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KLAUS SCHREINER

Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit


Bildungs- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zur Auslegung und
Darstellung von 'Maria Verkündigung'*

Einfuhrung, S. 314 — 318. — Exegetische Befunde und Traditionen: Die manuell tätige, lesende, betende
und betrachtende Maria, S. 318—331. — Auslegungsgeschichte als Bifdungs- und Sozialgeschichte: Von
der 'Magd des Herrn' zur Symbolgcstalt mittelalterlicher Frauenbildung, S. 332—348. — Die Macht
der Bilder: Bilder als Abbilder zeitgebundener Einstellungen und Träger normativer Erwartungen, S.
348-367. - Abschließende Erwägungen, S. 367-368.

EINFÜHRUNG

Der Geschichte vom Gottesboten Gabriel, der Maria gute Botschaft brachte,
ist in Theologie, Literatur und Kunst des Mittelalters viel Aufmerksamkeit zuteil
geworden. Exegeten und Scholastiker suchten in Begriffen faßbar zu machen, was
nach den Regeln menschlicher Logik nicht aufging: die Menschwerdung Gottes
durch eine Jungfrau. Die Frage, ob Maria befleckt oder unbefleckt empfangen
habe, löste zwischen theologischen Schulen leidenschaftlich geführte Kontroversen
aus. Die apokryph überlieferte und bildlich dargestellte Behauptung, daß bei der
Geburt Jesu zwei Frauen Hebammendienste verrichtet hätten, wurde als frivole
Legendenbildung verworfen.
Friedfertig ging es dagegen auf dem Feld der Literatur zu. Es verursachte
keinen Streit, wenn sich Prediger, Poeten und Geschichtenerzähler vorzustellen
suchten, womit Maria gerade beschäftigt war, als der Engel bei ihr eintrat. Fromme
Neugierde verwandelte die von Gott erwählte Jungfrau in eine lesende Frau.
Der interpretatorische Eingriff veränderte die ursprüngliche Aussageintention des
biblischen Berichts. Dessen zeitgebundene Aktualisierung erschließt Denkweisen,
Interessen und Rechtfertigungsbedürfnisse einer sich wandelnden Kirche und Ge-
sellschaft. Zeitlicher Abstand ließ neue Horizonte der Auslegung entstehen, vo'n
denen ereignis- und literaturbildende Wirkungen ausgingen.
Das hatte zur Folge, daß sich die von der Kirche als Einheit begriffene
Glaubenstradition in unterschiedlichen Textgattungen artikulierte: auf der einen
Seite in wortkargen Evangelien, die nur unabdingbar Wesentliches zur Geschichte
Jesu mitteilen wollten, auf der anderen in erzählfreudigen 'Jesusviten' und 'Marien-
leben', deren Verfasser keine Bedenken trugen, den Erwartungen eines an konkreter

* Ausgearbeitete und erweiterte Fassung eines am 13. Dezember 1988 im Mittelalterkreis an der
Universität Münster gehaltenen Vertrags mit dem Titel „Marienverehrung, Lesekultur, Frauenbil-
dung. Leseimpulse und Bildungsnormen, Buch- und Schriftmetaphern in mariologischen Text- und
Bildzeugnissen des Mittelalters".

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MarienVerehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 315

Lebensfulle interessierten Lesepublikums mit Hilfe apokrypher Stoffe zu entspre-


chen. " *
Mit 'Vitae*, 'Gesta* und/Annales* mittelalterlicher Geschichtsschreiber, denen
es auf biographische Geschlossenheit, chronologische Ordnung und sachliche Kohä-
renz a&kömmt, sind Evangelien nicht zu vergleichen. Evangelisten hielten Worte
und Taten Jesu fest, die i# der urchristlichen Gemeinde, einer durch Mündlichkeit
geprägten Emhl- und Erinnerungsgemeinschaft, überliefert und verkündet wur-
den. Aus den Aufzeichnungen eines Matthäus, Markus, Lukas oder Johannes
ergeben sich weder ein ^zusammenhängendes Leben Jesu noch eine abgerundete
Biographie Marias* Evangelien brachten erzählte und erinnerte Einzelgeschichten
in eine schriftliche, chronologisch geordnete Form.
Eine von diesen Geschichten behandelt die wunderbare Empfängnis Jesu im
Schoß der Maria aus Nazareth. Lukas berichtet davon (Luk. 1,26-^-38). Das Ereig-
nis, von dem die chfistlidhe Heilsgeschichte ihren Anfang nahm, schildert er als
Dialog zwischen dem Engel Gabriel und dem jungen, mit Joseph aus dem Hause
Davids verlobten Mädchen Maria. Spätmittelalterliche Theologen rühmten dem
Evangelisten Lukas ausgeprägte historische Interessen nach. Matthäus habe sich
insbesondere auf die Ethik Jesu konzentriert^ Johannes auf die Gottheit des
menschgewordenen Gottessohnes. Im Vergleich mit Matthäus und Johannes sei
Lukas ,rnehr Historiker* (magis historicus) gewesen1.
Gleichwohl: Lukas zählte es nicht zu seinen Berufspflichten, aufzuschreiben
oder in Erfahrung zu bringen, womit Maria gerade beschäftigt war, als sie von
dem Boten Gottes heimgesucht wurde. Umstände des Geschehens wiederzugeben,
die nicht den Kern des von Gott inszenierten Ereignisses betreffen, lag außerhalb
seines Berichts- und Erkenntnisinteresses. Was Lukas aussparte — ob aus Unkennt-
nis oder aus Absicht —, beschrieben .Verfasser mittelalterlicher 'Marienleben' mit
bemerkenswerter Genauigkeit: Maria las, als sie vom Engel und dessen Botschaft
überrascht wurde. Auf die Frage, was denn die von Gott erkorene Jungfrau gelesen
habe, gaben Exegeten und Vitenschreiber gemeinhin folgende Antwort: Maria las
entweder den Psalter oder das Buch des Propheten Isaias, in dem die Geburt des
Messias aus einer Jungfrau verheißen worden war (Is. 7,14).
Der Befund ist widersprüchlich: Die Autoren des Mittelalters sind über Verlauf
und Umstände des Verkündigungsvorgangs erheblich besser informiert als die
Evangelisten. Mit wachsendem zeitlichen Abstand nahm das historische Wissen zu,
obschon der mündliche Traditionsstrom, aus dem die Verfasser der Evangelien
geschöpft hatten, versickerte und der Bestand an schriftlich überlieferten Quellen
unverändert blieb. Im Blick auf den ungleichen Wissensstand stellt sich deshalb die
Frage, wie das Zustandekommen jener biblisch unbeglaubigten Lebensdaten zu
erklären ist, die Verfassern mittelalterlicher 'Marienleben' und *Kindheit-Jesu-
Geschichten' Stoff für geschlossene Lebensläufe gaben

1
So der Kartäuser Dionysius von Rijkel (Dionyshis Cartusianus) (f!471) in seinem Prolog zum
Lukasevatigelium. Vgh Enanationcs piae ac eruditae in quatuor evangelistas, MontreuiJ 1900, 11,
S. 363. — Für kritische l>ektüre des Manuskripts habe ich Herrn Andreas Kolle und Herrn Norbert
Schni&ler zu danken.

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316 Klaus Schreiner

War Maria aus Nozareth eine gebildete Frau? Konnte sie lesen und schreiben?
Die Evangelisten schildern Maria als Vorbild des Glaubens, nicht als lesende, um
Bildung und Wissenschaft bemühte Frau, die an Büchern und Gelehrsamkeit
Gefallen fand. Nachfolge Maricns im Sinne der Bibel meinte glaubendes Sicheinlas-
scn auf den Willen Gottes; sich an Maria ein Beispiel fcu nehmen, verpflichtete zu
einer Haltung vertrauender Hingabe, nicht zur Lektüre.
Marias soziale Lcbenswelt schloß ein Leben mit Büchern aus. Sie nannte sich
eine ,Magd des Herrn 4 (Luk. 1,38), deren ,Niedrigkeit4 Gott angesehen und erwählt
hatte (Luk. 1,48). „Niedrigkeit" im Sprachgebrauch der Bibel umschreibt nicht nur
die „Situation eines Menschen, der sich von Gott angeredet weiß"2, sondern
verweist zugleich auf den niedrigsten Rang einer nach Ehre, Macht und Reichtum
gegliederten Gesellschaft. In dieser blieb der Erwerb von Bildung privilegierten
Kasten und Ständen vorbehalten. Soziale Zugehörigkeit bestimmte das Maß an
Lern- und Bildungschancen. Einem Mädchen wie Mariavdas mit dem Makel sozialer
Niedrigkeit behaftet war, bot sich schlechterdings keine Gelegenheit, lesen und
schreiben zu lernen. Mit einem Zimmermann verlobt und verehelicht zu sein, gebot
körperliche Arbeit und ließ nicht zu, sich cum otio et dignitate in Literatur zu
vertiefen.
Altkirchliche Theologen waren der Auffassung, Maria habe — gleich den
Frauen aus den Unterschichten der orientalischen Welt — durch Nähen ihren
Lebensunterhalt verdient3. Albert der Große (um 1200—1280) bezeichnete Maria
als ,Handarbeiterin' (quaestuaria)*'. Bischof Antoninus von Florenz (1389 — 1459)
rechnete Maria zum niedrigen, verachteten ,Stand der Mägde* (status ancillarumf.
Luther hielt sie für ein armes Meidlin, deren nichtigkeit und verworffenheit Gott
angesehen habe, um ihr grosse ding zu verkünden6. Sucht man dem ursprünglichen
sozialen Gehalt der biblischen Wörter und ancilla gerecht zu werden, verstand
sich Maria nicht als ,Magd', sondern als ,Sklavin des Herrn'. Folgerichtig hat denn
auch Gott die ,Niedrigkeit seiner Sklavin* angesehen, nicht diejenige einer Magd.
Historische Erwägungen zu den sozialen Rahmenbedingungen des Verkündigungs-

2
MARIA-SYBILLA HEISTER, Maria aus Nazareth, Göttingen 1987, S. 40.
3
So z. B. Origenes, Contra Celsum (MiGNE, PG 11, Sp. 713).
4
Er tut das unter ausdrücklicher Berufung auf Hieronymus: Maria ... quaestuaria fuit, ut dicit
Hieronymus, colo et consilio manuum victum quaerens. Vgl. Enarrationes in primam partem evangelii
Lucae (I—IX), in: Opera omnia, hg. von STEPH. CAES. AUG. BORGNET, Parisiis 1894, 22, S. 332. —
Vgl. auch ALBERT FRIES, Die Gedanken des hl. Albertus Magnus über die Gottesmutter, Freiburg
i. Schweiz 1958, S. 295. — Otto von Passau (f um 1390), Lesemeister der Franziskaner in Basel,
weist darauf hin, daß Maria, als sich die Heilige Familie sieben Jahre lang in Ägypten aufhielt, den
Lebensunterhalt der Familie verdient habe. Den Lebensunterhalt für sich selber, für Jesus und ihren
Gatten Joseph habe sie sich verdient mit den hübschen wercken das sy wiircken kund / mit gold j mit
silber / mit sydin / vnnd mit spinnen / des sy alles was ein meisterin. Die vier vnd zwenzig alten, Straßburg
1500, f. h IV-IF.
5
Antoninus archiepiscopus Florentinus, Summa theologica, tit. 15, cap. 8, Veronae 1740 (Nachdruck
Graz 1959), 4, Sp. 962. Der Engel, betont Antoninus, habe mit Bedacht nicht Mutter, Braut oder
Tochter gesagt, sed ancillaf quo statu, scilicet ancillarumj nil inßmius vel vilius.
6
Martin Luther, Predigt am Tage der Verkündigung unser lieben Frauen. 25. März 1523, in: D.
Martin Luthers Werke, 12, Weimar 1891, S. 458.

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Marien Verehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 317

geschehene legen es sähe, von Marias „Zugehörigkeit zu den Armen und Sklaven"
zu sprechen7. '
Mark, mit den Augen des Mittelalters betrachtet, war der Inbegriff einer
bücherhungrigen, lesefreudigen und wissenschaftlich gebildeten Frau. Ihre soziale
Rangerhöhung drückte sich in Titulaturen aus, in denen spirituelle Überzeugung
und soziale Anschauung zusammenflössen. Die mittelalterliche Maria wurde , Her-
rin* (domind) und ,Königin' (regind), edle fr au und bimtisch kay serin genannt. Als Frau,
die dem Königsgeschlecht Davids entstammte, las sie die Schriften des Alten
Bundes; sie beherrschte die sieben freien Künste; sie brachte den siebenjährigen
Jesusknaben zur Schule; sie hatte die Gabe der Prophetie und betätigte sich als
Lehrerin der Apostel. Mit gleichbleibender Hartnäckigkeit wurde immer wieder
beteuert, daß Beten, Lesen und Arbeiten den Rhythmus ihres genau geregelten
Tageslaufs bestimmt habe. Prediger und Theologen, die im Buch- und Schriftwesen
religiös überhöhbare Sachverhalte ausfindig machten, deuteten die Menschwerdung
Gottes im Schoß der Jungfrau als einen wunderbaren Beschriftungsvorgang (mirifica
descriptio) oder verglichen Maria selbst mit einem Buch. Literarische und religiöse
Phantasie brachte eine Fülle von Vergleichsmomenten hervor, die es ermöglichten,
zwischen dem Buchwesen und dem Leben der Gottesmutter belehrende und erbau-
liche Analogien herzustellen.
Der Abstand zwischen den fragmentarischen Angaben der Evangelisten und
den Deutungen mittelalterlicher Exegeten, Prediger und Maler ist evident. Mat-
thäus, Markus, Lukas und Johannes beschreiben Marias Rolle in der christlichen
Heilsgeschichte. An der Biographie einer außergewöhnlichen Frau sind sie nicht
interessiert. Die von ihnen als überlieferungswürdig erachteten Szenen aus dem
Leben Marias geben keine Auskunft über ihren Lebensstil; sie sagen nichts über
ihre Eltern, nichts über ihre Kindheit, ihre Jugend und ihr Alter; ausgeblendet
bleibt das familiäre Milieu, in dem sie aufwuchs; nichts wird gesagt über Vorlieben
und geistige Interessen, die sie pflegte, nichts über Gefühle und Passionen, die
ihre unverwechselbare Eigenart ausmachten. Nicht einmal Marias Geburts- oder
Todesdatum ist aus den biblischen Schriften zu erfahren.
Das eBuch der Bücher9 verschwieg vieles, was mittelalterliche Fromme gerne
gewußt hätten. Wissensdurst weckte Imagination. Die Verfasser von 'Marienleben3
überlegten, was biographisch möglich, historisch wahrscheinlich und theologisch
vertretbar war8 — auch im Blick auf das Verkündigungsgeschehen. Annahmen, die
erbaulich wirkten, ersetzten die Plausibilität nachprüfbarer Quellenaussagen.

7
JOSEPH VOGT, Ecce Ancilla Domtni. Eine Untersuchung zum sozialen Motiv des antiken Marien-
bildes, in: Vigüiae Christianae 23, 1969, S. 241-263, hier S. 242.
8
Adam Walasser, der am Anfang des 17. Jahrhunderts ein 'Leben Jesu' verfaßte, rechtfertigte eine
solche Vorgehensweise folgendermaßen: Als Grundlagen seiner Vita nannte er die Evangelien und
die Attßlegttng etlicher Lehrer. Was er von sich aus hinzufügte, charakterisiert er so: Zum dritten / habe
ich dar^u gesetzt die Ding / die auß an^eygang deß Buangelij vernünfftiglicb gezogen werden. Dann die beyligen
Evangelisten haben die Werck Christi kürzlich beschriben / vnd die andere ding der Vernunfft deß Menschen
befohlen (Vita Christi. Das Leben vnsers Erlösers vnd Scligmachers Jesu Christi..., Dillingen 1623,
f. 2V). Zur literarischen Tätigkeit Adam WaJassers, eines rührigen Erbauungsschriftstellers aus dem
Laienstand, vgl. DIETER BREUER, Zur Druckgeschichte und Rezeption der Schriften Heinrich Seuses,
in: Chloc, Beih. zu Daphnis 2, 1984, S. 36-39.

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Mit der Absicht, Wissens- und Überlicferungslücken zu schließen, verband


sich das Verlangen, Bedürfnisse und Wünsche der eigenen Person in Maria und
ihrem Verhalten wiederzufinden. Das macht — rückblickend betrachtet — Maria
/u einem erhellenden Spiegel für Formen und Inhalte weiblicher Lese- und Bil-
dungsintercsscn. Das Maß an Lcsekultur und Bildungsstreben, das die Verfasser
und Verfasserinnen mittelalterlicher 'Marienlebcn* Maria zutrauten, gibt zugleich
Auskunft darüber, wie mittelalterliche Frauenbildung im Idealfall aussehen und
praktiziert werden sollte. In einer Gesellschaft, in der auch der Umgang mit
Büchern — der mit der Bibel und der von Frauen zumal — religiöser Rechtfertigung
bedurfte, lag es nahe, aus Maria eine Symbolgestalt zu machen, die rechtfertigte,
was umstritten war, und Normen verkörperte, die zur Lektüre frommer Schriften
einluden. Maria sollte einerseits den Erkenntnis- und Bildungswillen geistig aufge-
schlossener Frauen rechtfertigen, andererseits Frauen zum Lesen anspornen.
Zeitgebundene Bildungsinteressen machten Maria ^am Prototyp der lesenden
Frau. Um diesen Vorgang kenntlich zu machen, sollen im folgenden Phasen,
literarische und bildliche Erscheinungsformen des angesprochenen Perspektiven-
wandels exemplarisch nachgezeichnet werden. Es ist beabsichtigt, aus der Wahrneh-
mungs-, Auslegungs- und Darstellungsgeschichte der Verkündigung an Maria eine
Quelle für bildungs- und sozialgeschichtliche Vorgänge und Vorstellungen zu
machen. Zur Sprache und zur Anschauung gebracht werden nicht Grundsatzfragen
kirchlicher Dogmatik, sondern gesellschaftliche Verflechtungen, kulturelle Interes-
sen und religiöse Motive, die aus Maria, einer ursprünglich illiteraten Magd, eine
lesende, schreibende und gebildete Frau machten.
Im Auge zu behalten ist allerdings dies: Lesen, das durch mariologische Bild-
und Textzeugnisse veranlaßt und gestützt wurde, diente weder der Unterhaltung
noch der beruflichen Ausbildung oder geistigen Selbstvervollkommnung. Lektüre
war auch nicht eine Form des Glücks, sondern ein Mittel moralischer Besserung
und vertiefter Religiosität. Nur als Quelle einer persönlichen und verinnerlichten
Frömmigkeit stärkte Lesen das Selbstgefühl und die Subjektivität mittelalterlicher
Frauen.

EXEGETISCHE BEFUNDE UND TRADITIONEN: DIE MANUELL TÄTIGE, LESENDE,


BETENDE UND BETRACHTENDE MARIA

Die Frage, was Maria tat, als der Engel kam, hat Theologen der spätantiken
und mittelalterlichen Kirche brennend interessiert. Die Antworten, die gesucht,
gefunden und gegeben wurden, waren nicht einhellig. Die einen sagten, sie habe
einen Vorhang für den Tempel gewebt; andere meinten, sie habe im Psalter oder
im Buch des Propheten Isaias gelesen; eine vermittelnde Lösung suchten jene, die
davon überzeugt waren, Maria habe, am Webstuhl sitzend, Psalmen gebetet. Auto-
ren, die Verkündigung und Empfängnis zur unio mystica des Menschen mit Gott
umstilisierten, vertraten die Ansicht, Maria habe sich im Akt der Verkündigung
buch- und arbeitslos dem Gebet und der Betrachtung hingegeben. Alle diese
Auffassungen sind im Mittelalter literarisch geäußert und bildlich dargestellt wor-
den. Wie das geschah und von welcher Möglichkeit jeweils Gebrauch gemacht
wurde, hing von zeitgebundenen Interessen ab.

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Mazienverehrung-, Lesekultur, Schriftlichkeit 319

Folgt man dein apokryphen Protoevangelium des Jakobus (2. Jahrhundert), war
Maria beim Komthen des Engels gerade dabei, Scharlach und Purpur zu spinnen, die
sie zu einem Vorhang für den Tempel verweben wollte. Nachdem sich der Engel
seines göttücheft Auftrags entledigt und Maria ihr Fiat gesprochen hatte, machte, wie
der Protoevangelist weiter berichtet, die Jungfrau ,den Purpur und den Scharlach
[fertig] und brachte [sie] zum Priester'. Dieser pries sie selig, weil Gott ,ihren Namen
groß gemacht' und sie ,unter allen Geschlechtern der Erde* gesegnet hätte9. Die
Angaben des dem Apostel Jakobus zugeschriebenen Protoevangeliums wirkten tradi-
tionsbildend. Die Verfasser von 'Marienleben9 haben sie aufgegriffen und verarbeitet;
Maler haben sie durch bildliche Darstellungen populär gemacht.
Die Kenntnis dessen, was Pseudo-Jakobus über die Bibel hinaus von Maria
zu berichten wußte, verdankten die Verfasser mittelalterlicher 'Marienleben' dem
sog. Pseudo-Matthäus, einer mit dem Thomasevangelium kontaminierten Bearbei-
tung des ins Lateinische übersetzten Pseudo-Jakobus. In nicht weniger als 130
Handschriften hat sich Pseudo-Matthäus, eine der einflußreichsten Quellenschriften
für die literarische und bildliche Gestaltung des 'Marienlebens9 im hohen und
späten Mittelalter, erhalten10. Entstanden ist die „Sammlung volkstümlicher Erzäh-
lungen mit Maria als zentraler Figur ... vor der Mitte des 9. Jahrhunderts"11.
Hrotsvitha (ca. 935—975), die edelgeborene Kanonisse im liudolfingischen
Hauskloster Gandersheim, benutzte Pseudo-Matthäus, gemeinhin als eLiber de ortu
beatae Mariae et infaritia salvatoris' bezeichnet, als Quelle ihres Marienepos. Der
Augsburger Priester Wernher verknüpfte in seinen 1172 verfaßten 'Driu liet von
der maget' biblische Angaben mit apokryphen Geschichten aus Pseudo-Matthäus.
Der Niederösterreicher Konrad von Fussesbrunnen benutzte das Evangelium des
Pseudo-Matthäus eine Generation später als Vorlage für seine 'Kindheit Jesu'12. Was
Pseudo-Matthäus vom Leben Marias alles wußte, entsprach einem offenkundigen
Bedürfnis nach biographischer Information.
Im Evangelium des Pseudo-Matthäus wird die Verkündigungssituation folgen-
dermaßen beschrieben: dum operaretur [Maria} purpuram digitis suis, ingressus est ad eam
iuvenis1*. An anderer Stelle gibt der Verfasser Auskunft darüber, welche manuellen
Tätigkeiten Maria beherrschte. Demnach konnte Maria weben und spinnen. Sich
mit dem opus lanificum oder textrinum opus zu befassen, bildete einen elementaren

9
EDGAR HENNECK.E, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 4. Aufl., hg. von
WILHELM SCHNEEMELCHER, 1: Evangelien, Tübingen 1968, S. 284.
10
Zur mittelalterlichen Überlieferung des Ps.-Matthäus vgl. JAN GIJSEL, Les 'evangiles latins de
l'enfance* de M. R. James, in: Analecta Bollandiana 94, 1976, S. 295—302. Der Verfasser spricht
von „quelque 130 manuscrits du Pseudo-Matthieu" (S. 295), die gegenwärtig bekannt sind.
11
FIDEL RÄDLE, Artikel 'Apokryphen9, in: Lexikon des Mittelalters, l, München—Zürich 1980, Sp.
760. GIJSEL (wie Anm. 10) schreibt: Die von Ps.-Matthäus verarbeiteten Quellen sind alle auf die
Zeit vor 800 zu datieren. Demnach muß die Schrift „a l'epoque carolingicnne" entstanden sein (S.
301).
12
Zur Rezeption des Ps.-Matthäus in der lateinischen und deutschsprachlichen Literatur des Mittelalters
vgl. ACHIM MASSER, Bibel, Apokryphen und Legenden. Geburt und Kindheit Jesu in der religiösen
Ethik des deutschen Mittelalters, Berlin 1969, S. 122; DERS., Artikel 'Apokryphen', in: Lexikon des
Mittelalters, l (wie Anm. 11) Sp. 763.
13
Liber de ortu beatae Mariae et infantia salvatoris c. IX, in: Evangelia Apocrypha, hg. von
CONSTANTINUS DE TiscHENDORp, Lipsiac 1876, S. 71.

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320 Klaus Schreiner

Bestandteil von Marias Alltag, der nach einer festen Regel (regula) geordnet war14.
Der geregelte Wechsel von Gehet und Arbeit bewirkte, daß Maria über das Gesetz
Gottes besser Bescheid wußte als ihre Altersgenossinnen (in sapientia legis deieruditior)
und mit größerer Anmut die Psalmen Davids beten konnte (in carminibus Davidicis
ckgantior) als diese15. Folgt man der Schilderung des Pseudo-Matthäus, bestand
Marias geistliches Leben aus der scrutatio legis und dem Beten von Psalmen16. Die
von Gott erwählte Jungfrau konnte ebenfalls spinnen und weben. Beten und
arbeiten tat sie nicht gleichzeitig, sondern im Wechsel genau festgelegter Zeitfristen·
Die starke Abhängigkeit Hrotsvithas, des Priesters Wernher und Konrads von
Fußesbrunnen von Pscudo-Matthäus zeigt sich nicht zuletzt darin, daß alle drei Autoren
Maria nicht als betende oder lesende, sondern als spinnende Frau in das Verkündigungs-
geschehen einbeziehenl7. Von Gebet und Psalmenlektüre erwähnen sie nichts. Die von
Gabriel übermittelte Botschaft Gottes erging an eine handarbeitende Maria.
Theologen und Dichter des Mittelalters, die sich schwer mit dem Gedanken
befreunden konnten, daß Gabriel in Nazareth eine arbeitende Maria angetroffen
habe, waren bestrebt, auch im Verkündigungsgeschehen Marias spirituelle Fähigkei-
ten zur Geltung zu bringen. Ihr Interesse traf sich mit Angaben des Pseudo-
Matthäus, wonach Maria die Psalmen Davids als Gebetstexte benutzt habe. Wer
Marias Gebetspraxis kannte, konnte auf den Gedanken kommen, aus Maria eine
Frau zu machen, die gleichzeitig betete und arbeitete. Maria, hieß es dann, war in
der Lage, beide Tätigkeiten miteinander zu verknüpfen; das deshalb, weil sie den
Psalter auswendig zu zitieren vermochte.
Philipp der Kartäuser (f 1345/46) beschrieb die Verkündigungsszene folgender-
maßen: Als der Engel kam, befand sich Maria allein in ihrer Kammer, von ihren
Mägden verlassen, die außerhalb des Hauses ihrer Arbeit nachgingen oder auf ihren
Betten lagen. Marias Tätigkeit im Akt der Verkündigung schilderte der dichtende
Kartäusermönch so:
Marien werc was an den %iten,
si worhte golt dö unde siden,
diu syvirnts beidiu schon Besamen,
do kom %uo ir in da^ gadem
ein engel, G abritt genant,
Marien er al eine

14
Ebd. S. 63, 70.
15
Ebd. S. 63.
16
Ebd. S. 64.
17
MASSER, Bibel (wie Anm. 12) S. 122 und Anm. 7. — Vgl. z. B. Hrotsyitha, Maria, V. 518—521:
... residebat [Maria} in aede quieta,
Purpureos digitis filos operans benedictis.
Angelus et summus Gabrihel conspectibus eius
Astitit, ...
(Hrotsvithae Opera, hg. von PAULUS DE.WINTERFELD, Berlin—Zürich 1965, S. 15). Gleich Ps.-
Matthäus betont auch Hrotsvitha, daß Maria im Gesetz und in den Psalmen gut bewandert war:
Ast in praeceptis fuerat iustissima legis
Necnon carminibus semper studiosa Davidis?
(ebd. S. 14, V. 334-335).
18
Bruder Philipps* des Cartäusers Marienleben, hg. von HEINRICH RÜCKERT (Bibliothek der deutschen
National-Literatur 1,34) Quedlinburg-Leipzig 1853, S. 45, V. 1626-1631.

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MarienVerehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 321

Daß Maria beim Arbeiten gemeinhin zu beten pflegte, scheinen die unmittelbar
vorausgehenden Verse anzudeuten. In diesen teilte Philipp der Kartäuser mit:
ir Werkes si mit vli^e phlac,
ir gebet di ouch spracht
Deutlicher drückten sich jene Autoren aus, die mehr oder weniger wörtlich
übernahmen, was die im ausgehenden 13. Jahrhundert abgefaßten eNarrationes de
vita et convejrsatione beatae Mariae virginis et de pueritiä et adolescentia salvatoris'
über die Verkündigungssituation berichtet hatten. Demnach befand sich Maria ,in
ihrer Kammer, mit Handarbeiten beschäftigt; denn sie zwirnte Seide und verwob
Purpur; die übrigen Jungfrauen aber hielten sich währenddessen vor der Türe
außerhalb des Hauses auf und verrichteten andere Arbeiten. Maria aber saß allein
im Innern des Hauses, und während der Arbeit betete sie fromm Psalmen'20. Der
interpretatorische Eingriff ist nicht aufregend, beachtenswert bleibt er allemal. Der
Verfasser ließ es nicht mit der unpräziseji Angabe oratio genug sein; er wollte es
genauer wissen und behauptete, Maria habe Psalmen gebetet.
Was der Verfasser der 'Narrationes* über das Verhalten Marias mitteilt, geht
vermutlich auf die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandene cVita beate
virginis Marie et salvatoris rhythmica9 zurück. In dieser heißt es: Ac inter labores
suos psalmos ruminabat [Maria]21. Der Verfasser kennt auch den Psalm, den Maria
gerade betet oder genauer: in einer Psalterhandschrift liest: ,Du hast Dein Land
gesegnet, Herr' (84,2). Als. Maria zu dem Vers kommt: ,Ich will hören, was der
Herr zu mir sagt* (84,9), nimmt das ,Heil unserer Erlösung' (redemptionis nostre
salus) seinen Anfang22.
Neuartig und bemerkenswert an der Situationsbeschreibung des Verfassers ist
dies: Er spricht zunächst von psalmos ruminare (Psalmen auswendig hersagen,
herbeten, wörtlich: wiederkäuen). Im Fortgang der Erzählung konkretisiert er diese
Feststellung und spricht von legere psalmunfä.
Walther von Rheinau, ein gebildeter und literarisch interessierter Laie, der
von Berufs wegen schrieb und übersetzte, reimte im dritten Viertel des 13. Jahrhun-
derts, sich eng an die 'Vita rhythmica' anlehnend:
Und do Maria diu maget,
Als hie vornan ist gesaget,
Alein in dem gademe was,
Si worbte sartoent unde las
Den salter fli^ecliehe.

!9
Ebd. S. 44£, V. 1620-1621.
20
Narrationes de vita et conversatione beatae Mariae virginis et de pueritiä et adolescentia salvatoris,
hg. von OSCAR SCHADE, Halle 1870, S. 10: Maria uirgo residebat in cubiculo laborans manibus, nam ipsa
sericum retorquebat et texebat purpuram; cetere uero uirgines foris ante ianuam manebant simul et alia opera
faciebant. Maria autem sola sedebat intus et inter labores psalmos ruminabat deuote; et cunt sie resident, missus
est, ut dicit Lucas ewangelista, Gabriel et cet. usque Bcce ancilla domini: fiat michi secundum mrbum tuum.
21
Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica, hg. von ADOLF VÖGTLIN, Tübingen 1888, S. 58,
V. 1527.
22
Ebd. V. 1529-1531.
23
Ebd. V. 1527: ruminare·, V. 1528: legere.

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322 Klaus Schreiner

Und 46 diu saeldenrtcbt


Un% an den Salmen bekan,
Der Benedixisti v&het an
Und in gelas bi% üf die stat,
Da der vers gescbriben stät:
Andiam quid loquatur in me
dominus Deus meus}
Da% ist: Ich wir de da% gebot
Hoerende, da^ %e mir min got
Wirt sprechende und min herre,
Nu seht, dd was nit verre,
D si di% wort hat irst geseit,
Der urhap unser saelecheit,
Wan ^uo^ir kam der selben fr ist
Der engel, der genemmet ist
Gabriel der höbe hotte,
Aldar gesant von gotte.2*
Marias Lesen des Psalters verweist auf einen Traditionsstrang, der auf Otfrid,
den Mönch im karolingischen Weißenburg, zurückgeht. In seinem 'Evangelienbuch9
(um 860) hatte Otfrid eine beiläufige, aber folgenreiche Veränderung des Verkündi-
gungsgeschehens vorgenommen. Otfrid schreibt: Der Bote Gottes flog zu ,der
erhabenen Herrin, zu der edlen Frau, zu Maria, der geheiligten", deren Vorfahren
alle Könige waren. Der vom Himmel kommende Engel traf sie psalterlesend in
ihrem Palast (palin^a). Otfrid schildert den Vorgang so:
,Der Engel betrat das erhabene Gemach und fand
sie [Maria] voll Trauer,
den Psalter in den Händen,
den sie von Anfang bis Ende zu singen pflegte,
damit beschäftigt, schöne Stoffe herzustellen
aus kostbarem Garn, wie es ihre liebe Gewohnheit war/25
Des Dichters Verse enthalten Unstimmigkeiten. Seine Situationsbeschreibung ent-
behrt der Eindeutigkeit. Der Leser, der sich streng an Otfrids Aussagen hält, muß
von der Annahme ausgehen, daß Maria zugleich gelesen und gewoben habe. Zur
Lösung dieses Widerspruchs wurden in der germanistischen Forschung folgende
Vorschläge gemacht: Die Verbindung von Psalterlesen und Weben veranschauliche
„den idealen Ausgleich von vita contemplativa und vita activa"*. Otfrid habe „Gebet

24
Das Marienleben Walthers von Rheinau, hg. von EDIT PERJUS, Abo 21949, S. 55—56, V. 2829—
2849. — Vgl. Vita rhythmica (wie Anm. 21) S. 58. Walther von Rheinau unterscheidet nicht zwischen
ruminare und legere\ er spricht durchgängig von ,lesenc. — Zum Verständnis von ruminatio im
Leben mittelalterlicher Mönche verweist JEAN LECLERCQ, Wissenschaft und Gottverlangen. Zur
Mönchstheologie des Mittelalters, Düsseldorf 1963, S. 85, auf den Cluniazenserabt Petrus Venerabilis,
der in einer Lobrede auf einen Mönch sagte: „Sein Mund käute unaufhörlich die heiligen Worte
wieder" (Os sine requie sacra verba rttminans).
25
GISELA VOLLMANN-PROFE, Kommentar zu Otfrids Evangelienbuch, Teil I: Widmungen. Buch I,
1-11, Bonn 1976, S. 191, V 9-12.

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Marienverehrung, Lesekultur, Schfiftlichkeit 323

und Arbeit" als die das Leben Marias bestimmenden Größen in den Blick rücken
wollen26; es sei ihm „um eine allgemeine Charakterisierung von Marias Lebens-
weise" gegangen27, „nicht so sehr um eine Momentaufnahme, eine Beschreibung
dessen, was Maria in der Stunde der Engelsbotschaft gerade tat"28.
Derartige Gedankengänge, die sich beim Lesen von Otfrids 'Evangelienbuch9
einstellen, mögen mit den Absichten des Dichters übereinstimmen. Für eine solche
Vermutung spricht vieles; beweisbar ist sie nicht, da Otfrid selbst auf eine präzise
Darstellung und verbindliche Auslegung des Vorgangs verzichtete. Rezeptions-
und auslegungsgeschichtlich bedeutsam ist dies: Otfrid machte Maria zur Besitzerin
eines Buches. Otfrid war es, der als erster Maria einen Psalter in die Hand gab, in
dem sie, so ist anzunehmen, las, als der Engel kam. Otfrids Marienbild, in das
Züge „eines adligen, idealen Mädchens" eingingen29, trug maßgeblich dazu bei,
Maria zum Prototyp der lesenden Frau zu machen.
Es ist richtig: Otfrids „Text weist mit keinem Wort darauf hin, daß Maria in
der Situation der Verkündigung an einem besonderen, symbolisch bedeutsamen
Werk arbeitete"30. Aber auch dieser Befund ist für das Erkenntnis- und Berichtsin-
teresse Otfrids nicht ohne Belang. Aus dem Kontext der von Pseudo-Matthäus
beschriebenen Verkündigungssituation konnte geschlossen werden, daß Maria Pur-
pur für den Tempel Vorhang verarbeitete31. Durch die Arbeit am Tempel Vorhang
sollte ursprünglich angedeutet werden, daß im Augenblick der Engelsbotschaft
Christus in Maria Wohnung nimmt, gleich wie Gott in dem durch einen Vorhang
verhüllten Allerheiligsten des Tempels gegenwärtig ist32. Otfrid hat auch nicht von
der theologischen Bildsprache eines Alkuin (um 730—804) Gebrauch gemacht, die
durchaus Anknüpfungspunkte geboten hätte, Marias Weben der purpurgefarbten
Wolle allegorisch umzudeuten, Alkuin hatte Maria mit reinster weißer Wolle (lana
mundissima\ lana candidissimd) verglichen, die im Akt der Empfängnis Jesu gleichsam
in Purpur getränkt wurde. Mit Hilfe dieses Bildes wollte Alkuin sagen: Bereits vor
der Empfängnis glich Maria reiner, edler Wolle. „Diese ihre gnadenhafte Reinheit
und Güte war eine Disposition für die Aufnahme des Blutes der Purpurschnecke,
wodurch die Wolle dann die Qualität des Purpurs übernahm und zu einem dem
Kaiser würdigen Gewände werden konnte. Die Tränkung der Wolle mit dem
Purpursaft im Bilde ist die Herabkunft und Überschattung der begnadeten Jungfrau
durch den Hl. Geist."33

26
Ebd. S. 199 f.
27
Ebd. S. 202.
28
Ebd. S. 199.
29
LEO SCHEFFCZYK, Das Mariengeheimnis in Frömmigkeit und Lehre der Karolingerzeit (Erfurter
theologische Studien 5) Leipzig 1959, S. 509.
30
VÖLLMANN-PROFE (wie Anm. 25) S. 202.
31
Liber de ortu beatae Mariae c. IX (wie Anm. 13) S. 71, berichtet Ps.-Matthäus: dum operarelttr
purpuram digitis suis, ingrexsus est ad eam iuvertis. In c. VIII (ebd. S. 70) wird berichtet, Joseph habe
Maria zusammen mit anderen fünf Jungfrauen zu sich genommen. Maria und die Jungfrauen hätten
dann gelost, was jede von ihnen für den Tempelvorhang tun solle. Von Maria heißt es: contigit atttem
ut Maria purpwram accipcrei ad velum templi domini.
32
MARIA ELISABETH GÖSSMANN, Die Verkündigung an Maria im dogmatischen Verständnis des
Mktelalters, München 1957, S. 28.
33
SCHEFFCZYK (wie Anm. 29) S. 283.

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324 Klaus Schreiner

An allegorischer Überhöhung war Otfrid nicht interessiert. Er wollte sagen:


Die Herrin las, als Gabriel kam, um ihr Gottes Botschaft auszurichten. Die
manuellen Fertigkeiten, die das „edle Mädchen" auch beherrschte, hat er zu „Zei-
chen geziemender weiblicher Arbeit" stilisiert34. Die Symbolträchtigkcit des Tem-
pelvorhanges, dem Marias Arbeit eigentlich galt* hat sich verflüchtigt. Lesen und
Arbeiten werden nicht als gleichrangige Tätigkeiten vorgestellt. Was Otfrid zum
Ausdruck bringen will, ist unmißverständlich: Auf das Lesen des Psalters kommt
es an; Psaltcrlcsen befähigt, sich vorbehaltlos auf Gottes Heilsplan einzulassen.
Heinrich von St. Gallen greift in seinem — etwa zwischen 1410 und 1420
abgefaßten — 'Marienleben' eine Tradition auf, derzufolge Maria, als der Engel in
ihr Gemach trat, im Buch des Propheten Isaias gelesen habe. Von sandt Augustein
will er übernommen haben, was er im einzelnen berichtet: Maria sei gewöhnlich
um Mitternacht aufgestanden, um sich andechtiklichen an ir gepett zu begeben und
dye bimliscben ding zu betrachten. Wurde ihr daß schewlieh/leben von Gott entzogen,
so laß sie dan die pucher der heiligen propheten. In solcher weyß^ fahrt Heinrich von St.
Gallen fort, vand sie der engel, alß sie laß den propheten Ysaiam vnd betyecyund vor ir den
sprucbt alß er spricht: ,Nym war, ein iungfrau entpfecht vnd gepirdt ein sun, deß nam wirt
hayssen EwanueP', das ist „Pey vnß got"'. In dem lesen kam sie in grosse andacht vnd bat
den ewigen got, daß er die schrift volbrecht vnd sendet sein sun das ewig #>0r/35.
Der Rückgriff auf Isaias 7,14 hatte Tradition, die bis in die Zeit der Kirchenvä-
ter zurückreicht. Die Behauptung, Maria habe die Verheißung des Propheten
gekannt und deshalb auch an die Geburt des Messias aus einer Jungfrau geglaubt,
ist als Versuch zu begreifen, die voneinander abweichenden Berichte des Matthäus
(Matth. 1,18—23) und Lukas (Luk. 1,26—38) miteinander in Einklang zu bringen.
Als sich Joseph mit dem Gedanken trug, Maria zu entlassen, hat ihm, wie Matthäus
berichtet, ein Engel das Prophetenwort eingeschärft: ,Siehe eine Jungfrau wird
schwanger sein, und gebären wird sie einen Sohn, und sie wird seinen Namen
nennen 'Immanuer, das heißt übersetzt eBei uns ist Gott9' (Is. 7,14, zitiert von
Matth. 1,23).
Bereits der Kirchenvater Ambrosius (f 397) hatte zwischen der Prophetie des
Isaias und Maria eine Verbindung hergestellt. In seinem Lukaskommentar schrieb

34
GÖSSMANN (wie Anm. 32) S. 120.
35
HARDO HILG, Das 'Marienleben3 des Heinrich von St. Gallen. Text und Untersuchung. Mif
einem Verzeichnis deutschsprachiger Prosa Marienleben bis etwa 1520, München 1981, S. 153. Die
Behauptung, daß Maria beim Kommen Gabriels Isaias 7,14 gelesen habe, hat sich Heinrich von St.
Gallen nicht spontan einfallen lassen. Sie findet sich bereits im 'Leben Jesu' des Ludolph von
Sachsen (\ 1377), auf das Heinrich von St. Gallen in seinem 'Marienleben9 immer wieder zurückgriff.
Ludolphus de Saxonia, Vita Jesu Christi c. 5, hg. von LUDOVICUS MARIA RIGOLLOT, Rom 1865, l,
S. 20 a: Credendum antem quod [Maria] tunc erat tota abstracto, in devotissinta oratione, vel in intima
contemplatiom, comurgente forte tunc specialiter ex meditatione super salute generis humani, qualiter scilicet per
Virginem debebat salvari. Unde etiam quidam dicunt, eam tunc actu legisse illud Isaiae: ,Ecce virgo concipie?.
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch dies: Ludolph von Sachsen beruft sich seinerseits
wiederum auf Gewährsmänner (quidam dicunf}^ von denen er die Angabe übernommen haben will.
Genauer besehen referiert er zwei Traditionen, die aus unterschiedlichen Entstehenszusammenhängen
herrühren, ohne sich für eine der beiden zu entscheiden. — HILG, S. 331 (Kommentar zu 154 f.),
hat auf diese Abhängigkeit zwischen Heinrich von St. Gallen und Ludolph von Sachsen nicht
hingewiesen.

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Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 325

er: Maria habe das Wort von der Geburt des Erlösers aus einer Jungfrau gelesen
und deshalb auch geglaubt, daß es in Erfüllung gehen Werde. Aufweiche Art und
Weise'das geschehen solle, habe sie zuvor allerdings nicht gelesen. Das sei ihr erst
durch den Mund des Engels offenbar geworden36.
Beda (f 735) folgte den Gedankengängen des Ambrosius37. Thomas von Aquin
(um 1226—1274) zitierte in seiner 'Catena aurea in Lucäm* die von Ambrosius
geäußerte Annahme, Maria habe das prophetische Wort des Isaias zwar gelesen,
aber erst durch die Botschaft des Engels richtig verstanden38. Albert der Große
(um 1200—1280) referierte die sententia cujusdam glossae Ambrosii, derzufolge Maria
bei Isaias Ecce virgo concipiet, et pariet fllium gelesen hatte. Von den alttestamentlichen
Propheten sei das in Gott verborgene Geheimnis nicht plene verkündet worden; zu
erklären, wie sich die Verheißung des Isaias erfüllen solle, sei dem Engel vorbehalten
geblieben39. Der Kartäüsertheologe Dionysius von Rijkel (f 1471) berief sich eben-
falls auf Ambrosius, um darzutun, daß Maria illud Isaiae ,Ecce virgo concipief zwar
gelesen habe, aber nicht wußte, wie sich dieses Paradoxon erfüllen solle. Dionysius
zog daraus den Schluß, daß Maria eine gebildete Frau* (litterata} war. Sie konnte
lesen und hatte sich aus eigenem Bemühen die Kenntnis des Gesetzes und der
Propheten angeeignet40. Unter Berufung auf den Lukaskommentar des Ambrosius
hatte bereits Otto von Passau in seinen 1386 verfaßten eVierundzwanzig Alten' die
Auffassung vertreten, Maria, unsere liebe Frau, habe ein vernünfftig verston gehabt in
gitlicher geschrifft / das sy %u mal wol künde die alte unnd die nüm ee / unnd die Propheten
betüten wol, unnd alle bücher ml verston*1.
Weil Maria lesen konnte, konnte sie auch wissen, daß der erwartete Messias
von einer Jungfrau geboren wird. Marias Lesefahigkeit erfüllte die Funktion eines
theologischen Arguments. In den Schriften des Alten Bundes zu lesen, bestärkt im
Glauben an die Einheit zwischen alttestamentlicher Verheißung und neutestament-
licher Erfüllung.
Heinrich von St. Gallen präzisierte die auf Ambrosius zurückgehende Ausle-
gungstradition. Nicht irgendwann und irgendwo hatte seiner Ansicht nach Maria
die Verheißung des Propheten gelesen, sondern in dem Augenblick, als der Engel
bei ihr eintrat (vgl. Abb. 24, 25, 33). Das Lesen der Isaias-Prophetie habe in Maria
den Wunsch aufkommen lassen, Gott möge 'die Schrift erfüllen und seinen Sohn,
das ewige Wort, in die Welt schicken. Darüber hinaus legt Heinrich von St. Gallen

36
Ambrosius Mediolanensis, Expositio evangelii in Lucam, in: Ambrosii Opera 4 (Corpus Christiano-
rum, Series Latina 14) Turnholti 1957, S. 38: Denique *accipe9 inquü [angelus] "tibi signum\ ecce uirgo in,
utero accipiet et parkt ftLium\ Legerat hoc Maria, iäeo credidit futurum\ sed quomodo fieret ante non legerat,
37
Beda, In Lucae evangdium expositio, in: Bedae opera 2,3, hg. von DAVID HURST (Corpus Christiano-
rum, Series Latina 120) Turnholti 1960, S. 33: Quia ergo legerat ,Ecce uirgo in utero babebit et pariet
ßlium', sed quomodo id fieri posset non legerat merito credula bis quae legeral sciscitatur ab angelo quod in
propbeta non inuenit.
38
S. Thomas Aquinas, Catena aurea in quatuor evangelia, 2: Expositio in Lucarn et Joannem, hg. von
ANCELICUS GUARENTI, Taurini—Romae 1953, S. 16.
39
Albertus Magnus, Enarrationcs in primam partem evangelii Lucae (wie Anm. 4) 22, S. 89.
40
Dionysius Cartusianus, Enarratio in cap. l Lucae, art. 3, in: Enarrationes piae ac eruditae in quatuor
evangelistas (wie Anm. 1) 11, S. 388.
41
Otto von Passau, Die vier vnd zwenzig alten (wie Anm. 4) f. h VJr.

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326 Klau» Schreiner

Maria die Bitte in den Mund, Gott möge die Verheißung noch zu ihren Lebzeiten
erfüllen: liwiger got^ bittet die Maria des Heinrich von St. Gallen, wolteslu, das ich
die htnjjfrawtn so// sehen mit meinen augen\*2
Ivs war, folgt man der Erzählung des Heinrich von St. Gallen, nicht das erste
Mal, daß Maria diesen Wunsch zum Ausdruck brachte. Schon als Tempel Jungfrau
habe Maria, als sie beim Propheten gelesen hatte Njm war, eß wirt ein ittngfraw
entpbahen vnd geberen ein sttn, vnd sein nam wirt hayssen Emanuel vnd wirt ein hayl alleß
volkß^ die inständige Bitte geäußert: allmechtiger got, wie ein seilige muter die wirt, die
also entpfecht vnd gepirt ein solichen sun vnd doch iungfrav pleibtl Ich wolt geren den tag
geleben i daß ich sie solt sehen mit mein äugen — vnd, ewiger *go t, durch der edelen iungfrauen
willen so wil ich auch beleiben ein ewige Jungfrau!** Gott belohnte dieses Versprechen,
mit dem sich Maria kraft der von ihr gelobten Jungfräulichkeit als mögliche
Gottesgebärerin selber ins Spiel gebracht hatte.
Heinrich von St. Gallen suchte theologische Zusammenhänge narrativ zu
vermitteln. Theologisches Nachdenken sowie unverkennbares Bemühen, das Wun-
derbare sinnenhaft zu vergegenwärtigen, legten es nahe, die Empfängnis Jesu als
einen Vorgang verständlich zu machen, bei dem ein Text im Akt des Lesens
leibhaftige Realität annahm. Das Interesse am Wirklichwerden einer heilsbedeut-
samen, im Alten Testament angesagten und nachlesbaren Prophetie ließ die spin-
nende und webende Maria nicht mehr in den Blick kommen.
Das Marienleben des Heinrich von St. Gallen stieß im späten Mittelalter auf
reges Interesse. Häufig ist es abgeschrieben und exzerpiert worden. Die Zahl der
Textzeugen ist ungewöhnlich groß. Wirkung und Rezeption der als Lese- und
\7orlesestoff benutzten Schrift lassen auf einen großen Bekanntheitsgrad schließen44.
Ein ausgewähltes Beispiel mag, stellvertretend für zahlreiche andere, die immense
Verbreitung von Heinrichs 'Marienleben' veranschaulichen. Exemplarisch zu ver-
fahren, erscheint methodisch legitim. Die zahlreichen Abschriften und Exzerpte
geben den Text mehr oder weniger unverändert weiter. Varianten fallen kaum ins
Gewicht. Die Kernbotschaft von Heinrichs 'Marienleben9 vermögen sie jedenfalls
nicht zu verändern.
In einem e Sermon von der mensch werdung Jhesu Christi*, den Klosterfrauen
als Lesepredigt benutzten, wird folgendes berichtet: Als Maria aus dem Tempel
nach Nazareth gekommen sei, habe ihre Mutter Anna ihr ein sunderliches gemach in
irem hawß ganc^ abgescheyden von aller gemeinschaß de% Volkes gegeben. Da nam dy wirdig
Jungferen ihre pücher %u hant vnd hüb an %u lesen in Ysaia dem propheten. Da sy nu kom
aufdy wort Nemt war ein Junkfer wirt empfahen vnd geperen einen sun. Vnd sein nam wir t
geheyßen emanuel. Da% ist gesprochen. Got mit uns, habe sie in ihrem Innern begonnen,
diese Worte zu betrachten. Da sei sie, fahrt der Prediger fort, ser inprünstig vnd
beging vmb menschliche erlösung geworden. Kniefällig habe sie Gott gebeten, das Wort

42
HILG (wie Anm. 35) S. 153. -
43
Ebd. S. 145.
44
Ebd. S. 5. Das 'Marienleben' des Heinrich von St. Gallen verkörpert „unter den selbständigen,
ausschließlich dem Leben der Mutter Gottes gewidmeten Marienviten in Prosa, die zum größten
Teil sogar Unica blieben, ... mit 31 noch heute erhaltenen Handschriften das weitaus erfolgreichste".
Zur Benutzung des "Marienlebens9 durch spätere Autoren vgl. ebd. S. 391.

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Marieiiverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 327

des Propheten in Erfüllung gehen zu lassen. Im Himmel sei karitas dj hohe fürstin
als hilfreiche Fürsprecherin tätig geworden. O Herr, habe sie gesagt, erhör mein
gepet .mit deiner garten gesponßen Mafia dj mit vns pitet um menschliche erloßung. Durch
die Menschwerdung des Gottessohnes^ die Gabriel der Jungfrau Maria ankündigte,
sei dann deren Bitte um Erlösung erhört worden45.
Frommes Interesse und historische Neugier de hatten unterschiedliche Tradi-
tionen hervorgebracht. Die Verfasser von "Marienleben9 mußten sich entscheiden,
ob sie Maria einen Psalter oder das Buch des Propheten Isaias in die Hand
geben wollten. Der Kompilator der 'Neuen Ee*, einer Historienbibel des 15.
Jahrhunderts, von der es zahlreiche Handschriften und nicht weniger als
acht Frühdrucke gibt46, löste das Überlieferungsproblem auf seine Weise.
Ausgesprochene Bibelkenntnis bewies er nicht, wohl aber unbekümmerten
Eigensinn: Aus der Isaiäs-Prophetie machte er kurzerhand einen Text des
Psalters, weswegen er dann schreiben konnte: Maria die las in dem psalter, wie
ein magd ein kind solt geperen an allen man, und in der weil do kom der engel Gabriel
und sprach:. Ave, gratia plena, Maria, du pist vol aller genaden, du pist gesegent über
alle weil·, der her ist mit dir.47
Die Überzeugung, daß Maria beim Erscheinen des Engels in einem Buch
las, war Bestandteil· eines Glaubens- und Geschichtsverständnisses, dem es stärker
auf die Erinnerung heilsbedeutsamer Geschichten ankam als auf die Aneignung
begrifflich verschlüsselter Glaubensgeheimnisse. Angesichts der für das Mittelalter
charakteristischen Vielgestaltigkeit theologischer Zugriffe und Strömungen
braucht es nicht zu überraschen, wenn auch theologische Mystik und scholastische
Spekulation besondere Sichtweisen ausbildeten und zur Geltung brachten. Stand
die begriffliche Klärung theologischer Grundsatzfragen im Mittelpunkt des
Nachdenkens, verhielt sich auch Maria entsprechend: sie betete und meditierte —
und das ohne Buch. Sich unvermittelt in die dreifaltige Gottheit zu versenken,
entsprach ihrer Rolle anscheinend besser als das Lesen heiliger Texte.
Bernhard von CJairvaux (1090—1154) rühmte in seiner Predigt cSuper
missus est' Maria als eine ,sehr kluge Jungfrau' (Virgo prudentissima). Klugheit
schöpfte sie allerdings nicht aus Büchern. Als der Engel kam, las sie nicht,
sondern betete im Verborgenen zu Gott. Bernhards Marienbild war geprägt
durch Züge klösterlicher Askese. Marias Wohnung beschrieb der Zisterzienser-
theologe als verriegelte Kammer, in die Gabriel auf wunderbare Weise Eingang
fand. Ihrer castitas wegen habe Maria Ansammlungen von Menschen gemieden;
Unterredungen mit Weltleuten sei sie aus dem Weg gegangen; um strenges
Stillschweigen zu wahren, habe sie keinem Menschen Zutritt in ihr Haus,
gewährt48. Gebet, Meditation und Askese schienen das Lesen heiliger Texte

45
Cgm. 750, f. 188r— 189T. — Zur Überlieferungsgeschichte dieser Handschrift vgl. HILG (wie Anm.
35) S, 424.
46
Die Neue Ee. Eine NeutestamentÜche Historienbibel, hg. von HANS VOLLMBR (Materialjen zur
Bibelgeschichte und religiösen Volkskunde des Mittelalters 4) Berlin 1929, S. XVI.
47
Ebd. S. 24.
48
Bernardus, Super missus est homiliae (MiGNE, PL 183, Sp. 71 —72). — Die Situationsbeschreibung
Bernhards ist im späten Mittdalter viel zitiert und nachgeschrieben worden. Als Beispiel für
zahlreiche andere sei Nikolaus von Lyra (um 1270—1349), der viel gelesene Exegct der Franziskaner-

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328 Klaus Schreiner

entbehrlich zu machen48*. In den Augen Bernhards ist Maria nicht nur ein
leuchtendes Beispiel für tugendhaftes Leben; von Maria sollen Fromme insbeson-
dere dcmötigCvS Sichverhaltcn lernen, das sie befähigt, das Göttliche in sich
aufzunehmen und in ihrer Seele mit Gott eins zu werden.
Gleich Bernhard betonte auch Albertus Magnus die gesuchte und gewollte
Abgeschiedenheit von Marias Lebensführung. Den Verkündigungsvorgang ver-
legte er in eine entlegene Berghöhle (conclave; specus). Gabriel, versicherte er,
habe eine im Verborgenen betende Jungfrau (Virgo in secreto orans) angetroffen.
Am Beispiel von Maricns Lebensführung verdeutlicht der Dominikanertheologe
vorbildhafte Wcltdistanz, nicht Verlangen nach religiöser Bildung, das einer Frau
angemessen ist. Maria habe sich vom Lärm der Welt fern gehalten, sei nicht
über öffentliche Plätze gestreunt und habe auch nicht an dem Gehabe törichter
Jungfrauen Gefallen gefunden. Maria, beteuerte der gelehrte Albert, habe das
Ideal einer von aller Welt getrennten clausa verkörpert, die, ,wie die Väter
sagen4, für die Befreiung des Menschengeschlechtes und die Erlösung Israels
betete49. Wie dem Hauptmann Cornelius und dem Apostel Petrus sei der Engel
auch Maria im Gebet erschienen (Apg. 10,2—9)50.
Besuch und Erscheinung eines Engels schienen nur in einer Haltung des
Gebets denkbar und möglich zu sein. Auf die Frage, welche Tätigkeit die
allerseligste Jungfrau ausgeübt habe, als ihr der Engel die Botschaft Gottes
verkündete (in qtto actu beatissima Virgo fuerit, quando Angelas ei annuntiavit}, gab
Pseudo-Albertus, der Verfasser eines breit angelegten mariologischen Traktats,
eine unmißverständliche Antwort: Maria gab sich der Betrachtung hin und übte
keine aktive Tätigkeit aus (contemplationi et non actioni vacabat)^1. Seine Behauptung
begründete Pseudo-Albertus durch biblische und spekulative Argumente. Sind,
wie Gott durch den Mund des Propheten verhieß, Schweigen (silentium) und
Hoffen (spes) Voraussetzungen und Ursachen von Stärke (Is. 30,15), konnte
Maria nur in silentio et spe, d. h. nur in contemplatione die Botschaft Gottes
vernommen haben. Der Menschwerdung als dem edelsten Werk (nobilissima
operatid) mußte auf Seiten Marias die denkbar edelste Verfassung (nobilissimus
Status) entsprochen haben. Also befand sich Maria im Akt. der Meditation (in

und Skotistenschule, erwähnt. In seiner 'Postilla super Lucam9 entschied er sich für die Version von
Bernhards Predigt 'Super missus est9. Den Darlegungen Bernhards fugte er erläuternd hinzu: Si
enim concepcio precursoris \Ioannis Baptistae] fuit denunciata patri occupato in sacro officio vt predictum est,
multi probabilius est, quod concepcio salutacionis denunciata fuit virgini in devocione et oracione actualiter existent i
(Nicolai de Lyra Postilla super Lucam, Basileae s. a., In Lucam c. 1).
48a
Vincent of Beauvais, De eruditione filiorum nobilium, hg. von APPARD STEINER, Cambridge/
Massachusetts 1938, S. 62, sagte explizit: in meditacione potest homo sapiens eciam sine libris et aliquando
melius proficere.
49
Albertus Magnus, Enarrationes in primam partem evangelii Lucae (wie Anm. 4) 22, S. 56, 63, 87.
50
Ebd. S. 56. — Marias Gebetshaltung ließ sich durch biblische Analogien rechtfertigen. Sie entsprach
auch Alberts Begriff von Theologie, welche, wie er sagte, casta stat intra limites fidei nee luxuriatur
per pbantasias. Aus einem solchen Theologieverständnis resultierte eine entscheidende Ablehnung
aller apokryphen Autoren, die ,viel Abgeschmacktes über den Erlöser schreiben* (multa frivola de
Salvatore scribentes). Vgl. FRIES (wie Anm. 4) S. 210.
51
Quaestiones super evangelium, quaest. 12, in: Albertus Magnus, Opera omnia, hg. von AUGUSTUS
und AEMILIUS BORGNET, Parisiis 1898, 37, S. 29 f.

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Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 329

contemplatione). Nutzer altüsimus Status contemplatwnis ermöglichte eine substan-


zielle Erhöhung Marias ad summam propinquitatem cum Deo52.
Pseudo-Albertus ist, wenn es im späten Mittelalter um Fragen der Mariologie
ging, oftmals befragt und nicht weniger häufig ausgeschrieben worden. Nikolaus
von Dinkelsbühl (um 1360—1433)j der literarisch und theologisch produktive
Wiener Reformtheologe, tat es wie viele andere auch, aber er tat es mit Vorbehalten.
Als er in einer Predigt an 'Maiiae Verkündigung9 die Frage stellte, womit Maria
beim Kommen des Engels eigentlich beschäftigt war, sagte er klipp und klar: Man
wisse es nicht; nichts Verläßliches sei darüber aufgezeichnet und überliefert worden.
Persönliche Skepsis hinderte ihn aber nicht, traditionelle Auffassungen wiederzuge-
ben. Einige Autoren würden glauben, Maria sei bei der Verkündigung ganz der
Kontemplation oder tiefstem Gebet hingegeben gewesen (tota dedita fuit contempla-
cioni aut devotissime oräcioni)\ einsam und mit größter Inbrunst habe sie über das Heil
und die Rettung des Menschengeschlechts nachgedacht; in diesem Akt innigster
Betrachtung und gänzlicher Vereinigung mit Gott sei dann der Engel gekommen,
um ihr die Empfängnis des Gottessohnes kundzutun und ihr zu sagen, daß sie jene
von Isaias prophezeite Jungfrau sei, die als Jungfrau den Erlöser gebären werde53.
Für eine solche Betrachtung der Dinge gab es nach Ansicht des Nikolaus von
Dinkelsbühl einleuchtende Gründe. Er hielt es für racionabile, daß Maria über ein
göttliches Geheimnis nachdachte, das im Akt der Verkündigung Wirklichkeit
wurde. Er hielt es überdies für rationabile^ daß Maria durch ihren Glauben und
durch ihre Erkenntnis Gott geistig in sich aufnahm, ihm durch glühende Liebe in
ihrem Willen eine Wohnstatt bereitete und ihn schließlich durch den Heiligen
Geist körperlich empfing54. Theologische Reflexion überlagerte zunehmend die
Auslegung. Der Franziskanertheologe Marquard von Lindau (f!392) erläutert in
seinem cDekalogtraktat3, wie von Maria jedes einzelne Gebot erfüllt wurde. Er
tut das mit den Sprachgepflogenheiten eines gedankenreichen und empfindsamen
Mystikers. Was bei seinen Überlegungen herauskommt, ist eine Maria, die betet,
betrachtet und arbeitet, aber nicht mehr liest. Im Tempel sei ihr sonderlich befohlen

52
Ebd. — Zu dieser Art von Mariologie vgl. H. W. VAN Os, Marias Demut und Verherrlichung in
der sienesischen Malerei 1300—1450, 's-Gravenhage 1969, S. 53: „Bei den Dominikaner-Theologen
verschwand Maria als menschliche Persönlichkeit hinter einem Schleier von dogmatischen Theorien
über ihre teilweise Heiligung schon bei ihrer.Geburt und ihre vollständige Heiligung bei der
Menschwerdung Christi. Am Ende blieb nur noch eine Abstraktion übrig, die die Dominikaner-
Mystiker zwar mit der Wärme ihres religiösen Gefühls zu beleben versuchten, die aber immer daran
erinnerte, daß sie aus dem leblosen Reich reiner Begriffe herstammte."
53
De annuntiatione beatae Mariae virginis sermo l, Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek
HB. I, Ascet 196, f. 44 . Vgl. ALOIS MADRE, Nikolaus von Dinkelsbühl. Leben und Schriften. Ein
Beitrag zur theologischen Literaturgeschichte (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theolo-
gie des MittelaJters 4) Münster i. W. 1964, S. 217 f. — Wortkarger gab sich Dionysius Cartusianus,
Enarratio in cap. l Lucae, art, 3, in: Enarrationes piae ac eruditae in quatuor evangelistas (wie Anm.
1) 11, S. 386: ,Ef ingressus angelus ad tarn': non dubium quin in locum secretum, übt illa sanctimma
conlcmplatioitt tt orattoni vacavit, forte in ibalamo seu oraforh; estque probabile, quod tunc devotissime pro
iotius bumam gtneris tahatione et Christi adventu orauit.
54
De annuntiauone beatae Mariae virginis sermo l (wie Anm. 53) f. 44**.

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330 Klaus Schreiner

worden, da^ sie mit gold soll neyen und purpurgewand und kostbar kleinster machen55.
Das habe die edel Jungfrau Maria befähigt, daß sie später mit der kunckel und mit der
nadel sich und ihr kind btgieng^* Im Gebet habe sie mit Gott geredet und in dem reden
hätten sich ihre Augen aufgctan, da% sie das grundlose wcsen [Gottes] schauete on mittel
in aller klarheit und tiehlichkeit*7 . Ausführlich legt er dar, was die edel maget in der
schatwung alles sah58. Von der wetten, bis da^ der morgenroth herkam, oder der tag uffgitng,
sei sie im Gebet verharrt. Darnach von dar %eit bis ^ur Prim, so kehrt sie sich %u heiliger
bet rächt ung nach der höchsten weise, so sie ein creatur je gehätte^. Ein mit Beten und
Betrachten ausgefüllter Tag läßt für Lektüre keine Zeit mehr. Vnd offt, betont
hingegen Heinrich von St. Gallen unter Berufung auf den hl. Augustinus, laß sie
die pucher der heiligen propheten vnd sunderlich deß morgens nach irem schawen vnd andechtigen
gepet*®.
Michael Lochmaier, ein Passauer Prediger des ausgehenden 15. Jahrhunderts,
schreibt unter Berufung auf den 'Tractatus super missu^est* des Franciscus Mayron
(f 1327), eines Schülers des Duns Scotus: Bei der Lektüre der Bibel sei Maria im
siebten Kapitel des Isaias auf den Vers gestoßen: Ecce virgo concipiet (7,14). Dieses
Wort habe in Maria die Sehnsucht geweckt, ,Magd jener Jungfrau' zu werden. Dann
habe sie zu Gott gebetet, er möge dem Menschengeschlecht seine unaussprechliche
Barmherzigkeit zeigen und es durch seinen einzigen Sohn erlösen. Durch ihr Beten
sei sie zur Betrachtung (contemplatio) gelangt. Ganz in Gott versunken, die Knie
gebeugt und die Augen mit Tränen überströmt, habe sie der Engel angetroffen.
Das Wahrnehmungsinteresse hat sich verändert: Im entscheidenden Moment
der Empfängnis liest Maria nicht mehr; sie ist ,geistlich mit Gott verbunden'
(spiritualiter deo unitd). Lesen (lectio) bildet die Anfangsstufe geistlichen Lebens; dem
Lesen folgt das Gebet (oratio\ dann die Betrachtung (meditatio)^ .
Im 'Mariale' des Franziskanerpredigers Bernardino de Busti (f 1513), einer
Sammlung von Predigten ede singulis festivitatibus beatae Virgijiis Mariae', stehen
kontemplative3 und literarische3 Traditionen unvermittelt nebeneinander. Unter
Berufung auf Pseudo-Albertus vertritt Bernardino in seiner dritten Predigt zur
'Annuntiatio Mariae' die Auffassung, Maria habe sich bei der Ankunft des Engels
in actu contemplationis befunden. Nur per contemplationem sei eine Annäherung an

55
Ein Epheukranz oder Erklärung der Zehn Gebote Gottes nach den Originalausgaben vom Jahre
1483 und 1516 hg. von VINCENZ HASAK, Augsburg 1889, S. 51. — Vgl. auch ebd. S. 33: Wurde
sie vom Engel nicht gespeist, nahm sie ihr notturft ... von ihr arbeit\ wurde sie vom Engel gespeist,
so gäbe sie, was sie gewann mit der Kunkeln und Nadlen armen lüten, wann sie -kundt mit seiden und mit gold
neyen.
56
Ebd. S. 33.
57
Ebd. S. 28.
58
Ebd. S. 31.
59
Ebd. S. 29.
60
HILG (wie Anm. 35) S. 310.'
61
Michael Lochmayr, Sermones de sanctis, Hagenau 1497, De annuntiatione beatae Mariae Virginis,
sermo 38, f. k 3V 3. — Vgl. auch Antoninus archiepiscopus Florentinus, Summa theologica tit. 15,
cap. 8 (wie Anm. 5) Sp. 962: Concedimus> quod B. Virgo fuit in ista annuntiatione in actu contemplationis.
Als Begründung für diese Auffassung gab er an: nobilissima operatio fuit conceptio ßlii Dei; ideo debuit.
ßeri in nobilissima statu, qui est Status contemplationis.

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Matieiiverehrungj Lesekuitur, Schriftlichkeit 331

Gott möglich gewesea; ebenso habe dem alleredelsten Wirken Gottes die denkbar
vornehmste Haltung Marias entsprochen62.
Daneben erwähnt der leidenschaftliche Marien verehret Bernardino auch Lehrer
(doctores), die sagea, der Engel sei bei einer betenden, seufzenden und weinenden
Jungfrau eingekehrt63. Unter Berufung auf Bernhard von Clairvaux hält er es für
erheblich wahrscheinlicher (multo probabilius\ daß der Engel Maria betend antraf.
Zu guter Letzt münden seine Erwägungen in eine Synthese: Der Engel fand die
unversehrte Jungfrau in einer Verfassung, die durch überaus fromme Seufzer
(devotissitffa sitspiria) und tränenreiche Gebete (lacrimosae orationes) charakterisiert
war64. .
Auf Marias Bibellektüre geht Bernardino in seiner sechsten Predigt zu Maria
Verkündigung ein. Von der domina intelligentia, einer der zwölf Jungfrauen, die
Maria bei sich hatte, sei sie belehrt worden, nach Einsicht der von Isaias geäußerten
Prophetie zu verlangen, wonach eine Jungfrau empfangen wird (Is. 7,14: Ecce virgo
concipiet). Als sie Gott um Verständnis der Prophetie bat, sei der Engel in ihre
Kammer eingetreten, um ihr im Auftrag Gottes das Gelesene einsichtig zu machen.
Mit diesem Vorgang verknüpft Bernardino, grundsätzliche Erwägungen über das
Lesen. Wenn wir beten, schreibt er, würden wir mit Gott sprechen. Wenn wir [in
der Heiligen Schrift] lesen, spreche Gott mit uns. Jedweder geistliche Fortschritt
gehe aus Lesen und Nachdenken hervor. Was wir nicht wissen, würden wir durch
Lesen lernen. Was wir abei; gelernt haben, würden wir durch Nachdenken behalten.
Lesen bringe ein zweifaches Gut hervor: Es bewirke Einsicht des Geistes (intellectus
mentis) und führe den Menschen, der sich von den Nichtigkeiten dieser Welt gelöst
habe, zur Liebe Gottes. Je mehr die eitle Hoffnung auf Vergängliches abnehme,
desto weiter würde die durch Lesen und Hören (legendo et audiendd) genährte
Hoffnung auf Ewiges leuchten65.
Der theologisch gebildete Humanist Juan Luis Vives (1492—1540) wollte sich
in seiner der englischen Königin gewidmeten Schrift eDe institutione foeminae'
nicht festlegen, ob Maria las, betete oder arbeitete, als ihr Gabriel Gottes Botschaft
verkündete. Daß Maria nicht müßig ging, sondern etwas tat (aliquid agens), steht
für ihn zweifelsfrei fest66. Gleich Maria möge jede Frau sich vom Laster des
Nichtstuns freihalten; sie soll lesen, beten und arbeiten. Alle drei Betätigungsformen
machte Vives zu unabdingbaren Bestandteilen christlicher Lebensführung. Dennoch
betonte er: dem Lesen frommer Schriften gebühre Vorrang (legere Optimum es/)61.
Eine in der Bibel unbesetzte Leerstelle konnte — je nach theologischem
Vorverständnis und pädagogischem Interesse — mit unterschiedlichen Inhalten
gefüllt werden. Unter diesen nahm Lesen einen beherrschenden Platz ein.

62
Bernardinus de Busti, Mariale, De singulis festivitatibus beate virginis, Argentine 1496, pars 5,
sermo 3 De annuntiatione Marie, f. 172r.
0
Ebd. f. 172V.
64
Ebd.
65
Ebd. pars 5, sermo 6, f. 185v-186r.
66
loannes Lodovicus Vivus Valentinus, De instirutione foeminae christianae ad incJytham D. Cathari-
nam Hispanam, Angliae reginam libri crcs, Basileae 1538, S. 69: Non dubwm qttin tale [legre-, orare\
operi manuario intendere] aliquid agentem reperii Mariam angehe.
« Ebd. S. 7.

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332 Klaus Schreiner

AUSUIGUNGSGRSCHICHTE ALS 81LDUNGS- UND SO7JALGESCH1CHTR: VON DER


'MAGD DK5 HERRN* ZUR SYMBOLGESTALT MITTELALTERLICHER
FRAUENBILDUNG

Prediger, Bibckmslegcr und mit religiösen Themen befaßte Künstler sind


Kinder ihrer Zeit. Wenn sie christliche Wahrheiten verkünden oder darstellen,
tun sie das unter dem Einfluß zeitgebundener Wcrtvorstellungen, Normen und
Interessen. Auch ihr frommes Tun ist in gesellschaftliche Zusammenhänge ver-
strickt; Christentum ist „gesellschaftlich verfaßt", ohne daß es „unterschiedslos in
den gesellschaftlichen Gegebenheiten aufgeht"68. Gilt das auch für die Verkündi-
gung an Maria und deren sich geschichtlich wandelnde Formen der Wahrnehmung,
Darstellung und Deutung?
Otfrid (f nach 871), der Benediktinermönch im unterelsässischen Weißenburg,
wollte gewußt haben, daß Maria, als sie von Gabriel in ihrem Palast aufgesucht
wurde, einen Psalter in Händen hielt. In dem von Otfrid beschriebenen sozialen
Milieu bildeten Psalterlektüre und hohe Abstammung Marias Merkmale einer adlig-
herrschaftlichen Lebens weit. Sie verwiesen auf einen eng gedachten Zusammenhang
zwischen Adel und Bildung. Wie soll man sich diesen geistigen und sozialen
Aufstieg Marias erklären?
In apostolischer und altkirchlicher Zeit gehörte es zu den von Heiden und
Juden polemisch benutzten Stereotypen, Maria wegen ihrer Armut und Jesus
wegen seiner geringen Herkunft verächtlich zu machen69. Sich mit dem Vorwurf
der sozialen Niedrigkeit auseinanderzusetzen, gehörte zum apologetischen Geschäft
altchristlicher Theologen. Deren stärkstes Argument bildete die davidische Königs-
abstammung Marias. Wer erwiesenermaßen von einem König abstammte, war
gegen soziale Unterstellungen antichristlicher Schriftsteller gefeit. Hinzu kamen
soziale Verschiebungen innerhalb der sich ausbreitenden Kirche. Die christlichen
Gemeinden nahmen „mehr und mehr auch Menschen der gesellschaftlichen Ober-
schicht" in sich auf. Das hatte zur Folge, „daß das Motiv der Armut und der
mit ihr verbundenen religiösen Bestimmung in den Ausführungen über Maria
zurücktrat"70. In der Adelsgesellschaft des frühen Mittelalters, in welcher aristokra-
tische Führungseliten durch ständisch angemessene Glaubensvorstellungen für das
Christentum gewonnen werden mußten, stellte sich die Frage nach der Abstammung
von Jesus und Maria mit besonderer Dringlichkeit.
Adligen Oberschichten des frühen Mittelalters war nur schwer einsichtig zu
machen, daß der im Himmel thronende Erlöser, der Allherrscher und endzeitliche
Richter durch eine unfreie, niedrige Magd geboren worden sei. Eine in Armut
lebende Gottesmutter und ein sozial deklassierter Gottessohn lagen quer zur
religiösen und sozialen Vorstellungswelt des frühmittelalterlichen Adels. Die nobili-
tas sanctae Mariae genetricis Dei wurde nicht zuletzt deshalb zu einem Leitthema

68
FRANZ-XAVER KAUFMANN, Das Kirchenverständnis im Spannungsfeld von Gesellschaft und Reli-
gion, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, hg. von DEMS., Teilband 29, Freiburg i. Br.—
Basel-Wien 1982, S. 75-85, hier S. 76.
69
VOGT (wie Anm. 7) S. 248, 251 f.; vgl. auch DERS., Der Vorwurf der sozialen Niedrigkeit des frühen
Christentums, in: Gymnasium 82, 1975, S. 401-411, hier S. 402.
70
VOGT (wie Anm. 7) S. 256.

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Marien Verehrung, Lesekultiir, Schriftlich keit 333

karolingischer Mariologie. Eine an adligen Wertbegriffen orientierte Religiosität


nährte das Bemühet^ den sozialen Rang Marias zu erhöhen. Um dem Vorwurf
entgegenzutreten, Maria sei eine gewöhnliche Menschenmagd gewesen, wurde
mit Nachdruck hervorgehoben, daß Maria mundum saeculi naMitatem aus einem
königlichen und freien Geschlecht (ex regali et libera prosapia) hervorgegangen sei71.
Marxens tatsächliche Arröut wurde in eine seelische Verzichtleistung umstilisiert.
Im Kontext derartiger Überlegungen wandelte sich Maria von der ancilla domini
zur domiwet regina. Das „Einwirken soziologischer Kategorien auf das Werden der
neuen Idee vom Königtum Mariens" ist evident72.
Adel und Königtum sind mit religiös-ethischen Auflagen verknüpft, die Bil-
dung zur Standespflicht machen. Psalterlektüre entspricht einer zeitgenössischen,
auf den Adel zugeschnittenen Bildungsnorm. Deren "Sitz im Leben9 bildet die
Tatsache, daß Buchlektüre in der Gesellschaft des frühen Mittelalters weitestgehend
Frauensache war. „Das junge Mädchen des mittelalterlichen Adels lernt, auch wenn
es nicht ins Kloster geht, die Psalmen lesen, und der Psalter begleitet die Frauen
des Laienstandes durchs Leben. Am Psalter lernen sie nun freilich auch die Anfangs-
gründe des Lateinischen, und viele adlige Damen haben es darin so weit gebracht
wie nur wenige Männer des Laienstandes."73
Auf eine vornehmlich von adligen Frauen gepflegte Psalterlektüre läßt auch
folgender rechtlicher Tatbestand schließen: Zum „Frauenerbe", wie es im Landrecht
des Sachsenspiegels beschrieben wird, gehört nicht nur Schmuck, sondern auch
und vor allem der „Psalter und alle Bücher, die beim Gottesdienst gebraucht werden
und in denen die Damen zu lesen pflegen"74. In der Plastik des 13. Jahrhunderts
wird der Psalter zu einem Attribut adliger Frauen. In der zeitgenössischen Ethik
wird mancher hohen Frau nachgerühmt: „Jede Nacht, bis es Tag wird, liest sie in
ihrem Psalter"; mitunter wird ganz einfach festgestellt: „Sie trug einen Psalter in
der Hand" oder „Kniend las sie im Psalter"75.
Minnesänger waren nicht davon angetan, wenn sich Frauen ständig mit den
frommen Gesängen Davids befaßten. Psalterlektüre war ihrer Auffassung nach der
Liebe abträglich. „Herzensgeliebte, meine Königin, willst Du eine Betschwester —
eine 'Psalterfrau' — sein?" nörgelte einer von ihnen über die fromme Lektüre
seiner Angebeteten76. Liebesdurstige Männer sehnten sich nach körperlicher Nähe;
bildungshungrige Frauen wollten lesen. Zahlreiche kostbare Psalter, die sich aus
der Zeit des frühen und hohen Mittelalters erhalten haben, waren für Frauen
bestimmt und sind von Frauen gelesen und benutzt worden. In den Anfängen des
volkssprachlichen Schrifttums spielten Psalterübersetzungen und Psaltererklärun-

71
SCHEFFCZYK (wie Anm, 29) S. 85.
72
Ebd. S. 487.
73
HERBERT GRUKDMANN, Die Frauen und die Literatur im Mittelalter. Ein Beitrag zur Frage nach
der Entstehung des Schrifttums in der Volkssprache, in: DERS., Ausgewählte Aufsätze, 3: Bildung
und Sprache (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 25,3) Stuttgart 1978, S. 67—95, hier
S. 71.
74
JOACHIM BUMKE, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1986,
2, S, 474.
75
Ebd.
* Ebd.

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334 Klaus Schreiner

gen „eine beträchtliche Rolle, weil sie dem weiblichen Erbauungs- und Lesebedürf-
nis Genüge taten**77.
In die adlige Vorstellungswelt, die mit unbedachter Selbstverständlichkeit in
Otfrids biblische Hermeneutik einging, paßt auch die handarbcitende Maria. Ötfrid
unterstreicht Marias Fertigkeiten im Spinnen und Weben. Hoch- und spätmittelalter-
lichc Mariendichtcr beteuerten, Maria sei im Spinnen, Weben, Sticken und Stricken
eine große Meisterin gewesen. Wolle zu verarbeiten, widersprach nicht dem Standes-
ideal adliger Frauen — im Gegenteil. Bereits der hl. Hieronymus hatte Frauen der
stadtrömischen Aristokratie, die er „in der Art der späteren Hauskapläne in der
vornehmen, adligen Gesellschaft" geistlich betreute78; „Psalmengebet, Lesen geistli-
cher Schriften, Wollarbeit und Spinnen" als Hauptinhalte christlicher Frauenbildung
eingeschärft79.
Spätantike und frühmittelalterliche Geschichtsschreiber überliefern, daß sich
selbst Kaisertöchter nicht zu gut dünkten, Flachs und Wolle zu spinnen. Die
Töchter des Kaisers Augustus haben, wie Sueton berichtet, es angeblich getan80;
auch Karl der Große soll, wie sein Biograph Einhard schreibt, darauf bestanden
haben, daß seine Töchter sich mit Spinnrocken, Spindel und Webstuhl befaßten81.
Untätigkeit verführte zur Sünde; Arbeit bewahrte vor sittengefahrdendem Müßig-
gang. Mittelalterliche Moralisten machten aus dem Verhalten der Kaisertöchter ein
Exempel, das zur Nachahmung verpflichtete. Johannes von Salisbury (um 1115--
1180) schrieb in seinem 'Policraticus': ,Man kann auch lesen, der obgenannte
Augustus habe seine Töchter im Spinnen und Weben so unterrichten lassen, daß
sie das Leben, hätte das Schicksal entgegen aller Hoffnung sie in äusserste Armut
geworfen, mit den von dieser Fertigkeit hergeleiteten Möglichkeiten fristen konn-
ten. Denn sie hatten nicht nur die Fertigkeit, sondern auch die Übung und
Gewohnheit, sowohl zu spinnen und zu weben, wie auch mit der Nadel umzugehen
und Kleider zu entwerfen, zu gestalten und zusammenzusetzen.'82

77
GRUNDMANN (wie Anm. 73) S. 73.
78
HANS FREIHERR VON CAMPENHAUSEN, Lateinische Kirchenväter, Stuttgart 1960, S. 127. Vgl. ebd.:
„Er selbst hat es zeitlebens vermieden, sich mit einfachen Menschen abzugeben; gewöhnlicher
Herkunft, sucht er in seinem Verkehr den Anschluß immer nach oben."
79
MARIE-LOUISE PORTMANN, Die Darstellung der Frau in der Geschichtschreibung des frühen Mittelal-
ters, Diss. Basel 1958, S. 16.
80
C. Svetoni Tranquilli opera 1: De vita caesarum libri VIII, hg. von MAXIMILIAN IHM, Stuttgart
1973 (Nachdruck der Ausgabe 1908), S. 83: Divus Augustus c. 64.
81
Einhardus, Vita Karoli c. 19, hg. von OSWALD HOLDER-EGGER (MGH Script. rer. Germ, in us.
schol. 25) Hannover—Leipzig 1911, S. 23.
82
loannes Saresberiensis, Policraticus sive de nvgis cvrialivm et vestigiis philosophorum libri VIII,.
1.6, c. 4, hg. von CLEMENS C. I. WEBB, Oxonii 1909, 2, S. 15. Übersetzung nach ROMAN W.
BRÜSCHWEILER, Das sechste Buch des 'Policraticus' von loannes Saresberiensis (John of Salisbury).
Ein Beitrag zur Militärgeschichte Englands im 12. Jahrhundert, Diss. Zürich 1975, S. 15. —
Unter Berufung auf den "Policraticus* nahm der Augsburger Arzt Bartholomäus Metlinger den
Erziehungsgrundsatz des Augustus in sein 1473 zum ersten Mal gedrucktes 'Regiment der jungen
kinder9 auf. Kaiser Oktavian, schrieb er, c^pch sein sün auff riterl'icb ubung vnd sein tochter lerneten seyden
stücken. Obschon sie auf Grund ihrer Abstammung und ihres Erbgutes alles Lebensnotwendige,
dessen sie bedurften, besaßen, so mästen sj doch so fleissig vnderweißt werden / als ob sy ir gut nit behalten
oder mer überkommen möchten / dann durch ubung solcher fügent (Bartolomäus Metlinger, Medicus
Augustanus, Regiment der jungen kinder c. 4, Augsburg 1476). — Insofern ist VOGT (wie Anm.

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Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 335

Adels- uüd Fürstetispiegler des hohen Mittelalters hielten es für ein schlechtes
Zeichen, wenn eine Dame „den Spinnrocken haßt, nicht webt, nicht spinnt, nicht
haspelt" und ihre Zeit nur damit verbringt, „daß sie sich schön und hübsch macht
und sich weiß oder rot anmalt"83. Weben, Sticken und Verzieren der Kleider galten
für Damen des Adels als ehrenwerte Tätigkeiten, indes die ersten Stufen der
Flachsbearbeitung in der Regel einfachen Mägden überlassen blieben. Bernardin
von Siena (1380—1444), der wortgewaltige Franziskanerprediger, rechnete die
beständige Übung ,in irgendeinem guten Werk und vor allem in demütigen Gehor-
samsleistungen' (in aliquo bono opere et maxime in humilitatis obsequiis) zu jenen
Voraussetzungen, die Jungfrauen befähigen, ihre von Maria beispielhaft vorgelebte
Jungfräulichkeit zu bewahren. Um sein Argument zu erhärten, erinnerte der
Minoritenprediger an römische Kaiser, die ihren eigenen Töchtern befohlen hätten,
,Werke der Demut* (humilitatis opera) — wie die Verarbeitung von Wolle und die
Herstellung von Leinen (lana et linurn) · — zu vollbringen84.
Wöllarbeit stellte weder das adlige Frauenideal in Frage, noch tat sie dem
königlichen und adligen Rang Marias Abbruch. Mochte, wie zahlreiche Darstellun-
gen zeigen85, die Gottesmutter auch spinnen, weben und stricken, sie blieb während
des ganzen Mittelalters eine hochverehrte Kaiserin, Königin und edle Frau, an der
sich adlige Damen ein Beispiel nehmen sollten. Ihre Rolle als Symbolgestalt einer
ausschließlich Frauen des Adels vorbehaltenen Bildung streifte sie jedoch langfristig
ab. Das beweist folgende Erzählung aus einer Exempelsammlung des ausgehenden
13. Jahrhunderts: Die Tochter eines Bauern bittet ihren Vater um einen Psalter,
damit sie darin lesen kann. Was aber das Vermögen des Bauern übersteigt, ermög-
licht und verwirklicht Maria. Sie schenkt dem Mädchen einen Psalter und gibt ihm
auch die Fähigkeit, ihn zu lesen86. Der Beispielerzähler benutzte eine Wunderge-

7) S. 255, zu berichtigen, der die Auffassung vertritt, daß Weben „nach geläufiger antiker Anschau-
ung zu den Aufgaben der Sklavin" gehört und als harte Dienstleistung gilt.
* BUMKE (wie Anm. 74) 2, S. 473.
84
Bernardinus Senensis, Sermo 48, De laudibus virginitatis. Et de duodecim mysticis domicellis
Virginis Matris Dei art. 2, in: Opera omnia, hg. von AUGUSTINUS SEPINSKI, Quaracchi—Firenze
1956, 4, S. 482 : Sed ut hanc virginitatem Mariae vakant conservare, semper se debent in aliquo bono opere et
maxime in humilitatis obsequiis extrcere. Et licet Status altitudine fulgeant et nobilitate generis sint diiatae, non
tarnen nobilitati Virginis comparantur, quae in omni humili famulatu domum suam regebat. Romani quoque
imperatores ßlias proprias lanam et linum et consimilia humilitatis opere exercere iubebant.
85
Vgl. dazu ROBERT L. WYSS, Die Handarbeiten der Maria. Eine ikonographische Studie unter
Berücksichtigung der textilen Techniken, in: Artes Minores. Dank an Werner Abegg, hg. von
MICHAEL STETTLER und MECHTHTLD LEMBERG, Berlin 1973, S. 113—188; MERETH LINDGREN, Life
of the Medieväl Woman in the Mirror of Eve an Mary, in: Man and Picture, hg. von NILS-ARVID
BRINGEUS, Stockholm 1986, S. 133—145; OTTO E MEINARDUS, Zur ^Strickenden Madonna' oder
'Die Darbringung der Leidenswerkzeuge' des Meistes Bertram, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger
Kunsthalle 7, 1988, S. 15-22.
86
So Thomas Cantipratanus (|1263) in seinem 'Bonum universale de apibus*, 1,23,3. Zitiert nach
MANFRED GÜNTER SCHOLZ, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im
12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980, S. 206. RUDOLF LIM WER, Bildungszustände und Bildungs-
ideen des 13. Jahrhunderts. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der lateinischen Quellen,
München—Berlin 1928, S. 52 Anm. 11, bringt noch ein weiteres Beispiel, das zeigt, wie Maria den
religiösen Bildungshunger von 'Unterschichtenkindern' erfüllt. »Maria belehrt den Ungebildeten*
(Maria docet ydiotam) gehört zu den nicht gerade seltenen Themen der spätmittelalterlichen Exempel-

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336 Klaus Schreiner

schichte als literarisches Mittel, um damitun, daß der Zugang zur Welt der Bücher
kein Standcsprivileg darstellt, sondern allen Frommen — unabhängig von ihrer
sozialen Zugehörigkeit — offensteht.
Der Psalter hörte auf, ein vornehmlich adligen Frauen vorbehaltenes Lesebuch
zu sein. Volkssprachliche Psalterübersctzungcn wurden für diefrumen und verstanden
layen angefertigt, die fähig und willens waren, in deutschen püchern %u lesen*1. Die
volkssprachliche religiöse Laienliteratur des späten Mittelalters ist unstreitig „von
den geistlichen und literarischen Bedürfnissen einer Eüteschicht der Laien" angeregt
worden; auch gelesen wurde sie „von Adeligen und hochgestellten Bürgern"88.
Nicht xu übersehen sind jedoch Bemühungen, die Schriften der Bibel allen Schichten
der Bevölkerung zugänglich zu machen. Dafür spricht nicht zuletzt die Ausbildung
neuer Kommunikationsformen.
Wer zum Heil seiner Seele und zur Ehre Gottes etwas tun wolle, empfahl der
Verfasser eines spätmittelalterlichen Katechismustraktate^ der möge zwölf gemeine
Töchter bepfründen, und das mit der Verpflichtung, daß sie den psalter offenlich
teutsch lesen. In der nämlichen Schrift heißt es außerdem: Item laß anschmiden ein
deutsche wibel [sie], psalter oder petbuch, das die menschen darjnn lesen und sich pessern.*®
Eine rituelle Anweisung von Propst und Kapitel der Münchener Frauenkirche
(nach 1495) sah vor, daß in Ilmmünster, einer eUnserer Lieben Frau' von München
inkorporierten Pfarrei, in der Komplet von Karfreitag am Grab des Herrn der
Psalter vorgelesen wurde. Es heißt da: so nit schuler oder Schreiber da wären) die bei
dem Grab den psalter lesen, sollen <%wen Caplän nach der Complet} so das volck am maisten
isty bei dem grab ain stund oder %wei den psalter lesend
Der früh- und hochmittelalterliche Psalter war nach dem Zeugnis der Quellen
vornehmlich ein Lern- und Lesebuch des Adels. Der Biograph des Mainzer Erz-
bischofs Bardo (f 1051) berichtet: Der von vornehmen Eltern abstammende
Bardo — die neuere Forschung rechnet ihn dem „konradinischen Sippenbereich"
zu91 — sei bald, ,nachdem er den Psalter gelernt hatte' (cum didicisset psalterium)^
den Mönchen von Fulda übergeben worden92. Bischof Otto von Bamberg (f 1139)
pflegte, wie in seiner Vita überliefert wird, mit Kaiser Heinrich zu psalmodieren.

literatur. Einem Slawen, ,der ganz ungebildet war, aber ihr fromm diente', habe sie auf wunderbare
Weise den Umgang mit der lateinischen Sprache beigebracht. Mit diesem Vorgang verbindet der
Geschichtenerzähler folgende Lehre: ,An dem Slaven aber können wir erkennen, daß die demütige
Mutter Gottes gern mit den Einfaltigen redet; schnell lehrte sie ihn Latein sprechen, der nicht
einmal Deutsch konnte* (Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und lateinischem
Urtext, hg. von JOSEPH KLAPPER, Breslau 1914, S. 67 f., 275).
87
GEORG STEER, Geistliche Prosa, in: Die Deutsche Literatur im späten Mittelalter 1250—1370, hg.
von INGEBORG GLIER (Geschichte der Deutschen Literatur 3,2) München 1987, S. 306—370, hier
S. 365.
88
Ebd. S. 364.
89
EGINO WEIDENHILLER, Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur des späten
Mittelalters. Nach den Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek, München 1965, S. 96 f.
90
JOSEPH STABER, Die Teilnahme des Volkes an der Karwochenliturgie im Bistum Freising während
des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch 1964 für aitbayerische Kirchengeschichte (Deutingers
Beiträge 23/3), S. 48-^-85, hier S. 76.
91
ALOIS GERLICH, Artikel 'Bardo9, in: Lexikon des Mittelalters, l (wie Anm. 11) Sp. 1458.
92
Vita Bardonis maior (MGH SS 11) S. 232.

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Marienverehrung, Lesekültur, Schriftlichkeit 337

Den Psalter, den der Kaiser, wenn er durch die Lande ritt, zu benutzen pflegte,
trug Bischof Otto unter seinem Sattel bei sich93. Albert von Stade berichtet über
Hildegard von Singen (f 1179), die hl. Frau habe, ehe sie ins Kloster eingetreten
sei, nichts weiter gelernt als den Psalter; das habe dem üblichen Wissens^ und
Bildungsstand· adliger Mädchen (mos nobilium puellarum) entsprochen94.
Der voikssprachliche Psalter des späten Mittelalters trug erheblich dazu bei, das
soziale Spektrum seiner Leser auszuweiten. Im Idealfall lag eine Psalterhandschrift in
der Kirche öffentlich aus. Zur Lektüre eingeladen waren lesefähige Fromme aus
allen Bevölkerungsschichten, Alle Christen sollten, wie es Bruder Eggebrecht, ein
Lesemeister der Dominikaner im 13. Jahrhundert formulierte, an den eVierzig
gnaden von dem salter* Anteil gewinnen. Den Inhalt dieser cVierzig gnaden5
beschrieb er näherhin so: Swer die psalmodie mit andaht singet, der gewinnet dise vier^ich
tvgent. Da^ hat gesprochen sant Augustinus an dem bvche von der chraft des salters. Es ist
in der Tat nicht wenig, was der Dominikanertheologe dem Psalter alles zutraut: Er
macht die Seele groß und das Herz fröhlich, er ist ein Brunnen der Freude und
eine Quelle der Tränen, die der Sünden wegen vergossen werden; er bringt den
rechten Glauben hervor, läßt Gott schauen und betrübt den Teufel95.
Bruder Eggebrechts Lob des Psalters hat in der Geschichte christlicher Fröm-
migkeit Tradition. Bereits Brun von Querfurt (f 1009) hatte die Auffassung vertre-
ten, im codex psalmorum seien alle Worte aus dem Munde Gottes, die Summe des
Heils und das Leben des Menschen sicher beschlossen96. ,Im Buch der Psalmen',
versicherte der benediktinische Reformtheologe Johannes von Kastl (f nach 1426),
,ist die Summe der ganzen theologischen Wissenschaft'97.

93
Herbordus, Vita Ottonis episcopi Babenbergensis (MGH SS 12) S. 750, - Der Trierer Chorbischof
Thegan hingegen hatte an Kaiser Ludwig dem Frommen kritisiert, daß er sich 2u viel dem
Psalmensingen und dem Lesen heiliger Schriften (occupatio psalmodiae et lectionum assiduitas) gewidmet
habe. Vgl. Theganus, Vita Hludowici imperatoris c. 20 (MGH SS 2) S. 595. Was Thegan kritisierte,
hob Erzbischof Agobard von Lyon lobend hervor: des Kaisers assiduitas orationum, in psalmis et
bymnis et canficis spiritaiibus. Vgl. Ep. 15,6 (MGH EE 5) S. 225.
94
Annales Stadenses auctore Alberto (MGH SS 16) S. 330: nichil umquam didicerit [Hildegardis], nisi
solum psalterium more nobilium puellarum.
9:>
HELGA UNGER, Geistlicher Herzen Bavngart. Ein mittelhochdeutsches Buch religiöser Unterweisung
aus dem Augsburger Franziskanerkreis des 13. Jährhunderts. Untersuchungen und Text, München
1969, S. 443: De% salters gesanch machet die sei schon, er ladet die engel %e helfe, er vertribet die vntvgent, er
machet beiticb, er spiset die selt er tiliget die svnde, er ist gelich dem heiligen almvsen, er gebirt rehten gelavben,
er Ivbret als div svnne, er geiget got, er betrübet den tievel, er leschet vn^imlicben willen, er ist ein öle der
barmber^icheit vnd ist ein brmne der vraevden. Er ist ein vsgerweltes stvcbche der engel vnd machet pittricheit
sv%%e. Er vertribet allen %prn vnd erfvüet alliv dinch. Er be^aichent alliv dinck vnd lert elliv dinch. Er machet
di sei grO% vnd machet den mvt reine. Er machet da% her^e vrolich vnd machet den menschen chlar. Er enslivyet
die sinne vnd lert volcbomenbeit. Er machet vraevde ^wischen sei vnd libe vnd machet begirde des himelriches. Er
machet ein geistlich fivr an dem bergen vnd ist ein i(yversiht der saelicheit. Er ist ein vohhomenbeil der arbeit
vnd ist ein bechantnvsse des waren libtes. Er ist ein brvnne der heilicheit vnd ist ein cbestigpnge der ivngent vnd
git ein chvnichrich vf der erde vnd benimet die tracheit der sele. Er ist ein wunderlich herhorn vnd git ^pversiht
gotes barmher^icbeit. Er machet weinen vmb alle svnde vnd machet got lobent vmb alle gutaet.
96
Vgl. HEINRICH GISBERT Voicr, Brun von Querfurt. Mönch, Eremit, Erzbischof der Heiden und
Märtyrer, Stuttgart 1907, S. 162, 315 Anm. 629.
97
So in seinem Kommentar zur Regel des hl. Benedikt: In libro psalmorum consummatio est totius theologtcae
paginae. Vgl. JOSEF SUDBRACK:, Die geistliche Theologie des Johannes von KastL Studien zur

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338 Klaus Schreiner

Alle christlichen Frommen sollten an den geistlichen Früchten des Psalters


Anteil gewinnen. Bemühen um den Abbau ständisch bedingter Wisscnsbarricren
schloß alier nicht aus, daß sich daneben Traditionen herausbildeten, welche, gestutzt
auf Hrwägungen theologisch-systematischer Art, die Verbindung von Adel und
Bildung von neuem zur Geltung brachten. Der Verfasser des Albert dem Großen
zugeschriebenen 'Mariale* zog aus apriorisch gesetzten Prämissen den Schluß, daß
sich Maria gleichermaßen durch höchsten Adel und höchste Bildung auszeichnete.
Marias höchster Rang unter allen menschlichen Geschöpfen war anscheinend nur
in unüberbietbaren Superlativen denk- und beschreibbar. Die von dem Anonymus
erhobene Behauptung, daß sich Maria sowohl durch 'höchsten Adel als auch durch
höchste Bildung ausgezeichnet habe, suchte er durch folgendes Argumentationsmu-
ster zu erhärten: Tiefste Demut, die Maria unstreitig bewiesen habe, setze suprema
dignitas et nobilitas voraus, konkret: eine Person, die sich durch ihre nobilissima
genealogia von anderen Personen deutlich abhebe. Vollkommene Demut gebiete ein
Höchstmaß an Erniedrigung. Nur als Frau von höchstem Adel sei Maria zu tiefster
Unterwürfigkeit fähig gewesen98. Weil Maria an der Vollkommenheit ihres Sohnes
Anteil hatte, seien ihr Un- und Nichtwissen (ignorancia} fremd geblieben. Als Licht
der Welt habe Maria alle freien Künste (artes liberales) beherrscht; vollkommene
Kenntnis der Heiligen Schrift (perfecta cognitio omnium Scripturarum) und der göttli-
chen Heilsgeheimnisse (perfecta cognitio Trinitatis\ perfecta cognitio mysterii Incarnationis)
sei ihr eigen gewesen; ihren eigenen künftigen Lebensweg habe sie erkannt ,durch
Offenbarung und im Spiegel des Gelesenen' (per revelationem et in speculo lectionum)^.
Maria, argumentiert Pseudo-Albertus, habe nachweislich den Psalter und die
Propheten gelesen. Sie müsse deshalb auch imstande gewesen sein, das Gelesene
zu verstehen. Denn: Lesen ohne Verstehen sei im Grunde nichts anderes als
Nichtwissen. Also: Maria beherrschte die Grammatik (scivit grammaticam)^ die erste
der sieben freien Künste, ohne die Gedachtes und Geschriebenes überhaupt nicht
zu verstehen sei100.
Nützlich und notwendig ,zum Verständnis der Hl. Schrift und zur Widerlegung
von Häresien' (ad scientiam sacre scripture et adberesum destructioneni) sei außerdem die
Logik. Schreibe doch der Kirchenvater Hieronymus, daß das Buch Job Annahmen
(assumpcioms)) Schlußfolgerungen (conclusiones), Definitionen (definiciones) und Be-
weisgänge (argumentaciones) enthalte, die ohne Kenntnisse der Logik nicht zu ent-
schlüsseln seien. Ergo: Maria verfügte über sie, war sie doch kraft göttlicher
Erwählung und Begnadung befähigt, die Geheimnisse der HL Schrift zu erfassen101.
Es sind stets die gleichen Argumentationsmuster, deren sich der Autor bedient.
Fest stand für ihn die Tatsache, daß Maria die Hl. Schrift lesen und verstehen

Frömmigkeitsgeschichte des Spätmittelalters (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des
Benediktinerordens 27,1) Münster i. W. 1967, l, S. 341 Anm. 426.
98
Albertus Magnus, Mariale sive CCXXX quaestiones super evangelium, quaest. 25, hg. von AUGUSTUS
und AEMILIUS BORGNET, Parisiis 1898, S. 53—54. Die Frage, die dieser Antwort zugrunde liegt,
lautet: Utrum matrem D ei congruat nobilem esse secundum carnem^
»> Ebd. S. 159, 165, 168.
100
Ebd. S. 159 f.
101
Ebd. S. 161.

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. Manenverehrung, Lesekültür, Schriftlichkeit 339

konnte. Aufgrund dieser für ihn unbestreitbaren Prämisse legte er dann dar, welcher
Kenntnisse Sehrifttektüre und Schriftverständnis bedurften. Am Ende kam dann
heraus, daß das Lesen und Verstehen der Hl. Schrift nicht nur grammatikalische,
logische und rhetorische Kenntnisse voraussetzten; selbst in der Musik, in der
Astronomie, Geometrie und Arithmetik mußte ein vollkommener Bibelleser bewan-
dert sein102.
Zeitgebundene Interessen und zeitgeschichtliche Bezüge prägten das Bild der
lesenden und Wissenschaft treibenden Maria. Zu ermitteln ist außerdem, welche
normative Geltung und welche identitätsbildende Kraft einem solchen, an traditio-
nellen Überzeugungen und aktuellen Bedürfnissen geformten Marienbild eigentlich
zukamen. Im Kontext spätmittelalterlicher Marien Verehrung erfüllte die lesende
und bücherliebende Maria eine doppelte Funktion: Frauen, deren Lese- und Bil-
dungsbedürfnisse von hartgesottenen Traditionalisten in Frage gestellt und kritisiert
wurden, schufen sich in der lesenden Maria eine Symbol- und Legitimationsfigur,
die rechtfertigte, was Träger und Verwalter überlieferten Heils- und Bildungswissens
einschränkten, kritisierten und ablehnten. In Predigten und Bildern wurde die
lesende Maria als normgebendes Vorbild für erzieherische Zwecke eingesetzt.
Vielfalt und Widerspruch, nicht Uniformität bestimmten Formen und Inhalte der
Marienverehrung.
Zur imitatio Mariae gehörte das Lesen der Hl. Schrift. Lesen war ein Element
der von Maria vorbildhaft verkörperten regula vitae. Dessenungeachtet meldeten
sich im hohen und späten Mittelalter Theologen zu Wortj die das anders sahen.
Auf die Frage, ob sich auch Frauen mit theologischer Wissenschaft (scientia sacre
scripturae) befassen sollen und dürfen, antwortete zu Anfang des 13. Jahrhunderts
der Dominikaner Heinrich von Gent folgendes: ,Niemand soll in dieser Wissen-
schaft unterrichtet werden, es sei denn, daß er mit ihren Geheimnissen vertraut
sein sollte, damit er sie anderen gegenüber öffentlich überzeugend ausführen und
Gegnern gegenüber verteidigeri könne. Dies steht einer Frau nicht zu: Es ist ihr
nicht erlaubt, in der Öffentlichkeit Unterricht zu geben ... Wegen der Schwäche
ihres weiblichen Verstandes ist es ihr sogar nicht möglich, die dazu erforderliche
Vollkommenheit in dieser Wissenschaft zu erreichen; im Gegenteil, wenn sie sich
in die Verborgenheiten dieser Kenntnis vertiefen sollte, dann würde sie durch
Irrgang eher rückwärts gehen, als daß sie vorwärts ginge f .. Ein kluger Gelehrter
wird einer Frau von dieser Wissenschaft nur dasjenige erklären, was für sie nötig
und zuträglich ist und nichts weiter, auch wenn sie mehr davon erfahren wollte.
Denn Frauen sind darauf begierig, Dinge, zu wissen zu bekommen, die ihnen nicht
nützlich sind ... Darum: Sehr unvernünftig handeln jene, die Frauen Unterricht
geben, außer über das, was für sie angebracht und förderlich ist, vor allem aber
handeln sie unvernünftig, wenn sie ihnen die Geheimnisse der Heiligen Schrift
auslegen oder ihnen diese in der Volkssprache zu lesen geben/103

™ Ebd. S. 163 f.
103
Hcnricus a Gandavo, Summa quaestionum ordinarium, Parisiis 1520 (Reprint Louvain—New
York—Padcrborn 1951), f. 84. Zitiert nach der Übersetzung von JORIS REYNAERT, Mystische
Bibel Interpretation bei Hadewijch, in: Grundfragen christlicher Mystik, hg. von MARGOT SCHMIDT
in Zusammenarbeit mit DIETER R. BAUER, Stuttgart—Bad Cannstatt 1987, S. 123—137, hier S. 125.

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340 Klaus Schreiner

Philipp von Novara (f zwischen 126 und 1264), ein renommierter lombardi-
scher Rcchtsgclehrtcr, trat dafür ein, daß Frauen überhaupt nicht lesen und schrei*
ben lernen sollten, weil sie diese Fähigkeiten nur dazu nutzen würden, gegen die
Gebote der Keuschheit zu verstoßen. Es ist kaum zu glauben, aber er schrieb
wirklich: ,Eine Frau soll man nicht im Lesen und Schreiben unterrichten, außer
wenn sie eine Nonne werden will. Denn vom Lesen und Schreiben der Frauen ist
manches Übel gekommen. Es gibt nämlich Männer, die es wagen, ihnen Briefe mit
Dummheiten und Bitten in Form von Liedern oder Gedichten oder Erzählungen
zu übergeben, zu schicken oder zuzuwerfen, was sie nicht mündlich zu bitten oder
zu sagen wagen würden und auch nicht durch Boten entbieten.*104 Selbst wenn
eine Frau keinerlei Neigung zum Bösen hätte, würde es gemeinhin dem Teufel
doch gelingen, sie dazu zu bringen, derartige Briefe zu lesen und zu beantworten.
In einem solchen Falle aber würde ,die Schwäche der natürlichen Beschaffenheit
der Frau* dazu führen, daß sich daraus eine sittlich gefährliche Korrespondenz
entwickeln würde.
Bildung zu besitzen und Verstand zu haben, waren für Philipp von Novara
keine Ziele, die anzustreben sich für Frauen ziemte. Junge Mädchen, schrieb
er in seiner Tugendlehre, müßten lernen, gehorsam zu sein, ,weil nämlich unser
Herrgott bestimmt hat, daß die Frau immer in Untertänigkeit und Abhängigkeit
sei*105. So zu argumentieren entsprach dem theologischen common sense der
Zeit. Philipp von Novara war mit seiner Ablehnung weiblichen Bildungsstrebens
kein Einzelgänger. Eine Frau, wurde auch von anderen gesagt, solle sittlich
vollkommen sein, aber nicht danach streben, ihre intellektuellen Fähigkeiten
und Fertigkeiten zu verfeinern. Eine Frau, beteuerte Thomasin von Zirklaere
in seinem 'Wälschen Gast9 (1215/16), brauche nur so viel Verstand, um ,hößsch
und gesittet* zu sein. Und er fuhr fort: ,Wenn sie mehr Verstand hat, so soll
sie den Anstand und die Weisheit besitzen, nicht zu zeigen, wieviel Verstand
sie hat.*106 Ein Mann hingegen solle in vielen Wissenschaften bewandert sein.
Dem Lebensstil einer Edelfrau hingegen sei es angemessen, daß sie gesittet und
von guter Abstammung ist, nicht aber zu viel Klugkeit besitzt. Denn: ,Ein£altig-
keit steht den Damen gut an.*107
In einem Gedicht des Teichners aus der Mitte des 14. Jahrhunderts ist nachzule-
sen: ,Es ist unnötig, daß eine Frau viel reden kann. Wozu soll sie reden können?
Wenn sie für das Ansehen des Hauses sorgt und wenn sie das Paternoster kann
und wenn sie die Bediensteten tadelt und zu rechtem Benehmen anhält, dann
versteht sie genug vom Reden, so daß es keiner Disputationskunst bedarf aus den
sieben hohen Künsten.*108

Zur Sache vgl. auch JOHANNES BEUMER, Die Stellung Heinrichs von Gent zum theologischen
Studium der Frau, in: Scholastik 32, 1957, S. 81-85.
104
Les quatre äges de Phomme.'Traite moral de Philippe de Novare, hg. von MARCEL DE FREVILLE,
Paris 1888, S. 16. Zitiert nach der Übersetzung von BÜMKE (wie Anm. 74) 2, S. 475.
105
Les quatre äges (wie Anm. 104) S, 14; BUMKE (wie Anm. 74) 2, S. 482.
10
< BUMKE (wie Anm. 74) 2, S. 482 f.
107
Ebd. S. 483 und Anm. 160: einvalt stet den vrowven wo/.
108
Ebd. S. 483.

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Marienverehriing, Lesekultur, Schriftlichkeit 341

Der Ipmbardisehe Jurist Philipp von Novära plädierte für eine Ausbildung von
Mädchen und Frauejci iin Spinnen und Nähen, nicht für den Erwerb intellektueller
Fähigkeiten ijnd Fertigkeiten. Eine arme Frau, behauptete er, müsse spinnen und
nähen können, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen; eine reiche deshalb,
um sich über die Arbeit anderer ein angemessenes Urteil bilden zu können. Keine
Frau, die sich zu einer guten Hausfrau heranbilden wolle, dürfe diese Tätigkeiten
verachten, ,da sie selbst der Jungfrau Maria nicht zu niedrig waren'109. Die lesende
Maria blendete der Standes- und geschlechtsbewußte Jurist aus seinem Marienbild
aus* Eingewurzelte Vorurteile trugen dazu bei, die Lebensgeschichte Marias selektiv
zu lesen. Der elsässische Humanist Jakob Wimpfeling (f 1528) empfahl Straßburger
Bürgern, ihre Söhne in die Lateinschule zu schicken; Töchter hingegen sollten,
dem Beispiel Marias folgend, durch den Erwerb manueller Fertigkeiten ihrer
Bestimmung gerecht werden110.
Halbherzig sprach sich der Augustinereremit Aegidius Romanus (um 1243—
1316), ein Schüler des Thomas von Aquin, für Mädchen- und Frauenbildung aus.
In seiner Schrift eDe regimine principum9, einem Fürstenspiegel, den er Philipp
dem Schönen von Frankreich gewidmet hätte, machte er es allen Bürgern, insbeson-
dere aber Adligen und Königen zur Pflicht, sich der Erziehung ihrer Töchter

109
Les quatre äges (wie Anm. 104) S. 16. Vgl. DAGMAR THOSS, Frauenerziehung im späten Mittelalter,
in: Frau und spätmittelalterlicher Alltag (Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realien-
kunde Österreichs 9) Wien 1986, S. 301-323, hier S. 304.
110
Jacob Wimpfeling, Germania, übers, von ERNST MARTIN, Strassburg 1885, S. 77 f. 'Von der Erziehung
der Töchter': ,Die Eltern sollen auch mit Sorgfalt ihre Töchter vom Umherschweifen, Hin- und Herlau-
fen, vom vielen Schwatzen, vom Müssiggang abhalten. Seien sie auch reich und vornehm, so sollen sie
sie doch zur Handarbeit gewöhnen damit sie Ueppigkeit und böse Anfechtungen überwinden können.
Man heisse sie sich ein Beispiel nehmen an den Töchtern des Octavianus Augustus und Karls des
Grossen, von denen der eine der mächtigste unter den lateinischen, der andere unter den deutschen
Kaisern war, und welche trotzdem ihre Töchter zu Frauenarbeiten anhielten. Denn ihnen beiden war
die Unbeständigkeit des Glücks wohlbekannt, sowie auch die Menge und Grosse der Laster, zu denen
der Müssiggang anreizt. Ja noch mehr sollen sie der allerheiligsten Jungfrau und Mutter Gottes nachfol-
gen, von welcher der heilige Hieronymus bezeugt dass sie im Tempel mit dem Weben sich beschäftigt
habe... Es sollten sich die Töchter von Bürgern und Rittern nicht schämen noch verdriessen lassen das
zu thun, wovon sie wissen können, dass die Frauen und Töchter der Kaiser und Fürsten es unermüdlich
gethan haben.' Zur Pflicht, Söhne von Adligen und Bürgern in der lateinischen Sprache unterrichten
zu lassen, vgl. ebd. S. 80 f. — Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang allerdings auch dies: Bereits
in der spätmittelalterlichen Predigt ist Maria als Inbegriff von Fleiß und Arbeitsamkeit gerühmt wor-
den. In einer deutsch gehaltenen (oder ins Deutsche übersetzten?) Predigt sagte Nikolaus von Dinkels-
bühl: Die Tatsache, daß Maria mit der nadel und mit der Spindel sich und ihren Sohn ernährte, solle allen
Faulen und Müßiggängern, die/r speis ntussig essen, ein straff sein. Daß Christus mit seiner Muetter arbait
ernährt werden wollte, s'ei ein sicheres Zeichen, daß ihm Arbaitten ml gefeit und der Müsgang nicht gefeit
(Cgm 514, f. 112- ). Von Lektüre und Büchern ist in diesem Kontext nicht die Rede. In seinen
lateinischen Predigten betont Nikolaus von Dinkelsbühl Marias oncio und contemplacio (s. oben S.
329). — Um darzutun, daß Gott zur Mutter Jesu eine verachtete, unedle und arme Magd (abiecta,
ignobilis, inopis ancilla) erwählt habe, bringt Martin Luther in Erinnerung, daß es zum Pflichtenkrcis
der contemptissima puella gehörte, das Haus zu fegen und Pfannen zu spülen (domutn verrebat patinasqm
elttebat). So in einer zwischen 1514 und 1520 gehaltenen Predigt In visitatione beate Marie virginis*
(D. Martin Luthers Werke, 4, Weimar 1886, S. 633). Auch in Luthers Beschreibung von Marias
I>eben ist von Büchern nicht die Rede,

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342 Klaus Schreiner

anzunehmen 111 . Ein Gemeinwesen, argumentierte er, dem am tugendhaften Wandel


seiner Frauen nicht gelegen sei, bringe sich um die Hälfte seines Glucks, Frauen
sollen opcra licita et bonesta vollbringen, von denen sittlich disziplinierende Wirkun-
gen ausgehen. Für ehrbar hält Aegidius Romanus Weben, Spinnen und Seidenwerk.
Sofern aber Standesehre (diversitas personarutri) und Landessitte (mo$ patriae) es nicht
zulassen, daß hochgeborene Töchter Handarbeiten verrichten, sollen sie sich mit
Literatur befassen, ihrer Bücherliebe (amor literarum) nachgehen und öfters zum
Buch greifen 112 . Kurz: Adlige Frauen sollen lesen, wenn sich manuelle Tätigkeit
nicht mit ihrer Standesehre vereinbaren läßt. Adels- und Königssöhne hingegen
sollen sich nicht nur mit Buchlektüre begnügen, sondern freie Künste (liberales
disciptinae) studieren113. Es stehe zwar allen Menschen an, sich mit Literatur zu
befassen (cognoscere literas), um klüger zu werden für das sittliche Handeln. Für den
Erwerb der prudentia virtntum moralium mit Hilfe von Büchern gebe es aber soziale
Grenzen und ökonomische Zwänge. Armen, denen ,efs am Lebensnotwendigen
mangelt (pauperes, non habentes necessaria vitae}^ würden einen ,erlaubten Entschul-
digungsgrund' (licita excusatio) besitzen, ,wenn sie sich nicht um das Studium von
Literatur bemühen' (si non insudant studio literarum)™. Körperlich zu arbeiten, mache
zudem für den Erwerb von Bildung ungeeignet. Bewegung (motus) und körperliche
Anstrengung (corporales labores) würden ,hartes Fleisch* (caro durä) entstehen lassen,
das intellektuelle Reflexion' (consideratio per intellectum) und ,Feinheit des Geistes'
(sublimitas mentis) behindert115.
Unentschlossen und zwiespältig äußert sich auch Francesco da Barberino in
seinem 'Reggimento e costumi di donna' (um 1315). Mütter, betont er auf der
einen Seite, sollen ihre Töchter im Lesen und Schreiben unterrichten lassen. Würden
nämlich ihre Töchter einmal Land erben, könnten sie das besser verwalten, wenn sie
lesen und schreiben können116. Zugleich macht Francesco eine schichtenspezifische
Einschränkung: Nur Töchter des hohen Adels bedürfen literarischer Bildung;
Töchter des niederen Adels, von Richtern und Kaufleuten hingegen sollen sich
nicht mit Lesen und Schreiben befassen, sondern auf den Erwerb hausfraulicher
Fertigkeiten bedacht sein: sie sollen lernen, zu kochen, zu spinnen und zu nähen.
„Auch wenn sie es nicht nötig haben, selbst zu kochen, werden ihnen die erworbe-
nen Fähigkeiten bei der Überwachung des Küchen- und Tafeldienstes nützlich sein;

111
Aegidius Romanus, De regimine principum libri III, Romae 1607 (Reprint Aalen 1967), S. 343:
Qtiod universaliter omnes c/ues, et multo magis nobiles et Reges, et Principes debent, solicitari erga filios, ne
velint innere ochse. — Die besondere Erziehungspflicht, die Adlige, Fürsten und Könige gegenüber
ihren Kindern zu erfüllen haben, beruht nach Ansicht des Aegidius Rbmanus darauf, daß sich die
Tugenden und Laster ihrer Kinder stärker zum Nutzen oder Schaden des Reiches auswirken als
diejenigen von Bürgerskindern (ebd. S. 301, 303).
112
Ebd. S. 343—345. — Vgl. dazu CHRISTIANE SCHRUBBERS, Regimen und Homo Primitivus. Die
Pädagogik des Ägidius Romanus, in: Augustiniana 32, 1982, S. 137—188, hier S. 167 f.
113
Ägidius Romanus, De regimine principum (wie Anm. 111) S. 303.
114
Ebd.
115
Ebd. S. 339.
116
Francesco da Barberino, Reggimento e costumi di donna, hg, von GIUSEPPE E. SANSONI (Collezione
di 'Filologia Romanza' 2) Turin 1957, S. 344. Vgl. SUSAN GROAG BELL, Medieval Women Book
Owners: Arbiters of Lay Piety and Ambassadors of Culture, in: Journal of Woman in Culture and
Society 7, 1982, S. 755 f.

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Marienverehrüng, Lesekultur, Schriftlichkeit 343

Spinnen und Nähen hingegen können ihnen helfen, melancholische Stimmung zu


vertreiben", die äü$ Nichtstun zu entstehen pflegt117.
Gleich Francesco de Barberiflo argumentiert der anonyme Verfasser der
e
Echecs amoureux' (1370/80): »wenn das Mädchen so hohen Ranges ist, daß es
keine Handarbeit verrichten will, mag es lesen lernen, für die übrigen gilt das
Übliche, also Nähen, Spiruien, Weben etc."118 Knaben sollen zur Schule gehen,
Jünglinge die freien Künste, Jurisprudenz, Natur- und Heilkunde studieren.
Selbst einem Mann wie Dionysius von Rijkel (f 1471), dem berühmten Kartäu-
sertheologen, der unsäglich viel geschrieben hat und wie kein anderer Autor des
15. Jahrhunderts das theologische, moralphilosophische und sozialethische Wissen
seiner Zeit beherrschte, ist es nicht gelungen, aus dem Schatten einer langen
Tradition herauszutreten; auch er sparte Mädchen aus seinem Büdungs- und Erzie-
hungsprogramm aus. Als Auszubildende sind Mädchen in seinen Erziehungsschrif-
ten nicht anzutreffen. Töchter „sollen mit Handarbeiten beschäftigt werden, weil
Müßiggang aller Laster Anfang ist"119. Dionysius Cartusianus stellte sich eine
Schule für Jungen vor, die religiöses Grundwissen — das 'Vaterunser3, das 'Ave
Maria9 und das 'Credo' — vermittelt, Lesen und Schreiben in der Muttersprache
lehrt. Klerikales Interesse kommt ins Spiel, wenn eine so eingerichtete Schule
auch in die Anfangsgründe des sernto latinus einführen soll, damit heranwachsende
Jünglinge in der Lage sind, bei der Messe würdig zu dienen120.
Soziale Hindernisse, die vom Schulbesuch abhalten, will Dionysius nicht gelten
lassen. Arme Schüler haben Anspruch auf Hilfe. Es darf ihnen kein Schulgeld
abverlangt werden, Räte und Amtsträger der Städte sollen, auch wenn sie ihre
Kinder in auswärtige Schulen schicken, für die Kinder weniger wohlhabender
Eltern Schulen in der eigenen Stadt unterhalten121. Ungeachtet aller sozialen Offen-
heit bleibt dennoch festzuhalten: Die von Dionysius geforderte Schulpflicht gilt
nur für Schüler männlichen Geschlechts. In die Vorbehalte des Kartäusers mischten
sich zeitübliche Vorurteile, die physische und intellektuelle Schwächen der Frau zu
naturbedingten weiblichen Bestimmungsmerkmalen machten.
In dem Zensuredikt, das Erzbischof Berthold von Mainz 1485 erließ, um die
Übersetzung fremdsprachlicher Texte ins Deutsche der Kontrolle Mainzer und
Erfurter Professoren zu unterwerfen, wird dem femimus sexus ausdrücklich unter-
stellt, daß ihm der erforderliche intellectus fehle, um Codices sacrorum litterarum
gefahrlos lesen zu können122. Mit der Verführbarkeit und schwachen Vernunft der
Frauen hing es auch zusammen, daß Beginen nur deutschsprachliche Erbauungsbü-
cher lesen sollten, indes ihnen die Lektüre muttersprachlicher Bibeltexte ausdrück-

117
THOSS (wie Antn. 109) S. 304.
118
Ebd. S. 305.
119
HARALD DICKERHOF, Schule, religiöse Erziehung und Kirchenreform in den pädagogischen Schrif-
ten des Kartäusers Dionysius von Rijkel (f 1471), in: EccJesia Militans. Studien zur Konzilien- und
Reformationsgeschichte, hg. von WALTER BRANDMÖLLER u. a., Paderborn 1988, S. 17—51, hier S.
34.
'*> Ebd. S. 36.
121
Ebd. S. 37.
122
Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, hg. von KURT ALAND,
Tubingen *1967, l, S. 494.

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344 Klaus Schreiner

lieh untersagt wurde123. In die Wirkungsgcschichtc derartiger Auffassungen gehö-


ren auch alle jene Stimmen des 16. Jahrhunderts, denen es gefahrlich und verderb-
lich erschien, das gcmüt der Frauen, welches seiner selbst nit mächtig / ffir und fAr %u
dem buth greife124. Auf Maria konnten sich so argumentierende Autoren nicht
berufen.
Wie die Betroffenen selbst auf derartige Vorhaltungen reagierten, ist schwer
sagen. Aus ihren Repliken und Reaktionen entstand kein literarisches Erzähl-
und Überlieferungsgut. Christine von Pisan (1364—1430), eine temperamentvolle
und qucrdenkende Intellektuelle, wehrte sich. Als ihr zum Vorwurf gemacht wurde,
,daß es für Frauen unschicklich sei, gebildet zu sein, wie es ja nur wenige von
ihnen sind', antwortete sie kühn und unverfroren: Für Männer sei es noch viel
weniger schicklich, ,ungebildet zu sein, wie es ja viele von ihnen sind*125. Christine
de Pisan brachte zur Sprache, was Frauen des späten Mittelalters bewegte, die sich
durch Ungereimtheiten der männlichen BildungsgesellscKaft verletzt und provoziert
fühlten. Ihre Kritik kleidete die hellwache, des Gedankens und der Schrift mächtige
Gattin eines Notars am Hof des französischen Königs, früh verwitwet und Mutter
von drei Kindern, in den Entwurf einer 'Frauenstadt* (Cite des Dames), die Frauen
die Gelegenheit geben sollte, sich uneingeschränkt der ,süßen Lust des Wissens
und Lernens' hinzugeben. Errichtet werden sollte diese Stadt auf dem ,Feld der
Literatur", ,einem fetten und fruchtbaren Boden', auf dem ,alle Früchte wachsen,
sanfte Flüsse fließen und die Erde überreich ist an guten Dingen jeglicher Art'126.
Christines Utopie sollte für Frauen erreichbar machen, was diesen das zeitgenössi-
sche Bildungswesen vorenthielt: Aneignung von Wissen, Suche nach Heil, Selbstfin-
düng durch Lektüre. Als Schutzpatronin für ihre 'Frauenstadt3 wählte sich Christine
die Jungfrau Maria aus. Sie wird gewußt haben, weshalb sie das tat.
Falsch wäre es, aus der Summe der hier erwähnten Einzelstimmen den Schluß
zu ziehen, in dem Streit um Nutzen und Nachteil von Mädchen- und Frauenbildung
hätten rückständig argumentierende Männer die bestehende Bildungsordnung ver-
teidigt, fortschrittlich gesinnte Frauen hingegen um Rechte gekämpft, die ihnen
von einer verstockten Männergesellschaft vorenthalten wurden. Bei genauerem

123
ROLF ZERFASS, Der Streit um die Laienpredigt. Eine pastoralgeschichtliche Untersuchung zum
Verständnis des Predigtamtes und zu seiner Entwicklung im 12. und 13. Jahrhundert, Freiburg—
Basel—Wien 1974, S. 345 f.; KLAUS SCHREINER, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und
Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im
späten Mittelalter und in der Reformation, in: Zeitschrift für historische Forschung 11, 1984, S.
257-354, hier S. 289.
124
ERICH KLEINSCHMIDT, Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Voraussetzungen und Entfaltung ·
im südwestdeutschen, elsässischen und schweizerischen Städteraum, Köln —Wien 1982, S. 184. Zur
Kritik der 'Lesesucht9 von Frauen im 18. Jahrhundert vgl. KARINA KROJ, Die Abhängigkeit der
Frau in Eherechtsnormen des Mittelalters und der Neuzeit als Ausdruck eines gesellschaftlichen
Leitbildes von Ehe und Familie. Zugleich eine Untersuchung zu den Realisierungschancen des
zivilrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes, Frankfurt a. M. 1988, S. 219 ff.
125
MARINA WARNER, Maria. Geburt, Triumph, Niedergang — Rückkehr eines Mythos?, München
1982, S. 223.
126
Christine de Pizan, Das Buch von der Stadt der Frauen. Aus dem Mittelfranzösischen übers., mit
einem Kommentar und einer Einleitung versehen von MARGARETE ZIMMERMANN, Berlin 1986, S.
48.

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Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 345

Hinsehen entpuppt sieh der Schlagabtausch als Kontroverse zwischen Apologeten des
Herkommens und aufgeschlossenen Neuerern. Nicht Gesehlechtszugehörigkeit allein
markiert die Grenzlinie zwischen den Verfechtern des Status quo und den Anwälten einer
auch für Frauen zugänglichen Bücherwelt. Was trennte und parteibildend wirkte, waren
insbesondre Vorstellungen über zeitgemäße und unzeitgemäße Reformen, die gleicherma-
ßen in den Köpfen von Männern und Frauen beheimatet waren.
Das Bildtingskonzept des Dominikaners Vincenz von Beauvais (f 1264) z. B.
trug nicht geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten Rechnung, sondern Erforder-
nissen einer hierarchisch gegliederten Ständegesellschaft. Sich mit Büchern zu
befassen, blieb seiner Auffassung nach Privileg derer, die von Arbeitserträgen
anderer leben, ohiie selber arbeiten zu müssen. Es lag in der Konsequenz der
bestehenden Sozialverhältnisse, wenn er Lektüre zu einer Standespflicht für Mäd-
chen aus adligen Familien machte. Vincenz von Beauvais tat dies an Hand von
Lesefrüchten, die er bei der Lektüre der Briefe des hl. Hieronymus mit Bedacht
ausgewählt und gesammelt hatte. Seine Zitatenlese besitzt programmatischen Cha-
rakter. An Laeta hatte der Kirchenvater geschrieben: Ihre zarte Zunge möge sie
süßen Psalmen widmen. Mit Buchstaben aus Elfenbein soll sie spielen, damit sie
auch beim Spielen lerne. Nicht Edelsteinen und kostbarer Seide, sondern Heiligen
Schriften (divini Codices) möge sie ihre Liebe schenken127. Eustochium, die Tochter
der Paula, hatte Hieronymus in seinem „berühmten Brief über die rechte Form des
asketischen Lebens"128 folgendermaßen ermahnt: ,Lies häufig, lerne soviel als
möglich. Mit dem Buch in der Hand überkomme Dich der Schlaf. Wenn Dein
Haupt vor Müdigkeit sich neigt, sinke es auf ein heiliges Blatt/129 Marcella,
einer Witwe, deren Haus in Rom den Mittelpunkt einer asketischen Bewegung
aristokratischer Frauen bildete, hatte Hieronymus nachgerühmt, daß sie ihn, wenn
er in Rom weilte, unablässig mit exegetischen und theologischen Fragen über die
hl. Schrift bestürmte130.
Um Überdruß am Lesen zu vermeiden, mahnt Hieronymus, solle es im Wechsel
mit Gebet (oracio) und Arbeit (operacio) geschehen131. Er erinnert an das Beispiel
der ägyptischen Klöster, die keinen aufnehmen würden, der nicht in der Lage sei,
eine handwerkliche Tätigkeit auszuüben. Auch der Hinweis auf Kaiser Augustus
fehlt nicht, der seine Töchter und seine Enkelinnen so erziehen ließ, daß diese mit
Wollarbeiten vertraut waren. Im Idealfall singe, wie Hieronymus an Laeta schreibt,
die Tochter aus gutem Hause ,heilige Lieder, und auf ihr Gebet folge Studium und
auf das Studium wieder Gebet; aber sie lerne auch, den Rocken zu halten, die
Spindel zu drehen und den Faden zu ziehen'132. Lesen, wie Hieronymus es sieht

127
Vincent of Beauvais, De eruditione filiorum nobilium (wie Anm. 48a) S. 177 (ebd. auch alle anderen
Stellen, die Vincenz von Beauvais aus den Briefen des Hieronymus zitiert). VgL Hieronymus, ep.
197,4 (MiGNE, PL 22, Sp. 871).
m
VON CAMPENHAUSEN (wie Anm. 78) S. 127.
129
Hieronymus, ep. 22,17 (MiGNE, PL 22, Sp. 404): Crebrius hget disce quamplurima. Tenenti codicem somnus
obrepat, et cadentem faciem pagina sancta susripiat.
130
Hieronymus, Commentariorum in epistolam ad Galathas libri tres (MiGNE, PL 26, Sp. 331): Certe
cum Romae eutm, rtumquam tarn festina me vidit, ui non de Scripturis aliquid inUrrogaret.
131
Vincent of Beauvais, De eruditione filiorum nobilium (wie Anm. 48a) S. 177.
132
Ebd. S. 178, Vgl. Hieronymus, ep. 107 (MIGNE, PL 22, Sp. 875).

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346 Klaus Schreiner

und in seiner Nachfolge Vinccnx von Beauvais, stillt nicht den Hunger nach
wertfreiem Wissen und kurzweiliger Unterhaltung, sondern ist ein Element asketi-
scher Lebensführung.
Der Domintkancrgcncral Humbertus von Romans (um 1200—1277) redete
nicht ständischen Beschränkungen das Wort, wenn er vornehmlich den Töchtern
der Reichen (fi/iae dhntuni) Lernen und Bücherstudium zur Pflicht machte, sondern
stellte soziale Bedingungen und gesellschaftliche Zwänge in Rechnung135, Nehmen
Töchter aus gutem, wohlhabenden Hause, legte er dar, ihre Lernchancen wahr,
lernen sie tentpQre opportuno den Psalter zu beten, desgleichen die marianischen
Hören, das Totenofficium sowie andere Gebete. Überdies eignen sie sich — gleich
Paula und Eustochium — Fähigkeiten und Fertigkeiten an, um die HL Schrift
verstehen zu können. Humbertus zitierte das Beispiel der hl. Agnes, die zur Schule
ging; er erinnerte an die Heiligen Katharina, Caecilia, Lucia und Agatha, die, wie
aus ihren Lebensbeschreibungen hervorgeht, alle lese-^chrift- und literaturkundig
(litteratae) gewesen waren. Als Vertreter eines Ordens, dessen Mitglieder studierten,
um im Interesse der salus animarum besser wirken zu können, konnte und wollte
Humbertus Frauen nicht das Lesen verbieten. Fromme Lektüre ebnete seiner
Auffassung nach den Weg zum ewigen Heil, Lesen stärkte die Moral; es zählte zu
den legitimen und notwendigen Verhaltensformen, in denen sich christliche Existenz
verwirklicht.
Ludovicus Vives (1492—1540) plädierte für Ausgewogenheit zwischen Lesen
und häuslicher Handarbeit. Er zählte zahlreiche Beispiele auf — sie reichen von
Penelope, den Königinnen Mazedoniens bis zu den Töchtern Karls des Großen —,
um zu belegen, daß die Bearbeitung von Wolle eine mit der Ehrbarkeit und dem
Adel einer Frau durchaus verträgliche Tätigkeit und Kunst sei (füit enim semper
lanificum honestae foeminae exercitamentum atque ars)13*. Dennoch gebühre dem Lesen
Vorrang (legere Optimum est}. Die vom Lesen müde gewordene Frau (lectione fessa)
solle nicht müßig gehen; sie soll Handarbeiten verrichten135. Im Idealfall soll jede
Frau und jedes Mädchen ,beide Künste* (duae artes) beherrschen: sie soll lesen und
schreiben lernen (discere literas) und sie soll gleichfalls lernen, Wolle und Flachs zu
bearbeiten (lanum et linum tractare}™6.

133
Humbertus de Romanis, Sermo ad juvenculas, sive adolescentulas seculares, in: Prediche alle donne
del secolo XIII. Testi di Umberto da Romans, Gilberto da Tournai, Stefano di Borbone, Milano 1978,
S. 48 f. — Vgl. dazu auch HELGA SCHÜPPERT, Frauenbild und Frauenalltag in der Predigtliteratur, in:
Frau und spätmittelalterlicher Alltag (wie Anm. 109) S. 103-156, hier S. 123, 149f.
134 Vivus, De institutione foeminae (wie Anm. 66) S. 8.
135
Ebd. S. 7.
136
Ebd. S. 6. — In der Praxis eine Synthese zwischen Handarbeit, Lektüre und Wissenschaft herzustel-
len, verursachte mitunter Spannungen und Konflikte. Christine von Pisan bringt innerfamiliäre
Widersprüche zur Sprache, wenn sie eFrau Vernunft* folgende Wort in den Mund legt: ,Dein eigener
Vater, ein bedeutender Naturwissenschaftler und Philosoph, glaubte keineswegs, das Erlernen einer
Wissenschaft gereiche einer Frau zum Schaden; wie du weißt, machte es ihm große Freude, als er
deine Neigung für das Studium der Literatur erkannte. Aber die weibliche Meinung deiner Mutter,
die dich, wie es für Frauen gemeinhin üblich ist, mit Handarbeiten beschäftigen wollte, stand dem
entgegen, und so wurdest du daran gehindert, in deiner Kindheit weitere Fortschritte in den
Wissenschaften zu machen* (Christine de Pizan, Stadt der Frauen [wie Anm. 126] S. 185).

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Marienvererwrung, Lesekültur, Schriftlichkeit 347

Lesen diente nach Auffassung des humanistisch aufgeschlossenen Theologen


Vives dem Aufbau einer besseren Moral, nicht der Vermehrung des Wissens, nicht
der Erweiterung der Phantasie, nicht der Berufsausübung, nicht der Unabhängigkeit
gegenüber dem eigenen Mann. Aus Büchern sollten Frauen Tugenden (yirtutes)
lernen137; lesen sollten Brauen, was den Geist zu Gott erhebt, dem Herzen Ruhe
verschafft und die Sitten besser macht138: die Evangelien, die Apostelgeschichte,
die apostolischen Briefe, die Schriften der Kirchenväter, die moralphilosophischen
Abhandlungen eines Platon,· Cicero und Seneca139. Frauen sollten insbesondere,
ehe sie in die Kirche gehen, zu Hause das Evangelium und die Epistel des jeweiligen
Tages lesen140. Weder Kriegsgeschichten noch Liebesaffären seien Lesestoffe, die
sich für Frauen eignen.
Alles in allem mag es überraschen, daß die lesende Mafia vornehmlich durch
erzählende Prosa und die Macht der Bilder (vgl. das folgende Kapitel) mittelalter-
lichen Frommen nahegebracht wurde. Die Verfasser normativer Texte griffen auf
die arbeitende Maria zurück oder ließen sich, falls sie zur geistig-religiösen Bildung
von Frauen positiv eingestellt waren, unausgesprochen durch Marias Leseverhalten
inspirieren und bestärken. Gleichwohl, es gibt Ausnahmen: Der franziskanische
Volksprediger Bernardinus von Siena machte aus Marias Verhalten beim Kommen
Gabriels eine erzieherische Maxime für junge^ unverheiratete Frauen. ,Laß Dir
sagenc, beteuerte er in einer seiner Predigten, ,wö der Engel Maria fand. Wo glaubst
Du, daß sie gerade war? Etwa am Fenster oder sonst mit einer Eitelkeit beschäftigt?
Nein. Sie war in ihrer Kammer eingeschlossen und las; Dir, Mädchen, zur Lehre,
daß Du keine Freude daran haben sollst, unter der Haustüre oder am Fenster zu
stehen, sondern zu Hause bleibst und Ave Maria und Paternoster betest oder, wenn
Du des Lesens kundig bist, mit frommer und guter Lektüre Dich beschäftigest:
Lerne das Offizium Unserer Lieben Frau und habe daran Freude/141 Der Gedanke
an Maria mag gleichfalls mitgespielt haben, wenn Bernardinus Ehemänner ermahnt,
ihre Frauen zum Lesen anzuleiten. Auf die Frage ,,Wollt Ihr Eure Frauen ehrbar
machen' antwortete er: ,Laßt sie lesen lernen. Denn ich warne Euch, ganz ohne
Unterhaltung können sie nicht leben, und wenn sie diese Unterhaltung in der
Heiligen Schrift suchen, umso besser für Euch; aber wenn sie sich nicht dafür
interessieren, werden sie sich mit nichtigen Eitelkeiten vergnügen/142

137
Vivus, De institutione foeminae (wie Anm. 66) S. 24.
138
Ebd. S. 20, 28.
139
Ebd, S. 27 £
140
Ebd. S. 28.
141
KARL HEFELE, Der hl. Bernhardin von Siena und die franziskanische Wanderpredigt in Italien
während des XV. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 1912, S. 232 f.
142
IRIS ORJGO, Der Heilige der Toskana. Leben und Zeit des Bernardino von Siena, München 1989,
S. 58. Vgl. S. Bernardino da Siena, Le prediche volgari, hg. von GIRO CANNAROZZI, Firenzc 1940,
5, S. 50: Voktt voi k vostre donne oneste? Fatele imparare lettera, ehe, t'aviso, ehe non possono stare san^a
diletto, e sefarai si diletiino nette Stritture, bon per te; ma se non vacberanno a quello, vacheranno in dilettarsi
in vanitä. Das Lesen der HL Schrift (le^ione della santa ScriUura) betrachtet Bernardinus als wirksames
Heilmittel gegen Wollust (lussuria). Um seiner Auffassung Nachdruck zu verschaffen, zitierte er den
hl. Hieronymus, der sagte: Ama la scien^ia della Scritfura santaf il Veccbio Testamente e Nuovo,
ingrassa/i di dilespwe dt Dia! Non Iroverai mat uomo isludioso dt le(terat ehe mai notabiUtnente sia lussurioso>

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348 Klau» Schreiner

Die emanzipativc Absicht und Wirkung derartiger Grundsätze braucht man


nicht zu überschätzen. Indessen enthält selbständige Aneignung von Wissen durch
Lektüre Chancen der Subjektwcrdung. Von bloß passiv hingenommener Unterwei-
sung ist nicht zu erwarten, daß sie in gleicher Weise zu einer durchdachten
Aneignung von Glaubcnswisscn, zur Sclbstreflexion und Selbstartikulation der
Glaubenden beiträgt,
Jungfrauen, so ließe sich Bernardinus zusammenfassend wiedergeben, sollen —
dem Beispiel Marias folgend — lesen, um gegen sündhafte Versuchungen gewappnet
zu sein. Verheiratete Frauen sollen sich, wie der Apostel Paulus gebot (1. Kor.
14,35), von ihren Männern belehren lassen. Bernardinus folgte allerdings nicht
blindlings seinem mit apostolischer Autorität ausgestatteten Gewährsmann, sondern
argumentierte mit einem geschärften Blick für Erfahrungstatsachen, die sich mit
der paulinischen Norm nicht mehr in Einklang bringen ließen. ,Ich meine freilich',
predigte er über das von Paulus Männern übertragene Lehramt, ,man ist heutzutage
vom alten Brauch abgekommen. Es gab eine Zeit, da die Männer so viel von
göttlichen Dingen wußten und so angelegentlich nach denselben strebten, daß sie
auch ihre Frauen darin unterrichten konnten. Von jener Zeit spricht der hl. Paulus,
wenn er im 14. Kapitel des 1. Korintherbriefes den Rat gibt: Si qua mulier vult
discere, interrogent viros suos, wenn ein Weib über etwas im Unklaren ist, frage sie
ihren Mann. Wenn sie also über eine Sache im Zweifel ist, soll sie nicht zu einem
Frate laufen, sondern zu ihrem Mann. Doch mir kommt es vor, als sei es gerade
umgekehrt, als wären die Männer in unsern Tagen so unwissend und besäßen so
wenig Kenntnis von göttlichen Dingen, daß die Frauen ihre Männer belehren
müssen/143 Gegenteilige Erfahrungen ließen an der Verbindlichkeit einer von
Paulus geäußerten Verhaltensregel Zweifel aufkommen; eine das Verhältnis der
Geschlechter betreffende biblische Norm bedurfte der Korrektur.

DIE MACHT DER BILDER: BILDER ALS ABBILDER ZEITGEBUNDENER


EINSTELLUNGEN UND TRÄGER NORMATIVER ERWARTUNGEN

Religiöse Texte speichern heilsbedeutsames Wissen, formulieren Erwartungen


und setzen Normen. Religiöse Bilder — solche des Mittelalters zumal — veranschau-
lichen, was von Theologen und Predigern der Kirche gedacht, geschrieben und
gepredigt wurde, ohne sich darin zu erschöpfen. Ihre Funktion ist vielfaltig. Wenn
spätmittelalterliche Maler darstellten, wie ein Engel der unfruchtbar gebliebenen
Anna die Empfängnis und Geburt Marias ankündigte, gaben sie Anna gleichfalls ein
Buch in die Hand. Den Verkündigungsvorgang als solchen überlieferten legendäre
Beschreibungen vom Leben der hl. Mutter Anna (Abb. 36). Diese als lesende
Frau ihrer lesenden Tochter Maria anzugleichen, ist eine Darstellungsform, die
literarischer Vorlagen entbehrt. Das gilt auch für die seit dem beginnenden 14.
Jahrhundert anzutreffende Darstellung Annas, die mit Hilfe eines Psalters Maria

percbe st trae tanta consola^ione della Scrittura santa ch'e un gran fatto, e non vaca la mente a altri diletti di
carne. E perd i vostri figliuoli ponetegli a studto e lasceranno U vi%io della lussuria (ebd.).
143
HEFELE (wie Anm. 141) S. 237. — Vgl. l Kor. 14,35: Si quid autem volunt [mulieres] discere, domi viros
suos interrogent.

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Mafien Verehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 349

das Lesen lehrt. Religiöses Interesse und bildhafte Imagination wirkten motiv- und
typenbildend.
Die christliche Bilderwelt des Mittelalters stillte das Verlangen nach schönem
Stil, nach Farbe und Form, nach Kontrasten und Konturen, nach Proportion und
Perspektive. Bilder erzeugten ästhetisches Wohlgefallen, aber nicht nur dies. Bilder
sollten und wollten ins Leben eingreifen. Fresken, Tafelbilder und Miniaturen
vergegenwärtigten das Leben und Leiden von Heiligen, um christlichen Frommen
himmlische Helfer vor Augen zu halten, von denen sie in Zeiten psychischer und
physischer Bedrängnis Hilfe erwarten konnten; sie erinnerten an Grundtatsachen
der christlichen Erlösungsgeschichte, von der das weltliche und überweltliche Heil
der Menschheit abhing; sie veranschaulichten Normen für gutes, gottgefälliges
Leben. Bilder, lautete ein im Mittelalter häufig zitierter Gemeinplatz, bewegen
mehr als Gehörtes und Gelesenes. Das ästhetische Subjekt stand hoch im Kurs. In
einer Gesellschaft, in der nur ein Bruchteil der Bevölkerung lesen und schreiben
konnte, war die Macht der Bilder, die vis imaginum^ groß.
Um die Verehrung von Bildern gegen den Vorwuff der Veräußerlichung und
der Magie zu schützen, gab der Dominikanertheologe Johannes Nider (f!438)
folgendes zu bedenken: Bilder wenden sich zugleich an das Gedächtnis (memoria),
an den Verstand (intellectus) und an den Willen (volunias). Bilder, unterstrich er,
veranlassen zu häufigem Nachdenken über unsere Erlösung und über die Mittel
unseres Heils (ad frequentem recordacionem salutis nostre et instrumentorum salutis). Sie
vermitteln Wissen und Einsichten denen, die nicht lesen und schreiben können (qui
litteras ignoranf). Als Träger heilsbedeutsamen Wissens erfüllen Bilder die Funktion
von Medien, die ad informacionem rudium beitragen. Vor allem aber sind Bilder in der
Lage, Anstöße zu geben ad maiorem excitationem devocionis1**. Bilder, die erinnerten,
Heilswissen transportierten und Frömmigkeit entfachten, erfüllten im Leben mittel-
alterlicher Christen eminent praktische Aufgaben. Christen bedürfen der Bilder,
faßte Nider abschließend zusammen, weil ihr Gedächtnis unzuverlässig, ihr Verstand
unwissend und ihr Wille träge ist (propter memorie labilitatem, intellectus ruditatem et
affectus tarditatem)145.
Ulrich von Pottenstein (um 1360—1420), Autor einer deutschsprachlichen
Unterweisungs- und Erbauungsliteratur, die vornehmlich für gebildete Laienkreise
am Hof des österreichischen Herzogs, darüberhinaus aber auch für das gehobene
Bürgertum und den niederen Klerus bestimmt war146, definierte im Anschluß an
Papst Gregor den Großen Bilder als der iajen puchstaben. Dem fügte er hinzu: Und
wisse und gelaube für war dac^ underweilen ain frumer laye mer andacht empfecht von ainem

144
Johannes Nider, Expositio decalogi, s. L 1476, I,9,d.
145
Ebd. — Zur Bedeutung von Heiligen- und Marienbildern in der spätmittelalterlichen Theologie
und Predigt vgl. auch MICHAEL BAXANDALL, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung
im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1987, S. 55 f.
146
DIETER HARMENING, Katechismusliteratur. Grundlagen religiöser Laienbildung im Spätmittelalter,
in: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelaher, hg. von NORBERT
RICHARD WOLF, Wiesbaden 3987, S. 91-102, hier S. lOOf.

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350 Klaus Schreiner

gemeide Und mer genaden wie n*ol er der scbrifft nicht encham \ denn ein gros^ gelerter von
dem lesen der piicher.H7
Wie illitcratc Laienchristcn von dem kirchlichen Bilderangebot Gebrauch
machten, beschreibt Frangois Villon (f 1464) in einem Gebet an Maria, das er seiner
Mutter in den Mund legt: ,Eine arme und alte Frau bin ich, / Die nichts weiß; nie
las ich einen Buchstaben; / In der Kirche, deren Pfarrkind ich bin, / Seh ich das
Paradies gemalt, mit Harfen und Lauten, / Und eine Hölle, wo die Verdammten
gekocht werden: / Das eine macht mir Furcht, das andre Freude und Wonne'148.
Der in Osnabrück lehrende und tätige Augusrinereremit Gottschalk Hollen
(f nach 1484) erweiterte diese Überlegungen. In einer Predigt "De imaginibus
Christi et sanctorum* trug er nicht weniger als sechs utilitates zusammen, um den
Nutzen und die Notwendigkeit von Bildern für den kirchlichen Kult und die
Frömmigkeit der Christen zu rechtfertigen149. Beim Betrachten von Bildern, meinte
Hollen, eignen wir uns die Kenntnis einer unbekannten Sache (ignorate rei noticid)
an (1). Ein weiterer Nutzen bestehe darin, daß Bilder durch ihre Informationen zur
Nachahmung der dargestellten Sache anspornen. Mit Hilfe eines Autoritätsbeweises
sucht er seine Aussage abzusichern und zu bekräftigen. Er erinnert an einen
Grundsatz des Aristoteles, demzufolge nur Taten der Tüchtigen (gesta virtuosorurri)
in Bildern dargestellt und verewigt werden sollen, damit sie von der Jugend
angeschaut und nachgeahmt werden. In vergleichbarer Weise würde man auch in
Kirchen Bilder von den gesta sanctorum anbringen. Vielfach seien die dargestellten
Heiligen mit Büchern und Werkzeugen ausgestattet, mit denen sie sich zu Lebzeiten
ewiges Leben erworben haben. Abgebildet seien Heilige deshalb, ,daß wir diese
nachahmen' (ut eos imitemur) (2). Bildbetrachtung, will Hollen sagen, verpflichtet
zu einer Lebenspraxis im Geist der Nachfolge; sich in Bilder zu versenken, meint
Aneignung jener Lebensnormen, welche die dargestellten Männer und Frauen heilig
gemacht haben.
Bilder dienen überdies der Festigung des menschlichen Gedächtnisses. Darstel-
lungen der Passion Christi bewirken, daß wir stets des göttlichen Leidens eingedenk
sind. Darstellungen des Kreuzes sowie Bilder von Heiligen sollen gewährleisten,
daß alle, die sich nicht durch Hören (ex auditü) zu frommer Gesinnung bewegen
lassen, schließlich aufgrund des Gesehenen (ex visis) zu einer Haltung innigen
Frommseins finden (3). Für Personen, die sich um das Allgemeinwohl verdient
gemacht haben, Bilder und Skulpturen zu errichten, sei eine Ehrenpflicht der
Nachfahren. Kaiserstädte würden Rolande errichten, um dem getreuen Paladin
Karls des Großen, der gegen die Feinde Christi für die Sache der christlichen
Wahrheit und die Freiheit des katholischen Glaubens kämpfte, Ehre und Ehrfurcht

147
Ulrich Pfarrer zu Pottenstein, Auslegung des Glaubensbekenntnisses; Cod. Vindob. 3050, f. 287V. —
Zur Beschreibung der Handschrift vgl. .HERMANN MENHARDT, Verzeichnis der altdeutschen literari-
schen Handschriften der österreichischen Nationalbibliothek (Deutsche Akademie der Wissenschaf-
ten zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13) Berlin 1961,
2, S. 842 f,
148
JOHAN HUIZINGA, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15.
Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hg. von KURT KÖSTER, mit 100 Abbildungen,
ausgewählt von KONRAD HOFFMANN, Stuttgart 1987, S. 192 f.
149
Gottschalk Hollen, Sermonum opus, Hagenau 1517, Sermo 50, f. S 6 r -T2 r . .

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Macietiverehrung, Lesekuitut, Scluiftlichkeit 351

zu erweisen. Urn so mehr bestehe Ursache, auch Christus durch Bilder zu ehren,
der pro repubUca totius mundi gestorben sei. Das gelte in gleicher Weise auch für
Heilige, aitprofide den Tod erlitten hätten (4). Tatsache sei außerdem, daß Bilder,
weil sie gegen teuflische Versuchungen schützen, zur Versittlichung der Menschen
beitrügen. Überaus nutzbringend und hilfreich sei es deshalb, in Kammern und
Häusern, über Betten und Tischen Bilder anzubringen, deren christliche Thematik
gegen Einflüsterungen des Teufels abschirme (5). Durch die Verehrung von Heili-
genbildern, meint Hollen abschließend, würden wir das Wohlgefallen und die Hilfe
(benevolentia et iuvamen) der dargestellten Heiligen gewinnen (6). Von Heiligen
gewährte Hilfe kam sowohl der Rettung der Seele als auch der Heilung physischer
Gebrechen und der Abwendung existenzbedrohender Katastrophen zugute. Fröm-
migkeit im Mittelalter war keine rein geistige Angelegenheit. Sie hatte gleicherma-
ßen mit der salus animae und der sa/us corporis zu tun.
Vor allen Heiligen, stellt Hollen mit Nachdruck heraus, sei die Jungfrau
Maria cum imaginum erectione zu ehren150. Für gemalte Marienbilder gebe es eine
altehrwürdige Tradition. Bereits der Apostel Lukas habe mehrere Bilder von Maria
gemalt. Eines davon befinde sich in Rom in der Kirche esancta Maria de populo*,
der Klosterkirche der dortigen Augustinereremiten. Vorrang gebühre Maria insbe-
sondere deshalb, weil sie sich um die Erlösung des Menschengeschlechtes ^größere
Verdienste* (maiora benefüia) erworben habe als die übrigen Heiligen. Hinzu komme,
daß derjenige, der die Mutter ehre, auch dem Sohn Ehre erweise.
Wie konkret Aufforderungen zur Marienverehrung sein konnten, beweist die
Mahnung Geilers von Kaysersberg (f 1510), des Straßburger Münsterpredigers.
Geiler rät und empfiehlt: Kanstu weder schreiben noch lesen, so nim ein gemolten brief für
dich, doran Maria die muter gots und Elisabeth gemolt seind. Du kaufest einen umb ein

Was Theologen des späten Mittelalters über die Wirkung von Bildern und die
Pflicht zur Nachahmung dargestellter Bildgehalte sagten, gilt uneingeschränkt auch
für den Bildtypus 'Mariae Verkündigung9. Ausnahme blieb es, daß selbst unter
entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten über die Angemessenheit religiöser
Bildthemen nachgedacht wurde. Einer, der das mit beachtlicher Einfühlungskraft
tat, war Kardinal Giovanni Dominici. In seiner 1405 abgefaßten eRegola del
governo di cura familiäre* riet er jedem Hausvater: , Sorge dafür, daß sich in deinem
Haus Bilder von heiligen Knaben oder Jungfrauen befinden. An ihnen soll sich
dein Kind sozusagen noch in den Windeln erfreuen als an seinesgleichen, da es in
diesen Bildern den Ausdruck seines eigenen Verlangens finden wird. Die ganze
Darstellung soll daher dem kindlichen Alter entsprechend und ansprechend sein.
Was hier von Bildern gesagt wird, gilt natürlich ebenso von Statuen und Schnitzwer-
ken. Passend wäre demnach das Bild der all erseligsten Jungfrau Maria mit dem
Kind, das einen Vogel oder Apfel in seinen Händen hält, auf dem Arm. Geeignet
ist auch die Darstellung des Jesuskindes an der Mutterbrust oder wie es auf dem
Schoß der Mutter schläft; ferner wie Jesus artig und gehorsam vor der Mutter

15
" Ebd. Scrmo 12 'De eomendacione bcate virgiois', f. C6r.
151
HEINRICH RINN, Kulturgeschichtliches aus deutschen Predigten, Hamburg 1883, S. 13,

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352 Klaus Schreiner

steht, oder wie Jesus zeichnet, während seine Mutter nach dieser Zeichnung stickt.
Gleichsam sich selbst könnte das Kind im heiligen Johannes erkennen, wie er als
Kind im rauhen Kamelhaarkleid in die Wüste geht, dort mit den Vögeln spielt,
sich mit Honigtau von den Blättern nährt und auf dem Erdboden schläft. Gut wäre
auch, wenn das Kind Jesus und Johannes den Taufer oder auch Jesus und den
Evangelisten Johannes als Kinder gemalt sähe. Man könnte ihm weiter Furcht
vor und Abneigung gegen Waffen und Soldaten einflößen, indem man ihm die
Ermordung der unschuldigen Kinder zeigt. Ähnliches könnte man bei den Kleinen
durch Bilder erreichen, auf denen die 11000 Jungfrauen im Gespräch, im Gebet
und im Kampf dargestellt sind. Zu empfehlen sind schließlich Bilder der heiligen
Agnes mit dem Lamm, der heiligen Cäcilia mit dem Kranz von Rosen, der heiligen
Elisabeth mit dem Rosenwunder oder der heiligen Katharina mit dem Rad. Diese
und ähnliche Bilder würden ihnen gleichsam mit der, Muttermilch Liebe und
Tugend, Verlangen nach Christus, Haß gegen die Sünde/Verachtung der Eitelkeiten
und Abscheu vor den traurigen und blutigen Feindschaften einflößen und sie
dagegen durch die Betrachtung der Heiligen anleiten und hinführen zum Heiligsten
der Heiligen'. Dem fügte er einschränkend hinzu: ,Wenn du indes nicht so viele
Bilder anbringen willst oder kannst, daß dein Haus wie eine Kirche aussieht, so
laß die Kleinen doch von ihrer Amme öfter in die Kirche führen; und zwar zu
einer Zeit, wo diese weder stark besucht ist noch gerade Gottesdienst gehalten
wird, damit nicht die Volksmenge die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zieht oder
die Kinder durch ihre Lebhaftigkeit Störung verursachen. Falls du aber zum
angegebenen Zweck Bilder für dein Haus anfertigen lassen willst, so achte dabei
auf folgendes: Laß die goldenen und silbernen Ausschmückungen beiseite, weil
sonst die Gefahr besteht, daß die Kleinen eher zum Götzendienst angehalten werden
statt den christlichen Glauben kennenzulernen/152
Theologisch begründete Bilderstürmerei, die dem Auge mißtraute, war dem
Mittelalter fremd. Das Auge, das sich der Darstellung vorbildhafter Verhaltenswei-
sen und heiliger Geschichten öffnete, galt als Pforte des Heils. Der Blick auf laszive
Bilder (imagines libidinosae) hingegen verstrickte in Sünde und Schuld153. Eine
verführerische, sittlich suspekte Venus, die auf dem Marktplatz von Siena stand,
mußte 1348 die Verantwortung für die in der Stadt grassierende Pestseuehe überneh-
men. „Man gab der Skulptur die Schuld an der Katastrophe, entfernte sie vom
Campo und begrub sie auf florentiner Boden, damit sie das Unheil dorthin über-
trüge."154 Gottschalk Hollen berichtet: Als in der Zeit Papst Gregors des Großen
Rom von der Pest heimgesucht wurde, hätten die Bewohner der Stadt eine Prozes-

152
Kardinal Johannes Dominicis Erziehungslehre und die übrigen pädagogischen Leistungen Italiens
im 15. Jahrhundert, übers, vpn AUGUSTIN RÖSLER, Freiburg i. Br. 1894, S. 26 f.
153
Humbertus de Romanis, Expositio regulae beati Augustini, in: Opera de vita regulari, hg. von
JOACHIM JOSEPH BERTHIER, Marietti 1956, l, S. 286: impudicus est oculus qui intente intuetur imagines
libidinose depictas. Vgl. dazu auch Joannes Gersonius, Expostulatio ad potestates publicas ad versus
corruptionem juventutis per lascivas imagines et alia hujusmodi, in: Opera omnia, hg. von Louis
ELLIES DU PIN, Antwerpen 1706 (Reprint Hildesheim-Zürich-New York 1987), Sp. 291-292.
™ VAN Os (wie Anm. 52) S. 73.

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Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 353

sion gehalten, in der auf Veranlassung des Papstes ein Marienbild mitgetragen
worden sei. Und siehe: ,bald hörte die Pest auf155.
Von Marienbildern war in Extremsituationen Hilfe zu erwarten. Im Alltag der
Christen verpflichteten Bilder von Szenen aus dem Leben Marias, Verkündigungs-
darstellungen eingeschlossen, zur imitatiopietatis Mariae156. Zur Frömmigkeit Marias
gehörte auch die lectio> das Lesen heiliger Schriften. In Erzählungen, Bildern und
geistlichen Spielen des Mittelalters war die lesende Mafia unübersehbar präsent.
Mittelalterliche Fromme konnten und mußten wissen, daß Maria viel in den
Schriften des Alten Bundes gelesen hatte — als Tempeljungfrau, im Akt der
Verkündigung, als alleinstehende Frau nach der Himmelfahrt ihres Sohnes. Wurde
in spätmittelalterlichen Mysterienspielen Marias Tempelgang szenisch dargestellt,
war auch zu sehen, wie die jugendliche Maria eine Handschrift in Händen hielt,
darin las und blätterte157.
Durch ihr kluges, demütiges und frommes Verhalten, betonte der Kartäuser-
theologe Ludolph von Sachsen (|1377), habe Maria allen Menschen ein Beispiel
richtigen Lebens (exemplum vivendi) gegeben158. Den Kirchenvater Ambrosius para-
phrasierend, mahnte Ludolph: ,Marias Leben möge für uns gleichsam wie auf
einem Bild beschrieben sein, aus dem wie aus einem Spiegel der Glanz der Liebe
und die Gestalt der Tugend zurückleuchtet*15?. Nach bestem Können und Vermögen
sollte jeder Christ die Verhaltensweisen Marias (mores et virtutes Virginis Mariae)
nachahmen, insbesondere jene, die Marias Leben im Tempel auszeichneten160. Zur
Lebensform der Tempeljungfrau Maria gehörte auch und vor allem die Lektüre
des Gesetzes, der Psalmen und Propheten.
Aus Marias Leben eine allgemeine Lebensregel für alle Christen abzuleiten,
war nicht neu und ungewöhnlich. Der Augustinertheologe Augustinus von Ancona
(f 1328) hatte in seiner Schrift "In salutationem et annuntiationem angelicam Dei-
parae praestitam commentarius* Maria als regula omnium virtutum et worum bezeichnet.
Zu Marias Tugenden, denen die Geltungskraft einer allgemein verbindlichen Regel
zukommen sollte, rechnete er auch die librorum legis et prophetarum lectiom. Der

I5S
Hollen, Sermonum opus (wie Anm. 149) Sermo 12 "De comendacione beate virginis9, f. C 6r: mox
cessit pestis.
256
FRANK O. BÜTTNER, Imitatio Pietatis. Motive der christlichen Ikonographie als Modelle zur Verähnli-
chung, Berlin 1983, S. 69.
157
KARL YOUNG, The Drama of the Medieval Church, Oxford 1967, 2, S. 241: super scabellum erit quidam
libellus paruulus pulcer, cuius Jolia Maria reuoluet quasi dicendo, höräs suas.
158
Ludolphus de Saxonia, Vita Jesu Christi c. 2 (wie Anm. 35) S. 12b.
159
Ebd. S. 20b: Sit nobis tanquam in imagine descripta vita Mariae, ex qua ve/ut e speculo, refulget species
charitatis, et forma virtutis. Ludolph von Sachsen nimmt Bezug auf Ambrosius, De virginibus 11,6:
Sit igitur vobis tamquam in imagine descripta virginitas vita Mariaey e qua velut speculo refulget species castitafis
ei forma virtutis. Vgl. Ambrosius, De virginibus libri tres, hg. von EGNATIUS CAZZANIGA, Torino
1948, S. 36. - VgL BÜTTNER (wie Anm. 156) S. 69 f.
160
Ludolphus de Saxonia, Vita Jesu Christi c. 2 (wie Anna. 35) S. 12b: Considera hie attente virtutes et
mores virginis Mariae, et pro posse tuo ttiant imitari stude. In der Edition der Vita Jesu Christi, die
Rigoliot 1878 herausbrachte, heißt es: Considera bic attente virtutes et mores Virginis Mariae, praesertim
dum Juit in templo, et pro posse tuo etiant imitari stude. Ludolphus de Saxonia, Vita Jesu Christi c. 2,
hg. von LUDOVICUS MARIA RJGOLLOT, Paris—Rom 1878, S. 21 a.
161
Augustinus Triumphus Anconitanus, In salutationem et annuntiationem angelicam Dciparae praesti-
tam commentarius, Romae 1590, S. 60 f.

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354 Klaus Schreiner

Kirchenvater Ambrosius hatte den Lebenswandel Marias als eine alle Christen
verpflichtende disciplinä vitaem> als vorbildhafte Summe von exempla vivendi und
magisieria probitatis bezeichnet, die zeigen, was Christen meiden und was sie bewah-
ren sollen. Bei der inhaltlichen Füllung dessen, was nun eigentlich die einzigartige
Vorbildlichkeit des Maricnlebens ausmache, nannte Ambrosius auch ihren Eifer
beim Lernen und Lesen (ardor discendr, legendi studiosior)163.
Zugegeben: Lesen zählte nicht — wie Jungfräulichkeit, Demut und Gehor-
sam — zu jenen 'Primärtugenden', die an Maria mit Beharrlichkeit und Über-
schwang gerühmt wurden. Wer aber das Leben der Jungfrau in seiner Ganzheit
zur Kenntnis nahm, dem konnte kaum verborgen bleiben, daß zur Lebensform
Marias auch der Umgang mit Büchern gehörte.
Wie mittelalterliche Christen auf bildlich dargestellte Verkündigungsszenen
reagieren sollten, konnte aus den Bildern selbst abgelesen,werden. Mitunter tauchen
in Verkündigungsdarstellungen Frauen und Männer auf, die wie Maria ein Buch
in Händen halten oder vor sich auf einem Betschemel liegen haben164. Lesende
Beter verwirklichen Erwartungen, die von der Thematik des Bildes ausgehen; sie
folgen einem Devotionsgestus, den Maria selber praktiziert hatte. Um in adäquater
Weise fromm zu sein, greifen sie zum Buch.
Symptomatisch für den spätmittelalterlichen Bildtypus eMariae Verkündigung3
sind nicht allein Laienchristen, die lesend beten. Kaum zu übersehen sind außerdem
Indizien und Reflexe, die auf Veränderungen im zeitgenössischen Bildungs-, Buch-
und Schriftwesen hinweisen. Darstellungen der Verkündigung an Maria aus dem
frühen Mittelalter unterscheiden sich von solchen des späten Mittelalters nicht
zuletzt durch unterschiedliche Beziehungen zur Welt der Bücher und des Geschrie-
benen. Diesbezügliche Differenzen sind mit Händen zu greifen. Frühmittelalterliche
Verkündigungsdarstellungen, in denen Verkündigung als ausschließlich mündliche
Kommunikationsform gedacht und verbildlicht war, bedurften keiner Bücher,
keiner beschrifteten Pergamentbänder, die den Dialog zwischen Gabriel und Maria
lesbar machten, keiner versiegelten Briefe und Urkunden, in denen der Inhalt der
göttlichen Botschaft schriftlich verbrieft war (vgl. Abb. 22).. Spätmittelalterliche
Darstellungen des Verkündigungsgeschehens weisen verstärkte Bezüge zum zeitge-
nössischen Buch- und Schriftwesen auf. Das Schriftband mit dem eAve Maria*

162
Ambrosius, De virginibus libri tres, III, 19 (wie Anm. 159) S. 42.
163
Ebd. S. 36 f. — Diese Stelle aus der Schrift des Ambrosius eDe virginitate3 haben spätmittelalterliche
Prediger immer wieder zitiert. Bernardinus von Siena zitiert Ambrosius, um Marias exemplaritas
herauszustellen. Vgl. Bernhardinus, De festivitatibus virginis gloriose per annum cum singularissimis
laudibus eiusdem, Nürmberge 1493, Sermo in festo conceptionis nativitatis vel annunciationis
eiusdem, f. D 2V. Leonhard von Udine (Leonardus de Utino) (um 1400—1469/70) zitiert in
seiner Predigt am Fest Maria Verkündigung den Ambrosius-Text sogar zweimal (Quadragesimales
sermones, Speyer 1479, Serrno 41). Der von Ambrosius gerühmte Lern- und Leseeifer Marias war
zweifelsohne ein Gegenstand spätmittelalterlicher Predigt und Erbauung (vgl. auch Anm. 159).
Linien kontinuierlicher Rezeption sind unübersehbar.
164
Zum bildlich dargestellten Wechsel Verhältnis zwischen der „pietas der Verkündigungsmadonna"
und der „Devotio des Gläubigen" vgl. BÜTTNER (wie Anm. 156) S. 72—77, vgl. auch S. 70. Ein
sehr schönes Beispiel auch in: HUIZFNGA (wie Anm. 148) S. 183: „Verkündigung Mariae und Philippe
Je Bon beim Gebet. Miniatur aus der franz. Übersetzung des 'Traite sur la Salutation angeliqne9".

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Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 355

verselbständigte sieh „zum versiegelten Brief, der den Heilsplan enthält, den der
Engel. Maria überreicht. Schon Dante sprach von jenem 'Dekret*, das er zur Erde
herabgebracht hat. Stephan Lochner gibt dem Engel seine Worte auf einem Brief
in die Hände. Auf dem Tucheraltar in Nürnberg von 1450 hält der Engel mehrere
versiegelte Schriftstücke in der Hand, um sie der Jungfrau anzuvertrauen"165.
Lochners Darstellung und der Tucheraltar (vgl. Abb. 27) sind nicht die einzigen
Beispiele, die diesen Differenzierungsprozeß zur Anschauung bringen.
Die spätmittelalterliche Verkündigungsmadonna ist ohne Buch kaum noch
vorstellbar. Bücher, die i^i Reichweite der kniend lesenden Jungfrau gestapelt sind,
erwecken den Eindruck, Marias Leben in Nazareth habe sich in einer Studierstube
abgespielt, die mit einer Handbibliothek ausgestattet war (Abb. 23). Auf einem
Bücherbord steht ein Tintenfaß, das die Jungfrau, wenn sie als Schreiberin darge-
stellt wird, auch tatsächlich benutzte. Seit dem beginnenden 15. Jahrhundert wurden
Bilder angefertigt, die zeigen, wie Maria das 'Magnificat3 schreibt (vgl. Abb. 31).
Verschiedenartige Beschreibstoffe — wie Wachstafel, Pergament und Papier —
werden abgebildet. Einzelblätter, Rolle und Codex, die auf spätmittelalterlichen
Verkündigungsdarstellungen zu sehen sind, werden zu Indizien intensiver Schreib-
und Lesetätigkeit (Abb. 26). Stätten Maler Marias Kammer mit einer Uhr aus (vgl.
Abb. 33, 34)166, ist der Eindruck einer Studierstube perfekt. Bemerkenswert ist
außerdem der ins Bild gesetzte Evangelist Lukas', der ein Buch unter dem Arm
trägt oder den Verkündigungsvorgang protokolliert (vgl. Abb. 30)167. Schriftlich-
keit erhöht die Glaubwürdigkeit des Geschehens, dem für die Rettung des Men-
schengeschlechtes grundlegende Bedeutung zukam. Sitzt Jesus auf Marias Schoß,
eine ÄBC-Tafel in Händen haltend (vgl. Abb. 32)168, drängt sich dem Betrachter

165
WOLFGANG BRAUNFELS, Die Verkündigung, Düsseldorf 1949, S. XIV. — Zur Korrektur der
Angaben von Braunfels s. S. 360 Anm. 191.
166
Zu der von Benedetto Bonflgli (f 1496) gemalten "Verkündigung mit dem Evangelisten Lukas' vgl.
ROBERTO SALVINI, Pittura Italiana, München 1962, 2, S. 9& Das Bild wurde für die 'Udienza dei
Notari* von Perugia angefertigt. Der schreibende Lukas repräsentierte auch die berufliche Tätigkeit
der Notare. Ein weiteres Beispiel für einen Lukas, der mit einem geöffneten Buch dem Verkündi-
gungsvorgang beiwohnt, bringt BARBARA JAKOBY, Der Einfluß niederländischer Tafelmalerei des
15. Jahrhunderts auf die Kunst der benachbarten Rheinlande am Beispiel der Verkündigungsdarstel-
lung in Köln, am Niederrhein und in Westfalen (1440-1490), Köln 1987, Abb. 36: Meister der
Heiligen Sippe, d. J. (ca. 1480-1490).
167
Vgl. dazu GIGETTA DALLI REGOLI, L'Abbecedario di Cristo. Eccentricita e arcaismi del Maestro di
Borsigliana, in: II Maestro di Borsigliana. Un pittore del '400 in Alta Val di Serchio, Lucca 1987,
S. 23-42.
168
GEORG TROESCHER, Burgundische Malerei. Maler und Malwerke um 1400 in Burgund, dem Berry
mit der Auvergne und in Savoyen mit ihren Quellen und Ausstrahlungen, Berlin 1966, l (Text), S.
161, und 2 (Tafeln), Abb. 163, bringt ein weiteres Beispiel für ein Jesus-Kind, das, eine ABC-Tafel
in Händen, auf dem Schoß seiner Mutter sitzt. — Dieser Bildtypus stieß auf den Widerspruch des
Florentiner Erzbischofs Antoninus von Florenz. In seiner 'Summa theologica" wandte er sich gegen
Darstellungen, die den kleinen Jesusknaben mit einer tabula litUrarum abbilden. Eine derartige
Darstellungsweise hielt er für theologisch abwegig, weil Jesus von einem Menschen nicht unterrichtet
wurde. Die 'Summa theologica' des Antoninus von Florenz, welche dieses Verdikt enthält, erlebte
zwischen 1477 und 1740 nicht weniger als zwanzig gedruckte Auflagen. CREIGHTON GILBERT, The
Archbishop on thc Paincers of Florence, 1450, in: The Art Bulletin 41, 1959, S. 75—87, hier S. 76,
der auf diesen Text aufmerksam machte und ihn eingehend kommentierte, konnte kein Bild
benennen, das den parvulus Jesus cum tabula litterar um tatsächlich darstellte.

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356 K lauf» Schreiner

die Vorstellung auf, Maria würde ihrem Sohn das Lesen und Schreiben beibringen.
Hält Maria dem Jcsusknaben ein aufgeschlagenes Buch entgegen, ist die intendierte
Lcrnsituation evident.
Man hat denn auch von einer eigenständigen ßildform „Unterweisung des
Christuskindes" durch seine Mutter Maria gesprochen und die Frage aufgeworfen,
ob dieses Thema nicht der „Unterweisung der Jungfrau Maria" durch ihre Mutter
Anna nachempfunden wurde169. Sitzt oder steht der Jesusknabe auf dem Schoß
Maricns, mit einem Griffel auf einen Pergamentstreifen oder eine Wachstafel
schreibend170, kann abgelesen werden, was Jesus in der Schule Marias gelernt hat.
Derartige Veränderungen in der Präsentation von 'Mariae Verkündigung' sind
im Kontext von Prozessen zu sehen, die im späten Mittelalter neue Frömmigkeits-
und Bildungsideale, neue Formen der Kommunikation entstehen ließen. Anknüp-
fungspunkte für die Erweiterung einer religiösen Bildthematik mit symbolträchti-
gen Gegenständen des profanen Buch- und Schriftwesens boten zahlreiche Buch-
und Schriftmetaphern, deren sich bereits die Kirchenväter bedienten, um das
Geheimnis der Inkarnation verständlich zu machen.
Einen biblischen locus classicus, der einlud, zwischen Schreibkunst und
Menschwerdung vergleichbare Ähnlichkeiten auszumachen, bildete der Auftrag
Jahwes an den Propheten Isaias (8,1): ,Nimm vor dich eine große Tafel und schreib
darauf mit Menschengriffel: Raubebald—Eilebeute'. In der Zeit, in der Isaias den
Text geschrieben hatte, kamen die eigenwilligen Wortbildungen ,Raubebaldc und
,Eilebeute* einer Warnung gleich: Die Assyrer, die Feinde Israels, werden bald
kommen und große Beute machen. Der Hinweis auf eine drohende Gefahr allein
hätte die Kirchenväter nicht auf den Gedanken kommen lassen, den Beschriftungs-
vorgang zu einem Typus der Menschwerdung Gottes zu machen. Der Prophet
Isaias berichtet aber weiter, er habe, nachdem er mit dem von Gott befohlenen
Tafelaufschrieb fertig war, sich seiner Frau genaht, die schwanger wurde und einen
Sohn gebar. Dessen Name sollte auf Geheiß Jahwes mit dem Rätselspruch des
Tafelaufschriebs identisch sein, weswegen ihn der Prophet und die Prophetin
,Raubebald — Eilebeutec nannten. Die Weisung an Isaias, ein großes Buch zur Hand
zu nehmen und in dieses zu schreiben, und das Faktum der Geburt verwoben sich
im Denken der Kirchenväter zu einer Präfiguration für die Menschwerdung des
göttlichen Sohnes. Indem Theologen der Alten Kirche die Geburt des Propheten-
sohnes als Vorausdarstellung der Geburt Christi interpretierten, lag es nahe, den

169
TROESCHER (wie Anm. 168) l, S. 161; 2, Abb. 160-163.
170
Zum Jesuskind, das, auf dem Schoß Mariens sitzend, schreibt, vgl. CHARLES P. PARKHURST, The
Madonna of the Writing Christ Child, in: The Art Bulletin 23, 1941, S. 292-306; JEAN SQUILBECK,
La Vierge a Pencrier ou a l'enfant ecrivant, in: Revue Beige d'Archeologie et d'Histoire de PArt 19,
1950, S. 127-140; DOROTHY. MINER, Madonna with Child Writing, in: Art News 64, 1966, S. 40-
43, 60—64; PHILIPPE VERDIER, La Vierge a l'Encrier et a TEnfant qui Ecrit, in: Gesta 20, 1981, S.
247—256. — In diesen Zusammenhang gehört auch die Madonna, die Jesus beim Schreiben behilflich
ist, indem sie ihm das Tintenfaß hinhält. Vgl. HERBERT VON EINEM, Zur 'Tintenfaßmadonna' des
Hildesheimer Domes, in: Alt Hildesheim 10, 1930, S. 16—19; TROESCHER (wie Anm. 168) l, S.
159 f.; 2, Abb. 155 — 159. Troescher bezeichnet die sog. 'Tintenfaßmadonna' als „Stehende Madonna
mit dem Schreibgerät".

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Marienverehrung, Lesekultur, Schriftiichkeit 357

Akt der Beschriftung als Metapher f r die bernat rliche Empf ngnis im Scho
der Jungfrau zu deuten*?1.
Der historische Isaias hatte auf eine Tafel aus Holz oder Leder geschrieben.
In Septuagint h ndschriften wurde die hebr ische Tafel (gelaiort) ersetzt durch
τόμος, τόμος χάρτου, τεύχος oder κεφαλίς, womit die aus Papyrus, Leder oder
Pergament gefertigte Rolle bezeichnet wird. Liber, das lateinische quivalent in
der Vulgata, hat den aus Pergament oder Papyrus gebundenen Codex im Auge.
Philologisch betrachtet sind beide bersetzungsversuche unzureichend. Der Sache
nach dokumentieren sie eine buchgeschichtliche Z sur, die in der Zeit zwischen
dem 2. und 4. nachchristlichen Jahrhundert erfolgte und durch den „ bergang
von der Rolle zum Codex" charakterisiert wird172.
Auslegungs- und rezeptionsgeschichtlich bedeutsam ist dies: Lateinische und
griechische V ter bezogen die Beschriftung der Tafel durch Isaias auf die Empf ng-
nis Jesu im Scho der Jungfrau. Hieronymus (f 419/20) schrieb in seinem Isaias-
Kommentar zu Is. 8,1: An dieser Stelle werde bildhaft die jungfr uliche Empf ngnis
beschrieben (sub figUra paftus describitur virginalis). Was aber in Wirklichkeit mit
einem menschlichen Griffel geschrieben werde, sei der pmr n tw, der aus Maria
geborene Gottessohn, der dem Teufel schnell seine Beute raube und seiner Herr-
schaft ein Ende mache173.
Epiphanius von Salamis (f 403) hebt hervor, Isaias sei von Gott nicht aufgefor-
dert worden, eine vollst ndige Papyrusrolle zu beschreiben, sondern nur ein neues,
gro es St ck davon (τόμον χάρτου καινού μεγάλου)174. Die mariologische Tiefendi-
mension dieses Textes tritt deutlich in den Blick, wenn der Begriff τόμος in seiner
etymologischen Grundbedeutung erkannt wird. Aufgrund seiner Abkunft von
τέμνειν (schneiden) besitzt er einen Wortstamm, der mariologisch berh ht werden
konnte; denn sowohl das Papyrusblatt als auch Maria waren ,abgeschnittenc — das
Papyrusfragment von einer vollst ndigen Rolle, Maria vom fleischlichen Umgang
mit M nnern. Den Papyrus betrachtet Epiphanius als Chiffre f r den unbefleckten
,Scho ' (μήτρα) der Jungfrau. Um kenntlich zu machen, da der unbefleckte Scho
Mariens von Gott als Beschreibstoff benutzt werden konnte, habe, wie Epiphanius
darlegt, der Prophet Isaias in seinem Bericht ber den an ihn ergangenen Auftrag
Gottes τόμος durch χάρτης pr zisiert
Johannes Chrysostomus (f407) brachte das versiegelte Buch von Is. 29,11,
den ber obsignatus (το έσφραγισμένον βιβλίον), mit Maria in Verbindung. Von
einem ,versiegelten Buch* habe Isaias im Blick auf die Verstocktheit Jerusalems
gesprochen, dem er weissagte: ,Das Gesicht [der Propheten] von alledem sei euch
gleich einem Buch mit sieben Siegeln. Gib es einen Mann, der lesen kann, und sag

171
Vgk d22*1 KLAUS SCHREINER, „...wie Maria geleicht einem puch". Beitr ge zur Buchmetaphorik
des hohen und sp ten Mittelalters, in: Archiv f r Geschichte des Buchwesens 11, 1970, Sp. 1437—
1464, hier Sp. 1438-1439.
172
HANS WIDMANN, Herstellung und Vertrieb des Buches in der griechisch-r mischen Welt, in: Archiv
f r Geschichte des Buchwesen« 8, 1967, Sp. 545-640, hier Sp. 587.
t73
Hieronymus, Coramentariorum in Isaiam Prophetam libri 3, c. 8 (Mrci^E, PL 4, Sp. 114).
174
Epiphanius, Panarion haer. 30—31, in: Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei
Jahrhunderte, Leipzig 1915, 13,1, S. 375 f.

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358 Klaus Schreiner

ihm: 'Lies doch dasf, dann sagt er darauf: 'Das kann ich nicht; es ist versiegelt* *.
Als Leser, der dieses Buch nicht lesen kann, identifiziert Chrysostomus Joseph, den
Verlobten der Jungfrau Maria. Das versiegelte Buch selbst setzt er mit Maria gleich.
Als Begr ndung gibt der Kirchenvater an: Unlesbar sei das Buch Maria deshalb,
\vcil die Jungfrau als Wohnstatt f r den Sch pfer aller Dinge beh tet und bewahrt
wird 175 .
Bischof Andreas von Kreta (f 740) bezog in seiner Predigt zum Fest Maria Geburt
den βιβλίον 'εσφραγισμένον, das versiegelte Buch von Is. 29,11, gleichfalls auf Maria. Sie
ist, wie Johannes von Damaskus (f um 750) darlegt, der Codex, der ein vollkommen
neues Geheimnis in sich birgt (τόμος καινού μυστηρίου). In ihm hat der form- und
gestaltlose Logos (ό άνείδεος Λόγος) Menschengestalt angenommen, oder, um im Bilde
zu bleiben, das g ttliche Wort wurde Maria, dem neuen Codex, ,mit dem Griffel menschli-
cher Art* (γραφίδι άνΟρωπικής ιδέας) eingeschrieben176.
Auf der Suche nach aussagekr ftigen Schriftmetaphern sind sp tmittelalterliche
Prediger auch im Neuen Testament f ndig geworden. Einfach war das nicht. Jesus,
ein Meister des gesprochenen Wortes, predigte und wirkte Wunder. Briefe und
B cher schrieb er nicht. Nur einmal beugte er sich zur Erde, um, wie der Evangelist
Johannes berichtet (Joh. 8,6, 8), W rter in den Sand zu schreiben. Diese Episode
begriff der Minoritenprediger Johannes Gritsch177 als symbolisches Handeln, das
seiner Ansicht nach auf die Menschwerdung im Scho der Jungfrau hinwies. Die
Erde, das Material, in das Jesus geschrieben habe, sei mit Maria gleichzusetzen.
Um aber theologische Mi verst ndnisse auszuschlie en, verband er das Schreiben
Jesu mit der zeit blichen Lehre, da die Inkarnation ein opus totius trinitatis gewesen
sei178. Entsprechend mu te der Kreis des Schreibpersonals weiter gezogen werden.
Johannes Gritsch tat das auch. Alle drei g ttlichen Personen, versicherte er, seien
an dem wunderbaren Beschriftungsvorgang beteiligt gewesen: Gottvater habe der
Jungfrau Macht (potentia) eingeschrieben, da sie allen zu ihr Flehenden helfen,
den Teufel berwinden und in die Flucht schlagen k nne. Der g ttliche Sohn habe
ihr durch seine Schriftz ge Weisheit (sapientid) vermittelt und sie beraus weise
gemacht. Eva habe durch Torheit Verdammnis verursacht; Maria habe durch
Weisheit den Grund f r unsere Erl sung gelegt. Marias Milde (clementid) sei auf

175
Johannes Chrysostomus, Homilia in annuntiatione sanctae virginis Mariae (MiGNE, PG 10, Sp.
1171 — 1173). — Zur Verfasserschaft vgl. Clavis patrum Graecorum, 2, hg. von MAURITIUS GEERARD,
Turnhout 1974, S. 545 Nr. 4519; vgl. auch ebd. S. 579 Nr. 4628. - In der handschriftlichen
berlieferung wird die Predigt auch Gregorius Thaumaturgus, Proclus und Macarius, dem Bischof
von Philadelphia, zugewiesen.
"6 MIGNE, PG 97, Sp. 869; 96, Sp. 672.
177
Die genauen Lebensdaten von Johannes Gritsch sind nicht zu ermitteln. W hrend des Basler Konzils
war er Guardian des dortigen Konvents. 1486 erschien sein 'Quadragesimale'. Vgl. ANDRE MURITH,
Jean et Conrad Gr tsch de B le. Contribution a Phistoire de la predication franciscaine au XVC
siecle, Fribourg 1940.
178
Zu diesen Gedanken in der hoch- und sp tmittelalterlichen Theologie und Bildkunst vgl. ERNST
GULDAN, eEt verbum caro factum est'. Die Darstellung der Inkarnation Christi im Verk ndigungs-
bild, in: R mische Quartalschrift f r christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 63, 1968,
S. 145 — 169 (mit 32 Tafeln); PETER KERN, Trinit t, Maria, Inkarnation. Studien zur Thematik der
deutschen Dichtung des sp teren Mittelalters (Philologische Studien und Quellen 55) Berlin 1971,
S. 27 — 138 („Die Beteiligung der drei g ttlichen Personen am Werk der Inkarnation").

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Marienverehrung, Lesekukur, Schriftlichkeit 359

die Schriftkunst des Heiligen Geistes zurückzuführen, der die Jungfrau befähigte,
zum Thron des allerhöchsten und allermildesten Herrn zu werden179..
Bernardiho de Busti begann eine Predigt am Fest 'Mariae Verkündigung9 mit
dem hymnischen Satz: O, beata virgo fuit terra, in qua tota trinifas scripsit™ Der
Bezug zur Johannesperikope ist evident. Offenkundig ist außerdem Bernardinos
Bemühen, die Deutungsmöglichkeit des von Johannes überlieferten Schreibvorgan-
ges zu nutzen und zu erweitern. Nicht allein Macht, Weisheit und Güte, die drei
wunderbaren Eigenschaften (tres mirabiles proprietates) der göttlichen Dreifaltigkeit,
seien der Jungfrau eingeschrieben gewesen181, sondern auch die sieben Gaben des
Heiligen Geistes18^. Bernardino brachte zudem in Erinnerung, daß zum Schreiben
vier Dinge gehörten: ein Schreiber, ein Schreibgerät, Tinte, Pergament oder sonst
ein Beschreibstoff. Als Schreiber nannte er den Heiligen Geist. Die Tinte betrachtete
er als Metapher für das rosafarbene Blut Christi. Maria begriff er als mundissima
carta^ auf die bereits die Propheten die Menschwerdung und Geburt des Gottessoh-
nes, seine Passion und das Geheimnis der Erlösung geschrieben hatten183.
Mit dieser Deutung verband der Prediger eine eindringliche Mahnung: Alle,
die zum ewigen Heil gelangen wollten, sollten in dem Buch, dessen Inhalt das
Leben Marias bilde, Tag und Nacht lesen, um ,durch Frömmigkeit* (per devotionem}
in dieses ,Buch des Lebens* (liber vite) geschrieben zu werden184. Dem fügte der
Franziskanerprediger .hinzu: In diesem Buch könnten auch alle Analphabeten (idio-
tae) lesen. Es sei mit jenem Buch identisch, von dem der Prophet gesagt habe, es
werde dem gegeben werden, der nicht lesen könne (Is. 29,12).
Maler, die sich mit derartigen Gedankengängen vertraut machten, brachten
auf Verkündigungsdarstellungen alle drei göttlichen Personen mit der Empfängnis
Jesu im Schoß der Jungfrau in einen ursächlichen Zusammenhang185. Gottvater
wurde mit Segensgestus und Weltkugel dargestellt; Jesus als ein mit einem Kreuz
geschultertes Kind, das, mit einem Strahlenband umgeben, vom Himmel herab-
schwebt; der Heilige Geist als eine über dem Haupt Marias fliegende Taube. Einen
Schritt weiter gingen sogenannte eSchreinmadonnen5, in Frankreich als Vierges
ouvrantes9 bezeichnet, in deren Leibesinnerem die Trinität thronte: Gottvater, der
das Kreuz mit seinem Sohn in seinen Armen hielt, und darüber der Heilige Geist
in Gestalt einer Taube. Durch aufklappbare Türen konnte gezeigt werden, daß,
wie es in einer lateinischen Sequenz eln annuntiatione Beatae Mariae Virginis' aus

179
Johannes Gritsch, Quadragesimale de tempore et de sanctis, s. J. 1495, f. 8 — J r .
180
Bernardinus de Busti, Mariale (wie Amn. 62) pars 9, sermo 2, f. 283va.
181
Ebd. f. 284rb-285™
182
Ebd. f. 286«.
183
Ebd. f. 285vb.
184
Ebd. f. 286". — Zum Vergleich Marias mit einem Buch, in dem Fromme lesen sollen, vgl. SCHREINER
(wie Anm. 171) S. 651—664; PETER KESTING, Maria als Buch, in: Würzburger Prosastudien, 1.
Wort-, begriffe- und textkundliche Untersuchungen, hg. von der Forschungsstelle für deutsche
Prosa des Mittelalters am Seminar für deutsche Philologie der Universität Würzburg (Medium
Aevum - Philologische Studien 13) München 1968, S. 122-147; HJLG (wie Anm. 35) S. 132-
143 („Entstehung und Eigenschaften des 'Buches* Maria**).
185
GÜLDAN (wie Anm. 178) S» 145-169; VAN Os (wie Anm. 52) S. 59; KERN (wie Anm. 178) S. 33-
35.

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360 Klaus Schreiner

dem 13. Jahrhundert hieß, der Leib der Jungfrau (venter virginti) alle drei göttlichen
Personen umschloß186. Derartigen Skulpturen lag die Idee zugrunde, daß sich der
dreifältige Gott in Maria einen Tempel (templum)> ein Zelt (tabernaculum) oder eine
Wohnstatt (babitacufam) bereitet habe. In deutschsprachlichen Texten wurde Maria
als "Gottestabcrnaker, als 'Schrein des Heiligen. Geistes', als 'Behausung des Herrn
Jesus Christus* gefeiert oder als *Saal der ganzen Dreifaltigkeit5 bezeichnet187.
Theologen, die Unbehagen empfanden, wenn auf derart realistische Weise die
Trinität im Leib der Jungfrau besichtigt werden konnte, äußerten Kritik. Der
Konstanzer Konzilstheologe und Pariser Universitätskanzler Johannes Gerson
(1363—1429) wandte sich gegen derartige Darstellungen, die zu der irrigen Ansicht
verleiten, ,als ob die ganze Trinität in der Jungfrau Maria Fleisch angenommen
hätte*188. Eine solche Marienplastik mit dem Gnadenstuhl im Innern, die sich in
der Karmeliterkirche zu Paris befand, soll Gerson „im Interesse der Glaubenswahr-
heit mit eigener Hand zerstört haben ..., da er die Lehre, die behauptet, die
Dreieinigkeit sei im Schöße Mariens Fleisch geworden, als ketzerisch bezeichne-
te"189.
Was theologisch als stimmig erschien, weckte, leibhaftig dargestellt, Peinlich-
keitsgefühle. Zusammenhänge zwischen Schreingedanke und Schriftmetaphorik
waren mit sinnlich-darstellerischen Mitteln nicht kenntlich zu machen. Predigern
verursachte das keine Probleme. Gleich dem Einhorn, predigte Bernardino de
Busti, habe sich Jesus in der Jungfrau Maria eine jLiegestatt* (reclinatorium) bereitet.
Damit diese aber dem göttlichen Bewohner geeignet erschien, habe sie die Trinität
mit drei wunderbaren Eigenschaften beschrieben: mit Macht, Weisheit und Milde190.
Bezüge zur Welt des Geschriebenen springen deutlicher in die Augen, wenn
Gabriel seine Botschaft in Form eines Briefes oder einer Urkunde Maria übermittelt
(Abb. 26, 27, 28). Die schriftliche Verkehrsform zwischen Himmel und Erde
entstand nicht in den Köpfen von Malern; Brief und Urkunde sind nicht auf
spontane Einfalle theologisch unbedarfter Marienverehrer zurückzuführen. Nicht
allgemeine „Gedanken an den Heilsplan" lassen neue Bildthemen entstehen, sondern
bibeltheologische Reflexionen, die aus Tatbeständen des Buch- und Schriftwesens
Aussageformen für kirchliche Dogmen machten. Nur so ist zu erklären, daß Stephan
Lochner „dem Engel seine Worte auf einem Brief in die Hände gibt" oder auf dem
Nürnberger Tucheraltar „der Engel mehrere versiegelte Schriftstücke in der Hand"
hält, um sie der Jungfrau zu übergeben191.
In einem Traktat cAd laudem gloriosae virginis Matris Marie' legte Bernhard
von Clairvaux dar, daß die Botschaft, die der Engel Maria überbrachte, im Heiligtum
der Trinität mit dem Finger Gottes geschrieben worden sei (haec salutatio in sacrario.

186 Tres personas trinitatis / Unum ens divinitatis j Venter claudit virginis^ Vgl. KERN (wie Anm. 178) S. 136.
187
Ebd. S. 128-138 („Maria als Wohnstätte der Trinität").
188
Joannes Gersonius, Sermo de nativitate domini, in: Opera omnia (wie Anm. 153) 3, Sp. 947.
189
GREGOR MARTIN LECHNER, Maria Gravida. Zum Schwangerschaftsmotiv in der bildenden Kunst,
München-Zürich 1981, S. 201.
190
De Busti, Mariale (wie Anm. 62) f. 284rb.
191
BRAUNFELS (wie Anm. 165) S. XIV. — Der Verkündigungsengel des Nürnberger Tucheraltars trägt
nur eine Urkunde (vgl. Abb. 27). Die Angabe von Braunfels, der Engel habe mehrere Schriftstücke
in Händen, ist falsch.

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Marienverehrung, Lesekultui:, Schriftlichkeit 361

Trinitatis est digito Da comcripta)™1*. Gabriel, einer der Mächtigsten des himmlischen
Hofstaates, $ei dann beauftragt worden, die Botschaft Gottes der Jungfrau zu
überbringen.
Bernhard empfahl betenden und meditierenden Frommen, die einzelnen , Silben
dieser hocherhabenen Grußbotschaft' zu betrachten. Täten sie das, würden sie im
,Siegel unserer Kaiserin* Buchstaben geistlicher Gnade (cbaracteres spiritualis gratiai)
finden, die mit dem Siegelring der göttlichen Autorität (anulo auctoritatis) eingeprägt
worden seien. Die Silben dieser an Maria ergangenen salutätio, vermutet Bernhard,
seien jenem versiegelten Buch entnommen, von dem Isaias sagte: Werde es einem
Wissenden gegeben, der die Buchstaben nicht kennt, der könne es auch nicht
lesen (Is. 29,11). Die Silben des Engelgrußes vergleicht er außerdem mit vier
hellstrahlenden Edelsteinen, die in das Siegel Marias eingelassen sind. Der erste
heiße Gratia plenay der zweite Dominus tecum^ der dritte benedicta tu in mulieribus, der
vierte, von Elisabeth so benannt, benedictus fructus ventris tui.
Bernhard wollte sagen: die Botschaft, die der Engel Maria mündlich über-
brachte, ist im Himmel verfaßt und geschrieben worden. Der mündlichen Mittei-
lung durch den Engel entsprach die Imprägnierung eines im Himmel geschriebenen
Textes in den mit Siegelwachs vergleichbaren Schoß Marias. Der Text, den das
sigillum imperatrms nostrae nach der Empfängnis zierte, wurde von Gott verfaßt und
im Akt der Verkündigung mit Hilfe eines Siegelringes Maria eingeprägt193. Gottes
Selbstmitteilung durch einen Text, der — wie bei der Anfertigung eines Siegels —
in menschliche Materie gedrückt wird, bedeutete Menschwerdung Gottes im Schoß
Marias.
Petrus Cellensis (1115 — 1183), von dem nicht weniger als sieben Predigten
zum Tag der Verkündigung stammen, hat die schriftmetaphorischen Ansätze und
Entwürfe Bernhards abgewandelt und erweitert. Seine erste Predigt beginnt er mit
der Aufforderung des Isaias ,Nimm Dir ein großes Buch' (Sume tibi librum grandem\

192
MIGNE, PL 182, Sp. 1141—1142 (ebd. auch das Folgende). — Der Prediger und Theologe Leonhard
von Udine (de Utino) (um 1400—1469/70) schrieb diesen Satz dem hl. Chrysostomus zu: Crisostomtts
in sermone dicit sie: Hec salutatio in sacrario trinitafis nata est, digito dei scripta est (Quadragesimales
sermones [wie Anm. 163]).
193
Durch die mittelhochdeutsche Dichtung des späten Mittelalters ist die von Bernhard in die Mariolo-
gie eingeführte Metapher des Siegeins auch deutschsprachigen Lesern vermittelt worden. Konrad
von Würzburg veranschaulichte am Beispiel des Siegeins die Vereinigung Gottes mit dem Menschen.
Deshalb bezeichnete er Maria als ein ware% ingesigel / darin nach menschlicher art / diu gotheit gedrücket
wart (Die goldene Schmiede des Konrad von Würzburg, hg. von EDWARD SCHRÖDER, Göttingen
1926, V. 490-493). Vgl. auch Konrad von Würzburg, Leiche Lieder und Sprüche l, V. 53-54, in:
Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg, hg. von EDWARD SCHRÖDER, 3: Die Klage der
Kunst. Leiche Lieder und Sprüche, Berlin 1926, S. 10: Di figure wart gestempbet / in ir kitischen forme
insigel. Heinrich von Mügeln begreift den dreifaltigen Gott als Prägestempel, der seine Form in die
als Siegelwachs gedeutete Maria drückt: dryfeldiggot sin forme drang in menschenn wachß (Die kleineren
Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Erste Abteilung: Die Spruchsammlung des Göttinger Cod.
Philos. 21,1. Teilband, hg. von KARL STACKMANN, Berlin 1959,1,11, S. 16). Der Relation forme -
wacbß liegt das aristotelische Forin-Materie-Prinzip zugrunde. „Gott ist dabei das formgebende,
prägende Prinzip, die aus Maria angenommene Menschheit ist der gestaltempfangenden Materie,
dem Wachs, vergleichbar; aus der Form des Prägestempels und der Materie des Wachses entsteht
die materialisierte Form des Siegelbildes" (KERN [wie Anm. 178] S. 53—55).

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362 Klau n Schreiner

Is. 8J)!'M. Um das Wort des Propheten mit der Botschaft des Engels in einen
Zusammenhang zu bringen, macht er aus dem ,großen Buch* eine Metapher für
den Heiligen Geist. Dieses große Buch setze sich aus mehreren Bänden zusammen
(plura volwnina\ in denen Sentenzen, Wörter und Taten der Heiligen Dreifaltigkeit
stünden: die Vorhcrbestimmung des Nichtseienden, die Erschaffung des Seienden,
die Erwählung der Guten und die Verwerfung der Schlechten, die Rechtfertigung
der Berufenen und die Verherrlichung der Gerechtfertigten, das Vorauswissen der
Sünde Adams, aber auch die Vorherbestimmung der Jungfrau Maria und die
Fleischwerdung des Wortes, das der gefallenen Menschheit ihre verlorene Glückse-
ligkeit zurückgab. Aus diesem Buch habe Gabriel der Jungfrau Maria einen
Brief (epistola) gebracht, dessen Begrüßungsformel lautete: Ave, Maria, gratia plena,
Dominus tecum (Luk. 1,28). Dieses Blatt (paginula)^ genommen aus jenem großen, das
Alte und das Neue Testament umfassenden Buch, habe,eine für die Allgemeinheit
bedeutsame Botschaft, Kraft und Wirkung enthalten. Bei Maria habe der Gruß
grenzenlose Freude ausgelöst; diejenigen, die er aus ihrer Sündenknechtschaft
befreite, sollten sich über den Inhalt der ungewöhnlichen Botschaft täglich und
stündlich Gedanken machen.
Auf die Frage, was denn mit dem ,Griffel des Menschen' (stylus hominis)
gemeint sei, gibt Petrus Cellensis folgende Antwort: Der Griffel sei an einem Ende
spitz, um Buchstaben in Wachs einzugravieren, am anderen stumpf und glatt, um
mißliebige Fehler glatt zu machen und auszutilgen. Diese Aufgabe habe Jesus in
der Tat erfüllt, indem er Laster tilgte und Tugenden pflanzte. Der Stylus pungens
erinnere an die Aufforderung Jesu zur Buße (Matth. 3,2), der Stylus delens an Jesu
Vergebung der Sünden (Luk. 7,47)195.
In seiner dritten Predigt fordert Petrus, Abt der bei Troyes gelegenen Benedik-
tinerabtei Moütier-la-Celle, seine Hörer und Leser auf, den Inhalt des von Gabriel
an Maria überbrachten Himmelsbriefes (epistola coelestis) in ihrem Innern ständig
, wiederzukäuen' (ruminare) und genau zu bedenken, mit welchen Buchstaben dieser
geschrieben und mit welchen Farben er gemalt sei196. Die Begrüßungsformel des
Briefes laute: Ave Maria, gratia plena. Den Text der Botschaft bilde der Segen des
Engels (Benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris ////). Begrüßung und Text
seien in den Schreibstuben des Himmels mit dem Finger Gottes geschrieben
worden197.
In seiner fünften Predigt preist er Maria selbst als Buch198, das — gleich der
Buchrolle in der Rechten Gottes (Apoc. 5,1) — auf der Außen- und Innenseite
beschrieben war (über.intus etforis scriptus)\ außen mit Demut, innen mit unversehrter
Jungfräulichkeit. Dieses Buch wurde aus dem ,Pergament des ersten Menschen' (de
membranulis primi hominis] gefertigt oder, um es genauer zu sagen, aus einer Haut,
die durch Erbschuld befleckt und deshalb rauh und borstig war. Die vier Kardinaltu-
genden haben das krude Schreibmaterial für den invisibilis scriptor^ den Heiligen

194
Petrus Cellensis, Sermones, Sermo 22: In annuntiatione dominica l (MIGNE, PL 202, Sp. 705—706).
195
Ebd. Sp. 707; vgl. auch Sermo 26: In annuntiatione dominica 5, Sp. 719—720.
196
Ebd. Sermo 24: In annuntiatione dominica 3; Sp. 713.
197
Ebd.: Saus autem de titulo et texto qui de scriniis coelesiibus digito Del scripti) ad nos efßuxerunt.
198
Ebd. Sermo 26: In annuntiatione dominica 5, Sp. 718—720.

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Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 363

Geist, zubereitet, indem sie es abschabten, glätteten, linierten und beschrieben.


Tapferkeit und Stärke (fortitudo) beseitigten sämtliche Haare, welche seit Adams
Fall die Sündenhaut des Menschen überziehen — den ,Zunder der Sünde* (formet
peccatf). Zucht und Maß {temperantid) fungierten als glättender Bimsstein (pumex),
der die von Adam ererbte Unreinigkeit aus dem innersten Wesen Marias entfernte.
Die Gerechtigkeit (iustitia) zog Linien, d. h. sie lenkte Mariens Schritte auf den
unverbogenen Weg der Gerechtigkeit des Herrn. Als schreibende Hand (manus ad
scrtbenduni) wirkte die Weisheit Gottes, die aus den Dornen des Davidsgeschlechtes
Tintenfaß und Tinte (atramentarium et incaustuni) gefertigt hatte. Prudentia schrieb
den englischen Gruß und vermittelte die übernatürliche Zeugung des göttlichen
Wortes. Der Heilige Geist sorgte für die künstlerische Ausschmückung der Hand-
schrift: Spiritus sanctus hanc scripturam illuminat. Die hierzu notwendigen Farben
nahm er aus dem ^erhabenen Hörn* (cornu sublimi) des himmlischen Thrones, auf
dem Gottvater seine Herrschaft ausübt; gleich dem Illuminator, der Versinitialen
durch besonders prachtvolle Ausstattung heraushebt, zierte der Gottesgeist Maria
mit glänzenden Wundern. Das Buch mußte schließlich noch gebunden werden;
dazu dienten die Riemen (corrigiae) der Zucht und des Glaubens.
Bernardino de Busti begnügte sich nicht mit einem Briefschreiber; er kennt
ihrer drei: Gottvater, Gottsohn und den Heiligen Geist199. Der Engel des Franziska-
nerpredigers kam nach Nazareth mit nicht weniger als drei Briefen und drei
Jungfrauen, mit der Klugheit, der Jungfräulichkeit und der Demut. Den Brief des
ewigen Vaters (litterae eterni patris) öffnete Maria mit großer Furcht. Als sie
geschrieben fand Ave gratia plena, fragte sie Prudentia um Rat. Diese meinte: Maria
solle nicht übereilt und unbedacht dem göttlichen Vorhaben zustimmen, sondern
es sich gut und gründlich überlegen. In schwierigen Angelegenheiten empfehle es
sich, mature et cum tnaxima deliberatione Entscheidungen zu treffen.
Als Gabriel sah, daß Maria verwirrt war, gab er Maria den zweiten Brief, den
der Gottessohn geschrieben hatte (secundam litter am ex parte filii dei). In diesem
stand: ,Fürchte Dich nicht, Maria, Du hast nämlich Gnade gefunden usw.' (Luk.
1,30—33). Danach bat Maria die Jungfrau Virginitas um Rat. Diese redete ihr zu,
das Geschenk der jungfräulichen Geburt anzunehmen und zu umarmen. Dennoch:
Maria zweifelte. Sie fragte sich, wie das denn geschehen solle, nachdem sie keinen
Mann erkenne und es auf natürliche Weise unmöglich sei, absque sue integritatis
violatione zu empfangen und zu gebären. Maria zögerte, weil sie ihre Jungfräulichkeit
rein und unversehrt bewahren wollte.
Daraufhin gab ihr der Engel den dritten, vom Heiligen Geist geschickten
Brief (tunc dedit illi terciam litteram, quae mittebatur a spiritu sanctd). In diesem fand
sie geschrieben: ,Der Heilige Geist wird über Dich kommen usw.* (Luk. 1,35—
37). Dann fragte Maria das dritte Fräulein, die Humilitas. Diese bedrängte sie
flehentlich, indem sie sagte: ,Die ganze der Sünde verfallene Welt bittet Dich um
Zustimmung zum göttlichen Willen. Zögere deshalb nicht, dem Boten Dein Jawort
zu geben und den Sohn zu empfangen/ Maria beugte in größter Demut die Knie,
richtete Hände und Geist zum Himmel und sagte: ,Siehe ich bin eine Magd des

199
De Busti, Mariaie (wie Anm. 62) pars 3, scrmo l, f. 163n~b. Ebd. auch das Folgende.

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364 Kiaus Schreiner

Herrn, mir geschehe nach Deinem Wort' (Luk, 1,38)· Nachdem sie ausgesprochen
und ihre Einwilligung gegeben hatte, ereignete sich die corporis christi conceptio et
formafh in ihrem Jungfräulichen Schoß.
An dem Brief, den Gabriel überbringt, hängen gemeinhin drei aus Rotwachs
gefertigte Siegel. Die Farbe Rot ist mit Absicht gewählt. Rotes Wachs (cera rubra)
als Siegelwachs zu verwenden, war ursprünglich ein allein dem König vorbehaltenes
Recht. Rotwachs wurde als signum eminentiae et Majestatis gedeutet, als Zeichen
hcrausragender Würde und Majestät. Die Skala verwendbarer Siegelfarben war
hierarchisch gestuft. Rot nahm den höchsten Rang, ein, dann folgten grün und
gelb. Den verschiedenen Farben entsprachen hierarchisch gestufte Ränge in der
spätmittelaltcrlichen Ständegescllschaft. Rot war die Farbe des Königs. Herren und
Kommunen, die bei der ßesiegelung der von ihnen ausgestellten Urkunden gleich-
falls Rotwachs verwendeten, taten das in der Regel kraft königlicher Privilegie-
rung200. /

Wie nachhaltig das Schrift- und Kanzleiwesen die mariologische Bild- und
Verkündigungssprache prägte, beweist auch das, was Jakob von Varazze (um
1230—1298) zum Lob Marias vorträgt201. Maria, meint der Legendensammler,
Dominikaner und Erzbischof, sei am himmlischen Hof die Kanzlerin Gottes
(Cancellaria dei est maria in celesti curia). Ausgangspunkt seines Vergleichs ist der
päpstliche Hof, an dem es ,drei Arten von Urkunden' (tria genera litterarum) gebe:
Einige seien simplicis iustitie^ Urkunden also, die einen Befehl erteilen oder die
Entscheidung eines einfachen Rechtsfalles betreffen; andere seien reine Gnaden-
briefe (pure gratie)\ die dritte Art würde eine Mischform darstellen und gleicherma-
ßen einen richterlichen Entscheid (iustitiä) und die Gewährung einer Gnade (gratia)
enthalten. In vergleichbarer Form beschäftige Gott an seiner himmlischen Kurie
drei Kanzler (cancellarii). Einer stelle litterae simplicis iustitie aus. Das sei Sache des
Erzengels Michael, der auf Bildern immer als Seelenwäger dargestellt werde. Die
Guten belohne er nach der Größe ihrer Verdienste; die Schlechten bestrafe er nach
dem Maß ihres Vergehens. Der Apostel Petrus, der zweite Kanzler des himmlischen
Hofes, stelle litterae mixtae scilicet iustitie et misericordie aus. Diese Kompetenz zeige
sich auch in seiner Tätigkeit als himmlischer Pförtner. Auf Bildern werde er
gemeinhin mit zwei Schlüsseln dargestellt. Mit dem einen öffne und schließe er die
porta iusticie, durch welche jene eintreten, die ex operibus iustitie gerettet werden;
durch die porta misericordie würden jene in den Himmel gelangen, die allein aus
Gottes Gnade und ohne Werke (ex so/a dei gratia sine operibus) Erlösung finden. Die
Jungfrau Maria sei der dritte Kanzler (tertius cancellarius)y dexn das Recht zukomme,
reine Gnadenbriefe (litterae pure gratie et misericordie) auszustellen. Diese gewähre,
sie ohne jedwede Strafe des Fegfeuers den ganz besonders Frommen (valde devoti).
Unfromme Sünder könnten nur mit litterae simplicis iustitie rechnen, durch welche

200
ERICH KITTEL, Siegel (Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde 11) Braunschweig 1970, S.
171 f. — Vgl. auch und vor allem GEBHARD LEVIN LUEDECKE, De cera rubra et sacro encausto, in:
SAMUEL STRYKJUS, Dissertationum juridicarum Francofurtensium volumen novum sive IV, ex jure
publico, privato, feudali et statutario materias exhibens, Disputatio quinta, Francofurti 1743, S.
117-140.
201
Jacobus de Voragine, Mariale sive sermones de beata Maria virgine, Venetiis 1497, f. XF~~V.

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Marienverehtung, Lesekultur, Schriftlichkeit 365

eine angemessene Strafe ausgesprochen wird. Den Lauen (i% devotione tepidi et remiss!)
würde Maria Utterae mixtae sciticet iustitie et gratie erteilen — Urkunden, die Gnade
der Frömmigkeiten wegen (gratia propter devotionem) zuerkennen, aber nicht ohne
Strafe des Fegfeuers wegen ihrer Nachlässigkeit und Trägheit.
Vorgebildet sieht Jakob von Varazze die Schreibtätigkeit Marias in der alttesta-
mentlichen Königin Esther, von der gesagt wird, sie habe Schreiben ausgefertigt,
daß die Juden gerettet, Feinde getötet und Arme beschenkt würden. Entsprechend
seien die Juden, die fromm gegenüber Maria sind, mit Utterae suae salvationis
gewappnet. Die Feinde seien als Sünder zu begreifen, die Utterae sue damnationis bei
sich tragen. Die Armen, die sich in ihrer Frömmigkeit träge und nachlässig
verhalten, seien im Besitz von Utterae sue purgacionis. Diese würden ihnen ,kleine
Geschenke* (minusculd) verbürgen, d. h. ,kleine Belohnungen4 (parva premia) in Form
,kleiner Gnade' (parva pmd)\ letztere sei jedoch wegen der Pflichtvergessenheit und
Trägheit 3mit der Strafe des Fegfeuers' (cwn purgatorii pena) gekoppelt.
Mit Literatur, Schriftwesen und Moral hat es zu tun, wenn am Ärmelsaum
der Verkündigungsmaria die Anfangsbuchstaben des ABC angebracht werden (Abb.
28, 29). Diese erinnern an Predigten, Erbauungstexte, Standestraktate und Sterbe-
künste, die mit jedem Buchstaben des ABC eine bestimmte Lebensregel verbanden.
Für das Erlernen klösterlicher Disziplin und Frömmigkeit gab es ein eABC. des /
moynches de vlyslichen studeren wilt in der scholen gotz ihesu christi'202.
Ein Augustinereremit schrieb in der Mitte des 15. Jahrhunderts ein ea. b. c.
darius sancti Augustini'203. Ein mystisches ABC mit alphabetisch aufgebauten
Betrachtungen wird dem Dominikaner Nikolaus von Straßburg (f nach 1331)
zugeschrieben. Es trägt den Titel: 'Alphabetum divini amoris seu de elevatione
mentis in Deum*204. Johannes Geiler von Kaysersberg verfaßte ABC wie man
sich schicken solt zu einem kostlichen seligen Tod'205. Mit dreiundzwanzig, an das
ABC angelehnten Lebensregeln bekehrte ein Laie einen hohen lerer der heiligen geschrifft
%u einem volkomen leben™. Des gebures abc stand für heilige Einfalt im Gegensatz zu
weltlicher Gelehrsamkeit, die dem Erwerb überzeitlichen Heils hinderlich ist207.
Abecedarien wiesen mitunter auch einen direkten Bezug zu Maria auf. Ein
'guot a b c ' vermerkt unter dem Buchstaben Y:ynserfrouwen mariam die reinen magt

202
Vgl. Deutsche und niederländische Handschriften, bearb. von KARL MENNE (Mitteilungen aus dem
Stadtarchiv von Köln: Die Handschriften des Archivs Heft X, Abt. l, Teil I und Teil II) Köln
1937, S. 119.
203
Als Titel und Schreiber des Textes wird im Explicit der Handschrift (Clm. 26759, f. 154r) angegeben;
a. b. c. darius sancti Augustini per manusfratris Leonardi Mulhausen de Ratispona. Inventione sancti Stephani
H57. Vgl. ADOLAR ZUMKELLER, Der Wiener Theologieprofessor Johannes von Retz O.S.A. (f nach
1404) und seine Lehre von Urständ, Erbsünde, Gnade und Verdienst, in: Augustiniana 21, 1971, S.
505-540, hier S. 520.
204
NIKOLAUS PAULUS, Der Kartäuser Nikolaus Kempf von Straßburg, in: Archiv für elsässische
Kirchengeschichte 3, 1928, S. 22-46, hier S. 29 f.
205
HERBERT KR A UM E, Die Geisön-Übersetzungen Gcilers von Kaysersberg. Studien zur deutschsprachi-
gen Gerson-Rezeption, Zürich—München 1980, S. 256.
206
Cod. Vindob. 3009, f. 141'-142'.
207
KONRAD KUNZE—ULLA WILLIAMS—PHILIPP KAISER, Information und innere Formung. Zur Rezep-
tion der 'Vitaspatrum*, in: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter
(wie Anm. 146) S. 123-142, hier S. 135.

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366 Klaus Schreiner

bitten das man dis buochstaben wol lerne'3***. Hin ausgesprochenes Marien*ABC überliefert
eine Kölner Handschrift aus der zweiten Hälfte des 15, Jahrhunderts. Dieses begann
mit folgenden Regeln: Alle die mariam loben Die wel got besonder begaben. Bis marien
truwe \md holt so behalt sie vor dich alle dine scbolt, C%u mariam dich alt^ijt fuge vnd habe
%u ir gut genüge. Zum Buchstaben F hieß es: Froliches leben selig sterben kans vns maria
wo! erwerben. Der Buchstabe M bildete den Anfang folgender Maxime: Muterlich
hert^e vns allen bewise da% dich al man lobe vnd prise. Unter dem Buchstaben O wurde
gesagt: O muter der barmbert^ichkeit mir sint alle myne sunden leit. Die drei letzten, mit
den Buchstaben , und Z verknüpften Regeln lauteten: Cristus din vnd godes son
wolle mir auch da^ gemeyne loen. Ymmer mit sinen heiligen geben eynen phennig ich meyne
da% ewige leben. Zu lobe vnd ere sinem heiligen namen vnd dir siner lieben muter Amen2®*.
Die beabsichtigte Wirkung des Bildes ist eindeutig: Marienverehrer sollen in
derartigen Bitt- und Gebetsformeln ihre Liebe zu Maria zum Ausdruck bringen.
Das Bild nimmt seine Betrachter in die Pflicht.
Interesse verdient noch ein weiteres, in spätmittelalterlichen Verkündigungs-
darstellungen erkennbares Detail. Es tauchen Uhren auf, teils gewöhnliche Stunden-
gläser, teils mechanische Räderuhren (vgl. Abb. 33, 34). Zu fragen bleibt, was
Maler ausdrücken wollten, wenn sie den Wohn-, Bet- und Schlafraum Mariens mit
einer Uhr ausstatteten. Ist die Uhr ein belang- und bedeutungsloses Requisit, das
routinemäßig verwendet wurde, um einen Innenraum abwechslungsreicher zu
gestalten oder mit dem Mobiliar einer bürgerlichen Familie ansehnlicher zu machen?
Oder haben sich die Maler etwas dabei gedacht, als sie die Kammer Mariens, in
die der Engel kam, mit einer Uhr schmückten?
Sucht man den theologischen Symbolwert der Uhr im Zimmer Marias, in dem
die Verkündigung durch den Engel stattfand, auszumachen, könnte man auf zeitge-
nössische theologische Dispute hinweisen, in denen die Frage aufgeworfen und erör-
tert wurde, zu welcher Tageszeit denn der Engel bei Maria von Nazareth erschienen
sei — am Morgen, zur Mittagszeit oder am Abend. Am jeweiligen Zeigerstand der
Uhr wäre dann abzulesen, welcher Tradition der Maler jeweils folgte.
Im Zweifelsfall dürfte einfacheren Lösungen ein höheres Maß an Plausibilität
zukommen. Vieles spricht für die Annahme, daß die Uhr Marias Stube als Zimmer
einer mit Büchern befaßten Frau charakterisieren sollte. Vereinzelt seit der Mitte
des 14., verstärkt seit dem 15. Jahrhundert wurde die Uhr zum Kenn- und
Markenzeichen der Zelle und Studierstube, in denen klösterlich und weltlich
lebende Gelehrte ihrer Arbeit nachgingen. Das früheste Beispiel findet sich in
einem 1352 vollendeten Fresko im Kapitelsaal des Dominikanerkonvents von San
Nicolo in Treviso210. Die Uhr ordnet den Tageslauf des Mönchs, der gehalten ist,.

208
Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, hg. von WILHELM WACKERNAGEL, Basel 1876
(Reprint Darmstadt 1964), S. 607.
209
Handschrift Stadtarchiv Köln G. B. P 47, f. l r ~ v . VgL Deutsche und niederländische Handschriften
(wie Anm. 202) S. 456. — Marianische Abecedarien bringt auch STEPHAN BEISSEL, Geschichte der
Verehrung Marias in Deutschland während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Religionswissenschaft
und Kunstgeschichte, Freiburg i. Br. 1909 (Reprint Darmstadt 1972), S. 529 f.
210
Vgl. dazu WOLFGANG LIEBENWEIN, Studiolo. Die Entstehung eines Raumtyps und seine Entwicklung
bis um 1600 (Frankfurter Forschungen zur Kunst 6) Berlin 1977, S. 53 und Abb. 16; GERHARD
DOHRN-VAN ROSSUM, Zeitordnung. Die mechanische Uhr und die Einführung der modernen

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Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit 367

für Studium^ Chorgebet und Meditation genau festgelegte oTermine und Zeitfristen
zu beachten: Die Uhr regelt außerdem die Zeitökonomie des nicht an eine Klosterre-
gel gebundenen Intellektuellen, der durch gelehrte Anstrengung die fliehende
Zeit, die fuga dierumy aufzuhalten und die knapp bemessene Lebensfrist durch
erinnerungswürdige literarische Hervorbringungen zu verlängern vermag.
Derartige Uhren, wie sie im Laufe des 15. Jahrhunderts in den Studier Stuben
eines Augustinus und Hieronymus auftauchen und schließlich auch im Gemach
Marxens zur Darstellung kommen, sind neuerdings als Zeichen einer „feudal restau-
rativen Opposition gegen den bürgerlichen Zeitbegriff', als Einsprüche „gegen
die von Wucher und Handelskapital gesetzten Zeitnormen" gedeutet worden211.
Spekulationen aus den Tiefen moderner Gesellschaftstheorie sind kein Ersatz für
bild- und textbezogene Interpretation. Antibürgerlicher Widerspruchsgeist ist in
Marias Uhr nicht auszumachen.1 Die Uhr steht für asketische Selbstzucht, ermahnt
zu geordnetem Umgang mit der Zeit und dient nicht zuletzt als Statussymbol für
die Lebensform eines Büchermenschen212.

ABSCHL1ESSENDE ERWÄGUNGEN

Im Widerstreit zwischen den Verfechtern und Gegnern einer verstärkten


Alphabetisierung der Laien213 ergriff Maria eindeutig Partei für die Leser. Maria
förderte und legitimierte einen Umgang mit Büchern, der, wie es Ulrich von
Pottenstein dem Leser seines katechetischen Werkes gegenüber ausdrückte, dem
nuc^ deiner seele, deines hayles vnd der ewigen selichait zugute kommt214.
Von zahlreichen Texten und Bildern, die Maria als Leserin und Liebhaberin
von Büchern zur Anschauung brachten, gingen verhaltensbestimmende Erwartun-
gen aus. Diese wollten Frauen zum Lesen anleiten oder ihre Lesebedürfnisse
rechtfertigen. Marias Verhalten, wie es im späten Mittelalter dargestellt und be-
schrieben wurde, bot keine visuellen und gedanklichen Anknüpfungspunkte, den
Zugang zu Büchern nach geschlechts- oder standesspezifischen Normen zu regle-
mentieren. Sowohl in der Öffentlichkeit von Kirchen als auch in Räumen persönli-
cher Andacht verkündeten Darstellungen aus dem Leben Mariens, was mariologi-
sche Texte in schriftlicher Form überlieferten: Bücher begleiteten Maria durchs
Leben. Lesen lernte sie von ihrer Mutter Anna. Als Tempeljungfrau vertiefte sie
sich in die Heiligen Schriften. Als ihr der. Engel Gabriel Gottes Botschaft brachte,
las sie im Psalter oder, wie andere mutmaßten, beim Propheten Isaias, der vorausver-
kündet hatte, daß die Jungfrau einen Sohn empfangen und gebären werde. Spätmit,-

Stundcnrechnung seit dem Spätmittelalter, ungedr. Bielefelder Habilitationsschrift 1989, l, S. 167,


376-378.
211
So NORBERT SCHNEIDER, Zeit und Sinnlichkeit. Zur Soziogenese der Vanitas-Motivik und des
Illusionismus, in: Kritische Berichte 4/5, 1980, S, 8—34.
212
Vgi. dazu auch WERKER FRIEDRICH KÜMMEL, Der Horno litteratus und die Kunst, gesund zu leben.
Zur Entfaltung eines Zweiges der Diätetik im Humanismus, in: Humanismus und Medizin, hg.
von RUDOLF SCHMJTZ (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 11) Wiesbaden
1984, S. 67-85, hier S. 78ff.
233
SCHREINER (wie Anm. 123) S. 257-354.
214
HARMENJNG (wie Anm, 146) S. 101.

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368 Klam Schreiner

tclaltcrlichc Maler beweisen im Erfinden von Lcsesituationcn noch mehr Phantasie,


Eine Gottesmutter ohne Buch konnten sie sich schwerlich vorstellen. Betrachter
ihrer Bilder mußten zu der Überzeugung gelangen: Maria las, als sie im Wochenbett
lag; sie las, als sie das Jesuskind stillte; sie las, als sie auf dem Esel saß, der sie nach
Ägypten trug (Abb. 35). Sitzt Maria im Verschlossenen Garten*, der, gemeinhin
'ParadiesgärtleirT genannt, Marias Sündelosigkeit zur Anschauung bringen will,
liest und blättert sie gleichfalls in einem Buch.
Den Jesusknaben hat Maria frühzeitig eingeschult und trug so einem Bildungs-
grundsatz spätmittelalterlicher Kirchenreformer Rechnung, die christliche Eltern
ermähnten, ihre Kinder mit sieben Jahren zur Schule zu schicken. Maria beherrschte
die sieben freien Künste, um die Heilige Schrift richtig lesen und verstehen zu
können. Zwischen Auferstehung und Pfingsten lehrte sie die Apostel die Geheim-
nisse von Gottes Menschwerdung. Apostel lasen ihr vofr, als sie starb, weil es zur
Kunst spätmittelalterlichen Sterbens gehörte, sich in der sterbenden not von einem
getrüiven, got^foerchtigen menschen erbauliche und trostgebende Texte vorlesen zu
lassen215. Prediger und Theologen deuteten die Menschwerdung Gottes als wunder-
baren Beschriftungsvorgang, bei welchem sich die göttliche Dreifaltigkeit mit ihrer
Macht, Weisheit und Güte förmlich in den Schoß der Jungfrau eingeschrieben
habe. Maria selbst wurde mit einem Buch verglichen, in dem Kleriker, Klosterfrauen
und Laien mit Eifer lesen sollten, um denken und handeln zu können, wie es
Gottes Willen entspricht.
Prediger und Theologen des Mittelalters machten Maria zum Vorbild der lesen-
den Frau, das zur Nachahmung verpflichtete. Autoren, die aus der natürlichen Schwä-
che der Frau auch eine geistige machten, hielten sich nicht an das Beispiel Marias,
sondern an ihre Vorurteile. Im späten Mittelalter ist der lesenden Maria das Gewand
einer disziplinierten Maria übergestülpt worden. Als züchtige Jungfrau blickte sie
auf den Boden, nicht mehr in die Augen des göttlichen Boten. In frühneuzeitlichen
Darstellungen wurde die lesende Maria des Mittelalters vielfach durch eine kochende,
nähende und flickende Maria abgelöst. Teils übernahm Joseph die Rolle des Lesers
(Abb. 37); teils wurde die ganze Heilige Familie buchlos. Alle arbeiteten — Jesus,
Maria und Joseph. Arbeitsteilung und Arbeitsethos forderten ihren Preis.
Weltliche Autoren der frühen Neuzeit hielten es für sittlich gefährlich, wenn das
ungefestigte gemüt der Frauen für und für %u dem buch greife216. Die von Jansenisten
erhobene Forderung, daß auch Frauen die Heilige Schrift lesen dürften, weil deren
häretischer Mißbrauch nicht auf die spontane Denkungsart von Frauen, sondern auf
den Hochmut von Männern zurückzuführen sei, verurteilte 1713 Papst Clemens XI.
kraft seiner lehramtlichen Autorität als groben Irrtum217. Indem er das tat, machte er -
sich zum Sprecher traditionsgestützter Vorurteile. Auf die bibellesende Maria, die
Frauen einlud, es ihr gleichzutun, konnte sich der Papst nicht berufen.

215
KRAUME (wie Anm. 205) S. 102.
216
S. oben S. 344.
217
ELISABETH KovÄcs, Religiosität und theologische Interessen des Prinzen Eugen, in: Zeitschrift für
historische Forschung 15, 1988, S. 437-451, hier S. 445 f.

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