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Wolfgang Koeppen wird am 23. Juni 1906 in Greifswald geboren. Er wächst allein bei seiner Mutter auf.
Nach dem Besuch der Mittelschule beginnt er zunächst eine Buchhändlerlehre. Koeppen beginnt
Vorlesungen der Fächer Theaterwissenschaft, Literaturgeschichte und Philosophie in Greifswald,
Hamburg, Berlin und Würzburg zu besuchen, ohne immatrikuliert zu sein. 1926/27 arbeitet er als
Dramaturg und Assistenzregisseur am Würzburger Stadttheater. 1931-1933 ist er Feuilletonredakteur
beim Berliner "Börsencourier", später auch Ressortleiter.
Er verfasst in den zwei Jahren mehr als 200 Theater-, Film-, und Literaturkritiken sowie Reportagen,
Prosaskizzen und Essays.
1934 – Veröffentlichung seines ersten Romans "Eine unglückliche Liebe", der sich mit den für sein
Gesamtwerk charakteristischen Themen Künstler-Bürger-Gegensatz, Identitätsprobleme und Reisen als
grenzüberschreitende Selbsterfahrung auseinandersetzt. Im Anschluss geht Koeppen in die Niederlande,
ins "freiwillige" Exil.
In Scheveningen/Niederlande verfasst er 1935 seinen zweiten Roman "Die Mauer schwankt". Darin setzt
er sich mit dem Zusammenbruch einer überkommenen Ordnungsmacht - dem Deutschen
Kaiserreich zwischen 1913 und 1918 - auseinander. Die Schrift wird später ohne Koeppens Wissen unter
dem Titel "Die Pflicht" von den Nationalsozialisten herausgegeben und vereinnahmt.
1938-1945 – Rückkehr nach Deutschland. Er lebt zunächst in Berlin und verfasst Drehbücher für
Filmgesellschaften. Später zieht Koeppen nach München und schließlich an den Starnberger See, wo er
zurückgezogen bis versteckt lebt, um der Einziehung zur Wehrmacht zu entgehen.
Seit Kriegsende lebt Koeppen in München, unterbrochen von längeren Reisen durch Europa und die
USA. 1948 – Veröffentlichung des Romans "Aufzeichnungen aus einem Erdloch" im Verlag Herbert
Kluger. Koeppen beschreibt in dieser Auftragsarbeit die Geschichte des nach dem Krieg nach Amerika
ausgewanderten Jakob Littner, dessen Name er als Pseudonym benutzt.
1951-1954 – Veröffentlichung der Nachkriegstrilogie "Tauben im Gras" (1951), "Das Treibhaus" (1953)
und "Der Tod in Rom" (1954), die das restaurative, schuldverdrängende Wirtschaftswunderklima
der Ära-Adenauer einer kritischen Analyse unterwirft. Mit diesen Schriften gelingt Koeppen der
literarische Durchbruch.
1958-1961 – Veröffentlichung der Reiseessays "Nach Russland und anderswo" (1958), "Amerikafahrt"
(1959) sowie "Reisen nach Frankreich" und "New York" (1961).
Nach langer Zeit, in der Koeppen kaum noch etwas veröffentlicht hat, wird diese Schrift als sein
Alterswerk hochgelobt. 1994 und 1995 – Letzte Veröffentlichung mit dem Reisebuch "Ich bin gern in
Venedig warum" (1994) und der Interviewsammlung "Einer, der schreibt" (1995).
Das ist der dritte Roman der Nachkriegstrilogie (Tauben im Gras 1951, Das Treibhaus 1953).
Personen:
Siegfried Pfaffrath
Friedrich Wilhelm Pfaffrath (Vater)
Anna Pfaffrath (Mutter)
Dietrich Pfaffrath (jüngerer Bruder)
Adolf Judejahn
Gottlieb Judejahn (Vater)
Eva Judejahn (Mutter)
Kürenberg und seine Frau Ilse
Antike – Diese Zeit ist jetzt so fern, es gibt keine Helden mehr. Von Göttern kam es zu Touristen. Der
einst mächtige Gott ist pensioniert und eingegliedert in die Menge der Touristen oder in die Psychiatrie
eingewiesen. Der Mythos als Symbol einer ganzheitlichen Ordnung, in welcher alles noch seinen Platz
hatte, wird hier bewusst zerstört.
Siegfried Pfaffrath
Siegfried ist der älteste Sohn der Pfaffraths. Entsprechend verläuft die Erziehung Siegfrieds, die durch
eine nationalsozialistische Ausbildung geprägt ist; so gehört er selbstredend der Hitlerjugend an und
besucht später auf Wunsch Judejahns eine Eliteschule der Nationalsozialisten, die so genannte
„Ordensburg“; aus dieser Zeit stammt auch sein Hang zur Päderastie. Allerdings wird deutlich, dass sich
Siegfried auf der Junkerschule nicht wohl gefühlt hat, so dass er die erste Möglichkeit nutzt, von dort zu
fliehen. Diese bietet sich ihm durch den Eintritt in die Wehrmacht, mit der er im Krieg gegen England
eingesetzt wird. Der Krieg endet für Siegfried 1944 in britischer Gefangenschaft. Hier kommt es zu einem
Wendepunkt in seinem Leben: Er beschließt, sein „Jugendreich“ zu verlassen. Dies geschieht auf der
einen Seite durch Lossagung von seiner Familie, der er eine große Mitschuld am Krieg zuschreibt, zum
anderen durch Hinwendung zur Musik, die er selbst als „Auflehnung gegen seine Umgebung, gegen […]
den Krieg […] und das ganze vom Teufel besessene und geholte Vaterland“ ansieht. Dass er sein
Interesse gerade der Musik und somit der Kunst zuwendet, erscheint nicht weiter verwunderlich, da er
bereits in seiner Kindheit starkes kulturelles Interesse zeigt; deutlich wird dies etwa an seinem großen
Interesse an der Bibliothek des Juden Aufhäuser. Unterstützt wird er in seinem musikalischen
Werdegang durch Kürenberg, der zu dieser Zeit ebenfalls auf der Insel weilt und ihn mit
Beispielsmaterial versorgt.
Mittlerweile arbeitet Siegfried als halbwegs angesehener surrealistischer Komponist, als Vertreter der
„neue[n] Musik“; aus diesem Grund hält er sich zum Zeitpunkt der Handlung auch in Rom auf, wo
gerade ein Kongress stattfindet, auf dem seine neueste Symphonie vorgestellt wird, für die er im Laufe
des Romans sogar ausgezeichnet wird. Dennoch darf diese Auszeichnung nicht darüber hinwegtäuschen,
dass sich Siegfried in einer Schaffenskrise befindet. Dies wird schon gleich zu Beginn des Romans
deutlich, wenn die Handlung mit der Aussage „Falsch klang die Musik, sie bewegte ihn nicht mehr“
beginnt. Siegfried bezeichnet sich bei seiner Selbstvorstellung gegenüber dem Leser als „Tonsetzer“ und
somit bewusst die ästhetische Seite seiner Tätigkeit außer Acht lässt, nämlich die Komposition
verschiedener Töne zu einem Wohlklang. Siegfried weiß um den Grund seiner Schaffenskrise: „Meine
Musik ist sinnlos, aber sie brauchte nicht sinnlos zu sein, wenn ich nur etwas Glauben hätte“.
Ich heiße Siegfried Pfaffrath! Ich weiß, es ist ein lächerlicher Name. Aber der Name ist auch wieder nicht
lächerlicher als viele andere. Warum mißachte ich ihn so sehr? Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Ich rede
gern schamlos drein, aber ich schäme mich, ich gebe mich respektlos und sehne mich danach, achten zu
können. Ich bin Tonsetzer. Das ist, schreibt man nicht ftir das Große Wunschkonzert, ein Beruf, so
lächerlich wie mein Name. Siegfried Pfaffrath erscheint nun in Konzertprogrammen. Warum wähle ich
kein Pseudonym? Ich weiß es nicht. Hänge ich gar an diesem gehaßten Namen, bleibe ich an ihm hängen?
Läßt mich die Sippe nicht los?
Doch statt von Glauben ist sein Leben von Zweifeln erfüllt, die Ausdruck seiner Identitätskrise sind. Der
Leser findet zahlreiche Situationen, die von diesen Zweifeln zeugen, etwa als er mit dem fremden Mann
in der Schenke sitzt und sich überlegt, ob er diesem eine Flasche Wein kaufen soll. Siegfrieds Zweifel
gehen so weit, dass er nur wenig Schlaf findet und ihm sein Namen lächerlich erscheint; zum Teil führen
sie sogar bis hin zum Selbsthass, wie er ihn beispielsweise nach seinem Besuch auf dem Badeschiff
empfindet: „Ich haßte mich“. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich Siegfrieds Zweifel nicht
nur in seiner Musik widerspiegeln, sondern an seinem ganzen Verhalten deutlich werden: Sein ganzes
Denken und Handeln ist durch ambivalente Züge gekennzeichnet. So verurteilt er einerseits Macht-
missbrauch und erkennt Rom als eine „auf besudelte[r] Erde“, auf „vergossene[m] Blut“ erbaute Stadt,
liebt die Metropole aber dennoch; er sehnt sich nach Wahrheit, hat aber Angst davor, dass diese
schrecklich sein könnte; er nennt Kürenberg seinen besten Freund, fühlt sich aber von ihm
„vergewaltigt“; er möchte seinen Cousin Adolf keiner Verführung aussetzen, vermittelt aber den Kontakt
zu Laura – die Aufzählung ließe sich noch um einige Punkte erweitern. Ein wesentlicher Grund für
Siegfrieds Zweifel und Ambivalenz liegt sicherlich in seiner Haltung zur Religion. So gibt er sich im Laufe
der Handlung immer wieder als Atheist zu erkennen: „Ich war kein Christ“ – so seine eindeutige Aussage
gegenüber dem Leser, das einzige, woran er glaube, sei, „dass es sinnlos ist“. Im Gespräch mit Adolf wird
deutlich, dass Siegfried keine Jenseitsvorstellungen besitzt und für ihn somit der Tod mit dem Nichtssein
gleichzusetzen ist, so dass das Leben Siegfrieds einzige Chance ist, Glück und Freude zu finden. Siegfried
gesteht ein, dass ihm dies nur schwer gelingt und ihn daher der „Zweifel des Ungläubigen“ rührt.
Ich glaube zwar; aber ich glaube, daß alles sinnlos ist. Oder nicht alles ist vielleicht sinnlos, aber daß ich
hier bin, ist sinnlos, daß ich mit diesen Menschen rede, ist sinnlos, daß wir hier photographiert werden, ist
sinnlos, der künstliche Blitz ist sinnlos, meine Musik ist sinnlos, aber sie brauchte nicht sinnlos zu sein,
wenn ich nur etwas Glauben hätte. Aber woran soll ich glauben?
Ein Mittel, diesen zu überspielen, liegt bei Siegfried in der Flucht zur Provokation, die in verschiedenen
Formen auftritt, sei es gedanklicher Art, wenn er Adolf zur Freude in den Tiber werfen möchte, um ihn
zu taufen, oder sei es real. Besonders häufig finden sich zynische Bemerkungen gegenüber seinen
Gesprächspartnern wie wiederum gegenüber Adolf, wenn es um dessen Tätigkeit als Diakon geht, oder
aber auch bei der Begegnung mit Judejahn in der Schwulenbar. Eine andere Möglichkeit zur Provokation
besteht im bewussten Konventionsverstoß; dies wird besonders im Umfeld der Aufführung seiner
Symphonie deutlich: Zunächst in der Weigerung, einen Frack anzuziehen, zum anderen beim
Aufeinandertreffen mit seinen Eltern, als er ohne Verabschiedung verschwindet. Dabei fällt immer
wieder auf, dass er um seine Provokationen weiß; so bemerkt er nach einer Verbalattacke gegenüber
Adolf: „Und dann ärgerte ich mich, weil ich das gesagt hatte. Es war dumm und witzlos und gemein“,
und auch seine Weigerung, den Frack zu tragen, begleitet er mit der Feststellung: „Er [Kürenberg] würde
mir böse sein, weil ich die Konvention […] wieder missachtet habe“.
Als Folge dieses Verhaltens hat es Siegfried sehr schwer, seinen Platz innerhalb der Gesellschaft zu
finden, es erscheint geradezu unmöglich, und entsprechend stellt er selber fest: „Ich stehe außerhalb
der Gemeinde“. Seine provokative Art wird ihm als Hochmut ausgelegt, und diese Rolle gefällt ihm, da er
dahinter sowohl seine Angst, anderen Menschen unterlegen zu sein, als auch seine Kampflosigkeit
verstecken kann. Auch wenn er diese Schwäche in einem späteren Gespräch mit Adolf zugibt, behauptet
er hier ebenfalls zunächst, seine Familie nicht aufsuchen zu wollen, da er „zu hochmütig [sei], um
hinzugehen, sie zu sehen“. Und auch hier ist er sich seines Handelns durchaus bewusst, wenn er dem
Leser erklärt: „Ich bin nicht hochmütig, oder ich bin auch hochmütig, aber nicht auf diese Art hochmütig.
Ich bin nackt, ich bin bloß, ich bin machtlos“. Das Leben hinter der Maske des Hochmutes führt bei
Siegried zur Unfähigkeit zur Kommunikation. Denn Unterhaltung birgt für ihn einerseits die Gefahr, dass
seine Maske entlarvt wird, andererseits zeigt Siegfried wenig Interesse an seinen Mitmenschen;
symptomatisch hierfür erscheint sein Gespräch mit den Kritikern nach der Generalprobe: „Er verstand
sie nicht. Er verstand sie in vielen Sprachen nicht. Er war bei ihnen, und er war nicht bei ihnen. Er war
schon weit weg“. Um sich vor tiefer gehender Kommunikation zu schützen, flüchtet er stets wieder in
die Provokation, um seinen Gegenüber so abzuwehren: Siegfried verbirgt sich also erneut hinter der
Maske des Hochmuts, die er dann wiederum wahren muss; er befindet sich damit in einem Teufelskreis,
aus dem es für ihn keinen Ausweg gibt. Somit bestätigt sich die These von Thomas Richner, wenn dieser
behauptet, für Siegfried sei „Kommunikation paradoxerweise nur möglich, wenn sich die
Kommunikationspartner nicht verstehen“, d. h. wenn der Gegenüber nicht hinter seine Maske schauen
kann; besonders erkennbar wird dies wiederum in der Begegnung mit dem fremden Mann in der
Schenke: „Gerade weil er den Mann nicht versteht, unterhält er sich gern mit ihm“, ebenso wie an der
Aussage Siegfrieds, lang gebaute und verschlungene Sätze zu mögen, also Sätze, die keine klare Aussage
geben, sowie an seiner Begeisterung für Priester, die er wegen ihrer lateinischen Sprache nicht versteht.
Eine andere Möglichkeit der Kommunikation findet Siegfried in der Musik, da sich ihm hier Schutz durch
Distanz bietet: Der direkte Kontakt wird durch einen medialen ersetzt, und Siegfried kann sich dem
Hörer mitteilen, ohne dass dieser die Möglichkeit hat, ihn mit Widerspruch zu konfrontieren oder
weitere Fragen zu stellen.
Adolf Judejahn
Es war Adolf, der groß und hager, verwirrt und im geistlichen Kleid vor mir stand, Adolfj udejahn, der Sohn
meines einst so mächtigen und schrecklichen Onkels, und ich sah Adolf, wie ich ihn zuletzt gesehen hatte,
auf der Ordensburg, klein, er war jünger als ich, ein kleiner armer Soldat in der Uniform der Junkerschule,
klein in langer schwarzer Militärhose mit roter Biese, klein in dem braunen Parteirock, klein unter dem
schwarzen Schiffchen, das schräg auf das kurzgeschnittene nach Vorschrift gescheitelte Haar gesetzt war,
auch ich war so 'rumgelaufen, und ich hatte es gehaßt, mich wie die Soldaten oder wie die Bonzen kleiden
zu müssen, und vielleicht hatte auch er den Anzug gehaßt, aber ich wußte es nicht, ich hatte ihn nicht
gefragt, ob er die Ordensburg, den Dienstbetrieb, die Soldaten und die Bonzen hasse, ich dachte an Onkel
Judejahn, und ich traute Adolf nicht, ich ging ihm aus den Weg, und ich dachte gar, daß er wie mein
Bruder Dietrich gern in der Uniform steckte oder seinen Vorteil draus holte und sich zu Posten drängte,
und darum belustigte es mich, ihn nun im Gewand des Priesters zu sehen, und ich überlegte, in was für
Verkleidungen wir doch auftreten, traurige Clowns in einer mäßigen Verwechselungsposse.
Versucht genauso wie Siegfried, sich von seiner Familie zu entfernen; als Junge half er einem Juden
(gab ihm sein Essen und seine Jacke); Priester (eine Ausbildung); Innerer Kampf zwischen dem, was
christlich ist (seine Eltern zu lieben) und den eigenen Gefühlen, Zweifel an der Kirche.
Früher war er ein SS-General, alle hatten Angst vor ihm. Immer noch träumt er vom großen
Deutschland. Sogar sein Sohn heißt Adolf. Doch jetzt, wenn er in Rom ist, hat er Angst. Was ist mit
einem solchen General passiert, der bereit war, für sein Vaterland zu sterben? Immer wieder kommt es
dazu, dass er sich fürchtet.
Es war Zeit, er mußte hinübergehen, jetzt hatte er sich angesagt, es war die verabredete Stunde, sie
erwarteten ihn, und da wollte er nicht, er zögerte, er fürchtete sich. Er, Judejahn , ängstigte sich, und was
war sein Leib- und Lebensspruch? »Ich weiß nicht, was Furcht ist!«
Wenn er zwei Deutschen trifft, die er auch erkennt, will er aber sich nicht erkennen lassen und entdeckt
seinen Namen nicht. Es wäre eine Schande, wenn ein General mit Soldaten so trinken und essen würde,
wie er es getan hat. Seine Ehre lässt ihm nicht zu, seinen Namen zu entdecken.
Sollte er sich zu erkennen geben? Sollte er sie ftir die Wüste verpflichten? Er ftirchtete sich nicht, seinen
Namen zu nennen; aber nachdem er mit ihnen gegessen und getrunken hatte, verbot ihm sein Rang, sich
zu offenbaren. Der kommandierende Mörder saß nicht mit den Handlangern bei Tisch; das widersprach
den Kasinositten.
Überall macht er sich Gedanken, was er machen könnte, doch er ist kein General mehr. Er ist nichts, er
ist „entmachtet“. Früher konnte er sich hinter seiner Uniform verstecken, aber als er ohne sie blieb,
blieb er auch ohne Mut. Immer wieder wird er auch als „der kleine Gottlieb“ bezeichnet.
Aber er war wieder der kleine Gottlieb, der Sohn des Volksschullehrers; er sollte studieren und kam auf
dem Gymnasium nicht recht mit. Er stand da, wie er einst in seines Vaters gewendeten und für ihn
umgeschneiderten Anzügen unter seinen reicheren Kameraden gestanden hatte, die Kieler
Matrosenblusen trugen. Sollte er noch einen Whisky trinken? Männer tranken Whisky.
Nur die Menschen, die ihn auch früher kannten, betrachteten ihn als Autorität. Sogar Dietrich sieht, dass
Judejahn nichts mehr von seiner ehemaligen Größe und Macht besitzt.
Und dann erniedrigte er sich, indem er ihnen ein Theater vorspielte; er telephonierte mit der
diplomatischen Vertretung des Landes, das ihn bezahlte, und bestellte in einem Gemisch aus
französischen, englischen und arabischen Sprachbrocken den Gesandtschaftswagen, und er tat so, a ls ob er
tyrannische Befehle erteile und über Krieg oder Frieden vorerst im Nahen Osten entscheide. Friedrich
Wilhelm Pfaffrath und Frau Anna merkten die Hochstapelei des kleinen Gottlieb nicht und waren wieder
gefangen von des Schwagers Größe, aber Dietrich Pfaffrath verkniff seinen Mund, und er entwirrte das
Sprachgemisch nicht, aber plötzlich hatte er das. Geftihl , daß die große Zeit des Onkels ftir immer vorbei sei
und daß Judejahn nun ein Abenteurer von unsicherer Existenz und dunkelem Geld war, »Vorsicht« mahnte
eine Stimme in Dietrich,] udejahn konnte der Karriere schaden, und doch wäre Dietrich gern hinter Judejahn
marschiert, an aussichtsreicher und po- 492 stennaher Stelle natürlich, wenn Judejahn eine Fahne entfaltet
und zu nationaler Sammlung gerufen hätte.
Sie hat auch ihr Leben dem großen Deutschland gewidmet. Das ist der Grund, warum sie mit Gottlieb
Judejahn verheiratet war und ihm ein Kind gebar. Sie fühlt sich so, als hätte sie ihr Land verraten, weil
sie immer noch lebt und der Führer gestorben ist.
...sie konnte ihnen nicht erklären, daß ihr und Judejahns Ehebund so eng mit dem Dritten Reich
verknüpft war und nur in diesem Glauben bestanden, nur aus diesem Quell sich genährt hatte,
daß er nun aufgelöst war, daß der Bund sich von selbst gelöst hatte, als Hitler starb, als das Reich
verging und fremde Soldaten auf deutschem Boden der Vorsehung und Zukunftsschau des
Führers spotteten.
Wie spricht sie über ihren Sohn jetzt? Liebt sie ihn?
Welche Bedeutung hat der Name Judejahns Sohnes? Was sagt das über Eva und Gottlieb?
Montagetechnik
Erzählperspektiven