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Heinrich Böll wurde am 21. Dezember 1917 in Köln als achtes Kind des Schreinermeisters
Viktor Böll und seiner zweiten Ehefrau Maria geb. Hermanns geboren. Seine Familie war
katholisch und pazifistisch, mit starken Glauben und die Opposition zum Nationalsozialismus.
Heinrichs Vater stammte aus Essen und beschäftigte sich mit den Schnitzarbeiten. Eine Zeit lang
ging es der Familie gut, aber während der Inflation im Jahr 1923 gerieten sie in eine Finanzkrise
und mussten das Familienhaus verkaufen. Heinrich erfuhr schon am Anfang seines Lebens
Armut.
Das Heraufkommen des Nationasozialismus war ein wichtiges Ereignis, das in seine
Jugendzeit fiel. Bölls Elternhaus war gut katholisch gewesen, und zu Beginn der
nationalsozialistischen Herrschaft fanden dort sogar Treffen von katholischen Jugendverbänden
statt. Die bis in den Alltag und in die persönlichen Beziehungen in Familie, Schule und
Öffentlichkeit hinein wirkenden Veränderungen nahm der junge Heinrich Böll mit wachsender
Bedrückung wahr.
Er besuchte die katholische Schule von 1924 bis 1928 und danach das staatliche
Gymnasium. Nach dem Abitur im Jahr 1937 begann er eine Buchhändlerlehre, die er aber bald
verließ, und zu dieser Zeit kam es zu seinen ersten schriftstellerischen Versuchen.
Im Jahr 1938 begann sein Reichsarbeitsdienst, und in 1939 erschien sein erster Roman
Am Rande der Kirche. Im selben Jahr nahm er an der Universität zu Köln ein Studium der
Germanistik und der klassischen Philologie auf. Eine klare Berufsvorstellung hatte er nicht
entwickelt; mit einer Lehre im Buchhandel und der Immatrikulation an der Universität nahm er
Anlauf zu einer Ausbildung, doch durch den Zweiten Weltkrieg verlief sein Leben gänzlich
anders. Er wurde zur Wehrmacht eingezogen (1939-1945) und als Infanterist nahm er am
gesamten Krieg an vielen Fronten teil. Er kam 1945 in die US-amerikanische
Kriegsgefangenschaft, wurde aber ein paar Monate später entlassen und kehrte in das zerstörte
Köln zurück. Seine Kriegserfahrungen sind dokumentiert in der 2001 veröffentlichten
zweibändigen Ausgabe seiner Briefe aus dem Krieg 1939–1945.
Die Erfahrungen des Krieges, der Gefangenschaft und die Not der Nachkriegsjahre
drängten ihn zur literarischen Gestaltung. Seine Familie konnte er davon nicht unterhalten. Seit
1942 war er mit der Lehrerin und Übersetzerin Annemarie geb. Czech verheiratet. Drei Söhne
wurden in den Jahren zwischen 1947 und 1950 geboren. Auch wenn Böll durch gelegentliche
Einkünfte aus schriftstellerischer Tätigkeit und für kurze Zeit durch sein Gehalt als Angestellter
der Stadt Köln zum Familieneinkommen beitrug, blieben doch die Bezüge seiner Ehefrau die
sichere finanzielle Grundlage der Familie.
Im Krieg schrieb Böll meistens Briefe, und nach dem Krieg schrieb er wieder Belletristik,
versuchte verschiedene Jobs, versuchte wieder zu studieren, und gab endlich 1947 sein Studium
auf.
Sein erster Nachkriegsroman, Kreuz ohne Liebe, entstand 1946 als Beitrag zu einem
Wettbewerb, und seine Kurzgeschichten erschienen in Zeitschriften 1947. Die Themen seiner
frühen Werken sind die Erfahrung des Krieges und gesellschaftliche Fehlentwicklungen der
Nachkriegszeit in Deutschland. Einige der besten Kurzgeschichten erschienen 1950 in dem
Sammelband Wanderer, kommst du nach Spa…; weitere Kurzgeschichten aus dieser Zeit kamen
im Sammelband Die Verwundung (1983). Seine erste selbständige Buchveröffentlichung, die
Kriegserzählung Der Zug war pünktlich erschien in 1949. Seitdem beteiligte er sich mit
Erzählungen, Satiren, Hörspielen und Romanen an vorderster Front am literarischen Leben und
griff immer wieder vehement in die politische Diskussion ein. Dies geschah auch in Form von
Reden, Interviews und Beiträgen in der Presse. Wichtige Quelle für diese Zeit ist der posthum
veröffentlichte Briefwechsel mit seinem Freund aus Kriegsgefangenschaft in Frankreich, Ernst-
Adolf Kunz (Alias Philipp Wiebe).
1951 wurde Böll in die Gruppe 47 eingeladen. Schon davor hatte er einige Werke
veröffentlicht, diese aber noch nicht sehr bekannt. Er wurde zur siebten Tagung der Gruppe
eingeladen, las die satire Die schwarzen Schafe und gewann den Preis der Gruppe 47. In der
kommenden Phase seines Schaffens, schrieb er viele Werke: Wo warst du, Adam? (1951), Und
sagte kein einziges Wort (1953), Haus ohne Hüter (1954), Irisches Tagebuch (1957), Doktor
Murkes gesammeltes Schweigen (1958), Billard um halbzehn (1959), Ansichten eines Clowns
(1963) und Ende einer Dienstfahrt (1966). Im Jahr 1967 erhält Böll den Georg-Büchner-Preis
der Deutschen Akademie für Dichtung und Sprache.
Nach der Aufarbeitung der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegserfahrung, für die der
Begriff der „Trümmerliteratur“ geprägt wurde, brachte die Entwicklung der Bundesrepublik
neue Themen hervor. Mit vielen Intellektuellen teilte Böll die kritische Beurteilung der
Gründungsphase der Bundesrepublik unter den Kanzlern Adenauer, Erhard und Kiesinger, deren
markante Merkmale für ihn u.a. Wirtschaftswunder, Remilitarisierung und restaurative
Tendenzen waren. Er setzt sich für den Politikwechsel ein, der 1969 mit der Wahl Willy Brandts
zum Bundeskanzler und seiner Ostpolitik zustande kam.
In der Adenauer-Ära nahm Böll eine Gegenposition zum restaurativen Zeitgeist ein und
galt auch in der Folgezeit als Protagonist der deutschen Linksintellektuellen. Mitte der 50er-
Jahre arbeitete er mit CIA. Durch Böll kam CIA zu einer Reihe der linksliberalen und
kommunistischen Intelektueller. Von besonderem Interesse für die CIA war Böll wegen dessen
Engagement für verfolgte osteuropäische Schriftsteller auf seinen Reisen nach Osteuropa. Ab
den 1950er-Jahren beschäftigte sich Heinrich Böll zunehmend mit den politischen Problemen
seiner Heimat und anderer Länder wie Polen oder der Sowjetunion und setzte sich sehr kritisch
mit ihnen auseinander.
Durch sein prononciertes Engagement stand er viele Jahre im Mittelpunkt der politischen
Auseinandersetzung in der Bundesrepublik. Wenn auch die Anlässe wechseln, so bekämpft er
immer Tendenzen und Erscheinungen, welche die Demokratie als Lebensform gefährden und die
Würde des Einzelnen herabsetzen, auch und gerade des Schwachen.
1970-1972 wird Böll zum Präsidenten des PEN-Zentrums der Bundesrepublik gewählt.
Im Jahr 1971 erscheint sein umfangsreichster Roman Gruppenbild mit Dame. Für diesen Roman
wird Heinrich Böll 1972 der Nobelpreis für Literatur verliehen.
Im selben Jahr kam es zu einer innenpolitischen Skandal, als er sich im Essay Will Ulrike
Gnade oder freies Geleit für den Spiegel mit der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof beschäftigte
und die Berichterstattung der Springer-Presse scharf angriff. Dieser Titel wurde gegen seinen
Willen verändert, was fuhr dazu, dass er seitdem als „geistiger Sympathisant“ des Terrorismus
galt. Wegen der Vermutung, dass die gesuchte RAF-Mitglieder bei ihm Unterschlupf finden
könnten, wurde sein Haus von mehreren schwer gewaffneten Polizisten durchgesucht. Böll
beschwerte sich darüber schriftlich bei Bundesinnenminister. Nachdem Böll dem Springer-
Konzern Stimmungsmache und Verleumdung vorgeworfen hatte, eskalierte wiederum der
Springer-Verlag. Es wurde eine Hetzkampagne gegen den Schriftsteller organisiert, die in
Forderungen nach seiner Ausreise gipfelte.
1974 erchien Bölls bekanntestes Werk, Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder wie
Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Diese Erzählung wurde auch verfilmt. In der
konservativen Kreisen wurde die Erzählung kritisiert und als „Rechtfertigung von terroristischer
Gewalt“ dargestellt.
1976 trat Heinrich Böll aus der katholischen Kirche, mit der er auch Auseinandersetzung
hatte, aber ohne deswegen „vom Glauben abgefallen“ zu sein. Er war gegen NATO-Nachrüstung
und nahm 1983 an einer Sitzblockade des Raketenstützpunktes auf der Mutlanger Heide teil.
Sein letzter Roman war Frauen vor Flußlandschaft (1985). Heinrich Böll starb am 16. Juli 1985
nach längerer Krankheit in seinem Haus in Langenbroich.
Von der Stadt Köln wird seit 1985 der Heinrich-Böll-Preis für „herausragende
Leistungen auf dem Gebiet der deutschsprachigen Literatur“ vergeben. 1997 wurde die Heinrich-
Böll-Stiftung e. V. als Nachfolgerin des Stiftungsverband Regenbogen offiziell gegründet.
Einige Werke:
Am Rande der Kirche
Briefe aus dem Krieg 1939-1945
Der Zug war pünktlich (1949)
Die schwarzen Schafe (1951)
Wo warst du, Adam? (1951),
Und sagte kein einziges Wort (1953),
Haus ohne Hüter (1954),
Irisches Tagebuch (1957),
Doktor Murkes gesammeltes Schweigen und andere Satiren (1958),
Billard um halbzehn (1959),
Ansichten eines Clowns (1963)
Ende einer Dienstfahrt (1966)
Gruppenbild mit Dame (1971)
Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974)
Fürsorgliche Belagerung (1979)
Frauen vor Flußlandschaft (1985)
Billiard um halbzehn (1959) ist ein Zeit- und Familienroman, aber auch ein politischer und
sozialer Roman.
Zeitroman ist „eine Form des Romans, mit der versucht wird, die Gegenwart vollständig und
nachvollziehbar darzustellen. Der Zeitroman analysiert die Gesellschaft bzw. die
vorherrschenden Lebensbedingungen sowie deren Auswirkungen auf das Individuum. “
Dieser Roman besteht aus 13 Kapiteln. In jedem Kapitel lernt der Leser eine neue Figure kennen.
Alle diese Figuren stellen die Welt aus ihrer eigenen Perspektive dar.
Die Handlung konzentriert sich auf einen einzigen Tag, den 6. September 1958, bzw. auf das
Geschehen während ungefähr zehn bis zwölf Stunden dieses Tages. Der ist nicht nur ein
wichtiges Jubiläum des Baumeisters Heinrich Fähmel, der seinen achtzigsten Geburtstag feiert,
sondern auch der Tag der Begegnungen, der Enthüllungen und der Erkenntnisse, in denen sich
die Vergangenheit mit der Gegenwart durchdringen, und die auch die Zukunft prädestinieren.
Die Handlung dauert einige Stunden, aber viele Ereignisse aus der Vergangenheit werden durch
die Erinerrungen der Hauptprotagonisten und anderen Figuren dargestellt.
Die Geschichte der Familie Fähmel beginnt eigentlich um 51 Jahre früher, am 6. September
1907, als der junge 29-jährige aufstrebende Architekt Heinrich Fähmel in einer Stadt ankam, um
dort den Auftrag zum Bau der Abtei Sankt Anton zu erhalten und dank dieses Baues an Ansehen
und sozialem Aufstieg zu gewinnen.
Der Roman hat den historischen Hintergrund. Die folgenden Ereignisse beeinflussen die
Handlung:
1. Erster Weltkrieg (1914-1918)
2. NS-Regime (1933)
3. Hinrichtung von vier Kommunisten in Köln (1934)
4. Zweiter Weltkrieg (1939-1945)
5. Schlacht bei Verdun (31. Mai 1942)
Und plötzlich der Schimmer in seinen Augen, als wenn eine Klappe gefallen wäre: der Alte sank
zurück ins erste, dritte oder sechste Jahrzehnt seines Lebens, begrub eins seiner Kinder.
Welches? Johanna oder Heinrich? Über welchen weißen Sarg warf er Erdkrumen, streute er
Blumen? Waren die Tränen, die in seinen Augen standen, die Tränen des Jahres 1909, in dem er
Johanna begrub, des Jahres 1917, in dem er an Heinrichs Grab stand, oder waren sie aus dem
Jahr 1942, in dem er die Nachricht von Ottos Tod erhielt? Weinte er an der Pforte des
Irrenhauses, in dem seine Frau verschwunden war? Tränen, während die Zigarre in sanftem
Kräuseln verrauchte, sie waren aus dem Jahr 1894; er begrub seine Schwester Charlotte, für die
er Goldstück um Goldstück sparen wollte, auf daß es ihr besser gehe; der Sarg rutschte an den
knirschenden Seilen hinunter, während die Schulkinder sangen: ›Türmer, wohin ist die Schwalbe
entflohen?‹
(...)
Leonore ließ die Briefmarke, violett diese, fallen; sie getraute sich nicht, den Brief an Schrit zu
frankieren; ungeduldig schnaubten die Kutschpferde vor dem Friedhofstor, während Robert
Fähmel, zwei Jahre alt, die Zügel halten durfte: schwarzes Leder, brüchig an den Rändern, und
das frische Gold der Ziffer 1917 glänzte heller als Sonnenschein...
Die Wechsel zwischen inneren Gedanken der Figuren aus erster Perspektive und Er-Erzähler
erinnert oft an inneren Monolog und ist in Form des Bewusstseinstroms dargestellt:
Kopfschütteln, sanfte Verneinung, während er mit der roten Karte spielte. Mutter, Vater, Sohn,
Tochter, Schrella. Nettlinger nicht erwünscht.
»Aber ich weiß, daß er hier ist.«
Nettlinger? Hab ich den Namen nicht schon mal gehört? Das ist so ein Gesicht, bei dem mir was
einfallen müßte, was ich nicht vergessen wollte. Ich habe den Namen schon gehört, vor vielen
Jahren, und mir damals gesagt: den mußt du dir merken, vergiß ihn nicht, aber nun weiß ich
nicht mehr, was ich mir merken wollte. Auf jeden Fall: Vorsicht. Dir würde speiübel, wenn du
wüßtest, was der alles schon gemacht hat, du würdest bis an dein seliges Ende nicht aufhören
können zu kotzen, wenn du den Film ansehen müßtest, den der am Tag des Gerichts vorgespielt
bekommt: den Film seines Lebens; das ist so einer, der Leichen die Goldzähne ausbrechen,
Kindern das Haar abschneiden läßt. Unheil oder Laster? Nein, Mord lag in der Luft.
Und diese Leute wußten nie, wann ein Trinkgeld angebracht war; nur daran konnte man Klasse
erkennen; jetzt wäre der Augenblick vielleicht für eine Zigarre gewesen, aber nicht für
Trinkgeld, und keinesfalls für ein so hohes: den grünen Zwanziger, den er grinsend über die
Theke schob. Wie dumm die Leute sind. Kennen nicht die primitivsten Gesetze der
Menschenbehandlung, nicht die einfachsten Gesetze der Portierbehandlung; als wenn im Prinz
Heinrich ein Geheimnis überhaupt zu verkaufen wäre; als wenn ein Gast, der vierzig oder
sechzig fürs Zimmer zahlt, um einen grünen Zwanziger zu haben wäre; zwanzig von einem
Unbekannten, dessen einziger Ausweis seine Zigarre und sein Anzugstoff ist. Und so was wurde
dann Minister, vielleicht Diplomat und kannte nicht einmal das kleine Einmaleins der
schwierigsten aller Künste, der Bestechung. Betrübt schüttelte Jochen den Kopf, ließ den grünen
Schein unberührt. Voll ist ihre Rechte von Geschenken. (Kapitel 2)
3. Können Sie die Erzählzeit und die erzählte Zeit im Roman erläutern? Wissen Sie die
Defintionen der Erzählzeit und der erzählten Zeit?
5. Anfang des Romans (Kapitel 1): Bitte analysieren Sie den folgenden Teil aus dem Roman!
An diesem Morgen war Fähmel zum ersten Mal unhöflich zu ihr, fast grob. Er rief sie gegen halb
zwölf an, und schon der Klang seiner Stimme verhieß Unheil; diese Schwingungen waren ihr
ungewohnt, und gerade weil seine Worte so korrekt blieben, erschreckte sie der Ton: alle
Höflichkeit war in dieser Stimme auf die Formel reduziert, als wenn er ihr statt Wasser H2O
angeboten hätte.
»Bitte«, sagte er, »nehmen Sie aus Ihrem Schreibtisch die kleine rote Karte, die ich Ihnen vor
vier Jahren gab.« Sie zog mit der rechten Hand ihre Schreibtischschublade auf, schob eine Tafel
Schokolade, den Wollappen, das Messingputzmittel beiseite, nahm die rote Karte heraus. »Bitte,
lesen Sie mir vor, was auf der Karte steht.« Und sie las mit zitternder Stimme: »Jederzeit
erreichbar für meine Mutter, meinen Vater, meine Tochter, meinen Sohn und für Herrn Schrella,
für niemanden sonst.«
»Bitte, wiederholen Sie den letzten Satz«, und sie wiederholte: »Für niemanden sonst.« »Woher
wußten Sie übrigens, daß die Telefonnummer, die ich Ihnen gab, die des Hotels ›Prinz Heinrich‹
war?« Sie schwieg. »Ich möchte betonen, daß Sie meine Anweisungen zu befolgen haben, auch
wenn sie vier Jahre zurückliegen... bitte.«
Sie schwieg.
»Dummes Stück...« Hatte er das ›Bitte‹ diesmal vergessen?
Sie hörte Gemurmel, dann eine Stimme, die ›Taxi‹ rief, ›Taxi‹, das amtliche Tuten, sie legte den
Hörer auf, schob das Kärtchen auf die Mitte des Schreibtisches, empfand beinahe Erleichterung;
diese Grobheit, die erste innerhalb von vier Jahren, war fast wie eine Zärtlichkeit.
Der Grundkonflikt, den Böll dabei mit der Symbolik vom „Lamm“ und vom
„Büffel“ thematisiert, ist der Konflikt zwischen den selbstständig Denkenden und
verantwortungsvoll handelnden Einzelnen und der opportunistischen Mehrheit.
Das Sakrament des Lammes und das Sakrament des Büffels stehen symbolisch für zwei
Menschengruppen. Außerdem kann man bei beiden einen eindeutigen Bezug zum Christentum
erkennen. Allein der Begriff Sakrament deutet auf eine religiöse Sphäre hin. Mit dem Lamm
stellt er den autonom denkenden Einzelnen, und mit dem Büffel die opportunistische Mehrheit
dar.
Das Sakrament des Lammes steht für die Unschuld und die Wehrlosigkeit. Hier sind es die
Personen, die verfolgt werden: Edith, Schrella, Ferdinand, Hugo und Marianne. Wir haben auch
die Gruppe der Hirten, die dazu berufen sind, um die Lämmer vor den Büffel zu schützen.
Das Sakrament des Büffels steht für die Dummheit und die pure, rohe Kraft. Hiermit ist die
Masse der Menschen gemeint. Hier sind allerdings größtenteils nur „Mitläufer“ dabei. Allerdings
ist in dem Text nicht immer nur von Büffeln die Rede, es werden auch andere Tiere genannt, wie
Wölfe, Böcke oder Wildgänse. Diese haben aber dieselbe Bedeutung wie der Büffel. Sie stehen
im krassen Gegensatz zum Lamm.
Die Hirten:
Die dritte Gruppe besteht aus den drei Mitgliedern der Familie Fähmels, die zugleich auch die
Hauptgestalten sind. Sie wollen gerne Hirten sein, aber alle drei haben in dieser Rolle versagt. Es
gibt bestimmte Merkmale, die sie verbinden, z.B. das Leben in der Vergangenheit, in den
Erinnerungen oder die absichtliche Isolation von dem gegenwärtigen Leben, sie fühlen sich
einsam und gehören sozusagen zu den Einzelgängern. Es sind:
- Robert Fähmel
- Heinrich Fähmel
- Johanna Fähmel
Personencharakterisierung:
Dr. Nettlinger
Die Hauptfigur der „Büffelcharaktere“ ist Dr. Nettlinger, im Dritten Reich eine lokale
Nazigröße, die es nun in der Bundesrepublik zum Ministerialdirigenten gebracht hat.
Im Dritten Reich gehört Nettlinger zusammen mit dem örtlichen Turnlehrer Wakiera
verschiedenen Naziorganisationen an. Zusammen gehen sie regelmäßig auf „Bettler Razzia“, um
diese zu verprügeln. Außerdem misshandeln sie Robert Fähmels Mitschüler Schrella wiederholt
nach der Schule, nicht weil dieser etwa Jude ist, sondern lediglich weil er ebenfalls zu den
Armen gehört.
Nettlinger und seine Bande sind direkt für die Exekution Ferdis verantwortlich, und sie
schickten unter anderem Schrellas Vater ins Konzentrationslager. Er bekleidet ein hohes
Staatsamt und trägt teure Kleidung.
Er hat einen Wagen mit Chauffeur, mit dem er den rückkehrenden Flüchtling Schrella aus
dem Gefängnis abholt. Bei seiner Einreise wurde Schrella aufgrund eines ausstehenden
Haftbefehls aus dem Jahr 1936 verhaftet, für seine Verwicklung in das Attentat auf den
sadistischen Nazisportlehrer Wakiera, aufgrund dessen auch Robert Fähmel aus Deutschland
fliehen musste. Dieser noch immer aktive Haftbefehl unterstreicht deutlich die politische
Kontinuität von Nazideutschland in die Bundesrepublik hinein, für die Nettlinger steht. Wichtig
ist hier, dass Schrella nur freikommt, weil Nettlinger die Güte (und die politische Macht!) hat,
seinen Namen von der Fahndungsliste zu streichen. Nettlinger hat dasselbe für Schrellas
Schwester Edith getan.
Die Machthaber haben sich nicht geändert. Die politische Macht liegt in den Händen
derer, die menschliche Grausamkeiten im Dritten Reich verübt haben.
Nettlinger, ein Nazi, mit seinen Taten scheint, als ob er seine Ansichten verändern will,
aber man sieht schon im zweiten Kapitel dass er ein Opportunist ist, der nach dem Krieg, wie
auch während des Krieges, profitiert hat und nur auf sich selbst denkt. Sein Name muss dann
auch ironisch sein. Was auch für Nettlinger kenzeichnend ist, ist seine Höflichkeit, die für
Schrella in der Nachkriegszeit noch schlimmer ist als seine frühere Unhöflichkeit. Bereits der
Name Nettlinger weist auf diese Falschheit hin.
Dieses Aroma schlug alles tot, was in der Halle in den letzten vierzehn Tagen geraucht
worden war, dieses Aroma trug man vor sich her wie eine Standarte: hier komm ich, der
Bedeutende, der Sieger, dem keiner widersteht; einsneunundachtzig, grauhaarig, Mitte vierzig,
Anzugstoff: Regierungsqualität; so waren Kaufleute, Industrielle, Künstler nicht gekleidet, das
war beamtete Eleganz, Jochen roch es; das war Minister, Gesandter, unterschriftsträchtig mit
fast gesetzlicher Kraft; das drang ungehindert durch gepolsterte, stählerne, blecherne
Vorzimmertüren, räumte mit seinen Schneepflugschultern alle Hindernisse weg, strahlte
liebenswürdige Höflichkeit aus, der man doch anmerkte, daß sie angelernt war, ließ der Oma
den Vortritt, die eben ihren ekligen Köter wieder aus Erichs, des zweiten Boys, Hand
entgegennahm, half sogar dem grabentstiegenen Skelett, das Treppengeländer erreichen und
umfassen. »Gern geschehen, gnädige Frau.«
»Nettlinger.«
»Womit kann ich dienen, Herr Doktor?«
»Ich muß Herrn Dr. Fähmel sprechen. Dringend. Sofort. Dienstlich.«
Kopfschütteln, sanfte Verneinung, während er mit der roten Karte spielte. Mutter, Vater,
Sohn, Tochter, Schrella. Nettlinger nicht erwünscht.
»Aber ich weiß, daß er hier ist.«
Nettlinger? Hab ich den Namen nicht schon mal gehört? Das ist so ein Gesicht, bei dem
mir was einfallen müßte, was ich nicht vergessen wollte. Ich habe den Namen schon gehört, vor
vielen Jahren, und mir damals gesagt: den mußt du dir merken, vergiß ihn nicht, aber nun weiß
ich nicht mehr, was ich mir merken wollte. Auf jeden Fall: Vorsicht. Dir würde speiübel, wenn
du wüßtest, was der alles schon gemacht hat, du würdest bis an dein seliges Ende nicht aufhören
können zu kotzen, wenn du den Film ansehen müßtest, den der am Tag des Gerichts vorgespielt
bekommt: den Film seines Lebens; das ist so einer, der Leichen die Goldzähne ausbrechen,
Kindern das Haar abschneiden läßt. Unheil oder Laster? Nein, Mord lag in der Luft. (Kapitel 2)
Im Gespräch mit Schrella, sehen wir, wie schwer es für ihm ist, Moral zu verstehen,
obwohl er versucht sich selbst so vorzustellen, als ob Moral für ihn etwas bedeutet. Andererseits
sehen wir was das menschliche Leben für Schrella, die die klare Opposition zu Nettlinger ist,
bedeutet. Die Lämmer sind aber auch die Untertanen, ein richtiges Bild des Lammes vom Gott:
Ein Bild eines Opportunisten aus dem Krieg ist in diesem Abschnitt ganz klar dargestellt,
und auch im Kurzen alles, was Böll über Krieg denkt.
Nicht ein einziges Mal, wenn sie ihm morgens zwischen halb neun und halb zehn
gegenübersaß, hatte sie ihn bei intimen menschlichen Verrichtungen gesehen; beim Essen,
Trinken; niemals einen Schnupfen an ihm bemerkt; errötend dachte sie an intimere Dinge als
diese; daß er rauchte, war kein Ersatz für das Vermißte: zu makellos war die schneeweiße
Zigarette, nur die Asche, die Stummel im Aschenbecher trösteten sie: das war wenigstens Abfall,
bewies, daß Verbrauch stattgefunden hatte. Sie hatte schon bei gewaltigen Chefs gearbeitet,
Männern, deren Schreibtische wie Kommandobrücken waren, deren Physiognomie Furcht
einflößte, doch selbst diese Großen hatten irgendwann einmal eine Tasse Tee, einen Kaffee
getrunken, ein belegtes Brot gegessen, und der Anblick essender und trinkender Gewaltiger hatte
sie immer in Erregung versetzt: da krümelte Brot, blieben Wurstpellen übrig und speckige
Schinkenränder, mußten Hände gewaschen, Taschentücher gezogen werden. Versöhnliches
zeigte sich hinter Stirnen aus Granit, die über ganze Armeen befahlen, Münder wurden in
Gesichtern abgewischt, die einstmals, in Bronze gegossen, auf Denkmalsockeln späteren
Geschlechtern von ihrer Größe künden würden. Fähmel, wenn er um halb neun aus dem
Hinterhaus kam, brachte keine Frühstücksspuren mit, war – wie es einem Chef geziemt hätte -
weder nervös noch gesammelt; seine Unterschrift, auch wenn er vierzigmal seinen Namen unters
Hochachtungsvoll zu schreib en hatte, blieb leserlich und schön; er rauchte, unterschrieb,
blickte selten einmal in eine Zeichnung, nahm Punkt halb zehn Mantel und Hut, sagte: »Bis
morgen dann« und verschwand. (Kapitel 1)
Er ist ein Freund von Schrella und sein direkter „Hirt“. Von Schrella erfährt er über
Lämmer und Büffel:
›Wir sind Lämmer‹, sagte Schrella, ›haben geschworen, nie vom Sakrament des Büffels
zu essen.‹
›Lämmer.‹ Ich hatte Angst vor dem Wort. ›Eine Sekte?‹ fragte ich.
›Vielleicht.‹
›Keine Partei?‹
›Nein.‹
›Ich werde nicht können‹, sagte ich, ›ich kann nicht Lamm sein.‹
›Willst du vom Sakrament des Büffels kosten?‹
›Nein‹, sagte ich.
›Hirten‹, sagte er, ›es gibt welche, die die Herde nicht verlassen.‹ (Kapitel III)
8. Welche drei Jahre sind „Schlüsseljahre“ und „Schicksalstage“ für Robert Fähmel?
Johanna Fähmel hat aus der Nazizeit schwere seelische Verwundungen davon getragen. Sie ist
mit der Vergangenheit unversöhnt. Sie ist getrieben von dem Gedanken an ihr Versagen in ihrer
Aufgabe, ihre Familie und andere Lämmer vor dem Einfluss der „Büffel“ zu schützen. Ihr Sohn
Otto wurde zum überzeugten Nazi und fiel an der deutschen Ostfront, Roberts Frau Edith wurde
im Verlauf der Bombardements getötet, Roberts Freunde teilweise hingerichtet.
Johanna zieht sich schon während der letzten Kriegstage in ein Sanatorium zurück und somit in
eine Sphäre, die abgeriegelt ist vor dem Einfluss der Außenwelt und der Zeit. Sie glaubt nicht
mehr an das Gute im Menschen, was das nächste Zitat ausdrückt: [’D]ie Welt ist böse, es gibt so
wenig reine Herzen’ [...] (Kapitel 5). Sie weigert sich, das Sanatorium zu verlassen, weil sie sich
dort vor der Welt, in der es „keine Reinheit gibt“ sicher fühlt, was sie mit folgenden Worten
ausdrückt: [H]ier darfst du verrückt sein, ohne verprügelt zu werden, hier wird dir nicht kaltes
Wasser über den Körper geschüttet, und ohne Einwilligung der Anverwandten bekommst du das
spanische Hemd nicht angezogen (Kapitel 5).
Langsam entwickelt sie sich von ihrer Rolle als hilflose Zuschauerin, der die sozialen und
politischen Zusammenhänge offenbar sind, zu einer Aktivistin, die ein politisch motiviertes
Attentat ausübt. Das sehen wir im Kapitel 13.
Hugo stammt aus problematischen Verhältnissen und zeichnet sich durch seine unschuldig-
kindliche Mentalität aus. Hugo wurde, ebenso wie Schrella, in der Schule von seinen
Mitschülern misshandelt und von „Büffeln“ bedroht:
Ich weiß nicht, wie lange es war, aber ich meine, es wäre ewig gewesen: immer, wenn die
Schule aus war, schlugen sie mich. Manchmal wartete ich, bis ich sicher wußte, sie waren alle
zum Essen gegangen, und die Frau, die die Schule putzte, war schon unten bei dem Flur, wo ich
wartete, angekommen und fragte: ›Was machst du denn noch hier, Junge? Deine Mutter wartet
doch sicher auf dich. (Kapitel 3)
Die meisten verlangten gerade nach dem Boy, der nun für eineinhalb Stunden im
Billardzimmer bleiben würde, wollten alle von ihm ihre Koffer in die Halle, zum Autobus der
Fluggesellschaft, zu Taxis, an den Bahnhof gebracht haben; mißlaunige Globetrotter, die in der
Halle auf ihre Rechnung warteten, über Startzeiten und Ankunftszeiten von Flugzeugen
sprachen, wollten von Hugo Eis für ihren Whisky, von ihm Feuer für ihre Zigaretten, die sie
unangezündet im Munde hängen ließen, um Hugos guten Drill auf die Probe zu stellen; nur
Hugo wollten sie mit lässigen Händen Dank winken, nur wenn Hugo da war, zuckten ihre
Gesichter in geheimnisvollen Spasmen; ungeduldig waren diese Gesichter, deren Besitzer es
kaum erwarten konnten, ihre schlechte Laune in ferne Erdteile zu tragen, sie waren startbereit,
um in persischen oder oberbayrischen Hotelspiegeln den Grad der Gegerbtheit ihrer Haut
festzustellen. Schrille Weiberstimmen schrieen nach Liegengelassenem; »Hugo, mein Ring«,
»Hugo, meine Handschuhe«, »Hugo, mein Lippenstift«, erwarteten alle, daß Hugo zum Aufzug
flitzen, lautlos nach oben fahren und auf Zimmer 19, Zimmer 32, Zimmer 46, nach Ring,
Handtasche, Lippenstift fahnden würde; und die alte Musch brachte ihren Köter an, der gerade
Milch geschleckt, Honig gefressen, Spiegeleier verschmäht hatte und nun spazieren geführt
werden mußte, damit er an den Pfosten von Verkaufsbuden, an parkenden Autos, haltenden
Straßenbahnen seine hündische Notdurft verrichte und seinen absterbenden Geruchssinn
erneuere; offenbar konnte nur Hugo des Hundes seelischer Situation gerecht werden: und schon
hatte die Oma Bleesiek, die jedes Jahr für vier Wochen herüberkam, ihre Kinder und die stetig
wachsende Zahl ihrer Enkel zu besuchen, schon hatte sie, kaum angekommen, nach Hugo
gefragt: »Ist er noch da, das Jüngelchen mit dem Ministrantengesicht, der schmale und so
blasse, rotblonde, der immer so ernsthaft dreinblickt?« Hugo soll ihr beim Frühstück, während
sie Honig schleckte, Milch trank und Spiegeleier nicht verschmähte, aus der Lokalzeitung
vorlesen... (Kapitel 2)
Hugos und Schrellas Schicksale sind sehr ähnlich. Beide werden methodisch verfolgt, Schrella
durch Nettlingers Nazibande, Hugo durch seine Mitschüler, die keine politische Markierung
haben, jedoch das gleiche „Gen der Gewalt“ in sich tragen: die Hugo misshandelnden
Schulkinder sind die Erben Nettlingers und dessen Gefolgsleuten. Die Fackel der Gewalt wird
weiter getragen.
Der Hotelboy Hugo wird von seiner Umwelt als Fremdkörper wahrgenommen.
Robert Fähmel ist die einzige Person, die einen richtigen Zugang zu Hugo findet und beim
täglichen Billardspiel verbindet die beiden eine enge Gemeinschaft, im Verlauf dessen sie sich
aus ihren Leben erzählen. Robert ist es auch, der Hugos Leben durch die Adoption grundlegend
ändert, ihn dem ausbeuterischen Hoteldirektor entreißt und ihm, innerhalb der Sicherheit der
Familie Fähmel, eine Chance auf Selbstverwirklichung bietet.
Symbole im Werk:
Viele Symbole sind im Werk vorhanden. Zum Beispiel Büffel, Lämmer und Hirten. Es gibt auch
andere Symbole: Billardspiel, die Abtei Sankt Anton, der Beruf des Architekts als Symbol,
Geburtagstorte am Ende des Romans, usw.
Billardspiel: Kugel entsprechen wahrscheinlich Nationalsozialisten: einmal angestoßen, sind sie
nicht mehr aufzuhalten. Sie stoßen andere Kugeln bzw. Menschen an. Können sie sich nicht
bewegen, sondern werden bewegt: Anhänger der Nationalsozialisten agieren so, wie ihre Führer
das wollen. Billard symbolisiert auch Suche nach Ordnung, „Schmetterling-Effekt“ des
menschlichen Handelns.
Abtei St. Anton – Deutschland, deutsche Städte, Beziehung zwischen Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft