Psychodrama
Christian Stadler
Sabine Kern
Psychodrama
Eine Einführung
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1. Auflage 2010
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für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-
cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-531-16539-4
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ...................................................................................................................... 9
Einleitung .................................................................................................................11
3 Psychodramatische Arrangements.................................................................51
3.1 Das protagonistInnenzentrierte Psychodrama................................................51
3.2 Das Rollenspiel .................................................................................................87
3.3 Das Gruppenspiel.............................................................................................96
3.4 Spezielle Gruppen-Arrangements: Clap-Theater, Playback-Theater,
Soziodrama .....................................................................................................102
5 Rollentheorie..................................................................................................135
5.1 Definitionen des Rollenbegriffs .....................................................................136
5.2 Die vier Rollendimensionen...........................................................................137
5.3 Die Eigenschaften von Rollen ........................................................................138
5.4 St€rungen und Beeintr•chtigungen im Zusammenhang mit Rollen und
Rollenkonfiguration........................................................................................150
5.5 Die psychodramatische Diagnostik ...............................................................156
Anhang....................................................................................................................245
Glossar ....................................................................................................................249
Stichwortverzeichnis .............................................................................................259
Einleitung 9
Vorwortȱ
HelmutȱSchwehmȱ
Vorsitzender des Deutschen Fachverbandes für Psychodrama und der Sektion
Psychodrama im DAGG
Einleitung 11
Einleitungȱ
Kreativität ist eines der Schlüsselworte, um das Verfahren Psychodrama und seine
Wirkmechanismen zu verstehen. Wenn sich die Kreativität frei entfalten kann, ist
alles gesund. Wo sie blockiert ist, wird alles „krank“: der Mensch, die Gesellschaft,
Familiensysteme. Um kreativ bleiben zu können, müssen zuweilen alte Muster dem
Neuen weichen. Der indische Künstler Anishȱ Kapoor pointiert, wie es der Psy-
chodramagründer Moreno zu Lebzeiten auch gerne getan hat: „Orderȱisȱdeath.ȱCreaȬ
tivityȱisȱchaotic.ȱIȱmustȱbreakȱtheȱsystemȱIȱhaveȱbuilt.“ (2008, Boston). Moreno verwandte
den Begriff kulturelle Konserve für die kristallinen, festgefahrenen Strukturen, die
immer wieder neu aufgebrochen, verändert werden müssen, damit Systeme leben-
dig bleiben. In diesem Sinn haben wir uns als AutorInnenteam die überlieferten
psychodramatischen Kulturkonserven durchgesehen, sortiert, zum Teil übernom-
men, zum Teil neu beschrieben und wieder in eine Form gegossen. Sie halten damit
wieder eine Kulturkonserve in Händen, und sind eingeladen, sie zu öffnen, wo nötig,
wieder aufzubrechen und für sich neu zu gestalten. Wir hoffen, dass das Buch Sie
zu vielen kreativen Prozessen anregt.
Es ist als Einführung in das Verfahren Psychodrama gedacht und soll inte-
ressierten StudentInnen, WeiterbildungskandidatInnen, aber auch KollegInnen
aus anderen Verfahren und Gebieten die Möglichkeit bieten, sich einen ersten
Einblick in das Psychodrama zu verschaffen. Jedes der Kapitel im Buch ist in sich
abgeschlossen und kann daher auch unabhängig von den anderen gelesen wer-
den. Gleichwohl haben wir uns beim Schreiben über die Reihenfolge Gedanken
gemacht, und dabei das Buch so aufgebaut, wie es uns am sinnvollsten erschien.
In Anlehnung an die psychodramatischen Prinzipien der Kreativität und Sponta-
neität empfehlen wir Ihnen jedoch, das Buch so zu lesen, wie es Ihren persönli-
chen Bedürfnissen entspricht.
Damit auch Neulinge sich schnell mit den Begrifflichkeiten zurechtfinden,
haben wir am Ende des Bandes ein Glossar der wichtigsten Begriffe sowie ein
Stichwortverzeichnis eingefügt. Die Literatur zu den einzelnen Themen finden
Sie jeweils am Ende des Kapitels; weiterführende Literatur, die wir persönlich
empfehlen können, steht am Ende im Literaturverzeichnis. Da das Buch einen
Einführungscharakter hat, haben wir auch den Aus- und Weiterbildungsmög-
12 Einleitung
lichkeiten in Deutschland, Österreich und der Schweiz ein eigenes Kapitel ge-
widmet.
Danken möchten wir an dieser Stelle den zahlreichen HelferInnen im Hinter-
grund, die an der Entstehung des Buches beteiligt waren. An erster Stelle sei unse-
ren KlientInnen gedankt, denn die beste Theorie bleibt leer ohne den Bezug zur
Praxis. Von ihnen haben wir am meisten gelernt, und unser Dank gilt auch für das
Einverständnis, hier konkrete Beispiele – natürlich anonymisiert – verwenden zu
dürfen. Dann gilt der Dank all jenen, die uns als Psychodrama-LehrerInnen und
KollegInnen inspiriert haben: wir verneigen uns im Geiste vor dem Gründer des
Verfahrens, J.L.ȱ Moreno. Ohne ihn gäbe es das Psychodrama nicht. Gretelȱ Leutz,ȱ
Reinhardȱ Krüger,ȱ Michaelȱ Schacht,ȱ Helmutȱ Schwehm,ȱ Thomasȱ Schwinger,ȱ Jörgȱ BurȬ
meister,ȱ Hildegardȱ Pruckner,ȱ Barbaraȱ ErlacherȬFarkas,ȱ Juttaȱ Fürst,ȱ Helmutȱ Haselbacher,ȱ
KarolineȱZeintlingerȬHochreiter,ȱKlausȱOttomeyer,ȱNorbertȱNeuretter,ȱAnnelieseȱSchigutt,ȱ
Mariaȱ Schönherr,ȱ Manfredȱ Stelzig,ȱ Ferdiȱ Buer,ȱ Susanneȱ HeidelbergerȬHeidegger und
Edithȱ Reißmann sei namentlich gedankt, dass sie uns psychodramatisch beflügelt
haben. Für die Erstellung von Zeichnungen danken wir ElkeȱSchönberger, für Foto-
grafien YvonneȱSaltzmannȱund für die Gestaltung von Grafiken SabineȱSpitzer und
MarionȱPiaȱWolff. Für die geduldige und ermunternde Durchsicht sowie viele hilf-
reiche Anregungen danken wir ChristophȱBecker,ȱSonjaȱHintermeier, KerstinȱRapelius,ȱ
Christianeȱ Schlüter,ȱ Reinholdȱ Schrappeneder,ȱ Ernstȱ Silbermayrȱ undȱ Sabineȱ Spitzer;ȱ für
die Unterstützung des gesamten Projektes der Redaktion der ZeitschriftȱfürȱPsychoȬ
dramaȱundȱSoziometrie sowie KeaȱBrahms vom VSȱVerlag.
Last not least geht unser Dank an unsere Nächsten, die uns mit großem Her-
zen Zeit, Geduld und Unterstützung für die Realisierung dieses Buchprojektes
geschenkt haben: Claudia, Simon, Hannah, Paula und Andreas.
Sie haben es schon bemerkt: wir haben uns entschlossen, das Buch in der
Schreibweise mit dem großen „I“ zu verfassen, da wir diese für die am besten
lesbare geschlechterfaire Schreibweise halten.
Da auch ein solches Projekt in ständiger Weiterentwicklung begriffen ist,
freuen wir uns über Anregungen, Ergänzungsvorschläge, Kommentare und Kri-
tik zu den Inhalten.
1 Was ist Psychodrama? 13
1
1 WasȱistȱPsychodrama?ȱ
Das bedeutet zunächst einmal, dass im Psychodrama nicht nur gesprochen, son-
dern auch gehandelt wird. Weiter geht es dabei sowohl um das innere Erleben
der betreffenden Personen als auch um die jeweils subjektiven Gedanken, Gefüh-
le und Impulse sowie um die äußere Situation, in der sich die betreffenden Per-
sonen befinden. Dabei wird eine Klärung und Veränderung des persönlichen
Erlebens ebenso angestrebt wie das Verstehen und Verändern der äußeren Lage,
in der sich die betreffenden Personen befinden.
Der Arzt, Theologe, Sozialforscher und Schriftsteller Jakobȱ Leviȱ Moreno, der
Mann, mit dessen Namen man das Verfahren bis heute in erster Linie verbindet,
wird gerne mit dem prägnanten Satz zitiert, das Psychodrama sei „diejenige
Methode […], welche die Wahrheit der Seele durch Handeln ergründet“ (Moreno
2008: 77).
Ergänzen können wir diesen Satz entsprechend dem obigen Definitionsver-
such so: Das Psychodrama untersucht Interaktionen und Situationen durch szeni-
sche Darstellungen. Und: Durch Psychodrama werden Personen und Situationen,
im Fachjargon auch Lagen genannt, mithilfe kreativer Prozesse verändert.
Wikipedia weist Psychodrama (von griechisch ΜΙΛ psyche „Seele“, und
ΈΕΣΐ΅ drama „Handlung, Vorgang“) als eine Methode der Gruppenpsychothe-
rapie aus. Historisch gesehen ist dies richtig:ȱMoreno erfand zu Beginn des letzten
1 Was ist Psychodrama? 15
DasȱheutigeȱPsychodramaȱkommtȱzurȱAnwendungȱin:ȱ
Psychotherapie im Einzel- und im Gruppensetting
Beratungsangeboten im klinischen Bereich (Familie, Sucht, Psychiatrie)
Schulischer und außerschulischer Bildung (Erwachsenenbildung)
Personal- und Organisationsentwicklung
Supervision und Coaching
Seelsorge
Fort- und Weiterbildungen als didaktische Methode
Soziometrischen Untersuchungen der Feld- und Aktionsforschung
Universitärer Forschung (Psychologie, Soziologie, Soziale Arbeit)
Fallbeispiel:ȱ
Herr Maier möchte gerne einen Konflikt mit seiner älteren Schwester klären. Er wird
dazu vom Leiter der Gruppe aufgefordert, für seine Schwester eine Person aus dem
Kreis der Gruppe zu wählen. Nach der Festlegung, wo und wann das Konfliktge-
spräch stattfinden soll (Samstagnachmittag in einem Cafe), gibt Herr Maier der Mit-
spielerin ein paar Informationen zur Person der Schwester (Alter, beruflicher und fa-
miliärer Hintergrund, Beziehung zueinander). Danach setzen sich Herr Maier und
seine Schwester (vertreten durch eine Mitspielerin) auf die zuvor definierten Plätze.
Herr Maier wird nun aufgefordert, das Gespräch zu beginnen. Nach den ersten Sätzen
wird er vom Leiter aufgefordert, mit der Schwester die Rolle zu tauschen. Dazu wech-
seln Herr Maier und die Mitspielerin die Plätze. Herr Maier antwortet nun in der Rol-
le der Schwester, während die Mitspielerin in der Zwischenzeit den Part von Herrn
Maier übernimmt. Danach wird wieder zurückgetauscht. Dieser Prozess kann mehr-
mals hin und her gehen, bis sich die Konfliktlage verändert hat.
1.1 DasȱPsychodramaȱMorenosȱundȱseineȱWurzelnȱ
Gründer Moreno war ein vielseitig interessierter und gebildeter Mann, dem es
gelang, aus diesen Wurzeln ein eigenes Verfahren zu entwickeln, ähnlich wie es
seinem Zeitgenossen Freud mit der Entwicklung der Psychoanalyse kurze Zeit
zuvor gelungen war. Einige der Wurzeln, wie das Theater oder die Theologie,
muten heute im Kontext eines solchen Verfahrens seltsam an, da die wissen-
schaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Menschen beschäftigen, sich immer
neuen Positivismen verschrieben haben, zuletzt zum Beispiel den Aufsehen erre-
genden Darstellungen der Neurobiologie.
Philosophie
Soziologie Theologie
Kultur- Anthro-
wissen- pologie
schaften Der
Mensch
Pädagogik
Ökologie & Recht
Medizin &
Biologie Psycho-
logie
Der Psychologe und Arzt Tretter beschreibt jedoch in seinem Buch Ökologieȱ derȱ
Personȱanschaulich, wie sehr die Perspektiven einer Systemphilosophie und einer
ökologischen Anthropologie vonnöten sind, soll der Mensch nicht reduktio-
nistisch betrachtet und behandelt werden (Tretter 2008). Menschen leben früher
wie heute in Systemen, sind Umwelten ausgesetzt und gestalten diese, und jegli-
che Wissenschaft, die sich mit Menschen beschäftigt, hat zugrunde liegende Axi-
ome, die die Untersuchungen und Handlungsweisen prägen. So wird der psy-
chodramatische Ansatz heute wieder modern.
18 1 Was ist Psychodrama?
1.2 DieȱWurzelnȱdesȱPsychodramasȱinȱSpiel,ȱTheaterȱundȱSoziologieȱ
Gerne wird die Geschichte erzählt, dass Moreno schon als Kind „Theater“ gespielt
habe. Im Alter von etwa fünf Jahren schlug er seinen Wiener Nachbarskindern vor,
man solle „Gott und die Engel“ spielen. Er selbst nahm die Rolle Gottes ein, der auf
einem Turm aus Tischen und Stühlen quasi im Himmel thronte, bis zu dem Mo-
ment, als er sich auf Bitte eines Engels zum Flug aufmachte und sich dabei, wie
nicht anders zu erwarten, den Arm brach. Zu Gründern gehören Mythen; so be-
zeichnete Moreno diese Geschichte später als eine wesentliche für sein Leben und
für die Entwicklung des Psychodramas. Auch trafen hier Theaterspiel und Religion
zum ersten Mal aufeinander. Dies ist vermutlich die Geburtsstunde einer Sonder-
form des Psychodramas, des Bibliodramas1, einer Variante, bei der biblische Erzäh-
lungen im Rollenspiel reinszeniert werden. In seiner Anthropologie und der später
entwickelten psychotherapeutischen Philosophie findet sich diese Idee wieder:
erstens, Gott zu spielen, und zweitens, Gott ähnlich oder gleich zu sein. Dabei stellt
das Spiel den Bezug zum Theater, der Aspekt der Gott-Ähnlichkeit den Bezug zur
Theologie dar. Moreno versteht dabei Gott nicht als unerreichbares Gegenüber,
sondern sieht in jedem Menschen das Göttliche oder einen Anteil Gottes: Gott und
Mensch tragen beide schöpferische, kreative Kräfte in sich; auf diesen philoso-
phisch-theologischen Aspekt wird später noch ausführlicher eingegangen. Die
zentrale Rolle, die diese Art von Kreativität in Morenos Werk einnimmt, hat hier
ihre Grundlage. So ist das kreative Moment im Menschen das, was im psychothe-
rapeutisch orientierten Psychodrama heilt, den Menschen aus der Krise führt, und
allgemeiner gesagt das, was dem Menschen an Energie, sich weiter zu entwickeln,
also an Potential innewohnt. Moreno war mit dieser Sicht nicht allein. Je nach philo-
sophischem Hintergrund wurden dafür andere Begriffe verwendet: Spinoza nannte
diese kreative Kraft die Ursubstanz des Universums2, Freudianischeȱ PsychotherapeuȬ
tInnen könnten dies als Libido bezeichnen, physikalisch orientiertere AutorInnen als
Materie oder Energie, dualistisch geprägte Menschen als Geist. Es gibt eine Reihe
bekannter Philosophen, deren Konzepte verwandt sind mit dem Kreativitätskon-
zept Morenos: AlfredȱNorth Whitehead,ȱGottfriedȱWilhelmȱLeibniz,ȱHenriȱBergson,ȱPierreȱ
TeilhardȱdeȱChardin und Ken Wilber3.
Das Interesse an der Kreativität des Menschen und am Theaterspiel blieb ein
zentraler Bestandteil in Morenos Leben, der ihn wenig später auch zur Entwick-
lung seiner soziologischen Perspektive auf den Menschen brachte. Als Medizin-
student spielte er mit Kindern im Wiener Augarten Theater. Zunächst erfand er
selbst Fantasiegeschichten, in denen es um die Suche nach dem König ging, spä-
ter wurden auch Szenen gespielt, die die Kinder von zu Hause erzählten; er griff
aber auch Märchen aus dem jeweiligen kulturellen Hintergrund der Kinder auf.
Die Kinder hörten zunächst die Geschichten und nahmen dann die darin vor-
kommenden Rollen ein. Sie lernten sich in diesen vorgegebenen Rollen zu bewe-
gen und zu verhalten, aber auch durch diese Rollenübernahmen etwas Neues
auszuprobieren; dies waren Vorgehensweisen, die für die Entwicklung des Ver-
fahrens Psychodrama von großer Bedeutung sein sollten. Die Ansicht, dass Men-
schen auch in Rollenkategorien beschrieben werden können, wie sie die Soziolo-
gie von Mead (1934) und Dahrendorf (2006) und darauf aufbauend die Sozialpsy-
chologie vertreten, hat hier ihre Vorläufer4. Während aber die Soziologie die
Rollen als deskriptive Konzepte verwendet, betonte Moreno den Aspekt der
Veränderung dieses Konstrukts. Menschen können sich gegenseitig in Rollen
wahrnehmen, aber sie können sich auch in Rollen verhalten: Sie können Dinge
spielen, die sie im echten Leben (noch) nicht machen würden. Hier nehmen das
Rollenspiel5 und das Rollentraining ihren Ausgang.
Um sich einen anschaulichen Begriff dieser Wahrnehmung in Rollen zu ma-
chen, können Sie sich einmal eine Arbeitskollegin, wie sie in der nachstehenden
Tabelle beschrieben wird, vorstellen. Sie können sie, je nach situativem Kontext,
in unterschiedlichen Rollen sehen:
3 Wilber nennt dies: „GEIST-in-Aktion“; vgl. auch Blatners (1988) Ausführungen zu dem
Thema.
4 Vgl. Kippers (1996) Ausführungen zur Geschichte der Betrachtung des Menschen in
Rollen.
5 Die Entwicklung des Rollenspiels und seine Bedeutung für das Psychodrama werden
ausführlich beschrieben bei Stadler und Spörrle (2008).
20 1 Was ist Psychodrama?
Selbstverständlich haben Menschen schon seit jeher in ihrer Kindheit und Jugend
Rollenspiele gemacht; vermutlich haben auch schon im Mittelalter Kinder so
etwas wie „ich wär’ jetzt mal der Knappe“ oder „ich wäre jetzt mal die Marke-
tenderin“ gespielt, aber der gezielte Einsatz des Rollenspieles als Technik oder
Arrangement zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit gründet hier. Der sozio-
logische Ansatz, den Mensch in Rollen zu beschreiben, half Moreno in seiner spä-
teren Theorieentwicklung maßgeblich. Die Beschreibungen der Entwicklung von
Rollen im Laufe eines Menschenlebens und der Versuch, die Rollen eines Men-
schen zu einem gegebenen Zeitpunkt zu erfassen, sind zentrale Bestandteile psy-
chodramatischer Anthropologie geworden, aus denen sich praktische Hand-
lungsweisen für das psychodramatische Vorgehen ableiten lassen.
Aber nicht nur im Rahmen der „Kinderspiele“ setzte sich Moreno mit dem Rollen-
spiel und dem Theater auseinander. Das Theater war ihm Mittel, sich mit dem
Menschen zu beschäftigen und dessen Kreativität anzuregen. So war es nur fol-
gerichtig, dass er nicht Gefallen daran fand, Stücke anderen AutorInnen einfach
nur nachzuspielen, sondern dass es ihm um das kreativeȱMoment im Theaterspiel
ging. Ein dritter Bezugspunkt zum Theater ist damit Morenos Interesse und Ori-
entierung an der Tradition des Stegreiftheaters. Theater und Leben sollten nicht
voneinander getrennt sein: Hier wie dort lehnte er falsche, das heißt nicht passen-
de, Rollen ab.
UnterȱStegreiftheaterȱwirdȱimȱWesentlichenȱverstanden:ȱ
Es gibt keinen Theaterschriftsteller und auch kein fertig geschriebenes Stück.
Die komplette Darstellung wird improvisiert, von den Texten bis zur Gesamthand-
lung.
Die klassische Bühne ist nicht vorhanden; an ihre Stelle tritt die zum Alltagsleben
offene Bühne.
Es gibt keine ZuschauerInnen im klassischen Sinne, alle sind MitspielerInnen.
LebendigeȱZeitungȱ
Unter Lebendiger Zeitung versteht man eine Technik, aktuelles Tagesgeschehen,
das in Zeitungsartikeln beschrieben ist, auf der Psychodramabühne nachzuspielen.
Dabei wird zunächst ein Artikel ausgesucht, dann gemeinsam gelesen. Die im Arti-
kel vorkommenden Rollen werden an die MitspielerInnen vergeben, danach wird
das beschriebene Geschehen gemeinsam in freiem Spiel szenisch umgesetzt.
keȱ selbstȱ treibtȱ seineȱ Krankheitȱ aus.ȱ Dieȱ Wiederholungȱ inȱ derȱ Illusionȱ machtȱ ihnȱ frei.“
(Moreno 1970: 71) Es konnte alles gespielt und gezeigt werden, und es war dabei
nicht entscheidend, ob etwas krank oder gesund war. In der Welt der Bühne
konnten die SpielerInnen eine heilsame, distanzierende Erfahrung machen. „Jedesȱ
wahreȱzweiteȱMalȱbefreitȱvomȱersten“ (Moreno 1980: 28), eines der bekanntesten MoȬ
reno-Zitate, gehört in den Kontext dieser Theater-Form. Psychodrama beschreibt
hier ein Arrangement: Nach bestimmten Regeln wird ein Erlebnis, eine Erfahrung
oder, im Falle von Krankheit, ein Symptom szenisch dargestellt. Durch das Nach-
spielen in der von Moreno sogenannten Surplus-Realität der Bühne wird der
Selbstheilungsprozess der ProtagonistIn angestoßen. In dieser anderen Wirklich-
keit der Psychodrama-Bühne können die ErzählerInnen ihre Erlebnisse noch
einmal in sicherem Rahmen erleben und sich gleichzeitig davon distanzieren,
indem sie die Situation von außen betrachten.
„Die Zuschauer waren meine Mitwirkenden. Die Menschen im Publikum waren wie
Tausende unbewusste Bühnenautoren. Das Stück war die Situation, in die sie durch
die historischen Ereignisse hineingeworfen worden waren, in der jeder von ihnen ei-
nen wirklichen Part spielen musste. […] Wenn es mir gelänge, das Publikum in Ak-
teure zu verwandeln, in Akteure ihres eigenen kollektiven Dramas, des kollektiven
Dramas sozialer Konflikte, in das sie in der Tat täglich verwickelt waren, dann würde
meine Kühnheit belohnt werden.“ (Moreno 1995: 80)
Auch als Schriftsteller und Herausgeber machte sich Moreno einen Namen. Es war
die Zeit des Expressionismus. Aufbruchstimmung herrschte, man gab sich mit dem
bürgerlichen Leben nicht mehr zufrieden. Der Schein wurde hinterfragt, das commeȱ
ilȱ faut war nicht mehr so wichtig wie die Echtheit und die Wahrhaftigkeit, heute
würde man sagen: die Authentizität. Der Humanismus wurde Programm, es war
eine Zeit der Manifeste und Zeitschriften, in denen das Menschsein in Prosa, Lyrik,
bildender und darstellender Kunst zum Ausdruck gebracht wurde. Moreno schrieb
sehr viel und seine Frühschriften haben durchaus ihren eigenen literarischen Wert.
Der Daimon und der Neueȱ Daimon waren Zeitschriften, die von Moreno ab 1918
herausgegeben wurden und in denen Prominente wie FranzȱWerfel, MaxȱBrod, MarȬ
tinȱBuber, PaulȱClaudel und andere veröffentlichten.
1.3 DieȱtheologischeȱWurzel:ȱChassidismusȱundȱKabbalaȱ
Neben dem Einfluss des Theaters auf die Entwicklung des Psychodramas war das
Interesse Morenos an seiner jüdischen Herkunft, hier besonders am Chassidismus
und der Kabbala, von Bedeutung, auch wenn Moreno kein frommer Synagogengän-
1.3 Die theologische Wurzel: Chassidismus und Kabbala 23
ger war. Von der Kabbala übernahm er das Bild des handelnden Gottes, eines Got-
tes in Aktion, der sich im Menschen zeigt. Gott entwickelt sich nach Moreno dann
im Menschen weiter, wenn jener kreativ und schöpferisch ist. Er bezeichnete diese
Art von Gottheit als IchȬGott, also als Gott in jedem Menschen. Der Mensch steht
damit nicht nur als Teil der Schöpfung einem „DuȬGott“ gegenüber, sondern er ist
auch Teil des Schöpfers und damit „IchȬGott“: „DerȱIchȬGottȱistȱderȱMensch,ȱderȱdiesenȱ
Rollentauschȱ vollzogenȱ hatȱ undȱ dadurchȱ inȱ derȱ Lageȱ ist,ȱ dieȱ Verantwortung,ȱ dieȱ ausȱ derȱ
BegegnungȱmitȱderȱGottheitȱerwächst,ȱzuȱübernehmen.“ (Hutter 2002: 326) Die Lehre der
Kabbala, dass jegliches Lebewesen eine Emanation der Gottheit ist, berührte Moreno
zutiefst. Diese Haltung verlieh ihm eine positive Grundhaltung gegenüber dem
Menschen und dessen Entwicklungsfähigkeit. „Ichȱmöchteȱihnenȱ[denȱMenschen]ȱMutȱ
zuȱneuenȱTräumenȱgeben.ȱ[…]ȱIchȱbringeȱdenȱMenschenȱbei,ȱwieȱsieȱGottȱspielenȱkönnen.“
(Moreno in Leutz 1986: 139) Und Gott spielen bedeutet in diesem Fall keine Blas-
phemie, sondern es ging Moreno um die Tatsache, dass jeder Mensch sich stetig
neu erschaffen oder mit heutigen Worten weiterentwickeln kann.
Aus der Tradition des Chassidismus rührt die Betonung eines weiteren zent-
ralen Aspektes des Psychodramas her: der Begegnung. Sie war für Moreno elemen-
tar. Ebenso wie das dialogische Prinzip Bubers ist Morenos Betonung der Begeg-
nung, sei es mit Gott, sei es mit den Mitmenschen, auf chassidische Wurzeln
rückführbar. In seinen lyrisch-geprägten Frühschriften finden sich hierzu folgen-
de Zeilen (Moreno 1922: 15):
Und bereits 1915 formulierte er in deutlichen Worten, was er als Einladungȱ zuȱ
einerȱBegegnung bezeichnete:
„Ein Gang zu zwei: Auge vor Auge, Mund vor Mund. Und du bist bei mir, so will ich
dir die Augen aus den Höhlen reißen und an die Stelle der meinen setzen, und du
wirst die meinen ausbrechen und an Stelle der deinen setzen, dann will ich dich mit
den deinen und du wirst mich mit meinen Augen anschauen.“ (Moreno 1915: 5)
Die Sprache erscheint uns heute fremd, die Begrifflichkeit an dieser Stelle auch
drastisch und der klare Bezug des psychodramatischen Verfahrens zur Theologie
unwissenschaftlich für ein Verfahren, das in den nächsten Jahrzehnten vor allem
im psychotherapeutischen Bereich beheimatet sein sollte; dennoch findet sich
hierin die Herkunft psychodramatischen Handelns, auch wenn dieses mittlerwei-
24 1 Was ist Psychodrama?
„Es gibt keine Notwendigkeit, zu beweisen, dass Gott existiert und die Welt geschaf-
fen hat, wenn dieselben Ichs, die er geschaffen hat, teil hatten daran, sich selbst und
auch alles andere zu erschaffen […] Die Gottes-Idee ist revolutionär, man muss sie a-
ber vom Beginn der Zeit in die Gegenwart zurückholen, in das Selbst, in jedes Ich. Der
Er-Gott der Schöpfung muss vielleicht seine Existenz beweisen. Der Du-Gott der
christlichen Bibel muss vielleicht den Beweis der Begegnung erbringen. Der Ich-Gott
des Selbst aber ist selbst-verständlich. Das neue „Ich“ kann sich nicht vorstellen, gebo-
ren zu werden, ohne sein eigener Schöpfer zu sein. Es kann sich nicht irgendjemand
anderen vorstellen, der geboren wird, ohne sein eigener Schöpfer zu sein. Noch kann
es sich irgendeine zukünftige Welt vorstellen, die entsteht, ohne ihr eigener Schöpfer
zu sein. Es kann sich nicht irgendeine zukünftige Welt vorstellen, ohne persönlich
verantwortlich zu sein für das, was sie hervorbringt.“ (Moreno 1947: 13)
1.4 DieȱWurzelȱPsychotherapieȱ
Die Psychotherapie ist heute ein eigenständiges Format, welches sich aus den
Disziplinen Medizin und Psychologie entwickelt hat. Sie ist säkular (geworden).
Damit verlassen wir den Bereich der Theologie und kommen zur Psychotherapie
als weiterer Quelle des Psychodramas. Moreno verstand darunter die „Heilung“
von Seele, Körper und Gesellschaft. Mit 20 Jahren nahm er in Wien sein Medizin-
studium auf. Zuvor hatte er sechs Jahre lang ohne seine Familie als Untermieter
bei einer Wiener Familie gelebt und seinen Lebensunterhalt durch eine Hausleh-
rertätigkeit verdient. Während seines Studiums gründete er mit Freunden ein
Wohnheim für MigrantInnen und Flüchtlinge und eine Selbsthilfegruppe für
Prostituierte, die er medizinisch und sozial-therapeutisch begleitete. Sein medizi-
nischer wie psychotherapeutischer Zugang zu den Menschen war immer schon
mit einer sozialen Fragestellung verbunden. Nach Abschluss des Studiums arbei-
tete er ab seinem 30. Lebensjahr als Arzt in einem Flüchtlingslager für Südtirole-
rInnen in Mitterndorf/Österreich. Auch hier verband sich für ihn die Medizin
und die Psychotherapie mit einer sozialen Fragestellung: Er machte Sozialthera-
pie. Die Behandlung des Einzelnen sollte in einen größeren Rahmen eingebettet
sein, in die Behandlung der ganzen Gesellschaft bzw. in Morenos – nicht immer
bescheidener – Wortwahl: der Behandlung der ganzen Menschheit. Nach seiner
Emigration in die USA 1925 verdichtete er diesen Ansatz zur Soziatrie, der Idee,
die Gesellschaft sei das Objekt der Heilung. Das klingt aus heutiger Perspektive
etwas vollmundig, wirkt beinahe totalitär. Nicht umsonst ist dies eine Idee der
20er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Es darf Moreno jedoch bei aller Hybris, die
sich in diesem Satz zeigt, keine unlautere Absicht unterstellt werden; vielmehr
befreite er mit seinem sozialen Ansatz das seelische Leid Einzelner aus der da-
mals vorherrschenden individualistischen Sicht, wie sie seine psychotherapeuti-
schen, v.a. seine psychoanalytischen ZeitgenossInnen mehrheitlich vertraten. Das
System, welches Moreno mit seiner Methode im Auge hatte, war nicht ausschließ-
lich intrapsychisch, wie zum Beispiel das psychoanalytischeȱ Drei-Instanzen-
Modell von Es, Ich und Über-Ich, sondern interpsychisch und interaktionell. Der
psychodramatische Blick richtete sich auf den Raum zwischen den Menschen;
damit war die systemische Sichtweise in die Psychotherapie gekommen.
Im Psychodrama allgemein, aber auch besonders innerhalb des psychothera-
peutischen Zweiges sind die Konzepte von Kreativität und Spontaneität wesentliche
Bestandteile für die Entwicklung bzw. Gesundung des Menschen. Ein gesunder
Mensch ist kreativ, bzw. eine „gesunde“ Gesellschaft ist kreativ und in der Lage,
spontan zu handeln und sich weiterzuentwickeln. Unter Spontaneität verstand MoȬ
reno dabei nicht das, was heute landläufig unter spontan verstanden wird. Ein Sys-
tem, egal ob Mensch oder Gesellschaft, ist nach Moreno dann spontan, wenn es auf
eine neue Situation angemessen und auf eine bekannte (z.B. sich wiederholende)
Situation neu reagieren kann. An zwei Beispielen wird dies deutlich:
Herr Zill handelt – im Sinne des Psychodramas – spontan, wenn er die Um-
stellung des Archivs von Verkaufsdaten von Mikrofiches auf die elektronische
Datenverarbeitung per PC mit vollziehen kann; weniger spontan wäre es, wenn er
Probleme bei dieser Umstellung hätte. Nicht spontan wäre auch das Verhalten der
13-jährigen Tochter Vera, die trotz wiederholter Aufforderungen, ihre schmutzige
Wäsche in den Wäschekorb und nicht daneben auf den Fußboden zu werfen, ihr
Verhalten nicht ändert und deswegen mit Sanktionen in der Familie rechnen muss.
Allgemeiner werden gelingende spontane Prozesse in folgendem Flussdia-
gramm dargestellt.
Dieses von Moreno entwickelte Prozessmodell klingt zunächst einfach und
leuchtet den meisten Menschen „spontan“ ein. Es dient im Psychodrama dazu,
Veränderung menschlichen Verhaltens zu beschreiben. Bei näherer Betrachtung
erweist es sich als äußerst komplex, da es verschiedene Vorannahmen beinhaltet:
26 1 Was ist Psychodrama?
2: Kreativer 3: Entwicklung
Prozess im und Anwendung
Zustand der neuen und / oder
Spontaneität adäquaten
Verhaltens
5: regelhafte
Anwendung
erworbenen oder
bestätigten
Verhaltens
Wenn nur diese vier Perspektiven herangezogen werden, wird deutlich, wie viele
Faktoren auf menschliche Veränderungen Einfluss nehmen. Unterstützende Ge-
gebenheiten, aber auch Störfaktoren können an jeder beliebigen Stelle auftauchen
und den kreativen Prozess fördern oder gefährden. Die spontane Reaktion des
1.4 Die Wurzel Psychotherapie 27
Menschen wird dadurch optimiert oder aber der Mensch läuft Gefahr, aus der
Spontaneitätslage herauszufallen und dann nicht mehr angemessen reagieren zu
können. Klinisch zeigt sich dann neurotisches Verhalten.
Durch die bisherige Beschreibung der Wurzeln des Psychodramas zogen
sich verschiedene Fäden: die Rolle (Soziologie), das Spiel oder – allgemeiner – die
Handlung (Theater), die Kreativität (Theologie), die Spontaneität (Psychothera-
pie) und die Begegnung (Philosophie). Im Feld der Psychotherapie erfolgte für
Moreno und sein Psychodrama der wissenschaftliche Durchbruch allerdings erst
1932 in seiner neuen Heimat, in den USA, mit einer weiteren Neuerung. Bei ei-
nem Vortrag vor der Americanȱ Psychiatricȱ Association (APA) konnte er sein von
ihm entwickeltes GruppentherapieȬKonzept vorstellen.
Es beinhaltet verschiedene Aspekte: Es ist eine Therapie in der Gruppe, mit
der Gruppe und eine Therapie der Gruppe. Therapie in der Gruppe bedeutet,
dass eine einzelne Person, im Psychodrama ProtagonistIn genannt, innerhalb einer
Gruppe behandelt wird und nicht, wie in den anderen damals gängigen psycho-
therapeutischen Verfahren, ausschließlich im Einzelsetting. Die meisten psycho-
therapeutischen Behandlungen Morenos in Beacon, seiner Privatklinik in den USA,
wurden im Gruppensetting durchgeführt, wobei die Gruppe in der Regel aus
einer PatientIn und MitarbeiterInnen Morenos bestand (Buer 2007: 164). Therapie
mit der Gruppe heißt in diesem Kontext: Es werden andere Personen mit einbe-
zogen, die der ProtagonistIn beim Heilungsprozess helfen; diese Personen wur-
den von Moreno HilfsȬIche genannt. Diese Hilfs-Iche nehmen Rollen in der szeni-
schen Darstellung der ProtagonistIn ein. Hier zeigt sich wieder der für Moreno so
bedeutsame Aspekt der Begegnung der Menschen. Zu guter Letzt der dritte As-
pekt, die Therapie der Gruppe. Dieser Punkt ist besonders relevant für PatientIn-
nengruppen, d.h. Gruppen, in denen mehrere PatientInnen behandelt werden.
Jede einzelne Person in der Gruppe und die Gruppe als Ganze erleben einen
Veränderungs- oder Heilungsprozess, unabhängig davon, ob die Mitglieder als
MitspielerIn, als ZuschauerIn oder als ProtagonistIn beteiligt waren. Schließlich
unterliegt auch die Gruppe selbst einer Entwicklungsdynamik. Aber auch wenn
Morenos Durchbruch in den USA mit seinem Gruppenkonzept kam, da die Be-
handlung in der Gruppe den Heilungsprozess effektiver machte, ist sie damals
wie heute keine conditioȱ sineȱ quaȱ non für die psychodramatische Psychotherapie.
Wir werden dies an späterer Stelle ausführlicher beschreiben. Was zum Konzept
der Gruppenbehandlung dazugehört, ist neben dem Begriff der Begegnung das
gemeinsame Bewusste bzw. das gemeinsame Unbewusste. Diese beiden Felder
ergänzen die Konzepte Freuds und Jungs; Ersterer beschrieb ein individuelles
Unbewusstes in seinen Theorien, Letzterer ein kollektives. Das gemeinsame Be-
wusste und Unbewusste Morenos ist quasi dazwischen angesiedelt: Er ging davon
28 1 Was ist Psychodrama?
aus, dass Menschen nie isoliert von anderen auftreten und dass diese Dyaden,
Triaden, Klein- oder Großgruppen ein gemeinsames bewusstes sowie ein ge-
meinsames unbewusstes Feld haben. Dieses interpersonelle Feld des gemeinsamen
Bewussten und Unbewussten betrifft nicht nur die Familie und nahen Angehöri-
gen, sondern auch zum Beispiel FreundInnen, MitarbeiterInnen, Mitglieder in
Clubs und Vereinen. Es liegt zwischen der intrapsychischen und der soziokultu-
rellen Ebene, und es ist das klare Verdienst Morenos, dies in den Blick von Thera-
pie und Sozialforschung gerückt zu haben.
1.5 DieȱzweiteȱsoziologischeȱWurzelȱundȱeinȱeigenesȱAnwendungsfeld:ȱdieȱ
Soziometrieȱ
Über den Bereich Soziologie und das Instrument Gruppe ist das Feld der SozioȬ
metrie, der Messung und Beschreibung des Zwischenmenschlichen, schon in den
Blick gekommen. Zu einem späteren Zeitpunkt wird diese ausführlicher behan-
delt (siehe: Kapitel 6). Im Rahmen der Beschreibung des Verfahrens Psychodrama
und seiner Wurzeln soll sie aber auch hier kurz angesprochen sein.
Erste Erfahrungen mit der Messung von Beziehungen hatte Moreno bereits
im österreichischen Mitterndorf während seiner Tätigkeit in einem Flüchtlingsla-
ger gesammelt, als es darum ging, dort kooperative Gemeinschaften zu bilden.
Die österreichische Regierung hatte in einem Flüchtlingsdorf nahe Wien
Südtiroler BäuerInnen angesiedelt. Die Gruppen waren wahllos zusammenge-
stellt und es gab zahlreiche Konflikte. Moreno interessierte sich für die Strukturen,
die sich in diesen Gruppen bildeten, und untersuchte das Flüchtlingsdorf mit
seinen BewohnerInnen anhand unterschiedlicher Kriterien: nationale Identität,
Parteizugehörigkeit, geschlechtsspezifische Kriterien, Untergruppenzugehörig-
keiten etc. Anhand der entdeckten Untergruppen ließ er nach persönlicher Zu-
neigung neue Gruppen bilden und diese miteinander wohnen, in der Überzeu-
gung, dass sowohl die Zusammenarbeit als auch das allgemeine Zusammenleben
sich dann konfliktfreier gestalten sollten.
Seine spätere soziometrische Aktionsforschung im Gefängnis SingȬSing in
den USA hatte zum Ziel, die Rehabilitation der Sträflinge zu verbessern; auch
seine Anstellung als Forschungsdirektor in einer großen New Yorker Schule für
schwer erziehbare Mädchen war ein Feld, in dem er die Soziometrie anwandte
und weiterentwickelte. Einige der großen soziometrischen Untersuchungen sind
in seinem Buch „Whoȱshallȱsurvive?“ von 1934 zusammengefasst. Die Psychothe-
rapie und die Messung und Veränderung sozialer Gefüge wurden damit erstmals
systematisch zusammengeführt.
1.5 Die zweite soziologische Wurzel und ein eigenes Anwendungsfeld: die Soziometrie 29
Morenos Vision von Soziometrie war, dass Menschen ihre Umwelt aktiv er-
forschen und sie entsprechend ihren eigenen Bedürfnissen verändern. Hieraus
spricht der demokratische und humanistische Geist des Psychodramas. Mit den
Methoden der Soziometrie können Tiefenstrukturen innerhalb von Gruppen
untersucht und abgebildet werden, die sich nicht immer an der Oberfläche einer
Gemeinschaft, wie zum Beispiel durch ein Organigramm, ablesen lassen, sondern
dieser Oberfläche sogar manchmal zuwiderlaufen können; darüber hinaus kann
mit der Soziometrie innerhalb von Gruppen gruppendynamisch gearbeitet bzw.
sozialpsychologisch untersucht werden (vgl. Blatner 1988: 138 und ausführlicher
in diesem Band Kapitel 6).
Damit sind die Eckdaten des Psychodramas in ihrem historischen Kontext
beschrieben. Vertieft werden die einzelnen Punkte in den Kapiteln zu den Arran-
gements, Techniken und Anwendungsfeldern.
Die Gewichtung der einzelnen Satelliten in der folgenden zusammenfassen-
den Grafik obliegt den jeweiligen AnwenderInnen. PsychodramatikerInnen ver-
wenden die Bestandteile nicht alle gleich. Damit sind wir bei dem Punkt Psycho-
drama und seine AnwenderInnen angelangt.
Kreativität /
Schöpfer-
kraft
Spontaneität
/ adäquate
Rolle Person-
Umwelt-
Passung
Psycho-
drama
Begegnung / Szenisches
Inter- Spiel /
personalität / „als ob“
Soziometrie
Handlung
1.6 RollenȱvonȱPsychodramatikerInnenȱȱ
7 Der Deutscheȱ Fachverbandȱ fürȱ Psychodrama sieht für den Abschluss der ersten Ausbil-
dungsstufe nun den Titel der Psychodrama-PraktikerIn, für den Abschluss der zwei-
ten Ausbildungsstufe den Titel der Psychodrama-TherapeutIn bzw. -LeiterIn, abhän-
gig vom erlernten Grundberuf, vor.
1.7 Das Psychodrama heute 31
1.7 DasȱPsychodramaȱheuteȱ
Wir haben gesehen, dass das Psychodrama wie andere Verfahren vielfältige
Wurzeln hat, die heute jedoch nicht immer gleichermaßen zur Wirkung kommen.
Über die oben beschriebenen Rollen, Fertigkeiten und Ideale prototypischer Psy-
chodramatikerInnen sind wir in der Gegenwart des Psychodramas angelangt. Im
nachstehenden Psychodramabaum sind die Wurzeln und die aktuellen Anwen-
dungsfelder noch einmal in einem Bild zusammengefasst. Dabei kann man so-
wohl den Bereich der Wurzeln fokussieren als auch den Bereich der Krone. Auch
die Zielgruppe des Psychodramas erklärt sich zum Teil aus der Baumgrafik.
PsychodramatikerInnen kommen aus unterschiedlichen Grundberufen und
finden sich in den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern, wie zum Beispiel als Psy-
chologInnen oder BetriebswirtInnen in Personalabteilungen großer Unterneh-
men, als PsychotherapeutInnen oder SozialarbeiterInnen in psychosomatischen
und psychiatrischen Krankenhäusern, in Suchtkliniken, in eigenen Praxen als
niedergelassene PsychotherapeutInnen, als BeraterInnen in Familien-, Paar-,
Lebens- sowie Suchtberatungsstellen, als PfarrerInnen im Bereich der Seelsorge,
als StreetworkerInnen, als freiberufliche OrganisationsberaterInnen, als Supervi-
sorInnen und MediatorInnen, als LehrerInnen oder ErwachsenenbildnerInnen
sowie als soziometrische ForscherInnen an Fachhochschulen und Universitäten.
Manchmal wird das gesamte Verfahren mit all seinen im Folgenden näher be-
schriebenen Arrangements und Techniken angewandt, manchmal sind es nur
Bausteine, die Verwendung finden. Ein besonders prominentes Beispiel für eine
32 1 Was ist Psychodrama?
Bausteinverwendung ist das Familienstellen, das in den letzten zehn Jahren be-
dauerlicherweise besonders mit Hellinger und seinen Schülern in Verbindung
gebracht wird (vgl. Buer 2005). Bedauerlicherweise, da die Tiefe und Hilfe, die
den Betroffenen zuteil werden könnte, durch zum Teil unsachgemäße Anwen-
dung des Arrangements und durch eine Einbettung in eine rigide, konservativ
geprägte Philosophie bei den PatientInnen oft mehr Schaden als Nutzen ange-
richtet hat. Das Familienstellen ist ein genuin psychodramatisches Arrangement,
das, gezielt und mit fundiertem Wissen und Können eingesetzt, äußerst effektiv
für die Betroffenen ist. Weitere Arrangements, Methoden und Techniken finden
sich in den folgenden Kapiteln ausführlich beschrieben.
Bildung
Seelsorge
Supervision
Psychotherapie
Beratung
Mediation
Soziale Arbeit
Personal- und Organisati-
onsentwicklung
Psychodrama
Theater Theologie
Psychologie / Soziologie
Medizin
Literaturȱ
Blatner, A. und Blatner A. (1988): Foundationsȱ ofȱ psychodrama.ȱ History,ȱ theoryȱ andȱ practice.
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Buer, F. (1999): MorenosȱtherapeutischeȱPhilosophie. Opladen: Leske + Budrich
Buer, F. (2005): Aufstellungsarbeit nach Moreno in Formaten der Personalarbeit in Organi-
sationen. Beispiel: Aufstellung von Führungsdilemmata. Zeitschriftȱ fürȱ Psychodramaȱ
undȱSoziometrie 5 (2) S. 285-310
Buer, F. (2007): Beratung, Supervision, Coaching und das Psychodrama. Eine Landkarte zur
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7 (2) S. 151-170
Dahrendorf, R. (2006):ȱHomoȱSociologicus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft
Dayton, T. (2005): Theȱlivingȱstage. Deerfield Beach: Health Communication
Dornes, M. (1998): DieȱfrüheȱKindheit. Frankfurt a. M.: Fischer
Djuric, Z., Veljkovic, J. und Tomic, M. (2006): Psychodrama.ȱAȱbeginner’sȱguide. London: Jes-
sica Kingsley
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Görnitz, T. und Görnitz B. (2008): DerȱkreativeȱKosmos.ȱGeistȱundȱMaterieȱausȱQuanteninformaȬ
tion. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag
Hutter, C. (2002): Psychodramaȱ alsȱ experimentelleȱ Theologie:ȱ Rekonstruktionȱ derȱ therapeutischenȱ
PhilosophieȱMorenosȱausȱpraktischȬtheologischerȱPerspektive. Münster: LIT
Karp, M. (2003): An introduction to psychodrama, in: Karp, M., Holmes, P. und Tauvon, K.
B. (2003): Theȱhandbookȱofȱpsychodrama
Karp, M., Holmes, P. und Tauvon, K. B. (2003): Theȱhandbookȱofȱpsychodrama. Hove und N.Y.:
Routledge
Kellermann, P. F. (2000): Focusȱ onȱ Psychodrama.ȱ Theȱ therapeuticȱ aspectsȱ ofȱ psychodrama. Lon-
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Kipper, D. (1996): The emergence of role-playing as a form of psychotherapy. Journalȱ ofȱ
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Krüger, R. (2006): unveröffentlichtes Manuskript: Das metaperspektivisch-symbolisierende
Bühnenhandeln. Überarbeitete Teile einer Veröffentlichung (2005): Szenenaufbau und
Aufstellungsarbeit, Praxis und Theorie, Variationen und Indikationen im Gruppenset-
ting und in der Einzelarbeit. ZeitschriftȱfürȱPsychodramaȱundȱSoziometrieȱ4ȱ(2), S. 249-274
Leutz, G. (1986): Psychodrama. Berlin: Springer (Erstveröffentlichung 1974)
Mead, G. H. (1934): Mind,ȱselfȱandȱsociety. Chicago: University of Chicago
Moreno, J. L. (1915) unter dem Namen: Levy, J.: EinladungȱzuȱeinerȱBegegnung.ȱBerichtȱvonȱJ.ȱ
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Moreno, J. L. (1922): DasȱTestamentȱdesȱVaters. Potsdam: Kiepenheuer
Moreno, J. L. (1934): Whoȱ shallȱ survive?ȱ Foundationsȱ ofȱ sociometry,ȱ groupȱ psychotherapyȱ andȱ
sociodrama.ȱ Aȱ newȱ approachȱ toȱ theȱ problemȱ ofȱ humanȱ interrelations. Washington D.C.
(deutsch: Moreno, J. L. (1996): DieȱGrundlagenȱderȱSoziometrie.ȱWegeȱzurȱNeuordnungȱderȱ
Gesellschaft. Opladen: Leske + Budrich (Erstveröffentlichung 1954)
34 1 Was ist Psychodrama?
2
2 DieȱInstrumenteȱdesȱPsychodramasȱ
2.1 DieȱBühneȱ
Die Bühne ist das zentrale Instrument des Psychodramas. Für Moreno, der die Psy-
chodramatherapie aus seinen im Stegreifspiel mit Kindern und sozial benachteilig-
ten Bevölkerungsgruppen gesammelten Erfahrungen entwickelt hat, war es selbst-
verständlich, dass das, was im psychodramatischen Spiel dargestellt wird, eine
Bühne benötigt. Er wollte damit der Szene mehr Wert verschaffen und sie für ein
Publikum gut sichtbar machen, da manche Ereignisse die wohlwollende Zeugen-
schaft anderer benötigen, damit sie gut verarbeitet werden können. In seinem Insti-
tut in BeaconȱHill,ȱNewȱYork, ließ Morenoȱhierfürȱeine imposante Bühnenkonstrukti-
on errichten, die aus drei Ebenen und einem halbrunden Balkon besteht (Leutz 1986;
VonȱAmeln,ȱGerstmann,ȱKramerȱ2005) und die auch heute noch, wenngleich an einem
anderen Standort, für psychodramatische Inszenierungen genutzt wird.
Der spezielle Aufbau dieser Bühne spiegelt die verschiedenen Phasen und die
Symbolik eines psychodramatischen Spiels wider: So bietet die erste Ebene des
stufenförmigen Aufgangs Sitzgelegenheit für das Publikum, die zweite wird
während der Phase der Exploration benutzt und die dritte dient dem eigentlichen
Spiel. Der Balkon kommt dann zum Einsatz, wenn Transzendentes oder Göttli-
ches zum Ausdruck gebracht werden soll, aber auch, wenn strafende Instanzen
ihren Auftritt haben (Schacht 2005).
Aus heutiger Sicht bedarf es für ein psychodramatisches Spiel keiner eigens
dafür gebauten Bühne. Es ist ausreichend, wenn diese ein für alle Beteiligten
erkennbarer, klar abgegrenzter Bereich des Gruppenraumes ist, dessen Standort
von der Leitung bzw. von der HauptdarstellerIn eines psychodramatischen
Spiels, der sogenannten ProtagonistIn, als Bühne definiert wird. Damit kann die
Bühne von Spiel zu Spiel variieren. Die Anforderungen, die an eine psychodra-
matische Bühne gestellt werden, sind minimal: Der Umfang der Bühne muss
ausreichende Bewegungsfreiheit gewährleisten, um die psychodramatische Akti-
on nicht zu behindern. Hilfreich sind einige wenige Requisiten wie ein Tisch und
Stühle und ein Fundus an Kleidungsstücken sowie Tücher, Kissen oder Seile.
Diese Utensilien können als Platzhalter für verschiedene Einrichtungsgegenstän-
de, als Abgrenzungen und vieles mehr dienen. In den Anfängen des Psychodra-
mas wurden veränderbare Lichtverhältnisse zur Verdichtung der in den Szenen
vorherrschenden Stimmungen als nützlich empfunden, heute ist dies in den Hin-
tergrund gerückt (vgl. Leutzȱ 1986; ZeintlingerȬHochreiter 1996; Schacht 2005). Die
Verwandlung der Bühne in den Raum oder die Umgebung, in der sich die Szene
abspielen soll, erfolgt durch die jeweilige ProtagonistIn selbst. Durch deren ge-
naue Schilderungen, zum Beispiel, wo sich in diesem Raum die Türen, die Fens-
ter und die Einrichtungsgegenstände befinden, entstehen in den Anwesenden
Bilder der äußeren Gegebenheiten, aber auch Eindrücke von der vorherrschen-
den Atmosphäre (Leutz 1986).
Psychodrama-Leiterin: „Wo auf der Bühne könnte sich Ihr Arbeitszimmer befinden?
Sollen wir dieses mit Seilen von den angrenzenden Räumen abtrennen? … Wo ist der
Eingang und wo die Fenster? … An dieser Wand steht also Ihr Schreibtisch, was
könnten wir als Platzhalter für ihn verwenden? …“
Ein sorgfältiges Einrichten der Bühne bewirkt bei der ProtagonistIn, aber auch bei
den MitspielerInnen, dass ihr Erwärmungsgrad steigt und sie sich mehr auf die
zu bearbeitende Szene einlassen können: Ziel ist es, dass die ProtagonistIn mög-
lichst im Hier und Jetzt der Szene ankommt. Die psychodramatische Bühne soll
für alles offen sein und gleichzeitig einen geschützten Raum bilden, in dem ohne
Angst vor Konsequenzen oder Verurteilungen innere und äußere Konflikte,
Ängste, Emotionen und Gedanken dargestellt werden können. Unbewältigte
Ereignisse aus der Vergangenheit, der Gegenwart, aber auch Zukunftsszenarien
können hier in Szene gesetzt werden. Spontan können Handlungsalternativen
erprobt und neue Wege eingeschlagen werden. Aber auch Wunschvorstellungen,
Fantasien und Träume können in diesem Rahmen belebt werden (ZeintlingerȬ
Hochreiter 1996). Für Moreno (1989, 2001: 45) „istȱderȱBühnenraumȱeineȱErweiterungȱ
desȱ Lebensȱ überȱ denȱ Realitätstestȱ desȱ Lebensȱ hinaus.ȱ Realitätȱ undȱ Phantasieȱ bekämpfenȱ
einanderȱnicht,ȱsondernȱsindȱbeideȱFunktionenȱinnerhalbȱeinerȱerweitertenȱSphäreȱ[…]“.ȱ
In diesem Fall wird von SurplusȬrealityȱgesprochen, da auf der Psychodramabüh-
ne mehr als nur das reale Leben Platz findet.
Auch im psychodramatischen Einzelsetting kommt die psychodramatische
Bühne zum Einsatz. In vielen psychodramatischen Praxen gibt es dafür einen
abgegrenzten Bereich, wie zum Beispiel einen Teppich. Häufig wird ein Tisch zur
Bühne umfunktioniert, er wird zur Tischbühneȱ(Krüger 2005: 250).
38 2 Die Instrumente des Psychodramas
Abbildungȱ8: Tischbühne
Mit Figuren oder Gegenständen aus dem Fundus der LeiterIn, die Personen,
Gefühlslagen oder innere Anteile symbolisieren, werden Szenen aus der Erleb-
niswelt der ProtagonistIn auf dem Tisch nachgestellt.
Nicht nur die „reale Bühne“, sondern auch „Bühne“ als Konstrukt stellt für
einige spezifische psychodramatische Anwendungsfelder einen bedeutenden
Eckpfeiler dar. So wird im Monodrama, und hier speziell in der psychodramati-
schen Therapie mit Kindern und Jugendlichen, häufig nach dem „DreiȬBühnenȬ
Modell“ (Pruckner 2001) gearbeitet. Dabei wird zwischen der Sozialenȱ Bühne, der
Begegnungsbühne und der Spielbühne unterschieden. Auf der Sozialen Bühne fin-
den Begegnungen mit den Angehörigen oder den Betreuungspersonen, dem
sogenannten sozialenȱ Atom des Kindes oder der Jugendlichen statt: dies wären
etwa Begrüßungsszenen beim Hinbringen, beim Abholen oder bei Elterngesprä-
chen. Auf der Begegnungsbühne steht die Interaktion zwischen der TherapeutIn
und der jungen KlientIn im Mittelpunkt des Geschehens. Hier werden Regeln
besprochen, Rahmen abgesteckt, Spielideen entwickelt, Rituale abgehalten und
die Qualität der Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn besprochen. Auf
der Spielbühne findet das Symbolspiel statt, das je nach Thematik der KlientIn
unterschiedlich geartet sein kann und von Regelspielen bis zum freien Spiel, zum
Beispiel mit Handpuppen, gestaltet sein kann (BieglerȬVitek,ȱRiepl,ȱSageder 2004).
2.2 Die Psychodrama-LeiterIn 39
2.2 DieȱPsychodramaȬLeiterInȱ
In ihrer direktiven Rolle als LeiterIn ist sie aktiv am Aufbau einer Gruppen-
kultur beteiligt, indem sie die Rahmenbedingungen und Gruppennormen fest-
legt. In der Einstiegs- oder Erwärmungsphase ist es ihre Aufgabe, die Gruppen-
teilnehmerInnen dazu zu aktivieren, ihre derzeitigen Befindlichkeiten und Prob-
lemstellungen zu offenbaren, daraus die Gruppenthematik herauszufiltern und
die Form der folgenden Inszenierung zu bestimmen. Dazu gehört die Klärung, ob
die Gruppe zu einem Gruppenspiel eingeladen werden soll oder ob ein protago-
nistInnenzentriertes Spiel angesagt ist. Ausgehend von der Fragestellung der
Gruppe oder der ProtagonistIn entwickelt sie eine diagnostische Hypothese,
Prozessziele und eine Idee über den Ablauf des Spiels. Dieses Spiel leitet sie da-
nach unter Zuhilfenahme psychodramatischer Techniken. Dabei muss sie auf die
Zeiteinteilung und auf die Einhaltung von Regeln achten. Im Anschluss daran
stellt sie den Raum für das Feedback, das Sharingȱund die Prozessanalyse zur Verfü-
gung (zu diesen Begriffen später mehr).
Die perzeptive Funktion der Psychodrama-LeiterIn ist von ebenso großer
Bedeutung wie die direktive. Dazu zählt das Beobachten von bestimmten Abläu-
fen: etwa, die Abwicklung einer Szene oder die Reaktion der ProtagonistIn zu
erfassen und zu erkennen, was diese Szene bei den MitspielerInnen oder beim
Publikum auslöst, welche Gruppendynamik vorherrschend ist und welche Posi-
tionen die verschiedenen GruppenteilnehmerInnen einnehmen. Während des
Spieles ist es wichtig, dass sich die Psychodrama-LeiterIn in die Problematik der
ProtagonistIn einfühlt und mit ihr mitschwingt. Sie sollte, die wie auch immer
gearteten Äußerungen der ProtagonistIn, der MitspielerInnen und der Zuschaue-
rInnen wahrnehmen und im passenden Moment darauf reagieren.
Zu guter Letzt hat die Psychodrama-LeiterIn auch die Funktion einer „teil-
nehmenden ProtagonistIn“. Sie kann sich zum Beispiel durch Mitlachen oder
Mittrauern persönlich einbringen. Auch steht ihr das Äußern eines persönlichen
Sharings, das Mitteilen eigener Erfahrungen rund um das bearbeitete Thema,
offen, soweit dieses für den therapeutischen Fortschritt zweckdienlich ist und
soweit es die Gruppenmitglieder nicht belastet (ZeintlingerȬHochreiter 1996: 19).
Im Einzelsetting ist der Aufgabenbereich der Psychodrama-LeiterIn ein ähn-
licher. Hier ist naturgemäß der Fokus auf die Einzelperson gerichtet. Eine warme
und einladende Atmosphäre soll der KlientIn ermöglichen, sich in diesem Setting
wohlzufühlen, und klar strukturierte Rahmenbedingungen sollen für die nötige
Sicherheit und Vertrauensbasis sorgen (Fürst 2004). In der sogenannten War-
ming-up-Phase gilt es, das Thema der KlientIn zu identifizieren und sie zur Bear-
beitung dieser Problematik zu erwärmen. Die LeiterIn hat darauf aufbauend zu
entscheiden, welche monodramatischen Techniken zur Inszenierung dieser
Thematik am besten geeignet wären, und begleitet die KlientIn bei der Suche
2.2 Die Psychodrama-LeiterIn 41
pieerfolg hat, denn ohne positive therapeutische Beziehung sind keine erfolgrei-
chen Therapieresultate zu erwarten (Yalom 2005).
2.3 DieȱProtagonistInȱ
Die ProtagonistIn ist die Person, deren Lebensgeschichte, Problematik oder Wün-
sche auf der Psychodramabühne dargestellt werden, sie steht für einen begrenz-
ten Zeitraum im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Das Hervorheben persönli-
cher Themen einzelner Gruppenmitglieder charakterisiert das protagonistInnenȬ
zentrierteȱ Psychodrama. Es unterscheidet sich dadurch vom gruppenzentriertenȱ
Psychodrama und vom Soziodrama, bei denen der Fokus der Aufmerksamkeit wäh-
rend des gesamten Geschehens auf die Gruppe gerichtet ist.
Die ProtagonistIn entscheidet, welches ihrer Anliegen inszeniert werden
soll, nach ihren Vorstellungen wird die Bühne eingerichtet, sie wählt die Mitspie-
lerInnen aus und bestimmt, welche Rolle diese in ihrem psychodramatischen
Spiel übernehmen. In diesem Moment ist sie HauptempfängerIn der therapeu-
tisch-pädagogischen Effekte des Psychodramas.
Wann und wer ProtagonistIn wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab.
Einerseits sollte die Person eine Fragestellung oder einen Wunsch haben, wie
zum Beispiel einmal die Rolle einer durchsetzungskräftigen Person einzunehmen
oder eine Szene aus der Vergangenheit nachzuspielen, um sie besser zu verste-
hen. Dann muss die potentielle ProtagonistIn auch bereit sein, ihr Anliegen auf
die Bühne zu bringen. Sie sollte so offen sein, dass es ihr möglich ist, anderen
einen Einblick in ihre Innenwelt zu gewähren, so mutig sein, dass sie sich auch
auf Unvorhergesehenes einlassen kann, und Interesse an neuen Erfahrungen
haben. In der Sprache des Psychodramas: Die jeweilige Person muss den nötigen
Grad an Erwärmung für ein Thema haben, um sich als ProtagonistIn zur Verfü-
gung stellen zu können.
Frau Riemer hat seit längerer Zeit Probleme mit ihrem pubertierenden Sohn, dessen
schulische Leistungen im letzten Jahr stark nachgelassen haben und der sich kaum
mehr an Vereinbarungen hält. Vor einer Woche wurde er mit einer Alkoholvergiftung
ins Krankenhaus eingeliefert. Frau Riemer belastet diese Situation schon seit Wochen,
sie hatte aber bisher den Anspruch, mit dieser Problematik alleine fertig zu werden.
Beim Erzählen der derzeitigen familiären Situation fällt ihr auf, dass sich ihr ganzes
Leben derzeit nur um ihren ältesten Sohn dreht und sie keine Zeit zum Entspannen
hat, dass sie kaum Ruhe findet, um ein Buch zu lesen, und die Gespräche mit ihrem
Mann nur das eine Thema beinhalten. Obwohl Frau Riemer spürt, wie ihr beim Ge-
danken daran, dass ihre Problematik im Mittelpunkt dieser Gruppensitzung stehen
könnte, etwas mulmig wird, kündigt sie an, dass sie mit Hilfe eines ProtagonistInnen-
spiels erfahren möchte, wie sie trotz der Wirren, die die Pubertät ihres Sohnes in ihr
Familienleben bringt, auf sich und ihre Bedürfnisse achten kann.
Neben der ProtagonistIn müssen auch die übrigen TeilnehmerInnen für das
Thema erwärmt sein. Deshalb sollte die Gruppe bei der Auswahl der Protagonis-
tIn mitbestimmen können. Häufig wird dazu die Methode der soziometrischenȱ
Wahl (vgl. Kapitel 6 Soziometrie) herangezogen. Durch dieses Verfahren wird
sichtbar, wie viele Gruppenmitglieder mit welchen Anliegen der möglichen Pro-
tagonistIn am besten partizipieren können. Da die ProtagonistIn im Sinne MoreȬ
nos auch als RepräsentantIn der Gruppenthematik gesehen werden kann, bear-
beitet sie mit ihrer Inszenierung nicht nur ihre eigene Fragestellung, sondern in
gewissem Ausmaß auch die Probleme der anderen. Somit können auch die restli-
chen Gruppenmitglieder von der Essenz der auf der Bühne sich abspielenden
Veränderungsprozesse profitieren. Das bestätigt sich auch im Sharing, dasȱan die
Spielphase anschließt. Dort kommenȱ die übrigen TeilnehmerInnen zu Wort,
wenn sie diese oder eine ähnliche Thematik aus ihrer eigenen Lebenserfahrung
kennen.
2.4 DieȱMitspielerInnen,ȱHilfsȬIcheȱȱ
Herr Kramer, ein junger, aufstrebender Mitarbeiter eines mittelgroßen Betriebes, be-
kommt eine Position angeboten, in der er zum ersten Mal eine leitende Funktion in-
nehat. Herr Kramer möchte wissen, welche Auswirkungen dieser Wechsel auf das Be-
ziehungsgeflecht innerhalb der Abteilung hat. Die psychodramatische Organisations-
beraterin Frau Raab bietet ihm an, sich dies in Form einer psychodramatischen Skulp-
turarbeit vor Augen zu führen. Aus dem Kreis der Gruppenmitglieder wählt Herr
Kramer eine Person, die seinen Chef darstellt, andere, die seine bisher gleichrangigen
KollegInnen mimen sollen, und auch ein Gruppenmitglied, das seine Rolle stellvertre-
tend für ihn in dieser Aufstellung übernehmen soll.
Eine ganz spezielle Funktion kommt der Darstellung der AntagonistIn zu. Die
AntagonistIn ist eine MitspielerIn, die als GegenspielerIn der ProtagonistIn in
2.4 Die MitspielerInnen, Hilfs-Iche 45
Erscheinung tritt. An ihr entfacht sich meist der Konflikt, sie ist aber auch die
Person, bei der durch eine Beziehungsveränderung ein Ausweg aus einer schwie-
rigen Lage gefunden werden kann.
Die Hilfs-Iche haben sich an das von der ProtagonistIn vorgegebene Skript sowie
an die Anweisungen der ProtagonistIn und der LeiterIn zu halten, dürfen aber
entsprechend ihrer Rollenvorgabe improvisieren, solange die ProtagonistIn nichts
Gegenteiliges äußert oder die LeiterIn nicht interveniert.
Durch die Rückmeldungen der Hilfs-Iche an die ProtagonistIn, welche Ge-
fühle während der Rollenübernahme bei ihnen aufgetreten sind, erfüllen sie wei-
tere wichtige Funktionen. Diese Rückmeldungen werden Rollenfeedbacks ge-
nannt und werden von den Hilfs-Ichen manchmal während des Spiels in Form
eines Interviews durch die LeiterIn, aber meist in einem dafür vorgesehenen
Abschnitt einer Psychodramasitzung, der sogenannten Integrationsphase, geäu-
ßert. Sie helfen der ProtagonistIn, die Gefühlswelt ihres Gegenübers zu erfassen,
und erweitern damit den Blick auf die Szene. Durch das Betrachten einer Situati-
46 2 Die Instrumente des Psychodramas
Thera-
Psychodrama zu dritt:
peutin
Therapeutin beobachtet
Klientin: Ich möchte eine Gehaltserhöhung!
Hilfs-Ich als Chefin: Wie soll sich die Firma das
Hilfs-Ich
leisten können? Klientin
als Chefin
Thera-
peutin
Psychodrama à deux:
Klientin: Ich möchte eine Gehaltserhöhung!
Therapeutin in der Rolle als Chefin: Wie soll sich
Thera-
die Firma das leisten können? Klientin peutin als
Chefin
Thera-
Monodrama: peutin
Klientin: Ich möchte eine Gehaltserhöhung!
Klientin in der Position als Chefin: Wie soll
sich die Firma das leisten können?
Klientin als
Klientin
Chefin
2.5 DieȱGruppeȱ
dass der Gruppe selbst eine heilende Funktion zukommt und, dass die Gruppe
selbst Heilung erfährt. Der Faktor, der in einer Gruppe als Basis für die optimale
Entfaltung psychodramatischer Techniken dient und damit zum Erfolg einer psy-
chodramatischen Gruppe grundlegend beiträgt, ist die Kohäsion oder der GruppenȬ
zusammenhalt. Dieser entwickelt sich aus tragfähigen Beziehungen zwischen den
einzelnen Gruppenmitgliedern untereinander und zur Leitung, wird aber auch aus
der Beziehung zwischen den einzelnen TeilnehmerInnen und der Gruppe als Ge-
samtheit genährt. Die Kohäsion bewirkt, dass sich die Angehörigen dieser Gruppe
wertgeschätzt, akzeptiert und angenommen fühlen, was zur Steigerung ihres
Selbstwertgefühls beiträgt (Yalom 2005). Durch die Gruppenzugehörigkeit wird das
Verantwortungsgefühl für andere gestärkt und durch die Erfahrung, dass das eige-
ne Handeln in der Gruppe auf andere eine positive Wirkung hat, kann das Gefühl
der Selbsteffektivität gehoben werden. Die Kohäsion ist es, die es den Gruppenteil-
nehmerInnen erleichtert, sich zu öffnen, authentisch über ihre Probleme und Kon-
flikte zu sprechen, sie erhöht die Selbstreflexion und unterstützt die Gruppe dabei,
spontan und kreativ zu handeln.
Durch die verschiedenen Lebenswelten der TeilnehmerInnen werden unter-
schiedliche Aspekte, Sichtweisen und Weltanschauungen in eine Gruppe einge-
bracht. Die Gruppe stellt somit im Kleinen einen größeren Kosmos dar, wodurch
sich ähnliche Gruppendynamiken wie im realen Leben widerspiegeln können.
Das bedeutet, dass sich nach einem gewissen Zeitabschnitt auch in der Gruppe
Problematiken und Verhaltensmuster zeigen, die die TeilnehmerInnen aus ande-
ren Lebensbereichen kennen. Durch die Kohäsion bildet die Gruppe einen ge-
schützten Rahmen, in dem sich deren Mitglieder weniger angstbesetzt als in
Alltagssituationen mit diesen Prozessen auseinandersetzen können. Dadurch
kann es den TeilnehmerInnen zum Beispiel leichter fallen, negative Gefühle ge-
genüber anderen Gruppenmitgliedern, aber auch gegenüber der LeiterIn auszu-
drücken. Im Übungsfeld der Gruppe können diese Konflikte erforscht und gege-
benenfalls Lösungsansätze erprobt werden. Eine solche Atmosphäre, in der Vie-
les erlaubt und ausprobiert werden darf, ermöglicht es den TeilnehmerInnen, sich
mit all ihren positiven und negativen Wesenzügen zu zeigen und sich selbst als
Personen mit vielfältigen Ausprägungen zu akzeptieren. Dass die Gruppe einen
Mikrokosmos darstellt, hat den Vorteil, dass die in ihr gemachten Erfahrungen
auch in die Welt außerhalb der Gruppe transferiert werden können.
Natürlich trägt nicht nur die Gruppe an sich, sondern auch jedes einzelne
Mitglied zum Erfolg der Gruppe bei. Durch authentische Begegnungen, die in-
nerhalb einer Gruppe zum Beispiel in Form von echter Anteilnahme, Rührung
oder Trost zustande kommen, kann Kraft geschöpft und die Gewissheit gestärkt
werden, dass man mit der Problematik nicht allein zu kämpfen hat.
2.5 Die Gruppe 49
Eine Gruppe hat noch weitere mannigfaltige Vorteile zu bieten, die oft un-
terschätzt werden. Durch die vielfältigen Themen, die verschiedenen Herange-
hensweisen oder die unterschiedlichen Temperamente der einzelnen Gruppen-
mitglieder können die TeilnehmerInnen Zusammenhänge erkennen, die sie, un-
ter Umständen, ohne den Input der anderen Gruppenmitglieder nicht erkannt
hätten, oder beobachten, wie andere mit ähnlichen Situationen auf eine ganz
andere Weise umgehen. Wie bereits erwähnt, können alle Gruppenmitglieder aus
der Inszenierung der Problematik Einzelner Nutzen ziehen, unabhängig davon,
ob sie selbst aktiv auf der Bühne beteiligt gewesen sind oder ob sie, als Beobach-
terInnen im Publikum sitzend, dem Szenenablauf gefolgt sind. Dabei kommen
die Spiegelneuronen zum Einsatz, die bewirken, dass beim Beobachten von Ver-
haltensabläufen ähnliche kortikale Prozesse wie bei den direkt Betroffenen ablau-
fen und so durch das Mitschwingen mit einer anderen Person eigene Lernprozes-
se vonstatten gehen (Hütherȱ2006).
In Wechselwirkung sind es aber hier nicht nur die TeilnehmerInnen, die
Veränderungsprozesse durchwandern, sondern auch die Gruppe selbst, die
durch die geteilten Emotionen eine Weiterentwicklung erfährt.
Diese positiven Gruppeneffekte lassen sich natürlich nicht nur in psychothe-
rapeutischen Psychodramagruppen beobachten, aus ihnen wird auch in psycho-
dramatischen Supervisionen, Coachings und Organisationsentwicklungen Nut-
zen gezogen.
Psychodramatische Gruppen können unterschiedlich groß sein, die Bandbreite
geht von Kleingruppen mit fünf Personen bis zu Großgruppen, die über 100 Teil-
nehmerInnen umfassen können. Sind so viele Personen beteiligt, wird meist ein
Soziodrama inszeniert, bei dem je nach Thema soziale und kulturelle Interaktionen
eines Systems, einer Organisation oder einer Gesellschaft und deren Auswirkungen
auf das Erleben und Handeln eines Individuums erkundet werden.
Die TeilnehmerInnen von psychodramatischen Gruppen können miteinan-
der bekannt sein, wie das in einem Team der Fall ist. Die Gruppe kann sehr ho-
mogen zusammengesetzt sein, wie zum Beispiel eine Supervisionsgruppe von
WeiterbildungskandidatInnen zum Thema „Psychodrama mit Kindern und Ju-
gendlichen“, oder auch heterogen wie bei einer psychodramatischen Jahresgrup-
pe für PatientInnen mit unterschiedlichen Störungsbildern.
Auch bei den Formen von Gruppen gibt es unterschiedliche Varianten. Eine
sehr häufige Gruppenform ist die Jahresgruppe. Dabei treffen sich die Gruppen-
teilnehmerInnen wöchentlich oder vierzehntägig über einen gewissen Zeitraum –
z.B. ein Jahr in einer gleichbleibenden Gruppenzusammensetzung, was als geȬ
schlosseneȱGruppe bezeichnet wird. Eine Gruppensitzung dauert in diesem Setting
üblicherweise zwischen 90 und 180 Minuten. In Institutionen wie Krankenhäu-
50 2 Die Instrumente des Psychodramas
Literaturȱ
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Zeintlinger-Hochreiter, K. (1996): KompendiumȱderȱPsychodramaȬTherapie. Köln: inScenario
3.1 Das protagonistInnenzentrierte Psychodrama 51
3
3 PsychodramatischeȱArrangementsȱ
3.1 DasȱprotagonistInnenzentrierteȱPsychodramaȱ
WasȱwirdȱunterȱprotagonistInnenzentriertemȱPsychodramaȱverstanden?ȱ
Rahmenbedingungenȱ
PhasenȱeinerȱprotagonistInnenzentriertenȱpsychodramatischenȱAktionȱ
3.1.1 DieȱErwärmungsphaseȱ
Die Erwärmung leitet eine psychodramatische Sitzung ein. Sie wird auch als Initi-
al-, Anwärm- oder Warming-up-Phase bezeichnet. Sie bereitet auf die Aktions-
oder Spielphase vor.
DieȱZieleȱderȱErwärmungsphaseȱ
Die Aufgabe der Erwärmung besteht auf der individuellenȱEbeneȱdarin, dass mög-
lichst jedes Gruppenmitglied Zugang zu dem Thema findet, das es gerade am
meisten bewegt und dessen Bearbeitung seine Entwicklung fördern würde. Die
einzelnen TeilnehmerInnen sollten so weit aktiviert werden, dass sich etwaige
Spielhemmungen oder Spontaneitätsblockaden lösen, dass die Neugierde ge-
weckt, die Experimentierfreudigkeit angeregt und die Angst verringert werden.
Ziel der Erwärmung ist es, einen Zustand oder, wie PsychodramatikerInnen
sagen, eine Spontaneitätslage, also jenen Moment eines Aktivierungsprozesses zu
54 3 Psychodramatische Arrangements
erreichen, in dem eine Person bereit ist, neue Lösungsansätze zum ersten Mal zu
erproben. Wird diese Lage erreicht, kann es ein Mensch wagen, sich dem Unbe-
kannten und Neuen zu stellen (vgl. Schacht 2003).
Auf der Gruppenebene dient die Erwärmungsphase dazu, dass sich durch ver-
schieden geartete Begegnungen – wie ein Gespräch, einen Blickkontakt, ein Mit-
schwingen mit der Problematik der anderen Person oder eine gemeinsame Akti-
vität zwischen den TeilnehmerInnen – ein Wir-Gefühl und eine Vertrauensbasis
bilden, die der Gruppe Tragkraft verleihen und sie auf die Aktionsphase vorbe-
reiten. Innerhalb der Gruppe fokussiert sich das Thema, welches von den meisten
GruppenteilnehmerInnen geteilt und akzeptiert wird. Damit ein gemeinschaftli-
ches Arbeiten an diesem Thema möglichst effektiv wird, sollte der Grad der Er-
wärmung der einzelnen TeilnehmerInnen in etwa gleich hoch sein.
Jede neue Gruppensituation stellt auch für die LeiterInnen eine Herausfor-
derung dar, da sie immer etwas Erstmaliges und Unvorhergesehenes in sich birgt
(Schwingerȱ1994). Die Erwärmungsphase dient somit auch der Gruppenleitung als
Einstimmung auf ihre Arbeit mit der Gruppe und die folgende Inszenierung. Mit
geschultem Blick erkundet die LeiterIn, mit welchen Fragestellungen sich die
TeilnehmerInnen derzeit auseinandersetzen, welche Problematiken ihnen even-
tuell zu schaffen machen, wie das Gruppenthema lautet und welches Gruppen-
mitglied dieses mit seiner Problematik am besten repräsentieren könnte.
3.1 Das protagonistInnenzentrierte Psychodrama 55
DieȱGestaltungȱderȱErwärmungsphaseȱȱ
Damit die in weiterer Folge beschriebenen Methoden zur Gestaltung der Erwär-
mungsphase Früchte tragen können, gilt es Ausgangsbedingungen zu schaffen,
die die Gruppe zu einem sicheren Raum werden lassen, in dem angstfrei Neues
erprobt werden kann. Dazu zählt, die Regeln und Rahmenbedingungen von
Psychodrama-Sitzungen zu vermitteln, wie etwa die zeitliche Struktur und das
Ziel der Gruppe, denn klare Regeln und das Wissen über den Ablauf der Gruppe
bieten Struktur und geben den TeilnehmerInnen Sicherheit. Eine kurze Einfüh-
rung in die Methode Psychodrama erhöht die Transparenz und das Verständnis
für bestimmte Handlungen und Abläufe. Die Klärung der Verschwiegenheits-
pflicht und die Erläuterung der Verantwortlichkeiten der LeiterInnen und der
Gruppenmitglieder ermöglichen erst einen offenen und vertrauensvollen Um-
gang miteinander. Ebenso müssen Interaktionsformen besprochen werden, wie
zum Beispiel, ob man sich gegenseitig siezt oder duzt.ȱ
Die individuelle Erwärmung beginnt meist schon Stunden, manchmal sogar
Tage vor der eigentlichen Gruppensitzung. Viele TeilnehmerInnen machen sich
bereits auf dem Weg zum Ort des Zusammentreffens Gedanken darüber, wie die
Sitzung verlaufen könnte, was sie sich davon erwarten und erhoffen, aber auch,
wovor sie sich unter Umständen fürchten. Ebenso stimmen sich die LeiterInnen
auf die Gruppe ein, indem sie z.B. den Gruppenraum gestalten, den Prozess frü-
herer Gruppensitzungen Revue passieren lassen oder sich mögliche Szenarien für
die nun folgende Gruppensituation überlegen. Dies sollte aber mehr der Aktivie-
rung dienen als der Planung eines starren, fix vorgegebenen Programms, welches
der Spontaneität der LeiterInnen und einem gezielten Anpassen an die Bedürf-
nisse der Gruppe abträglich wäre.
Häufig beginnen protagonistInnenzentrierte Psychodramagruppen mit einer
Befindlichkeitsrunde, bei der die TeilnehmerInnen nach ihren derzeitigen Stim-
mungslagen, zurückliegenden Erlebnissen, ihren aktuellen Bedürfnissen und
Wünschen an die Gruppe oder ihren innerpsychischen Konflikten befragt wer-
den. Daraus kann sich oft schon ein Spielwunsch nach einer psychodramatischen
Inszenierung entwickeln und es kann sich die nächste ProtagonistIn herauskris-
tallisieren.
Da von solchen Automatismen jedoch nicht immer ausgegangen werden
kann, bedarf es zudem bestimmter Arrangements oder bestimmter Anwärmtech-
niken, die den Übergang in die Aktionsphase erleichtern.
Gerade in der Anfangsphase eines Gruppenprozesses benötigen die Teil-
nehmerInnen, um für ein ProtagonistInnenspiel ausreichend erwärmt zu sein,
zusätzliche Impulse, damit sich die teilnehmenden Personen besser kennenlernen
56 3 Psychodramatische Arrangements
FormenȱvonȱArrangements,ȱdieȱderȱErwärmungȱdienenȱ
Es gibt eine Vielzahl von Arrangements, die der Erwärmung dienen, und eine
ebensolche Mannigfaltigkeit in der Form ihrer Kategorisierung. Moreno bezeich-
nete sie als Starter:
ZumȱKennenlernenȱ
Offen Themenspezifisch
ZurȱVorbereitungȱaufȱdieȱAktionsphaseȱ
Offen Themenspezifisch
ArrangementsȱzumȱKennenlernenȱundȱzurȱStärkungȱderȱGruppenkohäsionȱ
SoziometrischeȱExplorationȱ(aufȱGruppeȱbezogen/offenȱoderȱthemenspezifischȱsein/EmotiȬ
onenȱansprechend):ȱ
„Die TeilnehmerInnen, die vorher noch nie eine Psychodrama-Gruppe besucht haben,
stellen sich bitte auf die linke Seite des Raumes, jene, die bereits eine solche absolviert
haben, auf die rechte.“
„Personen, die in ihrer Freizeit am liebsten Sport treiben, gruppieren sich bitte hier,
solche, die gerne ausgehen, da, und jene, die es vorziehen, sich zu Hause zu entspannen,
bitte in diesem Bereich des Gruppenraumes aufstellen.“
„Die TeilnehmerInnen, die dieses Seminar aus eigenem Interesse besuchen, finden
sich bitte hier ein, jene, denen dieses Seminar von Seiten ihrer ArbeitgeberInnen nahe-
gelegt worden ist, stellen sich bitte auf diese Seite des Gruppenraums.“
Auf diese Weise können Lebensumstände, Hobbies, die Motivation, aber auch
Geburts- oder Wohnorte erfragt werden. Damit bietet diese Methode eine rasche
und meist auflockernde Orientierungsmöglichkeit, welche Erfahrungshinter-
gründe, Wünsche und Erwartungen die TeilnehmerInnen in die Gruppe mitbrin-
gen. Durch das Zusammenfinden in Kleingruppen kann in kurzer Zeit ein Gefühl
von Gemeinsamkeit und in Folge auch von Nähe entstehen. Die Gruppenmit-
glieder können etwas von sich zeigen, ohne dabei bereits einen tiefen Einblick in
ihre Persönlichkeit geben zu müssen. Dieses Arrangement bietet sich vor allem
für Gruppenstarts und Seminarbeginne an, es wird auch gerne in Organisations-
beratungen eingesetzt (vgl. Kapitel 6 Soziometrie).
3.1 Das protagonistInnenzentrierte Psychodrama 59
VorstellungȱüberȱeinȱSymbolȱoderȱHilfsobjektȱ(aufȱGruppeȱbezogen/offen/Emotionenȱ
ansprechend):ȱ
Dafür wählen die TeilnehmerInnen einen Gegenstand, den sie mit sich führen
und der für sie von Bedeutung ist, wie ein Kalender oder ein Schmuckstück. Es
können dafür aber auch Handpuppen aus dem Fundus der Leitung gewählt
werden. Dann übernehmen die Gruppenmitglieder die Rollen dieser Symbole
und stellen sich selbst aus dieser Rolle heraus vor.
„Ich bin der Kugelschreiber von Helga. Sie hat mich als Abschiedsgeschenk von ihren
KollegInnen erhalten, als sie in die neue Abteilung gewechselt ist. Helga hält mich
sehr in Ehren und hat mich immer mit dabei, deshalb kann ich euch auch viel über sie
erzählen. Sie ist …“
Die anderen Gruppenmitglieder werden aufgefordert, mit dem ausgewählten Gegens-
tand in Kontakt zu treten und Fragen zur Person zu stellen. „Kugelschreiber, du
kennst Helga ja sehr gut, du kannst uns sicher berichten, wie Helga so lebt, was sie be-
ruflich macht und ob sie einen Partner und Kinder hat.“
Durch dieses Arrangement kann man ohne allzu große Überwindung in die Welt
des Psychodramas eintauchen und sich mit der Methode des Rollenwechsels
vertraut machen. Außerdem ist es, etwa für gehemmtere TeilnehmerInnen, leich-
ter, sich aus einer Außenperspektive heraus vorzustellen. Einen Gegenstand in
der Hand zu halten, kann im wahrsten Sinne des Wortes Halt bieten.
Julian besucht zum ersten Mal eine psychodramatische Jahresgruppe. In der ersten
Sitzung stellt er sich anhand seines Terminkalenders vor:
„Ich bin der Filofax von Julian. Julian geht selten ohne mich aus dem Haus, er ist näm-
lich sehr gewissenhaft und verlässlich, er kommt so gut wie nie zu spät, und in all den
Jahren, in denen ich ihn begleitet habe, habe ich es noch nie erlebt, dass er einen Ter-
min vergessen hat. Früher hat er in mir auch private Treffen und Ereignisse notiert.
Jetzt sind solche fast gar nicht mehr zu finden. Das ist seit einem guten halben Jahr so.
Seit dieser Zeit schläft er sehr schlecht, grübelt viel und fühlt sich gar nicht wohl. Die
Gruppe besucht Julian, weil er etwas gegen seinen niedergeschlagenen Zustand un-
ternehmen möchte. Außerdem möchte er lernen, sich etwas besser abzugrenzen.“
ErweitertesȱBefindlichkeitsbildȱ(aufȱGruppeȱbezogen/offen/Emotionenȱansprechend):ȱ
TeilnehmerInnen vermitteln, dass es bei dieser Übung nicht wichtig ist, beson-
ders schön zu zeichnen, sondern dass die kreative und emotionale Ausein-
andersetzung im Mittelpunkt steht. Wenn die vereinbarte Zeit zu Ende ist, wird
die Zeichnung an das nächstsitzende Gruppenmitglied weitergereicht. Dieses hat
nun zwei Minuten Zeit, das hinzuzufügen, wozu es angesichts des bereits Abge-
bildeten inspiriert wurde. Dieser Vorgang wird so lange wiederholt, bis alle Teil-
nehmerInnen auf jedem Werk etwas hinzugefügt haben. Dann erhalten die Per-
sonen ihr ursprünglich von ihnen gestaltetes Exemplar zurück. In der Bespre-
chungsphase können die TeilnehmerInnen berichten, was sie beim Betrachten
dieses nun neuen und veränderten Bildes empfinden, was ihnen gefällt und wel-
cher Aspekt dieser Zeichnung ihnen weniger behagt. Sie können auch die ande-
ren Anwesenden fragen, was sie bewegt hat, das Bild derart zu verändern oder
dieses und jenes hinzuzufügen.
„Mir gefällt das Bild in seiner neuen Form im Großen und Ganzen sehr gut, es ist viel
farbenfroher und ausdrucksstärker geworden. Für das ursprüngliche Bild habe ich
vorwiegend Pastellfarben verwendet, die sollten meine Unsicherheit und meine Angst
vor dieser neuen Gruppensituation darstellen. Besonders gut gefällt mir diese Blu-
mengirlande, etwas irritiert mich aber die schwarze Träne, wer hat sie gezeichnet?
Was wolltest du damit ausdrücken?“
EinȱTreffenȱimȱMärchenwaldȱ(aufȱGruppeȱbezogen/themenspezifisch/Emotionenȱ
ansprechend):ȱ
die Thematik dienen. Die Bühne wird imaginär zu einem Märchenwald gestaltet,
zur besseren Veranschaulichung können Requisiten herangezogen werden. Dann
werden die einzelnen TeilnehmerInnen dazu angeregt, sich zu erinnern, welches
Märchen sie als Kind am meisten in den Bann gezogen hat, mit welcher Märchen-
figur sie sich am stärksten identifiziert haben oder welches Märchenwesen für sie
eine abstoßende Wirkung hatte. In der Rolle einer dieser Märchengestalten sollen
sie nun auf die Bühne treten und mit den anderen Figuren, die auch nach und
nach den Märchenwald besuchen, interagieren. Für in der Methode des Psycho-
dramas ungeübte Personen stellt es eine Erleichterung dar, wenn dabei das Tref-
fen dieser Figuren unter ein bestimmtes Motto gestellt wird und über dieses dis-
kutiert werden kann, wie z.B. „Rettet den Märchenwald“. Im Anschluss wird
über die Rollenwahl und die in diesem Spiel gemachten Erfahrungen reflektiert.
Peter: „Für mich war klar, dass ich als Zwerg den Märchenwald betreten werde. Mich
faszinierten die Zwerge bei Schneeweißchen und Rosenrot immer sehr. Auf der einen Sei-
te waren sie mir unheimlich, weil sie unter der Erde lebten und dort tief verborgen ihre
Schätze bewachten. Auf der anderen Seite beeindruckte mich, dass sie sich, obwohl ih-
nen geholfen wurde und sie sich eigentlich hätten bedanken müssen, über den durch
die Hilfestellung entstanden Schaden, wie den abgeschnittenen Bart, beklagten. Als
Zwerg habe ich in der Diskussion um den Erhalt des Märchenwaldes beinhart meine
eigenen Interessen vertreten, ohne auf die Wünsche und Bedürfnisse der anderen auch
nur ein Stück weit einzugehen. Als Peter würde ich so nie auftreten.“
ArrangementsȱzurȱErwärmungȱfürȱdieȱAktionsphaseȱ
EinstiegsrundeȱmitȱderȱUnterstützungȱeinesȱSymbolsȱoderȱIntermediärȬObjektesȱ(aufȱ
Einzelpersonȱbezogen/offen/Emotionenȱansprechend):ȱ
Julian hat einen Tannenzapfen gewählt: „Mir ist dieser Tannenzapfen sofort ins Auge
gestochen. Mit ihm verbinde ich einen unbeschwerten Spaziergang im Wald. Wie
62 3 Psychodramatische Arrangements
schön wäre es, einfach abschalten zu können und nur den Waldgeruch in der Nase zu
spüren. Derzeit habe ich unheimlich viel Stress in meinem Job. Meine Vorgesetzten
üben ständig Druck auf mich aus, weil das Projekt im nächsten Monat abgeschlossen
sein soll. Außerdem hatte ich einen Streit mit meiner Mutter. Vor einer Woche stand
sie ganz plötzlich ohne Vorankündigung in meiner Wohnung – sie hat ja einen Zweit-
schlüssel – da bin ich zum ersten Mal so richtig ausgerastet und habe sie angebrüllt.
Sie hat sich so aufgeregt, dass sie fast keine Luft mehr bekam und sich starke Schmer-
zen im Herzbereich einstellten. Ich musste den Notarzt rufen. Jetzt habe ich ein
schlechtes Gewissen. Ich befürchte, dass ich zu heftig reagiert habe.“
MeinȱFamilienalbumȱ(aufȱEinzelpersonȱbezogen/themenspezifisch/Emotionenȱ
ansprechend):ȱ
Die TeilnehmerInnen sollen auf das Thema, das den Schwerpunkt dieser Grup-
pensitzung oder des Seminars bildet, eingestimmt werden. Steht zum Beispiel die
Auseinandersetzung mit der Ursprungsfamilie im Brennpunkt dieser Zusam-
menkunft, können die Gruppenmitglieder aufgefordert werden, bedeutsame
Fotos aus ihrem Familienalbum mitzubringen und diese der Gruppe zu präsen-
tieren. Welchen Stellenwert haben diese Fotografien, welche Erinnerungen und
Gefühle lösen sie aus? Dies kann auch imaginativ ablaufen; in diesem Fall be-
schreiben die jeweiligen Gruppenmitglieder die für sie bedeutsamen Familienfo-
tos so detailreich wie möglich.
Klara: „Auf dem ersten Foto seht ihr meine Urgroßeltern im Kreise ihrer sechs Kinder
abgebildet, es ist schwarz-weiß und schon etwas vergilbt. Mein Urgroßvater trägt ei-
nen Schnauzbart und blickt sehr streng. Meine Urgroßmutter sitzt im hochgeschlosse-
nen Spitzenkleid neben ihm, auf ihrem Schoß thront der jüngste Sohn, das war mein
Großvater. Auch ihr scheint man kein Lächeln entlocken zu können … Dieses Bild
drückt für mich die unbeugsame Strenge und die Unfähigkeit, Liebe zu zeigen, aus,
Wesenszüge, die in der Familie meines Vaters vorherrschend und auch in seinem
Verhalten mir gegenüber zeitweise spürbar waren.“
StegreifȬȱoderȱGruppenspielȱalsȱArrangementȱderȱErwärmungȱ(aufȱGruppeȱbezogen/offen/ȱ
Emotionenȱansprechend):ȱ
Stegreif- oder Gruppenspiele als Erwärmung dienen dem Kennenlernen der Me-
thode, dem Sich-Einlassen auf die Einnahme einer Rolle und natürlich der Grup-
penkohäsion. Die Beweggründe, die zur Rollenwahl geführt haben, und die Er-
fahrungen, die während der Rollenübernahme gesammelt wurden, können den
Anstoß zu einem protagonistInnenzentrierten Spiel geben.
3.1 Das protagonistInnenzentrierte Psychodrama 63
Hierfür gibt die Leitung nur ein Motto vor, das den Rahmen des nachfol-
genden Spiels bietet, wie z.B. „Eine Nacht in Madame Tussauds Wachsfigurenka-
binett, in der die Figuren zum Leben erweckt werden“, oder „Ein Marktplatz im
Mittelalter“ oder „Gestrandet auf einer einsamen Insel“. Die Gruppenteilnehme-
rInnen können eine wie immer geartete Rolle wählen, die sie in diesem Spiel
verkörpern wollen. Die einzige Voraussetzung ist, dass mit der gewählten Rolle
ein Bezug zum Thema hergestellt werden kann, zum Beispiel die Königin Victoria
im Wachsfigurenkabinett oder der Henker in der mittelalterlichen Szene oder der
Indigene auf der einsamen Insel. Die Handlung ist meist nicht vorgegeben, son-
dern entwickelt sich aus der Fantasie der MitspielerInnen oder entsteht aus der
Interaktion mit den anderen Beteiligten. Die Dauer des Gruppenspiels hängt
davon ab, ob neue Impulse hinzukommen oder ob sich die Handlungsabläufe
wiederholen. Das Ende eines Gruppenspiels wird von der Gruppenleitung vor-
gegeben, wobei die SpielerInnen im Vorfeld auf das baldige Ende aufmerksam
gemacht werden sollten. „Die ersten Lichtstrahlen dringen durch die Gardinen
des Wachsfigurenkabinetts. Langsam müssen die einzelnen Figuren wieder ihre
ursprüngliche Position einnehmen und erstarren“ oder „Ein Schiff nähert sich der
einsamen Insel. Die Rettung der Gestrandeten ist nahe.“
Aus diagnostischer Sicht kann ein Gruppenspiel Auskunft über die Persön-
lichkeitsstruktur einzelner TeilnehmerInnen sowie über die Stellung der Mitglie-
der im Gruppengeflecht geben. Lenkt die Person, die das Kommando auf der
einsamen Insel innehat, auch die Gruppendynamik im realen Gruppenkontext?
Steht der Mitspieler, der sich zum Suchen von Feuerholz zurückzieht, auch sonst
etwas außerhalb des Gruppengeschehens? Mehr zu Gruppenspielen folgt in Ab-
schnitt 3.3.
DarstellungȱeinesȱProblembereichsȱmittelsȱeinerȱVignetteȱ(kurzes,ȱausȱeinerȱeinzigenȱ
SzeneȱbestehendesȱSpiel):ȱ
DieȱWahlȱderȱArbeitsformȱ
DieȱWahlȱderȱProtagonistInȱ
Zunächst wird die LeiterIn die einzelnen Gruppenmitglieder fragen, wer sein
oder ihr Anliegen mittels psychodramatischer Inszenierung klären möchte.
Dabei ist darauf zu achten, dass die in Frage kommende Person für die Be-
arbeitung der Thematik ausreichend erwärmt ist. Das bedeutet nicht nur, dass die
Person bereit sein muss, ihre Problematik szenisch auf der Bühne darzustellen,
sondern auch, dass sich aus der Thematik eine bestimmte Fragestellung ergeben
hat, deren Beantwortung für sie hilfreich wäre. Ist diese noch etwas diffus und
damit nicht ganz greifbar, spielt dies zunächst keine Rolle; jedoch sollte in solch
einer Lage die TeilnehmerIn die Bereitschaft zeigen, sich auf den nachfolgenden
Prozess einzulassen, sich also in der Spontaneitätslage befinden. Sind diese Fak-
toren nicht gegeben, kann die folgende psychodramatische Inszenierung in der
3.1 Das protagonistInnenzentrierte Psychodrama 65
Regel nicht die gewünschte Antwort bieten und der erwartete Erfolg bleibt mög-
licherweise aus. Von großer Bedeutung ist, dass auch die Gruppenmitglieder für
die jeweilige Thematik erwärmt sind, denn die Gruppe muss der ProtagonistIn
bei der Lösung ihrer Problematik den nötigen Resonanzboden zur Verfügung
stellen und ihr Schutz bieten.
Oft sind mehrere TeilnehmerInnen einer Gruppe für ein psychodramati-
sches Spiel erwärmt. Einige äußern diese Bereitschaft nicht verbal, sondern auf
somatische Weise, indem sie etwa unruhig auf ihrem Stuhl hin- und herrutschen,
schwitzen oder indem sich ihre Gesichtsfarbe verändert. Auch solche „körperli-
chen Andeutungen“ können von der Leitung zum Anlass für eine Einladung
zum Spiel genommen werden (HollensteinȬBurtscher 2004).
HilfsmittelȱzurȱUnterstützungȱdesȱEntscheidungsprozessesȱ
sches Spiel auf den Grund gehen wollen, begeben sich so weit in Richtung Kreis-
mittelpunkt, wie sie sich selbst für ein ProtagonistInnenspiel bereit empfinden.
3.1.2 DieȱSpielȬȱoderȱAktionsphaseȱ
ZieleȱderȱSpielȬȱoderȱAktionsphaseȱ
Das erste Teilziel der Aktionsphase ist, das eigentliche Thema der ProtagonistIn
und damit verbundene Problematik zu erfassen, zu konkretisieren und daraus
einen Arbeitsauftrag zu formulieren. Erst daraus wird ersichtlich, welcher Teilbe-
reich der „inneren Bühne“ auf die für andere sichtbare, psychodramatische Büh-
ne transferiert werden soll. Durch dieses Erfahrbar-Machen wird der Protagonis-
tIn ermöglicht, die Thematik aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten.
Es erlaubt aber auch ein tiefes emotionales Eintauchen, wodurch der Problematik
der ProtagonistIn auf den Grund gegangen werden kann.
Techniken so weit zu begleiten und zu unterstützen, dass sie Auswege aus der
Situation erkennt und bereit ist, Lösungsmöglichkeiten zu erproben.
PhasenȱderȱAktionsphaseȱ
EröffnungȱderȱBühneȱ
ErfassungȱderȱThematikȱ
Durch das empathische Nachfragen und Mitschwingen der LeiterIn vertieft sich
das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden. Das erleichtert es der Protagonis-
tIn, die Fragestellung mit all ihren Facetten darzulegen. So erhält die TherapeutIn
neben objektiven Angaben (z.B. welche Personen an dem Problem beteiligt sind)
und subjektiven Auskünften (z.B. Stärke des Leidensdrucks) auch szenische Infor-
mationen: wie sich zum Beispiel die Körperhaltung verändert, während die Pro-
tagonistIn die Geschehnisse schildert (vgl. VonȱAmeln,ȱGerstmann,ȱKramer,ȱ2005).
versucht sie ständig mit mir in Kontakt zu treten, sie dringt immer mehr in mein Le-
ben ein.“
Therapeutin: „Kannst du genauer beschreiben, wie deine Mutter in dein Leben ein-
dringt? Kannst du uns ein Beispiel nennen, wie das vor sich geht?“
Julian: „Meine Mutter telefoniert jeden Tag mit mir, manchmal auch mehrmals täglich.
Sie möchte ständig wissen, wie es mir geht und was ich so unternehme. Für sie ist es
selbstverständlich, dass ich immer für sie da sein sollte. Ich habe ja schon erzählt, dass
wir, weil sie vor Kurzem unangekündigt bei mir erschienen ist, einen heftigen Streit hat-
ten, der mit einer Spitalseinweisung aufgrund einer Panikattacke ihrerseits endete.“
Therapeutin: „Welche Gefühle werden durch diese Situationen bei dir wachgerufen?“
Julian: „Auf der einen Seite mache ich mir große Sorgen um ihren gesundheitlichen Zu-
stand, und ich empfinde Mitleid, weil sie einsam ist, auf der anderen Seite bin ich sehr
wütend. Vor allem habe ich das Gefühl, dass mir die Hände gebunden sind. Sie wird
sich nach wie vor in mein Leben einmischen, und ich wage nun nichts mehr zu sagen,
weil ich Angst habe, dass ich schuld bin, wenn es ihr gesundheitlich schlecht geht.“
Während dieser Schilderung beobachtet die Therapeutin, wie Julians Körper sich ver-
krampft und sich der Ausdruck von Ratlosigkeit in seinem Gesicht breit macht.
Im Kontakt mit Julian nimmt sie eine Form der Aggression wahr, die schwer zu kana-
lisieren ist und dadurch unterdrückt werden muss.
Dieses Interview kann als erster Schritt der Problembearbeitung betrachtet wer-
den. Denn mit Hilfe einer strukturierenden Gesprächsführung wird die Fragestel-
lung klarer erkannt, nicht beachtete Emotionen, die mit der Problematik einher-
gehen, können gesehen und benannt werden. Dadurch verändert sich die Per-
spektive auf die dargestellte Lage.
In weiterer Folge klärt die LeiterIn gemeinsam mit der ProtagonistIn, wel-
chen Auftrag es zu bearbeiten gilt.
FormulierungȱdesȱAuftragesȱ
Leitung auch darauf zu achten, dass die Inszenierung und die damit verbundene
Problemlösung in der zur Verfügung stehenden Zeit zu bewerkstelligen sind.
Therapeutin: „Was soll durch dieses Spiel erreicht werden? Was möchtest du erfahren
haben, wenn du heute Abend nach Hause gehst?“
Julian: „Ich möchte einen Weg finden, die nötige Distanz zu meiner Mutter zu be-
kommen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.“
Interventionsplanungȱ
Aus den im Interview gesammelten Informationen soll die LeiterIn nun Annah-
men über die Hintergründe und Zusammenhänge der Problematik erstellen
(Hypothesenbildung), um daraus Prozessziele, zu entwickeln, die der Protagonis-
tIn erleichtern, schrittweise das eigentliche Auftragsziel zu erreichen. Auf diesem
Gerüst soll ein provisorischer Plan über eine mögliche Vorgehensweise verfasst
werden: also welche Prozessschritte gesetzt werden und welche Arrangements
dafür zum Einsatz kommen sollen. Die Prozessschritte sollten durch einen roten
Faden verbunden sein. Im Folgenden werden die einzelnen Punkte der Interven-
tionsplanung genauer beschrieben.
Hypothesenbildungȱ
Zeitgleich mit der Auftragsklärung bildet die Leitung Hypothesen darüber, wa-
rum die ProtagonistIn in dieser oder jener Situation so und nicht anders reagiert.
Ähnlich wie bei Klassifikationen von Störungsbildern im therapeutischen Format,
die dazu dienen, bestimmte Phänomene und Zustände besser zu verstehen und
einzuordnen, hat die Psychodrama-LeiterIn Deutungshilfen zur Verfügung, die
es ihr erleichtern, den Sachverhalt der ProtagonistIn besser erfassen zu können.
Buer (VonȱAmeln,ȱGerstmann,ȱKramerȱ2005: 152) bezeichnet diese als InterpretationsȬ
folien: als theoretische Modelle, die ein Verstehen bestimmter Phänomene erleich-
72 3 Psychodramatische Arrangements
tern sollen. Den PsychodramatikerInnen dienen die Rollentheorie und die Spon-
taneitäts- und Kreativitätstheorie als ihre ureigensten Interpretationsfolien. Je
nach Vorlieben und Vorwissen der LeiterInnen können zusätzlich auch andere
Theorien und Modelle (z.B. entwicklungspsychologische oder feministische The-
orien, Kommunikationsmodelle etc.) herangezogen werden, mit deren Hilfe dia-
gnostische Hypothesen gebildet und Lösungsmöglichkeiten ins Auge gefasst
werden können (vgl. VonȱAmeln,ȱGerstmann,ȱKramer 2005).
Hypothese 1: Julian ist aufgrund seiner Erfahrungen mit seiner Mutter in seinem Rol-
lenrepertoire eingeschränkt. Die Rolle des erwachsenen Mannes, der sein Leben un-
abhängig von seiner Mutter gestaltet, konnte bisher kaum von ihm ergriffen werden.
Dadurch war es ihm nicht möglich, die nötigen Grenzen zu ziehen und seine eigenen
Bedürfnisse in ausreichendem Maß zu berücksichtigen.
Hypothese 2: Seine Spontaneität ist durch die frühere Strenge der Mutter und die
Reaktionsweise der Mutter zusätzlich beschnitten.
Hypothese 3: Julian verfolgt perfekte Ziele: „Ich möchte von allen wertgeschätzt und
geliebt werden“ und perfekte Vermeidungsziele: „Ich darf niemanden vergrämen und
gegen mich aufbringen.“
AbleitenȱvonȱProzesszielenȱ
Aus diesen Hypothesen lassen sich Prozessziele für die ProtagonistIn ableiten,
die ihr helfen, ihrem Auftragsziel ein Stück näherzukommen.
FestsetzungȱbestimmterȱProzessschritteȱundȱihrȱDurchlaufenȱ
Prozessschritt 1: Durchspielen einer Situation, die für die geschilderte Problematik bei-
spielhaft ist, im therapeutischen Setting wäre dies die Symptomszene
Prozessschritt 2: Herausarbeiten, welche Erfahrungen (genetische oder Ursprungsszene),
Ängste, Wertvorstellungen und perfekten Ziele es sind, die die Prota-
gonIstin daran hindern, ihren Bedürfnissen und Anliegen nachzukom-
men
Prozessschritt 3: Erarbeiten von Handlungsalternativen
Prozessschritt 4: Zukunftsprobe
Prozessschritt 5: Erarbeiten von Maßnahmen, die einen Transfer ins reale Leben unter-
stützen könnten
FindenȱdesȱrotenȱFadensȱ
Die Abfolge der Prozessschritte entspricht einem „roten Faden“, der als implizi-
tes Drehbuch einer psychodramatischen Inszenierung dient, denn er bildet ein
methodisches Gerüst, an das sich die LeiterIn halten kann. Es handelt sich dabei
um kein starres Grundgerüst, vielmehr wird im Prozess immer wieder überprüft,
ob die Prozessziele und die daraus abgeleiteten Prozessschritte mit der inneren
Dynamik, den Wünschen und Bedürfnissen der ProtagonistIn übereinstimmen.
Die Psychodrama-LeiterIn muss sich bewusst sein, dass ihre diagnostischen
Hypothesen eben nur Hypothesen sind und damit nur Hilfskonstrukte darstel-
len, sowie bedenken, dass die ProtagonistIn als Individuum auf bestimmte Ereig-
nisse bzw. Umstände einzigartig reagiert. Stellt sich heraus, dass die Grundan-
nahmen nicht standhalten, muss die LeiterIn flexibel genug sein, Veränderungen
schnell vorzunehmen (vgl. VonȱAmeln,ȱGerstmann,ȱKramer 2005).
WahlȱderȱArrangementsȱ
Für die Umsetzung der einzelnen Prozessschritte muss das jeweils passende
Arrangement gefunden, also eine Entscheidung darüber getroffen werden, in
welcher Form die Thematik der ProtagonistIn auf die Bühne gebracht wird. Sol-
che Arrangements wären z.B. ein szenisches Spiel von biografischen oder fiktiven
Ereignissen, eine Vignette, eine Skulpturarbeit, der leere Stuhl, der Zauberladen
u.v.m. Mit Hilfe dieser Arrangements begibt sich die ProtagonistIn in eine
Surplus-reality. Denn in diesen verschieden gearteten Inszenierungen wird nicht
angestrebt, die objektive Realität widerzuspiegeln (was auch gar nicht möglich
wäre), sondern das subjektive Erleben der KlientIn. Darüber hinaus sind in einem
solchen Spiel Ereignisse möglich, die über die normale Lebensrealität hinausge-
hen, wie etwa das Erscheinen einer guten Fee, die einen Wunsch erfüllt.
74 3 Psychodramatische Arrangements
EinrichtenȱderȱBühneȱ–ȱSzenenaufbauȱ
Ist die Einstiegsszene festgelegt, wird zur Einrichtung der Bühne übergegangen.
Hierbei bieten einfache Fragen eine gute Orientierungshilfe:
Durch die Gestaltung der Bühne wird die ProtagonistIn weiter erwärmt. Die Lei-
tung wird mit der Szene vertraut, ebenso die MitspielerInnen und potentiellen
Hilfs-Iche. Als Erstes werden in der Regel Ort und Zeit abgefragt: Wo und wann
hat die Szene stattgefunden? Wer waren die beteiligten Personen? Nach diesem
Bericht wird die Bühne aufgebaut. Eine Decke kann Platzhalterin für ein Bett sein,
zwei Stühle können einen Eingang symbolisieren. Einige Dinge können auch ima-
giniert werden. „Anȱ dieserȱ Wandȱ hängtȱ dasȱ Hochzeitsbildȱ meinerȱ Elternȱ …“ oder:
„HierȱistȱeinȱFenster,ȱdurchȱdasȱmanȱaufȱeinenȱParkȱblicktȱ…“ Beim Szenenaufbau ist es
nicht wichtig, dass der Raum, in dem sich das Ereignis abgespielt hat, eins zu eins
auf die Bühne gebracht wird. Die Anzahl der Gegenstände auf der Bühne sollte so
gewählt werden, dass sich die ProtagonistIn, die MitspielerInnen und die Leitung
gut orientieren können, jedoch nicht durch eine allzu große Vielfalt vom Wesentli-
chen abgelenkt werden. Vor allem die Atmosphäre dieses Ortes sollte vermittelt
werden, also welche Ausstrahlung diese Umgebung für die ProtagonistIn hat und
welche Emotionen durch sie hervorgerufen werden. Die ProtagonistIn sollte durch
den Szenenaufbau im Hier und Jetzt der dargestellten Szene ankommen. Wie
ausführlich und detailreich die Szene exploriert und eingerichtet wird, hängt ne-
ben Indikationsfragen, auf die unter Techniken näher eingegangen wird, vom Mit-
3.1 Das protagonistInnenzentrierte Psychodrama 75
Therapeutin: „Julian, du hast berichtet, dass sich die von dir gewählte Szene in deiner
Wohnung abgespielt hat. Wie sieht deine Wohnung aus? Welche Bereiche der Woh-
nung sind für diese Inszenierung von Bedeutung? Kannst du uns auf der Bühne einen
Einblick in sie gewähren?“
Julian: „Meine Wohnung besteht aus drei Zimmern. Für das Geschehen sind aller-
dings nur der Eingangsbereich und die Wohnküche wichtig. Vielleicht auch noch das
Schlafzimmer, in dem totales Chaos herrscht.“ Die Zimmer werden mit Seilen vonein-
ander abgegrenzt. Der Standort der Türen wird mit Tüchern dargestellt, die Fenster
werden angedeutet.
Therapeutin: „Welche Einrichtungsgegenstände spielen in dieser Szene eine Rolle?“
Julian: „Das Sofa, der Couchtisch und der Küchenbereich, da steht nämlich meine ita-
lienische Espressomaschine, die ein so angenehmes Aroma im Raum verbreitet. Das
liebe ich so an Tagen, an denen ich mich entspannen kann. Leider gibt es die bei mir
viel zu selten.“
Für das Sofa wird eine Matratze herangezogen, der Couchtisch wird durch einen Bei-
stelltisch verkörpert und der Küchenbereich durch eine Decke. Auf ihr thront die Kaf-
feemaschine, die durch eine Vase symbolisiert wird. Der Geruch des frisch gebrühten
Kaffees wird imaginiert. Das „Chaos“ repräsentieren Tücher.
WahlȱderȱHilfsȬIcheȱ
Die ProtagonistIn wählt beim Szenenaufbau auch die in der Szene vorkommen-
den InteraktionspartnerInnen aus dem Pool der GruppenteilnehmerInnen. Diese
werden so zu Hilfs-Ichen, die im Rahmen der Inszenierung die beteiligten Perso-
nen darstellen. Sie können aber auch StellvertreterInnen für Gefühle, Rollenantei-
le oder Metaphern sein, die in konkretisierter Form dargestellt werden, wie z.B.
eine „zugeschnürte Brust“ oder „ein ständiger Beobachter“.
Die Wahl der Hilfs-Iche folgt meist der unbewussten Wahrnehmung der TeleȬ
beziehung zwischen ProtagonistIn und Gruppenmitgliedern. Gewählte Teilnehmer-
Innen haben das Recht, die Rolle abzulehnen. Gründe für die Ablehnung könnten
zum Beispiel sein, dass die Rolle sie zu sehr an eigene Erfahrungen erinnert und die
76 3 Psychodramatische Arrangements
TeilnehmerIn befürchtet, dass sie in diesem Fall zu wenig auf die Bedürfnisse der
ProtagonistIn eingehen könnte, oder dass diese Rolle für die TeilnehmerIn zu nega-
tiv besetzt ist (zum Beispiel die Darstellung eines Gewalttäters). Die Entscheidung,
eine Rolle nicht übernehmen zu wollen, müssen die ProtagonistIn wie die LeiterIn
akzeptieren. Besonders konfliktträchtige, belastende oder sehr negativ besetzte
Rollen können auch von der Co-LeiterIn übernommen werden.
Therapeutin: „Wer von den anwesenden Gruppenmitgliedern könnte für diese Szene
die Rolle deiner Mutter übernehmen?“
Julian wählt zur Darstellung seiner Mutter Ulrike, eine Gruppenteilnehmerin, die um
die 60 Jahre alt ist und die Gruppe besucht, weil sie Probleme beim Eintritt in die Pen-
sionsphase hat. Ulrike willigt ein.
Therapeutin: „Jetzt brauchen wir noch die Rettungsmannschaft. Wie viele Personen
benötigen wir dafür?“
Julian: „Den Arzt und die Sanitäter.“
Therapeutin: „Wer wäre für diese Rollen passend?“
DieȱRolleneinführungȱderȱHilfsȬIcheȱ
Durch Nachfragen können die Hilfs-Iche weitere Informationen einholen, die sie
noch zur Einstimmung auf die Rollenübernahme benötigen. An die von der Pro-
tagonistIn vorgegebenen Rollenanweisungen sollten sich die Hilfs-Iche so eng
wie möglich halten.
Therapeutin: „Tritt bitte hinter Ulrike und beschreibe in der Ich-Form deine Mutter.“
Julian: „Ich bin Margarete, ich bin 69 Jahre alt. Vor sechs Jahren ist mein Mann gestor-
ben. Jetzt lebe ich alleine in meiner Wohnung. Der einzige Sinn, der mir in meinem
Leben geblieben ist, ist mein Sohn. Auf den bin ich sehr stolz, er ist sehr erfolgreich
und sehr fleißig. Da er noch immer keine Frau gefunden hat, muss ich mich um ihn
kümmern, schauen, ob es ihm gut geht und ob er auch gut versorgt ist. Als ich an die-
sem Sonntag zu Julian gekommen bin mit dem großen Korb voll Essen, habe ich die
Welt nicht mehr verstanden, ich hab’s ja nur gut mit ihm gemeint, wollte ihm Arbeit
abnehmen. Dass er mich so anbrüllt, habe ich unerhört gefunden, mit einer Mutter
spricht man nicht so. Habe ich nicht alles für ihn getan? Mich wundert es nicht, dass
ich darauf mit so einer Attacke reagiert habe.“
Ulrike: „Habe ich als Margarete irgendwelche Hobbys?“
Julian doppelnd: „Früher habe ich gerne gestickt, aber das kann ich aufgrund meiner
Sehschwäche nicht mehr. Jetzt sehe ich gerne fern, und manchmal treffe ich mich mit
meiner Freundin auf einen Kaffee.“
DieȱszenischeȱAktionȱ
Wird nun mit dem Spielen einer Szene begonnen, taucht die ProtagonistIn ein
weiteres Stück in die Surplus-reality der psychodramatischen Erlebniswelt ein.
Julian ist nun vorwiegend Sohn und nicht mehr Teilnehmer einer Psychodramagruppe
– Rollenwechsel, er verlässt den Gruppenraum und lässt sich in seiner eigenen Woh-
nung nieder – Raumwechsel, und die Zeit wird um einige Wochen zurückgedreht –
Zeitwechsel.
78 3 Psychodramatische Arrangements
Das Ziel eines psychodramatischen Spiels ist es, dass die ProtagonistIn die nach-
gestellten Szenarien so erlebt, als würden sie im Hier und Jetzt stattfinden. Je
stärker sie sich im Moment des Spiels in ihre Problematik einfühlen kann, desto
leichter werden die damit verbundenen Gefühle in ihr wachgerufen. Sie bilden
die Ausgangslage für weitere psychodramatische Interventionen: „Was empfin-
den Sie jetzt?“ – „Was benötigen Sie, damit Sie sich weniger ohnmächtig fühlen?“
Gleichzeitig wird durch dieses tiefe emotionale Eintauchen in das Erlebte verhin-
dert, dass die ProtagonistIn ihr Thema nur intellektualisierend betrachtet. Verän-
derungsprozesse stellen sich in der Regel erst dann ein, wenn die ProtagonistIn
aktiv im Hier und Jetzt angesprochen ist. Wenn die Veränderungen gelingen, ist
die Dissonanz zwischen den Problemen aus kognitiver Sicht und den emotiona-
len Empfindungen aufgelöst. Wenn die Person zwar erkennt, dass es wichtig
wäre, in bestimmten Lebensbereichen auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und
sich abzugrenzen, gleichzeitig aber emotional das Ziel verfolgt: „Ich möchte es
allen recht machen, um von allen geliebt zu werden“, wird sie zwar unter Um-
ständen einige Versuche in Richtung Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse
starten, eine längerfristige Verhaltensänderung und damit eine Verbesserung der
psychischen Symptomatik wird aber vermutlich ausbleiben.
Die geäußerten Empfindungen können auch als Basis einer weiteren psy-
chodramatischen Intervention, nämlich der Konkretisierung, dienen. Hierbei wer-
den die von der ProtagonistIn beschriebenen Metaphern in konkrete Handlungen
umgesetzt, um die Situation und die damit einhergehenden Gefühle zu verdich-
ten. „In dieser Situation fühle ich mich, als wären mir die Hände gebunden.“ Die
Leitung nimmt ein Seil oder eine Schnur und bindet der ProtagonistIn die Hände
zusammen. Oder: „Ich fühle mich ständig beobachtet.“ Ein Hilfs-Ich wird heran-
gezogen, das die Rolle des „Ständigen Beobachters“ mimt.
DurchspielenȱderȱSzeneȱ
Therapeutin: „Es ist Sonntag, 10 Uhr morgens. Wir befinden uns in Julians Wohn-
zimmer.“
Julian liegt auf der Couch, liest die Zeitung und nippt immer wieder von seinem Kaf-
fee. Da tritt die Mutter (gespielt von der Mitspielerin Ulrike) mit einem Korb ins
Wohnzimmer.
Julian: „Was machst du denn da?“
Ulrike: „Ich hab’ mir gedacht, ich bring’ dir schnell was zu essen vorbei, damit du
nicht kochen musst.“
Julian springt auf und geht zur Mutter.
Julian: „Das war aber nicht ausgemacht. Ich will dein Essen nicht!“
Ulrike: „Ich hab’s ja nur gut gemeint, ich bleibe auch nicht lange. Schau, dadurch hast
du weniger Arbeit.“
Therapeutin: „Passt das so?“
Julian: „Nicht ganz, meine Mutter reagiert etwas schärfer.“
Therapeutin: „Julian, kannst du Ulrike zeigen, wie deine Mutter reagiert? Wechselt
einmal die Rollen. Ulrike, kannst du als Julian seinen letzten Satz wiederholen?“
Julian nimmt die Rolle der Mutter ein.
Ulrike als Julian: „Das war nicht ausgemacht! Ich will dein Essen nicht!“
Julian als Mutter: „Wie sprichst du mit deiner Mutter?! Führ dich nicht so auf! Ich ha-
be nicht vor, lange zu bleiben, und ein anständiges Mittagessen hat noch niemandem
geschadet.“
Julian und Ulrike kehren wieder in ihre ursprünglichen Rollen zurück. Ulrike wieder-
holt den Satz, den ihr Julian vorgegeben hat.
Julian in der eigenen Rolle heftig: „Was nimmst du dir heraus, ich habe dich nicht um
deine Hilfe gebeten! Ich möchte dich nicht ständig um mich haben. Verschwinde aus
meinem Leben und komm nicht mehr wieder!“
Nach einem heftigen Wortwechsel simuliert Ulrike als Mutter die Herzattacke. Julian
verständigt den Notarzt. Die TeilnehmerInnen, die die Rettungsmannschaft darstel-
len, bringen sie ins Krankenhaus.
Therapeutin zu Julian: „Wie fühlst du dich?“
Julian: „Ich fühle mich unheimlich schuldig und gleichzeitig auch sehr wütend. Noch
dazu erlebe ich mich total ohnmächtig, ich habe das Gefühl, der Situation total ausge-
liefert zu sein.“
Therapeutin: „Erinnern dich diese Gefühle an etwas?“
Nun kommt es zu einem Szenenwechsel, denn Julian berichtet: „Ja, als ich klein war, so
ungefähr fünf, haben meine Eltern sehr viel gestritten, mein Vater war ja dem Alkohol
nicht abgeneigt und er hat auch immer wieder etwas mit anderen Frauen gehabt …“
In diesem Austausch wird ersichtlich, dass Julian sich für die Streitigkeiten der Eltern
und für die Reaktion der Mutter verantwortlich gefühlt hatte.
Durch eine Inszenierung treten meist neue Aspekte einer Problematik zu Tage.
Um diese neu gewonnenen Erkenntnisse besser kognitiv erfassen zu können,
80 3 Psychodramatische Arrangements
Im Fallbeispiel von Julian ändert sich ein Prozessziel. Jetzt steht die Tröstung des irri-
tierten und verängstigten Knabens im Vordergrund, der den erwachsenen Julian in
seiner Spontaneität und in seinem Rollenrepertoire einengt. Im gemeinsamen Suchen
nach einer Ressource, die ihm damals die Situation erleichtert hätte, wird eine neue
Szene entwickelt, bei der das Arrangement der Surplus-reality herangezogen wird.
Denn es genügt nicht, dass Julian kognitiv erfasst, dass er am Streit der Eltern keinen
Anteil hat, er muss es emotional erfahren. In dieser zweiten Szene übernimmt ein
Hilfs-Ich die Rolle eines Spielzeugbären (der für Julian ein wichtiges Übergangsobjekt
war), der in dieser Inszenierung sprechen kann. Er tröstet Julian und macht ihm die Si-
tuation verständlich.
Durch diese beiden szenischen Darstellungen sind bereits zwei Prozessziele erreicht
worden: die Rollenanalyse, durch die Julian erkennen konnte, welche inneren Anteile
und früheren Denkmuster für sein heutiges Verhalten mitbestimmend sind, und die
Tröstung früherer Verletzungen.
Offen sind noch die Perspektivenerweiterung, also die Betrachtung der Situation aus
den Augen seiner Mutter, und die Rollenerweiterung, die durch die Erprobung neuer
Verhaltensmuster erreicht werden kann.
Deshalb bietet die Therapeutin Julian an, seine bisher in diesem Spiel gemachten Er-
fahrungen zu nutzen und seine Bedürfnisse in einem Gespräch mit der Mutter einzu-
fordern. Als Arrangement wird die Zukunftsprobe eingesetzt.
Im klärenden Gespräch, das auf „neutralem Boden“ in einem Restaurant stattfindet,
legt Julian der Mutter seine Gefühle und Bedürfnisse dar. Er versucht, seine Anliegen
sehr sachlich vorzubringen, ohne dabei heftig zu werden. Durch Doppeln wird er sei-
tens der ZuschauerInnen und der Co-Leitung unterstützt. Dann tauscht er in die Rolle
der Mutter und erkennt durch diesen Perspektivenwechsel, dass seine Mutter nicht so
fragil ist, wie er bisher angenommen hat, und eine sehr mächtige Position innehat. Mit
diesen Erkenntnissen gewappnet, nimmt er wieder seine Rolle ein und kann nun viel
bestimmter und selbstbewusster seine Forderungen darlegen.
Abschlussȱ
Eine psychodramatische Aktion wird dann beendet, wenn die von der Protago-
nistIn gestellte Frage befriedigend beantwortet wurde. Manchmal ist ein Ende
auch dann angezeigt, wenn die zur Verfügung stehende Zeit um ist. Aus ver-
schieden gearteten Gründen kann der Erfolg einer psychodramatischen Aktion
3.1 Das protagonistInnenzentrierte Psychodrama 81
ausbleiben, zum Beispiel, weil das Thema zu vielschichtig war oder weil die
ProtagonistIn zur Klärung des Problems noch nicht bereit war. Worauf muss in
diesem Fall geachtet, welche Maßnahmen können ergriffen werden? Die oberste
Devise lautet, dass die ProtagonistIn nicht mit einer „offenen Wunde“ nach Hau-
se geschickt werden darf. Um den Prozess zumindest notdürftig abzuschließen,
kann, wenn alle Gruppenmitglieder damit einverstanden sind, eine Zeitverlänge-
rung beschlossen werden. Diese sollte zum Finden von Ressourcen genutzt wer-
den, die die ProtagonistIn bei der Bewältigung des noch nicht geklärten Problems
unterstützen sollen, oder es kann in der Reflexionsphase besprochen werden,
welche Faktoren dazu geführt haben, dass die Fragestellung nicht beantwortet
werden konnte. Wenn in absehbarer Zeit eine weitere Sitzung stattfindet, kann
auch an diesem Punkt ein Schnitt gemacht und die Aufarbeitung des Problems
auf den nächsten Termin verschoben werden. Manchmal kann es auch im Rah-
men eines anderen Settings, zum Beispiel in der Einzeltherapie, weiter bearbeitet
werden (VonȱAmeln,ȱGerstmann,ȱKramer 2005).
EntlassungȱderȱHilfsȬIcheȱausȱihrenȱRollenȱ(Entrollung)ȱundȱBühnenabbauȱ
ReinszenierungȱbiografischerȱEreignisse:ȱ
Das wohl bekannteste und im therapeutischen Bereich am häufigsten eingesetzte
Arrangement ist die Darstellung biografischer Ereignisse. Hierbei wird eine be-
stimmte Begebenheit aus der Sicht der ProtagonistIn nachgespielt. Diese Szenen
können vergangene Ereignisse darstellen (Streit des Fünfjährigen mit der Schwes-
ter), aber auch Ereignisse, die in der Zukunft liegen (die Lebensgestaltung der
82 3 Psychodramatische Arrangements
Skulpturarbeit:ȱ
Ein im protagonistInnenzentrierten Psychodrama beliebtes Arrangement ist die
Arbeit mit Skulpturen. Dabei werden innere Befindlichkeiten oder Konflikte, aber
auch Systeme, wie das einer Familie oder einer Organisation, symbolisch-
abstrahierend dargestellt. Im Gegensatz zu einer bewegten psychodramatischen
Inszenierung stellt die Skulptur ein Standbild dar. Auf diese Weise kann zum
Beispiel der Gefühlszustand einer an Prüfungsangst leidenden Studentin darge-
stellt werden, indem unter Einsatz von Hilfs-Ichen die Symptome dieser Prü-
fungsangst als Standbild auf die Bühne gestellt werden. Einer mimt „das flaue
Gefühl im Magen“, eine andere „die Blockade, die den Zugang zum Gelernten
verwehrt“, ein Dritter „die innere Stimme, die der jungen Frau vermittelt, dass sie
diese Prüfung auf keinen Fall bestehen wird“. Vor allem in der Organisationsbe-
ratung wird der Arbeit mit Skulpturen neben den Aufstellungen, die dem Bereich
der Soziometrie zuzurechnen sind, eine große Bedeutung beigemessen, da da-
durch schnell und effektiv Themen angegangen werden können.
SzenischeȱAbbildungȱvonȱProzessverläufen:ȱ
Für die Umsetzung eines Prozessschrittes kann es auch notwendig sein, nicht nur
ein isoliertes Ereignis oder den Aufbau eines Systems zu betrachten, sondern sich
mit Hilfe von time-lines mit Prozessverläufen auseinanderzusetzen. Das wären
zum Beispiel die verschiedenen Lebensabschnitte und Entwicklungen einer Per-
son oder unterschiedliche Phasen bei Umstrukturierungsmaßnahmen einer Fir-
ma. So können diese verschiedenen Abschnitte mit Tüchern oder Seilen symboli-
siert werden und bedeutende Ereignisse mit Hilfs-Ichen oder Hilfs-Objekten
besetzt werden.
SurrealeȱArrangements:ȱ
Surreale Arrangements kommen dann zum Einsatz, wenn die „reale Welt“
scheinbar keine befriedigende Antwort auf einen inneren Konflikt, auf ein un-
gerechtes Ereignis oder unzureichend Schutz bietet. Wird zum Beispiel eine Per-
son bezüglich eines bestimmten Ereignisses schon lange Zeit von ambivalenten
Gefühlen gequält, die sich nur schwer auflösen lassen, so können die daran betei-
3.1 Das protagonistInnenzentrierte Psychodrama 83
Frau Binder überlegt sich seit geraumer Zeit, ob sie ihren sicheren Arbeitsplatz, der
mit viel Routine und einem geringen Gehalt verbunden ist, zugunsten einer neuen Tä-
tigkeit aufgeben soll, die viel Ungewissheit, aber auch eine neue Herausforderung
und vor allem ein höheres Entgelt bieten würde. Der Psychodrama-Leiter, Herr GrabȬ
ner, schlägt ihr vor, die Argumente und Gefühle, die dafür und dagegen sprechen, mit
Hilfs-Ichen zu besetzen und diese je nach Schweregrad zu gewichten. Dann wird mit
der auf der Psychodrama-Bühne symbolisch errichteten Waage abgewogen, welche
der Entscheidungsmöglichkeiten sich als gewichtiger herausstellt.
3.1.3 Integrationsphaseȱ(GesprächsphaseȱoderȱAbschlussphase)ȱ
„Jetzt übernimmt das Gruppendrama, das Publikum die Führung der Darstellung.“
Moreno (1959)16
DieȱZieleȱderȱIntegrationsphaseȱ
Das Ziel der Integrationsphase liegt – neben dem Abschluss von Prozessen durch
die Erweiterung der Perspektiven – in der Übertragung der im psychodramati-
schen Spiel gewonnenen Erkenntnisse ins reale Leben. Dies wird durch die psy-
chodramatischen Techniken des Rollen- und des Integrationsfeedbacks sowie des
Sharings ermöglicht.
In welcher Form Rollenfeedback und Sharing gegeben werden, unterliegt
bestimmten Regeln, auf deren Einhaltung die Gruppenleitung zu achten hat
(siehe dazu: Kapitel 4 Techniken). Dadurch soll verhindert werden, dass sich die
ProtagonistIn durch heftiges Interpretieren oder Rationalisieren seitens der
Gruppenmitglieder be- oder verurteilt fühlt (vgl. Leutz 1986). Im Regelfall wird
zunächst ein Sharing abgefragt, darauf folgen Rollenfeedback und zuweilen das
Identifikationsfeedback.
Rollenfeedbackȱ
nehmerInnen oftmals schwer, sich von diesen Rollen zu lösen, auch wenn sie
nach dem ProtagonistInnenspiel fachgemäß entrollt wurden. So kann die LeiterIn
an hochgradig emotionalen Wortmeldungen, aber auch an der Körpersprache
und Mimik einzelner TeilnehmerInnen erkennen, wenn jemand noch aus der
Sicht der zuvor übernommenen Rolle agiert. Diese Beobachtungen kann die Psy-
chodrama-LeiterIn ansprechen und die Betroffenen beim Aussteigen aus der
Rolle unterstützen. Oder sie kann der TeilnehmerIn das Feedback als Erwärmung
für ein eigenes Thema spiegeln. Beim Aussteigen kann der Vorschlag hilfreich
sein, sich „auszuschütteln“ oder sich um die eigene Achse zu drehen, um be-
wusst wieder die eigene Position einzunehmen.
Identifikationsfeedbackȱ
Auch die ZuschauerInnen, also Personen, die in der Szene nicht als Hilfs-Ich zum
Einsatz gekommen sind, können emotional ins Geschehen involviert gewesen
sein, weil sie sich mit einer Rolle der psychodramatischen Darstellung identifi-
ziert haben. Im Rahmen des Identifikationsfeedbacks können auch sie, neben den
MitspielerInnen Auskunft geben, mit welcher Figur der Inszenierung sie am
meisten emotional mitgeschwungen sind, welche Reaktionen für sie am stärksten
nachvollziehbar waren und welche Rolle für sie am vertrautesten war. Dieses
Identifikationsfeedback kann einerseits deutlich machen, dass TeilnehmerInnen
für ein bestimmtes Thema sehr erwärmt sind und daraus ein weiteres Protagonis-
tInnenspiel entstehen könnte, andererseits erhält die ProtagonistIn dadurch auch
wichtige Informationen, wie die Gefühls- und Gedankenwelt ihrer Interaktions-
partnerInnen außerhalb dieser Gruppe aussehen könnte. Das Identifikationsfeed-
back ist nicht immer unproblematisch, da durch diese Technik die Wahrnehmung
der ProtagonistIn auch stark in Frage gestellt werden kann, wenn zum Beispiel
eine TeilnehmerIn durch die Identifikation mit der AntagonistInnenrolle deren
Sichtweise vertritt. In der Integrationsphase ist die ProtagonistIn oft noch recht
dünnhäutig und kann Identifikationen mit anderen, vor allem KonfliktpartnerIn-
nen im Spiel schlecht ertragen. Daher wird im Sinne des ProtagonistInnenschut-
zes das Identifikationsfeedback nicht immer abgefragt.
Renate, die bei Julians ProtagonistInnenspiel im Publikum saß, gibt folgendes Identifi-
kationsfeedback: „Ich bin am meisten mit Julians Mutter mitgeschwungen: Ich habe
ihre Kränkung aufgrund von Julians Reaktion förmlich am eigenen Leib gespürt.“
86 3 Psychodramatische Arrangements
Sharingȱ
Bei einem psychodramatischen Spiel werden viele Facetten der Persönlichkeit der
ProtagonistIn sichtbar, auch solche, die sonst nicht allen Personen zugänglich sind,
weil sie aus Gründen der Scham nicht gezeigt werden oder weil sie als Zeichen
von Schwäche oder Unvermögen angesehen werden könnten und deshalb im
Verborgenen gehalten werden. Manche ProtagonistInnen fühlen sich nach der
Spielphase auch unbehaglich, weil sie aus ihrer Sicht viel Raum und Zeit innerhalb
der Gruppe in Anspruch genommen haben. Sie benötigen nun die Unterstützung
der anderen GruppenteilnehmerInnen (VonȱAmeln,ȱGerstmann,ȱKramer 2005). Beim
Sharing berichten die GruppenteilnehmerInnen von vergleichbaren Lebenserfah-
rungen oder Gefühlsregungen, wie sie die ProtagonistIn erlebt hat, zum Beispiel,
dass ihnen auch etwas ähnlich Peinliches oder Ärgerliches widerfahren ist oder
dass sie auch schon einmal mit ähnlichen Gefühlszuständen zu kämpfen hatten
und wie sie damit umgegangen sind. Dabei hat die Leitung darauf zu achten, dass
das Sharing aus eigenen Erlebnissen besteht, also in der Ich-Form formuliert wird,
und dass es keine Ratschläge, Deutungen oder Bewertungen beinhaltet. Das Sha-
ring dient einerseits der Entlastung der ProtagonistIn, und zwar dadurch, dass sie
wahrnehmen kann, dass sie mit ihren Erlebnissen und Empfindungen nicht alleine
ist, und andererseits der Entlastung der ZuschauerInnen, wenn sie – mitschwin-
gend mit der ProtagonistIn – tiefe Gefühle erlebt haben, die nach außen drängen.
Darüber hinaus dient es der Gruppenkohäsion, da das Teilen von tief gehenden
Erfahrungen und Erkenntnissen im Normalfall den Gruppenzusammenhalt stärkt
(Yalom 2005). Durch das Sharing erfolgt eine Wiedereingliederung der Protagonis-
tIn in den Kreis der Gruppe, da mit dem Sichtbarwerden der Probleme anderer
der Grad der Aufmerksamkeit von der ProtagonistIn abgezogen und auf alle
GruppenteilnehmerInnen gleichmäßiger verteilt wird. Nicht zuletzt kann sich aus
dem Sharing das nachfolgende Thema oder die nächste ProtagonistIn heraus kris-
tallisieren (HollensteinȬBurtscher 2004).
ProcessingȱoderȱProzessanalyseȱ
Als letzter Teil der Integrationsphase kann eine Prozessanalyse durchgeführt wer-
den. In dieser wird das vorangegangene Gruppengeschehen aus dem Blickwinkel
der theoretischen Grundmodelle des Psychodramas oder der Gruppendynamik
betrachtet, wie zum Beispiel der Rollentheorie oder der Soziometrie (Leutz 1986).
Mögliche Fragestellungen sind hierbei: WarumȱwurdeȱdiesesȱThemaȱgewählt?ȱWelchesȱ
GruppenthemaȱwurdeȱmitȱdieserȱInszenierungȱstellvertretendȱbehandelt?ȱWelchenȱEinflussȱ
hatteȱdieserȱLösungsansatzȱaufȱdieȱDynamikȱinȱderȱGruppe?
3.2 Das Rollenspiel 87
3.2 DasȱRollenspielȱ
Der Mensch kann aber nicht nur in Rollen betrachtet werden, sondern er
kann auch in Rollen spielenȱ (Erfahrungsdimension). Im frühen kulturellen Kon-
text tauchen Rollenspiele in unterschiedlichen Gesellschaften als Rituale auf, zum
Beispiel in religiösen Zusammenhängen. Der amerikanische Psychodramatiker
Kipperȱ berichtet, dass diese frühen Rollenspiele meist mit der Bewältigung von
Hilflosigkeits- und Unsicherheitsgefühlen assoziiert wurden. Sie dienten auch
zur Reduzierung von unkomfortablen Gefühlen, etwa von Furcht oder unstillba-
ren Sehnsüchten; ebenso wurden sie mit Heilung und mit gegenseitigem Ver-
ständnis in Verbindung gebracht. Das Rollenspiel befriedigte damit von Anbe-
ginn grundlegende psychologische Bedürfnisse und erfüllte gleichzeitig wertvol-
le therapeutische Qualitäten (Kipper 1996: 101).
Nicht nur in der Phylogenese, also der Menschheitsgeschichte, auch in der
Ontogenese, also der Entwicklungsgeschichte eines einzelnen Menschen, tauchen
Rollenspiele früh auf, nämlich zwischen dem 8. und 16. Lebensmonat (Stern 2000:
25). In den ersten Lebensjahren, etwa bis zur Einschulung, ist es jedoch für Kin-
der uninteressant, sich selbst zu spielen. Wenn sie sich selbst spielen, dann mit
veränderten Eigenschaften, also in einer anderen Rolle. Dabei werden zunächst
einzelne Interaktionen nachgeahmt; in einem weiteren Entwicklungsschritt wer-
den Rollen mit komplexeren Interaktionsmustern mitsamt dem dazugehörigen
Handlungsrepertoire übernommen. Als letzter Schritt werden nicht nur die Rol-
len, sondern auch das dazugehörige Regelwerk gespielt. Zum Beispiel wird zu-
nächst eine Mama gespielt, dann eine Mama, die erst Essen kocht, dann in die
Arbeit fährt, dann vielleicht ein älteres Geschwisterkind aus dem Kindergarten
abholt. Mit zunehmender Reife der Kinder werden Rollen realitätsnäher und
vollständiger übernommen. Diese Entwicklungsschritte haben Bedeutung für die
störungsspezifische Anwendung des Rollenspiels im therapeutischen und berate-
rischen Kontext, worauf später noch eingegangen wird.
Jeder Mensch hat also im Laufe seines Lebens Erfahrungen mit Rollenspie-
len gemacht und daher auch mehr oder weniger konkrete Vorstellungen vom
Rollenspiel. Bei den meisten basieren diese Erfahrungen auf kindlichen Varianten
des Rollenspiels. Jedoch sind zunehmend, insbesondere bei jüngeren Erwachse-
nen, auch computerbasierte Rollenspiele verbreitet, bei denen eine mehr oder
weniger entfremdete, virtuelle Repräsentanz des eigenen Selbst, ein sogenannter
Avatar, die SpielerIn in einer Fantasiewelt vertritt. Im Erwachsenenalter werden
zudem in vielen Berufsausbildungen Rollenspiele eingesetzt.
Ein Beispiel, welches von Morenos Anwendungen überliefert ist, beschreibt
eine Rollenspielsituation, in der VerkäuferInnen zu Trainingszwecken eine Rolle
spielen; eine Frau spielt eine potentielle Kundin, die in einem Geschäft einen Hut
aussucht, während eine andere die Rolle der Freundin übernimmt, die an keinem
3.2 Das Rollenspiel 89
der Hüte Gefallen finden kann, und die dritte stellt eine Verkäuferin dar, deren
Aufgabe es ist, sich mit der beratenden Freundin auseinanderzusetzen und den-
noch einen Hut zu verkaufen. Die spielerische Darstellung hatte einen starken
positiven Einfluss auf das Klima bei der späteren, realen Verkaufssituation im
Geschäft (Moreno 1988: 148). Neben dieser Art des Einsatzes gab es bei Moreno
auch regelrechten Rollenspielunterricht, wo er in großen Einheiten, z. B. mit 40
bis 50 Personen, Übungskurse abhielt, in denen die teilnehmenden Personen
mehrere Tage in ihren Rollen blieben und dabei ein kleines Schild mit den Na-
men ihrer Rollen um den Hals trugen. Man kann sich vorstellen, wie intensiv so
etwas wirkt. Der Schauspieler Danielȱ DayȬLewis, bekannt unter anderem durch
seine Rollen in „DerȱletzteȱMohikaner“,ȱ„GangsȱofȱNewȱYork“,ȱ„MeinȱlinkerȱFuß“ȱoder
„Thereȱwillȱbeȱblood“, kann seine Filmrollen unter anderem deswegen so überzeu-
gend darstellen, weil er nach eigener Aussage für die Dauer des Drehs ständig in
seiner Filmrolle bleibt.
Möchte man Rollenspiel definieren, wird man bei dem Schweizer Pädago-
gen und Psychodramatiker Schaller fündig. Er beschreibt Rollenspiel allgemein
als „[…]ȱ forschendes,ȱ problemorientiertesȱ Lernen,ȱ beiȱ demȱ Fehlerȱ undȱ Misserfolgȱ alsȱ
Lernchanceȱ angesehenȱ werdenȱ […]ȱ Inȱ diesemȱ Sinneȱ istȱ Rollenspielȱ einȱ Instrumentȱ zurȱ
Weiterentwicklungȱ desȱ Selbstmanagements.“ (Schaller 2006: 9f) In der englisch-
sprachigen und vor allem älteren Psychodrama-Literatur werden beim Thema
Rollenspiel häufig drei Dimensionen des Rollenhandelns unterschieden (nach
ZeintlingerȬHochreiterȱ1996):
Das „role-taking“ oder „role-enactment“: Hierunter wird die Übernahme einer voll-
ständig vorgegebenen Rolle ohne Variationsfreiheit verstanden.
Das „role-playing“: Das Rollenspielen im engeren Sinn ist das Spiel einer vorgegebe-
nen Rolle, wobei ein gewisser Grad an freier Gestaltung möglich ist.
Das „role-creating“: Hierbei handelt es sich um eine schöpferische Gestaltung, also
um eine Erfindung neuen Rollenverhaltens mit einem hohen Grad an Gestaltungs-
freiheit.
falls als Rolle beschreiben möchte, so wie dies zuweilen im therapeutischen Kontext
des Psychodramas geschieht, könnte sein psychisches Rollenrepertoire wie folgt
beschrieben werden: Es zeichnet sich aktuell besonders durch die Rolle des Unru-
higen aus, da er sich demnächst in einer Firma als Diplom-Ingenieur vorstellen
wird und der Gedanke an den Start ins Berufsleben ihm Sorge bereitet. Weitere
vorhandene psychische Rollen sind der Fürsorgliche und der Kollegiale.
Im Rahmen eines verhaltenstrainierenden Coachings werden ihm fünf zu-
sätzliche Rollen vorgeschlagen, in denen er probehandelnd tätig werden soll:
guter Erklärer, Diplom-Ingenieur, ideenreicher Kollege, kämpfender Freizeit-
sportler und Netzwerker (siehe Abb. 19).
Indem Alexander die neuen Rollen einnimmt, in ihnen aktiv spielt, erweitert
er zum einen sein Rollenrepertoire und es fällt ihm auch dadurch leichter, zu
einem späteren Zeitpunkt Rollen in anderen Zusammenhängen zu übernehmen
(MannȱundȱMann 1959). Durch häufiges Wiederholen von gespielten Rollen wer-
den neuronale Netzwerke geschaffen und gefestigt (Hüther 2008), die Alexander
im späteren Vorstellungsgespräch hilfreich sein können. Die neuen Rollen dürfen
ihm dabei nicht zu fremd, zu ich-dyston sein, sonst können neue Anknüpfungen
nicht dauerhaft gelingen; es wäre dann nur ein Spielen als-ob ohne Effekt. Der
Coaching-Prozess verläuft in der Regel mehrstufig: Zunächst fragt der Coach, wie
die neue Rolle aussehen könnte. Danach zeigt der Coach, wie er die Beschreibung
der Rolle durch den Coachee verstanden hat; dadurch sieht Alexander, wie die
Rolle in einem erfolgreich verlaufenden Gespräch somatisch gefüllt werden kann.
Damit werden bei ihm bereits entsprechende Hirnareale über die Spiegelneuro-
nen ohne eigenes aktives Verhalten seinerseits aktiviert (Storch 2006).
Im anschließenden eigenen Rollenspiel sammelt Alexander somato-psychisch
Erfahrungen in den unterschiedlichen Rollen und ankert diese in seinem RollenȬ
Selbst, sie werden damit Teil seines soziokulturellenȱAtoms. Dieses Vorgehen wird
mittlerweile auch in der neurologischen Rehabilitation von Schlaganfallpatien-
tInnen eingesetzt. Diese können, nachdem ihnen gelungene Bewegungsabläufe
anderer Personen in Videosequenzen gezeigt werden, die sie selbst erst noch
wieder erlernen müssen, deutlich schneller ihre Defizite kompensieren.
Alexander verlagert in dem beschriebenen Beispiel sein Gewicht von der Rol-
le des Studienabgängers hin zum Diplom-Ingenieur in einem konkreten Berufs-
feld. Obwohl dies im Sinne einer Zukunftshandlung via Rollenspiel geschehen
ist, also im „als-ob“-Modus, kann er Erfahrungen dazu abspeichern. Im Rollen-
spiel nimmt er bereits die Hürde, die im realen Leben noch vor ihm liegt. Im
strengen Sinne ist hier ein Rollenwechsel vollzogen worden, da die Rolle bislang
außerhalb seines Rollenrepertoires lag. Die Rolle des Studienabgängers beginnt
schwächer zu werden, da sie nicht mehr genutzt, also hirnphysiologisch abgeru-
3.2 Das Rollenspiel 91
fen wird. Die Verkörperung oder wie die Psychodramatikerin Storch (2006) es
neudeutsch nennt, das Embodiment, ist ein wesentlicher und äußerst effizienter
Bestandteil des Rollenspieles.
Rollenerweiterung
1: guter Erklärer
Rollenerweiterung
5: Netzwerker
Kern-Selbst von A
mit einer bestimm-
ten Anzahl bereits
bestehender Rollen Rollenerweiterung
2: Dipl.-Ingenieur
Rollenerw. 4:
kämpfender
Freizeitsportler Rollenerweiterung
3: ideenreicher
Kollege
Das oben beschriebene Beispiel von Alexander zeigt die einfachste Variante eines
Rollenspieles: das Spielen (in) einer neuen Rolle. Rollenspiel ist jedoch auch in
der Form möglich, dass eine Person, unser Beispiel zeigt Christine, eine bestimmte
Rolle einer anderen Person, Dorothea, spielt.
92 3 Psychodramatische Arrangements
Depressive
Betriebs- Geliebte
wirtin
Dorotheaȱ
Christineȱ
mit ihrem
kulturellen
Leitende Atom
Angestellte Tochter
Christine spielt in der Beispielgrafik einen Anteil, eine bestimmte Rolle von DoroȬ
thea, nämlich die Rolle der Geliebten. Es wäre hier ebenso möglich, dass Christine
einen anderen Anteil spielt, etwa die Tochter oder die Angestellte. Es wäre auch
möglich, dass die verschiedenen Rollen Dorotheas von verschiedenen Mitspiele-
rInnen oder RollenträgerInnen gleichzeitig übernommen würden. In diesem Fall
wäre aber Dorothea die Protagonistin und würde die Rollenträgerin wählen.
Welche Variante zum Zug kommt, hängt von der Fragestellung ab, die gerade
behandelt werden soll. Für Dorothea als Protagonistin könnte es interessant sein,
ihre verschiedenen Rollen einmal lebendig zu erleben und zu befragen. Für ChrisȬ
tine als Protagonistin könnte es interessant sein, andere, ihr bislang fremde Rollen
auszuprobieren, die sie bei Dorothea bewundert.
Häufig wird eine Person in eine bestimmte Rolle gewählt, weil die Wählen-
de erkennt, dass die gewählte Person genau die passende Rolle in ihrem Rollen-
Repertoire oder kulturellem Atom zur Verfügung hat. Dorothea als Protagonistin
würde in dem Beispiel Christine als Verkörperung ihrer Geliebten-Rolle wählen,
weil sie unbewusst wahrnimmt, dass Christine zu dieser Rolle selbst einen starken
Bezug hat, und diese demnach für Dorothea am geeignetesten verkörpern kann.
3.2 Das Rollenspiel 93
Schach-
spieler
Schreinerȱ Ehemann
Georgȱ Franzȱ
mit seinem
kulturellen
Atom
Geselle Sohn
Was durch die vier Beispiele deutlich wird, ist die Tatsache, dass es Rollenspiel in
eigener und anderer,ȱ bzw.ȱ fremderȱ Rolle gibt, und dass es Rollenspiel in vorher
festgelegten Rollen mit oder ohne definierte Regeln – psychodramatisch: Konserven
– und in der Stegreifsituation geben kann. Schaller unterscheidet zusätzlich zwi-
schen Rollenspielen mit pädagogischer und solchen mit psychologischer Zielset-
zung (Schaller 2006: 67). Die Übergänge können teilweise fließend sein: Die Teil-
nehmerInnen der Weiterbildungsgruppe aus Beispiel 3 können in der festgeleg-
ten Rolle einer Märchenfigur beginnen, im Laufe des Spieles jedoch die Rolle
verändern, ihr eine eigene Note geben. Oder ein verkaufstrainierendes, also pä-
dagogisches Rollenspiel wird psychologisch nachbesprochen: Die TeilnehmerIn-
nen werden befragt, inwieweit sie sich bei welchen Szenen gehemmt oder beson-
ders frei fühlten und ob darin Bezüge zu anderen lebensgeschichtlichen Situatio-
nen enthalten waren.
Stadler und Spörrle (2008: 182) haben den Versuch unternommen, das psycho-
dramatische Rollenspiel anhand der oben genannten Unterscheidungen zu katego-
risieren, wobei die Unterscheidung pädagogisch/psychologisch nicht aufgenom-
men wurde. In der Tabelle wird Bezug genommen auf die unterschiedlichen Be-
zeichnungen bei Moreno, Krüger und denen des englischsprachigen Raumes.
3.2 Das Rollenspiel 95
ȱ Beispieleȱ ȱ Beispieleȱ
Mitȱfestgelegterȱȱ Mit festgelegter Ohneȱfestgelegteȱ Ohne festgelegte
Handlungȱ Handlung Handlungȱ Handlung
Diktion nach ȱ ȱ ȱ
Moreno Konserveȱ Stegreifȱ
Diktion nach gebundeneȱKreativität ȱ ȱ
Krüger freieȱKreativität
englische roleȬtaking,ȱ ȱ ȱ
Bezeichnung roleȬenactmentȱ roleȬcreatingȱ
ȱ x Soziales, kultu- x Klassische x Geschichte x Narration und
ȱ relles und sozio- ProtagonistIn in imaginieren / Geschichten-
ȱ kulturelles Atom Szenen der Ver- erfinden und Erfinden im
ȱ x Vignette und gangenheit, Ge- spielen protagonistIn-
ȱ ProtagonistIn- genwart oder x Stegreifspiele in nenzentrierten
ȱ nenspiel in der definierter Zu- eigener Rolle Spiel mit oder
Handelnȱinȱ Rolle der Prota- kunft x SpontaneitätsȬ ohne klar defi-
eigenerȱRolleȱ gonistIn x „Können Sie mir test: auf Zuruf nierte Aus-
x Probehandeln in bitte zeigen, wie spontan eine gangslage
festgelegtem Set- Sie das ma- eigene Rolle x „Wie könnte
ting und Ablauf chen…“ spielen das möglicher-
x Handpuppen- weise ausse-
spiel hen?“
x Handpuppen-
spiel
ȱ x Nachahmendes x Handeln in der x Stegreifspiel bei x „Wie würde es
ȱ Spiel, Perspekti- Mitspiel- oder vorgegebener aussehen, wenn
ȱ ven- und Rollen- Antagoni- Ausgangslage Ihr Chef für Sie
ȱ übernahme einer stInnenrolle und/oder vor- optimal reagie-
Handelnȱinȱ vorgegebenen x Anti-Rollenspiel gegebenem ren würde?“
derȱRolleȱdesȱ Rolle x „Wie hat das Rolleninventar x „Könnten Sie
anderenȱ x Spiel im Rollen- Ihre Frau/Kolle- x spontanes Spiel spontan aus der
wechsel gin gemacht?“ in Mitspiel- und Rolle heraus
x Playback- AntagonistIn- handeln…“
Theater nenposition
ȱ x Gemeinsame x Märchenspiel x Gemeinsames x Klassisches
ȱ Rollenübernah- x Bibliodrama Stegreif- Stegreifspiel in
ȱ me bei festgeleg- x Soziodrama Gruppenspiel Gruppen-
Handelnȱalsȱ ter Handlung x „lebende Zei- bei freier oder situation
Gruppeȱ tung“ festgelegter x Soziodrama
x Nachspielen Ausgangslage
einer Teamsitua-
tion als Team
Das psychodramatische Rollenspiel ist in seiner Vielfalt immer ein äußerst wir-
kungsvolles Arrangement, da durch seine Anwendung ein neuronales Korrelat
des Handlungsmusters bei demjenigen geschaffen wird, der die Handlung aus-
führt; ebenso in den Köpfen der MitspielerInnen, der Psychodrama-LeiterIn und
der ZuschauerInnen; letztere über deren Spiegelneuronen (Becker 2008: 28ff). Im
96 3 Psychodramatische Arrangements
3.3 DasȱGruppenspielȱ
An dieser Stelle soll noch einmal explizit auf das Arrangement Gruppenspiel einge-
gangen werden, auch wenn es in der Systematik des Rollenspiels bereits Erwäh-
nung gefunden hat. Wie im einführenden Kapitel beschrieben, wurden das Psy-
chodrama und die Gruppe lange Zeit als Junktim betrachtet. Historisch gesehen hat
Moreno beides verbunden, jedoch im psychotherapeutischen Kontext meist eine
Psychotherapie in der Gruppe durchgeführt. Dabei haben professionelle Hilfs-Iche,
also besonders geeignete MitarbeiterInnen von Moreno, die Gruppe gebildet und
die Rollen der MitspielerInnen übernommen. Dass Psychodrama nicht notwendig
ein Gruppenverfahren sein muss, hat sich erst in den letzten fünfzehn Jahren in der
Theoriebildung niedergeschlagen. Im deutschsprachigen Raum ist es Krüger (1997)
und ErlacherȬFarkas und Jorda (1996) zu verdanken, dass das Psychodrama auch als
Einzelverfahren in den Blick gerückt ist. Während im vorhergehenden Abschnitt
zum Protagonistenspiel deutlich wurde, welche Rolle die Gruppe für das protago-
nistInnenzentrierte Vorgehen hat, widmet sich der nun folgende Abschnitt aus-
schließlich dem Psychodrama als Gruppenverfahren, und hierbei dem sogenannten
Gruppenspiel. Wie der Name unschwer erkennen lässt, sind hier alle Gruppenteil-
nehmerInnen auf der Bühne, d.h. im Spiel.
Es soll zunächst eine Systematik vorgestellt werden, die Gruppenspiele auf
zwei Achsen unterscheidet, wobei die eine Achse den FreiheitsgradȱderȱHandlung
abbildet, den wir bereits im vorhergehenden Abschnitt beschrieben haben, und
die andere Achse den OrtȱderȱEntscheidungȱfürȱdieȱRollenwahl kennzeichnet.
3.3 Das Gruppenspiel 97
Maximale
Autonomie
1ȱ 2
Stegreif- kulturelle
Spiel Konserve
3ȱ
4
Maximale
Anpassung
fremdbestimmte oder
zugewiesene Rolle
1. Nina, die Gruppenleiterin, soll für ein kleines, neu zusammengestelltes Pro-
jekt-Team die Teamfähigkeit verbessern. Dazu möchte sie zunächst verste-
hen, wie die Beziehungen, die Interaktionen und der Zusammenhalt inner-
halb des Teams sind. Sie gibt die Anweisung: „BitteȱstellenȱSieȱsichȱvor,ȱSieȱbeȬ
findenȱsichȱanȱeinemȱBahnhof.ȱEsȱistȱ8ȱUhrȱmorgens.ȱÜberlegenȱSieȱsichȱeineȱRolle,ȱ
dieȱSieȱeinnehmenȱmöchten.ȱSieȱhabenȱnunȱalleȱgemeinsamȱ20ȱMinutenȱZeit,ȱinȱdieȬ
serȱ Rolleȱ Erfahrungenȱ zuȱ sammeln.ȱ Wirȱ machenȱ danachȱ eineȱ kurzeȱ NachbespreȬ
chung.ȱIchȱgebeȱIhnenȱeinȱSignal,ȱwennȱdasȱSpielȱnochȱ3ȱMinutenȱdauert.“ Markus,
einer der Teilnehmer, nimmt die selbst gewählte Rolle Reiseleiter im begin-
nenden Stegreifspiel ein. Luisa wählt die Rolle einer pubertierendenȱ JugendliȬ
chen, die nicht mit ihrer Mutter verreisen möchte. Klara entscheidet sich
spontan für die Rolle der Mutter des pubertierenden Mädchens. Jan nimmt
die Rolle des Schaffners ein. Die Gruppenleiterin erfährt so, dass Markus in
neuen Situationen eher zu strukturierenden Handlungsmustern greift, Luisa
gerne der AdvocatusȱDiaboli ist, Klara gerne fürsorgliche Rollen im Team ein-
nimmt und Jan sich gerne mit Controlling beschäftigt. Selbstverständlich
98 3 Psychodramatische Arrangements
Ablaufȱ
Begrenzung der Bühne und Definition eines Raumes, wo sich die Gruppen-
spielerInnen zurückziehen können, wenn sie eine „Auszeit“ brauchen.
Nennung des zeitlichen Rahmens (durchschnittliche Spieldauer 30 Minu-
ten).
Benennung körperlicher Grenzen: keine reale Gewaltanwendung und keine
reale Berührung primärer und sekundärer Geschlechtsorgane.
Möglichkeit, die Rolle zu verändern.
Möglichkeit, sich mit evtl. vorhandenem Material zu „verkleiden“.
100 3 Psychodramatische Arrangements
In der Spielphase achtet die LeiterIn darauf, dass möglichst alle im Spiel sind.
D.h. sie kann evtl. auch kurzfristig selbst eine Rolle einnehmen, um einer spielge-
hemmten MitspielerIn in den Spielfluss zu helfen. Daneben achtet sie darauf,
dass in den beiden Stegreifvarianten niemand symbolisch getötet wird. In den
kulturellen Konserven dagegen finden sich häufig Personen (Rollen), die sterben,
wie etwa die leibliche Mutter im Märchen Schneewittchen. Hier ist in der Nach-
spielphase besonders darauf zu achten, dass die SpielerInnen gut entrollt werden.
Spiele können unterschiedlich lange dauern. Es ist wichtig, nicht beim ersten
Abflachen der Spieldynamik gleich das Signal zum Beenden des Spiels zu geben.
Häufig befindet sich die Gruppe hier in einer vorspontanen Phase, die zu einer
Vertiefung führt. Ein bisschen Frustration für die TeilnehmerInnen darf also
durchaus sein. Grundsätzlich gilt: Je stabiler und entwickelter die Persönlich-
keitsstruktur der TeilnehmerInnen ist, desto länger können sie spielen. Bei Patien-
tInnen mit einem gering integrierten Strukturniveau bzw. PatientInnen mit
schweren Störungen oder entsprechenden Defiziten wird ein Gruppenspiel zum
Teil nach wenigen Minuten beendet sein.
In der Phase der Nachbesprechung gibt es Unterschiede für die Auswer-
tung, je nach Art des Spieles.
FragenȱnachȱselbstȱgewähltenȱRollen:ȱ
1. Was von deiner Rolle oder der Art, wie du sie gespielt hast, kennst du aus
deinem Leben?
2. Was von deiner Rolle oder der Art, wie du sie gespielt hast, war neu? Wo
hast du etwas Neues erfahren oder ausprobiert?
3. Mit wem hattest du im Spiel Kontakt?
FragenȱnachȱzugewiesenenȱRollen:ȱ
1. Wie ging es dir mit deiner Rolle?
2. Warum denkst du, dass dir die Gruppe diese Rolle zugewiesen hat?
3. Möchtest du jemand fragen, warum er/sie dir diese Rolle gegeben hat?
4. Was von deiner Rolle oder der Art, wie du sie gespielt hast, kennst du aus
deinem Leben?
5. Was von deiner Rolle oder der Art, wie du sie gespielt hast, war neu? Wo
hast du etwas Neues erfahren oder ausprobiert?
Auf eine Besonderheit bei der Nachbesprechung von Märchenspielen soll noch
eingegangen werden. Der in Schweden lebende Psychodramatiker Franzke hat
dazu spezielle Vorgehensweisen entwickelt.
3.3 Das Gruppenspiel 101
Indikationȱ
Nach der Darstellung des Ablaufs von Gruppenspielen kommen wir nun zu
Fragen der Indikation. Allgemein lässt sich sagen, dass sich ein Gruppenspiel
dann anbietet, wenn auftauchende Fragestellungen offensichtlich die gesamte
Gruppe betreffen, wenn gruppendynamische Prozesse zu bearbeiten sind oder
allgemein die Gruppenkohäsion verstärkt werden soll.
Die oben vorgestellten vier Typen von Gruppenspielen legen noch spezielle-
re Indikationen nahe.
3.4 SpezielleȱGruppenȬArrangements:ȱClapȬTheater,ȱPlaybackȬTheater,ȱ
Soziodramaȱȱ
Rollen spontan in der Situation selbst, vor oder bei dem Betreten der Bühne,
manchmal erst auf der Bühne. Das ClapȬTheater beginnt damit, dass eine Person
aus dem Zuschauerraum die Bühne betritt und spontan zu spielen beginnt. Eine
zweite Person kommt dazu und beide spielen nun so lange gemeinsam, bis eine
dritte Person mit einem Händeklatschen, einem Clap, die Bühne betritt, und da-
mit das Signal gibt, dass die erste Person, also diejenige, die am längsten von den
Dreien auf der Bühne ist, wieder zur ZuschauerIn wird und sich setzt. Kommt
die vierte Person, geht die zweite usw. Die Geschwindigkeit des Spiels wird aus-
schließlich durch die Wechsel der MitspielerInnen bestimmt; ebenso die mögli-
chen Rollenveränderungen und Szenenwechsel. So ist es möglich, dass Albert auf
der Bühne zunächst ein Zugschaffner ist, durch das Hinzukommen von Clara
aber unversehens als kleiner Lausbub angesprochen wird. Es gibt dabei keine
Regel, wer die Rollen und Situationen vorgibt: Alles ist dem freien, spontanen
Spiel der Kräfte überlassen.
Neben der klassischen Variante, bei der die abklatschende Person den Zeit-
punkt des Auf-die-Bühne-Kommens bestimmt, besteht die Möglichkeit, dass die
Person, die am längsten auf der Bühne ist, nach eigenem Impuls eine neue Person
aus dem Zuschauerkreis bestimmt, die damit aufgefordert ist, auf die Bühne zu
gehen und zu spielen.
Es handelt sich beim ClapȬTheater nicht um ein eindeutiges Gruppen-
Arrangement, sondern um eine Mischform zwischen Kleingruppen- und Ge-
samtgruppen-Arrangement. Aus dem Stegreif werden in der Dyade auf der Büh-
ne Szenen entwickelt, die sich aus dem Unbewussten der Einzelnen, der Dyade,
aber auch aus dem Gruppen-Unbewussten ableiten.
Abbildungȱ23: Playback-Spiel
KlassischerȱAblaufȱimȱPlaybackȬTheaterȱ
1 Anwärmung (z.B. durch FließendeȱSkulpturen)
2 Geschichte, Interview und Wahl der RollenträgerInnen
3 Szenenaufbau und Darstellung
4 Anerkennung
5 Rückgabe der Geschichte an die ErzählerIn
6 Änderungen und Transformationen
Tabelleȱ12: Playback-Theater-Ablauf
ZieleȱvonȱSoziodramen
1 Soziale Szenarien wie Gruppen, Typen und Kulturen besser verstehen lernen
2 Allen Beteiligten neue Erkenntnisse zu den verschiedenen Rollen (eigenen wie
fremden) verschaffen, die mit den betr. Szenarien verbunden sind
3 Den TeilnehmerInnen die Möglichkeit zur Öffnung und Auseinandersetzung
bieten, indem die Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse, die mit dem
Szenario verbunden sind, ausgedrückt und erkundet werden
4 Entwicklung neuer Rollenkompetenzen und Performanzen in den betreffenden
sozialen Szenarien
AblaufȱeinesȱSoziodramasȱ
Auch im soziodramatischen Vorgehen gibt es Phasen, die bereits von Moreno vor-
geschlagen wurden: „ErwärmungȱundȱdieȱWahlȱdesȱsozialenȱPlans,ȱdieȱProduktionȱundȱ
dieȱAnalyse“ (HutterȱundȱSchwehm 2009: 353). Zuerst sollen die TeilnehmerInnen für
ein gemeinsam zu bearbeitendes Thema erwärmt werden. Zuweilen ergibt sich
dies von allein, z. B. durch einen äußeren Anlass, der die Gruppe beschäftigt: Ein
bekannter Sänger ist gestorben oder ein Attentat mit weitreichenden Folgen ist
bekannt geworden (9/11). Ist dies nicht der Fall und ist die Gruppe auch nicht von
vornherein zur soziodramatischen Bearbeitung eines Themas zusammengekom-
3.4 Spezielle Gruppen-Arrangements: Clap-Theater, Playback-Theater, Soziodrama 107
Indikationȱ
Die Indikationen ergeben sich aus dem oben Dargestellten. Eine soziodramati-
sche Inszenierung sollte dann in Erwägung gezogen werden, wenn das Gruppen-
thema oder die Problematik einer Einzelperson mehr mit kulturellen, sozialen
und gesellschaftlichen Belangen verwoben ist als mit individuellen, einzelnen
innerpsychischen Faktoren, etwa wenn TeilnehmerInnen unter den Vorurteilen
leiden, die ihnen aufgrund ihres MigrantInnen-Hintergrundes entgegengebracht
werden, oder wenn zum Beispiel ein politisches Ereignis das Gruppengeschehen
überschattet.
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3.4 Spezielle Gruppen-Arrangements: Clap-Theater, Playback-Theater, Soziodrama 111
4
4 DieȱPsychodramaȬTechnikenȱ
4.1 Szenenaufbauȱ
Fallbeispiel:ȱ
Herr Bald: „Ich habe Probleme mit meinem Chef. Er ist super-penibel: In den Morgen-
besprechungen gibt er mir jedes Mal meine Schriftstücke zurück und dann
macht er mich vor allen Kollegen wegen meiner Rechtschreibfehler zur
Schnecke. Am liebsten würde ich dann alles hinschmeißen und heimgehen.
Oder wenigstens im Boden versinken. Es ist mir so peinlich. Was die Kolle-
gen dann von mir denken! Letzten Montag habe ich in der Besprechung ei-
nen Schweißausbruch bekommen, dass ich direkt zum Duschen hätte gehen
können.“
PD-Leiter: „OK, wenn Sie einverstanden sind, beginnen wir einmal mit der Szene, die
Sie schildern. Können Sie bitte aus der Gruppe Mitspieler für die Rollen Ih-
res Chefs und für Ihre Kollegen aussuchen.“
Herr Bald: [Wählt Florian für seinen Chef, und zwei weitere Mitspieler für zwei Kolle-
gen aus]
PD-Leiter: „Gut, können Sie jetzt zunächst hier auf der Bühne markieren, wo der
Besprechungsraum ist. Wie ist der eingerichtet? Gibt es da Stühle, Tische,
Fenster, andere wichtige Gegenstände? Wo ist denn die Tür, durch die Sie
hereinkommen?“ [NachdemȱderȱRaumȱeingerichtetȱist,ȱdieȱMitspielerȱvonȱHerrnȱ
Baldȱ aufȱ ihreȱ Positionenȱ gebrachtȱ wurden:] „Können Sie bitte den Mitspielern
ein paar Sätze zu ihrer Rolle sagen, wie alt sie sind, wie lange sie schon in
der Firma arbeiten, was ihre Funktion ist etc.“
Herr Bald: [Gibt ein paar knappe Informationen an die Rollenträger]
PD-Leiter: „Sie haben auch davon gesprochen, dass Sie Schriftstücke zurückbekom-
men, und dass Sie einen Schweißausbruch bekommen haben, so dass Sie
am liebsten zum Duschen gegangen wären. Können Sie bitte jemand
auswählen, der für die Schriftstücke steht, und eine weitere Person für den
Schweißausbruch, und zu guter Letzt eine Person für die Dusche.“[Nachȱderȱ
entsprechendenȱInstallation] „Welche Gefühle oder Gedanken nehmen Sie bei
den anderen wahr? Können Sie bitte jeweils das überwiegende Gefühl den
anderen Personen zuordnen?“
Herr Bald: [Wählt für den Chef das Gefühl Macht, für den Kollegen 1 das Gefühl
Angst und für den Kollegen 2 das Gefühl Häme]
Auf der Bühne entsteht die Szene, wie sie in Abbildung 24 zu sehen ist.
114 4 Die Psychodrama-Techniken
Dusche
Chef (zuhause)
Macht
Angst Schrift-
K1 stück
Schweiß-
Ausbruch
Häme „Am liebsten würde ich heimgehen… was die
K2 B Kollegen denken … peinlich …ich könnte
jetzt duschen…“
Abbildungȱ24: Szenenaufbau
Im Szenenaufbau wird die gesamte Szene erfasst, nicht nur einzelne Aspekte,
und die vorhandenen Bestandteile werden in ihren Bedeutungen exploriert. Der
Klient, im Beispiel Herr Bald, nimmt wahr, dass er von seinem Chef vor allem die
Macht wahrnimmt, während die Häme des Kollegenȱ2 für ihn nicht so klar fassbar
ist. Auch die Angst des Kollegenȱ 1 ist nicht so deutlich sichtbar; die Gefühle der
Kollegen sind im Gegensatz zu seinen eigenen eher für die anderen Personen
verborgen. Sein Schweißausbruch, den er als Ausdruck seiner Angst und Pein
verstehen kann, ist jedoch für alle anderen klar sichtbar, ebenso sein fehlerhaftes
Schriftstück. Nach den Qualitäten des Schriftstückes und der Dusche befragt,
beschreibt Herr Bald, dass das Schriftstück mit viel Anstrengung in Verbindung
gebracht wird und gleichzeitig mit Mängeln versehen ist. Die Dusche beschreibt
er als einen Ort der Sicherheit vor Angriffen, einen Ort, wo er abkühlen kann und
sich wieder von Fehlern gereinigt sieht.
In der Nachbesprechung wird Herrn Bald klar, dass er in seinem Schriftstück
sich selbst sieht mit seinem Lebensgefühl, dass er sich immer anstrengen muss,
und sich dennoch mit Mängeln behaftet fühlt. Zur Dusche fällt ihm ein, dass er
sich ähnlich bei seiner Lebensgefährtin fühle, die ihm immer wieder sage, was für
Qualitäten er habe, und die ihn immer wieder animiere, raus in die Natur zu
gehen, damit er sich erholen könne.
4.1 Szenenaufbau 115
4.2 Doppelnȱ
Doppelnȱ
„Sie sehen zwei Menschen, die in Wirklichkeit die gleiche Person sind. Eine Person
hält den Arm so (Moreno macht es vor). Und die andere macht das gleiche. Wenn die
eine ihren Kopf beugt, macht die andere das gleiche. Das Doppel ist eine geschulte
Person, geschult darin, die gleichen Verhaltensmuster, die gleichen Gefühlsmuster,
die gleichen Gedankenmuster, die gleichen Muster verbaler Kommunikation, die der
Patient hervorbringt, zu produzieren. Nun brauchen wir dieses Doppel natürlich
nicht nur als ästhetisch Handelnden, sondern um Zutritt zum Bewusstsein dieser Per-
son zu erhalten und um diese Person zu beeinflussen“ (Moreno 2009: 323).
Was Moreno hier zum Doppeln gesagt hat, gilt heute nahezu unverändert. Es gibt
im Wesentlichen eine Einschränkung: „geschultes“ Personal für das Doppeln
findet sich heute nur äußerst selten, da Psychodrama-LeiterInnen aus Kosten-
gründen meist alleine mit ihren KlientInnen arbeiten. So sind die doppelnden
Personen meist selbst Gruppenmitglieder und im klinischen Bereich damit Pati-
entInnen. Geschult wird der Personenkreis insofern, als erklärt und geübt wird,
wie beim Doppeln vorzugehen ist.
Doppeln ist nicht einfaches Nachmachen, sondern es beinhaltet eine Einfüh-
lung der doppelnden Person in die ProtagonistIn, und bis zu einem gewissen
Grad auch umgekehrt ein Einschwingen der ProtagonistIn in das Doppel. Es
handelt sich also um eine wechselseitige Einfühlung. Entwicklungspsychologisch
leitete Moreno diese Technik aus der frühen Eltern-Kind-Interaktion ab, wo sich
die Mutter oder der Vater im günstigen Fall als Doppel zur Verfügung stellen,
wenn sie zum Beispiel Gefühle nachempfindend zum Säugling sagen: „Gell, das
freut dich…“ oder beim Stillen: „Das schmeckt fein, gell…?“
Um zu doppeln, geht ein anderes Gruppenmitglied oder nach Ankündigung
auch die Psychodrama-LeiterIn schräg hinter die ProtagonistIn und versucht sich
4.2 Doppeln 117
in diese einzufühlen. Dies gelingt leichter, wenn die gleiche Körperhaltung, Mi-
mik und Gestik eingenommen wird. Das Doppel verbalisiert dann aus der Sicht
der ProtagonistIn deren inneres Erleben. Dies kann sich auf die äußere Situation
beziehen („Ich sitze hier alleine an einem Tisch…“), auf Gedanken („Es wäre
schön, wenn jemand da wäre…“), auf Gefühle („Ich fühle mich alleine…“), aber
auch auf Wünsche, Absichten und Impulse („Am liebsten würde ich jetzt aufste-
hen und bei der Nachbarin klingeln…“). Das Doppeln wird eingesetzt, um das
blockierte innere (Selbst-) Gespräch der ProtagonistIn wieder in Gang zu bringen.
Die Selbst-, Fremd- und Situationswahrnehmung, das Sich-Gewahr-Werden der
eigenen Lage wird dadurch verbessert: Die ProtagonistIn kommt wieder in Kon-
takt mit sich selbst oder, psychodramatisch ausgedrückt, das AutoȬTele wird op-
timiert. Das Doppel spricht in der Ich-Form und dabei die MitspielerInnen nur in
der 3. Person an („Meine Kollegin sieht mich jetzt an wie…“ statt: „Du siehst
mich jetzt an wie…“). Durch diese Technik wird es der ProtagonistIn leichter
gemacht, den Fokus auf das eigene Befinden zu legen und weniger auf die Inter-
aktion bzw. die MitspielerIn. Wichtig beim Doppeln ist, dass die ProtagonistIn,
die gedoppelt wurde, ausreichend Gelegenheit erhält, den Inhalt, soweit er
stimmt, in eigenen Worten wiederzugeben. Was nicht stimmt, wird verneint oder
einfach nicht aufgegriffen. Dementsprechend ist das Doppeln in der Regel nur
eine kurze Intervention, die nur solange angewandt wird, bis die ProtagonistIn
wieder ihren eigenen inneren Faden aufgenommen hat, sich selbst Klarheit über
die innere und äußere Lage verschafft hat und handeln kann. Doppeln fördert im
Allgemeinen die Regression; wir erinnern uns, dass Moreno die Idee zum Dop-
peln aus der frühen Eltern-Kind-Interaktion ableitete. Sehen wir hier von spezifi-
schen Indikationsfragen ab, gilt für das Doppeln allgemein: so viel wie nötig, so
wenig wie möglich. Wie Krüger (1997) beschreibt, ist die Psychodrama-LeiterIn
hier wie eine Hebamme tätig, die nicht aktiv werden muss, wenn das Kind gut
von alleine auf die Welt kommt oder sich in ihr bereits bewegen kann. Auch
wenn der Spielverlauf der Szene dynamisch angelegt ist, muss mit Doppeln spär-
lich umgegangen werden, da es eine Technik der Innerlichkeit ist, welche äußere,
dynamische Prozesse entschleunigt.
Fallbeispiel:ȱ
Herr Kurz: [Steht in einer Szene seiner Frau gegenüber und schweigt]
PD-Leiterin: „Kann jemand aus der Gruppe doppeln? Hat jemand eine Idee, was in
Herrn Kurz vor sich gehen könnte?“
Herr Doppel: „Hier stehe ich jetzt vor ihr und kann nichts sagen…“
Herr Kurz: „Ja genau, so ist es immer! Mir fällt nichts ein, obwohl mir gerade noch alles
klar war, was ich dir sagen wollte.“
118 4 Die Psychodrama-Techniken
Frau Kurz: „Was möchtest du mir denn sagen? Das kannst du doch nicht einfach ver-
gessen haben!“
Herr Kurz: [Schweigt mit zusammengekniffenen Lippen]
Herr Doppel: [kneift zunächst auch die Lippen zusammen] „Doch, genau so ist es. Es ist,
als ob ich alles vergesse, wenn ich vor ihr stehe. Ich bin dann so wütend auf
mich selbst, dass ich das nicht schaffe…“
Herr Kurz: „Ja, das stimmt: Ich komme mir dann so klein vor, wenn ich vor dir stehe
und kein Wort herausbringe. [Schweigt mit leicht gerötetem Gesicht; die
Augen jetzt direkt auf seine Frau gerichtet]
Herr Doppel: „Und eigentlich bin ich auch ärgerlich auf sie. Am liebsten würde ich mal
auf den Tisch hauen und ihr sagen…“
Herr Kurz: „Nein, auf den Tisch hauen würde ich nicht, aber mal einen Teller auf den
Boden werfen. Lieber soll mal ein Teller kaputt gehen, als dass ich mich
weiter von dir kaputt machen lasse von deinen ständigen Vorwürfen!“
PD-Leiterin: „Herr Kurz, können Sie Ihrer Frau mal sagen, was das für Vorwürfe sind,
die sie nicht mehr hören möchten?“
An dieser Stelle wird das Doppeln beendet, da der Protagonist sich selbst in sei-
nem Denken, Fühlen und Wollen wieder vollständiger wahrnimmt und damit
die Voraussetzung erfüllt, handeln zu können. Doppeln ist in der Regel eine
unterstützende Technik; manche AutorInnen unterscheiden viele verschiedene
Unterformen. Die prominenteste ist das so genannte AmbivalenzȬDoppeln. Hierbei
werden die zwei Seiten der Ambivalenz bei der ProtagonistIn von zwei Mitspie-
lerInnen gedoppelt. Die gedoppelte Person erlebt dadurch anschaulich das Hin-
und-her-gerissen-Sein zwischen den beiden Positionen. Im psychodramatischen
Einzelsetting werden die beiden Rollen von der LeiterIn nacheinander einge-
nommen. Eine weitere Unterform ist das explorierendeȱDoppeln: Hier werden nur
Satzanfänge angeboten, die die ProtagonistIn ermutigen, diese Sätze selbst zu
vollenden. Es wird also nur ein Aufmerksamkeitsfokus angeboten wie „…ȱ amȱ
liebstenȱwürdeȱichȱjetztȱ…“ oder „Ichȱfühleȱmichȱ…“. Diese Form des Doppelns lässt
der ProtagonstIn einen großen Freiraum, was den Inhalt anbelangt, lenkt sie aber
deutlich in Richtung Selbstwahrnehmung.
Indiziert ist das Doppeln besonders bei Menschen, deren Selbstwahrneh-
mung eingeschränkt ist oder deren Selbstbezug unterbrochen ist. Dies gilt für alle
Formate, also für die Beratung und Supervision ebenso wie für Bildungs- und
Psychotherapieprozesse. Für letztere ordnet Krüger (2002: 277ff; Sturmȱ2009: 122f;
siehe „Kreismodell“ im Anhang) in seiner Systematik der Psychodramatechniken
das Doppeln ebenso wie den Szenenaufbau den Diagnosen Psychose, Trauma,
Sucht und Borderline zu.
4.2 Doppeln 119
DieȱDoppelgängerInȱoderȱdasȱDoubleȱ
Die DoppelgängerIn ist eine Erweiterung der Doppelrolle. Während das Doppeln
ein punktuelles Zur-Sprache-Bringen der Innenwelt der ProtagonistIn ist, handelt
es sich bei der DoppelgängerIn um eine, mindestens eine Szene, manchmal auch
das ganze Spiel begleitende Rolle. Hierbei übernimmt ein durch die ProtagonistIn
gewähltes Gruppenmitglied die Rolle einer mithandelnden BegleiterIn, die diesel-
ben Situationen erlebt wie die ProtagonistIn, jedoch mit ihren eigenen Gedanken,
Gefühlen und Impulsen. Aufgrund der gefühlten Ähnlichkeit zwischen Protago-
nistIn und DoppelgängerIn und der Differenz zwischen den Gedanken, Gefühlen
und Impulsen der DoppelgängerIn zu denen der ProtagonistIn entsteht das hilf-
reiche Moment. Die DoppelgängerIn kann so zum Beispiel Handlungen zum Posi-
tiven hin verändern, Impulse geben für neue Lösungen, unterstützen durch die
bloße Anwesenheit oder aktiven Schutz bieten vor bislang nicht bewussten Bedro-
hungen. Die DoppelgängerIn kann im alltäglichen Sinn eine echte DoppelgängerIn
sein, also die ProtagonistIn schlicht verdoppeln; sie kann aber auch in einer ande-
ren Rolle in Erscheinung treten, zum Beispiel in der Rolle eines Schutzengels, einer
engen FreundIn oder einer imaginierten HelferIn. Die Doppelgängerrolle ist also
eine zweifache Erweiterung des reinen Doppelns. Erstens ist sie von zeitlich länge-
rer Dauer, zweitens zeichnet sie sich durch einen stärkeren Handlungsbezug aus.
Die DoppelgängerIn wird meist zu Beginn einer Szene, bzw. zu Beginn eines Pro-
tagonistInnenspieles gewählt und als Rolle besetzt, sobald klar ist, dass es für die
Thematik angezeigt erscheint. Der Vorschlag, eine DoppelgängerIn einzusetzen,
kommt von der Psychodrama-LeiterIn, die Wahl der betreffenden RollenträgerIn
erfolgt selbstverständlich durch die ProtagonistIn.
Besonders indiziert ist die Besetzung der Rolle der DoppelgängerIn bei Situ-
ationen, in denen die ProtagonistIn Unterstützung und Hilfe benötigt, da zum
Beispiel eine starke Bedrohung vorliegt. Die DoppelgängerIn kann aber auch
dabei helfen, den Dialog mit sich selbst wieder in Gang zu bringen bzw. alterna-
tive Handlungswege aufzuzeigen.
120 4 Die Psychodrama-Techniken
DieȱStellvertreterInȱoderȱdasȱStandȬInȱ
Die letzte Variante des Doppelns ist die StellvertreterIn bzw. das StandȬIn. Das Be-
sondere an dieser Variante ist, dass die ProtagonistIn in dem Moment, wo die Stell-
vertreterIn sich in der Szene befindet, selbst außerhalb der Szene ist. Auch wird die
StellvertreterIn in der Regel ausschließlich das doppeln, was ihr von der Protago-
nistIn gesagt oder gezeigt wurde. Anders als bei der DoppelgängerIn, die mehr
Spielräume für eigene Impulse hat, ist damit bei diesem Vorgehen die Stellvertrete-
rIn von Ausnahmen abgesehen sehr stark an die Vorgaben der ProtagonistIn ge-
bunden. Hier ist der Übergang zu einer weiteren Psychodrama-Technik, dem SpieȬ
geln (siehe unten): das Stand-In entspricht der Rolle der MitspielerIn beim Spiegeln.
Fallbeispiel:ȱ
Die Protagonistin Frau Blau berichtet in einer Psychodrama-Sitzung während des Szenen-
aufbaus von einer Situation, die der Trennung von ihrem alkoholkranken Ex-Mann vor
einem Jahr vorausging. Die Szene spielt in der Küche nach dem Abendessen; anwesend
sind ihre siebenjährige Tochter Klara und ihr damaliger Ehemann in alkoholisiertem Zu-
stand.
Frau Blau: „Ernst [der Ehemann] steht da drüben neben dem Esstisch und Klara möch-
te gerade in ihr Zimmer gehen. Aus heiterem Himmel fängt Ernst an zu
schreien, Klara soll erst das Geschirr abspülen. Ich weiß nicht mehr genau,
was dann passiert ist, ob Klara irgendwie reagiert hat oder einfach nur zur
Tür gegangen ist. Ich weiß nur noch, dass er plötzlich die schmutzigen Tel-
ler genommen hat und gegen die Wand bei der Tür geworfen hat. Ich weiß,
dass dann alle durcheinander geschrieen haben und Klara geweint hat. Als
mein Mann dann fluchend aus dem Haus ist, bin ich mit Klara hoch, habe
ein paar Kleider für uns in einen Koffer gepackt und bin zu meiner Freun-
din gefahren.“
PD-Therapeut: „Das war gut, dass Sie das gemacht haben, ich kann mir gut vorstellen, wie
schlimm es gewesen sein muss.“
Frau Blau: „Um ehrlich zu sein, ich weiß es gar nicht. Ich habe damals nichts gespürt,
auch heute nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es richtig war, was ich damals
getan habe.“
PD-Therapeut: „Ich würde Ihnen vorschlagen, dass Sie eine Stellvertreterin für sich in dieser
Situation suchen, die für Sie in die Szene geht. Dann können wir danach hö-
ren, wie es sich für Ihre StellvertreterIn angefühlt hat. Vielleicht erkennen Sie
dann einige Gefühle bei sich wieder. Sind Sie damit einverstanden?“
In dem Beispiel hat die Protagonistin eine Gefühllosigkeit nach einem traumati-
schen Erlebnis. Gefühle, die in der Traumasituation übermächtig erlebt werden,
können nicht verarbeitet werden. Die Stellvertreterin, die die ProtagonistIn dop-
4.3 Rollenspiel in der eigenen Rolle 121
pelnd vertritt, kann diese abgespaltenen und verkapselten Gefühle, die zu der
Situation gehören, bei sich erleben und wiedergeben.
Indiziert ist der Einsatz eines Stand-Ins in allen Situationen, wo ein stellver-
tretendes Erleben für die ProtagonistIn hilfreich sein kann. Dies kann einmal
dann sein, wenn Distanz aufgrund von Unübersichtlichkeit oder Bedrohung
notwendig ist, aber auch dann, wenn der innere Prozess situationsinadäquat
abläuft, die ProtagonistIn also aufgrund (hilfreicher und notwendiger) Abwehr-
mechanismen die Situation kognitiv und affektiv nicht mehr angemessen verar-
beiten kann. Die StellvertreterIn kann demgegenüber in der Realität der Psycho-
drama-Szene Gedanken, Gefühle und Impulse, die zur Situation im Sinne einer
gesunden psychischen Verarbeitung gehören, wahrnehmen und verbalisieren.
Durch dieses Doppeln kann die ProtagonistIn wieder an das eigene Erleben an-
schließen und das Erlebte weiter verarbeiten.
DasȱZurȬSeiteȬSprechenȱ
Diese Technik ist im weitesten Sinn auch dem Doppeln zuzuordnen. Hierbei
wird die ProtagonistIn gebeten, einen eigentlich inneren, leisen Monolog über die
eigene Befindlichkeit laut zur Seite zu sprechen, während die äußere Situation
ruht. Das Zur-Seite-Sprechen hilft besonders in den Lagen, wo die AntagonistIn
oder die gesamte Szene den Handlungsfluss unterbrechen. Die ProtagonistIn
kann über diese Maßnahme quasi sich selbst doppeln; über das Verbalisieren
lockert sich die Blockade und sie gelangt wieder in eine Spontaneitätslage, die
den FadenȱderȱinnerenȱHandlung frei gibt.
Auf die folgenden zwei Psychodrama-Techniken wurde bereits im Kapitel
„Arrangements“ eingegangen: Das Rollenspiel in der eigenen Rolle und das Rol-
lenspiel in der Rolle eines anderen Menschen. Es handelt sich dabei sowohl um
eine Arbeitsform als auch um eine Technik.
4.3 RollenspielȱinȱderȱeigenenȱRolleȱ
Während mit den bisherigen Techniken Szenenaufbau und Doppeln ein mehr oder
weniger statisches Szenario gegeben ist, kommt mit dem Schritt zum Rollenspiel
das Handeln auf die Bühne. Die ProtagonistIn tritt als Handelnde in Erscheinung.
Ein klassischer Satz der Psychodrama-LeiterIn in diesem Kontext lautet: „Können
122 4 Die Psychodrama-Techniken
Sie mir mal bitte zeigen, wie Sie das machen?“, oder „…, wie Sie das gemacht
haben?“, oder „…, wie Sie das gern machen würden?“. Szenenaufbau und Dop-
peln sind als Techniken wie Fotografien, Veranschaulichungen ohne einen zeitli-
chen Verlauf. Mit dem Rollenspiel reihen sich für die ProtagonistInnen Bilder
aneinander, werden zu einem Film, der einer inneren und äußeren Logik folgt.
Damit tauchen der Faktor Zeit und eine Chronologie bzw. eine Choreografie der
Szenen auf. In der Technik des Rollenspiels erweitert sich der Raum durch die
Zeitachse: es gibt ein Vorher, ein Nachher, aber auch ein Nebenher. Der salutoge-
ne Faktor dieser Technik ist die Bewegung auf der Zeitachse. Die ProtagonistIn
macht die Erfahrung, dass sie Handlungen und damit auch sich selbst entwickeln
kann. Sie kann ausprobieren, noch einmal zurück hinter eine Szene zu gehen, aber
auch, dass es ein Danach gibt, dass das Leben sich kreativ weiterentwickeln kann.
Rollenspiel in der eigenen Rolle bedeutet, die ProtagonistIn spielt sich bei
dieser Technik selbst, sie wechselt nicht die Person und verlässt damit nicht ihr
eigenes soziokulturelles Atom. Bei den Arbeitsformen wurde beim Rollenspiel
bereits unterschieden zwischen dem Spiel von etwas Vergangenem, klar Definier-
tem, psychodramatisch der Konserve, und dem Spiel von etwas Neuem, dem Spiel
in der Stegreiflage. Diese Unterscheidung gilt auch für das Rollenspiel als Technik.
So kann eine ProtagonistIn etwas nachspielen, was sie erlebt hat oder was kultu-
rell überliefert ist (Märchen, Sage, Krimihandlung, Kinofilm, Theaterstück), aber
sie kann auch eine neue Szene im Stegreif erschaffen.
Fallbeispielȱ
Frau Holt berichtet, dass sie in ihren Beziehungen immer wieder das Gleiche erlebt. Sie
gerate immer an Männer, die sich vor ihr zurückziehen würden. Früher oder später werde
sie dann eifersüchtig, und je eifersüchtiger sie auf ihre Partner sei, desto angriffslustiger
werde sie.
Der Therapeut fordert Frau Holt auf, eine typische Interaktion ihrer aktuellen Ehe
darzustellen. Frau Holt zeigt darauf eine kurze Sequenz eines Konfliktes mit ihrem Mann,
bevor dieser sich an den Computer im Keller zurückgezogen hat, um seiner Leidenschaft
Computerspiel nachzugehen.
Anschließend bittet der Therapeut Frau Holt zu zeigen, was dieser Szene vorausging.
Es folgt eine Szene, in der sie ihrem Mann beim Abendessen viele Vorwürfe macht, immer
wieder stichelt, dass er so spät abends nach Hause komme. Während sie die Szene nach-
spielt, spürt sie die Angst, dass sie ihren Mann verlieren könnte. Sie versteht, wie ihre eige-
ne Angst sie anstachelt und aggressiv macht.
Anschließend fordert der Therapeut Frau Holt auf, sich eine ähnliche Szene in der
Zukunft vorzustellen. Frau Holt erfindet im Spiel eine neue, veränderte Szene, wie sie trotz
ihrer Angst auf ihren Mann zugehen kann.
4.4 Rollenwechsel, Rollenspiel in der Rolle eines anderen Menschen und Rollenfeedback 123
4.4 Rollenwechsel,ȱRollenspielȱinȱderȱRolleȱeinesȱanderenȱMenschenȱundȱ
Rollenfeedbackȱ
Während das Rollenspiel in der eigenen Rolle die Selbsterkenntnis und die eigene
Beteiligung in den Fokus stellt, zeigt sich im Rollenwechsel und dem Spiel in der
Rolle einer anderen Person das Du. Die ProtagonistIn macht die Erfahrung, wie
es sich anfühlt, in der Haut eines anderen zu stecken und darin zu handeln. Das
Ziel ist damit ein Zweifaches: Einerseits vergrößert die ProtagonistIn ihr eigenes
Rollenrepertoire, indem sie sich eine neue Rolle zu eigen macht, andererseits lernt
sie auch ein wenig von der Welt des anderen kennen. Die Möglichkeiten, in der
Rolle eines Anderen zu spielen, in eine andere Rolle zu wechseln, sind nahezu
unerschöpflich. Es gibt nichts, was man als PsychodramatikerIn nicht spielen
könnte: den eigenen Vater oder die Mutter, die eigene Tochter oder den Sohn, die
PartnerIn, ein verstorbenes Kind oder einen toten Großvater, den Dackel Paula,
den Baum im Garten, den Esstisch in der Küche oder die Gitterstäbe am Tigerkä-
fig im Tierpark. Auch kulturell bedeutsame und überlieferte Rollen sind ein
dankbares Material: Moses,ȱMartinȱLuther,ȱWillyȱBrandt,ȱdieȱJesusmutterȱMaria,ȱFridaȱ
124 4 Die Psychodrama-Techniken
Kahlo,ȱ Monaȱ Lisa,ȱ Mercedesȱ Sosa oder ein Lied von Janisȱ Joplin. Beliebt und Ehr-
furcht gebietend sind unter PsychodramatikerInnen natürlich Darstellungen von
Moreno. Jede RollenträgerIn entfaltet in der übernommenen Rolle ihre eigene
Dynamik, zeigt den anderen damit etwas über sich und erfährt gleichzeitig etwas
über sich selbst wie über die Rolle. Eine simple Technik mit großer Wirkung!
Wenn die Rede davon ist, welcher Rollenreichtum zur Verfügung steht, liegt
die Mahnung nahe, an die Grenzen zu denken. Nach eventuell vorhandener
Spielhemmnis übernehmen die meisten Menschen gerne lustvolle Rollen, auch
Rollen, in denen „man einmal richtig die Sau rauslassen darf“. Jedoch ist als Psy-
chodrama-LeiterIn eine sorgfältige Abklärung nötig, wenn Rollen wie Hitler,ȱ
Goebbels oder Stalin, eine KZ-AufseherIn, ein Selbstmord-Attentäter, ein Verge-
waltiger oder eine MörderIn gespielt werden sollen. Hier sind ethische Grenzen
zu berücksichtigen, Fragen der Belastbarkeit der RollenträgerInnen im Vorhinein
abzuschätzen und gegebenenfalls ist auf das Erleben in der Rolle zu verzichten
zugunsten einer symbolischen Darstellung.
Auch für das Rollenspiel in der Rolle eines Anderen gilt wie schon für das
Rollenspiel in der eigenen Rolle, dass es zwei Varianten gibt, die Konserve und
das Stegreifspiel,ȱ das Bekannte und das Neue. Psychodrama-Neulingen fällt es
meist leichter, vorgegebene Szenen mit den dazugehörigen Rollen nachzuspielen.
Hierzu waren im Kapitel zu den Arrangements Beispiele zu lesen.
Handeln und Wechseln sind die Schlüsselbegriffe zu dieser Technik, und ent-
sprechend den oben beschriebenen Zielen der Erweiterung des eigenen Rollenre-
pertoires und der Erkenntnis des Anderen liegt die Hauptindikation für diese Art
des Rollenspiels bei Menschen, die in ihren eigenen, sich wiederholenden Mustern
festgefahren scheinen; im klinischen Bereich sind dies Menschen mit so genannten
frühen Störungen oder mit einer Zwangssymptomatik im Denken, Fühlen oder
Handeln. Aber es gibt kaum Menschen, die nicht an der einen oder anderen Stelle
festgefahren sind, es muss nicht immer eine klinische Symptomatik sein, die ein
Rollenspiel in der Rolle eines Anderen hilfreich werden lässt. Und Krüger mahnt zu
recht, wenn er schreibt: „WirȱsindȱalsȱPsychodramaȬTherapeutenȱimmerȱwiederȱverführt,ȱ
inȱderȱTherapieȱdasȱfreieȱRollenspielȱinȱderȱRolleȱandererȱzuȱvernachlässigen.ȱDieȱ(berechtigȬ
te)ȱErwartungȱvonȱPatienten,ȱihreȱKonflikteȱdirektȱzuȱbearbeitenȱundȱzuȱlösenȱverleitetȱunsȱ
nurȱallzuȱoftȱzuȱ„nur“ȱprotagonistenzentriertemȱVorgehen.“ (Krügerȱ2004: 27)
Rollenfeedbackȱ
Beim Rollenfeedback handelt es sich um eine Technik, die bereits beim Ablauf
des ProtagonistInnen-Spieles besprochen wurde. In der Regel wird es am Ende
4.5 Das Spiegeln 125
4.5 DasȱSpiegelnȱ
Fallbeispiel:ȱ
Die Protagonistin Frau Blau berichtete während des Szenenaufbaus von einer Situation, die
der Trennung von ihrem alkoholkranken Ex-Mann vor einem Jahr vorausging. Die Szene
spielte in der Küche nach dem Abendessen; anwesend waren ihre siebenjährige Tochter
Klara und ihr damaliger Ehemann in alkoholisiertem Zustand. Die letzte geschilderte Inter-
vention des Therapeuten war der Vorschlag, eine StellvertreterIn in die Szene zu schicken.
PD-Therapeut: „Ich würde Ihnen vorschlagen, dass Sie eine Stellvertreterin für sich in dieser
Situation suchen, die für Sie in die Szene geht. Dann können wir danach hö-
ren, wie es sich für Ihre StellvertreterIn angefühlt hat. Vielleicht erkennen Sie
dann einige Gefühle bei sich wieder. Sind Sie damit einverstanden?“
Frau Blau: [ist einverstanden und wählt eine Mitspielerin, mit der sie viel Kontakt in
der Gruppe hat als Stellvertreterin; diese geht anstelle von Frau Blau in die
Szene]
PD-Therapeut: [Therapeut und Frau Blau stehen abseits der Bühne und betrachten die
szenische Handlung] „Wie geht es Ihnen, wenn Sie das von hier draußen
sehen?“
Frau Blau: „Ich bin so froh, dass es vorbei ist. Und ich bin auch froh, dass ich hier
draußen außerhalb der Handlung bin.“
PD-Therapeut: „Das kann ich mir gut vorstellen, denn es war ja auch wirklich schlimm. Sie
haben ja gesagt, dass Sie in der Szene damals und auch in der hier gezeig-
ten keine Gefühle hatten. Wie geht es Ihnen jetzt hier draußen?“
Frau Blau: „Wenn ich mir das so anschaue, habe ich ein bisschen Angst um die beiden
[Frau Blau und ihre Tochter]. Aber wenn ich hier stehe, weiß ich genau,
dass es richtig war, damals zu gehen. Ich würde ihr am liebsten sagen, dass
sie sich deswegen keine Gedanken mehr machen soll. Sie hat so viel und so
lange ausgehalten. Es ist Zeit geworden, dass sie gegangen ist und auch ih-
re Tochter in Sicherheit gebracht hat.“
ebenfalls gut behandeln. Auch im Bereich der Supervision und der Organisati-
ons- bzw. Teamberatung ist das Spiegeln eine beliebte Technik: Die Betroffenen
können in der Spiegelposition eigene Verstrickungen erkennen und aus dem Off
neue Impulse entwickeln.
4.6 Rollentauschȱ
Abbildungȱ25: Rollentausch
128 4 Die Psychodrama-Techniken
Ein Rollentausch gibt es in zwei Varianten, als echten Rollentausch und als
stellvertretenden Rollentausch. Der Unterschied wird an den folgenden Beispie-
len deutlich.
Fallbeispieleȱ
Der echte Rollentausch
Herr Keil und Herr Köpf kommen gemeinsam zur betrieblichen Mediation. Nachdem die
beiden der Psychodrama-Leiterin von ihrer schwierigen Situation als Teamkollegen erzählt
haben, bittet sie diese, die letzte Situation, in der sich ihr Konflikt gezeigt hat, zu zeigen.
Zunächst zeigt Herr Keil die Situation aus seiner Sicht. Nachdem die Szene von ihm gezeigt
wurde, werden beide gebeten, ihre Rollen zu tauschen. Herr Köpf spielt nun nach den Vorga-
ben von Herrn Keil die Rolle von Herrn Keil und umgekehrt. Danach wird Herr Köpf gebeten,
die Szene aus seiner Sicht darzustellen. Wieder kommt es zum Rollentausch: Herr Keil spielt
nun nach den Vorgaben von Herrn Köpf die Rolle von Herrn Köpf und umgekehrt.
4.7 SzenenwechselȱundȱAmplifikationȱ
Der Szenenwechsel kann von der Ausgangsszene, also der Szene, mit der die
KlientIn zur BeraterIn kommt, sowohl in eine vergangene als auch in eine Paral-
lelszene in der Gegenwart oder in eine mögliche Zukunftsszene führen.
In der Abbildung „Szenenwechsel“ hat der Protagonist (das linke, eingefärb-
te Dreieck) Schwierigkeiten mit seinem Chef (Symptomszeneȱ inȱ derȱ Gegenwart);
parallel dazu fühlt er sich bei dem Trainer seines Fußballvereins an die Szene mit
dem Chef erinnert und reagiert ähnlich allergisch (ParallelszeneȱinȱderȱGegenwart).
Im Gespräch mit seinem Therapeuten erinnert sich der Protagonist, dass er mit
seinem Vater früher ähnliche Konflikte erlebt hat (genetischeȱoderȱfrühereȱSzene). In
dem darauf vom Therapeuten vorgeschlagenen Probehandeln in der Zukunft
testet der Protagonist mit seinem Chef einen anderen Umgang (Probehandelnȱ inȱ
derȱ Zukunft). Zurück in der Gegenwart geht der Protagonist gestärkt aus der
Szene in seine „realen“ aktuellen Szenen mit seinem Chef und seinem Trainer.
Im Gewand des Sharings, einer Parallelszene eines anderen Teilnehmers der
Gruppe zur Ursprungsszene des Protagonisten, ist auch ein Szenenwechsel ent-
halten. Dazu kommen wir bei der Vorstellung der letzten Technik.
Im therapeutischen Setting sprechen wir von der Symptomszene in der Ge-
genwart und der genetischen Szene in der Vergangenheit.
Unter Amplifikation wird verstanden, wenn der Szenenwechsel in eine der
nächst größeren Szenen stattfindet, d.h. das soziokulturelle Atom der Protagonis-
tIn verlassen wird. Hier bieten sich zunächst Abstraktionen, aber auch kulturelle
Konserven wie Romane, Kinofilme, Theaterstücke, aber auch Märchen oder Sa-
gen an. Der Effekt des Szenenwechsels ist ein mehrfacher: Zum einen kann die
ProtagonistIn durch Parallelen die Struktur einer Situation besser erfassen und
damit die Essenz des Konfliktes, zum anderen kann sie sich entlasten durch die
Erkenntnis, dass ihr Problem ein universales ist. Andere Menschen mussten oder
müssen mit ähnlichen Schwierigkeiten umgehen. Deswegen bietet sich der Sze-
nenwechsel im klinischen Bereich besonders bei Menschen mit einer Angstsym-
ptomatik an.
4.8 Sharing 131
Chef
Symptomszene inSymptomszene
der Gegenwart in der Gegenwart
Ch
f
Vergangenheit Zukunft
Trainer
Vergangenheit
Parallelszene in der Gegenwart
Vater Chef
GT Chef
Abbildungȱ26: Szenenwechsel
4.8 Sharingȱ
Das Sharing wird im Allgemeinen eingeführt durch die Frage der Psychodrama-
LeiterIn: „Was kennen Sie von dem eben (im Psychodrama-Spiel) Gezeigten aus
Ihrem eigenen Leben?“
In Abbildung 26 zum Szenenwechsel ist bereits das Sharing integriert. Ein
anderer Gruppenteilnehmer (GT) berichtete in dem Beispiel im Sharing, dass er
diese Art von Reaktion auf seinen Chef aus seiner aktuellen Berufssituation auch
kennt. Das Sharing beinhaltet demnach einen Szenenwechsel, nämlich in die
132 4 Die Psychodrama-Techniken
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4.8 Sharing 133
5
5 Rollentheorieȱ
„Denn jedes Individuum drängt danach, weitaus mehr Rollen zu verkörpern, als die,
die ihm im Leben gestattet sind zu spielen und sogar in ein und derselben Rolle
mehrere Variationen darzustellen.“
Morenoȱ(1934 in 2001: 106)
GeorgeȱHerbertȱMead und RalphȱLinton, die sich in den 30er Jahren des letzten Jahr-
hunderts mit den Zusammenhängen von menschlichem Verhalten und gesell-
schaftlichen Gegebenheiten beschäftigten, werden als die Urväter der modernen
sozialpsychologischen Rollentheorie gesehen. Moreno, der sich bereits ein Jahr-
zehnt früher mit derartigen Fragestellungen auseinandersetzte, bleibt in diesem
Zusammenhang meist unerwähnt (Petzoldȱ &ȱ Mathias 1982: 15). Das mag daran
liegen, dass seine poetische Wortwahl und seine komplizierte Darstellungsweise
seine theoretischen Konzepte schwer verständlich machen, aber auch daran, dass
es seinen rollentheoretischen Überlegungen mitunter an Struktur mangelt, sie
teilweise Widersprüchlichkeiten aufweisen und Morenoȱ mehr seinen spontanen
Eingebungen Folge leistete, als sich den wissenschaftlichen Vorgaben seiner Zeit
zu unterwerfen. Das hatte zur Folge, dass seine fortschrittlichen Gedanken zu
bestimmten Fragestellungen unbeachtet blieben, wie etwa seine Beiträge zum
Verständnis von menschlichem Verhalten und vor allem seine eigenständig ent-
wickelten und praxisnahen Theorien (Petzold &ȱMathias 1982).
Seinen SchülerInnen Leutz,ȱRojasȬBermúdez, PetzoldȱundȱMathias (Petzoldȱ&ȱMaȬ
thias 1982) ist es zu verdanken, dass sein rollentheoretisches Konzept systematisiert
und weiterentwickelt wurde. Auch Hochreiterȱ(1996,ȱ2004), Krotz (2008) und Schacht
(2003, 2009) haben – basierend auf den Gedanken Morenos und seiner Ehefrauen
Florenceȱund Zerka – eine Erweiterung der Rollentheorie vorgenommen.
RollentheorikerInnen bedienen sich bestimmter Bühnenmetaphern. Sie
schließen dabei an eine in der Renaissance und im Barock beliebte Tradition an,
das Leben und Ereignisse mit Begriffen aus der Theaterwelt zu beschreiben, wie
etwa „das Skript des Lebens“ oder „auf der Bühne dieser Welt“. In früheren Zei-
ten wurde davon ausgegangen, dass eine göttliche Macht oder das Schicksal
136 5 Rollentheorie
bestimmt, wie das Leben eines Menschen verläuft und damit, der oben erwähn-
ten Metaphorik folgend, was auf der „Bühne dieser Welt“ geschieht bzw. in wel-
cher Art „das Skript“ verfasst ist. Später wurden gesellschaftliche Umstände
dafür verantwortlich gemacht, welchen Status eine Person innehatte und wie
dadurch ihre Rollen determiniert waren. Durch soziale Sanktionen, so nahm man
an, würde ihr Verhalten gelenkt. Beide Weltanschauungen gehen davon aus, dass
der Mensch ein fremdbestimmtes Wesen ist (Petzold & Mathias 1982: 24). Inwie-
weit ist unter solchen Voraussetzungen eigenständiges Handeln möglich? Moreno
setzte sich im Laufe seines Schaffens mit diesen Fragen auseinander und kam zu
folgenden Ergebnissen:
5.1 DefinitionenȱdesȱRollenbegriffsȱ
Aus der Sicht Morenos ist der Mensch ein Rollenspieler. Jedes Individuum zeich-
net sich durch eine bestimmte Anzahl von Rollen aus, die sein Handeln prägen,
wie Tochter, Schwester, Beziehungspartnerin, Werktätige, Kollegin, Mitglied
eines Dorfverschönerungsvereins. Auch jede Kultur weist eine Reihe von Rollen
auf, die sie ihren Angehörigen mit unterschiedlichen Graden an Erfolg zu- oder
vorschreibt (Moreno 2001), denken wir zum Beispiel an den Auszählreim: „Kaiser,
König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann“. Menschen erleben sich in Rollen
und nehmen andere in solchen wahr. Ohne sie können wir auf spezifische Situa-
tionen mit anderen Personen oder Objekten nicht angemessen reagieren.
Rollenhandeln kann nur als ein Interagieren in einem sozialen Kontext verstanden
werden. In diesem Sinne definiert Krotz (2008) den Begriff „Rolle“ als eine Form, die
ein Individuum wählt, um mit sich selbst und mit anderen, die ihrerseits ebenso im
Rahmen ihrer Rollen agieren, in Beziehung zu treten. Auf diese Weise entsteht eine
situative Interaktion. Folglich wird Rolle aus psychodramatischer Sicht als ein fun-
damentaler Beziehungsmodus verstanden, der Menschen einen Rahmen gibt, um
sich auszudrücken und zu anderen Beziehung aufnehmen zu können. Dabei spie-
len nicht nur die eigenen Absichten im Umgang mit einer speziellen Situation eine
Rolle, ebenso orientiert sich die Person an den Erwartungen der anderen. „Nurȱausȱ
einerȱRolleȱherausȱistȱInteraktion,ȱalsoȱBeziehungȱmöglich,ȱundȱumgekehrtȱistȱjedeȱRolleȱinȱ
derȱ psychodramatischenȱ Szeneȱ inȱ einȱ konkretesȱ Beziehungsgefügeȱ eingebunden,ȱ dasȱ ausȱ
aufeinanderȱbezogenenȱRollenȱbesteht“ (Krotzȱ2008: 33).
Die psychodramatischen Definitionen des Rollenbegriffs ermöglichen es, in-
dividuelle und gesellschaftliche Einflüsse auf menschliche Verhaltensmuster zu
verbinden. Moreno unterscheidet sich hiermit von Rollentheoretikern wie Mead
5.2 Die vier Rollendimensionen 137
(1934, 1975) und Parsons (1951, zit. n. Petzold & Mathias 1982: 86), die die gesell-
schaftlichen Prägungen einer Rolle in den Vordergrund schieben. So geht Moreno
zwar vom prägenden Einfluss gesellschaftlicher Rollenmuster, Normen und
Werte aus, die dem „Spieler bis ins Fleisch dringen“ (Moreno 1939b, zit. n. Petzold
& Mathias 1982: 86) und sein Handeln prägen, doch dem Individuum obliegt es,
diese Rollen persönlich auszugestalten. Somit wird neben der gesellschaftlichen
Determination einer Rolle auch dem persönlichen Freiraum Bedeutung beige-
messen. Dazu Moreno (2001: 105): „JedeȱRolleȱistȱeineȱFusionȱpersönlicherȱundȱkollektiȬ
verȱElemente.ȱJedeȱRolleȱhatȱzweiȱSeiten,ȱeineȱpersönlicheȱundȱeineȱkollektiveȱSeite.“ PetȬ
zold (1982), der gemeinsam mit Mathias Morenos rollentheoretische Konzepte
zusammenfasste und systematisierte, bezeichnet den gesellschaftlich determinier-
ten Aspekt einer Handlungseinheit als die kategoriale Rolle und den individuell
geprägten Anteil als die aktionaleȱRolle.
5.2 DieȱvierȱRollendimensionenȱ
Wie oben erwähnt, werden Rollen sowohl von gesellschaftlichen als auch von
persönlichen Faktoren beeinflusst. Je nachdem, wie stark die gesellschaftliche und
die individuelle Komponente die Rollengestaltung beeinflussen, unterscheidet
ZeintlingerȬHochreiterȱ(1996: 125f) im Sinne Morenos vier Rollendimensionen.
5.3 DieȱEigenschaftenȱvonȱRollenȱ
6. Die Rolle wird verstanden als eine inter- und intrapersonelle Erfahrung im Sinne einer
wechselseitigen Regulation von Anziehung und Abstoßung
7. Die Rolle ist abhängig von der Lage
8. Rollen haben eine Bedeutung in psychodramatischen Handlungs- und Pro-
blemlösungsmodellen
9. Die Rolle ist ein Ausdruck individueller und kultureller Kreativität
Soziodramatische Rollenebene
Vom 4./6. Jahr bis zur Postadoleszenz
Psychodramatische Rollenebene
Vom 15./18. Monat zum bis 4./6. Lebensjahr
Psychosomatische Rollenebene
Ab der Geburt bis zum 15./18. Lebensmonat
Rollenentwicklung darf dabei nicht als Prozess verstanden werden, der mit der
Adoleszenz zum Erliegen kommt, sondern als einer, der sich bis ins hohe Alter
fortsetzt. Manche Rollen sind allerdings zeitbegrenzt, wie die der SchülerIn oder
der StudentIn. Sie haben eine Anfangs-, eine Reifephase und eine Phase des
Verblassens. Auch wenn die Rolle nach einem Zeitabschnitt nicht mehr gelebt
wird, so setzt sie sich doch als dynamischer Faktor im Leben fort. Sie kann eine
142 5 Rollentheorie
Matrix bilden, aus der eine neue Rolle Unterstützung und Stärkung erhält, bis die
neue Rolle sich in ihrer eigenen Sphäre und Berechtigung etabliert (Petzoldȱ &ȱ
Mathias 1982).
Die im europäischen Raum übliche kollektive Repräsentanz der Elternrolle sieht vor,
dass ein Elternpaar seine Nachkömmlinge liebevoll versorgt, unterstützt und erzieht.
In welcher Form dies im Alltag bei einem Elternpaar geschieht, hängt unter anderem
von den eigenen Erfahrungen mit den eigenen Eltern, von Rollenmodellen, ihren Ein-
stellungen zur Kindererziehung usw. ab. Wie viel Freiraum bei der Gestaltung dieser
Rollen geboten wird, steht wiederum in engem Zusammenhang damit, in welchem
gesellschaftlichen Umfeld dieses Paar Kinder geboren hat. Eine Gesellschaftsform, die
strikte Regeln über die Form und Zielsetzung der Erziehung vorschreibt, wird ihnen
weniger Möglichkeiten der individuellen Gestaltung dieser Rollen gewähren als ein
liberaler eingestelltes Gesellschaftssystem.
In diesem Sinne wird je nach der Höhe der Freiheitsgrade zwischen Rollenüber-
nahme und Rollengestaltung unterschieden. In diesem Abschnitt bezieht sich die
Einteilung auf die Gestaltung von persönlichen Rollen und orientiert sich an der
Interpretation dieser Kategorisierung nach der amerikanischen Psychodramatike-
rin Dayton (2005: 154f).
5.3 Die Eigenschaften von Rollen 143
Die Rollenübernahme (role taking) zeichnet sich durch eine hohe Rollener-
wartung und geringe Freiheitsgrade aus. Hierbei spielt das Lernen am Mo-
dell eine große Rolle. In unserer Kindheit erleben wir, wie unsere Eltern mit
uns sprechen, wie sie uns im Arm halten, wie sie mit uns in Beziehung tre-
ten. Wir lernen so ein Muster, wie Eltern mit Kindern umgehen. Diese Inter-
aktionen werden in unserem Gedächtnis implizit gespeichert. Oft behandeln
Kinder ihre Übergangsobjekte wie Puppen oder Teddy-Bären in ähnlicher
Weise, wie sie selbst von Bezugspersonen behandelt werden. Auch als Er-
wachsene und selbst in der Elternrolle übernehmen wir unbewusst viele
Verhaltensmuster, die bereits unsere Eltern an den Tag gelegt haben. Je
mehr uns diese übernommenen Muster bewusst sind, desto eher ist es uns
möglich, unser Verhalten selbst zu gestalten.
Die Rollengestaltung (role creating) bietet einen hohen Freiheitsgrad, aber
eine geringe Rollenerwartung. Freie Rollengestaltung ist dann möglich,
wenn die erste Form voll integriert ist. Erst dann können Rollen neu gestal-
tet werden. Dayton (2005: 155f) vergleicht diesen Prozess mit dem Entwick-
lungsprozess von Picasso. Seine Anfangsphase zeichnete sich durch Bilder
aus, die sehr detailgetreue und gegenständliche Abbildungen seiner Umwelt
waren. Er wandte dabei Techniken an, die er sich in Kunstakademien ange-
eignet hatte. Als er allen bewiesen hatte, dass er die traditionelle Kunst des
Malens wunderbar beherrschte, warf er alle Regeln dieser Arbeitsweise über
Bord und entwickelte seine eigene, einzigartige Technik.
Der Säugling bedarf aber nicht nur der Mutter, weil sie ihn nährt und er sich
selbst als Nahrungsaufnehmenden erleben kann. Er muss auch die Mutter in der
Rolle der Nährenden erleben, um diese Rollen in sein Selbst integrieren zu können.
Menschen treten somit ständig miteinander in Beziehung. Um sich aufein-
ander abzustimmen und den wechselseitigen Austausch in Fluss halten zu kön-
nen, muss bis zu einem gewissen Ausmaß vorhersehbar sein, wie das Gegenüber,
also die Komplementärrolle, auf ein bestimmtes Verhalten reagiert. Es werden
Rollenerwartungen an die andere Person gestellt, diese können verbal oder non-
verbal geäußert werden. Läuft ein Kleinkind weinend mit weit geöffneten Armen
zu seiner Mutter oder seinem Vater, weil es sich verletzt hat, so erwartet dieses
Kind, dass es in den Arm genommen und getröstet wird. Moreno und F.ȱMorenoȱ
(1944 zit. n. Schacht 2003: 14) führten für die Beschreibung dieser gegenseitigen
Rollenerwartungen die Begriffe roleȱ giver und roleȱ receiverȱ ein. Das nach Trost
suchende Kind agiert in deren Sinn als role giver, da es mit einer bestimmten
Erwartungshaltung an seine Betreuungsperson herantritt. Die Betreuungsperson
wird, wenn sie diese Rolle annimmt, zum role receiver. Lässt sich das Kind durch
die tröstenden Worte und die behagliche Atmosphäre der Umarmung beruhigen,
wird die Betreuungsperson zum role giver und das nun wieder ausgeglichene
Kind zum role receiver.
Damit Handeln gut aufeinander abgestimmt werden kann, sollte also ab-
sehbar sein, wie die InteraktionspartnerInnen auf ein bestimmtes Verhalten rea-
gieren werden; es bedarf somit gut etablierter Verhaltensstrukturen, sogenannter
Rollenkonserven. Nichts wäre irritierender als nicht zu wissen, ob auf einen
freundlichen Gruß mit einem ähnlich freundlichen Gegengruß, mit einer stürmi-
schen Umarmung oder mit einer heftigen Beschimpfung geantwortet wird. Sind
die Reaktionen des Gegenübers nicht vorhersehbar oder nachvollziehbar, bedarf
es eines genaueren Analysierens. Dabei muss miteinbezogen werden, dass Rollen
auch einem Interpretationsprozess unterliegen (Krotz 2008). Wie wird die Lage
oder Situation interpretiert, wie könnte diese Lage vom Gegenüber aufgefasst
werden, wie deutet der oder die andere dieses Handeln? Durch gegenseitiges
Einfühlen kann besser nachvollzogen werden, warum die AntagonistIn auf eine
andere Weise reagiert als üblich. Beantwortet der Nachbar einen freundlichen
Gruß mit einer mürrischen Abwendung, kann mit Hilfe eines imaginären Rol-
lenwechsels erkannt werden, dass sein Ärger über das mitternächtliche Trompe-
tenspiel ihn zu dieser Reaktion veranlasste. Solche Zusatzinformationen erleich-
tern das gegenseitige Abstimmen von Verhalten.
5.3 Die Eigenschaften von Rollen 145
6) Die Rolle wird verstanden als eine inter- und intrapersonelle Erfahrung im
Sinne einer wechselseitigen Regulation von Anziehung und Abstoßung
Zwischen Individuen wirkt ein komplexer Prozess, den Moreno als den TeleȬ
Prozess bezeichnet. Dieser reguliert Anziehung und Abstoßung. Zwischen-
menschlich wird dies vor allem mittels Emotionen ausgedrückt, wobei es hier
nicht nur um Sympathie und Antipathie geht. Intrapsychisch werden dadurch
nicht nur Gefühle, wie Angst, Ärger, Freude, sondern auch Impulse, Wünsche,
Zielvorstellungen oder Vermeidungstendenzen wirksam, die Triebfedern unserer
Handlungen darstellen. Diese Formen des psychischen Antriebs haben eine
Spannweite von ungeregelten Impulsen bis zu einem zielgerichteten Streben und
können bewusst oder unbewusst verhaltenssteuernd wirken (Schachtȱ 2003). Die
oben erwähnten Teleprozesse, deren Wechselspiel mittels Emotionen, Handlun-
gen und Impulsen sowie Willens- und Motivationsaspekten seinen Ausdruck
findet, sind vor allem in die angelsächsische Literatur als Konation eingegangen
(Schacht, 2003: 16). Aber nicht nur Gefühlsregungen spielen bei der Regulation
von Anziehung und Abstoßung oder bei soziometrischen Wahlen eine Rolle.
Auch kognitive Aspekte beeinflussen diese Prozesse, wobei die emotionalen
Prozesse meist stärker handlungsleitend sind (Krotzȱ2008).
Der Schüler Timo nimmt sich vor, für den nächsten Mathematiktest intensiv zu ler-
nen, da er, wenn er in diesem Fach zum Jahresabschluss gut benotet würde, von sei-
ner Großmutter ein neues Skateboard geschenkt bekäme. Als er gerade sein Mathema-
tikbuch aufschlägt, hört er, wie sein bester Freund Sebastian mit Laurenz, einem
gleichaltrigen Schulkollegen, laut lachend an seinem Zimmerfenster mit dem Skate-
board vorbeifährt. Bei Timo macht sich ein negatives Gefühl breit. Er hat Angst, dass
Laurenz ihm seinen besten Freund „ausspannen“ könnte und dass die beiden in Zu-
kunft, wenn er zu Hause ist und lernt, viel mehr gemeinsam unternehmen könnten.
Timo schnappt sich sein altes Skateboard und folgt den beiden in Richtung Halfpipe.
heißt dies, dass wir Menschen nicht losgelöst von Raum, Zeit und Kontext han-
deln können, da uns die nötigen Orientierungshilfen, auf die wir unser Handeln
aufbauen können, fehlen würden.
Wie bestimmte Lagen oder Situationen einzuschätzen sind, definieren wir
selbst, wobei uns die Muster, nach welchen wir sie interpretieren, und die Regeln,
nach welchen wir die darauf folgenden Handlungen gestalten, meist nicht bewusst
sind.
Der Rufton eines Handys kann bei ein und derselben Person unterschiedliche Reakti-
onen auslösen: Läutet das Handy während der Vorstellung eines klassischen Konzer-
tes, wird es eine andere Reaktion auslösen, als wenn das Telefon an einem Arbeitstag
im Büro klingelt. Wartet die Person sehnsüchtig auf den Anruf ihres Liebsten, wird
das Erklingen des Ruftons anders interpretiert, als wenn sie vom ständigen Läuten
des Telefons bereits genervt ist, weil sie dadurch immer wieder aus einer Arbeit geris-
sen wird, die Konzentration abverlangt.
WasȱsindȱRollenkonserven?ȱ
Moreno formte den Begriff der Rollenkonserve, worunter etablierte und gefestigte
Verhaltensmuster verstanden werden, und den der kulturellen Konserve, worunter
Brauchtum, Bücher oder Theaterstücke fallen. Obwohl beide essentielle Funktionen
ausfüllen, Orientierungshilfen bieten und das Eingebundensein in ein soziales
System erst gewährleisten, wurden sie von Moreno dem Spontanen und Neuzu-
schöpfenden nachgereiht, da er davon ausging, dass Menschen durch gesellschaft-
liche und kulturelle Vorgaben in ihrer Spontaneität stark eingeschränkt werden.
Aus kritischer Distanz betrachtet sind aber gerade diese Konserven für die Ausbil-
dung von inneren Repräsentationen generalisierter, prototypischer Rolleninterakti-
onen unumgänglich, ohne die ein sinnvolles und adäquates Interagieren mit ande-
ren nicht möglich ist. Im psychodramatischen Spiel wird es aufgrund dieser kollek-
tiven Muster den Hilfs-Ichen ermöglicht, empathisch in die Rolle einer völlig unbe-
kannten Person zu schlüpfen und spontan aus dieser Rolle heraus zu interagieren.
Kastenȱ1: Rollenkonserven
5.3 Die Eigenschaften von Rollen 147
Aus dem oben Beschriebenen geht hervor, dass Rollenkonserven zur Interaktion
mit anderen und zum adäquaten, schnellen Reagieren auf bestimmte Situationen
benötigt werden. Was passiert aber, wenn sich neue Sachlagen bilden, wenn
Probleme entstehen, bei denen die üblicherweise angewendeten Rollenkonserven
nicht zum gewünschten Erfolg führen? Zum Lösen dieser Probleme ist im Sinne
des Psychodramas Spontaneität und Kreativität notwendig.
VerhaltensänderungȱalsȱkreativerȱProzessȱ
Durch Spontaneität und Kreativität können wir Lösungsstrategien für neu ent-
standene Problemlagen oder hemmende Wiederholungsrituale entwickeln und
sie, wenn sie sich als zweckdienlich erweisen, auch etablieren.
Die Sozial- und Lebensberaterin Frau Lindner benutzt täglich die öffentlichen Ver-
kehrsbetriebe Wiens, um in ihre Praxis zu kommen. Vor einiger Zeit streikten in Wien
die MitarbeiterInnen der öffentlichen Verkehrsbetriebe. Dieses Problem der veränder-
ten Ausgangssituation, nämlich dass Frau Lindner nicht auf gewohnte Art und Weise
148 5 Rollentheorie
den Weg von ihrer Wohnung zu ihrer Praxis zurücklegen kann, wird als Starterȱeinesȱ
Erwärmungsprozesses gesehen. Es ist nun notwendig, mithilfe von Spontaneität und
Kreativität für diese neue Situation eine adäquate Lösung zu entwickeln. Dazu muss
das Problem definiert und nach Lösungen gesucht werden. Vorerst werden stabile
Rollenkonserven herangezogen, die vertraut sind. Sie könnte mit einem Auto fahren,
da aber auch viele andere Personen versuchen werden, mit dem Auto zu ihrem Ar-
beitsplatz zu gelangen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu Verkehrsstaus
kommen wird. Da es der Sozial- und Lebensberaterin sehr unangenehm ist, im Stau
zu stehen, kommt für sie diese Möglichkeit nicht in Frage. Die normalen Handlungs-
muster erweisen sich somit als nicht brauchbar, deshalb müssen neue gefunden wer-
den. Sie befindet sich nun in der PhaseȱderȱErwärmung.
Frau Lindner ist eine sehr pflichtbewusste Person, es wäre ihr sehr unangenehm,
wenn sie zu spät käme und ihre KundInnen auf sie warten müssten (a). Sie nimmt
auch an, dass ihre KundInnen von ihr erwarten, dass sie eine Möglichkeit findet, zeit-
gerecht in der Praxis zu erscheinen (b). Das Bild, das sie von einer guten Lebens- und
Sozialberaterin verinnerlicht hat, gibt vor, dass diese Berufsgruppe auch unter
schwierigen Umständen für ihre KundInnen da sein muss (c). Frau Lindner befindet
sich nun in einer Spontaneitätslage. Das bedeutet, dass sie sich in einer Spannungssitua-
tion befindet, in der es höchst angebracht ist, eine Handlung zu setzen. Welche Hand-
lungsmöglichkeiten jetzt in Frage kommen, hängt von ihren Fähigkeiten und den äu-
ßeren Umständen ab. Sie könnte theoretisch zu Fuß in die Praxis gehen, der Weg wäre
dafür aber zu weit. Sie besitzt aber ein Fahrrad. So wählt sie dieses Verkehrsmittel,
um in die Praxis zu kommen. Damit kommt es zu einem statusȱ nascendi. Der status
5.3 Die Eigenschaften von Rollen 149
nascendi schafft einen neuartigen Weg des Problemlösens in Form einer Verhaltens-
änderung oder der Annahme einer neuen Rolle.
Damit eine neue Handlungsstrategie ins Rollenrepertoire aufgenommen werden
kann, muss sie sich als zweckdienlich erweisen, positiv bewertet werden und sich e-
tablieren. Dies geschieht durch positive Rückkoppelungsmechanismen in der kreativenȱ
Phase. Wie ist das bei Frau Lindner? Durch das Benützen des Fahrrads kommt sie
schnell und pünktlich in die Praxis und bekommt zusätzlich noch Anerkennung auf-
grund ihrer Sportlichkeit. Dies veranlasst sie, immer häufiger mit dem Fahrrad zu
fahren, wodurch sich ihre Kondition steigert, was sie sehr begrüßt. Mittlerweile legt
sie den Weg zur Praxis meist mit dem Fahrrad zurück, wodurch dieses neue Rollen-
verhalten zur Rollenkonserve wird.
5.4ȱ StörungenȱundȱBeeinträchtigungenȱimȱZusammenhangȱmitȱRollenȱundȱ
Rollenkonfigurationȱȱ
5.4 Störungen und Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit…
Aus psychodramatischer Sicht ist diejenige Person gesund, die in bestimmten sozia-
len Situationen auf eine passende Rolle aus ihrem soziokulturellen Atom zurück-
greifen oder, wenn nötig, spontan eine neue, passende Rolle entwickeln kann (Vonȱ
Ameln,ȱ Gerstmann,ȱKramerȱ 2005: 218). Ist dies nicht möglich, weil die Person keine
angemessenen Rollenkonfigurationen aktivieren kann oder sie in ihrer Spontaneität
blockiert ist, kann es zu gestörtem Erleben oder Handeln kommen.
Dies kann auf mehreren Ursachen beruhen, wie zum Beispiel auf einem priȬ
märenȱ Rollenmangel, der auf Störungen in der frühkindlichen Entwicklung zu-
rückzuführen ist, oder auf einem sekundärenȱ Rollenmangel, auch Rollenatrophie
genannt. Unter Letztgenanntem wird eine Verringerung des Rollenrepertoires
5.4 Störungen und Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit… 151
verstanden, die dadurch entsteht, dass bereits erworbene Rollen aufgrund be-
stimmter Einflüsse in der bisherigen Form nicht mehr ausgefüllt werden können.
Hierbei wird die pathologische von der physiologischenȱRollenatrophie unterschieden
(Leutzȱ1986).
5.4.1 PrimärerȱRollenmangelȱoderȱRollendefiziteȱ
5.4.2 PathologischeȱRollenatrophienȱ
Das Denken und Handeln von Personen, die an Suchterkrankungen leiden, ist je nach
Stärke der Abhängigkeit auf das Suchtmittel fixiert. Aktivitäten, die nicht mit der
suchterzeugenden Substanz oder dem suchterzeugenden Verhalten in Zusammen-
hang stehen, werden immer mehr vernachlässigt. Besonders gut wird dies im „Kla-
viermodell“ (Koller 1994) veranschaulicht, das in der Suchtprävention gerne eingesetzt
wird: Die Tasten des Klaviers symbolisieren die Möglichkeiten und Ressourcen, die
ein Mensch zur Verfügung hat, um sein Leben zu gestalten und Probleme zu bewälti-
gen. Personen, die von einer Suchterkrankung betroffen sind, schlagen auf diesem
Klavier weniger Tasten und diese dafür häufiger an, als Personen, die nicht an einer
Abhängigkeitsproblematik leiden.
5.4.3 PhysiologischeȱRollenatrophienȱ
5.4.4 Rollenkonflikteȱ
1. Intra-Rollenkonflikt
2. Inter-Rollenkonflikt
3. Person-Rollen-Konflikt
4. Intrapersonaler Rollenkonflikt
5. Interpersonaler Rollenkonflikt
1) Intra-Rollenkonflikt
Unter einem Intra-Rollenkonflikt wird die Diskrepanz zwischen der Rolle, die
eine Person ausübt, den Anforderungen, die diese Rolle an die Person stellt und
dem Wertesystem dieser Person verstanden. Viele Rollen setzen sich ihrerseits
wieder aus (Sub-)Rollen zusammen (Cluster), die von sehr unterschiedlicher
Qualität sein können, und diese Art von Konflikt erzeugen können:
So besteht die Rolle der LehrerIn aus Unterrollen wie der der WissensvermittlerIn, der
Unterstützenden, der AnimateurIn, aber auch der Grenzen Setzenden. Nimmt zum
Beispiel eine LehrerIn die Rolle der Grenzen Setzenden nicht wahr, weil sie auf keinen
Fall als autoritär gelten möchte, wird sie in ihrer Rolle als LehrerIn wahrscheinlich auf
Probleme stoßen.
Rollenanteil Wertehaltung
Abbildungȱ30: Intra-Rollenkonflikt
2) Inter-Rollenkonflikt
Kommt es zu Widersprüchen zwischen unterschiedlichen Rollen eines Indivi-
duums, wird dies als Inter-Rollenkonflikt bezeichnet.
Berufstätige Eltern sind sehr häufig von dieser Form des Rollenkonflikts be-
troffen.
154 5 Rollentheorie
Der Bauingenieur Herr Mader wird immer unruhiger, weil der Abgabetermin eines
wichtigen Auftrages näher rückt und noch einige Dinge ausständig sind. Neben seiner
Rolle als verlässlicher Geschäftspartner möchte er auch seiner Rolle als verantwor-
tungsvoller Elternteil gerecht werden und sein Kind pünktlich vom Kindergarten ab-
holen. Seine Anspannung verstärkt sich.
ȱ
ȱ Eigene Rolle Eigene Rolle
ȱ
Abbildungȱ31: Inter-Rollenkonflikt
3) Person-Rollen-Konfliktȱȱ
Hierunter versteht man Widersprüche zwischen den Rollenerwartungen, die
jemand an sich selbst stellt, und dem, wie sich eine Person tatsächlich verhält.
Martha erwartet von sich selbst, dass sie ihre Interessen selbstbewusst durchsetzt, geht
aber jedem Konflikt aus dem Weg.
Abbildungȱ32: Person-Rollen-Konflikt
4) Intrapersonaler Rollenkonflikt
Dieser Konflikt drückt die Diskrepanz zwischen der eigenen Rollendefinition und
den Erwartungen anderer aus.
Frau Moser wurde zur Leiterin der Einkaufsabteilung einer großen Firma ernannt, in
der sie selbst lange Zeit gleichberechtigt mit anderen MitarbeiterInnen tätig war. In
der Rolle als LeiterIn tritt sie sehr autoritär auf und ahndet disziplinäre Vergehen wie
Zuspätkommen rigoros. Ihre MitarbeiterInnen hätten sich aber gerade von ihr als frü-
herer Kollegin erwartet, dass sie in solchen Situationen mehr Verständnis zeigt und ab
und zu ein Auge zudrückt. Frau Moser ist enttäuscht, dass sie bei ihren MitarbeiterIn-
nen nicht beliebt ist.
5.4 Störungen und Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit… 155
Rollenerwartung an Rollenerwartung
sich selbst anderer
InterȬSenderȬKonfliktȱ
Zu diesem Konflikt kommt es, wenn zwei verschiedene Bezugspersonen unver-
einbare Erwartungen an ein Individuum stellen.
Die Mutter eines Kindes ist nach der Scheidung von ihrem Ehemann eine neue Bezie-
hung eingegangen. Das Kind erwartet sich von der Mutter, dass sie ihr uneinge-
schränkt Aufmerksamkeit schenkt und ihre Freizeit mit ihr verbringt. Der neue Part-
ner der Frau wünscht sich, dass sie mehr in ihrer Rolle als Liebhaberin in Erscheinung
tritt und mehr Zeit für Stunden der Zweisamkeit freihält.
Rollenerwartung anderer
Person
Rollenerwartung anderer
Abbildungȱ34: Inter-Sender-Konflikt
Rollenambiguitätȱ
Darunter werden unpräzise, mehrdeutige und missverständliche Rollenerwar-
tungen an eine Person verstanden. Die RollenträgerIn weiß nicht, welches Verhal-
ten von ihr erwartet wird.
Tobias arbeitet seit zwei Tagen als Zivildiener bei einer sozial-medizinischen Einrich-
tung. Aufgrund des dort vorherrschenden Personalmangels war seine Einschulung sehr
mangelhaft. Ständig eilen MitarbeiterInnen an ihm vorbei, manche sehen ihn dabei er-
wartungsvoll, manche verärgert an, andere wiederum ignorieren ihn. Tobias weiß nun
nicht, ob von ihm erwartet wird, dass er selbstständig irgendwelche Tätigkeiten über-
nimmt oder ob er warten sollte, bis ihm bestimmte Aufgaben zugeteilt werden.
156 5 Rollentheorie
Abbildungȱ35: Rollenambiguität
5) Interpersonaler Rollenkonflikt
Hier kommt es zu einer Kontroverse zwischen zwei Personen und deren unter-
schiedlichen Rollen.
Nachdem ein guter Freund der Familie beim Mountainbiken tödlich verunglückt ist,
zeigt Johanna beim Ausüben von sportlichen Aktivitäten immer häufiger ein ängstli-
ches Verhalten. Mit ihrem Partner, der sehr abenteuerlustig ist und extreme Heraus-
forderungen liebt, kommt es deshalb bei der gemeinsamen sportlichen Freizeitgestal-
tung immer wieder zu Auseinandersetzungen.
5.5 DieȱpsychodramatischeȱDiagnostikȱ
gen umzugehen pflegt. Dabei wird die ganze bio-psycho-soziale Matrix mitein-
bezogen. Deshalb muss laut Burmeister (2004) psychodramatische Diagnostik als
prozessual verstanden werden. Die psychodramatische Diagnostik konzentriert
sich aber nicht nur auf das Individuum, sondern hat auch die Gruppe als Gegens-
tand. Zur Diagnostik einer Gruppe werden soziometrische Verfahren eingesetzt
(siehe auch Kapitel 6 Soziometrie).
Die Instrumente der psychodramatischen Diagnostik auf Einzelpersonen
bezogen sind:
1)ȱAnalyseȱdesȱsozialenȱAtomsȱ
Dazu kann das Sozialeȱ Netzwerkȱ Inventarȱ (SNI), auf das im Kapitel Soziometrie
näher eingegangen wird, eingesetzt werden. Es bietet eine Übersicht über die
subjektiv bedeutsamen Bezugspersonen einer Person zu verschiedenen Zeitpunk-
ten, zum Beispiel vor oder nach einer Erkrankung. Im Psychodrama können diese
interpersonalen Beziehungen szenisch konkretisiert werden. Die Prozesse, die sich
zwischen InteraktionspartnerInnen abspielen, können mittels einer psychodrama-
tischen Aufstellung oder eines psychodramatischen Spiels dargestellt werden,
aber auch innerpsychische Prozesse können zum Beispiel durch die Technik des
inneren Dialogs nach außen transferiert werden. Konflikte und Problemstellungen
innerhalb von Beziehungen und Beziehungsmuster werden dadurch erfasst.
2)ȱAnalyseȱdesȱRollensystemsȱundȱdesȱRollenstatusȱ
Das beobachtbare Rollenverhalten eignet sich besonders gut als Diagnosekriteri-
um, weil die implizite Auswahl von Rollenmustern, also auf welche Art und
Weise welche Handlungen gesetzt werden, Auskunft über die individuelle emo-
tionale Bewertung und die kognitive Einschätzung von Beziehungssituationen
gibt. Rigide Rollenkonserven, auf die immer wieder zurückgegriffen wird, ob-
wohl sie sich nicht mehr als zweckdienlich erweisen, können ebenso entlarvt
werden wie die Triebkräfte oder die Hemmungen, die bewirken, dass eine Spon-
taneitätslage nicht erreicht werden kann, die zu neuen Rollenmustern führen
könnte. Durch Beobachtungen von Rollenverhalten können auch Rückschlüsse
158 5 Rollentheorie
Planspieleȱ
Eine Möglichkeit des Messens von Rollenverhalten sah Moreno (1946) in der Analy-
se der Bewältigung einer gestellten Situation, die mehrere Personen gemeinsam vor
eine Aufgabe stellt, die sie lösen müssen. Moreno ließ dafür sechs Männer von glei-
chem militärischem Rang in einem Wald campieren. Plötzlich beobachteten diese,
wie ein feindlicher Fallschirmspringer landete. Wie sie darauf reagierten, wurde
von einer Jury anhand spezieller Kriterien durchleuchtet: a) Welche Beziehung
entwickelte sich zwischen diesen Männern? Wer übernahm die Initiative, wechsel-
ten sie sich dabei ab? b) Welche Maßnahmen wurden bezüglich der Invasion des
Feindes ergriffen? c) Wie und durch wen wurde diese Aktion abgeschlossen?
Diese Aufgabenstellung ist natürlich vor dem zeitgeschichtlichen Hinter-
grund zu betrachten. Planspiele in anderen Kontexten finden jedoch nach wie vor
ihre mannigfaltigen Einsatzmöglichkeiten.
Ein Team von LehrerInnen wird im Rahmen des Workshops „Soziales Lernen“ in
zwei Gruppen geteilt und aufgefordert, verschieden geartete Aufgaben, die Geschick-
lichkeit, Kreativität und Einfallsreichtum verlangen, gemeinsam in einer vorgegebe-
nen Zeiteinheit zu lösen. In der anschließenden Reflexionsphase wird erörtert, wer
dabei welche Rolle übernahm. Wer ergriff wann die Initiative, wer achtete auf den
zeitlichen Rahmen, wer übernahm wann eine Leitungsfunktion, wer hielt sich beim
Finden von Lösungen eher im Hintergrund? Wie haben sich die LehrerInnen dabei
gefühlt? Entsprach ihr Verhalten dem, wie sie auch in vergleichbaren realen Situatio-
nen agieren würden? Die Informationen, die durch solche Übungen gewonnen wer-
den, beziehen sich auf die Dynamik, die innerhalb der Gruppe herrscht, auf die Fer-
tigkeiten, Ressourcen oder Rollendefizite der ganzen Gruppe wie auch ihrer einzelnen
Mitglieder.
„Standardisierte“ȱRollenspieleȱ
Moreno (1940) entwickelte ein „standardisiertes“ Testverfahren, um zu erkennen,
ob bestimmte Reaktionsweisen seiner KlientInnen der Norm entsprachen oder
nicht. Zur Standardisierung ließ er geschulte Hilfs-Iche bestimmte, alltagsnahe
Situationen nachspielen. Durch soziometrische Wahl wurde ermittelt, welche
Reaktionsvariante die üblichste ist. Diese diente fortan als Richtwert.
Heute werden Verfahren, bei denen standardisierte Situationen herangezo-
gen werden, um zu erkennen, wie eine Person mit bestimmten Problemstellun-
gen verfährt, zum Beispiel in AssessmentȬCentern eingesetzt. Dort müssen sich
KandidatInnen, die sich für eine bestimmte Funktion in einem Unternehmen
5.5 Die psychodramatische Diagnostik 159
bewerben, realitätsnahen Prüfungen unterziehen. Die Art und Weise, wie diese
Aufgaben bewältigt werden, gibt Aufschluss darüber, ob die KandidatIn den
notwendigen Anforderungen entspricht. Dabei werden Übungen verwendet, die
ihren Ursprung im Psychodrama haben. Mittels Rollenspielen, die Kundenre-
klamationen oder einen Konflikt mit einer MitarbeiterIn simulieren, wird er-
kennbar, wie die BewerberIn in stressreichen Situationen reagiert oder über wie
viel Feingefühl oder rhetorisches Geschick sie verfügt. Personen, die Leitungspo-
sitionen anstreben, können in einem derartigen Assessment-Center vor Aufgaben
gestellt werden, die ihre Führungsqualitäten testen. Wie gut kann die KandidatIn
die Problematik erfassen, wie schnell Entscheidungen treffen, wie leicht fällt es
ihr zu delegieren und wie gut behält sie dabei das Ziel im Auge? Auch das Grup-
penverhalten wird in Gruppendiskussionen analysiert: Wie viel Durchsetzungs-
kraft, Kompromissbereitschaft und soziale Kompetenz ist bei der zu beobachten-
den Person zu erkennen?
DasȱRollendiagrammȱȱ
Zur Erstellung eines Rollendiagramms werden die KlientInnen aufgefordert, in die
Mitte eines Blattes einen Kreis zu zeichnen, in den sie ihren Namen schreiben. Um
diesen herum wird wiederum ein Kreis geformt, der in Segmente geteilt wird und
in dem sie die Rollen eintragen können, die sie zu diesem Zeitpunkt ausüben. Im
Anschluss daran wird eine dieser Rollen ausgewählt, die sie genauer unter die
Lupe nehmen möchten oder mit der sie im Konflikt stehen. Nun soll auf die gleiche
Art und Weise ein Innen- und ein Außenkreis gezeichnet werden. Diesmal wird die
zu analysierende Rolle in den Innenkreis geschrieben, im Außenkreis werden die
damit in Verbindung stehenden Subrollen (Dayton 2005) angeordnet.
Falls sich durch das Aufzeichnen des Rollendiagramms bestimmte Proble-
me, Irritationen oder Konflikte mit Subgruppen herauskristallisieren, kann dies
Ausgangspunkt eines psychodramatischen Spiels oder einer Vignette werden.
Durch dieses Arrangement sollen sich die TeilnehmerInnen ihrer Rollen
stärker bewusst werden und verstehen, warum in der Ausführung bestimmter
Rollen Irritationen auftreten.
Kastenȱ2:ȱȱ Rollendiagramm als Diagnose-Verfahren
160 5 Rollentheorie
Abbildungȱ37: Rollendiagramm 1
Abbildungȱ38: Rollendiagramm 2
5.5 Die psychodramatische Diagnostik 161
Rollentrainingȱ
Dabei werden die TeilnehmerInnen unterstützt, die Rollen zu eruieren, bei deren
Übernahme sie noch Übung benötigen oder welche mit Angst oder Unsicherheit
verbunden sind und welche sie gerne auf eine andere Weise leben möchten. Dies
könnte zum Beispiel die Rolle der Durchsetzungsfähigen, der Person, die keine
Drogen mehr konsumiert oder die der hingebungsvollen LiebhaberIn sein.
Im Rahmen eines Gruppenspiels können die TeilnehmerInnen aufgefordert
werden in eine Angst machende Rolle zu schlüpfen und in dieser auf die psycho-
dramatische Bühne zu treten.
Kastenȱ3:ȱ Rollentrainingȱ
RoleȬRatingȱȱ
Beim Role-Rating werden die wichtigsten Rollen, die eine Person derzeit ausübt,
reflektiert. Diese sollen dazu auf einem Blatt Papier aufgelistet werden. Die Teil-
nehmerInnen werden gebeten, sich zu überlegen, ob die Rollen in Balance sind,
welche Rollen dominant sind, welchen Rollen sie gerne mehr Zeit widmen wür-
den und in welcher Rolle sie sich besonders wohl fühlen, ferner welche Rolle sie
gerne hinzufügen würden, wenn dies durch Zauberei möglich wäre, und welche
sie von dieser Liste streichen würden, wenn dies möglich wäre.
Dann werden sie aufgefordert, ein Tortendiagramm zu zeichnen, in dem sie
ihre Rollen einfügen. Die Größe der Tortenstücke entspricht der Zeit, die diese
Rolle in ihrem Leben in Anspruch nimmt. Nun kann eine Rangreihung dieser
Rollen nach bestimmten Kriterien erfolgen, wie etwa dem Grad der Zufriedenheit
oder danach, wie auslaugend oder wie konfliktgeladen eine Rolle ist.
Wie könnte ein ideales Rollendiagramm aussehen, was müsste die Person
verändern, damit sie sich diesem annähern könnte? Natürlich kann dies auch
durch ein psychodramatisches Spiel erfasst werden.
Kastenȱ4: Role-Rating
Rollenveränderungȱ
In unterschiedlichen Lebensphasen sind unterschiedliche Rollen vorherrschend.
Veränderungen der Stärke und Präsenz von Rollen werden oft als belastend er-
lebt, wie zum Beispiel die Rolle der Eltern, wenn die Kinder flügge werden, oder
die Rolle als ErwerbstätigeR, wenn die Pensionierung ins Haus steht.
Zur Bearbeitung dieser Problematik kann wieder ein Rollendiagramm zu Hil-
fe genommen werden. Ein Kreis wird auf einem Blatt Papier platziert, in diesem
wird die Rolle notiert, die in Veränderung begriffen ist. Rundherum werden die
Subrollen geschrieben, die mit dieser in Verbindung stehen. Die Rolle als Erwerbs-
162 5 Rollentheorie
tätigeR kann verbunden sein mit der als geschätzteR MitarbeiterIn, als Erfolgsver-
wöhnteR, als FrühaufsteherIn u. a. m. Die ProtagonistInnen können nun in Dialog
mit den Rollen treten, die durch Hilfs-Iche oder durch Symbole dargestellt werden.
Von welchen Rollen muss sich diese Person verabschieden, welche können an die
neue Situation angepasst werden? Welche Rollenerwartungen hat der oder die
ProtagonstIn an sich als RentnerIn? Welche Rollen sind nun nicht mehr vorhanden,
welche neuen Rollen kommen hinzu, wie können die Lücken ausgefüllt werden?
Kastenȱ5: Diagnose von Rollenveränderungȱ
3)ȱAnalyseȱdesȱSpontaneitätsniveausȱ
Die von Moreno bereits in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelten
psychodramatischen Testverfahren finden auch heute noch in psychodramati-
schen Gruppen Anwendung. Innerhalb dieser wird erkennbar, wie leicht oder
wie schwer es Gruppenmitgliedern fällt, zum Beispiel in der Funktion als Hilfs-
Iche spontan, also unvorbereitet, verschiedene Gefühlszustände darzustellen
(Spontaneitätstest) oder inwieweit Personen zur spontanen unvorbereiteten Dar-
stellung komplexer sozialer Situationen mit unterschiedlichem Anforderungspro-
fil und verschiedenen sozialen Rollenkategorien fähig sind (Burmeisterȱ2004: 97).
Die Analyse der Rollenmatrix, dies ist die Darstellung der Rollen, die eine
Person in einem gewissen Zeitrahmen in einer Gruppe innehatte, kann sowohl als
Diagnosekriterium dienen als auch zur Reflexion anregen: „Welche Rollen habe
ich selbst gewählt, welche Rollen wurden mir in meiner Funktion als Hilfs-Ich
zugewiesen? Von welcher Qualität waren diese Rollen? Gibt es Rollen, für die ich
besonders häufig gewählt wurde? Wie häufig wurde ich als Double oder als An-
tagonistIn ausgesucht?“
Die Bearbeitung der Rollenmatrix gibt somit einen Einblick in die Spontanei-
tät und Rollenflexibilität. Sie gibt auch Auskunft, welchen Status ein Gruppen-
mitglied hat. Bekommt ein Gruppenmitglied häufig die AntagonistInnenrolle
zugeteilt, so kann dies einerseits bedeuten, dass diese Person auch im Gruppen-
gefüge eine Position inne hat, die für Kontroversen sorgt oder andererseits, dass
sie der Gruppe vermittelt hat, dass sie über ausreichende Ressourcen verfügt, um
die mitunter belastenden AntagonistInnenrollen ausfüllen zu können.
Die Rollenmatrix darf nicht losgelöst von der Dynamik gesehen werden, die
innerhalb dieser Gruppe vorherrscht. Die Gruppenzusammensetzung, wie zum
Beispiel der Anteil von Männern und Frauen oder die Anzahl von jüngeren und
älteren TeilnehmerInnen in der Gruppe, das Gruppenthema und die Dynamik
haben Einfluss auf die Wahl von Hilfs-Ichen.
5.5 Die psychodramatische Diagnostik 163
4)ȱDieȱBeziehungȱKlientInȱ–ȱPsychodramaȬLeiterInȱ
Wie sich die therapeutische Beziehung gestaltet, wie sie sich anfühlt und was
durch sie bei den Beteiligten ausgelöst wird, kann Auskunft über die Problemla-
gen der KlientInnen geben. Hilfreich sind dabei Fragen wie: „Mittels welcher Rol-
len präsentiert sich die KlientIn im Rahmen dieser Beziehung, welche rückt sie in
den Vordergrund, welche werden nicht gezeigt? Welche Rollenerwartungen an
die LeiterIn gehen von den KlientInnen aus, welche Gefühle werden dadurch bei
der LeiterIn geweckt?“, aber auch: „In welche Rollen wird die KlientIn aufgrund
des Settings und der Form der Beziehung gebracht?“ Das Psychodrama bietet für
die Auseinandersetzung mit dieser Thematik die Begegnungsbühne an. Die Thera-
peutIn und KlientIn können sich hier im offenen Gespräch über ihre Beziehung
zueinander austauschen (siehe auch Kapitel Techniken: Szenenwechsel).
5)ȱDieȱpsychodramatischeȱDiagnostikȱdesȱStrukturniveausȱ
Auf diese Möglichkeit psychodramatischer Diagnostik wird hier nur kurz einge-
gangen, weil eine genauere Ausführung den Einführungscharakter dieses Buches
übersteigen würde.
ȱ ȱ ȱ
gutȱintegriertȱ mäßigȱintegriertȱ geringȱintegriertȱ
StrukturȬ
Niveauȱ
ȱ ȱ ȱ
alleȱNiveausȱȱȱNiveauȱ 2Ȭ3ȱȱȱNiveauȱ1Ȭ2ȱȱȱNiveauȱ 0Ȭ1ȱȱȱNiveauȱ0ȱ
Kann sich in das Gegen- unter Belastung durch die lich, wenn er eigenen
über als eine eigenstän- eigene Perspektive ver- Bedürfnissen dient. Das
dige Person mit eigenen zerrt. Gegenüber wird nicht
Interessen, Gefühlen, wirklich als eigenständi-
Motiven und Bedürfnis- ge Person wahrgenom-
sen versetzen. men.
Person verfügt bzw. die Defizite, die es ihr erschweren, den Bezug zum eigenen
Selbst oder interpersonelle Beziehungen zu regulieren, beschrieben werden.
Der Grad der Integration dieser Handlungskompetenzen wird in Struktur-
niveaus ausgedrückt. Störungen auf diese Art zu beschreiben hat den Vorteil,
dass psychodramatische Behandlungskonzepte besser auf die Bedürfnisse der
betroffenen Person zugeschnitten werden können.
In diesem Kapitel haben wir uns mit zentralen Grundannahmen des Psychodra-
mas auseinandergesetzt: Menschen handeln in Rollen und können anhand von
Rollen beschrieben und untersucht werden. Aufgrund ihres ständigen Interagie-
rens mit anderen können sie nicht losgelöst von ihrer Umwelt betrachtet werden.
Diese Grundannahmen bilden das Gerüst für weiterführende psychodramatische
Theorien und psychodramatische Techniken. Ähnlich wie bei der Rollentheorie
handelt es sich bei der Soziometrie um ein Konstrukt, ohne das Psychodrama
nicht gedacht werden kann.
Literaturȱ
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5.5 Die psychodramatische Diagnostik 165
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Köln: inScenario
5.5 Die psychodramatische Diagnostik 167
6
6 SoziometrieȱundȱandereȱMethodenȱzurȱ
ErhebungȱsozialerȱFragestellungenȱ
Zusammengesetzt aus Sozius, „der Mitmensch“ und Metrum, „das Maß“, versteht
man unter Soziometrie zunächst einmal die Messung zwischenmenschlicher
Beziehungen. Die Soziometrie im Rahmen des Verfahrens Psychodrama beinhal-
tet jedoch weit mehr: neben der Messung geht es auch um Abbildung und auch
um Intervention. Moreno beschreibt die Soziometrie als Befassung „mitȱdemȱmatheȬ
matischenȱStudiumȱpsychologischerȱEigenschaftenȱderȱBevölkerung,ȱmitȱdenȱexperimenȬ
tellenȱMethodenȱundȱdenȱErgebnissen,ȱdieȱausȱdenȱAnwendungenȱqualitativerȱPrinzipienȱ
resultieren.ȱ Sieȱ beginntȱ ihreȱ Untersuchungȱ mitȱ derȱ Erforschungȱ derȱ Entwicklungȱ undȱ
OrganisationȱderȱGruppeȱundȱderȱStellungȱderȱIndividuenȱinȱihr.ȱEineȱihrerȱHauptaufgaȬ
benȱistȱes,ȱdieȱZahlȱundȱdieȱAusdehnungȱpsychosozialerȱStrömungen,ȱwieȱsieȱinȱderȱBeȬ
völkerungȱ verlaufen,ȱ zuȱ ermitteln“ (Moreno 1996: 28f). Der einzelne Mensch ist im-
mer eingebunden in ein soziales Netz; wenn wir den Einzelnen verstehen und
verändern wollen, ist hierzu der Einbezug seines Umfeldes unabdingbar. Die
Soziometrie war von Moreno als Teil eines Gesamtsystems konzipiert, der SozioȬ
nomie. Unter Sozionomie versteht man die Wissenschaft sozialer Beziehungen
und ihrer Entwicklungsgesetze. Hierzu gehören neben der Soziometrie die Sozi-
odynamik und die Soziatrie. Während letztere, die von Moreno erwünschte Hei-
lung der Gesellschaft, ein Schattendasein fristet und die Soziodynamik in ver-
schiedene andere Verfahren eingegangen ist, wie zum Beispiel in die Gruppen-
dynamik, ist die Soziometrie eine eigenständige Richtung geblieben. Im Verfah-
ren Psychodrama war die Soziometrie lange Zeit das Stiefkind. Im Abstand von
knapp zehn Jahren schreiben Gellert (1996: 346ff) und Pruckner (2004: 161), die
Soziometrie erfahre nicht die Wertschätzung, die sie verdiene. Aber in Zeiten, da
die quantitativen Methoden in der Sozialforschung Zulauf haben, wird auch die
Soziometrie innerhalb des Verfahrens Psychodrama wieder populärer (vgl. auch
Stimmer und Stimmer 2008; Spörrle und Strobel 2007).
168 6 Soziometrie und andere Methoden zur Erhebung sozialer Fragestellungen
Tabelleȱ21: Begriffsklärungen
Welches sind nun die Grundprinzipien, auf denen die Soziometrie fußt?
6.1 SoziometrischeȱGrundprinzipienȱ
„Soziometrie – die Methode der Wahl“ hat Schwehm (1994) zweideutig die So-
ziometrie gekennzeichnet. Sie ist zentral im Verfahren Psychodrama und weist
als wesentliche Kennzeichen die Wahl bzw. Abwahl, die soziale Gravitation, den
soziodynamischen und den soziogenetischen Effekt auf. Im Psychodrama werden
Wahlen als grundlegende Tatsachen oder Tatsachenȱ ersterȱ Ordnung verstanden:
wir können nicht nicht wählen. Jeder Handlung, aber auch jeder Nicht-Handlung,
liegt eine Wahl zugrunde, unabhängig davon, ob den Personen die Wahlen be-
wusst oder nicht bewusst sind. „WahlenȱsindȱgrundlegendeȱFaktorenȱinȱallenȱmenschȬ
lichenȱ Beziehungen.ȱ Wahlenȱ betreffenȱ Menschenȱ oderȱ Gegenstände.ȱ Obȱ dieȱ Motiveȱ demȱ
Wählendenȱbekanntȱsindȱoderȱnicht,ȱistȱvonȱsekundärerȱBedeutung.ȱSieȱsindȱnurȱinȱHinȬ
blickȱaufȱdenȱkulturellenȱoderȱethischenȱIndexȱbedeutungsvoll.ȱEsȱistȱzunächstȱnebensächȬ
lich,ȱobȱsieȱunklarȱoderȱhöchstȱdeutlich,ȱirrationalȱoderȱrationalȱsind.ȱSolangeȱsieȱspontanȱ
undȱechtȱdasȱSelbstȱdesȱWählendenȱzumȱAusdruckȱbringen,ȱbedürfenȱsieȱkeinerȱbesondeȬ
renȱRechtfertigung“ (Moreno 1981: 446f)
Die klassische Soziometrie bezieht sich hier auf eine philosophische Traditi-
on, wie sie am pointiertesten von Sartreȱin seiner Philosophie desȱExistentialismus
beschrieben wird: der Mensch hat die Freiheit, aber auch die Pflicht, zu wählen.
Während die Wahl eine innere Bewegung auf etwas oder jemand hin zum Aus-
druck bringt, beinhaltet der Gegenbegriff Abwahl eine Bewegung von etwas oder
jemandem weg, eine Distanzierung. Diese Anziehungen oder Abstoßungen, bzw.
die neutrale Position dazwischen, zeichnen alle Beziehungen zu einem Gegen-
über aus, seien es Menschen, Tiere oder Gegenstände. Die Soziometrie untersucht
diese Beziehungen anhand bestimmter Kriterien. Je nach Kriterium verändern
sich die Wahlen und die soziometrischen Strukturen.
6.1 Soziometrische Grundprinzipien 169
BeispielȱeinerȱalltagsȬsoziometrischenȱFragestellungȱmitȱWahlenȱundȱAbwahlen:ȱ
Herr Müller arbeitet als Gymnasiallehrer in einem großen Kollegium. Er wird von
seinen KollegInnen häufiger angesprochen, als Zweitkraft Klassen auf ihren Klassen-
fahrten zu begleiten.
Soziometrischeȱ Fragestellungȱ 1ȱ anȱ dasȱ Kollegium: Welchen Ihrer KollegInnen wür-
den Sie am liebsten als BegleiterIn auf eine Klassenfahrt mitnehmen?
Wahl: Die Mehrheit der KollegInnen wählt Herrn Müller zum Kriterium „Mit-
fahrer bei Klassenfahrten“.
Mögliche Hintergründe der Wahlen könnten sein: Herrn Müllers Verantwor-
tungsbewusstsein, seine Autorität bei SchülerInnen oder seine Bereitschaft, sich auch
außerhalb der Unterrichtszeit für die Belange der Schule zu engagieren.
Herr Müller wird aber im selben Kollegium gemieden, wenn es darum geht, zu
einem gemeinsamen Mittagessen zu gehen.
SoziometrischeȱFragestellungȱ2ȱanȱdasȱKollegium:ȱWelche Ihrer KollegInnen würden
Sie am liebsten ansprechen, ob sie zu einem gemeinsamen Mittagessen mitgehen?
Abwahl: Die Mehrheit des Kollegiums wählt Herrn Müller zum Kriterium „ge-
meinsames Mittagessen“ ab.
Mögliche Hintergründe hierfür könnten sein: Herrn Müllers Duz-Freundschaft
mit dem als problematisch erlebten Rektor der Schule und die damit verbundene Sor-
ge, dass Tratsch an die falschen Ohren gelangen könne, Herrn Müllers Abneigung ge-
gen die asiatische und italienische Küche verbunden mit der Tatsache, dass die einzi-
gen beiden zu Fuß erreichbaren Essensmöglichkeiten genau diese Küche vertreten.
BeispielȱfürȱsichȱunterscheidendeȱOberflächenȬȱundȱTiefenstrukturenȱ(vgl.ȱAbb.ȱ39):ȱ
Frau Arndt ist in einer Firma neu als Abteilungsleiterin eingesetzt worden und hat
Frau Ortler zu ihrer Stellvertreterin gemacht. In der Abteilung ist auch Frau Ullmann
beschäftigt, die von den KollegInnen häufig um Rat gefragt wird, wenn Probleme bei
Arbeitsabläufen bestehen, und die auch von der Mehrheit der KollegInnen wegen ih-
rer vermittelnden Art innerhalb der Firmenhierarchie geschätzt wird. Frau Ortler wird
von den KollegInnen eher geschnitten. Die Abteilungsleiterin Frau Arndt wird von
den meisten KollegInnen akzeptiert.
170 6 Soziometrie und andere Methoden zur Erhebung sozialer Fragestellungen
Arndt
Arndt
Ullmann
Ortler
Ullmann Ortler
DieȱsozialeȱGravitationȱ
BeispielȱfürȱeineȱstarkeȱsozialeȱGravitationȱinnerhalbȱeinesȱTeamsȱ
Im Team von Herrn Markwart gibt es viele gegenseitige positive Wahlen. Zwei Drittel
der KollegInnen verstehen sich gut, arbeiten gerne zusammen, gehen gerne mittags ge-
meinsam essen und verabreden sich auch am Wochenende hin und wieder zu gemein-
samen Freizeitaktivitäten wie Mountainbike-Touren oder Schlauchbootfahrten. Die üb-
rigen Teammitglieder werden neutral gesehen, sind aber in den Arbeitsabläufen gut in-
tegriert. In diesem Team besteht eine ausgesprochen hohe soziale Gravitation.
DerȱsoziodynamischeȱEffektȱ
Neben der sozialen Gravitation beschrieb Moreno in seinen Schriften zur Sozio-
metrie den soziodynamischenȱ Effekt. Dieser beinhaltet – vereinfacht gesagt – zum
einen, dass Menschen, die von ihrer Umwelt viele positive Wahlen erhalten, diese
auch dann bekommen, wenn sich die Gruppe, in der gewählt wird, zahlenmäßig
oder stimmenmäßig vergrößert: Stars bleiben Stars. Zum zweiten bedeutet der
soziodynamische Effekt, dass Menschen, die in einem sozialen System isoliert
6.1 Soziometrische Grundprinzipien 171
sind, d.h. viele Abwahlen innerhalb einer Gruppe bekommen, auch beim Wach-
sen dieser Gruppe viele Abwahlen bekommen: Isolierte bleiben Isolierte.
Der soziodynamische Effekt ist von einer deterministischen Grundhaltung
geprägt, die pessimistisch stimmt, was die Entwicklung von Gruppen angeht.
Hat man einmal in einer Gruppe bezüglich eines Kriteriums eine Position, so
scheint sie nach den Untersuchungen Morenos in dieser Gruppe nicht veränder-
bar zu sein. Dies passt eigentlich nicht so recht in das insgesamt kreativitäts- und
veränderungsbetonende Verfahren Psychodrama, hat jedoch zuweilen eine ge-
wisse Evidenz. Wird zum Beispiel ein Schüler in einem Klassenverband als Stre-
ber angesehen, wird er diese Rolle innerhalb der Klasse schwer wieder los, auch
wenn jede SchülerIn statt drei Stimmen in einem neuerlichen Wahlgang fünf
Stimmen zu vergeben hat, und der Streberstatus ändert sich auch dann kaum,
wenn die Klasse um fünf SchülerInnen anwachsen sollte. Stimmer19 beschreibt
jedoch ein Beispiel, bei dem dieser Effekt gerade nicht eintritt: Wenn in einer
Handballmannschaft drei Neue hinzukommen, bleibt der ehemalige Star
manchmal nicht mehr in seiner Position, wenn von den drei Neuen einer besser
ist als der „erste“ Star und damit zum neuen Star aufsteigt. Eifersüchtiges Verhal-
ten des ehemaligen Stars kann sogar dazu führen, dass der ehemalige Star zum
Isolierten in der Mannschaft wird. Möglicherweise hat Moreno mit der Beschrei-
bung des soziodynamischen Effektes zu kurz gegriffen oder seine Sicht ist heute
zu relativieren, da Gruppen- und Gesellschaftsstrukturen allgemein durchlässi-
ger und damit offener für Veränderungen geworden sind20.
DasȱsoziogenetischeȱGesetzȱ
Zu guter Letzt beschäftigt sich die Soziometrie auch mit der Entwicklung von
Gruppen. Moreno beschreibt diese mit seinem soziogenetischenȱ Gesetz. Gruppen
haben nicht nur eine Geschichte, sondern sie unterliegen auch einer Entwicklung.
Moreno ging dabei davon aus, dass sich die Prozesse innerhalb der Gruppe immer
weiter differenzieren. Zunächst haben Gruppen einfache Strukturen, im Laufe
der Entwicklung erreichen sie höhere Organisationsformen, d.h. es differenzieren
sich Rollen innerhalb von Gruppen weiter aus. Am Anfang besteht eine organischeȱ
Isolation der Mitglieder, danach differenziert sich die Gruppe horizontalȱ(Kontakt
knüpfen), zuletzt vertikalȱ (Hierarchiebildung). Diese Entwicklung bezieht sich
nicht nur auf das Gruppenalter, sondern auch auf das Alter der Gruppenmitglie-
6.2 Aktionssoziometrie,ȱSpektogrammeȱundȱSkalenȱ
sich gerade sehr entspannt, hier links die Person, die sich sehr angespannt fühlt.“
Außer den kontinuierlichen Skalen gibt es die Möglichkeit, das Kriterium so zu
wählen, dass das Abbild eine polare Darstellung ist. Ein Beispiel wäre hierfür die
Frage: „Wer von Ihnen hat Kinder?“ In der einfachsten Variante gibt es hier nur
zwei Möglichkeiten, sprich zwei Positionen im Raum: eine für „Ich habe Kinder“,
eine für „Ich habe keine Kinder“.
Hinter scheinbar einfachen, polaren Kriterien können sich jedoch weitere
komplexe Differenzierungen verbergen. Nehmen wir einmal das Kriterium „Kin-
der“ von dem obigen Beispiel. Hier sind viele, biographisch hochsensible, Varian-
ten von „ich habe Kinder“ und „ich habe keine Kinder“ möglich, wie z. B: „Ich
hatte Kinder. Aber jetzt hat sie meine Frau und ich habe sie nicht mehr“ (ein vom
Umgang mit seinen Kindern ausgeschlossener Vater), oder: „Ich hatte ein Kind. Das
ist aber leider gestorben“ (ein verwaister Elternteil), oder: „Ich bin schwanger und
möchte es noch nicht allen erzählen…“. Es gibt Kriterien, die auf den ersten Blick
polar sind, aber bei denen sich innerhalb der polaren Gruppen weitere Differenzie-
rungen zeigen können, die von den TeilnehmerInnen aber nicht gleich in einer
Gruppe veröffentlicht werden, da sie kritische biographische Themen anschneiden.
mir geht es sehr gut … gut … mittel … schlecht mir geht es sehr schlecht
Im Beispiel der Abbildung 42 möchte die gestreifte Figur links oben gerne
ein Protagonistenspiel machen, aber nicht zum Thema Vater, sondern zu einem
anderen Thema, während die karierte Figur rechts außen sich unbedingt mit dem
Thema Vater beschäftigen möchte, und dies auch in Form eines Protagonisten-
spiels.
Protagonistenspiel
Nicht- Vater
Vater
als Gruppe
Kennenlernen sind die Kriterien so zu wählen, dass sie zum einen eine genügend
hohe Trennschärfe aufweisen, also die Individualität betonen und erkennbar
machen, zum anderen aber auch genügend Verbindendes herstellen. Nicht sinn-
voll wären demnach Kriterien, bei denen alle TeilnehmerInnen auf einem Platz
stehen, z.B. nach dem Mittagessen die Frage zu stellen: „Wer ist müde?“ oder vor
einer Prüfung zu fragen: „Wer ist aufgeregt?“; auch Kriterien zu wählen, bei
denen jede TeilnehmerIn an einem anderen Platz für sich allein steht, ist der
Gruppenkohäsion abträglich. Gerade bei Aktionssoziometrien zum Kennenler-
nen sind Kriterien hilfreich, die die Gruppenkohäsion fördern. Nichtlineare Ska-
len und Spektogramme („Wo wohnen Sie?“) sind hier gut geeignet, da sie nicht
so scharf trennen wie polare („Wer hat ein Haustier und wer hat keines?“).
6.3 SozialesȱAtomȱ–ȱkulturellesȱ–ȱsoziokulturellesȱAtomȱ
22 vgl. Moreno (1949): Die Atomtheorie in den Sozialwissenschaften. In: Moreno (1981):
Soziometrie als experimentelle Methode, S. 89
6.3 Soziales Atom – kulturelles – soziokulturelles Atom 177
Begriff Atom, da dieses zu seiner Zeit als die kleinste, unteilbare Einheit angese-
hen wurde. F•r ihn war das soziale Atom demgem‚ƒ die kleinste soziale Einheit,
in der sich das Individuum bewegt. Dem Atomkern entspricht dabei das Indivi-
duum, welches von anderen Individuen umgeben ist. Im sozialen Atom existie-
ren aber nicht nur lebende Personen, es befinden sich darin ebenso Tiere, Gegens-
t‚nde und auch verstorbene Menschen fr•herer Generationen. In der Darstellung
werden folgende Gruppen unterschieden: Im absoluten Zentrum steht die eigene
Person, im Inneren Kern befinden sich die Personen, mit denen Beziehungen un-
terhalten werden, im Äußeren Kern Personen, mit denen Beziehungen gew•nscht
werden. Das Ganze wird umrahmt vom Bekanntschaftsvolumen, also Personen, die
A bekannt sind und im emotionalen Sinne eine Bedeutung haben.
Innerer Kern:
Personen, mit
denen Bezie-
Bekanntschafts- hungen unter-
volumen halten werden
Aus dieser klassischen Form haben sich Sonderformen entwickelt, aus denen im
Folgenden nur einige wenige herausgegriffen werden sollen.
W‚hrend beim klassischen sozialen Atom nach Moreno die eigene Person im
absoluten Mittelpunkt steht, kann in dieser Variante auch damit begonnen wer-
178 6 Soziometrie und andere Methoden zur Erhebung sozialer Fragestellungen
den, die eigene Position auf dem Blatt oder der Bühne frei zu bestimmen, und
danach die anderen Personen entsprechend ihrer Nähe und Distanz zuzuordnen.
eigene
Person
DasȱsozialeȱAtomȱmitȱDarstellungȱderȱBeziehungsqualitätenȱ
Als Erweiterung der grafisch gestalteten sozialen Atome können nicht nur Nähe
und Distanz, sondern auch die Qualität der Beziehungen veranschaulicht wer-
den. Hierfür haben sich verschiedene grafische Darstellungen eingebürgert:
einseitige Anziehung
einseitige Abstoßung
wechselseitige Anziehung
wechselseitige Abstoßung
unterschiedliche Anziehung
bzw. Abstoßung; zwei Darstel-
lungsmöglichkeiten
In dieser Form des sozialen Atoms werden nicht nur die Personen und deren
Nähe und Distanz zur ProtagonistIn auf einem Blatt aufgezeichnet, sondern auch
die Art der Beziehung, die zwischen ihnen besteht. Bei einer Bühnenaufstellung
mit StellvertreterInnen oder Symbolen können die Pfeile durch verschiedenfarbi-
ge Tücher oder Seile ersetzt werden.
DasȱSoziokulturelleȱAtomȱ
Von Stimmer ist diese Variante eines soziometrischen Atoms (2009). Hier werden
sowohl die eigenen Rollen, die eigenen Eigenschaften, Gefühle und Gedanken,
als auch die damit korrespondierenden Personen aufgestellt. Es werden das sozi-
ale und das kulturelle Atom einer Person zusammengefasst. Damit kann die
Komplexität des Interaktionsfeldes Innenwelt – Außenwelt lebendig anschaulich
gemacht werden.
P B
3
C
D 4
ErläuterungȱzuȱAbbildungȱ47:ȱ
In dem soziokulturellen Atom sind die aktuell bedeutsamen Beziehungen eines
Protagonisten (P), Herr Karlson, zu Männern, in diesem Fall vier Personen und
die vier dazugehörigen emotionalen Rollen sowie die Beziehungsqualitäten,
angegeben. In der gepunkteten Ellipse finden sich der 20-jährige Herr Karlson
und seine Rollen (A bis D). Außerhalb der Ellipse sind die vier Personen (1 bis 4)
180 6 Soziometrie und andere Methoden zur Erhebung sozialer Fragestellungen
DasȱProjektȬAtomȱ
TP
SM
BM
E
APL
PM
Org
S Projekt
ErläuterungȱzuȱAbbildungȱ48:ȱ
Durch den Vergleich seines Atoms mit dem anderer Projektmanager fällt dem
Projektmanager (PM) Herrn Weiher in dem Beispiel eine Besonderheit seines
Atoms auf: In seinem Projekt-Atom wird deutlich, dass er der einzige ist, der
Beziehungen zu den anderen Projektbeteiligten (S, E, SM) und den beteiligten
Abteilungen (Org, APL, TP) mit internen MitarbeiterInnen unterhält; zwischen
den anderen dargestellten Projektbeteiligten (BM, E, TP, SM, ASL, Org und S)
existieren wenige Beziehungen. Sein Projekt-Atom ist sternförmig ausgerichtet,
mit ihm im Zentrum. Die gestrichelten Wege stellen unsichere Verbindungen dar.
DasȱFamilienstellenȱoder:ȱdasȱSozialeȱAtomȱderȱFamilieȱ
Auf der gleichen Ebene wie das Projekt-Atom ist das so genannte „Familienstel-
len“ angesiedelt. Seine Definition leitet sich ebenfalls aus seinem Anwendungsbe-
reich ab. Familienmitglieder aus der Herkunfts- und/oder Gegenwartsfamilie
182 6 Soziometrie und andere Methoden zur Erhebung sozialer Fragestellungen
DasȱNetzwerkȱCoachingȱSystemȱ(NCS)ȱ
Eine der neuesten Entwicklungen zum Thema soziales Atom ist das von Stimmerȱ
undȱStimmer (2008) entwickelte NetzwerkȱCoachingȱSystem. Am Computer werden
Beziehungs- und Rollennetzwerke visualisiert. Die Psychodrama-Bühne wird
entweder auf den Bildschirm oder per Beamer auf die Wand projiziert; soziale
und kulturelle Atome werden so bearbeitbar. Wie bei den gezeichneten oder
gestalteten sozialen Atomen können die Computerdarstellungen sowohl zur
Analyse als auch für Veränderungsprozesse genutzt werden. Ist- und Wunsch-,
bzw. Soll-Zustände können verglichen werden, Zeitreihenanalysen erstellt und
verschiedene Paar- und Teamkonstellationen jeweils zueinander in Beziehung
gesetzt werden.
Die dabei sichtbar gemachten Netzwerke werden auch bei der Situations-
analyse und einer möglichen Evaluation in Problemlösungsprozessen in der
Beratung und der Therapie verwendet.
MöglicheȱFragestellungenȱzuȱdenȱverschiedenenȱAtomenȱ
Neben den nahe liegenden Fragen zu den Atomen, wie „Was fällt mir auf?“, „Was
erstaunt mich?“, „Was gefällt mir nicht?“ und „Was möchte ich verändern?“, die
bereits viel Veränderungsimpulse beim Zeichner setzen, hat Soppa (2001: 171f)
eine Liste von möglichen Fragestellungen aufgelistet, mit denen soziale und an-
dere Atome betrachtet werden können:
BetrachtungȱeinesȱeinzelnenȱAtomsȱ
Wer ist die Person?
Wo lebt die Person?
Welche Bedeutung hat die Person für dich?
Was macht die Beziehungsqualität aus?
Was bedeutet die Lage und Größe deines eigenen Symbols für dich?
Welchen Raum hast du in deinem sozialen Atom?
Zu welchen Personen geht deine Energie?
Welche Konstellation(en) würdest du gerne verändern?
Gibt es Personen, an die du gedacht, aber sie nicht gezeichnet hast?
Gibt es eine erkennbare Balance in deinem Atom?
Was fällt dir an den Konstellationen deines Bildes auf?
Wie wirkt es als Bild?
Gibt es eine Überschrift?
Werden mehrere (soziale) Atome verglichen, wie es zum Beispiel mit dem NCS
möglich ist, kann man sich fragen, was ähnlich ist, was gleich geblieben ist und
was sich verändert hat. Wenn Personen fokussiert werden: Welche Personen sind
geblieben, welche sind nicht mehr im Atom, welche Beziehungen sind gleich
geblieben, welche haben sich verändert und in welche Richtung?
6.4 DerȱSoziometrischeȱTest,ȱderȱPerzeptionstestȱundȱdasȱSoziogrammȱ
Das soziale Atom hat das Individuum als Zentrum; der im Folgenden vorgestellte
soziometrischeȱTest fokussiert eine Gruppe von Individuen. Mithilfe eines soziomet-
rischen Tests werden die Tiefenstrukturen einer Gruppe in Bezug auf ein bestimm-
tes Kriterium deutlich. „Soziometrischeȱ Testsȱ zeigenȱ aufȱ dramatischeȱ undȱ exakteȱ Weise,ȱ
dassȱ jedeȱ Gruppeȱ unterȱ ihrerȱ oberflächlichen,ȱ greifbaren,ȱ sichtbaren,ȱ ablesbarenȱ Strukturȱ
eineȱzugrundeȱliegende,ȱnichtȱgreifbare,ȱunsichtbare,ȱinoffizielleȱ Strukturȱ besitzt,ȱ dieȱallerȬ
dingsȱlebendiger,ȱwirklicherȱundȱdynamischerȱistȱalsȱdieȱerste“ (Moreno 1981: 169). Diese
Tiefenstruktur soll sicht- und damit handhabbar gemacht werden, mit dem Ziel,
den Zusammenhalt der Gruppe und deren Produktivität zu steigern.
Für die Durchführung des Tests wird zunächst von der LeiterIn oder der
Gruppe als Ganzer ein Kriterium vorgeschlagen und festgelegt. Zum Beispiel
könnte sich ein Team, das vor die Aufgabe gestellt ist, in verschiedenen Projekten
zusammenzuarbeiten, das Kriterium wählen: „Mit wem arbeite ich am produk-
tivsten zusammen?“ Alle Gruppenmitglieder erhalten nun die gleiche Anzahl
von Stimmen und wählen dann, geheim oder offen, innerhalb der Gruppe durch
184 6 Soziometrie und andere Methoden zur Erhebung sozialer Fragestellungen
Verteilung ihrer Stimmen, wem sie für das Kriterium „produktivste Zusammen-
arbeit“ die meisten, die zweitmeisten etc. Stimmen geben möchten. Es gibt dabei
zwei Vorgehensweisen: entweder es werden nur positive Stimmen vergeben
(positive Rangreihen für die Plätze eins bis drei) oder es werden positive und
negative („Mit wem ist meine Zusammenarbeit am wenigsten produktiv?“) Wah-
len abgegeben (positive und negative Rangreihen, jeweils Plätze eins bis drei).
Eine Besonderheit kann noch in den Ablauf eingebaut werden: der Perzeptionstest.
Hierbei werden die TeilnehmerInnen gebeten, sich Gedanken zu machen, vom
wem sie denken, dass sie positive und negative Stimmen erhalten.
Nach der Auswertung anhand verschiedener Fragestellungen (siehe Tabelle
23) werden Tabellen (siehe Tabellen 24 und 25) und Soziogramme (siehe Abbildung
49) erstellt, die die Ergebnisse grafisch veranschaulichen. Anschließend erfolgt die
Besprechung der Ergebnisse, die den größten Teil des soziometrischen Tests ein-
nimmt.
Entscheidend bei der Auswertung ist nicht nur die Offenlegung der abgegebenen
Stimmen. Dies allein bringt zwar eine starke Dynamik in die Gruppe, aber ent-
scheidender ist die Erläuterung der Motive der WählerInnen und die subjektive
Bedeutung, die das Ergebnis für die Gewählten hat: erst dadurch entstehen kon-
struktive Veränderungsimpulse in der Gruppe und in den Einzelnen. Die Effekti-
vität eines soziometrischen Tests wird damit von zwei Faktoren bestimmt: zum
einen von der Wahl eines geeigneten Kriteriums, also von einer passenden Frage-
stellung für die Wahl, und zum anderen von der adäquaten Besprechung der
6.4 Der Soziometrische Test, der Perzeptionstest und das Soziogramm 185
Alexȱ Dani Else Gabi Gerd Kevin Max Mara Maren Paul Werner
Alexȱ 2.1 1.1 0.1 0.1 0.2 -3.2 3.2 -2.-1 -1.-3 0.1
Dani 1.2 2.0 -1.-1 3.0 -2.1 -3.0 0.3
Else 1.1 0.2 -3.0 0.2 0.1 -2.0 2.1 -1.-2 3.2
Gabi 1.0 0.-3 -2.0 2.0 3.2 -3.0 -1.0
Gerd 1.0 -1.-1 2.0 0.-2 3.-2 -3.-1 0.-1 -2.0 0.-3
Kevin 2.0 1.0 0.2 -2.3 -3.3 0.3 -1.0 0.3 3.2
Max 2.-3 0.-2 -1.-3 3.-3 1.0 -3.0 -2.-1 0.-1
Mara 2.3 0.3 1.2 -1.0 3.0 0.1 -2.-2 -3.-2
Maren -1.-2 1.-2 -2.-1 2.3 0.-2 0.-1 0.-3 -3.1 3.0
Paul -3.-1 0.-3 2.3 0.-3 3.0 -1.-2 -2.-2 1.-3
Werner 1.0 3.0 0.-1 -3.0 2.3 -1.0 -2.-3 0.3
Al Da El Ga Ge Ke Max Mar Maren Pa We
Die Zahl vor dem Punkt ist jeweils die abgegebene Wahl, die Zahl nach dem Punkt die erhalȬ
tene Wahl.
Tabelleȱ24: Beispielwahlen in einem soziometrischen Test als Tabelle
ErläuterungȱzuȱdenȱTabellenȱ24ȱundȱ25ȱ
Alex wählte in diesem Beispiel Else auf Platz 1, Dani auf Platz 2 und Mara auf
Platz 3. Umgekehrt wurde Alex von Dani, Else, Gabi, Gerd und Werner auf Platz 1
gewählt (die entsprechenden Zahlen sind in der Tabelle 24 fett und größer ge-
druckt). Alex hat Paul, Maren und Max in dieser Reihenfolge abgewählt. Insge-
samt hat Alex acht positive Wahlen bekommen, und ist damit in Bezug auf dieses
Kriterium der Star in der Gruppe, da sie die meisten positiven (8) und wenige
negative (2) Wahlen bekommen hat (Fettdruck in Tabelle 25). Dreimal hat sie
jemand positiv gewählt und wurde gleichzeitig von dieser Person positiv gewählt
(Dani, Else und Mara), zweimal hat sie Personen negativ gewählt, von denen sie
auch negativ gewählt wurde (Maren und Paul). Einmal hat sie jemand negativ
(Max) gewählt und wurde gleichzeitig von ihm positiv gewählt. Diese letzte Situ-
ation erfordert am dringendsten eine Klärung, da sie für beide Seiten eher irritie-
rend erlebt werden kann (grau hinterlegt in Tabelle 24).
Im Beispiel der Tabelle 24 könnte Alex gedacht haben, dass Gabi sie als erste
Wahl nimmt, was auch tatsächlich der Fall ist. Alex hätte damit eine sehr gute
Wahrnehmung von Gabi in Bezug auf die eigene Person. Wenn hingegen Gerd
gedacht hat, Kevin habe ihn positiv gewählt oder maximal nicht gewählt, hätte er
eine schlechte Wahrnehmung von Kevin in Bezug auf die eigene Person, da dieser
in als zweite Abwahl genommen hat.
Das Soziogramm ist die grafische Darstellung sozialer bzw. soziometrischer Er-
hebungen. Es wird gezeichnet wie ein dezentrales soziales Atom, wobei die Wah-
len, also die positiven und negativen Stimmen, mit Pfeilen zwischen den Personen-
symbolen dargestellt werden. Soll die Rangreihe der Wahlen ebenfalls anschaulich
gemacht werden, werden diese Pfeile mit Nummern versehen (1 für erste Wahl, 2
für die zweite Wahl, usw., bzw. -1 für die erste Abwahl usw.). Moreno nannte das
Soziogramm die „psychologische Geographie einer Gemeinschaft“ (1981: 42). In der
rechten Spalte der folgenden Grafik stehen die Gesamtsummen der positiven Wah-
len für die betreffende Zeile.
Alex 8
Else Kevin 6
Mara 4
Dani 3
Werner Maren 2
Paul Gabi 1
Gerd Max 0
Literaturȱ
7
7 AnwendungsfelderȱoderȱFormateȱ
7.1 Behandlungȱ
Unter Behandlung wird im Allgemeinen das Format Psychotherapie und die me-
dizinische Rehabilitation (Suchthilfe und Psychosomatik) verstanden. In beiden
Fällen ist das Psychodrama ein gängiges Verfahren und zwar sowohl im Einzel-
setting als auch in der Gruppe und im stationären Bereich wie auch im ambulan-
ten. Gängig bedeutet in diesem Fall, dass das Psychodrama auf diesen Gebieten
angewandt wird, und dass einige Kostenträger in Deutschland (v.a. im Feld der
Rehabilitation) auch die Kosten für die Behandlung tragen. In Österreich werden
die Kosten für Psychodramatherapie ohnehin unter bestimmten Voraussetzungen
und mit bestimmten Kontingenten von den Krankenkassen bezahlt.
Kellermann liefert für das psychotherapeutische Psychodrama, worunter im
Folgenden auch die Rehabilitation gefasst sein soll, eine umfassende Definition:
„Psychodrama ist eine Psychotherapiemethode, bei der Klienten ermutigt werden, ih-
re Handlungen durch Dramatisierung, Rollenspiel und dramatischem Selbstausdruck
fortzusetzen und zu vervollständigen. Dabei kommt sowohl verbale als auch nonver-
bale Kommunikation zum Einsatz. Eine Reihe von Szenen werden im Hier und Jetzt
gespielt oder dargestellt, zum Beispiel: Erinnerungen spezifischer Erlebnisse in der
Vergangenheit, unvollendete Situationen, innere Dramen, Phantasien, Träume, Vor-
192 7 Anwendungsfelder oder Formate
von einem dysfunktionalen (Burmeister 2009). Auch Leutz (1974: 158ff) zieht die
Rollentheorie für die Beschreibung von Störungen heran, wenn sie von RollenȬ
mangelsyndromen oder Rollenatrophien spricht (hierzu Näheres im Kapitel 5 zur
Rollentheorie).
In dem folgenden fiktiven Beispiel sollen die verschiedenen therapeutischen
Herangehensweisen des Psychodramas prototypisch veranschaulicht werden.
Selbstverständlich gibt es zwischen den Unterschieden im Vorgehen auch Ge-
meinsamkeiten. Das Beispiel würde so auch nicht in der therapeutischen Realität
stattfinden, einer KlientIn würden niemals vier TherapeutInnen gegenüberste-
hen. Die Namen geben nur Tendenzhinweise auf den Hintergrund der therapeu-
tischen Ausrichtung ähnlich klingender PsychodramatikerInnen wieder; die
skizzierten Vorgehensweisen bieten die Gelegenheit, vier sich ergänzende Stile
kennenzulernen.
FallbeispielȱPsychodramaȬTherapie:ȱ
Frau Gleich kommt mit einer depressiven Symptomatik in eine Psychodrama-Therapiegruppe.
Sie berichtet den vier anwesenden TherapeutInnen Burmeisterus,ȱKrügerix,ȱLeutzia und SchachȬ
tix und der Gruppe, dass sie seit ca. einem Jahr Probleme beim Durchschlafen habe, sich ge-
drückt fühle; auch habe sie keinen Antrieb und keinen Appetit. Sie sei nun 44 Jahre alt, ihre
zwei Töchter (Mara 20 und Katharina 17 Jahre) hätten letztes Jahr ihre Schulausbildungen
beendet; Mara würde nun in einer anderen Stadt Jura studieren, Katharina eine Lehre als
Raumausstatterin machen. Für die Lehrzeit wolle sie noch bei ihr wohnen bleiben. Die Tren-
nung von ihrem Mann liege nun fünf Jahre zurück. Im letzten Jahr habe sie zweimal eine
kurze Affäre gehabt, es sei jedoch leider nichts Ernstes daraus geworden. Die Technologiefir-
ma, für die sie arbeite, habe letztes Jahr die Insolvenz nur knapp abwenden können, dies aber
um den Preis, dass vielen Kolleginnen gekündigt wurde. Ihr eigener Arbeitsplatz sei nicht in
Gefahr gewesen, aber zwei ihrer Mitarbeiterinnen hätten gehen müssen. Auf Nachfrage eines
Gruppenmitglieds erzählt sie, dass sie bei all den Turbulenzen stetig vor sich hin gearbeitet
habe ohne groß nach rechts und links zu schauen. Nachdem sie vor ein paar Monaten plötz-
lich starke Kopf- und Rückenschmerzen bekommen habe, die über einen längeren Zeitraum
nicht weggingen, sei sie zum Hausarzt gegangen. Er habe ihr zu einer Therapie geraten, da ihr
körperlicher Befund unauffällig gewesen sei.
Krügerix eröffnet den Reigen therapeutischer Interventionen: „Frau Gleich, ich würde Ihnen
vorschlagen, dass Sie uns Ihre Situation einmal hier auf der Bühne zeigen. Ich würde gerne
damit anfangen, dass Sie aus dem Kreis der Gruppenmitglieder Menschen wählen, die die
Rollen, die Sie genannt haben, besetzen können. Da waren einmal Ihre beiden Töchter Mara
und Katharina, dann Ihr Exmann, dann die beiden Männer, die Sie im letzten Jahr kennen-
gelernt haben, dann die Kolleginnen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, aber auch Ihr
mangelnder Antrieb und ihr geringer Appetit, sowie Ihre Kopf- und Rückenschmerzen. Wir
194 7 Anwendungsfelder oder Formate
fangen damit an, dass Sie zunächst einen Platz für sich selbst auf der Bühne wählen und
danach den anderen RollenspielerInnen ihren Platz zuweisen. Es soll hier Ihre Seelenland-
schaft zu sehen sein.“
Frau Gleich stimmt dem Vorgehen zu, und es entsteht eine Szene, bei der die erwähnten
Menschen relativ weit entfernt von ihr stehen, während die körperliche Symptomatik sich
wie ein enger Ring um ihre Position schließt.
Krügerix: „Frau Gleich, können Sie einmal sagen, wie Sie sich an Ihrer Position inmitten Ihrer
Seelenlandschaft fühlen?“
Frau Gleich: „Ja, so ist mein Leben, aber … ich weiß nicht, wie es mir geht. Ich funktioniere
einfach.“
Krügerix: „Darf ich Sie hier einmal doppeln? Ich habe so eine Vorstellung, wie es Ihnen
gehen könnte.“
Frau Gleich: „Ja.“
Krügerix (an der Position von Frau Gleich) doppelt: „Mir tut alles weh, die Sorgen drücken
mich. Ich bin mir nicht sicher, wie es mit meiner Arbeit weitergeht. Ich bin traurig, dass
immer mehr Menschen aus meinem Leben verschwinden; erst mein Mann, dann meine
ältere Tochter, dann die Kolleginnen.“
Frau Gleich: „Ja, das stimmt. Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch Angst, dass ich meine
Arbeit noch verlieren könnte.“
Leutzia (übernimmt das Doppeln an dieser Stelle): „Ich habe Angst zu erleben, dass immer
mehr Menschen aus meinem Umfeld verschwinden. Ich habe immer weniger Kontakte und
meine Versuche, Kontakte zu neuen Menschen aufzunehmen, gelingen auch nicht so, wie
ich es mir wünsche.“
Frau Gleich (emotional jetzt sehr berührt): „Ja, meine größte Sorge ist, dass ich einmal ganz
alleine dastehe. Früher war ich so ein geselliger Mensch.“
Leutzia: „Ich möchte ihn vorschlagen, dass Sie einmal Ihr soziales Atom mit den Gruppen-
mitgliedern aufstellen, und zwar zunächst so, wie es früher war, als es Ihnen gut gegangen
ist, und danach so, wie es heute ist.“
Frau Gleich stellt nacheinander die beiden sozialen Atome auf. Das erste ist relativ umfang-
reich, mit unterschiedlichsten Kontakten, das zweite ähnlich der Seelenlandschaft.
Leutzia: „Heute haben Sie Angst, dass Sie am Ende ganz alleine dastehen.“ (Signalisiert den
anderen MitspielerInnen, die Bühne zu verlassen): „Jetzt sind Sie ganz alleine, wie alt füh-
len Sie sich jetzt?“
Frau Gleich: „Wie ein kleines Kind.“
Burmeisterus übernimmt an dieser Stelle: „Mir fällt auf, dass hier Bewältigungsrollen für
Ihre neue Situation fehlen. Wer könnte hier hilfreich sein?“
Frau Gleich: „Naja, als Kind wäre es gut gewesen, wenn meine Mama gekommen wäre.
Heute würde ich mir eine tröstende und eine zuversichtliche, anpackende Freundin an der
Seite wünschen, die mich aus dem Sumpf herauszieht.“
Burmeisterus: „Können Sie bitte einmal zwei MitspielerInnen auswählen, die diese Rollen
verkörpern.“ (Nachdem Frau Gleich diese gewählt und hinter bzw. neben sich aufgestellt
7.1 Behandlung 195
hat) „Spüren Sie jetzt einmal, wie sich das anfühlt, wenn die beiden bei Ihnen sind, hören
Sie mal die Botschaften, die diese Ihnen sagen.“
Frau Gleich wirkt nun entspannter.
Leutzia doppelt: „Ja, das fühlt sich jetzt schon viel besser an.“
Krügerix: „Können Sie mal bitte mit der Zuversichtlich-Anpackenden die Rolle tauschen?“
(Frau Gleich macht dies; danach Krügerix zu Frau Gleich in der Rolle der Z.-A.) „Jetzt spre-
chen Sie mal zu Ihrer Freundin Frau Gleich.“
Frau Gleich in der Rolle der Z.-A. spricht kraftvoll, aber zugewandt davon, dass sie jetzt
zusammen das Problem des Alleinseins anpacken werden.
Schachtix übernimmt an dieser Stelle: „Hm ja, die Frage des Alleinseins hat mich an Ihrer
Thematik angesprochen. Ich habe mich beim Betrachten Ihrer Situation gefragt, wie es
kommt, dass früher ja alles ganz gut geklappt hat. Sie waren ein kreativer und erfolgreicher
Mensch, Sie haben manche Schwellen gemeistert, es lief alles ganz gut in Ihrem Leben. Sie
scheinen einen starken Willen zu haben und ein gutes Durchsetzungsvermögen, sonst
hätten Sie sich in der aktuellen Firmensituation wahrscheinlich ja nicht halten können. Mich
würde daher besonders der Aspekt interessieren, dass Sie sagen, die beiden neuen Bekannt-
schaften hätten zu nichts Ernstem geführt: Können Sie mir mal beschreiben, wie Sie sich
dieses Ernste genau vorstellen? Wie soll eine gute Beziehung oder noch früher, wie soll ein
gutes Kennenlernen eines möglichen Partners für Sie aussehen?“
Frau Gleich beschreibt eine romantische Begegnung mit einem Mann, der zugleich sehr
einfühlsam ist, aber auch sehr genau weiß, was er will. Sie wünscht sich, dass er ihre Frei-
zeitinteressen teilt, aber auch gut Zeit für sich allein verbringen kann. Schließlich sollte er
ein gewisses Einkommen haben und das Wichtigste, er sollte keine negativen Beziehungser-
fahrungen gemacht haben.
Schachtix lässt Frau Gleich eine Person für den Traummann wählen und die Szene einrich-
ten. Nachdem Frau Gleich eine Zeit lang die Szene der romantischen Begegnung mit ihrem
Traummann genossen hat, bittet Schachtix Frau Gleich einmal die Rolle mit dem Traum-
mann zu tauschen.
Frau Gleich bemerkt, wie überfordernd die Rolle ist; sie könne unmöglich alle Anforderun-
gen erfüllen: „Am liebsten wäre mir eine unbeschwerte Beziehung. Das ist mir alles zu
perfekt, was ich hier als Anspruch spüre.“
Schachtix zu Frau Gleich (wieder zurück in ihrer eigenen Rolle): „Ich treffe immer wieder auf
das Phänomen, dass Menschen sich ihre Ziele und die Ansprüche an Andere zu hoch ste-
cken; ich nenne das nach perfektenȱZielen streben. Kann es sein, dass es sich in Ihrem Fall mit
den Partnern auch so verhält? Und wie ist es bei Ihrer Arbeit? Sind Sie dort sehr ehrgeizig?“
Frau Gleich: „Na klar, ich will immer perfekt sein. Und die Anderen sollen das natürlich
auch sein. Aber jetzt als Traummann habe ich zum ersten Mal die Anstrengung dabei ge-
spürt. Ich habe ja einen starken Willen, aber immer mal wieder geht mir die Kraft aus.“
Leutzia doppelt: „Und gerade merke ich, dass …“
Frau Gleich: „…ich die blöde Anstrengung nicht mehr möchte. Wozu eigentlich immer
perfekt sein?!“
Morenopterix meldet sich aus dem Off: „Wir müssen Meister des Imperfekten werden!“
196 7 Anwendungsfelder oder Formate
Im Psychodrama wird gestörtes Erleben und Handeln als ein Versuch gesehen,
mit einer Problematik so gut wie in diesem Moment möglich umzugehen. Dies
stellt somit eine Anpassungsleistung an eine zu diesem Zeitpunkt nicht anders zu
bewältigende Lebensbedingung dar. Ebenso wie bei gesundem Erleben und Ver-
halten verläuft diese Anpassungsleistung über die Zyklen der Spontaneität und
Kreativität. Das Modell hierfür wurde weiter oben bereits vorgestellt. Die Ent-
wicklung einer Störung, aber auch die Art der Störung, hängt davon ab, welche
Belastungen eine Person während einer Entwicklung erlebt und welche Ressour-
cen einer Person zu Verfügung stehen, diese zu bewältigen. Bei der Verankerung
dieser Störung spielen zwei Kräfte eine Rolle: die Motivation, die zu dieser An-
passungsleistung geführt hat, und die selbstverstärkenden Rückkopplungen.
In der störungsspezifischen psychodramatischen Therapie muss laut Schacht
diesen beiden Aspekten Rechnung getragen werden. So müssen beim Finden
möglicher Ausstiegsszenarien zum einen die Beweggründe, die dazu geführt
haben (zum Beispiel das Streben nach perfekten Zielen) und die Stärke, mit der
diese Motive handlungsleitend sind (Volitionsstärke), zum anderen die vorhan-
denen Rückkopplungsmechanismen miteinbezogen werden.
Abbildungȱ50: Störungsdynamik
7.1 Behandlung 197
Krüger geht davon aus, dass die Rollentheorie zur vollständigen Erfassung inner-
psychischer Vorgänge nicht ausreicht. Deshalb ergänzt er das rollenzentrierte
Psychodrama mit der von ihm entwickelten Theorie des kreativitäts- oder pro-
zessorientierten Psychodramas. Dieses bezieht psychodramatische Techniken
und deren Relation zu Selbstorganisationsprozessen, bzw. deren Blockaden und
Abwehrmechanismen ein (siehe Abbildung Anhang 2).
Er konstatiert bei den verschiedenen Krankheitsbildern eine Blockade des
kreativen Selbstorganisationsprozesses auf unterschiedlichen Funktionsebenen
(Systemorganisation, Realitätsorganisation, Kausalitätsorganisation und Finali-
tätsorganisation). So zeigt er, dass zum Beispiel bei Psychosen, Suchterkrankun-
gen oder Traumatisierungen der Bereich der Systemorganisation gestört ist. Bei
dem störungsorientierten therapeutischen Vorgehen kommen, abgestimmt auf
die jeweilige diagnostizierte Problematik, entsprechende spezifisch psychodra-
matische Techniken zur Anwendung. Die TherapeutIn unterstützt bei Bedarf als
Mithandelnde die ProtagonistIn beim Gestalten der eigenen Rolle, hilft salutoge-
nes Verhalten zu entwickeln und kann durch das Zur-Verfügung-Stellen des
eigenen, gesunden Repertoires an Handlungen, Gefühlen und Gedanken stellver-
tretend Blockaden lösen und der PatientIn helfen, wieder ihre Grundbedürfnisse
nach Zugehörigkeit, Handeln, Wirkung und Lösung zu verwirklichen.
Wir möchten nun noch einen Aspekt aus dem Bereich der Metatheorie herausgrei-
fen. Dazu wollen wir versuchen, das Psychodrama als Therapieverfahren entspre-
chend seiner philosophischen Grundlagen in einem Koordinatensystem von The-
rapieverfahren zu verorten. Es sollen hierzu drei Achsen vorgestellt werden: eine
Achse „Psychodynamische Therapie“, eine „Verhaltenstherapie“ und eine dritte
„Systemische Therapie“. Die klassische Zuordnung des Psychodramas zu den
humanistischen Therapieformen, wie sie in jüngster Zeit Eberwein (2009) wieder
vorgeschlagen hat, ist historisch und in Fragen des Menschenbildes sicherlich
richtig, differenziert jedoch durch den weiten Begriff des Humanismus an dieser
Stelle nicht ausreichend. Schacht (2009) sieht das Psychodrama als komplett eigen-
ständiges Verfahren, was in seiner Herleitung auch seine Berechtigung hat, aber
die historischen Entwicklungswege und Berührungspunkte vernachlässigt.
198 7 Anwendungsfelder oder Formate
Verhaltensorientierung, Training,
Lösungsorientierung
Systemorientierung
Psychodynamische und
hermeneutische Orientierung
Abbildungȱ51: Koordinatensystem
7.2 Beratungȱ
Beratung ist ein noch weiterer Begriff als Behandlung. In jüngster Zeit wird des-
halb, ähnlich wie bereits in den Jahren zuvor für das Format Psychotherapie, der
Versuch unternommen, Beratung zu definieren. In Deutschland hat sich die DeutȬ
scheȱGesellschaftȱfürȱBeratungȱ(DGfB) konstituiert, die versucht, dieses Meta-Format
in seinen verschiedenen Ausprägungen zu erfassen und zu vertreten. Für das
Verfahren Psychodrama hat Buer (2007: 152) eine Beratungslandkarte entworfen,
wo er den Oberbegriff in die Teilgebiete auffächerte:
FallbeispielȱSuchtberatungȱinȱderȱGruppe:ȱ
Herr Bald berichtet in der Suchthilfe-Gruppe von seiner zurückliegenden Zeit, als er regel-
mäßig getrunken hat. Der Psychodrama-Therapeut Herr Stein bittet Herrn Bald zu beschrei-
ben, wie sich die Situation gegenwärtig für ihn darstelle.
Herr Bald erzählt, dass er seit vier Monaten wieder einen neuen Arbeitsplatz habe. Er
arbeite in einem Team mit drei anderen KollegInnen; seinen Teamleiter empfinde er als
unterstützend, aber eine Kollegin würde ihn immer provozieren. Getrunken habe er schon
lange nicht mehr, sehe sich da auch nicht gefährdet. An den Wochenenden sehe er manch-
mal seinen Sohn Andreas, der jetzt 7 Jahre alt sei.
Herr Stein: „Können Sie bitte mal mit Hilfe der Gruppenmitglieder zeigen, wie Ihr
Umfeld aussieht?“
Herr Bald stellt sich selbst etwa einen Meter entfernt vom Rand der Bühne hin, den
Teamleiter leicht versetzt links in seinem Rücken, daneben die anderen KollegInnen.
Die Kollegin, von der er sich provoziert fühlt, steht an seiner linken Seite und blickt
ihn an. Auf der rechten Seite, in größerem Abstand, steht sein Sohn Andreas, der ihn
ebenfalls anblickt.
Herr Stein: „Können Sie jetzt bitte den Alkohol noch dazu stellen?“
Herr Bald wählt ein anderes Gruppenmitglied als Alkohol und stellt diesen ebenfalls
ein wenig widerwillig hinter sich an den äußersten Rand.
7.2 Beratung 201
Herr Stein: „Wenn Sie jetzt einmal die provozierende Kollegin anschauen, passiert
dann etwas mit dem Alkohol? Ändert er seine Position?“
Über mehrere Rollentausche mit der provozierenden Kollegin, dem Alkohol und dem
Teamleiter kommt Herr Bald zu der Erkenntnis, dass der unausgesprochene Konflikt
mit der Kollegin Rückfallimpulse in ihm triggert. Er möchte deshalb um ein Dreierge-
spräch mit der Kollegin, dem Teamleiter und ihm selbst ersuchen, damit er wieder ent-
spannter an seinem Arbeitsplatz sein kann. Im Rollenfeedback berichtet das Gruppen-
mitglied, welches den Alkohol verkörpert hat, dass er immer dann Macht über Herrn
Bald empfunden habe, wenn die Kollegin ihn von der Seite fixiert habe. Mehrere Grup-
penmitglieder gaben Herrn Bald ein Sharing, dass sie ebenfalls solche Situationen aus
ihrer Arbeit kennen und sich besonders in der Probezeit unter Druck gefühlt hätten.
Am Beispiel der Suchtberatung wird deutlich, wie durch die Besetzung der Rolle
des Suchtmittels wertvolle Informationen gewonnen werden können.
FallbeispielȱfürȱConsultingȱimȱEinzelsetting:ȱ
Herr Sedlmair kommt zur Schuldnerberatung, um mithilfe einer Expertin seine finanzielle
Situation zu klären. Nachdem er in jungen Jahren eine größere Erbschaft gemacht hatte,
konnte er sich einen höheren Lebensstandard leisten, als er durch sein Einkommen hätte
erwirtschaften können. Er tätigte ein paar umfangreichere Anschaffungen wie ein eigenes
Haus, ein großes Auto und teure Urlaube. Das Haus finanzierte er zum Teil über ein Darle-
hen, das Auto über einen Leasingvertrag. Er kam zur Schuldnerberaterin, nachdem er
zuerst seinen Job und im Rahmen eines Börsencrashs sein gesamtes Vermögen verloren
hatte und die Raten für das Auto und die Wohnung nicht mehr bezahlen konnte. Ein kurz-
fristig aufgenommener Kredit brachte sein persönliches Wirtschaften durcheinander. Er
suchte bei der Schuldnerberaterin einen Expertenrat, wie er sein akutes Problem der fälli-
gen Kredit- und Kaufraten, die ihn immer weiter in die roten Zahlen trieben, lösen könne.
Fragen wie Folgenabwägung und Entscheidungsfindung standen an, für die er dringend
Unterstützung brauchte.
Die Schuldnerberaterin ließ Herrn Sedlmaier die verschiedenen Posten von Ein- und
Ausgängen auf der Tischbühne mit unterschiedlich großen Holzklötzen aufbauen und
versah die Symbole mit Post-Its, auf denen sie die jeweiligen Minus- und Plusbeträge no-
tierte. Es folgte eine Priorisierung: die Symbole der dringenden Angelegenheiten lagen
danach auf der Bühne näher bei ihm, die weniger dringenden weiter hinten. Anschließend
erarbeitete sie zusammen mit Herrn Sedlmaier die nächsten zwei Schritte für die jeweiligen
Problemfelder, die in den jeweiligen Fragen zu unternehmen waren. Auf Karteikarten
notiert wurden sie neben den Symbolen abgelegt. Am Schluss wurde ein Abschlussbild
erstellt, das Herr Sedlmaier mit nach Hause bekam, um bis zum nächsten Mal die entspre-
chenden Schritte in den Alltag umzusetzen.
Psychodramatisches Consulting wird szenisch dargestellt; dadurch prägen sich die
wichtigen Schritte beim Klienten besser ein.
202 7 Anwendungsfelder oder Formate
CoachingȱundȱSupervisionȱ
7.3 Bildungȱ
Das Format Bildung beinhaltet wie bereits bei den anderen Formaten zu sehen
war diverse Subformate. Diese leiten sich ab aus dem Kontext, in dem Bildung
vermittelt wird. Zu nennen sind hier Schul-und Hochschulbildung, die Erwach-
senenbildung, Fort- und Weiterbildungen, aber auch so spezifische Bildungsan-
gebote wie das Bibliodrama beinhaltet. Unter den deutschsprachigen Psycho-
dramatikerInnen haben sich in neuerer Zeit vor allem Wittinger (2000) und
Szczyrba (2006) mit dem Thema Bildung beschäftigt.
Das Psychodrama wird dabei einerseits als didaktische Methode eingesetzt,
das heißt, Inhalte können mithilfe von Psychodramatechniken vermittelt werden.
LehrerInnen setzen im Schulunterricht zum Beispiel die Technik des Doppelns ein,
um Wissenslücken von SchülerInnen in unterstützender, nicht beschämender Wei-
se zu füllen. Auch im Sprachunterricht der Erwachsenenbildung kommt das Dop-
peln zum Einsatz. In der Hochschulausbildung mancher Fachgebiete wird das
Wissen in psychodramatisch-szenischer Form an die StudentInnen weitergegeben,
wodurch sich die vermittelten Inhalte besser einprägen. Daneben gibt es die Mög-
lichkeit, gemalte Bilder oder innere Bilder im Szenenaufbau anderen zu zeigen, z.B.
zum Thema Angst oder Geborgenheit, oder auch inhaltlich orientiert z.B. im Religi-
onsunterricht zum Thema „Reich Gottes“, im Ethikunterricht beim Thema „Jugend
und Gewalt“ zu Rollenwechseln in verschiedene Positionen einzuladen und deren
Bedeutung von innen heraus zu erkunden; moralische Fragestellungen einer Per-
son im Ambivalenzdoppel zu explorieren, Stegreifspiele zu gesellschaftlichen Frage-
stellungen durchzuführen. Auch im Bereich Schule und Erwachsenenbildung fast
alle Techniken möglich, die weiter vorne beschrieben waren.
In manchen Studienfächern wie zum Beispiel der Sozialpädagogik oder der
Medizin werden Rollenspiele eingesetzt, um die Studentinnen besser auf den
Berufsalltag vorzubereiten. Im Bereich der Fort- und Weiterbildung für therapeu-
tische und sozialarbeiterische Berufe ist das Rollenspiel eine Standardkomponen-
te geworden. Auch im Rahmen innerbetrieblicher Fortbildungsmaßnahmen, wie
zum Beispiel Verkaufsschulungen für AußendienstmitarbeiterInnen, ist die sze-
nische Darstellung nicht mehr wegzudenken. Hierzu gehört auch das anschlie-
ßende Rollenfeedback der MitspielerInnen, damit die potentiellen VerkäuferIn-
nen etwas darüber erfahren, wie ihre Präsentation bei den potentiellen KundIn-
nen angekommen ist.
Eine Sonderform bildet das Bibliodrama (Stangier 1997). Unter den Arbeits-
formen war bereits von diesem die Rede. Wenn das Bibliodrama unter dem For-
mat Bildung eingesetzt wird, geht es um einen dynamischen Prozess des Leben-
digwerdenlassen biblischer Texte in der Beziehung zwischen dem historischen
204 7 Anwendungsfelder oder Formate
Text und dem heutigen Leben und den Erfahrungen der SpielerInnen. Es geht
damit nicht allein um die Weitergabe von Wissen, also kulturellen Konserven,
sondern zentral wird die Schnittstelle zwischen Text und Leben, das Wiederfin-
den eigener Erfahrungen im Text oder die Bereicherung von Erfahrungen in der
Rolle für das eigene Leben, das Entwickeln von Wertesystemen und die Bereit-
schaft, sich auf moralische Fragestellungen einzulassen. Im Fall des Bibliodramas
handelt es sich um eine Spezialform psychodramatischen Vorgehens, ähnlich
dem Märchenspiel, bei dem der Inhalt durch einen Text klar definiert ist.
7.4 Selbsterfahrungȱ
7.5 PsychodramaȱohneȱGruppeȱ
DieȱRolleȱderȱLeiterInȱȱ
DieȱRaumgestaltungȱ
Ablaufȱ
GestaltungȱderȱErwärmungsphaseȱ
Vielfach kommen die KlientInnen bereits mit einem bestimmten Anliegen zur
psychodramatischen Einzelsitzung. Ist dies nicht der Fall, können auf Einzelper-
sonen abgestimmte Arrangements zur Erwärmung herangezogen werden. Durch
diese und die aus der Reflexion der Geschehnisse auf der Begegnungsbühne
gewonnenen Informationen wird – wie auch in der Gruppe – das Thema heraus-
gefiltert, der Auftrag fixiert, Hypothesen erfasst und das passende Arrangement
gewählt.
GestaltungȱderȱAktionsphaseȱ
Diese ist im Vergleich zu Gruppensitzungen meist etwas kürzer, da die Spielpha-
se für die ProtagonistIn ohnehin länger ist durch die Tatsache, dass sie alle beleb-
ten Rollen selbst spielen muss. Manchmal kommen in psychodramatischen Ein-
zelsitzungen nur bestimmte Elemente aus dem Repertoire psychodramatischer
Arrangements zur Anwendung, wie zum Beispiel die Technik des leerenȱStuhls.
Der Coach Herr Brand stellt einen leeren Stuhl neben Frau Schmidt, die auf-
grund von Schwierigkeiten beim Wiedereinstieg nach der Karenz die Unterstüt-
zung von Herrn Brand in Anspruch nimmt.
Herr Brand: „Stellen Sie sich vor, Ihre Kollegin würde auf diesem Stuhl sitzen. Was
würde sie zu der von Ihnen geschilderten Situation sagen? Frau Schmidt, würden Sie
sich bitte mal auf diesen Stuhl setzen ...“
7.5 Psychodrama ohne Gruppe 207
Wird die Methode des Monodramas herangezogen, wird am Anfang der Akti-
onsphase, vergleichbar mit dem protagonistInnenzentrierten Psychodrama, sym-
bolisch die Bühne eröffnet, indem zum Beispiel der Tisch zur Tischbühne um-
funktioniert oder ein bestimmter Bereich im Praxisraum dafür festgelegt wird.
Statt Hilfs-Ichen werden Gegenstände als Platzhalter für die Rollen anderer Per-
sonen, Rollenanteile oder Gefühle gewählt. Im Gegensatz zum protagonistInnen-
zentrierten Psychodrama spielt die ProtagonistIn alle Rollen selbst, indem sie
ständig zwischen ihnen hin und her wechselt. Dadurch entsteht im Vergleich zur
oben beschriebenen Methode eine stärkere Erlebnisdichte (VonȱAmeln,ȱGerstmann,ȱ
Kramer 2005: 91).
Dora, eine junge Klientin, die an Magersucht leidet, kämpft mit inneren An-
teilen, die bewirken, dass sie an dieser Erkrankung festhält, und anderen Instan-
zen, die sich sehnlichst einen Ausstieg aus dieser wünschen. In der Erwärmungs-
phase wird vereinbart, diesen inneren Konflikt auf der monodramatischen Bühne
darzustellen. Nun werden für die in dieser Inszenierung nötigen Rollen passende
Hilfsobjekte gewählt.
TherapeutIn: „Welcher Gegenstand könnte für deine Angst stehen, dick zu werden,
welcher für deinen Wunsch, endlich an etwas anderes als an Essen denken zu kön-
nen?“
„Positioniere diese Gegenstände nun so, wie sich das in dir drinnen anfühlt.“
„Such dir nun bitte auch einen Gegenstand, der dich als Person repräsentieren könnte.“
Für die Angst, dick zu werden, wählt sie einen kugelförmigen Stein, für den Wunsch,
auch an etwas anderes als an Essen denken zu können, eine Filzblume.
den Fluss der Szene nicht zu unterbrechen und die Begegnung aufrechtzuerhal-
ten (vgl. ErlacherȬFarkasȱundȱJorda 1996).
Dora in der Rolle der Angst,ȱdickȱzuȱwerden spricht zu sich selbst: „Wenn ich da nach-
gäbe, das wäre eine Katastrophe. Wenn ich nicht ständig darauf achtete, dass du dich
nicht in Situationen begibst, in denen du fressen kannst, wärst du schon ein Koloss!“
Dora wechselt in eine andere Rolle ihres kulturellen Atoms, in die Position des Wun-
sches, endlich wieder auf Partys gehen zu können.
Therapeutin wiederholt den Satz der Angstȱvon Dora: „Ich muss ständig auf dich auf-
passen, sonst wärst du schon ein Koloss!“
Für ErlacherȬFarkas (1996) ist es von großer Bedeutung, dass die KlientIn die
Rückstellung der Hilfsobjekte selbst übernimmt, sie entrollt dabei die Gegenstän-
de und bringt sich selbst in die Hier-und-Jetzt-Realität des Praxisraums zurück.
Integrationsphaseȱ
Da der Nachbesprechung im Monodrama ein ganz besonderer Stellenwert zu-
kommt, die KlientIn muss sich nämlich das Rollenfeedback aus den verschiede-
nen Rollen selbst erarbeiten, sollte für sie ein längerer Zeitraum eingeplant wer-
den. Im Rollenfeedback berichtet die Klientin aus den verschiedenen Positionen,
wie auch aus der eigenen, was sie in den jeweiligen Rollen wahrgenommen hat.
Die Begründung, warum welcher Gegenstand gewählt wurde (RollenwahlbegrünȬ
dung), kann einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bieten. Das Sharing erfolgt
durch die Leiterin. Wie bereits betont, sollte dies nur therapeutischen Zwecken
dienen und nicht der eigenen Erleichterung.
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210 7 Anwendungsfelder oder Formate
8
8 DasȱPsychodramaȱundȱandereȱ
psychotherapeutischeȱVerfahrenȱ
8.1 DasȱPsychodramaȱundȱdieȱpsychodynamischenȱVerfahrenȱ
DieȱPsychoanalyseȱ
Psychoanalyse bedeutet – vom Griechischen ins Deutsche übersetzt – die Zerlegung
der Seele. Sie ist ein Verfahren, das vom in Mähren geborenen Neurologen Sigmund
Freud um 1890 zur Erkundung psychischer Prozesse ins Leben gerufen wurde. Ei-
nerseits wird dieser Begriff zur Beschreibung und Erklärung psychischer Phänome-
ne rund um das menschliche Denken, Fühlen und Handeln verwendet. Auf der
anderen Seite steht er für eine psychotherapeutische Methode, die die Lösung inne-
rer oder zwischenmenschlicher Konflikte durch das Erkennen von oft unbewussten
Dynamiken und Zusammenhängen zum Ziel hat. Als solche zählt die Psychoanalyse
zu den aufdeckenden Verfahren, die durch das Verständnis für diese Prozesse zu
einer Veränderung der Erlebnis-, Denk- und Beziehungsfähigkeit führen soll. In der
klassischen Psychoanalyse liegen die zu Analysierenden meist auf der Couch, sie
erzählen über Ereignisse und Gedanken in Form des sogenannten freien Assoziie-
rens, indem sie das verbalisieren, was sie derzeit beschäftigt. Die TherapeutIn nimmt
mit der Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit die Aussagen der Analy-
sandInnen auf und deutet diese. Techniken, die dabei zur Anwendung kommen,
sind zum Beispiel die Bearbeitung von Übertragungsphänomenen oder die Traum-
deutung. Solche Sitzungen finden über mehrere Jahre hinweg in der Regel drei- bis
maximal fünfmal pro Woche statt. Heute können auch analytische Kurzzeitthera-
pien, die eine wesentlich geringere Dauer (zehn bis 50 Sitzungen) haben oder psy-
choanalytische Psychotherapien, mit einer Sitzungsfrequenz von ein bis zwei Stun-
den pro Woche, in Anspruch genommen werden (Kriz 2007).
Kastenȱ8:ȱȱ Psychoanalyse
212 8 Das Psychodrama und andere psychotherapeutische Verfahren
VerbindendesȱundȱTrennendesȱinȱTheorieȱundȱMethodeȱ
dern mehr Beziehungsmuster aus der Kindheit der PatientInnen spiegeln. Diese
Gefühlsregungen werden als Übertragung bezeichnet und bieten, der psychoana-
lytischen Theorie folgend, häufig Einblick in die Grundstörung der AnalysandIn-
nen. Moreno nutzte die Gruppe um derartige Phänomene offen zu legen; in sei-
nem 1946 (zit. n. Hutter 2010) verfassten Werk Psychodrama legte Moreno – um
Übertragungsphänomene und Teleprozesse zu umschiffen – den LeiterInnen
nahe, den größtmöglichen Abstand zu den ProtagonistInnen einzuhalten und
deren Bedürfnis nach Nähe durch Hilfs-Iche stillen zu lassen. In einem anderen
Aufsatz (1957b zit. n. Hutter 2010) betonte er, dass die LeiterIn im Sozialgefüge
einer Gruppe keine abstinente Haltung einnehmen darf, sondern in den jeweili-
gen Begegnungen als Person sichtbar sein müsse. Übertragung definierte er „als
pathologische Form des zugrundeliegenden Teleprozesses“ (Buerȱ&ȱSchmitz 1989:
135). In der heute gängigen psychodramatischen Theorie wird die Übertragung
als unbewusste Aktivierung einer Rolle aus der Vergangenheit definiert, die mit
der gegenwärtigen Rolle in einem Rollencluster verbunden ist. Dieses Phänomen
sollte aber nicht speziell zwischen LeiterIn und KlientIn forciert werden, sondern
durch „Umleitung“ auf Hilfs-Iche in der Gruppe bearbeitbar gemacht werden.
Die Techniken des Rollenspiels, des Rollenfeedbacks, des Sharings und der Pro-
zessanalyse bieten die Möglichkeit, Übertragungen sichtbar und damit auch
veränderbar zu machen (VonȱAmeln,ȱGerstmann,ȱKramer 2005).
Bei den SchülerInnen Freuds, die eigene Schulen entwickelten, gibt es – me-
thodisch und mitunter vom Weltbild her gesehen – deutlichere Berührungspunk-
te mit dem Psychodrama. Adlers Positionspsychologie, mit der er den Einfluss der
Stellung in einem Beziehungsgeflecht erforschte, kann in ihren Grundgedanken
mit MorenosȱSoziometrie verglichen werden (Yablonsky 1989). Die Jung´sche Defi-
nition der Libido ist dem Kreativitäts- und Spontaneitäts-Konzept Morenos nicht
unähnlich und Ferenczi baute Rollenspiele in seine Behandlungen ein (Buerȱ &ȱ
Schmitz 1989).
Seine negative Einstellung zur klassischen Psychoanalyse änderte Moreno
1944. Er selbst schlug eine Verbindung von psychodramatischen Methoden und
der psychoanalytischen Theorie vor (Vonȱ Ameln,ȱ Gerstmann,ȱ Kramer 2005). Diese
Idee wurde von den BegründerInnen des Analytischenȱ Psychodramas,ȱ wie dem
Ehepaarȱ Limoineȱ oderȱ Sergeȱ Leboviciȱ (Anzieuȱ 1984) aufgegriffen. Sie versuchen
durch psychodramatische Techniken Prozesse in Gang zu setzen, die Ausgangs-
lagen für psychoanalytische Deutungen werden können. Im analytischen Psy-
chodrama wählt die Gruppe ohne vorhergehende Erwärmung ein Thema. Die
TeilnehmerInnen suchen sich ihre Rollen selbst und teilen auch der Gruppenlei-
terIn eine Rolle zu. Damit wird sie zur AkteurIn im Rollenspiel, wobei sie nicht
ihren eigenen Impulsen folgt, sondern nach den Wünschen der Gruppe handelt,
214 8 Das Psychodrama und andere psychotherapeutische Verfahren
wodurch die LeiterIn dem analytischen Abstinenzgebot Folge leisten kann. Das
Agieren im Rollenspiel wird als eine Form des freien Assoziierens gesehen, das
von der Gruppe gewählte Thema und die Rollenzuweisung an die LeiterIn wer-
den als Basalübertragungen betrachtet. Zur psychoanalytischen Deutung dieser
Phänomene wird die Nachbesprechung genutzt (Ruhs 1994). Nicht nur analyti-
sche PsychodramatikerInnen, sondern auch manche VertreterInnen des klassi-
schen Psychodramas nach Moreno greifen zur Erklärung bestimmter Phänomene
auf die psychoanalytische Terminologie und deren theoretische Modelle zurück,
wie zum Beispiel Krüger.
Eine weitere tiefenpsychologische Methode, die auch die Vorzüge eines
Gruppensettings nutzt, ist die analytischeȱ Gruppentherapie. Wie im Psychodrama
wird im Hier und Jetzt gearbeitet, Konflikte und Problemstellungen werden mit
und durch die Gruppe reinszeniert und gelöst und sie wird auch als Großgrup-
penmethode eingesetzt. Unterschiede gibt es, abgesehen vom theoretischen Un-
terbau, in der Vorgehensweise: Die analytische GruppentherapeutIn bringt keine
Themen ein, zeigt wenig von sich selbst als Person und greift kaum ins Gruppen-
geschehen ein um Übertragungsprozesse zu ermöglichen. Sie ermutigt die Teil-
nehmerInnen spontan, in Form des freien Assoziierens Gedanken, Gefühle, Wün-
sche und Träume in die Gruppe einzubringen. Dadurch soll verdrängtes, unbe-
wusstes Material und Übertragungen für die TeilnehmerInnen zugänglich ge-
macht werden (Morschitzkyȱ2007).
8.2 DasȱPsychodramaȱundȱdieȱVerhaltenstherapieȱ
DieȱVerhaltenstherapieȱ
Die Verhaltenstherapie ist eine Methode die traditioneller Weise ihre Konzepte
und Techniken auf Erkenntnissen der empirischen Psychologie aufbaut. Den
Ausgangspunkt bot das lerntheoretische Konzept der 1930er-Jahre, das von der
Annahme ausging, dass die meisten psychischen Problematiken erlernt und des-
halb mit Hilfe von systematisch angewandten Interventionsmethoden auch wie-
der verlernt werden können. Die daraus resultierenden verhaltenstherapeuti-
schen Techniken entstanden aber erst Jahre später. Aus der Kritik, dass diese
behavioristischen Ansätze bestimmte Aspekte der menschlichen Natur, wie Ge-
fühle oder Gedankengänge außer Acht ließen, kam es in den 60er- und 70er-
Jahren des letzten Jahrhunderts zur „kognitiven Wende“. Durch diese gewannen
Kognitionen und Emotionen bei den Erklärungsmodellen der Genese von Stö-
rungen an Einfluss. In den 1980er-Jahren wurde das verhaltenstherapeutische
Modell um sozialpsychologische Aspekte erweitert. In den letzten Jahren ver-
8.2 Das Psychodrama und die Verhaltenstherapie 215
Kastenȱ9: Verhaltenstherapieȱ
VerbindendesȱundȱTrennendesȱinȱTheorieȱundȱMethodeȱ
Vergleichen wir die Anfänge der Verhaltenstherapie mit den Ursprüngen des Psy-
chodramas, ungeachtet dessen, dass sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu datie-
ren sind, ist als Gemeinsamkeit hervorzuheben, dass sich beide Verfahren als Ge-
genkonzept zur Psychoanalyse sahen. Viel mehr Parallelen sind vorerst nicht zu
erkennen, da die Verhaltenstherapie den Menschen als ein Wesen sah, dessen Ver-
halten rein auf lerntheoretische Prinzipien zurückzuführen ist. Aus der Sicht des
Psychodramas hingegen lässt sich menschliches Verhalten aus den eingenomme-
nen Rollen und den Rollenerwartungen herleiten. Zur Annäherung der beiden
Verfahren kam es nach der „kognitiven Wende“. Diese Anknüpfungspunkte sind
vor allem konzeptueller Natur. So wird auf der Basis der Faktoren, die zur Störung
führten bzw. diese aufrechterhalten, versucht einen Zuwachs an Handlungs- bzw.
Rollenkompetenzen zu erreichen, die einen Weg aus der Störung bahnen sollen.
Dies erfolgt durch den Einsatz methodenspezifischer Techniken.
In der Verhaltenstherapie wird mit ähnlichen Wirkmechanismen wie in be-
stimmten Bereichen des Psychodramas gearbeitet, wie zum Beispiel mit ModelllerȬ
nen, das auf den Erkenntnissen von Banduraȱ (1969 zit. n.ȱ Krizȱ 2007) beruht. Das
Konzept besagt, dass nicht nur durch positive oder negative Verstärkung gelernt
wird, sondern auch durch Beobachtung von Handlungen anderer. Besonders wirk-
sam ist diese Methode, wenn die nachzuahmende Person anwesend ist und nicht
nur über einen Bildschirm beobachtet wird, wenn die Person die zu vollführende
Handlung nicht sofort perfekt beherrscht, wenn ein positiver Kontext vorhanden ist
und wenn die Person dieses Verhalten im Anschluss gleich selbst erproben kann
(Kriz 2007: 132). Diese Form des Lernens kommt auch im Psychodrama zum Ein-
satz. Durch das Beobachten und Miterleben eines statusȱnascendi, in dem eine Per-
216 8 Das Psychodrama und andere psychotherapeutische Verfahren
son zum ersten Mal einen neuen Lösungsansatz erprobt, können auch die anderen
GruppenteilnehmerInnen neue Erfahrungen sammeln, die sie wiederum im realen
Leben umsetzen können. Durch den Einsatz psychodramatischer Arrangements,
wie zum Beispiel einem Gruppenspiel, ist das Einüben dieser neuen Verhaltenmus-
ter möglich. Auch für die ProtagonistIn kann Lernen durch das Beobachten anderer
hilfreich bei der Beantwortung ihrer eigenen Fragestellung sein. Hierfür werden im
Psychodrama DoppelgängerInnen eingesetzt, die der ProtagonistIn alternative
Vorgehensweisen vorzeigen können. Im Anschluss können die Handlungsalterna-
tiven von der ProtagonistIn eingeübt werden.
Das psychodramatische Repertoire an Arrangements und Techniken bietet
vielfältige Möglichkeiten, um soziale Kompetenzen zu erlernen oder neu erwor-
bene Fertigkeiten zu trainieren. So haben sich einige dieser Methoden, wie das
Rollenspiel, auch in der Verhaltenstherapie etabliert, selten wird allerdings auf
deren Ursprünge hingewiesen.
Divergenzen zwischen der Verhaltenstherapie und dem Psychodrama lassen
sich insbesondere im Einsatz von Intuition ausmachen. Die Verhaltenstherapie
stützt sich bei der Wahl ihrer Techniken auf evidenzbasierte Studien; intuitives
Vorgehen wird als unwissenschaftlich angesehen. Im Psychodrama werden in
den seltensten Fällen standardisierte Ablaufschemata verwendet und die Leite-
rInnen orientieren sich bis zu einem gewissen Ausmaß am Prozess der Protago-
nistInnen und werden darin durch ihre Intuition, Spontaneität und Kreativität
unterstützt.
8.3 DasȱPsychodramaȱundȱandereȱhumanistischeȱVerfahrenȱ
DieȱGestalttherapieȱ
Die Gestalttherapie ist eine hermeneutisch-phänomenologisch orientierte Metho-
de, was bedeutet, dass Menschen so, wie sie sich zeigen, mit all ihren sichtbaren
Phänomenen, wie Sprache, Mimik oder Körperhaltung erfasst und angenommen
werden. Sie gilt als erlebnisaktivierende und ganzheitliche Methode. Die Grund-
lagen dieses Verfahrens beruhen auf den Ideen und Theorien von FrederickȱSaloȬ
monȱPerlsȱund LauraȱPerls,ȱbeide ausgebildete PsychoanalytikerInnen, PaulȱGoodȬ
mansȱund den Erkenntnissen der Gestaltpsychologie. Ein bedeutender Eckpfeiler
des gestalttherapeutischen Verständnisses ist die Annahme, dass Organismen
dazu tendieren im Austausch mit ihrer Umwelt ein inneres Gleichgewicht zu
erreichen, was als organismischeȱ Selbstregulation bezeichnet wird (Boeckh 2006).
Charakteristische Interventionsmethoden sind „der leere Stuhl“, der Einsatz
kreativer Medien, wie Ton, Malen oder die Arbeit mit Symbolen. Durch die
Technik des Gewahrseins (awareness) werden die KlientInnen darin geschult, mit
der Umwelt und den Befindlichkeiten im ständigen Kontakt zu bleiben (Perls,ȱ
Hefferline,ȱGoodmann 2007). Das Ziel der Gestalttherapie ist es „offene Gestalten“,
wie ungeklärte Konflikte, zu schließen und ein inneres Gleichgewicht herzustel-
len. Die Weiterentwicklung soll gefördert werden, indem Blockaden gelöst und
lebendige Potentiale der Persönlichkeit freigelegt werden (Boeckhȱ2006).
Kastenȱ10: Gestalttherapieȱ
DieȱGesprächspsychotherapieȱoderȱPersonenzentrierteȱPsychotherapieȱ
In Deutschland ist sie unter dem Namen Gesprächspsychotherapie bekannt, in
Österreich und in der Schweiz ist die Bezeichnung Personenzentrierte Psychothe-
rapie geläufiger. Carlȱ Rogers wird als ihr geistiger Vater betrachtet. Wie andere
humanistische Verfahren wird sie stark vom philosophischen Gedankengut KierȬ
kegaards (es geht um das Selbstsein) und Bubers (alles wirkliche Leben ist Bezie-
hung) beeinflusst. Die wichtigsten therapeutischen Grundprinzipien sind:
DasȱgemeinsameȱWeltbildȱundȱdieȱdarausȱresultierendenȱGrundhaltungenȱ
VerbindendesȱundȱTrennendesȱinȱTheorieȱundȱMethodeȱ
nanzboden dar (Boeckh 2006). In einer gestalttherapeutischen Gruppe ist die Funkti-
on der LeiterIn eine eher exponierte, da die Bearbeitung der Thematik, wie bereits
erwähnt, vor allem in der Zweierbeziehung TherapeutIn- KlientIn abläuft und
damit der LeiterIn eine höhere Bedeutung zukommt, als im Psychodrama, bei dem
auch den TeilnehmerInnen als Hilfs-Ichen eine wichtige Rolle bei der Lösung der
Problematik zugesprochen wird.
In der Gesprächspsychotherapie nimmt sich die LeiterIn noch mehr zurück.
Sie versteht sich als ein engagiertes Gruppenmitglied, das eine für den Prozess
förderliche Funktion innehat, in dem sie die Gruppenkohäsion fördert und die
Gruppe funktions- und arbeitsfähig erhält. Sie vertraut dabei auf das Potential
des Einzelnen und der Gruppe (Stumm,ȱ Wiltschko,ȱ Keil 2003: 86f). Die augen-
scheinlichste Divergenz zwischen der Gesprächspsychotherapie und dem Psy-
chodrama ist, dass die erstgenannte Methode vorwiegend durch Verbalisierung
ihrer Empfindungen und Gedanken Einblick in ihre Innenwelt und Beziehungs-
geflechte gewährt, während das Psychodrama auf vielfältigere Methoden zurück
greift, um die innere Bühne eines Menschen nach außen zu bringen.
8.4 DasȱPsychodramaȱundȱdieȱsystemischeȱTherapieȱundȱBeratungȱȱ
DieȱsystemischeȱTherapieȱ
Die Familientherapie, die Vorläuferin der systemischen Therapie, hat sich in den
50er-Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt. Ihre Theorie baut auf dem Grundge-
danken auf, dass ein Individuum immer Teil eines übergeordneten Systems ist
und deswegen nicht losgelöst von diesem betrachtet und behandelt werden darf.
Durch das Einbeziehen jeweils aktueller wissenschaftlicher Strömungen und
Weltanschauungen unterzog sich die Familientherapie zahlreichen Veränderun-
gen und Neuorientierungen. Für die derzeit relevante systemische Therapie sind
zwei neuere Ansätze von großer Bedeutung: Der lösungsorientierteȱAnsatz, der auf
den Erkenntnissen der Arbeitsgruppe um Steveȱ deȱ Shazer in Milwaukee beruht
und die narrativeȱFamilientherapie rund um HarryȱGoolishian und HarleneȱAnderson.
Systemische Methoden sind z.B. das zirkuläre Fragen, Reframing, der selbst-
reflexive Dialog, der Einsatz eines reflektierenden Teams, die Arbeit mit dem
Familienbrett, Aufstellungsarbeit oder das Neuschreiben der eigenen Geschichte.
Systemische Therapien haben normalerweise einen Zeitumfang zwischen fünf
und 25 Stunden, die Sitzungen finden meist in niederer Frequenz statt.
VerbindendesȱinȱTheorieȱundȱMethodikȱ
Wie das Psychodrama kann sich auch der systemische Ansatz auf eine lange
Tradition berufen, den Menschen als ein Wesen zu betrachten, das nicht abge-
trennt von seinem Lebenskontext gesehen werden kann. Morenoȱ selbst arbeitete
bereits in den 30er-Jahren des vorhergehenden Jahrhunderts mit Paaren und
Familien und formulierte daraus systemtheoretische Überlegungen (Farmerȱ1995).
Moreno könnte also mit Fug und Recht als einer der Begründer der systemischen
Therapie genannt werden. Auf jeden Fall kann aber davon ausgegangen werden,
dass das Psychodrama die systemische Therapie und Beratung beeinflusste, wie
ganz besonders in der systemischen Arbeit mit Familienskulpturen sichtbar wird;
auf der anderen Seite zog auch das spätere Psychodrama von Synergieeffekten
zwischen den beiden Verfahren Nutzen, was sich zum Beispiel bei der Arbeit mit
Zeitlinien zeigt.
Der offensichtlichste Schnittpunkt zwischen dem systemischen Ansatz und
dem Psychodrama liegt in der Methodik der Externalisierung innerer Prozesse
oder der Visualisierung von Wechselwirkungen in sozialen Systemen in Form
von Aufstellungsarbeit. So ist das Stellen von Familienskulpturen ein Verfahren,
das sowohl im systemischen Ansatz wie im Psychodrama zum Standardreper-
toire gehört. Hierbei werden Beziehungsmuster mittels symbolisierter Körperhal-
tungen ausgedrückt und bestimmte Dynamiken durch diese Form der Konkreti-
sierung sichtbar und veränderbar gemacht. In der Familientherapie wird das
Stellen von Familienskulpturen mit Virginiaȱ Satir in Verbindung gebracht, einer
der GründerInnen des MentalȱResearchȱInstituteȱin PaloȱAlto, die unter anderem für
eine wertschätzende und kongruente Haltung der TherapeutInnen gegenüber
ihren KlientInnen eintrat (BrandlȬNebehay 1998). 1978 führte Ludewig das „Famili-
enbrett“ in den systemischen Ansatz ein, er bezeichnete es als eine Miniaturversi-
on einer Familienskulptur, eine Aufstellung auf dem Brett, das eine symbolische,
gewissermaßen virtuelle Kommunikationsebene erzeugt (Ludewig 2002: 214).
Mittels abstrakt geformten Holzfiguren, die auf ein Brett platziert werden, sollen
familiäre Beziehungsgeflechte dargestellt werden, eine Methode, die mit dem im
Psychodrama eingesetzten sozialen Atom vergleichbar ist. Da das Familienbrett
in vielerlei Hinsicht erweitert werden kann und andere Hilfsmittel, wie Bausteine
oder Spielfiguren als Platzhalter verwendet werden können (vgl. Oestereich 2005),
drängt sich die Parallele zum Konzept der psychodramatischen Tischbühne auf.
In den letzten Jahren gewann die systemische Aufstellungsarbeit, vor allem
in Form von Familienaufstellungen, an Popularität. Auch das Arrangement der
psychodramatischen Aufstellungsarbeit, das lange Zeit ungerechtfertigterweise
im Schatten des protagonistInnenzentrierten szenischen Spiels gestanden hat,
222 8 Das Psychodrama und andere psychotherapeutische Verfahren
TrennendesȱinȱTheorieȱundȱMethodeȱ
prozesse, die nicht nur individuell, sondern immer auch sozial geprägt sind und
vor allem auch unerwartete Nebenwirkungen auf andere Akteure haben können
(Buerȱ2005: 292).
Psychodrama hat, wie in diesem Kapitel zu sehen war, große Schnittmengen mit
anderen Therapieverfahren; aber es sind auch deutliche Unterschiede festzustel-
len, die sich sowohl in der Theorie als auch in der Praxis niederschlagen.
Literaturȱ
9
9 DerȱWegȱzurȱPsychdramatikerInȱȱ
9.1 AusȬȱundȱWeiterbildungsangeboteȱinȱÖsterreichȱȱ
9.1.1 DieȱAusbildungȱzurȱPsychodramaȬPsychotherapeutInȱȱ
GrundsätzlichesȱzurȱPsychotherapieausbildungȱinȱÖsterreichȱ
DasȱpsychotherapeutischeȱPropädeutikumȱ
Das Propädeutikum setzt sich aus einem theoretischen und einem praktischen
Teil zusammen und dauert, wenn keine Inhalte aus zuvor absolvierten Ausbil-
dungen angerechnet werden können, im Durchschnitt zwei Jahre. Es gibt in Ös-
9.1 Aus- und Weiterbildungsangebote in Österreich 229
DasȱpsychotherapeutischeȱFachspezifikumȱȱ
Voraussetzungenȱȱ
Um ein Fachspezifikum absolvieren zu können gelten allgemein folgende Vor-
aussetzungen:
Ausbildungsablaufȱ
Die Ausbildung beinhaltet einen theoretischen und einen praktischen Teil. Im
theoretischen Teil wird Wissen in den Bereichen theoretische Grundlagen, psy-
chotherapeutische Diagnostik, psychodramatische Störungstheorien, Methodik
und Technik in Form von Seminaren vermittelt. Der praktische Teil beinhaltet
Selbsterfahrung im Rahmen von Einzel- und Gruppentherapie, den Erwerb prak-
tischer psychotherapeutischer Kenntnisse und Erfahrungen durch Praktika in
psychosozialen und/oder facheinschlägigen Einrichtungen des Gesundheitswe-
230 9 Der Weg zur PsychdramatikerIn
sens unter Supervision. Der praktische Teil der Ausbildung schließt ab dem Er-
reichen des Status PsychodramaȬPsychotherapeutInȱ inȱ Ausbildungȱ unterȱ Supervision,
der meist im 5. Semester erworben wird, die eigenständige Durchführung von
psychodramatischen Einzel- und Gruppentherapien mit ein.
Im Rahmen der Ausbildung sind zwei wissenschaftliche Arbeiten zu verfas-
sen: Eine Hausarbeit und eine Masterthese, die psychodramatische Theorie ver-
schränkt mit Erfahrung aus der psychodramatherapeutischen Praxis beinhalten
sollte.
Abschlussȱ
Mit der erfolgreichen Absolvierung der vorgeschriebenen Ausbildungselemente,
des Abschlusskolloquiums und der positiven Benotung der Masterthese kann die
Kostenȱ
Die Kosten des Ausbildungslehrgangs des ÖAGG in Kooperation mit der DonauȬ
Universitätȱbetragen derzeit insgesamt € 27.900,-25. In diesem Betrag sind, abgese-
hen von Aufenthaltskosten, alle Seminare, Selbsterfahrungsteile und die Betreu-
ungs- und Prüfungsgebühren beinhaltet.
Die UniversitätȱInnsbruck stellt eine Gebühr von € 1.700,- pro Semester (Stu-
diendauer acht Semester) in Rechnung, wobei hier bestimmte Kosten, wie zum
Beispiel die Einzelselbsterfahrung, die einen Umfang von 90 Stunden umfasst
und das Aufnahmeverfahren, nicht beinhaltet sind.
25 Alle für Österreich angegebenen Kosten beziehen sich auf den Stand Dezember 2009
und können Veränderungen unterliegen.
9.1 Aus- und Weiterbildungsangebote in Österreich 231
9.1.2 WeitereȱAusbildungsȬAngeboteȱ
AusbildungȱzurȱRollenspielleiterInȱ
Diese Ausbildung der Fachsektion Psychodramaȱ imȱ ÖAGG befähigt zum Leiten von
psychodramatischen Gruppen, die in Abgrenzung zu psychodrama-psychothera-
peutischen Gruppen nicht die Bearbeitung von tiefliegenden psychischen oder
psychiatrischen Störungen zur Aufgabe haben.
Ab Herbst 2010 wird in der Fachsektionȱ Psychodramaȱ imȱ ÖAGGȱ eine Ausbildung
zur LebensȬȱundȱSozialberaterIn/Methode:ȱPsychodramaȱangeboten.
9.1.3 PsychodramatischesȱWeiterbildungsangebotȱderȱFachsektionȱPsychodramaȱimȱ
ÖAGGȱ
Psychodramaȱ–ȱPsychotherapieȱmitȱKindernȱundȱJugendlichenȱ
PsychodramatischeȱAufstellungsarbeitȱ
Ziel dieser Weiterbildung ist es, auf Basis kompakter innovativer Psychodrama-
Konzepte die Grundtechniken der psychodramatischen Organisations- und
Teamaufstellung zu erlernen. Es wird sowohl die Anwendung für das Einzel- wie
auch für das Gruppensetting vermittelt.
232 9 Der Weg zur PsychdramatikerIn
SupervisionȱundȱCoachingȱ
Kontaktadressen
Donau-Universität Krems
Department für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
Dr.-Karl-Dorrek-Straße 30
A-3500 Krems
Tel.: +43 (0) 27 32 893-4630
E-Mail: ingeborg.kreibich@donau-uni.ac.at
Internet: www.donau-uni.ac.at/psymed/oeaggpd
Universität Innsbruck
Institut für Kommunikation im Berufsleben und Psychotherapie
Schöpfstraße 3
9.2 Weiterbildungsangebote in Deutschland 233
A-6020 Innsbruck
Tel.: +34 (0) 512 507-8682, -8688
E-Mail: zwiko@uibk.ac.at
Internet: ww.uibk.ac.at/zwiko/lehre/universitaetslehrgaenge
9.2 WeiterbildungsangeboteȱinȱDeutschlandȱ
26 Dieser Abschluss ist nur möglich aufbauend auf den Grundberufen Medizin oder
Psychologie
234 9 Der Weg zur PsychdramatikerIn
Für den Beginn aller drei Weiterbildungsgänge ist ein Mindestalter von 22
Jahren Voraussetzung. Vor der Zulassung zur Weiterbildung erfolgt gemäß den
Standards des DFP ein Zulassungsinterview oder ein entsprechendes Seminar.
Zulassungsvoraussetzungen sind entweder ein Hochschulabschluss oder für
die Weiterbildung zur PsychodramaȬPraktikerInȱ fürȱ Gruppenleitungȱ undȱ Beratung
eine abgeschlossene Ausbildung in einem Beruf der psycho-sozialen Versorgung
auf Fachschulebene. Der Umfang der Weiterbildung zur PsychodramaȬPraktikerInȱ
fürȱGruppenleitungȱundȱBeratung umfasst mindestens 516 Unterrichtsstunden à 45
Minuten in einem zeitlichen Gesamtverlauf von etwa zwei Jahren. Die Gesamt-
dauer der Weiterbildung zur PsychodramaȬLeiterIn bzw. PsychodramaȬTherapeutInȱ
und derȱ PsychodramaȬKinderȬundȬJugendlichenȬTherapeutIn umfasst mindestens
1253 bzw. 1333 Unterrichtsstunden einschließlich der nachzuweisenden Fallpra-
xis innerhalb von etwa vier Jahren.
Alternativ zur allgemein qualifizierenden Oberstufe gibt es vom Moreno In-
stitut Goslar Überlingen in Kooperation mit dem Fachverband Drogen Rausch-
mittel (FDR) sowie vom Moreno Institut Stuttgart in Kooperation mit dem Insti-
tut Szenen eine Weiterbildung zur SuchttherapeutInȱ Psychodrama, die von der
Deutschen Rentenversicherung Bund anerkannt ist.
27 Die Kosten hierfür belaufen sich nach dem gegenwärtigen Stand etwa auf €16'000,-.
Das entspricht dem Preis einer Unterrichtsstunde von € 12,50 (Stand März 2010). Ak-
tuelle Daten entnehmen Sie bitte den Internetauftritten der Weiterbildungsinstitute.
28 Unterrichtsstunden à 45 Minuten
9.2 Weiterbildungsangebote in Deutschland 235
Alle weiteren Informationen finden sich auf der Homepage des DFP bzw. bei den
anbietendenden Weiterbildungsinstituten:
E-Mail: geschaeftsstelle@psychodramainstitut.de
Internet: http://www.psychodrama-soziometrie.de
Soziogenetik Institut29
Leitung: Uwe Seeger
Kurfürstenstraße 10-12
34117 Kassel
Telefon (05 61) 52 01 764
Telefax (0 56 26) 92 27 37
E-Mail: info@soziogenetik.de
Internet: www.soziogenetik.de
psychodramaforum berlin30
Geschäftsführung und Leitung: Gabriele Stiegler
Giesebrechtstraße 11
D-10629 Berlin
Telefon (030) 88 91 79 56
Telefax (030) 88 91 79 57
E-Mail stiegler@psychodramaforum.de
Internet: http://www.psychodramaforum.de
9.3 WeiterbildungsangeboteȱinȱderȱSchweizȱ
Die Schweiz ist das jüngste der Psychodrama-Anbieter-Länder, das sich um eine
einheitliche Weiterbildung bemüht hat. Das Psychodrama wurde 2009 in die
Charta für Psychotherapie aufgenommen.
WeiterbildungȱzurȱPsychodramaȬPsychotherapeutInȱ
Fortbildung
Integrale Weiterbildung
GrundausbildungȱVarianteȱaȱ GrundausbildungȱVarianteȱbȱ
Grundausbildungȱ
IntegraleȱWeiterbildungȱ
Fortbildungȱ
DieȱSchweizerȱChartaȱfürȱPsychotherapieȱ
Instituteȱ
Im Aufbau begriffen ist das Institutȱ fürȱ Psychodrama,ȱ Soziometrieȱ undȱ Rollenspielȱ
(IPSR). Es wurde vom Berufsverband der Schweizer PsychodramatikerInnen –
PsychodramaȱHelvetiaȱ(PDH) – beauftragt, ein von der SchweizerȱChartaȱfürȱPsychoȬ
therapie anerkanntes Curriculum für die integrale Weiterbildung in Richtung
Psychodrama zu erstellen.
In der französischen Schweiz ist das Psychodrama-Institut, Ouvertures, Déve-
loppement, Formation (OdeF) ansässig, das von der Charta für Psychotherapie
anerkannt ist. OdeF beinhaltet die Schweizer Schule für Aktionsmethoden und
humanistisches Psychodrama (Ecole Suisse de Méthodes d’Action et de Psycho-
drame humanistes). Diese bietet Selbsterfahrungsseminare und spezifische Trai-
nings für Teams und Organisationen in französischer und englischer Sprache an.
10
10 EmpfohleneȱLiteraturȱ
Neben den in den jeweiligen Kapiteln genannten Büchern stellen wir hier eine
kurze Literaturliste vor, die wir für interessant halten. Fett gedruckt sind jeweils
die einführenden oder Grundlagenbücher. Die übrigen sind zur Vertiefung sehr
gut geeignet. Soweit englischsprachige Literatur aufgelistet ist, handelt es sich
dabei um gut lesbare Bücher.
10.1 Psychodramaȱ
Wittinger, T. (Hrsg.) (2005): Handbuch Soziodrama: Die ganze Welt auf der Bühne. Wies-
baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Yablonsky, L. (1992). Psychodrama. Die Lösung emotionaler Probleme durch Rollenspiel.
Frankfurt a.M.: Fischer
ZeintlingerȬHochreiter,ȱ K.ȱ (1996):ȱ Kompendiumȱ derȱ PsychodramaȬTherapie.ȱ Analyse,ȱ
PräzisierungȱundȱReformulierungȱderȱAussagenȱzurȱpsychodramatischenȱTherapieȱ
nachȱJ.ȱL.ȱMoreno.ȱMünchen:ȱInScenarioȱ
10.2 EmpfohleneȱmethodenübergreifendeȱLiteraturȱȱ
Bleckwedel, J. (2008): Systemische Therapie in Aktion. Kreative Methoden in der Arbeit mit
Familien und Paaren. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Buer, F. und Schmidt-Lellek, C. (Hrsg.) (2008): Life-Coaching. Über Sinn, Glück und Ver-
antwortung in der Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Dollase, R. (1976). Soziometrische Techniken. Weinheim: Beltz.
Eberwein, W. (2009): Humanistische Psychotherapie. Quellen, Theorien und Techniken.
Stuttgart, New York: Thieme
Edding,ȱ C.ȱ undȱ Schattenhofer,ȱ K.ȱ (2009):ȱ Handbuchȱ Allesȱ überȱ Gruppen.ȱ Theorie,ȱ AnȬ
wendung,ȱPraxis.ȱWeinheim:ȱBeltzȱ
Förstl,ȱ H.ȱ (Hrsg.)ȱ (2007):ȱ Theoryȱ ofȱ Mind.ȱ Neurobiologieȱ undȱ Psychologieȱ sozialenȱ VerȬ
haltens.ȱHeidelberg:ȱSpringerȱ
Gellert,ȱM.ȱundȱNowak,ȱC.ȱ(2002):ȱTeamarbeitȱ–ȱTeamentwicklungȱ–ȱTeamberatung.ȱEinȱ
PraxisbuchȱfürȱdieȱArbeitȱinȱundȱmitȱTeams.ȱMeezen:ȱLimmerȱ
Goleman D. (1997): Kreativität entdecken, München: Carl Hanser
König, O. (1996): Macht in Gruppen. Gruppendynamische Prozesse und Interventionen.
München: Pfeiffer
Kriz, J. (2007): Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim: Beltz (6)
Lauterbach, M. (2008): Wie Salz in der Suppe. Aktionsmethoden für den beraterischen
Alltag. Heidelberg: Carl Auer
Mattke, D., Reddemann, L., Strauß, B. (2009): Keine Angst vor Gruppen. Gruppenpsycho-
therapie in Praxis und Forschung. Stuttgart: Klett-Cotta
Schaller, R. (2005): Wege, an sie ranzukommen: Selbstmanagement- und Psychodrama-
Training mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen. Weinheim: Juventa
Schaller,ȱR.ȱ(2009):ȱStellenȱSieȱsichȱvor,ȱSieȱsind…ȱDasȱEinȬPersonenȬRollenspielȱinȱBeraȬ
tung,ȱCoachingȱundȱTherapie.ȱBern:ȱHuberȱ
SchulzȱvonȱThun,ȱF.ȱ(2004):ȱMiteinanderȱreden.ȱDasȱ„InnereȱTeam“ȱundȱsituationsgerechȬ
teȱKommunikation.ȱReinbek:ȱRowohltȱ
Storch,ȱM.,ȱCantieni,ȱB.,ȱHüther,ȱG.,ȱTschacher,ȱW.ȱ(2006):ȱEmbodiment.ȱDieȱWechselwirȬ
kungȱvonȱKörperȱundȱPsycheȱverstehenȱundȱnutzen.ȱBern:ȱHuberȱ
Storch M. und Krause F. (2002): Selbstmanagement – ressourcenorientiert. Bern: Huber
244 10 Empfohlene Literatur
Tretter,ȱF.ȱ(2008):ȱÖkologieȱderȱPerson.ȱAufȱdemȱWegȱzuȱeinemȱsystemischenȱMenschenȬ
bild.ȱ PerspektivenȱeinerȱSystemphilosophieȱ undȱökologischȬsystemischenȱ AnthroȬ
pologie.ȱLengerich:ȱPabstȱ
Weidenmann, B. (2008): Handbuch Active Training. Die besten Methoden für lebendige
Seminare. Weinheim: Beltz
Yalom, I. D. (2007): Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch. Stutt-
gart: Klett-Cotta
Zaboura, N. (2009): Das empathische Gehirn. Spiegelneurone als Grundlage menschlicher
Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
10.3 Zeitschriftenȱ
Anhangȱ
1. Handeln Sie lieber als dass Sie erzählen lassen: „Können Sie mir die Situati-
on zeigen…“
2. Sprechen Sie die Menschen direkt an, sprechen Sie nicht über sie.
3. Ermuntern Sie die MitspielerInnen zu so aktivem Verhalten wie es der Situa-
tion der ProtagonistIn angemessen ist; dies ruft spontanes und direktes
Verhalten der MitspielerInnen hervor.
4. Machen Sie abstrakte Situationen so konkret wie möglich; arbeiten Sie mit
konkreten Szenen.
5. Fördern Sie authentische Begegnungen so oft als möglich.
6. Ermutigen Sie die TeilnehmerInnen, affirmative Statements über Sehnsüch-
te, Fürchte und Absichten als Ich-Botschaften abzugeben.
7. Behandeln Sie Situationen der Vergangenheit und Zukunft, so als ob sie in
der Gegenwart im Hier und Jetzt passieren würden.
8. Schätzen Sie das Potential für Umentscheidungen, Neuverhandlungen und
korrigierende Erfahrungen in der Gegenwart wert.
9. Beachten Sie die non-verbalen Botschaften in der Kommunikation: Tonfall,
Stimmlage, Gestik, Ausdruck.
10. Lassen Sie die TeilnehmerInnen Empathie-Übungen durch Rollentausch
machen.
11. Arbeiten Sie in Richtung Selbstenthüllung und Wahrhaftigkeit, besonders in
Bezug auf Gefühle.
12. Respektieren Sie interpersonelle Vorlieben beim Arbeiten in den Kursen.
13. Installieren Sie in Gruppen Möglichkeiten, ihre kollektiven Vorlieben im
Umgang mit den Aufgaben von Kohäsion und Konfliktlösung auszuleben
(z.B. durch Soziometrie).
14. Gestalten Sie Situationen zu einem bestimmten Grad spielerisch.
15. Variieren Sie die Identitäten der TeilnehmerInnen (z.B. durch die Vergabe
symbolischer Rollen) oder variieren Sie die Situationen, um eine zu starke
Verwicklung zu vermeiden, und um die Offenheit für alternative Möglich-
keiten zu fördern.
246 Anhang
16. Benutzen Sie Symbole und Metaphern, personifizieren Sie sie und machen
Sie sie lebendig.
17. Beziehen Sie andere künstlerische Prinzipien und Hilfsmittel ein, wie zum
Beispiel Bewegung, theatralische Darstellung, Verkleidung, Poesie, Kunst,
Musik, Klang oder Licht.
18. Übertreiben oder verstärken Sie das Verhalten, um eine größere Bandbreite
an Antworten zu bekommen.
19. Beachten und verwenden Sie die Technik der Anwärmung als ein Vorgän-
ger für kreatives Verhalten.
20. Benutzen Sie dramatische Techniken und den realitätserweiternden Kontext
des Dramas als Hilfsmittel, um die Imagination für konkrete Situationen zu
erweitern.
21. Sprechen Sie gezielt die Prozesse von Begeisterung, Enthusiasmus und Vita-
lität an und verstärken Sie sie.
22. Benutzen und kultivieren Sie aktiv die Sublimierung als Kanal für kreative
Energien, um Alternativen für neurotisches Verhalten aufzuzeigen.
23. Nutzen Sie die therapeutischen Faktoren der Gruppentherapie.
Anhang 247
248 Anhang
Glossar 249
Glossarȱ
DoppelgängerIn oder Eine Person, die der ProtagonistIn während des psychodrama-
Double tischen Spiels zur Seite steht, in dem sie sich kontinuierlich in
die ProtagonistIn einfühlt
Doppeln Die Einfühlung einer Person in die ProtagonistIn, welche deren
innere Vorgänge sprachlich zum Ausdruck bringt
Einfrieren Das Anhalten einer szenischen Abfolge, um z.B. eine Befind-
lichkeit abzufragen (siehe Rolleninterview)
Erwärmung, Erwär- Erster Abschnitt einer psychodramatischen Sitzung oder Ein-
mungsphase, Warm- heit, in dem die einzelnen Gruppenmitglieder und die Leitung
up auf die psychodramatische Aktions- oder Spielphase vorberei-
tet werden sollen. Durch die Erwärmung soll der Zugang zu
den Themen erleichtert, Spontaneitäts- und Spielhemmungen
gelöst, Neugierde und Experimentierfreudigkeit geweckt
werden.
Erwärmung ist auch eine Bezeichnung für eine Phase des
kreativen Zirkels, die durch die Suche nach Lösungsmöglich-
keiten für eine Problemlage charakterisiert ist
Familienstellen (nach Ein Spezialfall der Darstellung des sozialen Atoms, das mit
Moreno) Personen besetzt und auf der Bühne szenisch inszeniert wird
Feedbackrunde Die einzelnen GruppenteilnehmerInnen werden aufgefordert
Rückmeldung über ihre positiven und negativen Empfindun-
gen z.B. bezüglich der Gestaltung und den Verlauf eines
Selbsterfahrungs-Seminars zu geben
Format Ein Anwendungsfeld eines Verfahrens wie z.B. Psychotherapie,
Beratung, Supervision
Gruppe Ein Zusammenschluss von mindestens drei Personen zu einem
bestimmten Zweck bzw. mit einem bestimmten gemeinsamen
Ziel
Gruppenkohäsion Damit werden der Zusammenhalt einer Gruppe und das Zu-
gehörigkeitsgefühl zu dieser ausgedrückt. Sie kann als Grad-
messer der Attraktivität der Gruppe für ihre TeilnehmerInnen
gesehen werden. Davon ist z.B. abhängig wie viel Anerken-
nung, Wärme oder Trost Einzelne aus der Gruppe ziehen
können
Gruppenzentriertes Im Gegensatz zum protagonistInnenzentrierten Spiel ist wäh-
Spiel rend des gesamten Ablaufs dieses Spiels der Fokus der Auf-
merksamkeit gleichbleibend auf die Gruppe gerichtet
Glossar 251
Rollenübernahme – Die Einnahme der Rolle ist mit einer hohen Rollenerwartung
role taking und wenig Möglichkeiten der individuellen Gestaltung ver-
bunden
Rollenwechsel Einseitige Rollenübernahme: A geht in eine Rolle B, entweder
von einer anderen Person oder aus einem anderen Kontext
Selbst Aus der Sicht des Psychodramas setzt sich das Selbst aus einer
Bündelung von Rollen (Rollenclustern) zusammen
Semirealität Form des psychodramatischen Handelns im „Als-ob-Modus“.
SpielerInnen sind sich beim Ausführen von Handlungen in der
Semirealität bewusst, dass es „nur“ Handlungen „als ob“ sind,
diese aber dennoch einen Einfluss auf ihre Alltagsrealität haben.
Sharing Im Sharing berichten die TeilnehmerInnen einer psychodrama-
tischen Sitzung von eigenen, ähnlichen Erfahrungen und Ge-
fühlszuständen, wie sie die ProtagonistIn erlebt und im psy-
chodramatischen Spiel gezeigt hat. Damit erfährt die Protago-
nistIn Unterstützung und Verständnis durch die anderen
Gruppenmitglieder. Das Sharing ist Teil der Integrationsphase,
die an die psychodramatische Aktionsphase anschließt
Soziales Atom Einerseits wird so das soziale Beziehungsnetz eines Menschen
bezeichnet, andererseits wird darunter auch die Technik zum
Ermitteln des Beziehungsgeflechts einer Person zum Beispiel
mittels einer Zeichnung, Symbolen oder Hilfs-Ichen verstanden
Soziales Netzwerk Fragebogenverfahren, mit dem das soziale Netzwerk einer
Inventar (SNI) Person erfasst werden kann
Soziodrama Szenische Darstellung von Gruppenphänomenen: Ein kollekti-
ves Thema wird aus der Sichtweise einer oder mehrerer Grup-
pen durch eine Gruppe oder eine VertreterIn einer Gruppe
dargestellt und bearbeitet
Soziogramm Grafische Darstellung von den aus den soziometrischen Verfah-
ren gewonnenen Erkenntnissen. Damit können Beziehungsmus-
ter und Gruppenstrukturen sichtbar gemacht werden
Soziokulturelles Die sozialen Bezüge einer Person unter Einbeziehung der
Atom entsprechenden eigenen Rollen
Soziometrie Die Messung und Darstellung sozialer Bezüge
Soziometrischer Test Damit werden die positiven (Vorlieben) und negativen Wahlen
(Ablehnungen) von Gruppenmitgliedern bezogen auf be-
stimmte Kriterien erfasst. Diese können mithilfe eines Sozio-
gramms dargestellt werden
256 Glossar
Stichwortverzeichnisȱ
Hier und Jetzt 37, 74, 78, 81, 191, 214, Philosophie 16, 18, 27, 30, 32f., 107, 168,
245 192, 224, 241f., 257
Hilfs-Iche 27, 35, 44-46, 51, 74-78, 81-83, Playback-Theater 95, 102-105, 107, 109,
96, 106, 146, 158, 162f., 204, 206f., 213, 252
220, 222, 251f., 255f. Processing 86
Hypothesenbildung 71 ProtagonistIn 27, 35-40, 42-46, 51, 55, 64-
Ich-Gott 23f. 67, 69-78, 80-87, 95, 103-105, 112, 115f.,
Identifikation 85 118-123, 125f., 129f., 132, 174, 179, 182,
Identifikationsfeedback 83, 85, 251 197, 206f., 216, 249-256
Identität 28, 108f., 165, 251 Prozess 16, 26, 55, 57, 64, 73, 90, 104, 107,
Indikation 101, 107 121, 132, 138, 140f., 143, 145, 147, 149,
Inszenierung 40, 43, 49, 54f., 64f., 69f., 192, 198, 202f., 209, 216, 220, 257
73, 75, 79f., 82, 85f., 107, 207, 251, 256 Prozessanalyse 40, 86, 87, 213, 251f.
Integration 164 Prozessschritte 71-73, 252
Integrationsphase 41, 45, 51f., 83-86, 125, Prozessziele 40, 71-73, 80, 253
206, 208, 251-253, 255 Psychodrama-Leiterin 37, 129
Interaktion 9, 38, 63, 78, 108, 116f., 122, Psychodrama-Sitzung 55, 120
128, 132, 136, 138, 140, 143, 147, 156, Psychodrama-TherapeutIn 30, 198, 227,
165, 209, 236, 242 233f., 239, 253
Interpretationsfolien 71, 192, 257 Psychodrama-Therapie 50, 108f., 165f.,
Intraintermediär-Objekt 251 189, 192f., 209, 243
Kohäsion 48, 245 Raum 21, 25, 30, 35, 37, 40, 55, 74f., 86,
Konflikt 16, 43, 45, 65, 82, 94, 112, 129, 96, 99, 101-103, 108, 112f., 122, 127,
153-155, 159, 201, 207 142, 146, 173, 183, 192, 199, 206, 212,
Konserve 11, 56, 95, 109, 122, 124, 146, 249, 251
251 RegisseurIn 103
Kreativität 11, 18f., 21, 24f., 27, 35, 95, Rehabilitation 28, 90, 191, 209
108, 132, 139, 147f., 150, 158, 192, 196, Role creating 143, 254
209, 212, 216, 243, 251, 254 Role giver 253
Kulturelle Konserve 252 Role receiver 253
Kulturelles Atom 252 Role taking 143, 255
Lage 10, 14, 23, 25, 45, 54, 56, 64, 70, 93, Rolle 16, 18, 21, 27, 40, 42-44, 46, 52, 59,
117, 119, 139, 144f., 183, 251f., 256 61-64, 66, 72, 75-80, 84f., 87-101, 109,
Maximierung 112, 192, 252 111, 113, 119-121, 123-125, 127-129,
Mediation 129, 133, 199f., 209, 210 135-139, 141-146, 148-150, 153-156,
Menschenbild 9, 34, 197, 244 158f., 161f., 165, 171, 180, 192, 195-197,
MitspielerIn 27, 44, 100, 112, 117, 120, 201f., 204f., 207f., 213, 216, 218, 220,
125, 132, 143, 254, 256 222f., 253-256
Monodrama 38, 46, 191, 205f., 208, 209, Rollenatrophie 150, 152f.
242, 252 Rollencluster 213, 253
Netzwerk 157, 182, 189, 255 Rollenerwartung 143, 253-255
Pädagogik 165f., 188, 209, 229, 242 Rollenfeedback 51, 83f., 111, 123f., 201,
Persönlichkeit 20, 58, 86, 172, 217 203, 205, 208, 222, 253
Persönlichkeitsstruktur 63, 100f., 115, Rollenflexibilität 163
138 Rollengestaltung 137f., 142f., 254
Rollenhandeln 136, 138, 142f.
Stichwortverzeichnis 261
Telebeziehung 75, 84 Verhalten 15, 25, 27, 62, 72, 80, 90, 135f.,
Teleprozess 251 143f., 152, 155d., 158, 171, 196f., 202,
Theater 13, 16, 18f., 21f., 27, 33f., 50, 87, 204, 215, 245f.
102-104, 107, 225, 242 Verhaltenstherapie 9, 107, 197, 214-216
TherapeutIn 30, 38, 41, 46, 69, 163, 197, Vignette 57, 63, 73, 95, 159, 257
202, 207, 211f., 218f., 227, 233f., 251, Wahl 43, 64-67, 73, 75, 105f., 115, 119,
253 158, 163, 168f., 184-188, 205, 216, 223
Therapie 27, 38, 42, 47, 119, 124, 132, Warm-up 250
165f., 182, 189, 193, 196f., 210, 219- Zauberladen 73, 249
224, 234, 243 Zeit 12, 15, 17, 22, 24, 42, 46, 52, 58f., 71,
Tischbühne 37f., 201, 206f., 221 74, 77, 80, 82f., 86, 96f., 102, 107f., 112,
Übertragung 83, 213 122, 126, 135, 138, 146f., 154f., 161f.,
Veränderung 14, 19, 25, 28, 63, 139, 162, 167, 177, 185, 195, 197, 199f., 203, 221
211, 222, 254 Zeitachse 122, 199
Verantwortung 23, 243 Zeitlupe 111, 257
Verfahren 9, 10, 11, 13-16, 23, 27, 31, 43, Zukunftsprojektion 257
156-160, 167f., 171, 185, 191, 197, 199, Zur-Seite-Sprechen 121, 251
204f., 211, 215-219, 221f., 239, 255-257 ZuschauerIn 27, 103, 257