Die Überangepassten:
Ein Normopath ist stets normal und angepasst, sein Verhalten
überkorrekt und überkonform. Die Zwanghaftigkeit, mit der er den
Erwartungen entspricht, verrät indes, dass er ein falsches, ein
unechtes Leben führt. Krank ist nicht nur er, sondern vor allem die
Gesellschaft, in der er lebt und deren Anpassungsdruck er sich
unterwirft – bis er die Gelegenheit gekommen sieht, seine aufgestaute
Wut an noch Schwächeren oder am «System» abzureagieren.
Der Hallenser Psychoanalytiker und Psychiater Hans-Joachim Maaz
ist bekannt für seine brillanten, zukunftsweisenden Analysen
kollektiver Befindlichkeiten und gesellschaftlicher Zustände. In
seinem neuen Buch nimmt er Phänomene wie Pegida und AfD, den
zunehmenden Hass auf Ausländer, aber auch die Selbstgerechtigkeit
der politischen Elite zum Anlass, ein konturscharfes Bild unseres
falschen Lebens zu zeichnen, in dem wir uns lange eingerichtet haben
und aus dem uns nun die zunehmende Polarisierung und
Barbarisierung unserer sozialen und politischen Verhältnisse
herausreißt. «Das falsche Leben» ist das Buch zur Stunde – Augen
öffnend und alles andere als Mainstream.
Über den Autor
Teil I
1 Wie entsteht die Fälschung?
2 Selbst und Ich
3 Das Falsche Selbst begründet falsches Leben
Das bedrohte Selbst («Mutterbedrohung»)
Das gequälte Selbst («Mutterbesetzung»)
Das ungeliebte Selbst («Muttermangel»)
Das abhängige Selbst («Muttervergiftung»)
Das gehemmte Selbst («Vaterterror»)
Das vernachlässigte (ungeförderte) Selbst
(«Vaterflucht»)
Das überforderte Selbst («Vatermissbrauch»)
4 Die Grundmelodien des falschen Selbst
5 Die innerseelischen Schutzmechanismen der falschen
Selbst
Spaltung
Projektion
Reaktionsbildung
6 Die äußeren Rettungsversuche des falschen Selbst
Kompensation und Ersatz
Anstrengung und Leistung
Anpassung
Ablenkung
Soziales Ausagieren
Masochistisches Aushalten
7 Krankheit und Gewalt
8 Die Krankheiten des falschen Selbst
Das bedrohte Selbst
Fallbeispiel für das «bedrohte Selbst»
Das gequälte Selbst
Fallbeispiel für das gequälte Selbst
Das ungeliebte Selbst
Fallbeispiel für das ungeliebte Selbst
Das abhängige Selbst
Fallbeispiel für das «abhängige Selbst»
Das gehemmte Selbst
Fallbeispiel für das «gehemmte Selbst»
Das vernachlässigte Selbst
Fallbeispiel für das vernachlässigte Selbst
Das überforderte Selbst
Fallbeispiel für das überforderte Selbst
Teil II
9 Die Grundbedürfnisse des Selbst
10 Woran erkenne ich mein falsches Selbst?
11 Der Weg aus dem falschen Leben
12 Das wahre Leben
Teil III
13 Normopathie
14 Die deutschen Normopathien
15 Die aktuelle deutsche Krise
16 Die gespaltene Gesellschaft
17 Willkommen im falschen Leben
18 Politische und psychische Demokratie
19 Der Fluch der Freiheit und Liberalität
20 Schuld und Selbst-Störungen
21 Protestbewegungen spiegeln falsches Leben
22 Populismus als Herausforderung
23 Zur Ehrenrettung der Ostdeutschen
Teil IV
24 Gefühlsfähigkeit ist das Tor zu echterem Leben
25 Was ist und will «Beziehungskultur»?
26 Beziehungskultur ringt um echtes Leben
27 Meine Selbstentfremdung
Fußnoten
Teil I
1 Wie entsteht die Fälschung?
Die für die Gehirnentwicklung des Kindes und damit für dessen spätere
Persönlichkeitsstrukturen verantwortliche frühe Beziehungsqualität muss man aus der Sicht
des Kindes beurteilen. In Entsprechung zu den wesentlichen mütterlichen und väterlichen
Funktionen lauten die entscheidenden Fragen zur Beziehungsqualität aus kindlicher
Perspektive:
Bin ich gewollt? Ist mein Leben erwünscht? Bin ich existenzberechtigt? Oder
soll ich besser nicht sein («Mutterannahme» oder «Mutterbedrohung»)?
Werde ich in meiner Existenz freigelassen, oder werde ich von der Mutter besetzt,
energetisch für Mutters Leben ausgesaugt? Wird mein einmaliges Leben
akzeptiert, oder muss ich für Mutter leben («Mutterbesetzung» durch eine
«Vampir-Mutter» oder «Mutterfreiheit»)?
Bin ich wirklich geliebt? Werden alle meine normalen Bedürfnisse erkannt und
zuverlässig und ausreichend bestätigt und erfüllt («Mutterliebe» oder
«Muttermangel»)?
Darf ich mich erkennen? Darf ich so sein, wie ich bin? Oder muss ich erkennen,
was von mir erwartet wird und wie ich sein soll («Mutterbestätigung» oder
«Muttervergiftung»)?
Darf ich mich entfalten? Meine Fähigkeiten entdecken und entwickeln? Oder
werde ich eingeschüchtert, geängstigt, abgewertet («Vaterliebe» oder
«Vaterterror»)?
Werde ich hinreichend gefördert, ermutigt und unterstützt und hilfreich gefordert?
Oder hat keiner Interesse an mir, kümmert sich keiner um mich, und bekomme ich
keine Unterstützung und Anleitung («Vaterförderung» oder «Vaterflucht»)?
Werden auch meine Grenzen gesehen und respektiert? Oder muss ich mich
über meine Möglichkeiten hinaus immer nur anstrengen («Vaterverständnis»
oder «Vatermissbrauch»)?
Das falsche Leben ist die Folge von Beziehungsstörungen – von Anfang an.
Die frühe Beziehungsqualität prägt die Persönlichkeit und entscheidet über
«echtes» oder «falsches Leben».
Fehlentwicklungen und Fehlverhalten als Folge von Beziehungsstörungen sind
schwer erkennbar, wenn eine Mehrheit davon betroffen ist.
So können Störung, Abnormität und Destruktivität als normal, richtig und
notwendig erscheinen, wie wir dies etwa im Nationalsozialismus und
Sozialismus zur Kenntnis nehmen mussten und heute in einer narzisstischen
Gesellschaft als Gefahr einer bedrohlichen Fehlentwicklung erkennen sollten.
2 Selbst und Ich
Will man die Unterschiedlichkeit von «Ich» und «Selbst» verstehbar machen, sind folgende
Merkmale hilfreich:
Ich Selbst
gemacht, erworben gegeben
veränderbar, lebenslang lernfähig grundsätzlich, basale Matrix, nur in der frühen
Lebenszeit ausformbar
bildet die soziale Fassade und die sozialen ist der Kern der Persönlichkeit
Rollen
objektivierbares Verhalten subjektives Erleben
auf etwas gerichtet, auf Wirkung orientiert in sich ruhend, auf das Sein bezogen
außenorientiert innenorientiert
egoistisch, kämpfend, verbindend, parteiisch schutzbedürftig, würdevoll
Es ist der Unterschied zwischen Haben und Sein. Das Ich hat, aber es ist nicht. Das Selbst
ist, aber es hat nicht.
Betrachten wir also das Selbst als ein Geschenk, das wir nicht
ablehnen können, das die Basis unserer Individualität bildet und die
Einzigartigkeit und Einmaligkeit unserer Existenz begründet.
Erfahrbar ist es am ehesten in der subjektiven Befindlichkeit, in der
erlebbaren Innerlichkeit und spürbaren Intentionalität – also in
subjektiven psychischen Qualitäten, die nur mir zugänglich sind, über
die ich bestenfalls berichten, die ich aber nicht objektivierbar belegen
kann. So gesehen wird klar, dass das Gegebene, Geschenkte gehegt,
behütet und verwaltet werden muss. Die Eltern sind die ersten und
wichtigsten Hüter und Pfleger des Selbst ihres Kindes. Die Eltern
bestimmen darüber, wie frei sich das Selbst entfalten kann oder wie
sehr es behindert, verstört und beschädigt wird.
So tragen die Eltern und jede frühbetreuende Person die
Verantwortung dafür, ob sich ein gesundes Selbst entfalten kann oder
ob die Selbst-Entwicklung behindert und verstört wird und sich ein
«falsches Selbst» bilden muss.
Ich habe die wesentlichen Beziehungsangebote für die
Frühentwicklung des Kindes nach mütterlichen und väterlichen
Beziehungsqualitäten unterschieden, um damit spezifische Selbst-
Störungen differenzieren und verstehen zu können. Keine Unisex-
Debatte kann darüber hinwegtäuschen, dass Mütterliches und
Väterliches grundverschiedene Beziehungsformen sind, die nicht
austauschbar und nicht verzichtbar sind, soll sich ein Kind nach
seinen Möglichkeiten entwickeln dürfen. Allerdings kann auch ein
Mann, ein Vater mütterlich und eine Frau, eine Mutter väterlich sein.
Das kann bei guter Abstimmung der unterschiedlichen elterlichen
Funktionen sehr hilfreich sein, ändert aber zunächst nichts an dem
Vorlauf der Beziehungsbedeutung der leiblichen Mutter, die durch
Schwangerschaft, Geburt und Stillen begründet wird und erst im
Laufe der ersten Jahre allmählich auch von anderen
Betreuungspersonen übernommen werden kann. Der Ruf nach dem
Vater als Ersatzmutter kann nur auf seine mütterlichen Fähigkeiten –
sofern er diese zur Verfügung hat – orientiert sein und sollte nicht als
ideologisch-feministische Forderung, wonach die Mutter ohne
Weiteres durch den Vater ersetzbar sei, die Familienpolitik
beeinflussen.
Bei guter Mütterlichkeit fühlt sich das Kind prinzipiell
willkommen und berechtigt, auch wenn es selbstverständlich
manchmal begrenzt werden muss und ein «Nein» zu hören bekommt.
Die mütterliche Zuwendung sichert dem Kind, dass es so erkannt und
verstanden wird, wie es wirklich empfindet und bedürftig ist. Durch
eine möglichst unverzerrte mütterliche Spiegelung erfährt das Kind
zuverlässige Bestätigung und Befriedigung seiner Bedürfnisse und
ebenso eine unvermeidbare Begrenzung durch Realitätsbezug. So
erlebt das Kind die körperliche, die psychische und soziale
Versorgung als zweifelsfrei und selbstverständlich. Der passive Teil
des Mütterlichen ist Einfühlen, Wahrnehmen und Erkennen, der
aktive Teil ist Bestätigen, Versorgen, Befriedigen, Beschützen und
Trösten.
Im Gesamt dieser mütterlichen Funktionen wird die «Bindung»
zum Kind hergestellt. Eine gute Bindung bildet die Grundlage für die
individuelle und ungestörte Entfaltung des Selbst. Man darf
«Bindung» aber nicht mit symbiotischer Verschmelzung verwechseln,
die keine Distanz, keinen individuellen Freiraum und keine
Verschiedenheit erlaubt. Bindung ist vielmehr eine dynamische
Abstimmung zwischen Mutter und Kind über ihre wechselseitigen
Bedürfnisse und Möglichkeiten mit der sichernden Zuversicht einer
erreichbaren beidseitigen Zufriedenheit, die auch Spannung,
konflikthafte Auseinandersetzung und Kompromisse mit einschließt.
Mit guter Väterlichkeit erfährt das Kind Interesse an seinen
Möglichkeiten und Verständnis für seine Schwierigkeiten und
Grenzen. Das Väterliche weckt Begabungen und Talente, erkennt die
Veranlagungen und fördert diese ohne ehrgeizige Überforderung.
Aber Kinder wollen auch gefordert sein, sie wollen zeigen, was sie
können, und zur eigenen Entwicklung und auch zu Leistungen
angeregt werden. Die Kunst des Väterlichen besteht darin, dem Kind
berechtigten Stolz zu ermöglichen, dabei Leistungssteigerung zu
unterstützen, aber auch Leistungsgrenzen wohlwollend zu bestätigen
und das Kind nicht um des väterlichen Stolzes willen hochzuzüchten.
Das gute väterliche Fördern und Fordern orientiert sich auch an den
sozialen Verpflichtungen, die sich aus der individuellen Entwicklung
ergeben, sowie an den Chancen und Folgen der besonderen
Leistungen und Begabungen des Kindes mit Verantwortlichkeit für
Handeln und Unterlassen.
In der Entwicklungspsychologie spielt das Väterliche mit seiner
triangulierenden Funktion eine wesentliche Rolle. Mutter und Kind
bilden anfangs eine exklusive Zweierbeziehung mit möglichst
optimaler Bindungsqualität. Zu dieser Dyade kommt der Vater als ein
Dritter hinzu: Mit dieser Triangulierung bietet das Väterliche neue
Beziehungserfahrungen und neue Erlebnisinhalte – und damit
erweiterte Selbstentfaltungschancen. Dabei ist es wichtig, dass die
Mutter diese Erweiterung der Dyade zur Triade wohlwollend bejaht
und aktiv unterstützt, so dass die Bindungssicherheit des Kindes nicht
infrage gestellt und die Persönlichkeitsentwicklung mit der
Hauptfunktion des Väterlichen, der Forderung der Selbständigkeit
und Weltgestaltung, vervollständigt wird.
Die Selbst-Störungen:
Im Laufe meiner langjährigen Praxis sind mir die folgenden Metaphern für die Grundmelodien
des falschen Selbst am häufigsten begegnet:
Ein falsches Selbst ist ein Erziehungsprodukt oder Folge von frühen
Beziehungsstörungen. Zum falschen Selbst wird man durch
Androhung von Abwertung, Strafe, Liebesentzug und
Verlassenwerden gezwungen oder durch Zuwendung, Lob,
Auszeichnung und Geld für erwünschtes Verhalten verführt. Im
falschen Selbst haben die Betroffenen ein bestimmtes Denken und
Handeln erlernen müssen. Wesentliche individuelle Selbst-Anteile
durften sich nicht entwickeln oder wurden aktiv in ihrer Entfaltung
behindert. Natürlich möchte jeder Mensch auch im falschen Leben
einigermaßen zufrieden sein oder sogar glücklich werden. Das ist
dann aber nur noch im Rahmen der vorherrschenden (falschen) Werte
möglich. Die aus der Not heraus gefundene und aufgebaute
Lebensrealität ist dann nur Ersatz, Kompensation, eine Art
Sekundärleben, in dem man allerdings sehr reich, berühmt und
mächtig werden kann, so dass die Entfremdung nahezu perfekt
verleugnet werden kann.
So steht das Ansehen von Prominenten zumeist in keiner
angemessenen Relation zu ihrer zwar besonderen, aber völlig
einseitigen Leistung. Nur in der Ersatzwelt des falschen Lebens wird
das Bühnenverhalten etwa eines Tennisprofis, einer Schlagersängerin
oder eines Schauspielers bedeutungsschwer. Es sind die Projektionen
ungestillter Sehnsüchte des entfremdeten Selbst, die sich hier
Verehrungsobjekte aufbauen. Die ganz private Lebenssituation
hingegen, das oft bedürftige und unzufriedene, gehetzte und
erbärmliche Selbsterleben der Berühmten, ohne die
Projektionsenergie der Anhänger und Verehrer, bleibt der
Öffentlichkeit verborgen. Der Boulevard feiert den Schein und
beschmutzt erst beim Absturz mit voyeuristischer Gehässigkeit das
wirkliche Sein.
Um die Fälschung des Lebens nicht mehr sehen und erleiden zu
müssen, stehen dem falschen Selbst psychische Rettungsmechanismen
zur Verfügung, mit denen die verbogenen und defizitären
Persönlichkeitsstrukturen nach Erleichterung und Entlastung streben.
Es sind dies vor allem die psychosozialen Abwehrfunktionen der
Spaltung, der Projektion und der Reaktionsbildung.
Spaltung
Damit ist eine psychische Leistung benannt, mit der die
Wahrnehmung unliebsamer, verpönter, tabuisierter, verbotener oder
moralisch geächteter seelischer Eigenanteile nachhaltig ausgesperrt
wird. Ähnlich wie im Fall von Verleugnung und Verdrängung werden
belastende seelische Inhalte nicht mehr als zu einem selbst gehörend
wahrgenommen.
Aber die abgespaltenen Anteile sind nicht mehr wirklich
dem Bewusstwerden zugänglich, was mit verleugneten und
verdrängten Inhalten noch eher möglich ist. Während unerträgliche
Vorstellungen der eigenen Person damit verhindert werden, wird das
ausgesperrte Erleben zugleich anderen projektiv zugeschrieben. Das
führt beispielsweise dazu, dass man andere ausschließlich als «böse»
wahrnimmt, um sich selbst als nur «gut» einschätzen zu können. Mit
einer normalen ambivalenten Wahrnehmung der Realität, dass jeder
immer sowohl «gut» als auch «böse» ist, kann das falsche Selbst nicht
leben. Der notwendige Reifeschritt aus der primitiven gespaltenen
Welt in eine integrierte Weltsicht wird zum Schutz des Selbst nicht
wirklich vollzogen. Mit der gespaltenen Wahrnehmung von Gut oder
Böse, Richtig oder Falsch, Schwarz oder Weiß gehen alle
Zwischentöne, gehen das Farbige und das «Sowohl-als-auch» verloren.
Behelfsweise kann sich das «bedrohte Selbst» stabilisieren und
regulieren um den Preis, dass das «Böse» unbedingt außerhalb von
ihm selbst identifiziert werden muss. So werden völlig Schuldlose mit
schwersten Vorwürfen beladen oder so lange provoziert und gereizt,
bis man ihnen real etwas Schlechtes nachweisen und sich dann
absolut im Recht fühlen kann. Dieses tragische Spiel wird im
Unbewussten inszeniert: «Jetzt hab ich dich, du Schwein!»
Ein Beispiel: Der Partner wird so lange geärgert und bedrängt, bis
er zuschlägt; mit erotisierten Signalen wird so lange gespielt, bis einer
sich sexuell eingeladen fühlt und zugreift; durch widerständig-
störrisches Verhalten des Kindes wird die Mutter zum Ausrasten
gebracht und entlarvt dabei ihre falsche Liebe; oder der Vater wird
zur strafenden Gewalt gereizt und führt dabei seine verborgene
Ablehnung vor. Politiker diffamieren Protestler, bis diese sich strafbar
machen, und Demonstranten beleidigen Politiker, um deren
Janusgesicht hinter der demokratischen Maske zu enthüllen.
Die Spaltung ermöglicht eine einseitige Sicht zugunsten des
defizitären Selbst, aber mit der Notwendigkeit, das unannehmbar
Abgespaltene irgendwo anders unterzubringen und dann dort –
außerhalb von sich selbst – zu bekämpfen. Die gespaltene Welt ist das
Schlachtfeld der falschen Selbst.
Projektion
Projektion ist also die häufigste Folge der Spaltung. Denn wohin mit
den eigenen, nicht mehr wahrnehmbaren seelischen Inhalten, die ja
nicht verschwunden, sondern nur nachhaltig verschlossen sind? Das
Abgespaltene ist wegen seiner Bedrohungsqualität unbewusst so
drängend, dass es Träger für das Verbotene finden und mieten muss.
Bei anderen wird jetzt all das gesucht und denunziert, was man bei
sich selbst auf keinen Fall finden darf. Der Brave braucht Freche, der
Angepasste den Revoluzzer, der Fromme den Ungläubigen, der sexuell
Gehemmte den unverschämt Geilen, der Linke den Rechten, und
umgekehrt, der Wohlstandsbürger den Wirtschaftsflüchtling, um im
verhassten und gejagten Gegenbild die eigenen verpönten Anteile zu
bekämpfen. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass unabhängig von der
Bewertung der eigenen Position der innerseelische Zustand auf beiden
Seiten einseitig eingeengt und gestört ist. Der Projizierende ist ebenso
selbst-gestört wie der angeklagte und verfemte Gegenspieler. Nur die
äußere Bewertung ist politisch-ideologisch beziehungsweise vom
gesellschaftlichen Mainstream beeinflusst und jederzeit veränderbar.
So war der Eingeschüchterte in der DDR in der Regel erfolgreicher als
der Individualist, in der Bundesrepublik ist der narzisstisch
Aufgeblähte meist erfolgreicher als der Gehemmte. Völlig unabhängig
vom System lebt aber der Mitläufer, der Systemangepasste, immer am
unbehelligsten, zumeist jedoch auf Kosten der Selbstzufriedenheit und
häufig auch seiner Gesundheit.
Die mit projektiven Eigenschaften Bedrängten sind besonders
brauchbar, wenn etwas von dem Abgelehnten sich bei ihnen auch real
identifizieren lässt. Höchstens die Unverhältnismäßigkeit der
überschießenden Hassreaktion verrät dann noch etwas von der
projektiven Abwehr.
Das bedrohte Selbst braucht fremde Gewalt, das ungeliebte Selbst
braucht eine süchtige Wachstumsideologie, das abhängige Selbst
verhindert Freiheit, das gehemmte Selbst fürchtet die Expansion, das
passive Selbst hetzt gegen die Aktivisten, und das unbegrenzte Selbst
hasst Grenzen und verachtet Begrenzte.
Reaktionsbildung
Unserer Seele steht ein hervorragender Beruhigungstrick zur
Verfügung: Wenn man betont das Gegenteil dessen macht, was nicht
sein soll und wie man nicht sein sollte, dann ist man nach einiger Zeit
fest von der eigenen Maske überzeugt. Das «falsche Selbst» ist dann
nahezu das Gegenteil der verpönten Selbstanteile. Auf der sozialen
Bühne lebt man in einer Rolle von sich selbst, nur in den Träumen
tauchen die abgelehnten und eingesperrten Monster und Clowns
mitunter wieder auf. Auch in Gestalt von Symptomen und
Erkrankungen fleht das verlogene Selbst nach Erlösung. Deshalb
sagen wir zu Recht, dass die Psychotherapie die «Medizin der
Wahrheit» ist.
So wie mit der seelischen Abwehr der Projektion anderen jene
Eigenschaften angedichtet werden, die man selbst nicht haben will, so
verrät sich die Reaktionsbildung in den betonten und kämpferisch
vertretenen Gegenpositionen: Der Brave versucht seine verleugnete
Aggressivität unter Kontrolle zu halten, der Fromme bekämpft seine
Sünden, der Keusche flieht vor seiner Geilheit, der Helfer verbirgt
seine Hilfsbedürftigkeit, der Mächtige seine Ohnmachtsgefühle und
der Erfolgreiche seine Minderwertigkeit. Das betonte Gegenteil wird
zum Schutz vor der Wahrheit aufgebaut und muss sich wie jede
Kompensation immer stärker und häufiger zeigen und beweisen. Das
Falsche wird gewöhnlich, nutzt sich im Laufe der Zeit ab und muss
deshalb immer wieder aufgefrischt und mit verstärkten Argumenten
und zugespitzten Handlungen betont werden, um seine
Schutzwirkung zu erhalten. So werden «Brave» zu Friedenskämpfern,
«Fromme» zu Fundamentalisten, «Keusche» zu Tugendwächtern,
Helfer entwickeln ein Helfersyndrom, Mächtige werden
herrschsüchtig und autoritär und die Erfolgreichen immer gieriger
und gnadenloser.
Indem die falschen Selbst sich zu retten und zu stabilisieren
bemüht sind, nahezu zwanghaft bemüht sein müssen, die aufgenötigte
soziale Maske so zu tragen, dass die Seiten ihres Selbst, die nicht sein
sollen, verborgen bleiben, wird ihr falsches Leben zur vermeintlichen
Realität. Je überzeugter, je verbohrter, je kämpferischer die eigene
Überzeugung vertreten wird, dabei keine kritische Reflexion mehr
zulässt und Andersdenkende partout nicht mehr verstehen will,
sondern diffamieren muss, desto stärker auch der Verdacht auf die
Herrschaft der Reaktionsbildung über die falschen Selbst.
6 Die äußeren Rettungsversuche des falschen Selbst
Anpassung
Es gehört zur Sozialnatur des Menschen, in Beziehung zu leben. Jeder
Mensch will dazugehören: zu einer Familie, zu einer Partnerschaft, zu
einem Sozialkörper (einer Freundesgruppe, Arbeits- und
Berufskollegen, zu einer Religionsgemeinschaft oder politischen
Partei, einem Verein, einem Club, einer Sportgemeinschaft). So
bekommen auch der Wohnort, der Kiez, die Region, das Land, die
Heimat, die Nation eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für Halt,
Schutz und Orientierung. Es ist weder krank noch «von gestern»,
wenn eine Anbindung an die Heimat, an die Nation gebraucht und
gepflegt wird. Andererseits tragen Globalisierungsprozesse ein hohes
Risiko der Überforderung und Entwurzelung mit nahezu
zwangsläufigen Rebound-Effekten für das Nationale und Regionale.
Nur in gelebten, übersichtlichen Beziehungen, in vertrauter Runde,
mit bekannten Regeln und Ritualen kann sich ein Mensch
aufgehoben, gesichert und wohlfühlen, weil er sich auskennt und
dazugehört – er kennt seinen Platz, seine Bedeutung, seine Rolle, die
Möglichkeiten und Grenzen. Fremdes und Neues ist immer
verunsichernd und macht berechtigterweise so lange Angst, bis man
sich wieder auskennt, bis man weiß, was einen erwartet, bis man
wieder Kontrolle über die Situation erlebt. Fremdenangst ist völlig
normal und berechtigt.
Erst wenn man weiß, mit wem man es zu tun hat, wie man sich
verständigen und abstimmen kann, dass keine Gefahr droht, wie man
miteinander zurechtkommen kann, ohne dass die eigene Bedeutung
dabei infrage gerät, beruhigt sich die Alarmangst und eröffnen sich
Möglichkeiten der Zusammenarbeit, der psychosozialen Bereicherung
und kreativen Entwicklung. Fremdenfeindlichkeit ist ein Symptom der
misslingenden Verständigung und Integration bei eigenen
Anpassungsstörungen oder fortbestehender realer Bedrohung. Jeder
Mensch braucht Sicherheit, Bedeutung und ein eigenes «Territorium»
und ist ständig damit beschäftigt, sich den sich verändernden
Bedingungen anzupassen. Anpassung ist also eine wichtige
psychosoziale Leistung.
Selbst-Störungen bedingen Anpassungsstörungen in Form
behinderter Anpassungsfähigkeit oder als übertriebene
Gleichschaltung bis hin zur Unterwerfung. Das «bedrohte Selbst» ist
grundsätzlich so verunsichert, dass jede sinnvolle und geforderte
Anpassung mit paranoischem Misstrauen belastet ist und praktisch
verhindert wird.
Das «bedrohte Selbst» braucht zum Selbstschutz Distanz, es ist
jederzeit zum Kampf bereit. Das «bedrohte Selbst» ist das seelische
Militär, die Grenzschutzpolizei, um Nähe, Bestätigung und
Zuwendung abzuwehren, der man angesichts bedrohlicher
Früherfahrungen niemals mehr trauen kann. Das «gequälte Selbst»
entzieht sich einer dynamischen Anpassung durch Rückzug und
Verweigerung oder auch durch psychosomatisches Leiden, um jeder
Gefahr der übergriffigen Besetzung zu entgehen.
Das «abhängige Selbst» ist der «Weltmeister» der Anpassung.
Anpassung war die Überlebenschance. Mit der Anpassung an Mutters
Erwartungen und das Bemühen, ihr alles recht zu machen
(«Mutterbediener», «Frauenversteher»), ist eine Charakterstruktur
geformt, die ein Leben lang Führung, Anweisung und Beratung
braucht, weil man Eigenes nie finden und entfalten konnte. Von der
Anpassung der Abhängigen leben die Mode, die Werbung, die
Religion, die politische Führung, die Macht des Mainstreams und der
vorauseilende Gehorsam politischer Korrektheit. Die Reduzierung von
Anpassungsfähigkeit auf Abhängigkeit verschafft Gesellschaften
reichlich Mitläufer, die froh sind, wenn für sie entschieden wird,
wenn sie gesagt bekommen, was richtig oder falsch ist, was gerade
«in» ist und was sie tun oder lassen sollen. Die Gefolgschaft durch
Anpassung ist aber auch die Achillesferse jeder Gesellschaft oder
sozialen Gruppe – eine Riesengefahr, weil das ungeliebte und
abhängige Selbst sich nicht befreien kann; so wird es eher «bis in den
Tod» mitmarschieren als den Aufstand wagen.
Ablenkung
Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das «falsche Selbst» ein
Ersatzleben führt, zu dem es gezwungen oder verführt worden ist.
Doch das echtere Leben ist nicht tot – sonst wäre man tot –, es ist nur
unterdrückt, nicht entfaltet, mit Angst besetzt, moralisierend
abgewertet. Trotzdem drängt es immer irgendwie ans Licht, in die
Lebendigkeit. Davon leben wir Psychotherapeuten: die Signale des
authentischeren Lebens zu verstehen und die seelische Wahrheit
auffinden zu helfen. Aber auch ohne Erkrankung meldet sich das
falsche Leben durch Unzufriedenheit, innere Spannung, Gereiztheit,
vielfache Beschwerden und immer wieder durch psychosoziale
Konflikte der Kränkung, Verletzung, des Ärgers, der Enttäuschung,
mit Vorwürfen und Streitlust. Vor allem quälende Sinnfragen, Midlife-
Crisis, Torschlusspanik, das Gefühl, etwas verpasst zu haben, zu kurz
gekommen zu sein, dass es «das ja noch nicht gewesen sein kann»,
lassen eine tiefe Entfremdung ahnen und die Hohlheit des «falschen
Lebens» spüren. Deshalb haben viele Menschen große Scheu vor
Ruhe. Sie erleben dann quälende Langeweile, werden unruhig, gereizt
und vorwurfsvoll. Entspannungsmethoden und Meditation bergen die
Gefahr, dass mit dem Wegfall der Ablenkung schmerzlich unerfüllte
Grundbedürftigkeit spürbar wird als Sehnsucht nach einem anderen
Leben, nach Lebensveränderungen, nach anderen Verhältnissen. So
werden neue Partner gesucht, man geht auf sexuelle Abenteuer aus,
die Arbeitsstelle wird gewechselt, man schult vielleicht sogar um,
begibt sich auf die Suche nach neuen Verheißungen, Wohnung oder
Wohnort werden gewechselt, oder man wandert gleich aus.
Häufig wird das Heil in neuen Gemeinschaften mit alternativer,
therapeutischer, esoterischer, religiöser oder ideologischer
Orientierung gesucht und gefunden. Es darf keine innere Leere
entstehen, internale Reflexion muss vermieden werden. Deshalb
bedarf man ständiger Arbeit, braucht Aufgaben, Verpflichtungen,
Zwänge, mit denen man ständig beschäftigt ist, die aber im Grunde
das «falsche Selbst» nur mit falschen Inhalten füttern, auch wenn sie
sehr gewichtig erscheinen. Nicht zuletzt deshalb kann die Berentung
für manche zur lebensbedrohlichen Krise werden.
Die Hauptablenkung, die wir «modernen» Menschen uns
geschaffen haben, ist medialer Natur: TV, Computer und Handy sind
das Trio für umfassende grenzenlose Ablenkung. Medial ist ein
komplettes Ersatzleben in einer simulierten und fiktiven Welt möglich
geworden. Mit beziehungslosen Ersatzidentitäten, überflüssigen
Informationen, banaler Kommunikation und sinnfreiem Spielen
schafft die Ablenkung die hundertprozentige Gelegenheit, sich im
falschen Selbst zu bestätigen, vermeintliche Bedeutung zu gewinnen
und im falschen Leben unbegrenzt umherzusurfen. «Schöne neue
Welt», in der via Ablenkung ein vollkommen falsches Leben generiert
werden kann. Das falsche Leben ist im Grunde an Ablenkung
gebunden; ein Energieausfall würde unsere «zivilisierte» Welt in
kürzester Zeit in ein Tollhaus mit Mord und Totschlag, mit
Plünderung und Vergewaltigung verwandeln. Die Ablenkung dient
vor allem der Beruhigung, dem Betäuben der aufgestauten
Aggressivität. Dass sie aber der falsche Weg ist, der keine wirkliche
Befriedigung ermöglicht, sieht man auch daran, dass sie kein
entspannendes Ende findet.
Soziales Ausagieren
Ein falsches Selbst zwingt zu einem Verhalten, das die Inhalte der
Fälschung bedient und davor schützt, das Wahre und Echte zu
erfahren. Der Mensch neigt dazu, eher in der anerzogenen Störung zu
verharren, als zu sich selbst zu finden: einerseits weil das Verlassen
des aufgenötigten Ersatzlebens mit Nachteilen oder sogar Strafe
bedroht ist, andererseits weil es wegen der zwangsläufigen
Wiedererinnerung der erlittenen Entfremdung niemals ohne Angst,
Schmerz, Ernüchterung, Enttäuschung, Wut und Trauer möglich ist.
Psychosoziale Gesundung ist niemals Wunderheilung, sondern
immer schwere Arbeit, harter Kampf, mutige Ablösung von falscher,
aber tragender Gemeinschaft mit gesicherter Versorgung in ein nun
selbstverantwortetes Leben, das man praktisch ganz neu erlernen und
erfahren muss. Wer aus dem falschen Leben aussteigen will, stuft sich
herab zu einem Lehrling des eigenen Lebens, der Produzent, Regisseur
und Akteur zugleich sein muss. Wer den Zustand falscher Anpassung
aufgibt, der ist zunächst allein mit sich. Diese Krise ist unvermeidlich,
lässt sich aber durch emotionale Verarbeitung in hilfreicher
Beziehung bewältigen. Im Grunde genommen ist jeder erwachsene
Mensch immer allein, er muss aber nicht einsam bleiben. Die Angst
vor dem Alleinsein ist eine kindliche (schlimme) Erfahrung, für deren
Abhilfe die meisten Menschen faule Kompromisse eingehen,
unterwerfende Anpassung akzeptieren und so im «falschen Leben»
landen. Erst mit dem akzeptierten Alleinsein wird die Grundlage
geschaffen, in ehrlichen Beziehungen und nicht entfremdenden
Gemeinschaften authentisch leben zu können und eine entspannende
soziale Befriedigung zu erfahren.
Im falschen Leben sind immer andere schuld, damit die eigene
Beschädigung und Entfremdung nicht erkannt wird. Soziales
Ausagieren meint in diesem Zusammenhang, dass es einen
unbewussten seelischen «Antreiber» gibt, der provoziert oder verführt,
damit andere sich schuldig machen, um selbst im rechten Licht zu
erscheinen. Das verletzte Selbst tut alles dafür, um von sich selbst auf
andere abzulenken: Das ist hilfreicher Selbstschutz und
sozialfeindliche Abreaktion zugleich. So hält sich eine Familie ihr
«schwarzes Schaf» (das «schwierige Kind», der «Außenseiter», der
«brutale Vater», die «überforderte Mutter»), im sozialen Leben hält
sich jeder «sein Schwein» (der «lästige Nachbar», der «undankbare
Freund», der «ungerechte Vorgesetzte», der «bescheuerte Politiker»),
in der Partnerschaft heißt es dann: Du bist schuld! Du liebst mich
nicht mehr! Du machst mich unglücklich!
Mit «Ausagieren» ist also gemeint: Man agiert, provoziert, verführt
und projiziert, bis man glaubt, endlich eine Erklärung zu haben, einen
Schuldigen oder kritikwürdige Verhältnisse für die eigenen Probleme
benennen zu können – und das alles nur, um sich nicht selbst zu
erkennen und zu verstehen, um nicht die eigene Not der Entfremdung
zu fühlen. Das falsche Selbst braucht Feinde, die ihm helfen, das
Unbehagen im eigenen Leben zu erklären und das Arrangement im
falschen Leben zu verteidigen. Jedes auffällige Kind ist der
Symptomträger einer Störung des Familiensystems. Jeder unmögliche
Partner ist ursprünglich mithilfe der Verblendung der Verliebtheit
gewählt worden, während unbewusst schon erwartet wurde, dass er
für Leiden und Konflikte taugt. Wenn man sich darüber wundert,
weshalb zerstrittene Paare so lange aneinander leiden und einander
kränken, dann ergibt die Beziehungsanalyse sehr oft die Erkenntnis,
dass der andere gebraucht wird, um durch Streit und Kampf von den
eigenen inneren Konflikten und Behinderungen abzulenken. Der
ungeliebte Partner ist der Sparringskämpfer, an dem man den
Überdruck des falschen Lebens ersatzweise abreagieren kann. Die
Aggression ist berechtigter Gefühlsstau aus der eigenen Entfremdung,
wird aber leider gegen das falsche «Objekt» gerichtet, was für kurze
Zeit zwar entlastet, langfristig aber auch noch die Chancen einer
guten Partnerschaft zunichtemacht.
Masochistisches Aushalten
Die meisten Selbst-Störungen entstehen durch Beziehungs- bzw.
Liebesmangel und durch Einschüchterung. Im Laufe der Zeit neigen
viele dazu, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Als Kind hat man sich
noch gewehrt – durch Schreien, Weinen, durch auffälliges
Protestverhalten, durch Verweigerung, durch Erkrankungen oder als
«Sorgenkind». In der Jugendzeit eskaliert häufig der Protest gegen
Einengung, Unterdrückung, Kränkung und Lieblosigkeit. Das
bekommt dann den Stempel «Pubertät» aufgedrückt. Je mehr man
aber für sein eigenes Leben selbst verantwortlich wird, nötigen
Leistungen und Anpassungen in ein jetzt «kultiviertes» falsches Leben.
Man gibt nach, resigniert, will in Ruhe gelassen werden, sucht
Frieden mit den Verhältnissen. Ziele verlieren an Reiz, Sinnfragen
finden keine Antwort mehr, der Lebensweg wird infrage gestellt.
Partnerschaftlich erlahmt das Interesse aneinander, das Liebesfeuer
erlischt, die sexuelle Lust schwächelt. Wer nicht mehr ausbrechen
will, in eine neue Partnerschaft, in ein außereheliches Verhältnis, in
eine andere Arbeit oder Anstellung, in Reiseabenteuer oder
Kulturkonsum, der überlässt sich seiner Enttäuschung und beendet
das innere Aufbegehren durch masochistisches Ausharren. In der
Tiefe mögen noch Hoffnungen überleben, aber es dominiert die
Resignation. Im Heer der Passiven, der Nörgler und Dysphoriker, der
Wahlverweigerer, der Desinteressierten und Nischen-Existenzen findet
man im Rückzug eine relative Entlastung und Entspannung, wenn die
eigentlichen Wünsche und Erwartungen nicht erfüllt werden. «Wir
können ja sowieso nichts erreichen!» «Es ist doch alles vergeblich und
sinnlos!» Der mit der masochistischen Verweigerung verbundene
innerseelische Stress macht krank und entzieht dem sozialen
Zusammenleben produktive und kreative Energie.
7 Krankheit und Gewalt
Ich stelle Krankheit und Gewalt gegenüber, weil sie häufig Folgen
«falschen Lebens» sind und eine gemeinsame Quelle haben.
Nicht selten ist Krankheit nach innen, gegen sich selbst gerichtete
Gewalt, und Gewalt ist nach außen, gegen andere gerichtete
Krankheit. Damit ist natürlich nicht alles über Krankheit und Gewalt,
gesagt, das wäre zu einfach. Aber aus einer energetischen Perspektive
betrachtet, ist der Vergleich hilfreich. Er macht vor allem auf eine
gemeinsame Wurzel aufmerksam: auf inneren Stress, der verschiedene
Ausdruckswege sucht und findet.
Stress entsteht durch äußere und innere Reizüberflutung. Von
außen können Nahrungs- und Wassermangel, Kälte, Hitze, Lärm,
Strahlen, Gifte, Krankheitserreger u.a. als Stressoren wirken; innerlich
sind es erlebte Bedrohungen, Kränkungen, Demütigungen,
Überforderung, die Ängste und damit Stress auslösen können. Stress
bewirkt biochemische Schutzreaktionen, indem Stresshormone
(Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol) ausgeschüttet werden, damit wir
Energien zur Verfügung gestellt bekommen für erhöhte
Aufmerksamkeit und gesteigerte Leistungsfähigkeit, um uns durch
Kampf oder Flucht den Stressoren zu entziehen oder uns ihrer zu
entledigen. Mit beschleunigter Atmung und Herz-Kreislauf-Funktion
bringen wir eine schützende Handlungsfähigkeit in Stellung oder um
uns mithilfe emotionaler Abreaktion (schreien, weinen, schlagen,
treten, beißen) zu entlasten. Diese physiologischen und emotionalen
Reaktionen sind im Grunde unvermeidbare, biologisch vorgegebene
Schutz- und Verarbeitungsmöglichkeiten. Sie können aber erheblich
behindert werden, wenn Kampf nicht gewagt wird und Flucht nicht
möglich ist, wenn die Erkenntnis in die Ohnmacht führt oder der
emotionale Ausdruck tabuisiert oder gar verboten ist. Dann ist nur
noch ein dritter Weg offen, nämlich dass die aktivierte, aber
aufgestaute Überlebensenergie akut in Symptome verwandelt wird
und dann über längere Zeit Funktionsstörungen verursacht, die zu
Krankheiten führen können.
Psychischen Stress erleben wir auch, wenn gegensätzliche
Bedürfnisse sich innerseelisch im Kampf befinden, wenn äußere
Anforderungen den inneren Wünschen oder Möglichkeiten
widersprechen, wenn man etwas unbedingt möchte, was nicht zu
erreichen und zu bekommen ist, oder wenn man aufgefordert wird,
etwas zu tun, wozu man nicht wirklich in der Lage ist oder wogegen
man heftigen Widerwillen verspürt. Es geht also um ungelöste
innerseelische Konflikte, beispielsweise sich vorzugsweise versorgen
zu lassen oder selbständig zu handeln, sich unterzuordnen oder zu
bestimmen, sich mitnehmen zu lassen oder zu führen, nachzugeben
oder sich durchzusetzen. Stress ergibt sich auch aus
Entscheidungsdruck, Ja oder Nein sagen zu müssen, aus mehreren
Möglichkeiten eine auszuwählen und dann auf alle anderen zu
verzichten, also Entscheidungen treffen zu müssen, die Konsequenzen
haben, ohne sicher sein zu können, was die Folgen davon sind. Am
meisten Stress entsteht, wenn Menschen Leistungen erbringen sollen,
für die sie überhaupt nicht ausgerüstet sind, insbesondere wenn die
strukturellen Defizite ihrer Selbst-Störungen diesen Anforderungen
nicht gerecht werden können.
«Strukturstörung» heißt dann, dass der Betroffene keine
psychische Substanz entwickeln konnte, um die Realität angemessen
wahrzunehmen, um klar kommunizieren zu können, um seine Gefühle
zu regulieren (für angemessenen Ausdruck und notwendige
Beherrschung zu sorgen) und in Beziehungen gut zwischen Ich und
Du zu unterscheiden, Nähe und Distanz zu regulieren und eine
zuverlässige Bindung mit Konfliktbewältigung durchzuhalten.
Wenn im Zusammenspiel innerer und äußerer Stressoren eine
Belastungsgrenze erreicht wird, die individuell ganz unterschiedlich
hoch sein kann, und der Stress nicht mehr angemessen verhindert
oder verarbeitet werden kann, sind Krankheit oder Gewalt
unvermeidbar. Der individuelle «Eichstrich» ist abhängig von der
ausgebildeten Persönlichkeitsstruktur und adäquaten
Reaktionsmöglichkeiten, von der situativen Realbelastung und den
sozialen Hilfs- und Ausweichmöglichkeiten. Davon hängt auch ab, ob
eine akute Belastung nur hilflos macht oder als bewältigbar erlebt
wird. Nicht jede traumatische Situation bewirkt schon eine
krankheitswerte Traumatisierung. Andererseits kann eine für die
Selbstproblematik spezifische – relativ geringe – reale Bedrohung
oder Kränkung als Trauma erlebt werden.
Ob sich Stress zur Krankheit (als Gewalt gegen sich selbst)
entwickelt oder zur sozialen Gewalt (krankhaftes Verhalten gegen
andere) führt, ist sicher von vielen Faktoren abhängig. Aber
entscheidend ist, in welchem Milieu jemand aufwächst, welche
sozialen Hilfen er erfährt und ob moralische Verpflichtungen
Orientierung und Halt vermitteln. Im Grunde ist jede Erkrankung
nach ihrer psychodynamischen Beteiligung zu untersuchen, das heißt,
es gibt immer auch selbstschädigendes Verhalten, für das der
Erkrankte auch verantwortlich ist.
Es fällt sehr schwer zu akzeptieren und wird meist energisch
geleugnet, dass Krankheit auch Schuld bedeuten kann – allgemein
gesagt: die Schuld des «falschen Lebens». Der Streit zwischen
monokausalem und systemischem Denken ist so alt wie die Medizin.
Ersteres geht etwa davon aus, dass Bakterien und Viren allein die
Infektion bedingen, dass ausschließlich Allergene allergische
Reaktionen bewirken, dass nur Rauchen, Cholesterin und hoher
Blutdruck für Herzinfarkt verantwortlich sind, dass Übergewicht
ausschließlich durch Essen entsteht etc. Diese verkürzte Perspektive
bringt im Medizinbetrieb ungeheure Gewinne durch kurze
Konsultationen, die Inanspruchnahme teurer Apparatediagnostik und
bevorzugt pharmakologische Behandlung. Die psychosozialen
Zusammenhänge hingegen werden vernachlässigt, mit der Folge, dass
«Heilung» passiv erwartet wird – die Medikamente sollen wirken –,
statt sie durch Erkenntnis und Lebensveränderung aktiv anzustreben.
Krankheit wird dann nicht als gesunde Reaktion auf falsches Lebens
verstanden, und Therapie ist kaum mehr als Hilfe bei der
Wiederanpassung an das falsche Leben, höchstens mit einigen
symptomatischen und oberflächlichen Veränderungen. Bereits
zusammen mit der Nennung der sogenannten Risikofaktoren für Herz-
Kreislauf-Erkrankungen (Rauchen, Ernährung, Bewegung, Blutdruck)
müssten Analysen erfolgen, weshalb jemand raucht, sich falsch
ernährt, wenig bewegt und im Stress lebt, um die psychosozialen
Zusammenhänge zu erfassen und dann auch entsprechend behandeln
zu können. Eine systemische Medizin müsste bei jeder Erkrankung
Körper und Seele, die soziale Umwelt und die Lebensform, sowie die
Werte und Ziele des individuellen wie des gesellschaftlichen Lebens
einbeziehen, um zu einer ganzheitlichen Diagnose zu kommen.
Eine solche Diagnose sähe dann beispielsweise so aus: «Herzinfarkt
bei koronarer Arteriosklerose als Folge von Fehlernährung,
Bewegungsmangel, Hypertonie und Rauchen bei chronischem
beruflichen und akutem familiären Stress in der Folge chronischer
Arbeitsüberlastung und Partnerschaftskonflikten bei narzisstischer
Persönlichkeitsproblematik mit Kompensation der Selbstwertstörung
durch Leistung bei unerfüllter Sehnsucht nach Anerkennung und
Bestätigung, eingespannt in die überzogenen Erwartungen und
falschen Normen eines ‹Karriere-Lebens›. Der akute Infarkt wurde
ausgelöst durch eine existenziell bedrohliche Kränkung und
Abwertung im Beruf mit drohendem Arbeitsplatzverlust.»
Ähnliches lässt sich von der Gewalt als «Krankheit nach außen»
sagen. Kein Mensch wird als Gewalttäter geboren. Immer sind die
Entwicklungsbedingungen, vor allem die Qualität der
frühen Beziehungsangebote, die sozialen Hilfen durch Halt,
Förderung und Unterstützung und die gesellschaftlichen Werte
entscheidende Faktoren bei der Entstehung von Gewalt. Das heißt
nicht, dass kriminelle Gewalt nicht geahndet und bestraft werden soll,
aber noch wichtiger ist ihre Prävention. So gehört zur Bewertung
einer Gewalttat immer die Analyse der Ursachen
und Zusammenhänge. Die ungestillte Seele greift gern zur «Keule» –
verbal oder tatsächlich handgreiflich –, wenn sie weder zu weinen
noch zu trauern wagt, um nicht erneut die erlittenen und verdrängten
Kränkungen und seelischen Verletzungen zu beleben. Wenn Politiker
wachsende Gewalt in der Gesellschaft nur verurteilen, wissen sie
nicht, was sie tun: sie verleugnen und missachten die psychosozialen
Verhältnisse, die zur Gewalt führen und für die sie mit die
Verantwortung tragen. Mit der diskriminierenden Verurteilung ist
überhaupt nichts gewonnen. Wenn man einem Dicken zuruft: «Iss
weniger», einen Trinker zur Abstinenz auffordert, einem Raucher mit
tödlicher Gefährdung droht, werden das Leid und der Konflikt nur
verschärft, denn der Rat ist ja nicht unbekannt, nur vollkommen
unnütz. Eine Empfehlung kann nicht einfach befolgt werden ohne
tiefere Einsicht in das Fehlverhalten mit wirklichen Entwicklungs-
und Veränderungshilfen. Ebenso verhält es sich mit der Gewalt: Selbst
perverse Gewalttäter wissen, dass sie unrecht handeln, aber sie
können ihr krankhaftes Verhalten nicht einfach abstellen, eher kommt
es zu einer Trotzreaktion, die alles noch schlimmer macht. Es ist nicht
wirklich hilfreich, wenn man sich nur gegen Gewalt erklärt – man
mag sich dann auf der «guten» und «richtigen» Seite wähnen, trägt
damit aber nichts zur Aufklärung und notwendigen Veränderung der
psychosozialen Lebensbedingungen bei, die Gewalt erzeugen.
Wir dürfen aber auch nicht übersehen, dass die Gewalt auf der
Straße oder die Kriminalität nur die Spitze des Eisbergs
gewaltbereiter Fehlentwicklung darstellen. Weit verbreitet und oft
nicht wahrgenommen ist Gewalt gegen Kinder, Gewalt in der
Partnerschaft, Tierquälerei durch industrielle Tierproduktion,
Zerstörung der Umwelt, Gewalt gegen «Mutter Erde», gegen das
natürliche Gleichgewicht der Koexistenz von Pflanzen, Tieren und
Menschen. Unser «falsches Leben» ist strukturelle Gewalt! Mit dem
gekränkten und unterdrückten «falschen Selbst» zerstören wir unsere
Lebensgrundlage.
8 Die Krankheiten des falschen Selbst
Zugespitzt ließe sich formulieren: Das falsche Selbst ist die Krankheit
an sich! Gemeint ist damit, dass ein falsches Selbst die
Störungsgrundlage bildet, die für die Entstehung von vielen
Erkrankungen verantwortlich ist. Die mit dem falschen Selbst
verbundene Entfremdung von den individuellen Lebensmöglichkeiten
– oder allgemeiner formuliert von der eigenen Natur
und Natürlichkeit – erzeugt permanenten Stress. Im Grunde
genommen tobt ein ständiger innerseelischer Kampf zwischen den
gegebenen Bedürfnissen, die befriedigt werden wollen, und den
vorhandenen Entwicklungstendenzen, die sich entfalten möchten, auf
der einen und den das Selbst schädigenden Einflüssen aus frühen
Beziehungsstörungen auf der anderen Seite. Innere Gebote und
Verbote, Befürchtungen und Strafängste widersprechen den
natürlichen Strebungen; oder nicht erworbene und unterdrückte
Selbst-Fähigkeiten verhindern eine angemessene Reaktion auf inneres
Befinden und reale Anforderungen. Dieser ständige Kampf kostet
Kraft, verbraucht «Lebensenergie» für die Anpassung, zur
Ausbremsung vorhandener Impulse, zum Ausbau oft komplizierter
und aufwändiger Ersatzbefriedigungen oder zum aufreibenden Protest
gegen Einengung, Repression und erlittenen Beziehungsmangel.
Eine gesunde Selbstentfaltung wird ermöglicht durch Selbst-
Erkenntnis im Spiegel des Du, durch bestätigende Resonanz und
abgrenzende Auseinandersetzung, um Identität und Andersartigkeit
zu erleben. Ein echtes Selbst braucht Spiegelung, Bestätigung,
Akzeptanz und Kritik im Rahmen einer wohlwollenden,
empathischen, freilassenden Beziehungskultur. Da der «Spiegel» der
Beziehung nie vollkommen sein kann und Verzerrungen
unvermeidlich sind, führen Bewertungen, die mit «richtig» oder
«falsch», «gut» oder «schlecht» operieren, zu einer falschen Selbst-
Überzeugung. Für die gesunde Selbst-Entwicklung ist es wichtig, dass
sie in einem Beziehungsraum der Neugierde, der Überraschungen und
der angstfreien Akzeptanz von Unbekanntem und Andersartigem
geschehen kann.
Schauen wir auf die verschiedenen Formen des falschen Selbst, dann können wir aus der
jeweiligen Entstehungsgeschichte auch die vorhandenen oder zu erwartenden
Folgestörungen verstehen:
1. im Unwissen darüber, was man selber braucht, was gut für einen ist und was nicht –
so tut man auch Falsches, Unpassendes, Überforderndes;
2. durch die Abhängigkeit von Bewertungen anderer mit der Folge ständiger
Erwartungsangst, bestätigt und bloß nicht abgelehnt zu werden;
3. im Stress des Erspürens, der ständigen Aufmerksamkeit, das Richtige herauszufinden
und zu tun, und schließlich
4. in der regelmäßigen Gefahr, etwas zu tun und sich abzuverlangen, was erwartet wird,
ohne Rücksicht darauf, ob man es auch will, kann und ob es überhaupt zu einem passt.
Das abhängige Selbst ist Entfremdung an sich.
1. Das unentfaltete Selbst äußert sich als Schwäche, Hilflosigkeit, Ratlosigkeit, die einen
enormen Appellcharakter haben. Wer
hinstürzt, dem muss aufgeholfen
werden, wer weint, löst Trostimpulse aus, wer sich verläuft, dem
weist man gerne den Weg. Keiner geht frei und gern an einem Bettler
vorbei; das Almosen dient vor allem der Beruhigung des Gönners.
«Gutmenschen» sind schnell dabei, die Not von Hilfsbedürftigen sofort
lindern zu wollen – das ist humanitär geboten, aber verschafft in aller
Regel auch ein gutes Gefühl und beruhigt ein schlechtes Gewissen.
Helfen hat immer zwei Seiten: die Linderung aktueller Not und die
Verschleierung komplexer Zusammenhänge und damit die
Verhinderung der Ursachenbekämpfung. Entwicklungshilfe zerstört
oder verhindert lokale Produktion, die Fürsorge für andere erschwert
deren Eigenständigkeit, Symptombekämpfung in der Medizin lässt
komplexe Ursachen von Krankheiten unentdeckt und Ratgeber lassen
die Intuition schrumpfen. Navigationsgeräte machen
orientierungsblöd. Umgekehrt: Verweigerte Aktivität, unterdrückte
Autonomie, fehlende Anstrengungsbereitschaft, ungeförderte
Kreativität und Orientierungslosigkeit provozieren Helfer und
verlangen nach Hilfsmitteln. Das ist dann zwar eine Chance für das
vernachlässigte Selbst, aber nur wirklich entwicklungsfördernd, wenn
Hilfe die ursprünglich versäumte Unterstützung zur Selbsthilfe
nachholt. Es wird zwar immer Menschen geben, die ihr Leben lang
auf Hilfe, Unterstützung und Führung angewiesen bleiben, aber sie
haben auch Ressourcen, die gefunden und unterstützt werden sollten.
Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ein
vernachlässigtes Selbst kann so sehr geschwächt und behindert sein,
dass es ohne Hilfe und Helfer nicht weiterleben könnte. Jede
Unterstützung und Förderung muss aber das Erreichen von
Selbständigkeit zum Ziel haben, sonst verstärkt sie nur Abhängigkeit,
Bequemlichkeit und Faulheit. Die Grenze zwischen Nichtkönnen und
Nichtwollen ist meist fließend, so dass auch helfende Menschen und
Systeme individuell-dynamisch reagieren müssen und weder
bürokratisch noch ideologisch festgelegt sein sollten.
2. Ein vernachlässigtes Selbst kann sich noch auf eine andere Weise auf die Bühne bringen.
Wird ein Mensch nicht von Anfang an von seinen Eltern in seinen
Möglichkeiten erkannt und entsprechend gefördert, sucht er sich, so
bald das möglich ist, Förderer, Ideenträger oder Unterstützer, die aus
eigenen Interessen Orientierungslose und Hilfsbedürftige für ihre
Zwecke rekrutieren und instrumentalisieren. Alle Vereine,
Religionsgemeinschaften und politischen Gruppierungen jeglicher
Couleur leben davon, aus vernachlässigten Selbst-Schwachen
besondere Leistungsträger bis hin zu Fanatikern für die eigenen Ziele
zu machen. Das ist nur dadurch möglich, dass ein nie aufgeblühtes
oder ein verwelktes Selbst plötzlich Zuwendung und Interesse erfährt.
In aller Regel führt das jedoch nicht zur Entfaltung des vorhandenen
Selbst-Potentials, sondern zu einem Ersatzselbst im Interesse des
Mäzens, Trainers oder Missbrauchenden. Die eigentliche Selbst-
Schwäche bleibt, sie wird nur durch Beförderungschancen geleugnet
und durch Gruppenzugehörigkeit in eine vermeintliche Stärke
verwandelt. Noch der schwächste Dummkopf kann so zum Anführer
oder Held in einer Gemeinschaft werden, die irgendeine Form des
falschen Selbst kultiviert. Die Selbst-Schwäche macht Menschen zu
Fans. Nur ein unentwickeltes Selbst fühlt sich als Befehlsempfänger
wohl und folgt ohne moralische Skrupel (denn die Moral hat im
Selbst gar keine Wurzeln schlagen können) sogar verbrecherischen
Aufträgen. In diesen Fällen bedeuten die Förderung und Anerkennung
in einer Gruppe mehr als die Strafandrohung für Fehlverhalten. Von
einer Gruppe getragen zu werden, verleiht dem vernachlässigten
Selbst Flügel. Was man selbst nicht hat, wird durch die Sozialenergie
der Gruppe ersetzt.
Das vernachlässigte Selbst kränkelt an seiner Schwäche – an
Passivität, Hilflosigkeit, Ratlosigkeit, Orientierungslosigkeit – und
erkrankt an den psychosozialen Folgen von Bequemlichkeit, Faulheit
oder Unzuverlässigkeit, an mangelndem Pflicht- und
Verantwortungsgefühl. In allen wesentlichen Beziehungen im
Familien- wie im Arbeitsleben muss das zu Konflikten führen, deren
Stress Erkrankungen bedient. Wenn dann das vernachlässigte Selbst-
Potential instrumentalisiert wird – da genügt schon: «Du bist wichtig!
Komm zu uns! Bei uns hast du Chancen und dienst einer wichtigen
Sache!» –, dann kann das dazu führen, dass bisher ungenutzte
Lebensenergie zu destruktivem Handeln missbraucht wird.
Fallbeispiel für das vernachlässigte Selbst
Ein 26-jähriger arbeitsloser lediger junger Mann, der für sein Abitur
viel Nachhilfe brauchte, dann das Musikstudium abbrach und sich mit
verschiedenen Jobs, auch als Gitarrist, finanziell über Wasser hielt. Er
kam wegen Alkohol- und Drogenproblemen zur Behandlung,
nachdem ihm der Führerschein nach Fahren unter Alkohol entzogen
worden war. Im Gespräch darüber wurde bald deutlich, dass er
Alkohol gerne zur Beruhigung und Entspannung konsumierte, wenn
er zu aufgeregt, unsicher und dann auch ganz zittrig war (nicht als
Alkoholentzugssymptom, sondern als ein Hinweis auf
Erwartungsangst, wenn er sich unter Leistungs- und Zeitdruck mit
entsprechender Beobachtung und Bewertung sah). Er war intellektuell
sehr begabt und vielfach talentiert, fand aber nicht zu einer
zielgerichteten und erfolgversprechenden Tätigkeit. Er hatte keinen
wirklichen Ehrgeiz, sein hauptsächliches Bestreben kreiste um
vergnügliche Geselligkeit und «Chillen». Man traf sich, quatschte,
trank Bier dabei und lästerte am liebsten über Büromenschen,
Muttersöhnchen, Zicken und Verheiratete. Verbindlichkeiten,
Pünktlichkeit und Verpflichtungen waren für ihn Fremdworte,
Anstrengungen wurden nur akzeptiert, wenn sie von einer väterlichen
Person verlangt wurden, von der dann auch Lob und Anerkennung zu
erwarten waren. Im Gespräch fiel auf, wie lebendig der junge Mann
wurde und ins Schwärmen geriet, wenn er über gute Erfahrungen mit
väterlichen Vorgesetzten sprechen konnte. Dabei war er sofort bereit,
eine unerfüllte Vatersehnsucht als Problem zu akzeptieren. Er hatte
zwar einen Vater, aber dieser war für die Familie so gut wie nicht
vorhanden, da im Auftrage einer weltweit operierenden Firma
unterwegs. Der Patient erinnerte sich, dass er wichtige Dinge, wie
Schwimmen, Rad- und Skifahren, mit Freunden und Übungsleitern
gelernt hatte, da auch die Mutter dafür nicht zur Verfügung stand.
Aber seine Mutter war fürsorglich, kochte gut und nahm sich auch
Zeit, wenn er mit Problemen ankam. Nur auf den Vater durfte er nicht
schimpfen, sie verteidigte dessen aufreibende, aber bedeutungsvolle
und finanziell sehr einträgliche Arbeit.
Die Charakteranalyse des Patienten zeigte seine soziale
Unsicherheit, eine leicht zu aktivierende Scham, meist bezogen auf
Leistungsanforderungen, in Verbindung mit einer deutlichen Tendenz
zum Widerstand. Er neigte dazu, Probleme auszusitzen, Konflikte zu
vermeiden, sich Pflichten zu entziehen. Er litt selbst sehr unter sich,
an dem permanenten Konflikt zwischen vorhandenen Begabungen
und fehlenden Erfolgen mit erlebter Perspektivlosigkeit.
Im Grunde genommen, aber das wollte er erst gar nicht
wahrhaben, wartete er nur darauf, aufgerufen zu werden, gemeint zu
sein, angeschoben zu werden, eine Aufgabe, ein Ziel genannt zu
bekommen. Wenn ihm jemand sagte, den er als Autorität akzeptieren
konnte, wo es langging oder was er tun sollte, war er sehr tüchtig,
gewissenhaft und auch zuverlässig. Fiel die Führung aber wieder weg,
brach das aufgebaute Energiefeld erneut in sich zusammen, und dann
suchte er Trost und Anregung durch Alkohol und Haschisch.
In der Therapie waren Beratung und Förderung angezeigt. Eine
väterliche Führungsfunktion musste übernommen werden. Dort, wo
andere Patienten sich zu Recht beeinflusst und manipuliert erleben
und gegen therapeutische Bevormundung rebellieren würden, war der
vernachlässigte Patient dankbar und froh über Anregung,
Orientierungshilfe und Unterstützung. Es gelang, ihn zum Abschluss
des Studiums und einer verbindlichen Zusage für eine Band, mit der
er schon manchmal gespielt hatte, zu bewegen. Statt des
autodestruktiven Verhaltens (Alkohol, Drogen, Verweigerung) konnte
er ein Engagement für sich selbst entwickeln. Der junge Mann wird
wohl immer mal «väterliche» Unterstützung brauchen, um gut in
seiner Spur bleiben zu können. Er ist sicher gut beraten, nicht
selbständig zu arbeiten, sondern sich von einem Team immer auch
etwas mitnehmen zu lassen. Seine Mitgliedschaft in einer Musikband
war dafür ein gutes Beispiel: Er konnte seine individuellen
Fähigkeiten einbringen, war zugleich aber auch in eine höhere
Verantwortung und Verpflichtung eingebunden. Sein «falsches Leben»
entstand aus Vernachlässigung und Laissez-faire-Vaterlosigkeit, wie
sie heute leider aus falsch verstandener Liberalität und antiautoritärer
Ideologie weit verbreitet ist und eine Null-Bock-Generation hinterlässt
oder eine entleerte Fun-Orientierung generiert.
Das falsche Leben wird vom falschen Selbst ausgebaut und auch
gebraucht. Das echte Leben wird gefälscht, das wahre Leben lässt sich
kaum noch leben.
Dabei müssen wir erkennen und akzeptieren, dass alles, was wir
als echt, wahr, richtig oder authentisch für unser Leben erfahren
können, immer nur eine Annäherung, ein Teil vom Möglichen sein
wird. Ein hundertprozentig richtiges Leben ist prinzipiell nicht
erreichbar, das liegt in unserer Natur. Kein Mensch ist so ideal
ausgestattet, dass er alle Schwierigkeiten des Lebens optimal bestehen
könnte. Unsere Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit ist immer
auch begrenzt. Die Eltern sind nie optimal, die sozialen
Umweltbedingungen nie ausreichend. Das aus inneren Behinderungen
und Begrenzungen und aus äußerer Not und Bedrohung entstehende
falsche Selbst ist eine Tragik für den Einzelnen, eine Gefahr für
gesellschaftliche Fehlentwicklung, aber immer auch eine schützende
Anpassungsleistung. Ein falsches Selbst lebt immer im Spannungsfeld
von Fluch und Segen.
Der Segen besteht in der Fähigkeit zur Anpassung, selbst an
widrigste Verhältnisse. Die Erfolge im falschen Leben (durch
Reichtum, Macht und Ruhm) zähle ich nicht mehr zum Segen; denn
in der Spur des falschen Lebens werden meist übertriebene Ziele
angestrebt, die dann für die eigene Gesundheit, das soziale
Zusammenleben und die Entwicklung der Gesellschaft zum Problem
werden. Eine Erkrankung oder eine Krise bremst die Menschen auf
ihrer Fahrt in der falschen Bahn, es entstehen Erkenntnishunger und
Veränderungswillen.
Durch eine nur symptomatische Medizin, ökonomische Zwänge
und moralisierende Belehrungen werden sie leider schnell wieder in
die «normale» Bahn gedrängt. Sosehr die Medizin, die Arbeit und eine
Religion den Menschen Hilfe, Halt und Orientierung geben, so sehr
können sie auch Sittenwächter für das falsche Selbst sein und dieses
im falschen Leben festhalten.
Ein falsches Selbst verrät sich an der Unsicherheit oder sogar
Ratlosigkeit, stimmige Antworten auf die beiden Fragen zu finden:
Wer bin ich und was will ich? Man nennt dann bestenfalls Name,
Alter und Beruf oder schmückt sich verlegen oder prahlerisch mit
Leistungen und Erfolgen, von denen man schon längst weiß, dass sie
die Seele nicht sättigen. Und bei den Wünschen landen viele bei
einem verbesserten Einkommen und Beziehungssehnsüchten. Damit
sind Enttäuschungen schon vorprogrammiert. Denn die materiellen
Ziele entsprechen vor allem den Werten des falschen Lebens und nicht
den psychosozialen Grundbedürfnissen des Einzelnen und das
eigentliche Leiden an unerfüllten frühen Beziehungswünschen kann
nicht mehr nachträglich gelöscht werden. Die illusionäre Hoffnung,
dass es trotzdem geschieht, ist ja die häufigste Ursache für
Partnerschaftskonflikte.
Die Orientierung an den Grundbedürfnissen ist eine große Hilfe,
wirklich etwas von sich zu verstehen und individuelle Antworten auf
die genannten Fragen zu finden. Die Grundbedürfnisse des Menschen
lassen sich ihrer Genese nach einteilen in körperliche, seelische,
soziale und spirituelle Anforderungen der Natur und ihre je einmalige
individuelle Ausformung. Der Körper fordert Sauerstoff, Nahrung,
Wasser, Wärmeregulation, Bewegung, Sexualität und Ausscheidung.
Die Seele braucht Verständnis, Bestätigung, Anregung, Unterstützung,
Ermutigung, Schutz, Trost und Begrenzung – mit einem Wort: Liebe!
Unsere soziale Existenz verlangt nach Kontakt, Spiegelung,
Gemeinschaft, Bedeutung, Anerkennung und Kritik. Und
spirituell suchen wir nach Sinn, Verwirklichung und der Erfahrung
nach Einbindung in höhere Zusammenhänge (Heimat, Nation,
Menschheit, Natur, Gott). Alle Grundbedürfnisse melden sich in den
jeweils spezifischen Bedürfnisspannungen. So erleben wir Hunger,
Durst, Frieren, Schwitzen, Bewegungsdrang, sexuelle Lust, Sehnsucht,
Angst, Unruhe, Unzufriedenheit, Kontaktwunsch, Rückzug,
Anstrengungsbereitschaft, Aktivitätsdrang, Kreativitätsenergie,
Gebetswunsch u.a. Ohne Störung und bei gesicherter Befriedigung
schwingen die Grundbedürfnisse in ihrem jeweiligen Rhythmus von
Anspannung und Entspannung. Die Variationsbreite der
Bedürfnisbefriedigung ist dabei sehr groß. Der eine möchte einmal
täglich Sex haben, der andere nur einmal monatlich, der eine liebt
sozialen Kontakt, ein anderer hingegen wünscht nur selten
Gemeinschaft, jemand betet oder meditiert täglich, ein anderer gar
nicht, weil er sein spirituelles Bedürfnis ganz ohne
Religionsanbindung und Ritual erfüllen kann, etwa durch ein
Naturerlebnis, eine besondere Begegnung oder einen erfüllenden
Augenblick. Jedes Grundbedürfnis ‹entartet›, wenn es nicht erfüllt
wird. In aller Regel werden dann verfügbare Ersatzbefriedigungen
gesucht, die aber nie originär stillen können und deshalb immer mehr
gesteigert werden müssen, um überhaupt noch eine kurze und nur
relative Befriedigung zu gewähren. So wird die ungestillte
Liebessehnsucht gerne durch die Zufuhr von Nahrung ersetzt oder
durch Alkohol gedämpft – wodurch aus Essen Fressen und aus
Trinken Saufen wird. Oder das ungestillte narzisstische
Grundbedürfnis nach Bestätigung pervertiert im Sinne einer
Trotzreaktion, um den eigenen Wert zu beweisen, zur Arbeits- und
Leistungssucht. Ein Mangel an Anerkennung macht anfällig für
Ideologien oder für eine Zugehörigkeit zu Gruppierungen, in denen
man Ansehen erlangen kann. So hat etwa die Stasi in der DDR die
soziale Anerkennungsbedürftigkeit ausgenutzt mit der Suggestion: Du
bist wichtig! Was du uns zu sagen hast, dient einer guten Sache! Du
hilfst damit auch, deine Freunde und Familie zu schützen! Auch von
radikalen und fundamentalistischen Gruppen wissen wir, dass sie
selbst-gestörten Menschen Strukturen und Hierarchien gewähren, die
Halt und Orientierung vermitteln, Ein- und Unterordnung erlauben
und im Gemeinschaftsgefühl Selbstwertstörungen neutralisieren.
Im falschen Leben verliert sich der natürliche Rhythmus von
Anspannung und Entspannung der Grundbedürfnisse in das
angestrengte Bemühen, sich über Ersatzbedürfnisse endlos
entschädigen zu wollen. Ich sehe die Politik in der Pflicht,
Grundbedürfnisse zu verstehen, anzuerkennen und für ihre
Befriedigung auf allen Ebenen – körperlich, seelisch, sozial und
spirituell – Sorge zu tragen.
10 Woran erkenne ich mein falsches Selbst?
Man kann dem falschen Leben nicht entrinnen. Aber ich teile nicht
die Sentenz des Philosophen Theodor W. Adorno aus dessen «Minima
Moralia», dass es «kein richtiges Leben im falschen» gebe. Zwar bin
ich auch davon überzeugt, dass man das in der frühesten Entwicklung
durch Beziehungsstörungen aufgenötigte falsche Selbst nie mehr
wirklich loswird, dass die früheste Prägung ein Leben lang dominant
bleibt und dass die mit einem falschen Selbst geprägten Menschen
auch das falsche Leben der Gesellschaft ausgestalten und zu
verantworten haben. So wird das Bemühen, aus dem falschen Leben
auszusteigen, stets von inneren Bedenken, Skrupeln, Zweifeln und
Kämpfen nachhaltig erschwert und durch die gesellschaftlichen
Zwänge und Regeln nahezu unmöglich gemacht.
Was ich in diesem Buch später die «Normopathie» einer
Gesellschaft nennen werde (siehe Kapitel 13), ist sozusagen die
versammelte und kulminierte Energie der falschen Selbst, die
unbedingt Gesellschaftsstrukturen brauchen, in denen sich ihre
Störungen erfolgreich entfalten oder auch protestierend austoben
können und zugleich garantiert wird, dass die eigene Fehlentwicklung
als solche auf keinen Fall erkannt werden kann. Eine nur «äußere»
Demokratie – auch auf den Unterschied zwischen einer politisch
«äußeren» und einer seelisch «inneren» Demokratie komme ich noch
zu sprechen – braucht zwingend den regulierenden Ausgleich der
verschiedenen falschen Selbst, die sich idealerweise in der
pluralistischen Meinungsvielfalt die Waage halten. Das Abwehrprinzip
einer solchen «Normopathie» besteht darin, dass das für richtig
gehalten wird, was die Mehrheit der falschen Selbst für richtig
befindet. In autoritären Systemen gibt es keinen erlaubten
Widerspruch, so dass die Pathologie der Selbst-Störungen wuchern
kann. In einer demokratischen Gesellschaft besteht immer die Gefahr,
dass die gestörten Selbst eine Mehrheit bilden, die dann die
Entwicklung bestimmt. Deshalb sollte die Mehrheitsmeinung immer
mit größten Bedenken und Zweifeln zur Kenntnis genommen und
kritisch hinterfragt werden und die Position der Minderheiten und
Außenseiter höchste Wertschätzung erfahren, weil diese zumindest
eine Teilwahrheit verkörpern und aufzeigen können, die die Mehrheit
aus Gründen ihrer Selbst-Störungen nicht wahrhaben will. Eine
narzisstisch geprägte politische Führung ist auch unter
demokratischen Verhältnissen ein hohes Risiko für die
Gesellschaftsentwicklung, wenn mehrheitlich Ziele und Werte falscher
Selbst verfolgt werden. Wenn «politische Korrektheit» die Macht einer
Zensur bekommt, ist die konstituierende Meinungsfreiheit einer
äußeren Demokratie in höchster Gefahr.
Adorno hat mit seiner Aussage sicher recht, dass sich das falsche
Leben in allen Lebensbereichen dominierend ausbreitet und das
Denken und Handeln bestimmt. Aber es gehört nicht nur zur Würde
des Menschen, für die er auch selbst Sorge tragen muss, sondern auch
zu seiner Freiheit, selbst unter widrigsten Bedingungen nach
individuellen Möglichkeiten zu streben, dem Falschen etwas zu
entkommen. Damit ist wieder das unendliche Bemühen benannt, für
sich Auswege aus dem falschen Selbst und dem falschen Leben zu
finden, was nie hundertprozentig, nie endgültig gelingen kann.
In meiner psychotherapeutischen Arbeit habe ich immer wieder
die Erfahrung machen dürfen, wenn es Menschen gelingt, sich selbst
besser zu verstehen, können sie dadurch relativ gesunden. Sie fühlen
sich wohler und erleben mehr Zufriedenheit, ja sogar
Glücksmomente. Ein besseres Selbstverständnis ermöglicht auch
entspanntere Beziehungen in der Partnerschaft, der Familie, mit
Kindern und Freunden, mit Arbeitskollegen und in allgemeinen
sozialen Kontakten. Vor allem aber nimmt mit den verbesserten
Beziehungen der Bedarf an Konsum, Geltung und Macht ab. Gute
Beziehungen lassen die Macht des Geldes schrumpfen.
Wie kommt man zu besseren Beziehungen? Zuallererst, indem
man bei sich selbst anfängt. Es geht darum, sich selbst besser zu
verstehen, das Sosein als ein Geworden-Sein zu erkennen; weiter die
Einflüsse von Mutter und Vater und von anderen wichtigen
Beziehungspersonen zu identifizieren, die uns als seelische
«Introjekte» beeinflussen, zuweilen beherrschen; darüber hinaus die
gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen, die politischen,
ideologischen und ökonomischen Zwänge, denen man ausgeliefert
war und weiterhin ist, zu erfassen. Noch vor der Identifizierung der
falschen Selbst-Anteile kommt es allerdings darauf an, sich nicht der
Erkenntnis zu verschließen, dass das eigene Leben in falschen oder
gefälschten Bahnen verläuft. Kaum einer geht diesen anstrengenden
Erkenntnisweg aus Übermut. Viel stärker verbreitet ist die Neigung,
sich in einer Krisensituation zu «garantiert» leichten Erfolgswegen
verführen zu lassen. Der Markt bietet dazu eine Unmenge von
«Erkenntnistrips», die in aller Regel aber nur eine neue Entfremdung
verkaufen, mehr profitinteressiert sind, als wirkliche Hilfe gegen das
falsche Leben anzubieten. Man erwirbt sich mit ihnen oftmals
lediglich eine neue Ideologie, verbunden mit dem zweifelhaften
Privileg, sich im falschen Leben illusorisch und überheblich als
«befreit» dünken zu dürfen.
Die mutige Selbsterfahrung, von der ich spreche, braucht zuerst
Raum und Zeit und dann eine hilfreiche Aufnahmemöglichkeit.
«Raum» heißt ungestörte Reflexions- und Mitteilungsmöglichkeit,
«Zeit» meint einen langen Weg, im Grunde solange man lebt, als
ständige Herausforderung, sich Zeit zum Nachdenken, Fühlen,
Reflektieren und Integrieren zu nehmen. Eine «hilfreiche
Aufnahmemöglichkeit» sind Menschen, die vorbehaltlos zuhören,
aufzunehmen und zu verstehen bereit sind. Es sind
Beziehungspartner, die nicht bewerten, kritisieren, moralisieren, die
keinen Rat geben, nichts besser wissen und sich nicht mit ihren
eigenen Erfahrungen auf die des anderen draufsetzen. Viele Menschen
stecken in ihren Grübeleien fest; sie finden in der intellektuellen
Diskussion oder moralischen Orientierung keinen Ausgang für sich
selbst, sie brauchen den wohlwollenden Nächsten als Anreger und
Ermutiger, auch als Tränenkissen und Boxsack, der nur empfängt und
bezeugt. Es ist eine der größten mitmenschlichen Leistungen, für den
anderen da zu sein, sich zur Verfügung zu stellen, dabei selbst keine
Ansprüche zu haben oder eigene Interessen zu verfolgen und sich vor
allem nicht einzumischen und sich in keiner Weise von den
abfließenden Affekten persönlich angesprochen zu erleben. Ein
solches altruistisches Interesse entfaltet am ehesten derjenige, der
auch selbst eine solche Chance zur Selbstwahrnehmung und
Selbstmitteilung bekommt und deren Segen kennt. Dann gleichen sich
Geben und Nehmen am ehesten aus, und man ist weniger in Gefahr,
aus dem Motiv eines falschen Selbst heraus helfen zu wollen, etwa um
sich beliebt zu machen, Bedeutung und Anerkennung zu ergattern.
Im Sich-Wahrnehmen und Sich-Mitteilen wird die wichtigste Basis
einer Beziehungskultur gelegt: Es geht um mich, um mein Leben, es
geht um meine Möglichkeiten, meine Fehler und Schwächen. An allen
persönlichen Störungen, Beschwerden und Erkrankungen bin ich
beteiligt. Bei allen Konflikten bin vor allem ich das Problem.
Natürlich gibt es Erkrankungsursachen, die ich nicht zu verantworten
habe, und es gibt Konflikte, die mir von anderen aufgedrängt werden,
Lebensbedingungen, denen ich mich kaum entziehen kann. Aber nur
wenn ich mich selbst als Problemträger und Verantwortlicher
verstehe, bekomme ich die Chancen, eigenständig und
selbstverantwortlich etwas zu meinen Gunsten zu verändern.
Natürlich kann man um Einsicht bei anderen bitten und um
Veränderung der Verhältnisse kämpfen, aber dabei geschieht es
schnell, dass man die Verantwortung verschiebt, sich abhängig macht,
Streit zündelt und Machtgerangel provoziert. Erste Überzeugung muss
stets sein: «Ich bin das Problem!» oder zumindest: «Ich bin ein
wichtiger Teil des Problems!» Das mündet dann in Fragen wie: «Was
ist mein Anteil?», «Was kann ich tun oder unterlassen oder
verändern?»
Wer diesen Ausweg aus dem falschen Leben sucht, der wird
zwangsläufig seinem falschen Selbst begegnen und muss mit allen
emotionalen Reaktionen rechnen, die ihn ursprünglich in das
entfremdete Selbst gezwungen haben. Der Weg der Selbsterfahrung
und Selbsterkenntnis ist mit Angst, Scham, Schuld, Wut und Hass, mit
seelischem Schmerz und Trauer verbunden. Deshalb sind Raum, Zeit,
Ermutigung, Schutz und Empfang so wichtig. Wer an seinem falschen
Selbst rüttelt, wird durch belastende Gefühlsregungen bestraft und
eingeschüchtert. Das falsche Selbst versteht sich auf Abwehr.
Selbstverteidigung, die in einer Gefühlsblockade, rationalen
Erklärungen, intellektueller Begründungsakrobatik oder auch einem
sozialen Schutzwall seitens der Peer-Gruppe bestehen kann, ist für das
falsche Selbst eine Überlebensfrage. In aller Regel lebt es in einem
Milieu, in dem alle etwa einer Meinung sind und keine Chance für
kritisches Nachdenken besteht, keine Ermutigung für eine andere
Perspektive erwartet werden darf bzw. abweichende Meinungen sogar
mit Strafe oder Ausschluss bedroht sind. Man muss aus dem Milieu-
Gefängnis heraustreten und braucht dann professionelle Hilfe, wenn
der meist vorhandene Gefühlsstau eröffnet werden muss. Deshalb ist
es so schwer, sich aus dem falschen Leben zu befreien, aber es ist
nicht gänzlich unmöglich. Der Einzelne kann wieder fühlen lernen.
Anfangs mag therapeutische Hilfe unerlässlich sein. Das falsche Leben
kann nicht einfach überwunden oder gar abgeschafft werden, aber
jeder hat Möglichkeiten, wieder fühlen zu lernen, etwas für die
Annäherung an ein echteres Selbst und ein weniger entfremdetes
Leben zu wagen.
Echte Gefühle fordern einen Ganzkörper-Ausdruck, sind berührend
und ansteckend und unterscheiden sich von den gemachten Gefühlen,
den Ersatzgefühlen, wie sie durch Entertainment produziert und von
Unbeteiligten oft als lästig, störend, als hysterisch-übertrieben und
aufgesetzt erlebt werden. Wer das Fußballspiel sucht, um sich zu
erregen, sich zu ärgern und sich zu erfreuen, wer schreiend einem
Superstar zujubelt, bei dessen Versagen oder Tod das eigene Leben
keinen Wert mehr zu haben scheint, wer sich bei Trennung des
Partners am liebsten das Leben nehmen möchte, wer dazu neigt,
jemanden übermäßig zu verehren oder zu beschimpfen, wer ständig
am Partner leidet usw., der macht auf seine Ersatzgefühle
aufmerksam, die gebraucht werden, um die echte schmerzlich
unerfüllte Sehnsucht oder die bei Strafe verbotene Wut unter
Kontrolle zu halten. Ersatzempörung, Ersatztränen, Ersatztrauer,
Begeisterung für etwas Unwichtiges, Animation und Fun blühen desto
mehr auf, je stärker echte Bedürfnisse ungestillt geblieben und echte
Gefühle an ihrem Ausdruck behindert worden sind.[2]
Selbstwahrnehmung und Selbstmitteilung ziehen fast
unvermeidbar Gefühlsvorgänge nach sich, die nach Entladung
drängen und durch kompetente Begleitung befördert werden sollten.
Nur die Gefühlsentladung erlöst vom Grübeln und befreit aus der
intellektuellen Falle. Der Mensch braucht dann auch keine äußere
Bestätigung und keinen «wissenschaftlichen» Beweis für seine
Entscheidung, weil ein Aha-Erleben möglich ist. Eine situative
Gewissheit bezeugt das wahre Erleben, dass etwas jetzt genau richtig
ist.
Die reinigende und klärende Gefühlsentladung schafft auch die
Basis für die dann notwendige Integration. Integration heißt, das
Erfahrene und Neu-Verstandene in das jetzige Leben einzubauen. Das
bedeutet Veränderung und Entwicklung, Optimierung der eigenen
Möglichkeiten und Akzeptanz der Begrenzungen – also Annäherung
an ehrlicheres Leben. Das veränderte Verstehen und Verhalten wird
immer wieder gegen innere Kräfte des falschen Selbst verteidigt und
vor allem gegen die mächtigen Einflüsse des äußeren falschen Lebens
geschützt werden müssen. Hier liegt die Chance für richtiges Leben
im falschen. Nach jeder erfolgreichen Psychotherapie wird der Patient
seine neuen Erfahrungen, gewonnenen Erkenntnisse und begonnenen
Verhaltensänderungen mit seinen nächsten Angehörigen und in seiner
sozialen Umwelt leben lernen müssen. Dabei entscheidet sich, ob die
wesentlichen Beziehungspartner sich mitverändern können und
wollen oder alles darauf hinausläuft, dass der Status quo der
Beziehungsverhältnisse unverändert erhalten bleibt. Dann wird der
Patient womöglich wieder auf jenen Zustand zurückgeworfen, infolge
dessen er in die Krise geraten oder krank geworden war. Jeder
Mensch ist mit seiner Erkrankung oder Krise immer Teil eines
kranken Systems. In dem Bemühen, in Verbindung mit sich selbst
auch das unmittelbare Beziehungsgefüge zu verändern, liegt für jeden
Einzelnen die einzige Chance, auch die Welt zu verändern.
12 Das wahre Leben
Alles, was sich betont nach außen orientiert – also Geld, Besitz, Macht, Ruhm –, ist geeignet,
ins «falsche Leben» zu führen. Alles hingegen, was sich an innerer Wahrnehmung, Resonanz
und Echtheit orientiert, bietet Chancen für Augenblicke des «wahren Lebens»:
Wer seinen berechtigten Hass nicht zeigen kann oder darf, dem wird
jede Chance auf Gewalt recht sein. Wer seinen seelischen Schmerz
nicht zulassen kann, der wird bedürftig bleiben und ein
willkommenes Opfer für alle Versprechungen und Verheißungen sein:
der Karrierist und Konsument an sich! Wer nicht zu trauern gelernt
hat, wird selbst unglücklich bleiben und stets daran interessiert sein,
für Unglück zu sorgen.
Erkennen – verstehen – fühlen; das Ungeübte erlernen und das
individuell Tabuisierte und Verbotene zu tun wagen, darin besteht
der nie endende Weg zum «wahren Leben». Gesetzlich festgelegte
Gebote und Verbote können eine Orientierungshilfe sein für richtiges,
wahres Leben. Sie können aber genauso eine schwere
Beeinträchtigung für die Chancen authentischen Lebens darstellen
und nahezu ins «falsche Leben» zwingen.
Ein Gesetzesbruch kann schweres Verbrechen bedeuten oder
notwendige Befreiung. Ein solcher Zwiespalt kann etwa bei einem
militärischen Einsatz existenzielle Bedeutung erlangen, wenn
Befehlsverweigerung mit schwersten Sanktionen bis zur Todesstrafe
verfolgt wird, es aber geboten wäre, einem verbrecherischen Befehl
nicht zu gehorchen. Arbeitsbedingungen müssen meistens akzeptiert
werden, um nicht entlassen zu werden, aber Kritik,
Verbesserungsvorschläge oder auch gewerkschaftlicher Kampf können
wichtige Bemühungen sein, um nicht zu erkranken und bessere
Arbeitsbedingungen zu schaffen. In einer Partnerschaft sollten
unterschiedliche Bedürfnisse akzeptiert werden, um die Beziehung
nicht im Streit zu ersticken.
Gute Absprachen, Kompromisse und einfühlsame Kommunikation
können helfen, die Beziehungschancen bei aller Begrenzung auch zu
sichern und zu gestalten. Politiker stehen permanent unter
Entscheidungsdruck, ohne die Folgen ihres Handelns überschauen zu
können. Und jeder Einzelne muss sich ständig zwischen innerer
Einengung, äußeren Anforderungen und der nie gestillten Sehnsucht
nach Glück, Zufriedenheit und Entspannung einen Weg bahnen.
Teil III
13 Normopathie
Seit meiner Jugend hat mich die Frage des Mitläufertums bewegt.
Noch im Nationalsozialismus 1943 geboren und zweijährig aus dem
damaligen Sudetenland nach Sachsen vertrieben, war die Not der
Eltern lange Zeit eine absolute Bremse für kritische Nachfragen. Erst
mit der Kraft pubertärer Sinnfragen suchte ich nach Antworten, wie
es sein kann, dass eine Mehrheit der Deutschen begeistert in den
Krieg gezogen ist, die Vernichtung der Juden aktiv mitvollzogen oder
passiv geduldet hat. Ich habe mich gefragt, wie es zu einem
Rassenwahn kommen kann, mit «Herrenmenschen» und
«Untermenschen». Erst sehr viel später – als Psychotherapeut – war
mir das Wissen um schwere narzisstische Störungen mit einem
«Größenselbst» und Abwertung jedes anderen hilfreich, die darin
steckende schwere Pathologie prinzipiell zu erkennen. Trotzdem
schien es undenkbar, diese «Krankheit» für die Mehrheit der
Deutschen zu diagnostizieren.
Meine kritischen Fragen wurden von den Eltern abgewiegelt, die
tschechische Schuld der Vertreibung der Deutschen mit allen
persönlichen Verlusten, die die Familie hinnehmen musste,
dominierte alle kritische Selbstreflexion. Ich bin mir ziemlich sicher,
dass die Suche nach Antworten meinen Berufswunsch, Arzt,
Psychiater, Psychotherapeut zu werden, wesentlich beeinflusst hat.
Dazu kam die neue irrwitzige Unterrichtung in der Schule, dass wir,
angeblich kollektiv in der Tradition des Antifaschismus stehend, jetzt
mit dem Sozialismus die besseren Menschen seien und im Westen
Deutschlands die Nazis als Revanchisten weiterlebten. Das war alles
sehr fragwürdig: Ich wollte nicht wahrhaben, dass ehemalige
Nationalsozialisten jetzt am Aufbau und der Ausgestaltung eines
demokratischen Staates im Westen wesentlichen Anteil haben
könnten, und erst recht war ich nachhaltig davon irritiert, wo denn
die Nazis in der DDR verblieben seien. Alle in den Westen geflüchtet?
Es gab keine überzeugenden Aussagen und Antworten! Das hat sehr
dazu beigetragen, misstrauisch-suchend zu bleiben und in den neuen
autoritär-repressiven Gesellschaftsstrukturen der DDR eine
unheimliche Verwandtschaft mit der Vergangenheit zu entdecken. Ich
war überzeugt, dass die Vergangenheit überhaupt nicht verstanden
oder gar «bewältigt» sei, dass alle Proklamationen von Frieden,
Sozialismus hohle Phrasen blieben – durch nichts im Alltag bestätigt
–, denn dieser Alltag war keineswegs friedlich und sozial gerecht. Das
Recht, die Macht und die Privilegien sowie auch die Verfolgung
Andersdenkender, das war lediglich neu gemischt und anders verteilt.
Die erste wesentliche Bestätigung meiner Vermutungen einer neuen
Fehlentwicklung auch in der Bundesrepublik gewann ich durch die
Achtundsechziger-Studentenbewegung, über die ich so viele
Informationen sammelte, wie nur zu bekommen waren. Etwa
zeitgleich war aufgrund des «Prager Frühlings», den ich hautnah
miterleben konnte, zu erkennen, dass der «real existierende
Sozialismus» eine neue schwere Massenpathologie verkörperte. Als
ich dann Wilhelm Reichs «Charakteranalyse» und «Die
Massenpsychologie des Faschismus» studiert und verstanden hatte,
fiel es mir leicht, einen ersten psychopolitischen Essay zur
«Massenpsychologie des Stalinismus» zu verfassen.
Irgendwie war mir der Begriff «Normopathie» bekannt geworden.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie und wann, aber es könnte sein,
dass er bereits von Viktor von Weizsäcker und Hannah Ahrendt in der
Auseinandersetzung mit dem Eichmann-Prozess benutzt worden ist.
Mit ihrer Einschätzung von der «Banalität des Bösen» hatten sie starke
Ablehnung erfahren, damit aber genau meine eigene Einschätzung
bestätigt, dass «die Bösen» keine geborenen Monster sind, sondern
Durchschnittsbürger, die aus psychosozialer Selbstentfremdung fähig
werden, Verbrechen zu begehen, deren psychosoziale Störung aber
nicht mehr erkannt wird, wenn eine Mehrheit davon betroffen ist.
Auch der Psychotherapeut Wolf Büntig, der in der von mir geleiteten
Psychotherapieklinik der Diakonie Halle eine
körperpsychotherapeutische Weiterbildung durchführte, hatte den
Begriff der «Normopathie» verwendet. Zitat nach persönlicher
Mitteilung: «Ich verstehe darunter die Psychodynamik, in der wir als
Preis für Zugehörigkeit unser Wesen – verkörpert als Eigenart –
verraten und nach den Normen derer leben, von denen wir dereinst
abhängig waren und von denen wir uns heute abhängig wähnen.»
Mit «Normopathie» hatte ich endlich eine Erklärung gefunden, wie
sich massenhaftes Mitläufertum und Mittäterschaft – wider besseren
Wissens, trotz einer Ahnung vom falschen oder sogar bösen Tun –
verstehen lassen. Wenn Menschen durch Erziehungsnormen, durch
politisch-ideologische Repression oder ökonomische Verführung
mehrheitlich in ein politisch gewünschtes oder ökonomisch
notwendiges Verhalten gedrängt werden, kann eine kollektive
Krankheit entstehen, die keiner mehr wahrhaben will und nur noch
wenige erkennen können. Letztere werden dann aber sofort gemobbt,
ausgegrenzt, beschimpft und diffamiert. Die wesentliche Kraft für
kollektive Anpassung vom Political-correctness-Verhalten bis zum
Mitläufertum ist der überlebensnotwendige Wunsch, dazuzugehören
und auf keinen Fall ein Außenseiter zu sein, der bedroht, beschimpft
und ausgegrenzt wird. Der Wunsch der Zugehörigkeit – nach sozialer
Gemeinschaft, nach sozialer Bedeutung und Bestätigung – ist ein
soziales Grundbedürfnis des Menschen, auf das keiner ohne
nachteilige Folgen verzichten kann. Regeln, Gesinnungsprüfungen,
Mutproben, Lippenbekenntnisse, Treuebeweise, aber auch Feiern,
Rituale, Gelöbnisse, Auszeichnungen und Verehrung, Lob und Tadel
sind sehr wirksame Mittel, um Zugehörigkeit zu erleben, und sie
lassen sich sehr leicht missbrauchen. Wir müssen nur die vielfältigen
Selbst-Störungen bedenken, um zu verstehen, wie pathologisch der
Sog der Zugehörigkeit werden kann. Im schlimmsten Fall werden
dann völlig normale, durchschnittliche Menschen zu Verbrechern und
Mördern. Würde es der Politik gelingen, hinsichtlich der
Gruppenzugehörigkeit und den sozialen Status des Einzelnen optimale
Bedingungen zu schaffen, wäre ein wesentlicher Schritt getan, die
große Zahl junger Menschen aus der kranken Zugehörigkeit zur
Drogenszene, zur politischen oder religiös begründeten Radikal- und
Gewaltszene zu befreien.
Auch die aktuelle Krise unserer Gesellschaft ist Ausdruck einer
«Normopathie». Qualitative Beziehungsstörungen in der
Frühbetreuung sind wesentliche Ursache für die Entstehung falscher
Selbst und eine Mehrheit falscher Selbst gestaltet eine kollektive
Normopathie, die von ideologisch Verblendeten, ökonomisch
Abhängigen und süchtigen Konsumenten geprägt wird. Da die
Mitläufer und Mittäter in der Mehrheit sind, haben sie auch kein
Schuldbewusstsein. Extremisten jeder Art sind immer nur die Spitze
des Eisberges – nie nur einige wenige Verirrte oder Verwirrte – und
als solche wichtige Indikatoren des gesellschaftlichen Zustandes.
Alarm! Alarm!, möchte man da heute nur noch rufen, aber das wäre
wahrscheinlich bereits «populistisch» oder ich wäre ein «Extremisten-
Versteher», der nicht ernst zu nehmen ist oder gar bekämpft werden
muss. «Normopathie» ist die Anpassung an mehrheitliche Meinungen
und Positionen, nicht weil diese etwa wahr sind oder als beste
Möglichkeit das Leben sichern, sondern weil das «falsche Leben»
damit am besten kaschiert und verleugnet werden kann. Was alle
denken und tun, kann ja auf keinen Fall falsch sein und ist sicher die
beste allgemeine Orientierung. «Lügenpresse» ist ein Vorwurf gegen
normopathische Berichterstattung. Dabei muss es gar nicht einmal um
«Lügen» gehen, es genügen schon einseitige und tendenzielle
Darstellungen, das Weglassen von Informationen, das Aussparen
kritischer Reflexion und dominierende Bewertungen. Eine mediale
Manipulation beginnt harmlos – albern, wenn beispielsweise Dieter
Bohlen nur noch mit der Bezeichnung «Pop-Titan» erwähnt wird; sie
wird bereits tendenziös, wenn eine politische Gruppierung festgelegt
wird mit Bezeichnungen wie «linksextrem» oder «rechtspopulistisch»,
und sie transportiert schon eine bedenkliche Ideologisierung, wenn
etwa das «Betreuungsgeld» fast automatisch als «Herdprämie»
diffamiert wird.
Die Auflösung demokratischer Strukturen beginnt, wenn jeder
substanzielle Protest mit einer Schlagwortkeule, z.B. «populistisch»,
«rechtsextrem», «rassistisch» oder «sexistisch» moralisierend
abgewertet und zum Schweigen gebracht werden soll. Demokratie
lebt von der Opposition! Opposition muss gepflegt werden, gehütet,
beschützt und gefördert werden, sonst stirbt auch die Demokratie.
Protest ist das notwendige «Salz», um unser Leben schmecken zu
können. Die Opposition zu beachten und zu achten ist die wichtigste
Pflicht der Machtpolitik, um einen Spiegel und ein Regulativ für die
notwendigen Entscheidungen zu erfahren. Das muss auch und gerade
für Kritik gelten, die völlig unsachlich, überzogen und ehrverletzend
ist. Je auffälliger ein Protest ist, desto notwendiger wird die kritische
Analyse der Entstehungsursachen. Notwendige Strafverfolgung und
eindeutige Abgrenzung ersparen nicht das Analysieren und Verstehen
des Protestes und ein hilfreiches Reagieren auf die Inhalte. Politiker,
die Protest beschimpfen, statt ihn verstehen zu wollen, verletzen
ihren politischen Auftrag. Die bloße Diffamierung von Protest ist ein
ziemlich sicheres Zeichen für das Schutzverhalten eines falschen
Selbst, das sich durch Kritik als bedroht erlebt, weil dadurch die
eigene Abwehr und Kompensation verunsichert wird. «Alternativlos»
als politische Position ist der Totengräber der Demokratie.
Im falschen Selbst ist der Mensch auf jeweils spezifische Erlebens- und
Denkweisen eingeengt, die im Gruppendruck mit verwandten Selbst-
Störungen die gesellschaftliche Normopathie prägen. Unbewusst
werden die verhinderten (ungelebten, unterdrückten, tabuisierten,
verbotenen) Selbst-Anteile jedoch immer nach Entfaltung streben. Das
führt zu Krisen, Konflikten und Erkrankungen, die sich am häufigsten
ganz individuell entwickeln, aber auch in unbewusster Resonanz mit
prinzipiell ähnlichen Selbst-Störungen in einer kollektiven
Fehlentwicklung Erlösung und Befreiung suchen.
Das falsche Leben wird von Menschen mit falschem Selbst getragen. Die
massenpsychologisch wirksame Dominanz bestimmter Selbst-Störungen formt auch die
jeweilige Spezifik einer normopathischen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der dargestellten
Differenzierung der unterschiedlichen Selbst-Störungen mit ihren wesentlichen Ursachen
werden auch typische Tendenzen einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung verständlich:
Das bedrohte Selbst wird immer bemüht sein, das tiefe Bedrohungsgefühl
unspezifisch abzuführen, um die erlittene Bedrohung wettzumachen. Dazu
braucht es Feinde, gegen die es seinen Hass richten kann. Aus dem Bedrohten
wird der Bedroher, der eine gewaltbereite Normopathie braucht, sucht und
ausgestaltet. Der «Kalte Krieg» war ein Musterbeispiel dafür.
Das ungeliebte Selbst wird sich immer anstrengen, für Leistungen «geliebt» zu
werden oder die innerseelische Verkümmerung von anderen pflegen zu lassen.
Der Vernachlässigte will beweisen, dass ihm Unrecht geschehen ist; mit Trotz und
demonstrierter Schwäche will er anderen Zuwendung abringen. Der Ungeliebte
wird zum Erfolgsmenschen in einer normopathischen Leistungsgesellschaft oder
zum Bedürftigen in einem Sozialstaat, der keine Forderungen mehr stellt.
Das abhängige Selbst wird immer Vorgesetzte suchen, bei denen es sich beliebt
machen oder unter denen es permanent leiden kann, weil man angeblich nichts
selbständig entscheiden darf. Ständig wird es gegen «oben» jammern, klagen und
schimpfen. Der Abhängige braucht Führer in persona und Führung durch
Gruppen, Parteien, Institutionen; er wird immer allen Moden und Trends frönen.
Der Abhängige wird Verehrer und Fan, er ist der typische Beratungsklient, aber
auch stets bereit zu Ernüchterung, Enttäuschung und Nörgelei.
«Muttervergiftung» schafft die Grundlage für eine erfolgreiche Marktwirtschaft und
für menschenfeindliche Konkurrenzstrukturen: Bist du erfolgreich und kannst
kaufen und bezahlen, wirst du von allen Seiten umschmeichelt und umworben.
Bist du Verlierer und verarmt, wirst du fallen gelassen und verachtet. Der
Abhängige ist der Mitläufer aller möglichen Normopathien.
Das gehemmte Selbst ist der Untertan par excellence: das willfährige und
dienstbare Mitglied, der Soldat, der gerne Befehlen gehorcht, der Konsument, der
der Werbung verfällt, ein Mensch, der gerne Anweisungen und Empfehlungen
folgt, immer bemüht, in der Masse mitzuschwimmen, ja nicht aufzufallen, in Ruhe
gelassen zu werden, möglichst nicht viel nachdenken zu müssen, sich nur
einordnen und dazugehören wollen. Aber immer wird hinter der Maske des
Angepassten ein Gefühlsstau voller Aggressivität wegen der erlebten Repression
und nicht entfalteter Expansivität und Kreativität verborgen sein. Der Gehemmte
ist der Unscheinbare, aber immer auch ein potentieller Amokläufer (in welcher
Form auch immer). So erschrecken alle sehr und verstehen die Welt nicht mehr,
wenn «der Stille» plötzlich laut wird, wenn «der Liebe» unerwartet zuschlägt, der
allseits beliebte «Helfer» zusammenbricht, der unermüdlich «Fleißige» alles
hinschmeißt und der «brave Familienvater» und «treue Ehemann» plötzlich
wegen einer Geliebten die Familie verlässt.
Das vernachlässigte Selbst ist nicht erwacht, nicht gefördert und gefordert
worden, es bleibt träge, passiv, mag keine Anstrengungen, keine Pflichten und
Verantwortung. Aufgrund der vorhandenen Orientierungs- und Ziellosigkeit und
bei ausbleibenden Erfolgen und mangelnder Anerkennung belastet es als
neidischer Störer, Stänkerer mit vorwurfsvollen Ressentiments gegen die
Fleißigen und Angestrengten die Sozialbeziehungen. Vernachlässigung fördert
Faulheit und Neid und bildet massenpsychologisch eine Normopathie mit
passiven Versorgungserwartungen.
Das überforderte Selbst kennt keine Grenzen, keine wirkliche Entspannung und
Ruhe, ist im ständigen Anstrengungsstress für weitere Erfolge. Es wird aber immer
auch mit Arroganz auf die Loser herabsehen und ist in Gefahr, die eigene Qual in
Missgunst und Feindschaft gegen Konkurrenten zu verwandeln und
Schadenfreude gegenüber Verlierern zu empfinden. Der Überforderte neigt als
Gewinner oder Verlierer zur Selbstüberhöhung oder Selbstabwertung, verbunden
mit egoistischer Selbstbezogenheit und sozialer Distanziertheit – der Nächste ist
immer irgendwie Konkurrent. Seine Normopathie ist die entgrenzter
Wachstumssucht und entfesselter Profitgier.
Was alle falschen Selbst auszeichnet, sind die sozialen Beziehungsstörungen mit einem
erheblichen Aggressionspotential.
1945–1968
Es war die Zeit der Reinstallation eines zunächst wieder autoritären
Systems, mitgetragen von den ehemaligen Eliten des
Nationalsozialismus, unter Verordnung einer äußeren Demokratie
durch die Westmächte und einer sehr fragwürdigen, insuffizienten
«Reeducation» der Westdeutschen. Nach meiner Einschätzung ist das
«bedrohte Selbst» durch die neuen freiheitlichen Verhältnisse
beruhigt, wenn auch nicht «geheilt» worden; das «ungeliebte Selbst»
konnte seine gekränkte Energie in die Wirtschaftswunder-Chance
stecken und symptomatisch großartige Erfolge feiern: Profit und
Konsum wurden zur Droge – weg vom rassistischen Größenwahn und
hin zur wirtschaftlichen Größensucht!
In der Nachkriegszeit dominierten die Abwehrmechanismen des
Vergessens, Verschweigens und Nicht-wahrhaben-Wollens; denn die
tiefsitzende Identifikation der Mehrheit der deutschen Bevölkerung
mit dem Nationalsozialismus durfte auf keinen Fall als persönliches
Problem des falschen Lebens (des eigenen falschen Selbst) entdeckt
werden. Der gewünschte und auch verständliche Schutz der Selbst-
Störungen hat eben zwangsläufig auch das verbrecherische Handeln
verleugnen wollen. Eine nur ritualisierte allgemeine Schuld- und
Erinnerungskultur ist nicht wirklich befreiend und reinigend, wenn
individuelle Entfremdung und Verstörung unangetastet bleiben.
Die Studentenrevolte der Achtundsechziger hat sich vor allem von
den autoritären Strukturen der Elterngeneration, die fortlebten,
befreien wollen und hat eine Optimierung der äußeren Demokratie
zustande gebracht. Das wesentliche Problem der Protagonisten der
Studentenbewegung und erst recht ihrer Mitläufer lässt sich als
Gegenidentifikation verstehen. Der Angriff auf die autoritären und
schuldbeladenen Väter erfolgte vor dem Hintergrund einer
Identifikation mit geborgten anderen Autoritäten (Che Guevara, Ho
Chi Minh), ohne die eigene Selbstentfremdung zu erfassen und
auflösen zu wollen. Die verhängnisvolle Rolle der «deutschen Mutter»,
die gravierenden Mütterlichkeitsstörungen wurden so gut wie
überhaupt nicht thematisiert, da wäre die individuelle Betroffenheit
existenziell geworden. Die Abwehr dieser Gefahr hat sicher auch den
feministischen Kampf befeuert, mütterliche Schuld in sozialer und
beruflicher Gleichberechtigung auflösen zu wollen.
Eine innere Demokratisierung im psychodynamischen Sinn durch
Klärung der Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen im
Einzelnen war weder Programm noch Ziel, ganz im Gegenteil.
Wesentliche Protagonisten der Achtundsechziger-Bewegung blieben
im eigenen Autoritarismus befangen, in dem Glauben, mit neuer
Gewalt und Terrorismus die alten Verhältnisse überwinden zu
können. Sie fühlten sich im Recht und taten neues Unrecht! Statt
innerer Erkenntnis und Befreiung neue repressive Ideologie und
verbrecherische Gewalt! Das ähnelte der neuen repressiven Tendenz
im Sozialismus der DDR. Die äußere Demokratie der Bundesrepublik
war aber inzwischen differenziert und stark genug, um den Terror
abwehren zu können, vor allem mit der durchsichtigen Strategie, dem
«ungeliebten Selbst» im «Marsch durch die Institutionen» zu
Anerkennung, Geld und Macht zu verhelfen – vielleicht am besten
symbolisiert in Joschka Fischer, dem «Minister in Turnschuhen». Die
alten Achtundsechziger höre ich mitunter in ähnlicher Weise von
ihrer «Revolution» schwärmen wie viele Ostdeutsche von der
«friedlichen Revolution» von 1989, verbunden mit der
Selbstsuggestion, dadurch an psychischer Reife gewonnen zu haben,
ohne die neue Selbstanpassung an das «falsche Leben» zu realisieren.
1968–1989
Mit und durch die Achtundsechziger-Bewegung waren die äußeren
demokratischen Verhältnisse weiter ausdifferenziert worden und
hatten mehrheitliche Zustimmung gefunden. Der normopathische
Charakter war durch den Sozialstaat, «Wohlstand für alle», den
Konsumrausch und vor allem mit wachsender Liberalität nahezu
unkenntlich geworden. Die Emanzipation der Frauen, ihre
gesellschaftliche und berufliche Gleichberechtigung, die
Liberalisierung der Sexualmoral mit Akzeptanz unterschiedlicher
sexueller und partnerschaftlicher Lebensformen, die Kultivierung der
Meinungsfreiheit mit einer pluralen medialen Ausgewogenheit, die
Reisefreuden und die lebendige streitbare Demokratie mit neuem
wachsenden Ansehen der Deutschen in Europa und der Welt haben
den Fortbestand der Normopathie überdeckt.
Um die Pathologie des falschen Lebens zu hinterfragen, bedurfte
es wegen der normopathischen political correctness der Mehrheit schon
einigen Mutes. Da waren etwa das Feindbild Sozialismus und
Kommunismus einerseits, die überzogene Verehrung und
Kritiklosigkeit gegenüber den USA andererseits, die wachsende
soziale Spaltung zwischen Arm und Reich, die erkennbare
Umweltzerstörung und die Ausbeutung billiger ausländischer
Produzenten, aber auch auffällige Fehlentwicklungen in Deutschland
selbst, so die Macht eines kinderfeindlichen Feminismus mit
Ablehnung notwendiger guter Mütterlichkeit, ein absurder
Geschlechterkampf in der Gender-Mainstream-Ideologie, eine
allmähliche Entfernung der politischen Klasse von den Bürgern und
zunehmende Wirtschaftskriminalität, vom persönlichen kleinen
Betrug bis zu den großen globalen feindlichen Konkurrenzkämpfen.
1989–2014
Die Vereinigung Deutschlands hatte die Erkenntnis westdeutscher
Normopathie nahezu unmöglich werden lassen; denn nun war der
Westen zum «Sieger der Geschichte» aufgestiegen, alle Kritik an den
Auswirkungen und Folgen der kapitalistischen Gesellschaft
schrumpften schnell im Vereinigungsrausch. Mit der Herrschafts-
Unterwerfungs-Kollusion der beiden deutschen Staaten haben sich die
beidseitigen Normopathien wie «Topf und Deckel» passend ergänzt:
«Größenselbst» (West) und «Größenklein» (Ost) als die beiden Formen
der narzisstischen Kompensation des «ungeliebten Selbst». Die
Westdeutschen konnten ihre Überlegenheit als «gesunden» Erfolg
angesichts des ostdeutschen Dilemmas deuten. Die Ostdeutschen
wiederum glaubten, sich schnell in ein besseres Leben retten zu
können, wenn sie ihr erfolgloseres Leben nur schnell vergaßen und
sich der westlichen Kompensation anpassten. Die «Wende» bedeutete
auch Wechsel von einem falschen Selbst in ein anderes. Äußerlich
gelingt das zuweilen gut, wie alle Wendehälse stets beweisen.
Jedenfalls hat die normopathische Vereinigung angesichts des
überwiegend freudig und mit Genugtuung erlebten Untergangs der
DDR und der realen Lebensverbesserung im Rahmen der äußeren
Demokratie und der gewonnenen Konsummöglichkeiten keine
nennenswerte Protestbewegung aktiviert. Selbst «Die Linke» ist
alsbald als demokratische Partei in das westliche System eingeordnet
worden und regiert schon mit.
Die Normopathie entfesselte sich dann aber in der Finanzkrise, der
Eurokrise sowie den Nord-Süd-Konflikten der europäischen Staaten.
Der wirtschaftlich-finanzielle Kollaps des falschen Lebens war
erstmals nicht nur denkbar, sondern eine ganz reale Gefahr geworden.
Die Süchtigen des «ungeliebten Selbst» hatten sich verzockt. Die Gier
als ihr wesentliches Symptom betrifft jedoch die meisten Bürger der
westlichen Welt und natürlich besonders die alles beherrschenden
Finanz- und Kapitalmärkte mit den Banken und Großkonzernen. Die
Politik beherrscht und reguliert die Normopathie nicht mehr. Bei
einem Politikversagen mit einem entstehenden Machtvakuum legen
die nicht mehr durch Gesetze regulierten Kräfte der falschen Selbst
ihre Fesseln ab und agieren etwa das aufgestaute Aggressionspotential
im Bemühen um Profitmaximierung und in Konkurrenzkämpfen aus.
Die dabei oft gnadenlose, menschenverachtende und Sozialstrukturen
vernichtende Gewalt spiegelt das Ausmaß der pathologischen Affekte
des agierenden gestörten Selbst. Solange Liebesmangel bei vielen
Menschen eine wesentliche Ursache ihres falschen Selbst ist, wird das
süchtige Streben nach materiellem Ersatz keine Grenzen mehr
kennen, jedenfalls sobald der Staat es nicht mehr begrenzt. Je mehr
Selbst-Störungen in einer Gesellschaft versammelt sind, desto strenger
muss die Staatsgewalt in Gestalt von Sicherheitsdiensten, Polizei und
Justiz die Ordnung stabilisieren, vor allem wenn die «Droge für alle»
(Geld) knapp oder immer ungerechter verteilt wird. Nach
Entmachtung der Religion als regulierender, repressiver und
verbindender Kraft ist nur noch das Geld in der Lage, das Konstrukt
«äußere Demokratie» aufrechtzuerhalten. Die Menschen werden sich
zunehmend feindselig gegenüberstehen, wenn Geld als Ersatz für die
Entfremdung für viele seine Kraft verliert. Reale oder drohende
Verarmung löst Sorgen und Ängste um den Zusammenbruch des
mühevoll errichteten Ersatzlebens aus. Dann wird der Kollege zum
Konkurrenten, der Freund zum Neid-Objekt und der Andersdenkende
und Andershandelnde zum Feind. Werden die
Kompensationsmöglichkeiten durch Geld und Erfolg schwächer,
werden auch die individuell regulierenden Kräfte der Spaltung und
Projektion, die in «Friedenszeiten» das Zusammenspiel der falschen
Selbst im Pluralismus der äußeren Demokratie noch zusammenhalten,
zur wachsenden Gefahr für den sozialen Frieden.
Seit 2014
ist die kritische Phase der aktuellen gesamtdeutschen Normopathie
erreicht. Die Finanzmärkte werden nicht mehr beherrscht, der Euro
schwächelt, Europa fällt zunehmend auseinander. Bezogen auf den
Umgang mit Geld wächst der Streit zwischen den pflichtstrengeren
und «kühleren» Nordeuropäern und den hedonistischeren, «heißeren»
Südeuropäern. Die Rettungsbemühungen um Griechenland haben
längst jede Finanz-Vernunft über Bord geworfen, von der ungerechten
Verteilung der Kosten ganz zu schweigen. Mit den Flüchtlingsströmen
wird die bestehende Normopathie mit allen entfesselten Gefahren, die
bisher noch durch ein ausreichendes Ersatzleben gebändigt waren,
entlarvt. Es geht um die prinzipielle Frage, ob die bisherige – oft
mühevoll erarbeitete und verteidigte – Lebensform noch
weitergeführt werden kann. Es geht um die einfachen Werte, die aber
als Ersatz sehr wichtig sind: um Konsum, Besitz, um Reisen und Fun.
Es geht um die notwendigen Rahmenbedingungen der äußeren
Demokratie: Erhalt der staatlichen Ordnung, um Grenz- und damit
Souveränitätssicherung, um Verteidigung des bedrängten
Territoriums, um Durchsetzung des Grundgesetzes, um Erhalt des
Sozialstaates und um ausreichende Sicherheit. Und es geht um die
großen Werte: Verhinderung von Krieg, Schutz vor Terrorismus,
Schutz vor jeglicher politisch, religiös oder sozial motivierten Gewalt,
Eindämmung der Kriminalität, Verhinderung bürgerkriegsähnlicher
Straßenkämpfe. Unser «paradiesisches» Leben ist eine Kulisse der
Normopathie, im Wesentlichen getragen von den kompensatorischen
Ersatzbedürfnissen und Werten eines falschen Selbst. Wir stehen vor
der Wahl, die aufgeblähten Erfolge unseres falschen Lebens, das im
narzisstischen Wahn keine wirkliche Rücksicht auf die
Benachteiligten und die Umwelt nimmt, immer stärker verteidigen zu
müssen oder global natürlichere (echtere, gerechtere) Lebensformen
zu finden. Die weltweiten millionenfachen Flüchtlingsströme sind
nicht die Ursachen der Gesellschaftskrise, sondern die Symptome
eines kritisch gewordenen Sozialkampfes. Der bisherige Sieg der
Reichen und Bewaffneten kippt zugunsten der Macht der
unbewaffneten Armen, gegen deren Ansturm die narzisstische
deutsche Normopathie bisher kein hilfreiches Mittel gefunden hat.
Ganz im Gegenteil: Die «deutsche Krankheit» droht zum Verhängnis
zu werden. Eine moralisierende Humanität wird als Beweis endlich
geläuterter und gereifter Selbst missverstanden, und die globalen
Ursachen der Migration, die auch Folgen unseres falschen Lebens
sind, werden weiterhin verleugnet. Wir sind in Gefahr, symptomatisch
kurieren zu wollen, wo kausale Veränderungen gefordert sind. Auf
billige Arbeitskräfte oder auf einen Ausgleich der demografisch
bedingten Rentenlücken zu hoffen, ist eine Fortsetzung kapitalistisch-
kolonialen Denkens. Weder durch «Refugees welcome» noch durch
Fremdenfeindlichkeit werden die globalen Probleme gelöst. Aber die
«Helldeutschen» und die «Dunkeldeutschen» agieren zunehmend so
irrational feindselig, als dürfte unser falsches Leben auf keinen Fall
erkennbar werden – dass wir alle wie Süchtige am Tropf des
materiellen Wachstums hängen. Noch eher ziehen wir in den
«Geschwisterkrieg», als unser falsches Leben zu akzeptieren. Oder
wollen wir etwa unbewusst unser narzisstisch-größenwahnsinniges
Leben zerstören (lassen) mit der Hoffnung, von der Last der
Entfremdung befreit zu werden und eine bessere, weniger falsche
Lebensform zu finden?
Die Krankheiten der Deutschen – die deutschen Normopathien –
haben immer etwas mit Größe zu tun. Vom größten Verbrecherstaat
zum größten Tugendstaat! Auch das Streben nach wirtschaftlicher
Dominanz, nach Weltmarktführerschaft, Exportweltmeister zu sein
und ähnliche Kategorien verraten etwas vom «Größenwahn». Selbst in
der DDR spotteten wir über die «größte DDR der Welt», um das
peinliche Anerkennungsringen der Führungsriege zu kolportieren.
«Größe» als ein Symptom von Krankheit zu begreifen, dürfte bei
vielen auf Unverständnis stoßen, weil großartige Erfolge,
herausragende Leistungen und Wachstumsgröße zu den allgemeinen
Wünschen und erklärten Zielen in der Gesellschaft zählen. Aber mit
dem Verständnis über das Wesen einer narzisstischen Normopathie
können wir uns einer anderen Deutung nähern. Mit den süchtigen
Anstrengungen für ein «Wirtschaftswunder» war die deutsche Schuld
bald vergessen (Konsum als Droge). Im ungezügelten
Konkurrenzkampf werden menschliche Bedürfnisse missachtet und
Beziehungen materialisiert, wird die Umwelt zerstört und
ausbeuterisch und unfair gehandelt – äußere Probleme und Konflikte
genug, um nicht mehr nach innen schauen zu müssen.
Die narzisstische Normopathie verwandelt innerseelische Defizite
in materielle Größe, die zwangsläufig Suchtcharakter bekommt und
kriminelle Energien mobilisiert, um im gnadenlosen
Konkurrenzkampf bestehen zu können. Dann haben Tricks und
Betrügereien Konjunktur, wie sie in unzähligen Skandalen (vom
Gammelfleisch bis zum Abgasbetrug) hin und wieder aufgedeckt, aber
nie wirklich an den Wurzeln des falschen Lebens korrigiert werden.
Wir sind sicher gut beraten, «Größe» als Wert und Ziel zu
problematisieren. Dazu gehören unbedingt die Tiefenanalyse einer
Leistungsmotivation und die Berücksichtigung des Weges, statt sich
vom Ziel blenden zu lassen. Um Größe zu relativieren, darf man
Profit nicht über die menschlichen Bedürfnisse des sozialen
Zusammenlebens stellen und muss man die systemischen Folgen für
die Lebensbedingungen in anderen Regionen der Welt und für die
Zukunft bedenken. So gesehen sind die wichtigsten Gegenspieler von
«Größe» nicht etwa Kleinheit und Bescheidenheit, sondern Begriffe
wie «angemessen», «ausreichend», «ausgleichend», also auf die
Befriedigung natürlicher Bedürfnisse orientiert: statt Geltungs- oder
Erfolgsgröße entspannende Zufriedenheit. Ich füge «entspannend»
hinzu, weil auch der Süchtige eine relative und kurzfristige
Zufriedenheit mit seiner Droge erreichen kann, diese aber nie zur
wirklichen Entspannung führt. Bei der Erfüllung von
Ersatzbedürfnissen bleibt immer ein innerer Spannungszustand
erhalten, der sofort nach Steigerung verlangt – im Unterschied zur
Befriedigung von psychosozialen Grundbedürfnissen, die Ruhe und
Gelassenheit schenkt, bis das Bedürfnis erneut nach Befriedigung
strebt. Letzteres ist eine Wiederholung im Rhythmus natürlicher und
individueller Bedürftigkeit und erfolgt ohne Steigerungsdruck.
15 Die aktuelle deutsche Krise
Deutschland wird aktuell zur Bühne einer globalen Krise, die sich aus
vielen Ursachen speist, auf einen zentralen Punkt gebracht aber als
sich zuspitzender Konflikt eines kritisch gewordenen
Wohlstandsgefälles zusammengefasst werden kann. Es sind die Folgen
einer globalisierten Weltwirtschaftsordnung mit ungerechter
Verteilung der Gewinne, einer ausbeuterischen kapitalistischen
Produktions-, Handels- und Finanzpolitik mit einerseits wachsendem
Überfluss und andererseits noch schneller wachsender Verarmung, an
der wir Deutschen wesentlich beteiligt sind.
Geopolitische Kriege im Kampf um Ressourcen, die
Klimakatastrophe als Folge der Wachstumssucht und die soziale
Verelendung durch Ausbeutung schaffen millionenfache Opfer.
Offenbar ist eine kritische Grenze der sozialen Ungerechtigkeit
erreicht, deren Ursachen und Zusammenhänge durch eine ebenso
globalisierte Information immer weniger verleugnet und vertuscht
werden können.
Dass wir Deutschen uns im Fadenkreuz der aktuellen Krise
befinden, das verdanken wir unserer wirtschaftlichen Macht und einer
gegenwärtig scheinbar unbegrenzten Humanität. Viele Deutsche sind
stolz auf die Wirtschaftserfolge, die sie sich erarbeitet haben und
deren Ergebnisse sie ganz real genießen, aber eben auch zur
Beruhigung ihrer Selbst-Störungen brauchen. Von den
Realbefriedigungen eines materiell gesicherten Lebens und erst recht
von den Ersatzbefriedigungen des Luxuslebens werden allerdings
immer mehr Menschen ausgeschlossen. Viele Ausländer sind auf die
deutschen Verhältnisse zu Recht neidisch, vor allem wenn sie im
Elend leben müssen. Dass etwas Falsches, ja sogar Abnormes in den
deutschen Verhältnissen stecken könnte, das zu erkennen kann man
von Hungrigen und Bedürftigen nicht erwarten. Und viele Deutsche
demonstrieren – mitunter recht kämpferisch – ihre Überzeugung, sich
endlich auch zu den geläuterten «Guten» zählen zu dürfen, und sind
stolz darauf, dies auch von einem Teil der Weltöffentlichkeit
honoriert zu bekommen. Andere bleiben misstrauisch und fragen
verwundert, was mit den Deutschen passiert ist, wenn sie sich jetzt so
hilfreich anbieten. Allerdings fällt sowohl im Inland als auch erst
recht im Ausland auf, dass die deutsche Politik zerstritten und
widersprüchlich ist, wenn sie unbegrenzte Hilfe verspricht. Über eine
zum Schutze des Staates und der Menschen gegebenenfalls
erforderliche Begrenzung, über Grenzzäune und notfalls auch über
Waffengewalt wird überhaupt nicht mehr rational diskutiert, sondern
nahezu hysterisch polemisiert. Wenn aber mit (falschen) Emotionen
und mit moralisierenden Argumenten die notwendige Rationalität
politischer Entscheidungen aufgegeben wird, liegt der Verdacht einer
Reaktionsbildung nahe, also im betont gegenteiligen Verhalten
Schuldentlastung erfahren zu wollen. Schuld lässt sich aber nicht
durch humanitäre Hilfeleistung tilgen. Vielmehr besteht die Gefahr,
dass nicht akzeptierte individuelle Schuld zur neuen schuldhaften
Beteiligung an einer falschen Lebensform beiträgt, die auch nicht
durch unbegrenzte und damit falsche Hilfe gegenüber den Opfern
veredelt werden kann. Hilfe ist falsch, wenn sie aus Schuldgefühlen
und zur Selbstaufwertung angeboten wird, ohne die Ursachen der
Hilfsbedürftigkeit zu erkennen und beseitigen zu wollen und ohne die
Folgen der Hilfsangebote zu berücksichtigen.
Die deutsche Flüchtlingspolitik ist bisher vor allem heuchlerisch
und irrational und signalisiert damit die Verleugnung der
fundamentalen Gesellschaftskrise. Erkennbar wird das daran, dass die
berechtigte und notwendige Begrenzung des Zustromes von
Migranten anderen überlassen wird. So kann man kritisieren, dass die
Balkanroute geschlossen wurde, dass Grenzzäune errichtet wurden
und Waffengewalt zum Schutz der Grenzen angewendet wird, kann
die unliebsamen und sehr belastenden Zustände verzweifelter
Menschen in die Verantwortung anderer legen und sich selbst als
moralisch überlegen und «sauber» wähnen, indem die «Drecksarbeit»
anderen überlassen wird. Für das Chaos und Elend von Indomeni an
der griechisch-mazedonischen Grenze reichte dann aber die
humanitäre Kraft nicht mehr, und es wurde deutlich, dass die
irrationale Grenzöffnung vor allem eine beschwichtigende,
verleugnende, entlastende Funktion hatte. Das ungeliebte Selbst
braucht Anerkennung und Bestätigung, das der Kanzlerin und den
Deutschen reichlich geschenkt worden ist. «Mutter Merkel» wurde als
Retterin und wie eine Schutzheilige für die Bedrohten und Beladenen
gefeiert, und sie hat, ohne dieser Idealisierung zu widersprechen,
damit eigene Bedürftigkeit gezeigt und die emotionale Not von
Migranten – die auch ohne Krieg und Verfolgung existiert – völlig
unterschätzt. Es geht schon längst nicht mehr nur um Asylrecht für
Schutzsuchende, sondern um die eingeforderte Teilnahme an einem
besseren Leben. Wer möchte das nicht, aber eine solche Integration
lässt sich nur für eine sehr kleine Zahl der Millionen von
Migrationswilligen realisieren und ist der falsche Weg ins falsche
Leben. Wer in unmittelbarer Not ist, braucht unmittelbare
alimentierte Hilfe – für eine kurze Zeit der Krise –, dann aber eine
langfristige Hilfe zur Selbsthilfe. Eine humanitäre Krisenaktion kann
nicht das Ringen um eine global gerechtere Lebensform ersetzen.
16 Die gespaltene Gesellschaft
Wie viel ist real zu schaffen, bezogen auf eine komplexe Integration der
Migranten?
Wie viel ist den Einheimischen, die Flüchtlinge hilfreich aufnehmen wollen, an
realer Belastung zuzumuten? Denn Schwierigkeiten, Ängste, Verunsicherung,
Bedrohungsgefühle, Einschränkungen und Veränderungen im bisherigen Leben
sind real und unvermeidbar. Dafür muss es Verständnis und psychosoziale Hilfen
geben. Materielle Einbußen lassen sich durch Einsicht in Unvermeidbares, aber
nicht in durchaus Vermeidbares plausibel machen. Das Sicherheitsbedürfnis des
Menschen ist an ausreichendes Einkommen, akzeptierten sozialen Status, nicht
umkämpftes oder streitig gemachtes Territorium und an eine Halt gewährende
Kultur gebunden.
die suggestiven Verheißungen für ein besseres Leben nur für einen Teil der
Migranten Realisierungschancen haben;
der andere Teil sich als getäuscht oder zumindest benachteiligt erleben wird und
den verständlichen Frust in Ideologie, Radikalität und Kriminalität verwandeln
kann;
damit psychosoziale Spannungen und Konflikte in der Gesellschaft vermehrt
werden. Wer hier deutlich seine Bedenken und Sorgen äußert, ist nicht
selbstverständlich ein Fremdenfeind oder Rassist (das ist zwar auch möglich),
sondern in erster Linie ein Realist und ein Bürger, der belastende und
verunsichernde Veränderungen, die vermeidbar sind, nicht hinnehmen will. Ein
falsches Selbst drückt sich in einer unkritischen Willkommenskultur wie in einer
kompromisslosen Ablehnung der Migration aus. Ein Fremdenfreund kann man
ehrlicherweise nur werden, wenn eindeutig klar ist, dass von einem Neuen keine
reale Gefahr für Sicherheit, sozialen Status und Territorium ausgeht. Das betrifft
nicht nur Fremde, sondern auch jeden neuen Nachbarn und Arbeitskollegen. Und
warum soll man den «Islam» gut finden und zu Deutschland gehörend akzeptieren,
wenn nicht klar ist, welcher Islam konkret gemeint ist? Solange manche Muslime,
die bei uns leben wollen, sich nicht eindeutig von einer pathologischen Auslegung
und Praxis des Islams distanzieren, den Islamismus verneinen und seine
Ausbreitung verhindern helfen, tragen sie zur Spaltung der Gesellschaft bei. Die in
Deutschland lebenden Muslime haben angesichts der zugespitzten Konfliktlage
eine nachhaltige Verpflichtung, sich gegen einen islamistischen Terror, einen
fundamentalistischen Kampf gegen «Ungläubige» und gegen
Parallelgesellschaften mit eigenen Gesetzen erkennbar zu positionieren und zur
Verständigung zwischen den Kulturen und Religionen beizutragen. Wir tragen
mühevoll die Last unseres falschen Lebens, und es ist überhaupt nicht einzusehen,
dass wir zusätzlich im höchsten Maße anderes falsches Leben willkommen heißen
sollen.
Voraussetzung für eine Integration von Menschen mit vollständig anderen
religiösen, kulturellen und sozialen Erfahrungen und zum Teil auch inakzeptablen,
selbst Mord rechtfertigenden Ehrvorstellungen ist keineswegs nur, dass von ihnen
das deutsche Grundgesetz akzeptiert wird – es ist schon unverständlich, dass
darüber überhaupt diskutiert werden muss. Voraussetzung dafür ist auch, dass
Muslime in Fragen der Familienverhältnisse, der Stellung der Frau und Mutter,
sexueller Freizügigkeit, der Einstellung zur Gewalt und der Gleichberechtigung der
Religionen das eigene religiöse Verständnis kritisch und offen diskutieren. Es kann
nur um eine friedliche Koexistenz verschiedener Religionen gehen, ohne dass
Glaubenskämpfe um eine vermeintlich einzig rechtmäßige Religion ausgetragen
werden.
Auch die Zielvorstellung der «Integration» ist kritisch zu hinterfragen. Denn mit ihr
verbunden ist auch die Anpassung an unser «falsches Leben», eine Dynamik also
nicht von falsch zu richtig, nicht von mittelalterlich zu aufgeklärt, nicht von
traditionellen hin zu modernen Werten, sondern von falsch zu falsch! Wird mit
«Integration» die völlige Anpassung an die Lebensverhältnisse des Gastlandes
gemeint, dann muss die westliche Liberalität zugunsten klarer und strenger
Anpassungsforderungen zurückgestellt werden, vergleichbar jenen, unter denen
der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik vollzogen wurde. Oder meint «Integration»
eine wechselseitige Anpassung und die Entwicklung eines «dritten Weges», wie er
vielleicht mit einer «Multikulti-Gesellschaft» angedacht ist? Dann muss auf beiden
Seiten, der «christlich-abendländischen» wie der «islamischen» Welt, nach den
jeweiligen Anteilen und Inhalten falschen Lebens geforscht werden.
1. Anerkennung der Bedeutung des innerseelischen Befindens für das äußere Verhalten
und die politische Einstellung und Entscheidung;
2. Akzeptanz der Bedeutung der frühen Entwicklungsbedingungen des Kindes für die
Persönlichkeit des späteren Erwachsenen;
3. Erforschung der eigenen «seelischen Minderheiten», das heißt der Gefühle und
Meinungen, die unbewusst vorhanden sind oder bewusst zurückgehalten werden, im
Grunde die Analyse der «falschen Selbst»;
4. Verständnis für die eigenen Positionen aus der individuellen Entwicklungsgeschichte
heraus, verbunden mit der notwendigen emotionalen Verarbeitung der erlittenen
Kränkungen, Verletzungen, Demütigungen, Nötigungen und der Defizite an Zuwendung
und Bestätigung.
Mit der Erkenntnis, der Akzeptanz und Integration der eigenen
unerwünschten seelischen Inhalte müssen diese nicht mehr auf andere
übertragen und projiziert werden. Das Ziel solchen Bemühens wäre,
gut zu wissen, wer man wirklich ist und nicht nur sein sollte. Zu
wissen, was man will, braucht und kann und was man nicht will,
nicht braucht und nicht kann, um sowohl die eigenen Möglichkeiten
zu finden und zu entfalten als auch die eigenen Behinderungen und
Begrenzungen zu erkennen und zu akzeptieren. Damit könnte eine
wesentliche Quelle des falschen Lebens mit den destruktiven Folgen
süchtigen Kompensierens und den oft hassvollen Projektionen, die
den sozialen Zusammenhalt zerstören, allmählich versiegen. Wer sein
Böses kennt, braucht keinen bösen Feind mehr, wer seine eigenen
Grenzen und Schwächen zu akzeptieren lernt, wird keiner Sucht mehr
verfallen. Innerseelische Demokratie ist der befriedigendste Wert, der
die äußere Demokratie entscheidend stabilisieren kann und
unabhängig macht von vergänglichen Ideologien und falschen
Werten, vor allem vom Primat materiellen Wachstums. Die
Alternative oder wesentliche Ergänzung wäre die Annäherung an ein
echtes Leben durch Beziehungsreichtum mit Befriedigung der
zentralen psychosozialen Grundbedürfnisse, verstanden, bestätigt und
wertgeschätzt zu werden, frei zu bleiben und sich verbunden und
unterstützt zu erfahren und in den Begrenzungen akzeptiert zu
werden.
19 Der Fluch der Freiheit und Liberalität
das bedrohte Selbst sich durch Gewalt wehrt und rächt und wenn diese Abreaktion
am «falschen Objekt» geschieht (z.B. Partner, Vorgesetzte, sozial Schwächere,
Andersdenkende, Fremde);
das gequälte Selbst sich der Besetzung und Übergriffigkeit nicht entzieht und sich
missbrauchen lässt oder mit unerlöster Qual andere quält;
das ungeliebte Selbst sich narzisstisch aufbläht und sich damit auf Dauer
überfordert, das soziale Zusammenleben belastet und die Umwelt schädigt
(«Größenselbst») oder sich im «Größenklein» selbst behindert und Unterstützung
von anderen im Grunde erpresst;
das abhängige Selbst Ablösung und Eigenständigkeit verweigert und sich als
Mitläufer in einer Normopathie kritiklos einrichtet;
das gehemmte Selbst die Repression durch Selbstunterdrückung übernimmt und
seine Möglichkeiten nicht entfaltet;
das vernachlässigte Selbst trotzige Verweigerung, Bequemlichkeit und Passivität
kultiviert und soziale Zuwendung einfordert, obwohl es zur Selbstversorgung
prinzipiell in der Lage wäre;
das überforderte Selbst eine Begrenzung nicht akzeptiert, sich durch
permanenten Leistungsstress schädigt, Leistungs- und Wachstumsideologie
kritiklos befördert.
Diese Entwicklung wird von zwei typischen Auffälligkeiten falschen Lebens begleitet:
2. Mögliche Abweichungen vom falschen Leben werden aber nicht nur diffamiert, sondern vor
allem als schlichtweg unrealistisch, im Grunde als unmöglich eingeschätzt. Dieser
bedenkliche Irrtum ist vor allem beim Brexit und der Wahl von
Donald Trump aufs Peinlichste aufgedeckt worden. Klassischer kann
nicht vorgeführt werden, dass nicht sein kann, was nicht sein darf! Es
folgen die klassischen Abwertungen: Großbritannien stürze sich in ein
Wirtschaftsdesaster, Trump könne doch nur von den alten, weißen,
ungebildeten, abgehängten Männern vom Lande gewählt worden sein.
Er wird jetzt sicher im «Weißen Haus» wie in einer Erziehungsanstalt
Vernunft annehmen müssen. Warum aber wählen etwa 60 Millionen
Amerikaner einen «Rüpel»: populistisch, rassistisch, sexistisch? Weil
die populistischen Entladungen dem falschen Leben die politisch
korrekte Maske herunterreißen.
Der «Stammtisch» ist der seelischen Wahrheit oft näher als
moralische Statements sozialer Tugendhaftigkeit. Mit
skandallüsternem Blick auf sehr auffällige Persönlichkeiten wird die
Krise der Normopathie übersehen oder geleugnet. Es dominiert
Entsetzen über den Wahlerfolg eines Populisten, aber leider kein
Erschrecken über die kranken gesellschaftlichen Verhältnisse, die für
das Wahlergebnis verantwortlich sind. Beruhigungsformeln wie «Es
wird schon nicht so schlimm, wie es im Wahlkampf aussah!», «Trump
wird sich der politischen Realität beugen müssen!», «Schlimmstenfalls
verlieren wir vier Jahre!» sind dann Suggestionen, um nicht zur
Kenntnis nehmen zu müssen, dass die Entwicklung wirklich
«schlimm» ist. Aber in erster Linie nicht wegen Trump, sondern
wegen der bedrohlichen Krise des falschen Lebens, für die Trump nur
ein Symptomträger ist. Der Größenwahn der westlichen Welt hat
seine kritische Grenze erreicht. Das Erstarken nationalkonservativer
Kräfte erlebe ich wie eine Notbremse gegen das Profitdiktat globaler
Grenzenlosigkeit. In dieser grundsätzlichen Krise soll Angela Merkel
das «letzte Bollwerk» der «westlichen Freiheit» sein?
Viele Wähler werden wohl dieser verhängnisvollen Illusion
verfallen, damit sie ihr eigenes falsches Leben nicht erkennen müssen.
Das sind die Kräfte der Normopathie! Wir sollten uns nicht von den
medial hysterisierten Kämpfen zwischen den Macht-Populisten und
den Protest-Populisten anstecken lassen, sondern den immer wieder
verfemten «Dritten Weg» nach neuen Lebensformen suchen.
Populismus und politische Korrektheit sind keine guten Ratgeber
mehr für die Auseinandersetzungen, die wir führen müssen, um
falsches Leben zu erkennen und echteres Leben zu definieren und zu
gestalten.
23 Zur Ehrenrettung der Ostdeutschen
Der Vergleich mit Achtundsechzig hinkt natürlich, wie jeder Vergleich, aber nachdenkenswert
sind doch folgende Auffälligkeiten:
1968 hatte sich die jüngere Generation im Protest gegen die Nazi-
Eltern bzw. gegen überdauernde ideologische und autoritär-repressive
Strukturen erhoben. Die Älteren, die Kriegsgeneration, hatten sich mit
dem Wirtschaftsaufschwung «befreien» und entschädigen wollen.
Dieses Bemühen wurde von der nachgeborenen Generation als
verlogen und falsch erlebt, da ein ehrliches Bekenntnis der
Mitläuferschuld, die ja auch ihre eigene Erziehung geprägt hatte,
verweigert worden war. Die «antiautoritäre» Erziehung wurde deshalb
auch zur Befreiungsideologie erhoben. Bei den «Pegidisten» und AfD-
Anhängern und -Wählern fällt auf, dass diese mehrheitlich zur älteren
Generation zählen, die noch in der DDR aufgewachsen sind und dort
gelebt haben, aber keine «Erlösung» von ihrer Mitschuld durch
materiellen Erfolg gefunden haben oder finden konnten. Dagegen sind
die Pegida-Gegner, die «linken Autonomen», die «weltoffenen» und
«bunten» Kämpfer für die «moderne» Entwicklung und die Multikulti-
Verfechter eher zur jüngeren Generation zu rechnen. Dieser
Generation fehlt ein «68» der kritischen Auseinandersetzung über die
Schuld ihrer Mitläufer-Eltern. Und paradoxerweise kämpfen sie eher
auf der Seite der Machtelite der westlichen (narzisstischen)
Normopathie. Es ist schon eine historische Besonderheit, dass die
junge Generation nicht gegen das Establishment revoltiert. Ich habe
dazu folgende Verdachtsdeutung: Die Älteren haben schon vieles
verloren und ringen jetzt um ihre Würde, verbunden mit der Angst,
das mühsam Gerettete und neu Erworbene auch noch zu verlieren.
Die jüngere Generation hingegen, die auch wegen ihrer medialen
Abhängigkeit als «Generation der gesenkten Köpfe» bezeichnet wird,
ist so sehr mit einem falschen Leben der medialen Unendlichkeit und
der Ersatzvergnügungen abgefüttert, dass sie eine kritische
Veränderung des gegenwärtigen «falschen Lebens» fürchten müssen.
Ihnen droht Entzug, wenn die Wohlstandsnormopathie kollabiert. Die
falschen Selbst lassen keine kreative Alternative zu. Die Ahnung vom
Ende des bisherigen falschen Lebens wird gegenüber den
Überbringern der schlechten Nachricht abgewehrt und ausagiert.
Ich habe im vorherigen Kapitel darauf aufmerksam gemacht, dass bei
jedem Protest, ob privat oder öffentlich, zwischen innerseelischen (oft
auch unbewussten) sowie sozialen und gesellschaftlichen Ursachen
differenziert werden muss. Dies ist die einzige Chance, um auf Protest
angemessen reagieren zu können, also etwa mit Beratung und
Therapie oder mit sozialpolitischen Maßnahmen oder auch mit
politischer Diskussion und Veränderungen von Entscheidungen und
Planungen. Nach meinen Informationen und Recherchen haben
Ostdeutsche auf allen drei Ebenen gute Gründe, Protest und Unmut zu
äußern: Individuell sind die autoritär-repressiven Erziehungsnormen
der DDR, die nicht nur in den Kitas und Schulen, sondern auch in den
meisten Familien vorherrschten und vor allem bedrohte, ungeliebte
und gehemmte Selbst-Störungen verursacht haben, nie wirklich
«geheilt» worden. Der damit verbundene «Gefühlsstau» konnte kaum
abreagiert werden, weder in der «friedlichen» Revolution noch gegen
die rettende Pflegschaft des Westens. Eine nennenswerte Kritik an der
Vereinigungspolitik, an der Sozialhierarchie und der Dominanz des
Geldes, an der Arbeitsmarktpolitik ist nie zustande gekommen. Die
bedrohliche Entwicklung angesichts der Finanz- und Eurokrise, der
Asylpolitik und des Verlustes an Orientierung und Halt durch eine
entgrenzende Globalisierung und Liberalität haben offenbar die
Grenze der Anpassungsleistung überschritten.
Deshalb sind die Ostdeutschen ein sensiblerer Indikator für die
gesellschaftliche Fehlentwicklung: Der ungelöste Stress der
Entfremdung durch die DDR-Anpassung, verstärkt durch die
«alternativlose» Anpassung an die kapitalistische Lebensform und
aktuell durch die Anforderung, Flüchtlinge einer fremden Kultur, mit
einer oft auch problematischen Sozialisation und bedrohlichen
Religionsauslegung integrieren zu müssen, überfordert die
Abwehrmöglichkeiten der falschen Selbst. Im Protest sind die
Ostdeutschen deshalb der Wahrheit vom falschen Leben näher, aber
wohl ohne Chance auf Verständnis, Akzeptanz und kreative
Entwicklungen. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass die falschen Selbst
sich wirklich befreien können. Viel wahrscheinlicher ist eine
wachsende Feindseligkeit gegenüber gegensätzlichen politischen
Positionen, um durch Spaltungsabwehr Gegensätze aufzubauen, um
gemeinsam die Einsicht in falsches Leben zu vermeiden. Aber in der
Krise gibt es immer auch eine Chance, dass die gesunden Selbst-
Ressourcen aufleben.
Teil IV
24 Gefühlsfähigkeit ist das Tor zu echterem Leben
1. Ein Kind kann nicht mehr als Objekt von Erziehung, sondern muss als Subjekt von
Jedes Kind bringt einmalige,
Beziehung verstanden werden.
unverwechselbare Eigenschaften mit und beeinflusst so von Anfang
an seine soziale Umwelt. Eltern und Frühbetreuende haben die
Aufgabe, ein Kind zu erkennen, zu verstehen und hilfreich auf seine
Grundbedürfnisse zu reagieren und seine Eigenarten empathisch zu
spiegeln. Ein Kind erkennen, bestätigen, befriedigen und begleiten zu
können, ist grundsätzlich anders, als ein Kind erziehen zu wollen,
indem es Erwartungen und Forderungen der Eltern abspüren und
erfüllen lernen soll. An diesem Punkt entscheidet sich im Grunde
schon, ob sein Weg in ein authentisches oder falsches Selbst führt.
Beziehung lässt ein echtes Selbst wachsen, Erziehung erzwingt ein
falsches Selbst.
2. Die Beziehungserfahrungen des Kindes beginnen im Mutterleib und sind energetisch schon
durch die Einstellung der Eltern zu Zeugung, Schwangerschaft und Geburt vorgeprägt. Es
sind nicht nur die Ernährung, Alkohol, Nikotin und Medikamente der
Mutter, die das Kind im Uterus nachhaltig beeinflussen können,
sondern auch das Grundmotiv der Mutterschaft, der Elternschaft, des
Familienverständnisses, das sich auf das Kind überträgt: Das geborene
Kind ist nicht mehr «unbefleckt», es ist schon beeinflusst. Eine
«Elternschule» müsste deshalb vor allem die Selbsterfahrung zu den
Themen Mütterlichkeit, Väterlichkeit, durch Elternschaft veränderte
Partnerschaft und neue Familienkonstellation im gesellschaftlichen
Umfeld fördern.
3. Die Qualität der Geburt hat großen Einfluss auf die frühkindliche Prägung. Es
macht
einen Unterschied, ob das Kind in Übereinstimmung mit dem eigenen
Bedürfnis, geboren zu werden, und der mütterlichen Bereitschaft dazu
kommen kann oder ob die Mutter ihre Verantwortung vollkommen
der medizinischen Betreuung überlässt, ob eine Geburt forciert,
medikamentös beeinflusst oder gar ohne medizinische Not durch
Kaiserschnitt abgeschlossen wird. Die USA geben ein denkbar
schlechtes, höchst bedenkliches Vorbild: die operative Entbindung aus
juristischen Gründen, aus Bequemlichkeit und zur Entlastung der
Gebärenden, offenbar ohne zu berücksichtigen oder wissen zu wollen,
welches Schicksal damit dem Kind von Anfang an auferlegt wird. Es
kommt passiv zur Welt, es fehlt die prägende Erfahrung der
angestrengten Zusammenarbeit des Kindes mit der Mutter bzw. der
Mutter mit dem Kind und des gemeinsamen erfolgreichen Abschlusses
ihrer Bemühungen. Ich habe immer wieder durch Kaiserschnitt
entbundene Menschen kennengelernt, die in typischer Weise bei
Lebensherausforderungen nicht aktiv werden können, sondern
schlappmachen und auf Hilfe angewiesen sind. Von Anfang an ist der
Lebensbeginn passiv konstituiert, ohne aktive Anstrengungserfahrung.
Es wird nicht bedacht, welche Einstellung der Gebärenden zu ihrem
Kind zum Ausdruck kommt, wenn sie ohne zwingende medizinische
Indikation eine Kaiserschnittentbindung auf Wunsch durchführen
lässt und die Geburtshelfer das akzeptieren, womöglich – aus welch
fragwürdigen Gründen auch immer – sogar empfehlen. Wie wird
diese Frau als Mutter die tausendfachen Belastungen der
Kindsbetreuung annehmen und durchstehen?
4. Die Qualität der ersten Beziehungserfahrungen des Kindes – noch bevor es sprechen
gelernt hat – prägt sich auch als «Beziehungsrepräsentanz» neuronal in der
Gehirnentwicklung ein. Diese
frühe Prägung bestimmt im Wesentlichen den
späteren Charakter des Menschen (als Zusammenspiel genetischer
Voraussetzungen und beeinflussender Beziehungserfahrungen). Diese
Prägung geschieht vor allem in den ersten drei Lebensjahren, deshalb
ist die Qualität der Frühbetreuung von höchster Bedeutung.
Ein politisch-ideologischer oder aus ökonomischen Bedürfnissen und
Interessen geführter Kampf oder Streit um Familien- oder
Fremdbetreuung der jüngsten Kinder ist überhaupt nicht hilfreich.
Aus der Sicht des Kindes kann es nur um eine möglichst optimale
Betreuungsform gehen. Nur bei schlechter elterlicher Betreuung sollte
schnellstmöglich eine bessere Fremdbetreuung erfolgen. Aber eine
notwendige Fremdbetreuung sollte optimale Beziehungsangebote für
das Kind zur Verfügung stellen, die von der Qualifikation der
Betreuungsperson und vom Betreuungsschlüssel abhängig sind. Die
Ausbildung von Krippenerzieherinnen oder Tagesmüttern sollte nicht
pädagogische Kenntnisse in den Mittelpunkt stellen, sondern
«Herzensbildung», also Beziehungsfähigkeit und emotionale
Bindungssicherheit.
Nach der bereits im 1. Kapitel herausgestellten Beziehungsqualität
der elterlichen Beziehungsangebote seien hier «gute» und «schlechte»
mütterliche und väterliche Fähigkeiten gegenübergestellt.
Wenn wir uns an den falschen Selbst und den daraus folgenden
Fehlentwicklungen orientieren, erhalten wir auch hilfreiche Hinweise,
was uns im (ewigen) Bemühen um ein echteres Leben helfen kann.
Die einseitigen bis falschen Einstellungen und problematischen
Haltungen der falschen Selbst weisen die Richtung, worauf man
achten muss und was verändert werden müsste. «Beziehungskultur»
meint grundsätzlich, dass jeder Einzelne die Verantwortung dafür
trägt, falsch oder echter zu leben, dass ihm die Erkenntnisschritte und
Veränderungsaufgaben keiner abnehmen kann. Selbstverständlich
kann man auf Bedingungen hoffen, die eine Annäherung an ehrlichere
Verhältnisse erleichtern. Man kann gegen Lebensbedingungen, die das
falsche Leben zementieren, engagiert protestieren und sich für
Verbesserungen einsetzen. Beides erspart aber keinesfalls das
persönliche Ringen um Befreiung aus dem eigenen falschen Leben,
selbst wenn die «Befreiung» in der Regel nur einem Freigang aus dem
Gefängnis gleichkommt.
Werden nur äußere Veränderungen angestrebt und erkämpft, ohne
die inneren Lebensmöglichkeiten zu verändern und zu verbessern, ist
der an sich höchst ehrenwerte Kampf um bessere Verhältnisse meist
mit einem tiefen Schatten verbunden. Eine wahrhaftige Revolution
wird nicht durch Straßenschlachten und die bloße Machtübernahme
ohne Veränderung der innerseelischen Lebensbasis herbeigeführt. Der
Ausstieg aus dem falschen Leben ist ein Beziehungsprozess und kein
Waffengang. Selbst wenn er noch so positiv gedacht und inhaltlich
überzeugend begründet ist, wird ein veränderter politischer oder
ökonomischer Überbau stets durch die falschen Selbst in eine neue
Krise geführt werden. Die blutige Gewalt der Revolutionen ist der
Ausfluss verletzter Seelen, die vor keiner Schandtat, keinem
Verbrechen zurückschrecken. Mit großem Entsetzen, mit Abscheu
konstatiert die historische Betrachtung unmenschliche Gräueltaten,
ohne die tiefe seelische Qual, aus der heraus sie entstanden, zu
begreifen. Die frühen seelischen Verletzungen, die die falschen Selbst
generieren, haben immer einen lebensbedrohlichen Charakter. Nur
dieser verborgene, unterdrückte und damit aufgestaute Hass kann
eine spätere Vernichtungswut und Mordlust erklären. Ohne
grundlegende Verbesserung der frühkindlichen Betreuung gibt es
keine wirkliche humanitäre Entwicklung, nur immer wieder
destruktive soziale Verhältnisse in wechselndem Gewand.
der menschliche Charakter in der frühen Kindheit für das ganze Leben
nachhaltig geprägt wird;
die frühe Prägung wesentlich durch die Beziehungsqualität (in Form von
Mütterlichkeit und Väterlichkeit) im Umgang mit dem Kind geschieht, wobei
auch die Entfaltung oder Behinderung genetischer Veranlagungen sozialer
Beeinflussung unterliegt;
eine frühe Prägung nicht mehr grundsätzlich verändert werden kann; das heißt,
dass Selbst-Störungen nicht mehr geheilt werden können und deshalb
Prävention wesentlich wichtiger ist als Therapie;
auch Psychotherapie (oder irgendeine andere Form von Beratung, Therapie,
Meditation oder Übung) keine «Heilung» ermöglichen kann, aber Erkenntnis,
Entlastung, Verhaltensänderung und ein kompetenterer (weniger selbst- oder
fremdschädigender) Umgang mit den Selbst-Störungen gefunden und
ausgestaltet werden kann;
eine Mehrheit falscher Selbst auch eine normopathische Gesellschaftsstruktur
entstehen lässt, deren Normen und Regeln wieder zur Entfremdung der
nächsten Generation beitragen oder diese sogar erzwingen. «Falsche Selbst»
konstituieren «falsches Leben», in dem nur wieder «falsche Selbst»
heranwachsen können.
Mein Erkenntnisstreben kann ich heute auf eine zentrale Formel bringen: