,211-217,290
155 EPQL, Liebe 360
Ein Gleichnis (Über die Wiese) 55,74,75, Erschaffen und Beleben 308,315,316,
155 389-391,398
Ein grauer trüber Morgen 63, 65, 66 Erster Verlust 19,25
Ein jeder kehre vor seiner Tür 453 Erwache Friedericke 65, 66
Ein junger Mensch 155, 157 Es fing ein Knab ein Meiselein 72
Ein lutherischer Geistlicher spricht 155 Es fing ein Knab ein Vögele in 56
Register der Gedichttitel und der Gedichtanfänge 557

Es fuhr ein Fuhrknecht 71 Füllest wieder Busch und Tal 134, 173,
Es hatt ein Knab 55, 74, 124, 155 180-187,220
Es ist ein Schnee gefallen 441 Füllest wieder's liebe Tal 2, 153, 174,
Es ist gut 383 180-187,495,498
Es klingt so prächtig, wenn der Dichter 315, Fünf andere 310
319,415,416,421,422 Fünf Dinge 310
Es nannten ihre Bücher 38 Fünf Dinge bringen fünfe nicht hervor 310
Es reit der Herr von Falckenstein 55, 71 Fürewig 28
Es schlug mein Herz 14,65,66,77-82,336, Für's Leben 441
422
Es schnurrt mein Tagebuch 298 Ganymed 2,11,20,58,59,63,64,67-69,
Es stehen drey Sternen am Himmel 56, 71 107-110, 115-18, 155, 157, 198,201,220,
Es war ein ädlicher Lindenschmidt 71 477
Es war ein Buhle frech genung 56, 72, 132 Gefunden 25,244,264-266,300
Es war ein Kind 296 Gegenwart 25
Es war ein Knabe frech genung 212 Geh! gehorche meinen Winken 260-263
Es war ein König in Thule 56,63,72,131-134 Gehab dich wohl bei den hundert Lichtern 3
Es war ein Ratt im Keller Nest 72 Geheimschrift 318,331,408,412,418,
Es war einmal ein edler Herr 71 427-430
Es war einmal ein Hagenstolz 38, 71 Geheimster Wohnsitz 472
Es war einmal ein König 72 Geheimstes 6, 300, 317
Es war einmal ein Zimmergesell 71 Gehinderter Verkehr 472, 473
Es waren drey Junggesellen 71 Geistes-Gruß 58, 72
Es werbt ein junger Grafen Sohn 55, 71 Genieße dies nach deiner eigenen Weise 446
Es wollt ein Knab spazieren gehn 55, 71 Gern verlaß ich diese Hütte 46, 49-51
Euer Beyfall macht mich freyer 38 Gesang 67, 100, 104, 155
Euphrosyne 223,248,249 Gesang der Geister über den Wassern 20,
147, 150, 153, 195-198,220
Feiger Gedanken 9 Getretner Quark 315,318
Fels-Weihegesang 62,64,69 Geweihter Platz 513
Fetter grüne du Laub 2,55, 76, 142-146, 182, Gewiß ich wäre schon so ferne 198,547
191 Gewohnt, getan 298
Fetwa (Der Mufti las) 327 Gewöhnung 303
Fetwa (Hafis Dichterzüge) 308,327,366,390 Gib acht! es wird dir allerlei 446
Flieh, Täubchen, flieh! 74 Gingo biloba 313,318,404-412,414,428
Frauen sollen nichts verlieren 320 Glückliche Fahrt 21,270-272
Frech und froh 2 Gott segne dich junge Frau 55, 57, 63, 64, 67,
Freie Welt 245,471-473 69, 124-127, 155, 157, 191,201,298,467,
Freuden des jungen Werthers 155, 157 469,472
Freudig war, vor vielen Jahren 2, 15,28,253, Gottes ist der Orient! 316,408
373,438,442,443 Graf Friedrich wollt ausreiten 71
Freunde flieht die dunkle Kammer 445 Grenzen der Menschheit 20, 147, 150, 155,
Freundliches Begegnen 302-304 196, 198-203
Frisch! Der Wein soll 298 Groß ist die Diana der Epheser 25
Froh empfind' ich mich nun 230 Große Venus, mächtge Göttin 44, 49
Früh wenn Tal, Gebirg und Garten 8, 15,441, Großer Brama, Herr 440,478,479
443,448,469,495-499,503 Großer Brama! nun erkenn' ich 480
Frühling über's Jahr 8,441 Gut! Brav, mein Herr! 56, 74, 75, 122, 155,
Frühlingsorakel 25 298
558 Register der Gedichttitel und der Gedichtanfänge

Gute Nacht 301,320,366 Hinter jenem Berge wohnt 441


Guter Rath auf ein Reisbret 122 Hoch auf dem alten Thurne steht 72
Hoch auf dem alten Tunne 58, 72
Ha, ich bin der Herr der Welt! 25, 155 Hoch zu Flammen entbrannte die mächtige
Hab ein bucklich Männel g'nomme 71 Lohe 537-540
Hab' ich euch denn je gerathen 331 Hochbeglückt in deiner Liebe 299,319
Hab offt einen dummen düstern Sinn 19, 56, Hochbild 314,318,319,415-418,421,422,
155 427
Hafis Dichterzüge sie bezeichnen 308,327, Höchste Gunst 297,398
366,390 Hochzeitlied 51, 52, 53
Hafis dir sich gleich zu stellen 297,382, 383 Hoffnung (Schaff, das Tagwerk) 9
Hans Adam war ein Erdenklos 308,315,316, Hoffnung beschwingt 28
389-391,398 Höheres und Höchstes 301,320,413
Hans Sachsens poetische Sendung 19,24, Holde Lili warst so lang 3, 75
156, 170, 179,288 Homer wieder Homer 447
Harzreise im Winter 7,20,54,67,69, 119, Hör' und bewahre 317,328
147, 149, 150, 156, 157, 159-163,220,354, Howard's Ehrengedächtnis 301,438,
441,477 441-443,447,463-466,469,484
Hat der alte Hexenmeister 223,288,293,294 Hundertmal werd ich's euch sagen 241
Hätt' ich irgend wohl Bedenken 401 Hypochonder 155
Hausgarten 471-473
Hegire 2,14,301,309,313,315,319,320, Ich dacht' ich habe keinen Schmerz 442,443
326,365-372,376 Ich denke dein 25, 272-274
Heidenröslein 19,55,63,66, 72, 85, 127-132, Ich fand mein Mädgen einst allein 38
265 Ich führt einen Freund 56, 74, 75, 117, 122,
Heiliger Ebusuud 308,327,366,390 155
Heiliger lieber Luther 155 Ich ging im Felde 265
Herbstgefühl 142, 182 Ich ging im Walde 25,244,264-266,300
Herein, 0 du Guter! 27,296,441,479 Ich hab euch einen Tempel baut 56,64, 74,
Herkömmlich 301 88,101,105,117,120-125,155
Herrinn! sag was heißt das Flüstern? 182, Ich hab' mein Sach auf Nichts gestellt 298
318,319,415,424-427,495 Ich habe geliebet 298
Hernnann und Dorothea (Also das wäre) 2, Ich komme bald 65
223,517 Ich möchte dieses Buch 319
Hernnann und Dorothea (Verscpos) 519-537 Ich sah die Welt mit liebevollen Blicken 4,
Herrn Staats-Minister v. VOigt 349-352 472
Herz, mein Herz, was soll das geben? 55, 76, Ich sah wie Doris 38
134-138,141 Ich saug an meiner Nabelschnur 2,3,4, 7, 76,
Heute steh ich meine Wache 320,441 139-142, 145, 197
Hielte diesen frühen Segen 2, 15,25,28,200, Ich steh auf einem hohen Berg 56, 71
224,277-280,475,477,503 Ich weiß nicht was mir hier gefallt 149
Hier ist mein Garten bestellt 226 Ich zweifle doch am Ernst 298, 304, 305
Hier schick ich dir 4, 74 Ihr Bestien, ihr wolltet glauben 453
Hier sind, so scheint es 471,473 Ihr liebt, und schreibt Sonette! 276,304,305
Hier sind wir denn vorerst 471,472,473 Ihr verblühet süße Rosen 56
Hier sind wir versammiet 298 Ihro der Kaiserin von Frankreich Majestät
Hierhergetrabt die Brust voll tiefem Wühlen 401
149 Ihro Hoheit der Prinzessin Auguste von Sach-
Hinten im Winkel des Gartens 226 sen-Weimar und Eisenach 442
Register der Gedichttitel und der Gedichtanfänge 559

Ihro Hoheit der Prinzessin Maria von Sach- Jüngst schlich ich 38
sen-Weimar-Eisenach 442,446 Juni 441
Ilmenau 2,26,149,150,163-169
Im Athemholen sind zweyerley Gnaden 316 Kannst du, schöne Pächterin 298
Im düstern Wald 38 Kaum daß ich dich wieder habe 299
Im ernsten Beinhaus war's 2,200,297,438, Kein Stündchen schleiche dir vergebens 445
440,443,447,491-495 Kein Wesen kann zu nichts zerfallen 13,29,
Im Felde schleich ich 151,155,173-175,181, 441,443,447,448,477,501-507
182,498 Keinen Reimer wird man finden 317,377
Im Gegenwärtigen Vergangnes 8,316 Kenner und Künstler 56, 74, 75, 122, 155,298
Im Grenzenlosen sich zu finden 15,28,200, Kennst du das Land wo die Citronen blühn 2,
277,282,301,441,443,447,448,474-478, 26, 194
501-505 Klaggesang von der edeln Frauen des Asan
Im Herbst 17752,55,76,142-146,191 Aga 19,56, 73
Im holden Tal 76 Klein ist unter den Fürsten Germaniens 226
Im Innern ist ein Universum 28 Kleine Blumen, Kleine Blätter 55,65,82,96,
Im Namen der Bürgerschaft von Carlsbad 24, 155,174
300 Knabe saß ich, Fischerknabe 448
Im Namen dessen 28,301,373,442,503 Komm Liebchen, komm! 314,331
Im Nebel Geriesel im tiefen Schnee 58, 72 Kommt Brüder! 29,298,301
Im Schlafgemach 51-53 Königlich Gebet 25, 155
Im Vorübergehn 265 Kophtisches Lied 260-263
Im weiten Mantel 302-304 Kriegsglück 25,298
Immer und Überall 441, 448 Kunst die Spröden zu fangen, Erste Erzäh-
In allen guten Stunden 25, 155 lung 38
In das Stammbuch des Fräuleins Melanie von Kunst die Spröden zu fangen, Zwote Erzäh-
Spiegel 338 lung 38
In deine Reimart hoff ich mich zu finden Künstlers Abendlied 56,63, 74
297,315,316,382,387,403 Künstlers Morgenlied 56,64,74,88, 101,
In der Wüsten 155 105,117,120-125,155
In seiner Werkstatt 19,24, 156, 157, 170, 179, Kurz und gut 304
288
In tausend Formen magst du dich verstecken Lang verdorrte, halbverweste Blätter vor'ger
297,315,383,429 Jahre 57
Ins Innre der Natur 301,442 Laß dir von den Spiegeleien 301, 447, 448,
Ist doch keine Menagerie 19,58, 76, 137-139 463
Ist es möglich, Stern der Sterne 28,282,301, Lasset Gelehrte sich zanken und streiten
315,318,319,410,418-424,427 260-263
Ist's möglich daß ich Liebchen dich kose! 13, Laßt euch, 0 Diplomaten! 318,331,412,418,
319 427-430
Legende (Als noch, verkannt) 24,223, 287
Ja! ich rechne mir's zur Ehre 452 Legende (In der Wüsten) 155
Ja, in der Schenke hab' ich auch gesessen Legende (Wasser holen) 440,447,448,479,
319,430,431 480
JägersAbendlied 151,173,175,181,182 Leichte Silberwolken schweben 441
Jägers Nachtlied 155, 173-175,498 Lesebuch 328
Jähe Trennung 303 Lichtlein schwimmen 2,442,443,447
Jetzt fühlt der Engel 65 Lieber Herr Dorwille 76
Johanna Sebus 346-349 Liebesqual verschmäht 2
560 Register der Gedichttitel und der Gedichtanfänge

Lied des Phisiognomischen Zeichners 56, 63, Mit Flammenschrift war innigst 27,299, 303,
74,75 484
Lied und Gebilde 314,316,383,479 Mit Pfeilen und Bogen 56
Liegt dir Gestern klar und offen 436 Mitten im Getümmel 56, 175
Lili's Park 19,58,76,137-139 Mitternachts weint' und schluchzt' ich 314
Locken! haltet mich gefangen 14,300,311, Mohamed Schemseddin sage 308, 328, 390
319 Morgenklagen 19
Logogryph 341 MorgenNebel, Lila 64, 69
Lust und Qual 448 Musen und Grazien in der Mark 247
Lyde 38 Müsset im Naturbetrachten 28,253,301,373,
438,442,443
Mächtiges Überraschen 302-304, 334-336 Mußt nicht vor dem Tage fliehen 431
Mädgen sezzt euch zu mir nieder 38 Musterbilder 317, 328
Madrigal aus dem Französischen 38
Madrigal aus dem Französischen des Herrn v. Nach Corinthus von Athen gezogen 223,
Voltaire 38 288-293
Mag der Grieche seinen Thon 314,316,383, Nach diesem Frühlingsregen 25,441
479 Nach Mittage saßen wir 19
Mahadöh, der Herr der Erde 223, 288, Nachbildung 297,315,316,382,387,403
291-293,473,479 Nachgefühl 25
Mahomets Gesang 11,20,55,57,62,63, Nachklang 315,319,415,416,421,422
67-69,88,90,99-107,155,157,196,197 Nachtgesang 22
Mai 441 Nähe des Geliebten 25,272-274
Maifest 1,2,4,55,66,67,82-87 Natur und Kunst 225,274,275,297
Maylied 55,66, 82-87 Nehmt nur mein Leben hin 451
März 441 Nemesis 276, 304, 305
Meeres Stille 21,270-272 Neue Liebe neues Leben 55,76, 134-138, 141
Mehr als ich ahndete 226, 230 Nicht am Susquehanna 336-339
Mein altes Evangelium 25, 56, 63, 74 Nichts vom Vergänglichen 453
Mein Mädgen im Schatten der Laube 38 Nikias, trefflicher Mann 180, 223,250-253
Mein Mädgen sagte mir 38 Nimmer will ich dich verlieren! 474
Mein Mädgen ward mit ungetreu 19 Noch einmal wagst du 5,28,437,440,481,
Mein süßes Liebchen! 303 483,487,489
Meine Göttin 20, 148, 198 Nord und West und Süd zersplittern 2, 14,
Meine Liebste wollt ich heut beschleichen 301,309,313,315,319,320,326,365-372,
19,22 376
Meine Mutter die Hur 72 Nun sitzt der Ritter 65, 66
Meine Ruh ist hin 72 Nun so legt euch liebe Lieder 301, 320, 366
Menschengefühl 20,25, 155, 198 Nun verlass' ich diese Hütte 50
Mephisto scheint ganz nah zu sein! 452 Nun weiß man erst was Rosenknospe sei 455
Merkur 241 Nur fort, du braune Hexe 298
Metamorphose der Tiere 15,28,223,253, Nur wenig ist's was ich verlange 314,319,
282,296,301,458-463,503,505 331,403,431
Mich ergreift, ich weiß nicht wie 224
Mignon (Kennst du das Land?) 2,26, 194 o dass die innre Schöpfungskrafft56, 63, 74,
Mir schlug das Herz 2,9, 14,55, 77-84, 134, 75
191,273,345 o du loses, leidigliebes Mädchen 19
Mit der leutschen Freundschaft 297 O! gib, vom weichen Pfühle 22
Mit einem gemalten Band 82, 155, 174 o wären wir weiter 296
Register der Gedichttitel und der Gedichtanfänge 561

o wie fühl ich in Rom mich so froh!


15,229 Schon wälzen schnelle Räder 38
0, wie ist die Stadt 247 Schütte die Blumen nur her 223,298
Ob der Koran von Ewigkeit sey? 297,319 Schwebender Genius über der Erdkugel 494
Ob ich Dich liebe 55, 66 Schwester von dem ersten Licht 44-50,181,
Ode an Herrn Professor Zachariae 38 183
Offenbar Geheimniß 316,328,384-389,408 Sechs Begünstigte des Hofes 310,320,366,
Offne Tafel 25, 298 431
Ohne Wein 64 Seefahrt 9,20,54,67,69,88,124,149,150,
155,157-159,175,198
Parabase 2,15,28,253,373,438,442,443 Segenspfander 14,408
Parabeln 24 Sehnsucht (Dies wird die letzte Thrän') 63,
Pfingsten, das liebliche Fest 508-518 75,76,146,336
Phaenomen 308,319,372-374 Sehnsucht (Was zieht mir das Herz so?) 22
Physiognomische Reisen 153 Sehnsucht 22,63,75,76,146,336
Pilgers Morgenlied 64, 69 Seht den Felsenquell 11,20,55,57,62,63,
Poetische Gedancken über die Höllenfahrt 67-69,88,90,99-107,155,157,196,197
Jesu Christi 37 Seine Todten mag der Feind betrauern 320
Priester werden Messe singen 301 Selige Sehnsucht 308,315,316,377-380,
Prolog 57 383,476
Prometheus 2,8,11,20,57,58,63,67,69,93, Sendschreiben (Mein altes Evangelium) 25,
97,101,107-119,150,155,157,174,198, 56,63,74
201,202,204,258,484 Seyd, geliebte kleine Lieder 38
Prooemion 28,301,373,442,503 s'gschiht wohl 56, 74, 122
Pygmalion 38, 71 Sich in erneutem Kunstgebrauch 22, 225,
274-276,297
Rechenschaft 298 Sie haben dich heiliger Hafis 316,328,
Reicher Blumen goldne Ranken 446 384-389
Reineke Fuchs 508-518 Sie haben wegen der Trunkenheit 297,315,
Reisezehrung 304 320,383
Ros' und Lilie 8,316 Sie kann nicht enden 299, 303, 304
Siebenschläfer 310,320,366,431
Sag du hast wohl viel gedichtet? 299,319, Sieht man den schönsten Stern 401
412,421 So hab' ich wirklich 25,64
Sag was könnt' uns Mandarinen 15, 455 So schauet mit bescheidnem Blick 28, 253,
Sage mir keiner 452 301,373,438,442
Saget Steine mir an 2 So umgab sie nun der Winter 310,318,383,
Sagt es niemand, nur den Weisen 308,315, 397-402
316,377-380,383,476 Soll ich von Smaragden reden 317
Sah ein Knab' 19, 55, 63, 66, 72, 85, 127, 128, Soll man dich nicht aufs schmälichste berau-
150,131,152,265 ben 317
Sanftes Bild dem sanften Bilde 442, 446 Sollt' es wahr sein 153
Saß ich früh 258 Sollt' ich mich denn 303, 304
Schäfers Klagelied 22, 336 Sonst war ich Freund 29
Schaff, das Tagwerk 9 Sorglos über die Fläche weg 9, 155, 198
Scharfsinnig habt ihr 447 Sprache 55, 74
Schicke dir hier den alten Götzen 74 Sprich! Unter welchem Himmelszeichen 297
Schicke dir hier in altem Kleid 74 Spude dich Kronos 3,9,20,58,62-64,67-69,
Schlechter Trost 314 80,88,107,118-120,155,190,220
Schmückt die priesterlichen Hallen 503 St. Nepomucks Vorabend 2,442,443,447
562 Register der Gedichttitel und der Gedichtanfange

Staub ist eins der Elemente 308, 316 Und so sag' ich zum letzten Male 29
Stiftungslied 22, 25 Und was im Pend-Nameh steht 14
Stirbt der Fuchs, so gilt der Balg 19 Und wenn mich am Tag die Ferne 495
Suleika spricht 317 Und wenn sie zuletzt erfrieren 297
Süße Freundin, noch Einen 298 Und wenn wir unterschieden haben 463,465
Süsse Sorgen 221, 226 Und wer franzet oder brittet 298
Symbolum 352-354 Ungezähmt so wie ich war 297,398
Uns gaben die Götter 64, 69
Tag lang Nacht lang 9,20, 54, 67, 69, 88, 124, Urworte. Orphisch 28,200,284,296,301,
149,150,155,157-159,175,198 339,354-365,441,442,458,475,498,539,
Talisman in Karneol 14, 408 548
Talismane 316,408
Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen Valet 29
331 Vanitas! vanitatum vanitas! 298
Teilen kann ich nicht das Leben 445, 453 Veilchen bring' ich 62,64,69
Thut ein Schilf sich doch hervor 377 Verfließet, vielgeliebte Lieder 25
Tiefe Stille herrscht im Wasser 21,270-272 Verflucht sey wer nach falschem Rath 400
Timur spricht 317,401 Vermächtnis 13,29,441,443,447,448,477,
Tischlied 224 501-507
Töchterchen! nach trüben Stunden 448 Vermächtniß alt persischen Glaubens 320,
Trauerreglement 453 326,431-435
Trink, 0 Jüngling 46, 48 Verpflanze den schönen Baum 39
Triumph der Tugend, Erste Erzählung 38 Versuchung 153
Triumph der Tugend, Zwote Erzählung 38 Versunken 391
Trocknet nicht 70, 76, 146 Vertheilet euch nach allen Regionen 28, 224,
Trost in Tränen 22, 336 277,280-283,475
TYXH, Das Zufällige 359 Verweile nicht und sei dir selbst ein Traum
301
Über allen Gipfeln 2,9,147,149,173,187, Verwünschter weiß ich nichts 25, 298
191-194 Viele Gäste wünsch' ich heut 25,298
Über die Wiese 55, 74, 75, 155 Volk und Knecht und Ueberwinder 331
U ebermach t, Ihr könn t es spü ren 317, 331, Voll Locken kraus ein Haupt so rund! 391
377,393-397 Vollendung 378,379
Ultimatum (Und so sag' ich) 29 Vollmond nacht 182,318,319,415,424-427,
Um Mitternacht 3,28, 182,439,440,447, 495
472,498 Vom Himmel sank, in wilder Meere Schauer
Um Mitternacht ging ich 3,28, 182,439,440, 314
447,472,498 Vom plauderhafften Knaben 71
Um Mitternacht, ich schlief 440,497-501, Vom Vater hab' ich die Statur 439,445,453
503 Von Berges Luft 349-352
Um Mitternacht, wenn die Menschen 152, Von dem Berge zu den Hügeln 28
212 Von stiller Wollust eingeladen 38
Um Mitternacht wohl fang ich an 540-546 Von wem ich's habe 54, 155
Umsonst, daß du ein Herz zu lenken 19 Vor Gericht 54, 155
Unbegrenzt 316,380-384,393 Vor Jahrhunderten hätte ein Dichter dieses
Und doch haben sie recht 317, 328, 369 gesungen? 510
Und frische Nahrung 7,9,19,139-142,174, Vorklage 25
197 Vorschlag zur Güte (Du gefällst mir so wohl)
Und in PapilIons Gestalt 49 298
Und so geschah's 24,225,283-287,491,548 Vorschmack 320,441
Register der Gedichttitel und der Gedichtanfänge 563

Wachsende Neigung 302 Welcher Unsterblichen 20, 148, 198


Wachstum 304 Weltschöpfung 277,280,281
Wagt ihr, also bereitet 15,28,223,253,282, Weltseele 28,224,277,280,281,282,283,
296,301,458-463,503,505 475
Wahrhaftes Mährgen 122 Wen du nicht verlässest Genius 3,9,57,58,
Wanderlied 28 63,64,67-69,80,87-99, 101, 105, 119, 120,
Wandrer und Pächterin 298 127,150,155,175,191,258,269
Wandrers Nachtlied (Der du von dem Him- Wenn am Tag Zenit und Ferne 447
mel) 54,149,173,174,187-191 Wenn der Mensch die Erde schätzet 433
Wandrers Nachtlied (Über allen Gipfeln) 2, Wenn der uralte 20,147,150,155,196,198,
9, 147, 149, 187, 191-194 200-203
Wandrers Sturmlied 3,9,57,58,63,64, Wenn die Reben wieder blühen 25
67-69,80,87-99,101,105,119,120,127, Wenn die Zweige Wurzeln schlagen 297,300
150,155,175,191,258,269 Wenn du auf dem Guten ruhst 396
Wär nicht das Auge sonnenhaft 297,453 Wenn durch das Volk 276, 304, 305
War unersättlich 303, 304 Wenn Gottheit Camarupa 301,438,441-443,
Warnung (Am jüngsten Tag) 303, 305 447,463-466,469,484
Warum gabst du uns die Tiefen Blicke 2, 54, Wenn ich dein gedenke 431
147,151,152,175-180,196 Wenn ich liebe Lili dich nicht liebte 76
Warum ich wieder zum Papier 299, 304 Wenn ich mir in stiller Seele 442
Warum ziehst du mich unwiderstehlich 55, Wenn ich nun gleich das weiße Blatt 299,
76,82, 134 303,304
Was alle wollen weißt du schon 389-393 Wenn im Unendlichen dasselbe 1, 15,445,
Was bedeutet die Bewegung? 299,319 453
Was es gilt 301 Wenn links an Baches Rand 394
Was frommt die glühende Natur 56, 74, 75, Wenn Phöbus Rosse sich zu schnell 338
117,155,156 Wenn sich lebendig Silber neigt 442
Was gehst du, schöne Nachbarin 22,25 Wenn zu den Reihen der Nymphen 513
Was hör' ich draußen vor dem Tor 217-219 Wenn zu der Regenwand 308,319,572-574
Was? Ihr misbilliget den kräftigen Sturm 317, Wer die Körner wollte zählen 446,447
401 Wer müht sich wohl 446
Was, in der Schenke, waren heute 430 Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? 21,
Was ist denn deine Absicht gewesen 444 147,150,153,211-217,290
Was ist weißes dort 19, 56, 73 Wie an dem Tag 28,200,284,296,301,539,
Was reich und arm 55, 74 354-365,441,442,458,475,498,559,548
Was soll ich nun 2,3,5, 15, 17,28,436,440, Wie das erbaut war 471,472
443,446,447,479,481-490,501 Wie des Goldschmieds Bazarlädchen 299
Was verkürzt mir die Zeit? 310 Wie einer ist, so ist sein Gott 202
Was wär ein Gott 28 Wie herrlich leuchtet 1,2,4,55,66,67,
Was weiß ich was mir hier gefallt 3,9, 198 82-87
Was zieht mir das Herz so? 22 Wie im Morgenrot 2, 11,20, 58, 59, 65, 64,
Wasser holen geht die reine 440,447,448, 67-69,107,108-110,115-118,155,157,
479,480 198,220,477
Weichet, Sorgen, von mir 221,226 Wie kommt's, daß du so traurig bist 22, 556
Welch ein Getümmel 19,24,169-173 Wie! Mit innigstem Behagen 318
Welch ein Zustand! Herr, so späte 315 Wie nimmt ein leidenschaftlich Stammeln
Welch ungewöhnliches Getümmel! 37 25
Welch Vermächtniß, Brüder, sollt' euch kom- Wie sich am Meere 471,475
men 320,326,431-435 Wie sollt' ich heiter bleiben 424,451
564 Register der Gedichttitel und der Gedichtanfange

VViederfinden 28,282,301,315,318,319, VVonne der VVehmut 70, 76, 146


410,418-424,427 VVonniglich ist's, die Geliebte 226
VViederholung 241 VVoraufkommt es überall an 376
VVieland zeigt sich nur selten 241 VVunderlichstes Buch der Bücher 328
VVillkomm und Abschied 77-82,422 VVürd' ein künstlerisch Bemühen 338
VVillkommen und Abschied 2,9, 14,55,65,
66,77-84,134,191,273,336,345 Zarter Blumen leicht Gewinde 446
VVillst du dich als Dichter beweisen 439 Zeichen der Jungfrau 241
VVillst du immer weiter schweifen? 2 Zelters siebzigster Geburtstag am 11. Decmb.
VVillst du mich sogleich verlassen! 15, 182, 1828 (Lasset heut) 503
441,443,447,448,495-499,503 Ziblis 38
VVink 317,328,369,408 Ziehn die Schafe von der VViese 443,447,
VVir hören's oft 296,339-342,548 455,458,498
VVir sind emsig 6, 300, 317 Zu des einzigen Tages Feste 24, 300
VVir sind vielleicht zu antik gewesen 444 Zu einem gemalten Band 96
VVirwandern ferner 245,471,472,473 Zu Ephesus ein Goldschmied saß 25
VVirket Stunden leichten VVebens 448 Zu Thaers Jubelfest 446
VVirkung in die Ferne 305 Zueignung (Der Morgen kam) 2,147, 153,
VVißt ihr denn auf wen die Teufel lauern 327 154,205-209,284,498,547,548
VVo hast du das genommen? 368 Zugabe 71
VVo man mir Guts erzeigt 297 Zum ein und zwanzigsten Juni, Carlsbad
VVoher ich kam 383 1808 336-339
VVohin er auch die Blicke 547 Zwei gefahrliche Schlangen 226, 230
VVohin? wohin? 298 Zwei VVorte sind es 27,300,303
VVohl kamst du durch 452 Zwiespalt 394
VVohl zu merken 463, 465 Zwischen beiden VVelten 28, 152,440
VVollt ihr wissen 155 Zwischen oben, zwischen unten 494
565

Boie, Heinrich Christian 55


Namenregister Boileau, Nicolas 88
Boisseree, Sulpiz 3,300,308,341,355,392,
399,404,407,418,419,438,443
Adelung, Johann Christoph 20 Borchardt, Rudolf 480
Aelst, Paul van der 128 Börne, Ludwig 321,392,396
Aischylos 538 Böttiger, Karl August 211,230,231,248,289,
Alckmer, Hinrek van 509,512 519,521,523
Alkaios 158 Bowring, John 463
Alxinger, Johann Baptist von 231 Brahms,Johannes 163,244,303
Anakreon 36,68,87,90,96,126,258 Brecht, Bertolt 192,292
Andreae, Johann Valentin 551 Breitinger, Johann Jacob 68
Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar Breitkopf, Bernhard Theodor 44,49,51
150,173,212,232,235,258,508 Breitkopf, Johann Gottlob Immanuel 510
Anquetil du Perron, Abraham Hyacinthe 433 Bremer Beiträger 33, 40
Ariost 548 Brentano, Bettine 296,299, 300, 303, 334
Aristophanes 158 Brentano, Clemens 16
Arnim, Achim von 387 Brion, Friederike 61,63,65,66,70,71,74,
Arnold, Gottfried 544 76,77,82,85,86,196
Atsuko Kato 411 Brion, Sophie 65,66, 74, 77
August HI. 33 Brockes, Barthold Hinrich 144,493
Augustenburg, Friedrich Christian Herzog Brun, Friederike 272
von 231 Bruno, Giordano 281
Augustus (röm. Kaiser) 397 Büchner, Wilhelm 183
Buff, Charlotte 124
Bahrdt, Carl Friedrich 32, 65 Burckhardt,Jacob 6
Balzac, Honore de 438 Burdach, Carl Friedrich 440
Barthes, Roland 531 Bürger, Gottfried August 6, 55, 71, 72,214,
Basedow, Johann Bernhard 72, 100, 132 274,302
Bauer, Bruno 403 Burgund, Wigo von 486
Becker, Amalie 283 Bury, Friedrich 348
Becker, Heinrich (eigentlich: Blumenthai) Buttel, Christi an Dietrich von 11,203
248 Byron, George Noel Gordon Lord 4, 300,438
Becker-Neumann, Christiane 248
Beer, Michael 478 Caesar, Gaius Julius 397
Beethoven, Ludwig van 134,270,272 Cagliostro, Alexander Grafvon 260
Behrisch, Ernst Wolfgang 11, 38, 39, 41,42, Calderon de la Barca, Don Pedro 300,315
49,51,220 Camöes, Luis de 300
Benjamin, Walter 285 Carl August, Herzog von Sachsen-Weimar-Ei-
Benn, Gottfried 443 senach 9,54,149,150,151,163,168,183,
Berger, Wilhelm 346 195,206,226,233,235,271,352,368,409,
Berlioz, Hector 152,211 418,436,495,503,508,545,547
Bernhard, Thomas 194 Carl Friedrich, Erbprinz von Sachsen-Wei-
Bernstorff, Auguste von 437 mar 286
Bertuch, Friedrich Justin 264 Carlyle, Thomas 438
Bismarck Dtto, Fürst von 551 Caroline, Landgräfin von Hessen-Darmstadt
Bloch, Ernst 397 69,91
Bode, Johann Joachim 352 Caroline Louise, Prinzessin von Sachsen-Wei-
Bodmer, Johann Jacob 68, 196 mar 399
566 Namenregister

Carus, Carl Gustav 396 Eichendorff, Joseph von 30, 183


Casti, Giambattista 343 Eichhorn, Johann Gottfried 400,520
Catull 53, 223, 226, 229, 234, 250 Eichstädt, Heinrich Car! Abraham 12, 533
Cellini, Benvenuto 245 Eitzen, Paul von 541
Chamfort, Nicolas 263 Elsheimer, Adam 442
Chamisso, Adalbert von 266, 495 Epikur 465
Chardin, Jean 333,433 Euripides 538
Christus 287,292, 340,486,543,544,546,
549 Fahlmer, Johanna 66, 76, 135, 137, 138
Chrysostomus Dudulaeus Westphalus 541 Falk, Johannes Daniel 404
Claudius, Matthias 55, 71,242 Ficino, Marsilio 281, 413
Clodius, Christi an August Heinrich 32, 33, Fielding, Henry 40
37,42 FirdausI 327
Conta, Car! Friedrich Christian Anton von Fischer, Gottlob Nathanael 242
444,449 Flachsland, Caroline 69, 124, 128
Cotta, Johann Friedrich 22-24,48, 147, 154, Fontane, Theodor 266, 532
205,217,220,224,274,280,283,284,288, Förster, Friedrich Christoph 281
302,308,311,313,315,320,323,344,347, Forster, Georg 241
366,412,419,450,474,508,517,522,547 Förster, Kar! 370
Cramer, Car! Friedrich 241 Franck, Hans 411
Crantz, August Friedrich 242 Friedrich, Caspar David 300
Creuzer, Georg Friedrich 356,357,407,408, Friedrich Wilhelm III. 342
412,428 Frommann, Kar! Friedrich Ernst 300, 303,
Cronegk, Johann Friedrich 46 324,450
Crusius,Otto 411 Fulda, Ludwig 242

Dalberg, Johann Friedrich Hugo von 182 Gagnier, Jean 99


Dannecker, Johann Heinrich von 287 Gall, Franz Joseph 493
Dante Alighieri 296, 303, 333, 438, 485, 492 Gärtner, Kar! Christian 36
Dappert,Olfert 478 Geiger, Ludwig 49
Dares Phrygius 538 Geist, Johann Jakob Ludwig 22,238,250,
De Candolles, Augustin Pyrame 503 287,509,538
Delavigne, Casimir 478 Geliert, Christian Fürchtegott 32,33, 37,
Delph, Helena Dorothea 140 40-42, 137,486
Denis, Johann Michael 70 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 36
Derrida, Jacques 369 Gervinus, Georg Gottfried 321
Deshouliere, Antoinette 36 Geßner, Christian Friedrich 247
Diez, Heinrich Friedrich von 317, 333 Geßner, Salomon 46, 96, 125, 252
Dreyer, Johann Matthias 36 Gilbert, Ludwig Wilhelm 463
Dyk, Johann Gottfried 242 Giseke, Nikolaus Dietrich 36
Gläsker, Horst 411
Eberwein, Kar! 430 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 36, 71, 96,
Echtenneyer, Theodor 349 122,241,242,513,520
Eckennann, Johann Peter 3,4,27,29, 39, 58, Göchhausen, Luise von 38,72, 132, 181, 191,
147,148,155,188,192,211,301,311,341, 195
358,384,394,395,397,436-439,441,445, Goethe, August Walther von 264,472,491
448,449,454,457,458,479,481,487,491, Goethe, Katharina Elisabeth 213
503,519,531,543 Goethe, Christiane von s. Vulpius, Christiane
Eckert, Car! 132 Goethe, Cornelia 47, 74, 76, 138, 196
Namenregister 567

Goethe, Johann Caspar 125 Heine, Heinrich 30,212,321,387


Goethe, Ottilie von 282,446,499 Heinrich der Glichezaere 509
Goeze, Johann Melchior 34 Heinse, Johann Jakob Wilhelm 296,341,
Goldsmith, Oliver 40, 125 357
Görner, Johann Valentin 66 Helvetius, Claude Adrien 112
Görres, Johann Joseph von 300 Heraklit 278
Göschen, Georg Joachim 18,20, 157,205, Herbelot de Molainville, Barthelemy d' 310,
238,356,547 334
Gotter, Friedrich Wilhelm 74 Herder, Caroline 19,157,205,212,232,547,
Gotter, Louise 348 550
Gotter, Pauline 348 Herder, Johann Gottfried 8,9, 12, 18-20,42,
Göttling, Kar! Wilhelm 311, 384, 397 55,56,58,61,67,69,70,71,80,87,90,92,
Gottsched, Johann Christoph 32,35,41,42, 95,96,98,99,102,103,124,127,132,142,
510,512-515 148,153,157,173,181,183,191,195,
Götz, Johann Nikolaus 36 204-206,210,212,213,226,230,232-236,
Gracian y Morales, Baltasar 34 241,250,265,289,292,315,327,332,355,
Grass, Günter 533 508,511,513,517,547,548,550
Grecourt, Jean Baptiste 36 Hermann der Cherusker 524
Gregor, Christian 336 Hermann, Johann Gottfried Jakob 356,357
Gresset, Jean Baptiste 36 Herodot 521
Gries, Johann Diederich 300 Herzlieb, Minna (Wilhelmine) 296,300,303
Grimm, Herman 414 Hesekiel 102
Grimm, Jacob Ludwig 335, 517 Hesiod 93, 360, 538
Grimm, Wilhelm Kar! 335 HeB, Johann Jacob 540
Grün, Kar! 396 Hetzler, d. J. 61
Guarini, Giovanni Battista 36 Heyne, Christian Gottlob 32
Günther, Johann Christian 53 Hiller, Ferdinand 182
Guyon, Madame de 102 Hiller, Johann Adam 49
Himburg, Christian Friedrich 57
Hackmann, Friedrich August 510 Himmel, Friedrich Heinrich 182
Hafis 14,299,300,308,313,319,323,368, Hiob 102
373,376-378,380,384,389,391,393-396, Hofmannsthai, Hugo von 17,314,370,423
401,403,418,424,426,428,431 Hogarth, William 106
Hagedorn, Friedrich von 36, 66, 96 Holcroft, Thomas 530
Haller, Albrecht von 36 Hölderlin, Friedrich 16,208
Hamann, Johann Georg 34,61,92,204 Holdermann, Kar! Wilhelm 471
Hammer, Joseph von 297,300,308,309,316, Homer 13,60,61,92,93,120, 122, 123, 140,
319,323,333,378,381,389,418 196,439,481,513,520,531,534,535,
Handke, Peter 411 537-540
Härtling, Peter 411 Horaz 36,67,90,102,200,223,233,382,451
Hartmann, Anton Theodor 368 Howard, Luke 463,484
Haucke, Johann Gottfried 543 Huber, Therese 347
Haug, Friedrich 274, 302 Hufeland, Gottlieb 272
Haugwitz, Christian August, Grafvon 76, 139 Hugo, Victor 438
Hebbel, Christian Friedrich 536 Humboldt, Wilhelm von 229,231,235,249,
Hecker, Justus Friedrich Car! 436 292,436,477,478,481,488,517,522,526,
Hederich, Benjamin 95,111,113,117,119,538 532,533,549
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9,276, 321, Hume, David 112
370,392,394,403,422,531,534 Hutten, Ulrich von 395,396
568 Namenregister

Hüttner, Johann Christian 465 Kosegarten, Johann Gottfried Ludwig 554,


Hyde, Thomas 509,455 566,422
Kotzebue, August von 191,241,284
Iffland, August Wilhelm 241,589 Kranz, Johann Friedrich 265
Iken, Carl Jacob Ludwig 20,441,447 Kruse, Heinrich 65, 86

Jacobi, Betty 134 La Fayette, Marie Madelaine Pioche de Laver-


Jacobi, Friedrich Heinrich 57,58,87, 107, gne, Gräfin von 34
152,202,204,205,508,512,515,547, La Mettrie, Julien Offray de 112
550 Langer, Ernst Theodor 9, 61,200
Jacobi, Johann Georg 55,56,66,82,142 Langer, Johann Peter 44
Jacobi, Charlotte 72 Langhans, Wilhelm 163
Jacobi, Max 249 La Roche, Sophie von 76
Jean Paul 530, 526 Laßberg, Christiane von 180, 183,209,215
Jelinek, Franz 185 Lavater, Johann Kaspar 5, 10, 12,56,65, 72,
Jenisch, Daniel 242 74, 76, 100, 152, 158, 188,204,260,540,
Jenner, Gustav 425 546,547,549
Jesaja 102 Leibniz, Gottfried Wilhelm 84
Johannes 102 Lenau, Nikolaus 50
John, Johann August Friedrich 311,556,451, Lendvai, Erwin 425
454,478,495 Lenz, Jakob Michael Reinhold 54, 65, 76, 86
Jones, William 509,510,400 Leopold, Prinz von Braunschweig 20
Jung, Marianne siehe Willemer, Marianne Lessing, Gotthold Ephraim 52, 58, 96, 108,
von 122,205,204,254,486,550
Jungius, Joachim 505 Levetzow, Amalie von 296,487,488
Levetzow, Ulrike von 500, 556, 456, 446, 485,
Kalb, Charlotte von 257,512 499
Kalidasa 464 Lichtenberg, Georg Christoph 102,508
Kannegießer, Karl Friedrich Ludwig 161 Lichtwer, Magnus Gottfried 515
Kant,Immanuel 10,195,205,255,266,461, Lida s. Stein, Charlotte von
549 Lieber, Karl Wilhelm 471
Karsch, Anna Luise 140 Lili s. Schönemann, Anna Elisabeth
Kaulbach, Wilhelm 517 Linne,Carlvon 256,550,465
Kayser, Philipp Christoph 174,180,181,261, Liszt, Franz 153
265 Loewe, Carl 116, 546
Kellner, Emilie 410 Luden, Heinrich 590
Kestner, Johann Christian 124, 149 Ludwig XVI. 552, 508
Kleist, Ewald von 55, 56 Luise Auguste, Herzogin von Sachsen-Wei-
Kleist, Heinrich von 5 mar 54, 169,527
Klopstock, Friedrich Gottlieb 15,54-56,59, Lukas 545, 545
40,46,54,55,60,61,65,65,67,68,91,92, Lukian 110,295,455
97,98,102,119,140,200,228,281,282, Lukrez 225,255,555,459,462,465
512,545 Luther, Martin 60, 152,218
Knebel, Karl Ludwig von 149, 153, 166, 170,
190,226,229,252,249,255,280,289,292, Machiavelli, Niccolo 100
509,541,556,568,459,508,517,545,547 Macpherson, James 60,69,71,112
Kniep, Christoph Heinrich 271 Macrobius, Ambrosius Theodosius 556, 362
Körner, Christian Gottfried 250, 517, 519, Mallarme, Stephane 299
552 Mandelsloh, Clementine von 558
Namenregister 569

Mandeville, John 332 Naumann, Christian Nikolaus 36


Mann, Thomas 140,342,480,487 Nees von Esenbeck, Christian Gottfried 356,
Manso, Johann Kaspar Friedrich 242 436,477
Manzoni, Alessandro 437,440 Newton, Isaac 241
Maria Ludovica, Kaiserin von Österreich 300 Nicolai, Christoph Friedrich 11, 55, 204, 238,
Maria Magdalena 292 241,242,550
Maria Paulowna von Sachsen-Weimar 286, Nietharruner, Friedrich Immanuel 348
356 Nietzsehe, Friedrich 5, 13,98
Marino, Giambatista 37 Nivardus 509
Markus 480 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 4, 208,
Marmontel, Jean Fran\;ois 41 274,302
Marracio, Ludovico 99
Martial 223, 233, 234, 236, 238 Oeser, Adam Friedrich 39,44
Marx, Kar! 403 Oeser, Friederike 39,41,44,49,51,52,74
Matthaeus Parisiensis 541 Oldenburg, Peter Friedrich von 466
Matthäus 163,238 Olearius (Oelschläger), Adam 309,310,316,
Matthisson, Friedrich von 6,272 333,433
Megerlin, David Friedrich 99 Opitz, Martin 36,41,80
Melissus, Paul Schede 265 Ossian 13,46,63,66,131,140,213
Mendelssohn, Fanny 442 Ovid 95,131,225,228,229,299,419,421,
Mendelssohn, Moses 108,205 538
Mendelssohn-Bartholdy, Felix 125,270, 303,
442 Pannwitz, Rudolf 163
Menzel, Wolfgang 370,404 Parthey, Gustav 408
Mercier, Louis-Sebastien 122 Paulus 70,308,485
Merck, Johann Heinrich 4, 11,56,69,74, Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 410,412
107,124,134,159,197 Pepys, Samuel 543
Meyer, Johann Heinrich 519 Percy, Thomas 543
Meyr, Melchior 536 Perizonius, Jacobus 538
Michaelis, Johann David 32 Petrarca, Francesco 131,296,299,303,484
Mieding, Johann Martin 169 Petrus 287
Milton, John 106,545 Pfeffel, Gottlieb Konrad 265
Minor, Jacob 543 Pfenninger, Johann Konrad 100, 188
Moeschinger, Albert 423 Phlegon von Tralleis 288
Moharruned 309,326,328,366 Pierres de Bernis, Fran\;ois Joachim de 47
Moller, Meta 40 Pindar 13,60,63,67,68,87,90,91,93,95,
Montaigne, Michel de 341 97,98, 102, 162,359
Montesquieu, Char!es de 202, 327 Platen, August von 297
Montfaucon, Bernard de 113 Platon 178,179,238,281,333
Mörike, Eduard 536 Plessing, Friedrich Victor Leberecht 161
Moritz, Kar! Philipp 228,493 Plotin 281
Moses 114,332,368,530 Polo, Marco 332
Müller, Friedrich (d.i. Maler Müller) 54,55 Poussin, Nicolas 469
Müller, Johannes von 29 Praetorius, Johannes (Schultze, Hans) 288
Müller, Friedrich von 491, 492 Prior, Matthew 36
Musil, Robert 48, 179,443 Properz 2,223,226,229,230,231,234,249,
299
Napoleon 1. Bonaparte 308,318,342,366,
389,394,397,398,404,412,438,452,551 Quintilianus 87
570 Namenregister

Rabener, Gottlieb Wilhelm 41 Schlegel, Johann Adolf 56


Raffael (Raffaello Santi) 442 Schlegel, Johann Elias 56
Ramler, Kar! Wilhelm 56 Schlosser, Christian Heinrich 506, 309
Reich, Philipp Erasmus 55 Schlosser, Hieronymus Peter 56, 74
Reichardt, Johann Friedrich 50, 110, 116, 128, Schmid, Christian Heinrich 49
152,165,174,182,211,217,241,242,244, Schmidt, Julian 570
261,265,267,270,272 Schönborn, Gottlieb Friedrich Ernst 74, 120
Reil, Johann Christian 277 Schönemann, Anna Elisabeth 65, 75, 134,
Reinhard, Car! Friedrich, Graf 559, 548, 488 157, 159, 175, 196,440,499
Reinthaler, Kar! 182 Schön kopf, Anna Katharina 59,42
Remusat, Jean Pierre Abel 455 Schopenhauer, Arthur 352,475
Reutter, Hermann 585 Schröder, Friedrich Ludwig 241, 286
Rhode, Kar! 185 Schröter, Corona 170, 172, 248
Richardson, Samuel 11,40, 128 Schubarth, Car! Ernst 458,459
Riemer, Friedrich Wilhelm 27, 58, 500, 502, Schubert, Franz 110, 116, 119, 128, 152, 174,
508,556,559,541,544,468,565,400,477, 182,211,217,267,270,272,503
491,505,552,558,545 Schudt, Johann Jacob 543
Riese, Johann Jacob 41,74 Schultz, Christoph Friedrich Ludwig 29,436,
Rietschel, Ernst 287 439,519
Rilke, Rainer Maria 517,445 Schulz, Friedrich 230
Romberg, Andreas 182 Schumann, Robert 217, 272
Rost, Johann Christoph 56 Schwab, Gustav 495
Rousseau,Jean-Jacques 55,55,76,105,112, Schwabe, Kar! Lebrecht 491
569 Schwerdgeburth, Kar! August 471
Roussillon, Henriette von 69 Seckendorff, Kar! Siegmund von 152, 166,
Rückert, Friedrich 297, 521 180,210
Runge, Philipp Otto 500 Seidel, Philipp 159
Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of
Saar, Ferdinand von 555 36, 104, 123, 2Rl
Sachs, Hans 60, 179,288,298 Shakespeare, William 15,41,60,61,63,75,
Salzmann, Johann Daniel 70, 76, 82, 92 90,92,133,166,214,248,464,466
Sanson, Nicolas 455, 454 Simmel, Georg 564,488
Sappho 56 Sokrates 453
Schedel, Hartmann 544 Sonnerat, Pierrc 478
Scheffner, Johann George 151 Sophokles 558
Scheibei, Gottfried Ephraim 54 Spagnuoli, Baptista 252
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 224, Spiegel, Melanie von 338
276,277,281,282,504 Spinoza, Baruch 13,57, 100, 104, 108,204,
Schiller, Friedrich 6, 16,21-24, 50, 195, 195, 205,269,541,550
208,218,222,226,228,250,251,255,235, Spranger, Eduard 359
257,258,240-242,245,247,250,252,255, Städel, Anna Rosina Magdalena (Rosette)
261,270-274,276,281,285,285,288,291, 407,408,410,418,428,450
295,296,299,397,456,491-495,517,519, Stael-Holstein, Anne Louise Germaine de 211
520,522,530,532,533,538,539 Stein, Charlotte von 13, 15, 18,28,54,57,66,
Schiller, Char!otte 235, 399 100,108,122,147,151,156,157,160,161,
Schlegel, August Wilhelm 224,228,229,251, 174-176,179,181,188,191,192,194,195,
233,245,248,274,502,515,492,517,555 197,205,206,208,209,215,250,246,264,
Schlegel, Friedrich 23,192,231,241,242, 265,542,348,457,498,547
245,274,300,502,493 Stein, Fritz von 180,213,215
Namenregister 571

Steinbach, Erwin von 74 Vulpius, August 264


Stendhal (Henri Beyle) 438 Vulpius, Christiane 221,226,231,234,245,
Stephanus, Henricus 36 252,254,264,288,296,300,308,372,376,
Sternberg, Kaspar Graf von 446 472
Stolberg, Auguste, Gräfin zu 3, 64, 75, 135,
138,200 Wackernagel, Philipp 349
Stolberg, Christian, Graf zu 76, 139 Wagner, Heinrich Leopold 56, 122, 180
Stolberg, Friedrich Leopold, Graf zu 76,139, Waring, Edward Scott 309
140,238 Webern, Anton von 443
Strauss, Richard 211, 303 Weise, Christian 34
Streckfuß, Karl 492 Weishaupt, Adam 352
Szymanowska, Maria 442, 481, 487 Weiße, Christian Felix 36,38,41,46,55,96,
130
Tasso, Torquato 36,252,394,548 Welcker, Friedrich Gottlieb 356
Tavernier, Jean Baptiste 333 Werner, Anton von 263
Theokrit 68,87,90,96, 126,252,469 Werner, Heinrich 128
Thomasius, Christian 32, 34 Werner, Zacharias 190, 276, 300, 302
Thoms, Peter Perring 454 Weygand, Christian Friedrich 56, 481
Thomson, James 102 Wieland, Christoph Martin 11, 18,22,44,46,
Thümmel, Moritz August von 173, 238, 341 54,56,65,122,173,178,197,214,224,226,
Tibull 95,223,226,229,344,341 230,241,242,277,280,293,296,341,404,
Tieck, Ludwig 30, 183,274, 302, 370 513
Timur Leng 318,397,402 Wiener, Johann Michael 180
Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 466 Willemer, Johann Jakob von 418,424,430
Tobler, Georg Christoph 215,355 Willemer, Marianne von 183,296,299,300,
Tomasek, Vaclav Jan 182 308,310,313,318,331,391,402,406,410,
Trallianus, Phlegon Aelius 288 412,414,415,418,422,424,427,428,446,
Trebra, Friedrich Wilhelm Heinrich von 142 495
Turpin, Fran\iois Henri 99 Willemer, Rosina (Rosette) s. Städel, Anna
Rosina Magdalena
Uhland, Ludwig 275 Wilson, Horace 464
Unger, Friederike Helene 272 Winckelmann, Johann Joachim 42
Unger, Friedrich Gottlob 21,22 Wolf, Friedrich August 519,537
Unger, Johann Friedrich 260,508 Wolf, Hugo 110,116,211,217,272,442
Uz, Johann Peter 36,46,96 Wolff, Christi an 32

Valle, Pietro della 332 Young, Edward 46,102


Varnhagen von Ense, Carl August 336,521,
533 Zachariae, Justus Friedrich Wilhelm 36, 46
Veit, Moritz 454 Zauper, Joseph Stanislaus 439
Vergil 125,153,252,513,527,538 Zelter, Carl Friedrich 6, 7, 25, 27, 28, 125,
Vernijoul, Christiane von 347 132,174,182,191,211,217,224,267,272,
Vieweg, Friedrich 522 280,282,284,291,300,302,314,346-348,
Vogel, Christi an Georg Carl 18 370,374,423,436,437,442,455,481,486,
Voigt, Christian Friedrich Traugott 242 488,491,495
Voigt, Christian Gottlob 281,309,349 Ziegesar, Silvie von 296, 300, 303, 336
Voltaire 112, 262, 285 Ziegler, Louise Henriette Friederike von 69
Voß, Johann Heinrich 56,228,241,245,247, Zinzendorf, Nikolaus Ludwig, Graf von 338
272,302,412,428,513,517,520,522,531, Zoega, Georg 356
532,538 Zöllner, Heinrich 346

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