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Zum Buch

Die Überangepassten:
Ein Normopath ist stets normal und angepasst, sein Verhalten
überkorrekt und überkonform. Die Zwanghaftigkeit, mit der er den
Erwartungen entspricht, verrät indes, dass er ein falsches, ein
unechtes Leben führt. Krank ist nicht nur er, sondern vor allem die
Gesellschaft, in der er lebt und deren Anpassungsdruck er sich
unterwirft – bis er die Gelegenheit gekommen sieht, seine aufgestaute
Wut an noch Schwächeren oder am «System» abzureagieren.
Der Hallenser Psychoanalytiker und Psychiater Hans-Joachim Maaz
ist bekannt für seine brillanten, zukunftsweisenden Analysen
kollektiver Befindlichkeiten und gesellschaftlicher Zustände. In
seinem neuen Buch nimmt er Phänomene wie Pegida und AfD, den
zunehmenden Hass auf Ausländer, aber auch die Selbstgerechtigkeit
der politischen Elite zum Anlass, ein konturscharfes Bild unseres
falschen Lebens zu zeichnen, in dem wir uns lange eingerichtet haben
und aus dem uns nun die zunehmende Polarisierung und
Barbarisierung unserer sozialen und politischen Verhältnisse
herausreißt. «Das falsche Leben» ist das Buch zur Stunde – Augen
öffnend und alles andere als Mainstream.
Über den Autor

Hans-Joachim Maaz, Bestsellerautor und seit 40 Jahren


praktizierender Psychiater und Psychoanalytiker, war lange Zeit
Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik des
Diakoniekrankenhauses Halle. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a.
Der Gefühlsstau. Psychogramm einer Gesellschaft (22014) sowie Die
narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm (42013).
Inhalt

Teil I
1 Wie entsteht die Fälschung?
2 Selbst und Ich
3 Das Falsche Selbst begründet falsches Leben
Das bedrohte Selbst («Mutterbedrohung»)
Das gequälte Selbst («Mutterbesetzung»)
Das ungeliebte Selbst («Muttermangel»)
Das abhängige Selbst («Muttervergiftung»)
Das gehemmte Selbst («Vaterterror»)
Das vernachlässigte (ungeförderte) Selbst
(«Vaterflucht»)
Das überforderte Selbst («Vatermissbrauch»)
4 Die Grundmelodien des falschen Selbst
5 Die innerseelischen Schutzmechanismen der falschen
Selbst
Spaltung
Projektion
Reaktionsbildung
6 Die äußeren Rettungsversuche des falschen Selbst
Kompensation und Ersatz
Anstrengung und Leistung
Anpassung
Ablenkung
Soziales Ausagieren
Masochistisches Aushalten
7 Krankheit und Gewalt
8 Die Krankheiten des falschen Selbst
Das bedrohte Selbst
Fallbeispiel für das «bedrohte Selbst»
Das gequälte Selbst
Fallbeispiel für das gequälte Selbst
Das ungeliebte Selbst
Fallbeispiel für das ungeliebte Selbst
Das abhängige Selbst
Fallbeispiel für das «abhängige Selbst»
Das gehemmte Selbst
Fallbeispiel für das «gehemmte Selbst»
Das vernachlässigte Selbst
Fallbeispiel für das vernachlässigte Selbst
Das überforderte Selbst
Fallbeispiel für das überforderte Selbst

Teil II
9 Die Grundbedürfnisse des Selbst
10 Woran erkenne ich mein falsches Selbst?
11 Der Weg aus dem falschen Leben
12 Das wahre Leben

Teil III
13 Normopathie
14 Die deutschen Normopathien
15 Die aktuelle deutsche Krise
16 Die gespaltene Gesellschaft
17 Willkommen im falschen Leben
18 Politische und psychische Demokratie
19 Der Fluch der Freiheit und Liberalität
20 Schuld und Selbst-Störungen
21 Protestbewegungen spiegeln falsches Leben
22 Populismus als Herausforderung
23 Zur Ehrenrettung der Ostdeutschen

Teil IV
24 Gefühlsfähigkeit ist das Tor zu echterem Leben
25 Was ist und will «Beziehungskultur»?
26 Beziehungskultur ringt um echtes Leben
27 Meine Selbstentfremdung

Fußnoten
Teil I
1 Wie entsteht die Fälschung?

Der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Beziehungen entscheiden über


seine Entwicklung, und Beziehungskultur bestimmt die
Lebensqualität. Durch Säuglingsforschung, Hirnforschung und die
Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie sind diese einfachen
Aussagen in überzeugender Weise wissenschaftlich gesichert. Umso
erstaunlicher, ja beunruhigender ist deshalb die Tatsache, dass in
Politik und Wirtschaft dieses Wissen nicht ausreichend berücksichtigt
wird und im menschlichen Zusammenleben psychosoziale Konflikte,
Beziehungsängste und Feindseligkeiten das Leben mehr bestimmen
als soziale Gemeinschaft, als die Erfahrung psychischer
Verbundenheit und eines wechselseitigen empathischen Verstehens.
Die Säuglingsforschung hat uns gelehrt, dass der Mensch von
Anfang an ein Subjekt von Beziehung ist. Dabei ist die
Beziehungsqualität zwischen Mutter – Kind, Vater – Kind und Mutter
– Vater – Kind von entscheidender Bedeutung. Der Säugling gestaltet
in seiner Einmaligkeit und mit seinen Bedürfnissen die Beziehung
aktiv mit. Das Kind macht die Frau zur Mutter und den Mann zum
Vater. Es geht bei der Einschätzung der Beziehungsqualität um die
Frage, wie die Eltern auf die originären Angebote ihres Kindes
reagieren und welche individuellen Beziehungsangebote sie selbst
machen. Die Beziehungspartner bilden allmählich ein spezifisches
Beziehungsensemble – ein Familienmuster. Dabei liegt die
Gestaltungsmacht mehr bei den Eltern, und die Kinder sind die Opfer
der elterlichen Einflüsse. Aber auch die immer schon vorhandenen
Eigenarten eines Kindes, sein einmaliges Sosein, verlangen
empathisches Verstehen und adäquates Reagieren der Eltern. Mutter
und Vater mit schwacher, ungeübter oder gestörter Elternfunktion
werden schnell selbst zu Opfern ihrer Kinder, wenn sich diese
aufgrund von vorenthaltenem Verständnis, erlittener Kränkung oder
verweigerter Begrenzung in «Quälgeister» verwandeln. Auffälliges
Verhalten von Kindern oder später die sogenannte «Pubertät» sind
keine Krankheiten, sondern Symptome von Beziehungsstörungen
zwischen Eltern und Kind. Wenn Kinder mit Handicaps geboren
werden, ist das zumeist eine besondere Herausforderung für die
Eltern. Sie müssen dann lernen, Ängste und Unsicherheit, aber auch
Kränkungen aufgrund der Behinderung, für die sie sich zumeist
verantwortlich fühlen, sowie mögliche eigene Ablehnungstendenzen
gegen das Kind zu regulieren und zugleich eine
schuldgefühlsgetragene falsche Fürsorge zu vermeiden.
Vor der Erforschung der Mutter-Kind-Interaktionen galt das Kind
als ein Objekt der Erziehung, dem das «richtige» und «gute» Leben
beigebracht werden müsse. Das Kind war den
Erziehungsvorstellungen der Familie und damit in der Regel den
gesellschaftlichen Normen und Entwicklungserwartungen ausgesetzt.
Erziehung geschah überwiegend durch autoritären Druck, durch
Einschüchterung, mittels Manipulation durch Lob und Strafe und
endete am häufigsten in der Unterwerfung des Kindes unter den
Willen der Erwachsenen. Nicht selten führte dieses Verhalten zu
Erkrankungen des Kindes und manchmal auch zu rebellischen
Kämpfen. Heute wissen wir, dass die Entwicklungschancen eines
Menschen ganz wesentlich davon abhängen, ob und wie die ersten
Beziehungspartner (Eltern, Geschwister, Großeltern, Krippenerzieher,
Tagesmütter) in der Lage sind, die Beziehungsangebote des Kindes
richtig zu verstehen und angemessen darauf einzugehen. Dabei ist mit
«angemessen» eine Antwort auf das Signal des Säuglings im Sinne
einer optimalen Befriedigung (qualitativ und quantitativ) des
gezeigten Bedürfnisses gemeint, optimal nach dem Empfinden des
Kindes und nicht nach den Vorstellungen der Betreuungspersonen.
Solange keine krankheitswertige Störung vorliegt, äußern nicht
frustrierte Säuglinge kein falsches oder überzogenes Verlangen. Es ist
alles echt und unmittelbar und sollte so auch verstanden und
beantwortet werden. Der Säugling erfährt Lust oder Unlust noch ohne
Möglichkeit einer rationalen Einsicht und kognitiven Verarbeitung
der Betreuungsqualität. Deshalb ist die erlebte Qualität der frühen
mütterlichen Versorgung für das Wohlbefinden und die Entwicklung
des Kindes so wichtig.
Mit dem Heranwachsen des Kindes sollte die immer auch
vorhandene Begrenzung an guter Mütterlichkeit[1] als aktuelle
Schwierigkeit der Mutter kommuniziert werden (z.B.: «Es geht jetzt
nicht …, Ich habe jetzt keine Zeit …, Ich bin jetzt überfordert …, Ich
bin jetzt mit mir/meiner Arbeit beschäftigt … Es tut mir leid!»).
Solche Reaktionen sind natürlich auf das Alter des Kindes und das
jeweilige Anliegen abzustimmen, aber immer kommt es darauf an,
dass verständlich gemacht wird, dass das Beziehungsproblem beim
Erwachsenen liegt und sich das Kind nicht als unverstanden,
abgelehnt oder als falsch erleben muss. Das gilt auch, wenn Kinder
überzogene und unerfüllbare Wünsche äußern. Dann ist es
entscheidend für das Wohl des Kindes, ob es die Information erhält:
«Nein, ich kann/will das jetzt leider nicht …», «Nein, das ist nicht
möglich, weil …» oder ob es wegen seines Bedürfnisses gekränkt oder
ganz und gar abgelehnt wird: «Du bist doch unmöglich …, wie kannst
du nur so etwas wollen? … Du musst doch Rücksicht auf mich
nehmen!»
Eine Mutter sollte wissen, dass sie vom kleinen Kind ausschließlich
als «Mutter» wahrgenommen wird und nicht als eigenständige Person
mit individuellen Bedürfnissen, Interessen und Verpflichtungen. Die
Mutter ist kein «Mensch» für das Kind, sondern ausschließlich
versorgendes Objekt, das entweder als lustvoll wahrgenommen wird
oder Unlust erzeugt. Dabei ist es für die emotionale Verarbeitung des
kindlichen Erlebens und für seine Orientierung entscheidend, ob der
Erwachsene mit einer Ich-Botschaft reagiert oder mit einer Du-
Bewertung des Kindes. Wenn dem Kind etwas nicht erfüllt werden
kann, sollte es wenigstens traurig sein dürfen, auch enttäuscht
reagieren und vielleicht sogar wütend seinen Unmut zeigen dürfen. So
bleibt es mit dem angemessenen Gefühlsausdruck gesund, weil es den
Enttäuschungsstress emotional abführen kann. Und es lernt dabei, mit
einer der wichtigsten Lebenserfahrungen umzugehen: der
Begrenzung.
Begrenzung ist in jeder Hinsicht normal, unbegrenzte Erfüllung
würde in die Sucht führen. Unendliches Wollen ist bereits ein
Krankheitssymptom unerfüllter basaler Bedürftigkeit. Das Kind, das
sich bei immer auch notwendiger Ablehnung eines Wunsches kaum
beruhigen lässt, macht bereits sehr nachdrücklich auf seinen
defizitären Status aufmerksam, bei dem der quengelnde Wunsch
zusammen mit der heftigen Erregung Symptom eines grundlegenden
Unbefriedigtseins ist. Je weniger die basalen Grundbedürfnisse des
Kleinkindes erfüllt werden, desto mehr sucht es nach Ersatz und
Kompensation. Nur die Not lässt horten, geizen, tricksen und
kämpfen; Überlebensnot macht den Menschen böse, gefährlich und
gewaltbereit. Und Not entsteht nicht nur aus Nahrungs- und
Wassermangel, sondern ebenso aus Liebes- und Bestätigungsmangel
sowie bei sozialer Ablehnung und Ausgrenzung. Von den
Suchterkrankungen wissen wir, dass es nicht so sehr die Drogen sind,
die den Menschen süchtig machen. Vielmehr sucht der ungestillte
Mensch sich Mittel, die seine Qual lindern sollen, die er dann aber
ständig braucht, weil sie die Bedürftigkeit nicht löschen, sondern nur
betäuben. Bei dann zwangsläufig ständigem Mittelgebrauch können
zusätzliche biochemische Abhängigkeiten entstehen, die einen Entzug
– nicht nur psychisch, sondern dann auch körperlich – so schwer
machen.
Kollektiv gesehen, versammelt das Ersatzstreben ungestillter
Menschen süchtige Energien, um immer mehr «Drogen» zu gewinnen
und zu konsumieren. Das kann sich zu einer basalen Pathologie einer
Leistungs- und Wachstumsgesellschaft auswachsen, wenn die
Menschen vor allem nach materiellem Ersatz für Beziehungsdefizite
streben. Süchtigkeit macht aus Begrenzung Bedrohung, egoistische
Überlebensnot verhindert soziale Erfüllung in Beziehungskultur. Der
Nachbar ist dann kein Mensch mehr zur sozialen Bereicherung,
sondern bedrohlicher Konkurrent, während die Gemeinschaft, die am
ehesten Schutz, Hilfe und Unterstützung gewähren und Verständnis,
individuelle Bedeutung und Anerkennung vermitteln könnte, in
Gewinner und Verlierer, in Starke und Schwache, in Mächtige und
Ohnmächtige, in Reiche und Arme zerfällt.
In Deutschland ist materielle Not mehrheitlich so gut wie
überwunden. Das süchtige Verhalten vieler Menschen muss deshalb
vor allem als Symptom seelischer Defizite verstanden werden. Der
narzisstische Liebes- und Bestätigungsmangel speist die materielle
egoistische Wachstumssucht; das dadurch verursachte
Konkurrenzstreben produziert dann Ungerechtigkeit und
Ungleichheit. Im Verteilungskampf schaffen Gewinner zwangsläufig
Verlierer. Wird infolge traumatisierender Beziehungserfahrungen ein
Leben in Gemeinschaft nicht mehr als befriedigend und lustvoll
erlebt, dann will man «Herr» sein, um die erlittene Schmach zu
überdecken und sich zu rächen. Tragischerweise zieht auch der
«Knecht» noch Vorteile aus der ungleichen Verteilung, indem er per
Projektion glauben kann, die «Herren» allein seien schuld an seinem
Elend; so verwandelt er seinen entwicklungspsychologisch
begründeten innerseelischen Stress in Protest und Kampf gegen
Außenfeinde. Auf diese Weise entstehen Feindschaften, und keiner
weiß mehr – und will es auch nicht wissen –, dass eine tiefe seelische
Not auf beiden Seiten der Front die eigentliche Quelle der
wechselseitigen Vorwürfe bis hin zur gezielten Gewalt gegen den
erklärten Gegner ist. Dabei sitzen Arm und Reich, Oben und Unten,
Links und Rechts in Wirklichkeit in einem Boot, nämlich dem des
«falschen Lebens», und keine Seite ist, psychodynamisch gesehen,
besser dran als die andere. Keiner von beiden ist nur gut oder böse,
liegt nur richtig oder falsch. Wahrheit ist die größte Gefahr, mit der
eigenen Fehlentwicklung konfrontiert zu werden, die ja in aller Regel
mit vermeintlich guten Argumenten heftig verteidigt wird.
Ich bin weit davon entfernt, das Elend von Benachteiligten zu
bagatellisieren. Aber ich vermag auch nicht das Leben der
Erfolgreichen zu glorifizieren, deren psychosoziale Probleme weder
durch Reichtum noch durch Macht oder Ruhm beseitigt werden. Eher
werden sie damit noch vermehrt, weil die Falschheit ihres Lebens
unter der «Goldkruste» besonders schwierig zu erkennen ist. Eine
Veränderung wird dann vor allem als Verlust erlebt – wie bei jeder
Sucht, wenn auf die Droge verzichtet werden soll. Die Plattitüde
«Geld beruhigt, macht aber nicht glücklich!» ist inzwischen halbwegs
akzeptiert. Aber das wichtigste Therapeutikum – Liebe statt Geld! –
ist keineswegs einfach zu haben. Eine wirkliche Chance für ein
friedliches Zusammenleben besteht aber nur dann, wenn Reiche und
Arme bei ausreichendem materiellen Ausgleich in einer
«Beziehungskultur» lernen, sich lebensechter zu begegnen und soziale
Grundbedürfnisse der Anerkennung und Bestätigung beidseitig zu
befriedigen. Unterschiede wird es immer geben, doch müssen sie
nicht zu Feindseligkeiten führen, solange sie nicht durch
Ungerechtigkeiten erzwungen worden sind.
Natur ist Werden und Vergehen, Wachsen und Schrumpfen.
Falsches Leben ist Wachstumssucht und Verleugnung der Begrenzung
und des Endes. Natur ist Vielfalt und Verschiedenheit, natürlich ist
das systemische Zusammenspiel der unterschiedlichen Erfahrungen
und Kompetenzen. Falsches Leben ist die Dominanz der einen über
die anderen durch politische, militärische, religiöse und ökonomische
Macht mit Selbstüberhöhung und Fremdabwertung.
Das Schicksal einer Gesellschaft entscheidet sich an der Frage, ob
Kinder erzogen werden sollen oder ob ihre Entwicklung durch
reflektierte und optimierte Beziehung gestaltet wird: Erziehung oder
Beziehung! Erziehung erzeugt «gute» und «böse» Kinder, teilt in
Gewinner und Verlierer, in richtiges und falsches Verhalten.
Erziehung ist verantwortlich für Fehlentwicklungen, für viele
Krankheiten und Verbrechen. Beziehung hingegen verzichtet auf
Entwicklungsziele und Bewertung. Beziehung fördert Verstehen,
würdigt Verschiedenheit, stärkt den Selbstwert und ermöglicht soziale
Integration. Beziehung statt Erziehung heißt Liebe statt Macht,
Gemeinschaft statt Konkurrenz, natürliche Leistungsdynamik statt
künstlicher übertriebener Anstrengung.
Die wichtigste Erkenntnis der Hirnforschung liegt darin, dass die
ersten Beziehungserfahrungen des Kindes die Gehirnentwicklung
wesentlich beeinflussen, und zwar bereits zu einer Zeit, bevor das
Kind sprechen kann. So bekommt die präverbale Beziehungsqualität
eine prägende Bedeutung. Diese hängt wesentlich von der
Beziehungsfähigkeit des Erwachsenen, von seiner Einstellung zum
Kind, von seiner Empathiefähigkeit, sich in das Kind einfühlen zu
wollen und zu können, und von seiner Reaktions-(d.h. auch
Befriedigungs-)Fähigkeit ab. Nicht, was ein Erwachsener für richtig
hält, ist entscheidend, sondern was davon beim Kind ankommt. Es
gibt unzählige Eltern, die überzeugt sind, nur das Beste für ihr Kind
zu tun. Womöglich wird das von dem betreffenden Kind aber ganz
anders empfunden, wenn sein Befinden nicht richtig erkannt und
verstanden wird. Dieser tragische Dissens bestimmt sehr oft das
pädagogisch orientierte Erziehungsverhalten in Kitas, Schulen und
Heimen. Auch in Krankenhäusern dominieren in der Regel
medizinisch begründete Maßnahmen über die Bedürfnislage des
Kindes. Das mag einerseits unvermeidbar sein. Andererseits ließe sich
durch ein empathisches Eingehen auf das kindliche Erleben eine
wesentliche Brücke schlagen zwischen dem medizinisch Notwendigen
und dem kindlichen Befinden. Das würde nicht nur das Kind aus einer
Stresssituation befreien, sondern auch seine Heilungschancen
verbessern. Wenn jetzt in den Kitas frühkindliche Bildung auf Kosten
der notwendigen Bindung des Kindes propagiert wird, gefährdet das
auch den Erfolg jedes Bildungsangebots. Bei sicherer und
bestätigender Bindung dagegen kann sich das Kind aus innerem
Antrieb frei entwickeln und wird ganz von alleine ein
Bildungsbedürfnis entfalten und zunehmend auch artikulieren.
Die für eine gesunde Entwicklung des Kindes so wichtige frühe
Bindung lässt sich deshalb nie durch Bildung ersetzen. Gerade
Letzteres wird aber von vielen Politikern zunehmend als Begründung
für eine Kita-Betreuung vorgebracht. So kommentierte etwa die NRW-
Familienministerin Sylvia Löhrmann das Entfallen des
Betreuungsgeldes, einer Sozialleistung für Familien, die ihre Kinder
im zweiten und dritten Lebensjahr ohne Inanspruchnahme
öffentlicher Angebote wie etwa Kitas selbst betreuen, mit den
bezeichnenden Worten: «Die Antibildungsprämie ist vom Tisch»,
während die Sozialministerin von Baden-Württemberg Katrin Altpeter
meinte: «Das Betreuungsgeld setzt falsche Anreize, weil es Eltern
ermuntert, ihre Kinder von den vorschulischen Bildungseinrichtungen
fernzuhalten.»
Fest steht: Es sollte keinen ideologisch oder ökonomisch
begründeten Streit und Kampf um Familien- oder Krippenbetreuung
geben. An erster Stelle sollte das Wohl des Kindes stehen. Und das
heißt, Eltern so zu unterstützen, dass sie ihre Aufgaben als Mutter
und Vater so gut wie möglich erfüllen können, zum Beispiel durch
Elternschulen und ein angemessenes Betreuungsgeld, etwa in
Analogie zur staatlichen Subvention eines Krippenplatzes in Höhe von
1000 bis 1500€ monatlich. Wenn Eltern ihre Pflicht nicht gut
erfüllen, sollte eine optimale Fremdbetreuung möglich sein, die vor
allem durch die Beziehungsqualität der Krippenerzieherin
(«Herzensbildung» sollte hierbei über jeder pädagogischen Lehre
stehen!), durch die Gruppengröße der zu betreuenden Kinder und
durch eine zuverlässige Bindung an eine Betreuungsperson
gewährleistet werden muss.

Die für die Gehirnentwicklung des Kindes und damit für dessen spätere
Persönlichkeitsstrukturen verantwortliche frühe Beziehungsqualität muss man aus der Sicht
des Kindes beurteilen. In Entsprechung zu den wesentlichen mütterlichen und väterlichen
Funktionen lauten die entscheidenden Fragen zur Beziehungsqualität aus kindlicher
Perspektive:

Bin ich gewollt? Ist mein Leben erwünscht? Bin ich existenzberechtigt? Oder
soll ich besser nicht sein («Mutterannahme» oder «Mutterbedrohung»)?
Werde ich in meiner Existenz freigelassen, oder werde ich von der Mutter besetzt,
energetisch für Mutters Leben ausgesaugt? Wird mein einmaliges Leben
akzeptiert, oder muss ich für Mutter leben («Mutterbesetzung» durch eine
«Vampir-Mutter» oder «Mutterfreiheit»)?
Bin ich wirklich geliebt? Werden alle meine normalen Bedürfnisse erkannt und
zuverlässig und ausreichend bestätigt und erfüllt («Mutterliebe» oder
«Muttermangel»)?
Darf ich mich erkennen? Darf ich so sein, wie ich bin? Oder muss ich erkennen,
was von mir erwartet wird und wie ich sein soll («Mutterbestätigung» oder
«Muttervergiftung»)?
Darf ich mich entfalten? Meine Fähigkeiten entdecken und entwickeln? Oder
werde ich eingeschüchtert, geängstigt, abgewertet («Vaterliebe» oder
«Vaterterror»)?
Werde ich hinreichend gefördert, ermutigt und unterstützt und hilfreich gefordert?
Oder hat keiner Interesse an mir, kümmert sich keiner um mich, und bekomme ich
keine Unterstützung und Anleitung («Vaterförderung» oder «Vaterflucht»)?
Werden auch meine Grenzen gesehen und respektiert? Oder muss ich mich
über meine Möglichkeiten hinaus immer nur anstrengen («Vaterverständnis»
oder «Vatermissbrauch»)?

«Beziehungsqualität» von Erwachsenen ist eine innere Einstellung,


eine Haltung, die sich dem Kind übermittelt. Vonseiten des Kindes ist
sie ein Verhaltensangebot und eine Erlebniserfahrung, die auf
Spiegelung und Resonanz wartet. Beziehung spielt sich sehr viel mehr
«energetisch» und emotional ab als rational-pädagogisch. Wer nur
pädagogische Erkenntnisse, rationale Überzeugungen und «richtiges»
Verhalten zur Grundlage seiner Beziehungsangebote macht, der
bewirkt eine Entfremdung des «Erziehungsobjektes» von sich selbst,
bestenfalls mit dem Ziel der Anpassung und schlimmstenfalls mit dem
Ergebnis von Trotz, Verweigerung und Verhaltensstörung. Durch
Anpassung kann man im Wertekanon der dominierenden Normen
sehr erfolgreich werden. Das aber ist häufig mit erhöhtem
Erkrankungspotential verbunden und immer mit einer Entfremdung
von sich selbst. Bei massenwirksamer autoritärer und repressiver
Beeinflussung durch Erziehung entsteht eine gesellschaftliche
Fehlentwicklung. Das falsche Leben erscheint dann als das richtige
und erwünschte, weil es zunächst durchaus erfolgreich ist – bemessen
an den Mainstream-Werten – und gar nicht mehr als Fehlentwicklung
wahrgenommen wird, weil ja alle (oder zumindest die meisten) so
denken, urteilen und sich verhalten («Normopathie»).
Ich fasse zusammen:

Das falsche Leben ist die Folge von Beziehungsstörungen – von Anfang an.
Die frühe Beziehungsqualität prägt die Persönlichkeit und entscheidet über
«echtes» oder «falsches Leben».
Fehlentwicklungen und Fehlverhalten als Folge von Beziehungsstörungen sind
schwer erkennbar, wenn eine Mehrheit davon betroffen ist.
So können Störung, Abnormität und Destruktivität als normal, richtig und
notwendig erscheinen, wie wir dies etwa im Nationalsozialismus und
Sozialismus zur Kenntnis nehmen mussten und heute in einer narzisstischen
Gesellschaft als Gefahr einer bedrohlichen Fehlentwicklung erkennen sollten.
2 Selbst und Ich

Der Begriff des «Selbst» wird sehr unterschiedlich verstanden und


psychologisch, soziologisch, philosophisch oder theologisch
interpretiert. Hier ist nicht der Ort, diesen Begriff mit seinen
theoretischen und praktischen Implikationen zu diskutieren, sondern
ich beschreibe lediglich, wie ich «Selbst» im Kontext dieses Buches
verstehe und verwende. Dabei ist es hilfreich, «Selbst» und «Ich» zu
unterscheiden.
Das Selbst repräsentiert die Struktur der Person. Als einmalige und
unverwechselbare Grundmatrix ist es angeboren und von Anfang an
schon vorhanden. Es besteht aus wahrnehmbaren innerseelischen
Vorgängen (Gefühlen, Impulsen, Befindlichkeiten), aber auch aus
einem unbestimmten Existenzerleben, das zu allen Zeiten und in allen
Kulturen in Begriffen einer Lebensenergie zu beschreiben versucht
wurde («Orgon» bei Wilhelm Reich, Qi im Daoismus, Prana im
Hinduismus, Ruach im Hebräischen, Pneuma im Griechischen, Ki im
Japanischen).
Das Selbst als Ausdruck der Persönlichkeitsstruktur wird durch
Umwelteinflüsse in seiner Entfaltung beeinflusst: Es kann gefördert,
behindert und zerstört werden. Nach meiner Erfahrung – und
orientiert an psychodynamisch/psychoanalytischen Theorien – ist die
frühe Beziehungsqualität, die Kinder vor, während und nach der
Geburt – vor allem in den ersten drei Lebensjahren – erleben, prägend
für die Selbstentfaltung. So gibt es immer ein angeborenes
Selbstpotential, das man auch als «von Gott geschenkt», zur «Natur
des Menschen gehörend» oder «genetisch verankert» verstehen kann
und dessen Entwicklungsschicksal vor allem sozial beeinflusst wird.
Aber natürlich haben auch andere Faktoren, beispielsweise
Ernährungsfragen, Umweltgifte oder Erkrankungsfolgen, Einfluss auf
das Selbstpotential. So definiere ich das Selbst als das Gesamt der
angeborenen Persönlichkeitsstruktur, deren Entwicklung vielfach
beeinflusst wird. Diese Beeinflussung führt dazu, dass das reale Selbst
mehr oder weniger abweicht von dem gegebenen Selbstpotential. So
kann das Selbsterleben zum Beispiel bedrohlich, angstvoll,
selbstwertgestört, abhängig, gehemmt, überwertig, verzerrt, verstört,
defizitär, brüchig, instabil u.a.m. sein.
Hier kommt das «Ich» ins Spiel als seelische Funktion, die bemüht
ist, Störungen des Selbst auszugleichen, zu regulieren, zu
kompensieren und zwischen Spaltungen und Fragmenten des Selbst
zu vermitteln und zu versöhnen. Das «Selbst» ist die zur Struktur
«geronnene» Persönlichkeit. Die frühe Prägung der vorgegebenen
Strukturmatrix ist später nicht mehr grundlegend veränderbar. Das
«Ich» sind die sekundären psychosozialen Leistungen, um zwischen
strukturellen Möglichkeiten und Begrenzungen und den
Anforderungen der Realität zu vermitteln, Diskrepanzen zu regulieren
und auf hilfreiche äußere Veränderungen hinzuwirken. Das Ich
ermöglicht Anpassung, Veränderung und Entwicklung mit der Gefahr,
dass sich die Ich-Leistungen weit von der strukturellen Basis des
Menschen entfernen können, so dass die Ich-Erfolge nicht mehr
gegründet sind und sicher gehalten werden können. Das
entscheidende Problem entsteht dann, wenn Ich und Selbst
verwechselt werden. Wenn die Hilfs- und Rettungsfunktion des Ichs
als Essenz der Persönlichkeit verstanden wird, ohne noch zu
realisieren, dass das Ich nur helfen will, das bedrohte, defizitäre oder
verwirrte Selbst zu stabilisieren oder seine Störungen und
Entfremdungen zu bagatellisieren, zu vertuschen oder ganz und gar
zu leugnen.

Will man die Unterschiedlichkeit von «Ich» und «Selbst» verstehbar machen, sind folgende
Merkmale hilfreich:

Ich Selbst
gemacht, erworben gegeben
veränderbar, lebenslang lernfähig grundsätzlich, basale Matrix, nur in der frühen
Lebenszeit ausformbar
bildet die soziale Fassade und die sozialen ist der Kern der Persönlichkeit
Rollen
objektivierbares Verhalten subjektives Erleben
auf etwas gerichtet, auf Wirkung orientiert in sich ruhend, auf das Sein bezogen
außenorientiert innenorientiert
egoistisch, kämpfend, verbindend, parteiisch schutzbedürftig, würdevoll

Es ist der Unterschied zwischen Haben und Sein. Das Ich hat, aber es ist nicht. Das Selbst
ist, aber es hat nicht.

Die Leistungen des Ichs, um Selbst-Störungen zu vertuschen,


verbrauchen wertvolle Lebensenergie, die für die differenzierte
Entfaltung des Selbst nicht mehr zur Verfügung steht. Je größer die
Selbst-Störungen sind, desto mehr Ich-Leistungen sind notwendig, um
das falsche Leben auszubauen, von inneren Zweifeln und äußerer
Infragestellung abzupanzern und das falsche Leben zur Anerkennung
zu bringen. So können mit den Fähigkeiten des Ichs großartige
Leistungen vollbracht werden, die auf das Siegerpodest oder in die
Führungsetagen führen, und niemand hält es für möglich, dass sich
dahinter ein sehr verletztes Selbst verbirgt. Das vom Ich getragene
Ersatzleben findet auf der Bühne statt, die eigentliche Selbst-Not
meldet sich im Privaten, in den Träumen, im Ausgebrannt-Sein und
den späteren Erkrankungen, wenn die Scheinwerfer erloschen und der
Beifall verklungen sind.
3 Das Falsche Selbst begründet falsches Leben

Betrachten wir also das Selbst als ein Geschenk, das wir nicht
ablehnen können, das die Basis unserer Individualität bildet und die
Einzigartigkeit und Einmaligkeit unserer Existenz begründet.
Erfahrbar ist es am ehesten in der subjektiven Befindlichkeit, in der
erlebbaren Innerlichkeit und spürbaren Intentionalität – also in
subjektiven psychischen Qualitäten, die nur mir zugänglich sind, über
die ich bestenfalls berichten, die ich aber nicht objektivierbar belegen
kann. So gesehen wird klar, dass das Gegebene, Geschenkte gehegt,
behütet und verwaltet werden muss. Die Eltern sind die ersten und
wichtigsten Hüter und Pfleger des Selbst ihres Kindes. Die Eltern
bestimmen darüber, wie frei sich das Selbst entfalten kann oder wie
sehr es behindert, verstört und beschädigt wird.
So tragen die Eltern und jede frühbetreuende Person die
Verantwortung dafür, ob sich ein gesundes Selbst entfalten kann oder
ob die Selbst-Entwicklung behindert und verstört wird und sich ein
«falsches Selbst» bilden muss.
Ich habe die wesentlichen Beziehungsangebote für die
Frühentwicklung des Kindes nach mütterlichen und väterlichen
Beziehungsqualitäten unterschieden, um damit spezifische Selbst-
Störungen differenzieren und verstehen zu können. Keine Unisex-
Debatte kann darüber hinwegtäuschen, dass Mütterliches und
Väterliches grundverschiedene Beziehungsformen sind, die nicht
austauschbar und nicht verzichtbar sind, soll sich ein Kind nach
seinen Möglichkeiten entwickeln dürfen. Allerdings kann auch ein
Mann, ein Vater mütterlich und eine Frau, eine Mutter väterlich sein.
Das kann bei guter Abstimmung der unterschiedlichen elterlichen
Funktionen sehr hilfreich sein, ändert aber zunächst nichts an dem
Vorlauf der Beziehungsbedeutung der leiblichen Mutter, die durch
Schwangerschaft, Geburt und Stillen begründet wird und erst im
Laufe der ersten Jahre allmählich auch von anderen
Betreuungspersonen übernommen werden kann. Der Ruf nach dem
Vater als Ersatzmutter kann nur auf seine mütterlichen Fähigkeiten –
sofern er diese zur Verfügung hat – orientiert sein und sollte nicht als
ideologisch-feministische Forderung, wonach die Mutter ohne
Weiteres durch den Vater ersetzbar sei, die Familienpolitik
beeinflussen.
Bei guter Mütterlichkeit fühlt sich das Kind prinzipiell
willkommen und berechtigt, auch wenn es selbstverständlich
manchmal begrenzt werden muss und ein «Nein» zu hören bekommt.
Die mütterliche Zuwendung sichert dem Kind, dass es so erkannt und
verstanden wird, wie es wirklich empfindet und bedürftig ist. Durch
eine möglichst unverzerrte mütterliche Spiegelung erfährt das Kind
zuverlässige Bestätigung und Befriedigung seiner Bedürfnisse und
ebenso eine unvermeidbare Begrenzung durch Realitätsbezug. So
erlebt das Kind die körperliche, die psychische und soziale
Versorgung als zweifelsfrei und selbstverständlich. Der passive Teil
des Mütterlichen ist Einfühlen, Wahrnehmen und Erkennen, der
aktive Teil ist Bestätigen, Versorgen, Befriedigen, Beschützen und
Trösten.
Im Gesamt dieser mütterlichen Funktionen wird die «Bindung»
zum Kind hergestellt. Eine gute Bindung bildet die Grundlage für die
individuelle und ungestörte Entfaltung des Selbst. Man darf
«Bindung» aber nicht mit symbiotischer Verschmelzung verwechseln,
die keine Distanz, keinen individuellen Freiraum und keine
Verschiedenheit erlaubt. Bindung ist vielmehr eine dynamische
Abstimmung zwischen Mutter und Kind über ihre wechselseitigen
Bedürfnisse und Möglichkeiten mit der sichernden Zuversicht einer
erreichbaren beidseitigen Zufriedenheit, die auch Spannung,
konflikthafte Auseinandersetzung und Kompromisse mit einschließt.
Mit guter Väterlichkeit erfährt das Kind Interesse an seinen
Möglichkeiten und Verständnis für seine Schwierigkeiten und
Grenzen. Das Väterliche weckt Begabungen und Talente, erkennt die
Veranlagungen und fördert diese ohne ehrgeizige Überforderung.
Aber Kinder wollen auch gefordert sein, sie wollen zeigen, was sie
können, und zur eigenen Entwicklung und auch zu Leistungen
angeregt werden. Die Kunst des Väterlichen besteht darin, dem Kind
berechtigten Stolz zu ermöglichen, dabei Leistungssteigerung zu
unterstützen, aber auch Leistungsgrenzen wohlwollend zu bestätigen
und das Kind nicht um des väterlichen Stolzes willen hochzuzüchten.
Das gute väterliche Fördern und Fordern orientiert sich auch an den
sozialen Verpflichtungen, die sich aus der individuellen Entwicklung
ergeben, sowie an den Chancen und Folgen der besonderen
Leistungen und Begabungen des Kindes mit Verantwortlichkeit für
Handeln und Unterlassen.
In der Entwicklungspsychologie spielt das Väterliche mit seiner
triangulierenden Funktion eine wesentliche Rolle. Mutter und Kind
bilden anfangs eine exklusive Zweierbeziehung mit möglichst
optimaler Bindungsqualität. Zu dieser Dyade kommt der Vater als ein
Dritter hinzu: Mit dieser Triangulierung bietet das Väterliche neue
Beziehungserfahrungen und neue Erlebnisinhalte – und damit
erweiterte Selbstentfaltungschancen. Dabei ist es wichtig, dass die
Mutter diese Erweiterung der Dyade zur Triade wohlwollend bejaht
und aktiv unterstützt, so dass die Bindungssicherheit des Kindes nicht
infrage gestellt und die Persönlichkeitsentwicklung mit der
Hauptfunktion des Väterlichen, der Forderung der Selbständigkeit
und Weltgestaltung, vervollständigt wird.

Die Selbst-Störungen:

Das bedrohte Selbst («Mutterbedrohung»)


Das von der Mutter nicht erwünschte, nicht gewollte Kind, das
prinzipiell abgelehnt ist und bedrohliche Vernachlässigung, aber auch
physische und psychische Gewalt erlebt, wird auch in seiner Selbst-
Entwicklung unsicher, labil, bedroht, brüchig und fragmentiert
bleiben. Die Wahrnehmung von sich selbst lautet dann etwa: Ich bin
nicht berechtigt! Ich darf nicht sein! Ich bin grundsätzlich falsch! Ich
bin furchtbar! Ich bin eklig! Ich bin unerträglich!
Um mit diesem unerträglichen Selbsterleben überlebensfähig zu
werden, können die Ich-Funktionen zwei Wege einschlagen: Das Ich
identifiziert sich mit der existenziellen Bedrohung und entwickelt
selbst destruktive Verhaltensweisen (etwa über Alkohol und Drogen
oder durch Selbstverletzungen und durch – unbewusste – Provokation
von heftigen Konflikten, Streit und Gewalt). Mit einem
zerstörerischen und konfliktreichen Verhalten gibt man im Grunde
der mütterlichen Ablehnung recht – man macht sich real eklig und
unerträglich, was leichter auszuhalten ist als die vernichtende
mütterliche Botschaft. Auch durch lebensbedrohliche
Verhaltensweisen in der Freizeit, bei der Arbeit oder im Sport lässt
sich das dunkle Bedrohungserleben ausagieren. Oder es werden mit
dem Ich im trotzigen Aufbegehren gegen dieses furchtbare Schicksal
Wege und Mittel gesucht, um sich zu rächen. Um als Täter nicht mehr
Opfer sein zu müssen.
Die Tragik liegt dabei darin, dass die Ursachen und
Zusammenhänge des Opferseins (die früheste existenzielle
Ablehnung) individuell nicht mehr erkannt und verstanden werden,
sondern die Bedrohung im blinden Hass an irgendwelchen
Sündenböcken abreagiert wird. Durch die Folgen der Täterschaft wird
dann auch in der äußeren Bewertung die tiefe Not des Täters nicht
mehr gesehen. Die innerseelische (verleugnete) Bedrohung ist die
eigentliche Quelle jeder Radikalisierung und jeder ausgeübten
Gewalt. Es gibt keinen Gewalttrieb. Jeder Gewalttäter ist ursprünglich
Opfer selbst erlittener physischer oder psychischer Gewalt.
Radikalismus lässt sich niemals durch Ausgrenzung oder Strafe
wirkungsvoll vermindern, sondern nur durch langfristige
psychosoziale Hilfen eindämmen oder – am besten – durch Prävention
einer Frühbedrohung des Selbst verhindern.
Die Selbstbeschädigung im Sinne der «Identifikation mit dem
Aggressor», wie auch die Fremdbeschädigung (Gewalt, Kriminalität,
Kriegslust, Radikalisierung, Fremdenfeindlichkeit) stehen beide im
Dienst einer pervertierten Selbsterhaltung. Auf jeden Fall muss die
erlittene prinzipielle Existenzbedrohung verdrängt, verleugnet,
übertüncht oder ganz und gar aus der Wahrnehmung und Erkenntnis
abgespalten werden, weil die Wahrheit lebensgefährlich ist. Kommt
man später durch irgendeine Form der Selbstbeschädigung zu Tode,
wird nur der frühe Fluch (unbewusst) erfüllt. Tötet man andere (oder
folgt zumindest solchen Gelüsten), wird der berechtigte, aus der
Frühbedrohung folgende Hass auf tragische Weise gegen Unschuldige
ausgetragen. Es ist kein Krieg möglich ohne erhebliche Selbst-
Beschädigung der Beteiligten vor Kriegsbeginn, egal, welche
Argumente für Kriegserklärung und Kriegsführung verwendet werden.
«Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin» – ist eine sehr
sympathische Überlegung. Allerdings suggeriert das Ansinnen einen
Freiheitsgrad und eine Verantwortlichkeit, die im «falschen Selbst»
nicht gegeben sind. Ich bin dagegen von folgender Formel überzeugt:
Solange Kinder schweren Beziehungsstörungen ausgesetzt sind und
ein «falsches Selbst» ausbilden müssen, werden sie auch Gewalt und
Kriege brauchen und wollen.
Das Ich will das bedrohte Selbst schützen und seine verlorene Ehre
vermeintlich wiederherstellen, indem es selbst bedroht und zur Rache
bereit ist. Das Ich der Bedrohten ist der Kriegstreiber und
Gewaltprovokateur. Kriegerische Gewalt wird auch gegen die Natur,
gegen Tiere oder im Sozialkampf ausgeübt.

Das gequälte Selbst («Mutterbesetzung»)


Es kommt vor, dass ein Kind regelrecht von seiner Mutter besetzt
wird. Die Mutter braucht das Kind zur Bestätigung ihrer Wichtigkeit
und zur Ich-Aufwertung, aber auch für ihre Ablenkung und
Kompensation. Ich spreche von einer «Vampir-Mutter», die ihr Kind
energetisch aussagt, um nicht unter ihrer eigenen Leere,
Minderwertigkeit und Bedeutungslosigkeit als Ausdruck ihrer Selbst-
Störung zu leiden. Ein Kind «zu haben» ist dann ein Hauptmotiv für
die Mutterschaft. Die Einstellung der Mutter zu ihrem Kind ist: Du
kommst von mir! Du gehörst mir! Ich kann mit dir machen, was ich
will! Du bist mein Besitz!
Das alles muss der Mutter nicht bewusst sein; ihr
besitzergreifendes Verhalten versteckt sich häufig unter der Absicht,
nur das Beste für ihr Kind zu wollen. Die «Mutterbesetzung»
unterscheidet sich von der «Mutterbedrohung» darin, dass die
«Vampir-Mutter» ihr Kind für ihr Leben braucht, statt es in der Tiefe
total abzulehnen. Die Mutter missbraucht die Lebensenergie ihres
Kindes, sie bemächtigt sich ihres Kindes. Der außenstehende Laie mag
das als intensives Bemühen um das Kind und als ein engagiertes
Interesse missverstehen, wenn der permanente Ausbeutungscharakter
der mütterlichen Zuwendung nicht erkannt wird. Mit
«Muttervergiftung» sorgt eine Mutter dafür, dass das Kind sich so
verhält, wie es ihr gefällt. Das Kind wird dahingehend manipuliert,
die Wünsche der Mutter zu erspüren und zu erfüllen. Mit
«Mutterbesetzung» wird in das Kind übergriffig eingedrungen, seine
Existenz missbrauchend genutzt, um sich energetisch selbst
aufzufüllen. Diese Mütter fragen ständig, wollen alles wissen vom
Kind, bohren nach, besetzen alle Informationen mit eigenen
Erfahrungen, Meinungen und Ratschlägen. Ihre permanente
suggestive bis klar fordernde Haltung ist: Gib mir! Sag mir! Belebe
mich! «Du bist mein Sonnenschein», das heißt «Wärme mich». Auch
hinter der zwanghaften bis paranoiden Überfürsorglichkeit
sogenannter «Helikopter-Eltern» verbergen sich Bedürftigkeit und
Übergriffigkeit der Eltern, in der unbewussten Absicht, mit dem Leben
des Kindes die eigene Sinnleere füllen zu wollen. Man spielt sich zu
Vertrauten des Kindes auf, gibt Sorge oder gar «Liebe» vor, ist im
Grunde aber vollkommen ohne Empathie für das Befinden des Kindes.
So werden die Befragungen und Beratungen, die Mahnungen und
Sorgen etwa in Bezug auf gesundes Essen, ausreichenden Schlaf,
fleißiges Lernen, die richtigen Freunde und die Freizeitgestaltung,
oder auch die Warnungen vor Alkohol, Drogen und sexuellen
Infektionserkrankungen für das Kind zum Terror und provozieren
dann oft gerade das Gegenteil vom Erwünschten. Die «Vampir-
Mutter» kann sich nicht wirklich einfühlen und verstehen, was im
Kind vorgeht, sie kann es nicht einfach sein lassen und das Erleben
ihres Kindes als ganz einzigartig bestätigen. Nein, die Mutter raubt
die Seele! Kein Wunder, dass die betroffenen Kinder häufig
verstummen, sich zurückziehen, den Kontakt meiden oder
verweigern, nur noch sehr kontrollierte Mitteilungen machen und
große Angst davor entwickeln, zu zeigen, wie sie wirklich denken und
fühlen. Die Qual entsteht auch dadurch, dass es häufig zu einem
völlig unberechenbaren Wechsel zwischen «Besetzung» und
«Fallenlassen» kommt. Eben noch schienen das Kind und sein Erleben
so ganz wichtig zu sein, im nächsten Augenblick aber ist die Mutter
mit jemand anderem oder etwas anderem «aussaugend» beschäftigt.
Dieser Wechsel hinterlässt im Kind eine quälende Verwirrung und
Orientierungslosigkeit.
Das Ich will die Qual der Besetzung mildern, indem es sich den
Ansprüchen verweigert und den Rückzug organisiert. Manchmal wagt
es auch den abgrenzenden Aufstand und erkämpft sich eine
befreiende Distanz. Das Ich der Gequälten gleicht einer
Emigrationsbehörde.

Das ungeliebte Selbst («Muttermangel»)


Das wichtigste menschliche Bedürfnis ist, gewollt, verstanden und
bestätigt, versorgt und beschützt zu werden – in einem Wort: geliebt
zu werden. Ich formuliere das so, damit deutlich wird, dass Liebe
nicht ist, was man glaubt für einen anderen zu empfinden, sondern
immer nur, was beim Geliebten ankommt. Nur wer mir Gutes tut, von
dem fühle ich mich geliebt. Die Frage «Liebst du mich?» ist völlig
unsinnig, weil keine Antwort das eigene Erleben ersetzen oder
korrigieren kann. Der Vorwurf «Du liebst mich nicht!» kann
berechtigt sein und ist es meistens auch, weil unabhängig von allen
Beteuerungen und jeder Liebesmüh nur die erfahrene Liebe zählt.
Aber wie erfährt man Liebe? Indem mir jemand eine Beziehung
schenkt, in der ich gesehen, verstanden, bestätigt und unverzerrt
gespiegelt werde! Liebe wächst aus Bestätigung des Selbst
(Selbstbestätigung durch einen Beziehungspartner). Auch die
dunklen, schwierigen, defizitären Seiten gehören aus Liebe gespiegelt.
Liebe ist kein Harmonieraum, keine falsche Selbstbeschönigung, keine
illusionäre Selbstbestätigung. Liebe unter Erwachsenen kann nur aus
einem wechselseitigen und halbwegs ausgewogenen Geben und
Nehmen von Zuwendung und Bestätigung entstehen. Ich liebe, weil
ich mich gut verstanden, angenommen und unterstützt erlebe – und
auch Gleiches zu geben bereit und in der Lage bin.
Nur Mutterliebe steht in der besonderen Verpflichtung, Liebe als
Vorleistung bereitzustellen: Ich liebe dich, weil du mein Kind bist!
Und das heißt, ich sorge für dich, ich beschütze dich, ich bin
neugierig auf dich und bemüht, dich zu verstehen und zu erkennen.
Ich spiegele dich und übermittele dir meine interessierte Zuneigung
mit der Intention, dass es dir gut geht.
Das ist die ideale – liebende – Einstellung einer Mutter, damit das
schon vorhandene Selbst sich gut und unverzerrt entfalten kann.
Leider erfahren die meisten Kinder eine solche «bedingungslose
Liebe» nicht. Einerseits sind Einschränkungen idealer Mütterlichkeit
völlig normal. Jede Mutter bleibt schließlich auch Frau und Partnerin,
hat individuelle, partnerschaftliche und sexuelle Bedürfnissen, ist
auch an beruflicher Entwicklung und kulturell-sozialen Aktivitäten
interessiert. Keine Mutter kann ausschließlich und 24 Stunden für ein
Kind da sein. Bei der unvermeidbaren Einschränkung an
Betreuungszeit und Betreuungsqualität ist es von großer Bedeutung,
wie dem Kind diese Begrenzung vermittelt wird: als ein Problem der
Betreuungsperson, so dass das Kind darüber auch enttäuscht,
verärgert und traurig sein kann, oder ob dem Kind die Schuld
gegeben und ihm Vorwürfe gemacht werden, mit der Folge, dass es
sich als falsch und abgelehnt erfährt.
Noch viel wesentlicher als um den Faktor Zeit geht es aber um die
innerste Einstellung der Mutter zu ihrem Kind: Ist sie empathisch-
liebend-zugewandt oder egoistisch-erwartend-fordernd? Wird eine
kindgerechte Befriedigung oder eine selbstbezogene nach den
Bedürfnissen der Mutter angestrebt? Nicht wenige Mütter leiden an
narzisstischen Defiziten, für die das Kind entschädigen soll (die
«Super-Mutti», der das Kind Dank schuldet), oder sie opfern – gestützt
von feministischer Ideologie – das Mütterliche der Karriere, weil sie
glauben, durch berufliche Verwirklichung jene Einschränkungen
kompensieren zu können, die das Muttersein mit sich bringt, und auf
diese Weise ihre verlorene Geltung wiederzufinden. Eine, wie ich
finde, pervertierte Spielart des Feminismus hat tragischerweise das
Mütterliche aus dem emanzipatorischen Anspruch der
Frauenbewegung ausgeschlossen. Die Mutterliebe, eine entscheidende
Voraussetzung für eine gesunde psychosoziale Entwicklung des
Kindes, wird diffamiert und verleugnet, indem Fremdbetreuung als
moderne und zeitgemäße und nahezu empfehlenswerte
Betreuungsform für das Kindeswohl ausgegeben wird. Bei
Kinderkrippen, also für die ersten drei Lebensjahre des Kindes, trifft
das meiner Erfahrung nach nur dann zu, wenn die Eltern nicht in der
Lage sind, eine gute emotionale Bindung zu ihrem Kind herzustellen.
Ansonsten ist eine zu frühe Trennung des Kindes von der Mutter
immer eine traumatische Erfahrung. Ist aber die struktursichernde
Bindung zwischen Mutter und Kind gelungen, werden Kindergärten
ab dem dritten Lebensjahr zur Erweiterung der sozialen
Beziehungserfahrungen des Kindes sehr sinnvoll und hilfreich.
Natürlich ist auch hier die Beziehungskompetenz des
Betreuungspersonals von entscheidender Bedeutung. Durch
Selbsterfahrungskurse und Supervision sollten Kindergärtner und
Kindergärtnerinnen ihre Beziehungsfähigkeit gut kennen, entwickeln
und regulieren lernen. Bei der Einschätzung dieser Verhältnisse ist
immer zu bedenken, dass Mütter und Väter und erst recht
verantwortliche Politiker und mediale Multiplikatoren die Bedeutung
«bedingungsloser Liebe» nicht würdigen können, wenn sie diese selbst
niemals erlebt haben. Da früher Liebesmangel eine sehr schmerzhafte
Erfahrung ist, muss die Erinnerung daran aus der Wahrnehmung
unbedingt verdrängt bleiben. Dafür werden dann rationalisierende
und intellektualisierende Argumente vorgetragen, die mit
politischem, ideologischem, ökonomischem und vor allem auch
moralischem Druck durchgesetzt werden. Im Falle der Frühbetreuung
dominieren Politik und Ideologie sogar über wissenschaftlich gut
gesicherte Erkenntnisse. Das ist ein tragisches Beispiel für die
Herrschaft der falschen Selbst.
Liebe bringt die besten Bedingungen zur Entfaltung des Selbst.
Liebe kann als ein optimales «Gärtnern» verstanden werden, um alle
«Nährstoffe» und Entwicklungsbedingungen zur Verfügung zu stellen,
damit das Kind sich selbst gut erkennen und verstehen lernt und
damit es sich gut bestätigt und unterschieden von jedem anderen
erleben kann. Liebe ist Freilassen. Liebe ist, dafür zu sorgen, dass es
dem anderen gut geht, dass dieser sich selbst leben kann mit allen
Chancen, Andersartigkeiten und Begrenzungen.
Liebe als Bestätigung des Soseins kann aber nur in der
Frühentwicklung des Kindes ihre selbstfördernde Wirkung entfalten.
Bei Erwachsenen bringt das gleiche Verhalten angesichts bestehender
Fehlentwicklungen und Fehleinschätzungen die Gefahr mit sich, ein
falsches Selbst zu stärken und zu chronifizieren. Ein falsches Selbst
fühlt sich dann gut, wenn seine Entfremdung bestätigt und honoriert
wird, und es fühlt sich ausgesprochen unwohl, wenn es in seiner
Störung gestört wird. Erfahrungsgemäß haben ungeliebte Menschen
größte Angst davor, dass sie von jemandem wirklich geliebt werden
könnten. Denn statt der ersehnten Erfüllung würde dann die
schmerzliche Erinnerung an den so bitteren Mangel wiederbelebt
werden. So wundern sich Menschen, die liebevolle Zuwendung
schenken, dass ihnen das oft nicht gedankt wird, dass der Begünstigte
nicht freudig auflebt, sondern in eine Krise gerät und alle Zuwendung
abwertet, infrage stellt und sich so verhält, dass es schwerfällt, ihn
noch mögen zu können. Liebe unter Erwachsenen muss immer auch
Konfrontation und Kritik mit einschließen, um schädliches oder
nachteiliges Verhalten bewusst zu machen. Selbstverständlich schließt
Liebe die Akzeptanz von Fehlern und Schwächen ein, das heißt aber
nicht, dass diese bestätigt und unterstützt werden bzw. nicht kritisch
infrage gestellt werden dürfen.
Das Ich konzentriert alle Lebensenergie auf Anstrengungen, durch
besondere Leistungen die kränkende Schmach des Ungeliebtseins zu
tilgen. Es ist der Stachel im Fleisch der Narzissten, es allen beweisen
zu wollen.

Das abhängige Selbst («Muttervergiftung»)


Wer möchte nicht unabhängig und frei sein? Zusammen mit der Liebe
gehört Freiheit zu den größten Sehnsüchten des Menschen, aber
leider auch zu den größten Illusionen.
Verantwortlich für die Erfahrung von innerer Freiheit und
Autonomie des Kindes ist die prinzipielle Einstellung der Mutter zu
ihrem Kind: «Werde, wer du bist und sein willst!» Viele Mütter aber
haben Erwartungen an ihr Kind; im Grunde tragen sie ein Bild ihres
Kindes in sich und richten ihr Beziehungsangebot – oder verschärft:
ihr Erziehungsverhalten – danach aus. Ihr Beziehungsangebot
transportiert die Erwartung: «Sei so, wie ich dich haben will und
brauche!» Die Tragik dieser mütterlichen Einstellung liegt darin, dass
sie gar nicht problematisiert, sondern als ganz selbstverständlich und
natürlich empfunden wird – im Grunde die unreflektierte,
transgenerationelle Weitergabe der im eigenen (falschen Selbst)
wurzelnden Überzeugungen, der eigenen frühen
Mütterlichkeitserfahrungen, die jetzt bewusst als völlig richtig und
angemessen empfunden werden. Damit wird die schmerzliche
Reflexion erlittener Entfremdung verhindert. Das Kind aber findet
allmählich schon heraus, wann die Mutter zugewandt und bestätigend
und wann sie ablehnend, gereizt und genervt reagiert. Die
Entwicklung des Kindes wird von Mutters Befinden abhängig. Es wird
nicht «bedingungslos» geliebt, um seiner selbst willen bestätigt und in
seiner Einmaligkeit gespiegelt, sondern muss differenzieren lernen
zwischen erwünschtem und abgelehntem Verhalten. Das entspricht
einer regelrechten Dressur, und die Mutter weiß gar nicht, was sie
anrichtet. Sie formt das Kind nach ihrem Geschmack, das heißt nach
ihren Werten und Beziehungsmöglichkeiten, und ahnt nichts von der
tragischen Entfremdung ihres Kindes. Das Kind verliert die
Innenorientierung des Seins und lernt als Außenorientierung, darauf
zu achten, wie es der Mutter geht. Statt auf die eigenen Bedürfnisse
zu hören und das eigene Befinden zu deuten und zu verstehen – als
Voraussetzung für die Entwicklung von Selbstverständnis und
Eigenständigkeit –, werden Fremdbeobachtung und
Außenorientierung gezüchtet. Im Bemühen, sich so zu verhalten, dass
man Beachtung und Anerkennung erfährt oder wenigstens nicht
abgelehnt und bestraft wird, entsteht eine prinzipielle Abhängigkeit.
Man lernt zu tun, was erwünscht und erwartet wird, und verlernt sich
selbst. Von Anfang an hat das Selbst keine Chance, sich zu entfalten
und zu entwickeln, das heißt, der betreffende Mensch kann nicht
erfahren, wer er wirklich ist und werden kann. Mit der Blockierung
der Selbsterfahrung kann sich auch keine Autonomie entwickeln und
die innere Freiheit geht verloren.
Im Wunsch nach Freiheit wird in aller Regel nicht
zwischen «äußerer» und «innerer» Freiheit unterschieden. «Äußere»
Freiheit wird als Menschenrecht verstanden und durch demokratische
Verhältnisse gesichert. Dabei wird aber gern übersehen, dass
politisch-ideologische, ökonomische, religiöse und moralische Macht
die Freiheit erheblich einschränken kann. Diese sekundären
Freiheitsbegrenzungen werden oft mit Härte und Strenge kontrolliert,
sind aber in aller Regel nur das Spiegelbild der inneren Unfreiheit
ihrer Apologeten. «Innere» Freiheit bedeutet das Wissen um die
individuelle seelische Realität – die Akzeptanz der eigenen
Fähigkeiten und Begrenzungen, der guten wie der schlechten Seiten,
der wahren und entfremdeten Selbstanteile. Frei ist der Mensch, der
Verhaltensanforderungen und Entscheidungen nach seinen
Möglichkeiten beantworten und verantworten kann, der tun kann,
was er will, oder sich aus Einsicht zurückhält. Ein falsches Selbst ist
niemals frei! Umso mehr gewinnen falsche Freiheitsverheißungen an
Gewicht und werden zur Lebensgrundlage: Freiheit durch Geld, durch
Macht, durch Glauben, durch Ideologie. Selbst demokratische
Verhältnisse und die «Menschenrechte» sichern keine Freiheit, denn
äußere Lebensbedingungen schenken keine innere Befreiung. Eine
seelische Einengung kann man nur selbst erkennen und überwinden
wollen, doch das bedeutet anstrengende Arbeit gegen die Macht des
falschen Selbst. Äußere Freiheit kann sogar zur angstvollen
Bedrohung werden, wenn das abhängige Selbst die Freiräume nicht
zu nutzen versteht und durch die eigene Unfähigkeit eine sekundäre
Kränkung erleidet.
Im Ost-West-Vergleich ist der Freiheitsbegriff zu einem
ideologisierten Wert geworden. Man hat die Ostdeutschen wegen
ihrer «Unfreiheit» bemitleidet und viele waren absolut davon
überzeugt, dass es in der DDR keine «Freiheit» gegeben habe. Mit der
89er-Revolution sei vor allem nach jener «Freiheit» gestrebt worden,
die der Westen zu bieten hatte. In der Lebenspraxis aber erweist sich
die gewährte äußere Freiheit oft nur als passender Schmuck für das
falsche Leben. Das falsche Leben macht aus der möglichen Freiheit
einen Käfig.
Die Freiheit des Westens ist vor allem durch Geld beeinflusst. Mit
Geld kann man sich «frei»kaufen aus Zwängen und Verpflichtungen,
aus Not und Mühen, ohne sich innerlich befreien zu müssen. Und
ohne ausreichendes Geld können die feilgebotenen freien
Möglichkeiten kaum oder gar nicht genutzt werden. Wenn sich
psychische Enge mit äußerer Freiheit schmückt, wird es grotesk und
zuweilen gefährlich. Die Wahlfreiheit unter vielfältigen, beinahe
unendlichen Konsum-, Vergnügungs- und Informationsangeboten
eignet sich sehr gut dazu, die eigentliche innerseelische Unfreiheit
und Abhängigkeit zu verschleiern. Man glaubt, frei zu wählen, und ist
doch Opfer der Mode, des Mainstreams und der verborgenen inneren
Motive und Begrenzungen. Was dabei menschlich und ganz
persönlich wirklich nützlich oder schädlich ist, dafür gibt es keinen
Maßstab, weil die innere Resonanz fehlt. Es gelten dann nur aktuelle
äußere Erfolge ohne Blick und Gefühl für systemische oder zukünftige
Schäden.
Der Geldbeutel bestimmt über Entscheidungsfreiheit und
Reisefreiheit – über die Frei-Zeit. Eine Wahlfreiheit braucht wählbare
Alternativen, die Meinungsfreiheit setzt intellektuelle Kenntnis und
psychische Offenheit voraus, um nicht Opfer des Mainstreams, der
political correctness oder des Gruppendrucks zu sein.
Unsere ersehnte Unabhängigkeit befindet sich auch biologisch in
einer sehr engen Zwangsjacke: Luft, Wasser, Nahrung, Temperatur
begrenzen unsere freien Lebenschancen enorm. Bakterien und Viren,
Strahlen und Gifte nehmen keine Rücksicht auf den «freien Willen».
Angesichts krimineller und terroristischer Gefahren sind wir gut
beraten, unsere Freiheit unter schützende Kuratel zu stellen. Noch nie
waren Polizei und der Sicherheitsapparat des Staates so akzeptiert, ja
nahezu erwünscht wie heute.
Unsere Freiheit ist sehr begrenzt, aber in aller Regel gibt es mehr
Freiräume, als jeder Einzelne sie für sich nutzen kann. Das
Haupthindernis ist ein «abhängiges Selbst». Der Freiheitsverlust des
Selbst geschieht durch eine fehlende oder einschränkende und
verzerrte frühe Beantwortung des Selbst. Es gibt viele Metaphern für
die existenzielle Bedeutung der primären sozialen Bezogenheit und
Abhängigkeit des Menschen. Der Psychoanalytiker Heinz Kohut
beschreibt als zentrale prägende Beziehungserfahrung, wie sich der
Säugling im Glanz der Augen seiner Mutter spiegelt. Der Philosoph
und Theologe Martin Buber kam zu der Erkenntnis, dass nur in der
Begegnung mit einem Du das Ich sich erfahren und entfalten kann.
Einen ganz besonders beziehungstragenden Ausspruch fand ich auf
einer Geschenkkarte: «Ich liebe Dich. Nicht nur, weil Du so bist, wie
Du bist, sondern weil ich in Deiner Nähe so sein kann, wie ich bin.»
Aber die Realität sieht anders aus. Sei es die Unfähigkeit der Eltern,
liebend freizulassen und das sich Entwickelnde zu bestätigen, seien es
ökonomische Zwänge, der gesellschaftliche Normendruck,
ideologische, religiöse und moralische Verpflichtungen – die Wirkung
auf das Kind ist immer dieselbe: Es muss sich durch Wohlverhalten
und Anpassung an die übermittelten Erwartungen, Regeln und
Normen «Liebe» verdienen und sich Bestätigung erarbeiten.
Auf diese Weise bekommt das Selbst keine Chance, sich insgesamt
frei zu entfalten, höchstens nur in erwünschter oder geforderter
Richtung. Die Wahrnehmung des Kindes wird auf diese Weise von
sich selbst weg auf die Beziehungspersonen geleitet: von der
Innenorientierung auf Außenorientierung. Von dem, was das Kind
braucht und wünscht, auf das, was von ihm erwünscht wird und was
andere brauchen – vom Selbsterleben des Kindes auf die Beobachtung
der bestimmenden Kontaktperson.
Wir Menschen sind «Nesthocker» und am Anfang auf Gedeih und
Verderb von der körperlichen und seelischen Betreuungsqualität
abhängig. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die nicht sagen
konnten, wer sie wirklich sind und was sie wollen, die aber ein sehr
feines Gespür für die Befindlichkeit des jeweiligen Gegenübers
entwickelt hatten. Es gab für sie offensichtlich keinen «Glanz im Auge
der Mutter», sondern nur leere, getrübte oder angstvolle Blicke, oder
die Augen der Mutter waren gar nicht zu erreichen. Die ausbleibende
und unerfüllte Selbsterfahrung zwingt in die Fremdbeobachtung, um
durch erwünschtes Verhalten Gnade zu erfahren.
Das Selbst wird abhängig, kann sich nur begrenzt oder gar nicht
entfalten. Das rettende Ich zaubert die geforderten Eigenschaften
hervor und heuchelt das erwartete Verhalten, bis das Lügenselbst als
das «wahre» Selbst angenommen ist und die Anpassung als «freie»
Entscheidung fehlgedeutet werden kann. Das abhängige Selbst
braucht ständig «Futter» von außen, sonst kollabiert das labile Gerüst.
Das Schicksal ist: ewiges Bemühen um Anpassung, Entlastung als
Mitläufer, Karriere als Mittäter und sinnfreie Ablenkung durch die
Mittel, die auch dafür erfunden worden sind und sich missbräuchlich
benutzen lassen (TV, Handy, Internet). Die Abhängigkeit braucht
Drogen (chemische und/oder psychische), um die Leere des
unentfalteten Selbst mit nichts zu füllen. Das Ich der Unselbständigen
ist ein Illusionist der Freiheit.

Das gehemmte Selbst («Vaterterror»)


Selbstentfaltung ist abhängig von wohlwollender Neugier der ersten
beziehungsstiftenden und beziehungstragenden Personen, in der
Regel von Mutter und Vater. Aus einer elterlichen Einstellung heraus
– fasziniert vom Wunder «Leben» – sollte der Wunsch erwachsen, das
Kind, das sie gemeinsam zur Welt gebracht haben, zu erkennen und
zu verstehen. «Wie bist du? Und wie willst und kannst du werden?»
Das ist eine existenziell wichtige Beziehungseinstellung im
Unterschied zu einer vermittelten Erziehungsvorgabe: «Wir wollen,
dass du so bist und wirst, wie wir uns das wünschen und von dir
erwarten!» Das wird allerdings zumeist nicht so direkt vermittelt,
sondern verbrämt: «Wir wollen nur das Beste für dich!», «Wir meinen
es ja nur gut mit dir!», «Du sollst es mal gut haben im Leben, deshalb
musst du jetzt das und das tun oder lassen!» Zur elterlichen Neugier
aber würde natürlich das Freilassen gehören: die
Entfaltungstendenzen des Selbst zu erkennen und zu akzeptieren und
idealerweise auch zu unterstützen.
Damit ist nicht gemeint, alles und jedes zu gewähren. Natürlich
müssen Kinder vor Gefahren, die sie noch nicht kennen, beschützt
werden, ihre Neugier-Impulse und Spontanreaktionen müssen
kontrolliert und gegebenenfalls begrenzt werden. «Freilassen» ist eine
Grundeinstellung der Eltern für die Selbstentfaltung des Kindes,
Begrenzung hingegen ist eine verpflichtende Beziehungsaufgabe zur
Abwehr von Schaden und Gefahr. Diese Differenzierung ist nicht
immer leicht und fordert von den Eltern Empathie und
Begrenzungsfähigkeit. Empathie für das Kind ist gebunden an die
Selbsterfahrung der mütterlichen und väterlichen Fähigkeiten der
Eltern. Begrenzungsfähigkeit darf nicht durch Schuldgefühle
gegenüber dem Kind beeinträchtigt sein. Eltern, die wissen oder
spüren, dass sie ihrem Kind nicht gerecht werden, wagen dann oft
auch kein klares «Nein» oder Verbot, was aber für die Sicherheit und
Orientierung des Kindes, für seinen Halt von größter Bedeutung wäre.
Die Akzeptanz kindlichen Verhaltens fällt besonders schwer, wenn
sich Persönlichkeitszüge erkennen lassen, die so völlig anders sind, als
Mutter und Vater sie selbst kennen und für gut und richtig halten.
Eltern berufen sich dann gern auf Regeln, Normen und Gesetze, auf
ihre Lebenserfahrungen, die das Kind ja noch nicht haben kann, um
den Nachwuchs auf die «rechte Bahn» zu bringen. Aber nicht selten
verspüren Eltern auch eine Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten,
vielleicht auch Fremden und fühlen die eigene Lebensform und die
erworbenen Wertevorstellungen hinterfragt. Erziehung dient der
Angstmilderung der Erzieher; Beziehung hingegen fordert und
ermöglicht eine Entwicklung auf beiden Seiten. Der Maßstab ist dann
nicht mehr das äußere Regelwerk sowie die elterlichen
Überzeugungen und Gewohnheiten, die weitergegeben werden sollen,
sondern existenzielle Erfahrungen von Übereinstimmung,
Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit, der Möglichkeiten und
Begrenzungen. Eine solche Lebensdynamik würde auch das Leben der
Eltern permanent infrage stellen – was keine Bedrohung sein müsste,
sondern auch eine kritische Anregung zur existenziellen
Lebensverbesserung sein könnte. So weit aber wird die Versuchung,
die von Kindern ausgehen kann, in aller Regel nicht zugelassen –
Familienangehörige, Freunde, Nachbarn, Erzieher, Lehrer, Ärzte und
Pastoren sorgen schon dafür, dass keine lebendigen
Lebensexperimente entstehen.
Die Hemmung der Selbst-Entwicklung geht am häufigsten von
strengen, autoritären Vätern aus. Mit ihrer Erziehungshärte verbergen
sie oft die eigene ungestillte Muttersehnsucht, die sie, ohne es zu
wissen, auf die Ehefrau übertragen hatten. Und bis zur Geburt eines
Kindes waren sie in der Regel auch mütterlich von ihren Frauen
versorgt worden. Aber sobald ein Kind da ist, das jetzt vorrangig
mütterlich betreut werden muss, erkennen sie mit dem Entzug der
Zuwendung durch die Partnerin nicht die eigene Mutterübertragung
auf die Kindesmutter, sondern sehen im Kind einen Konkurrenten um
die mütterliche Gunst. Das bleibt meistens unbewusst, auf jeden Fall
unreflektiert. Statt sich selber als Problemträger zu erkennen, wird
das Kind terrorisiert. Es wird eingeschüchtert, beschimpft,
schlechtgemacht, abgewertet, mit der Folge, dass die natürliche
Selbstexpansion des Kindes ausgebremst und eingeschüchtert wird.
Die Hemmung des Selbst ist also eine durch Erziehung
weitergegebene Lebensgehemmtheit der Väter und väterlichen
Erzieher, eingebettet in ein System der Ordnung und Pflicht, das nicht
mehr hinterfragt wird, weil es angeblich Allgemeingültigkeit hat.
Hemmung wird übermittelt mit der Einstellung: «Du störst! Mach dich
nicht so breit. Nimm dich nicht so wichtig! Halte dich zurück!
Verlange nicht so viel! Bleibe bescheiden, erwarte und fordere
nichts!» Die Hemmung des Selbst führt zur Unsicherheit, zur
Zurückhaltung und Vorsicht und in extremen Fällen zu rigiden
Haltungen und großer Zwanghaftigkeit. Das Leben wird dann nicht
mehr gelebt, sondern man folgt nur noch dem Geforderten und
Erlaubten und hemmt und unterdrückt dabei das eigene Leben.
Das Ich verschleiert diese Gehemmtheit, etwa indem es sich einem
Zeit- oder Kollektivgeist, egal welcher Couleur, andient. Im
Mitläufertum wird die Repression unkenntlich. Das Ich schließt sich
aber auch gerne einer Protestbewegung an, um dem gehemmten
Selbst etwas Auslauf zu verschaffen und der Einschüchterungswut
einen Kampfplatz zu bieten. Das Ich verwaltet den Untertanengeist
und organisiert manchmal die Revolution.

Das vernachlässigte (ungeförderte) Selbst («Vaterflucht»)


Während das gehemmte Selbst in seiner Entfaltung aktiv behindert
wird, erfährt das vernachlässigte Selbst keine Anregung,
Unterstützung, Ermutigung oder Förderung. Durch Bequemlichkeit
und Faulheit wird das Abenteuer Leben vermieden und die
Selbstentfaltung versäumt.
Ich bin überzeugt davon, dass dem Selbst eine eigene Entfaltungs-
und Gestaltungsenergie innewohnt, die, wie ich bisher dargestellt
habe, durch Bedrohliches und Belastendes behindert werden kann.
Einem ungeförderten Selbst dagegen fehlt die Entwicklungshilfe, die
zum Kennenlernen, Ausprobieren, Riskieren, Erkunden anregt und
ermutigt. Hier wären die Eltern – mehr der Vater als die Mutter – als
«Gärtner» des Selbst ihres Kindes gefragt. Aber den Eltern fehlt häufig
Erfahrung im menschlichen Gärtnern, sie beachten zu wenig die
natürlichen Bedingungen und Voraussetzungen, und viele Väter
haben schlichtweg kein Interesse, keine Lust, keine Zeit für Kinder
und Familie, weil sie zu sehr mit sich, ihrer Arbeit und ihrem
Ersatzleben zu tun haben. Bei Vatermangel oder Vaterlosigkeit
bleiben die Kinder im mütterlichen Versorgungsraum sich selbst
überlassen. Das mag besser sein, als aktiv eingeschüchtert zu werden,
doch darf man den Einfluss einer verführenden Umwelt nicht zu
gering veranschlagen. Gefördert, das heißt angeregt und ermutigt zu
werden, ausprobieren zu können und Erfahrungen zu sammeln, ist ein
psychosoziales Grundbedürfnis. Wird es vom Vater nicht hilfreich
unterstützt, dann sucht sich das vernachlässigte Selbst irgendeine
Form der Führung und Anregung. Das aus unterbliebener Förderung
entstehende seelische Defizit macht sich alles irgendwie Erreichbare
zum Leitbild. «Vaterflucht» ist so gesehen kein harmloses Delikt,
entschuldigt durch die Versorgungsnotwendigkeit und
Bedeutungsschwere der väterlichen Arbeit, sondern sie überlässt den
Nachwuchs den verlockenden Verheißungen aller Verführer.

Die Förderung des Selbst muss natürlich die Einmaligkeit und


Besonderheit des Kindes anerkennen und respektieren, um die
Entwicklungschancen hilfreich optimieren zu können. Förderung ist
nicht mit falscher Forderung zu verwechseln, die nur Abhängigkeiten
erzeugt. Förderung erkennt und unterstützt die vorhandenen Anlagen
und Begabungen und führt sie zu einer existenziell stimmigen
Entfaltung, bis hin zur Meisterschaft. Forderung dagegen bedeutet
Qual und produziert, wenn überhaupt, «nur» Spitzenleistungen auf
Kosten von Entspannungs- und Beziehungsfähigkeit.
Das vernachlässigte Selbst gibt sich gerne faul, feige und bequem
und will am liebsten alimentiert werden. Das Leben hat sich verengt
auf Abwarten und Hoffen, aber noch mehr auf Betteln und
Empfangen. Die Sozialsysteme sind dann eine Notlösung, nicht selten
aber tragen sie zur Chronifizierung des unterentwickelten Selbst bei.
Stattdessen wäre eine gute Väterlichkeit in der Gesellschaft zu
finanzieren, um heranwachsenden Menschen angemessene
Herausforderungen zu bieten. Alleinerziehende Mütter oder Väter
sind verlassen genug, sie sind auch keine Helden, sondern schlichtweg
zumeist überfordert, so dass sie das Selbst ihrer Kinder kaum noch
fördern können. Sozialsysteme sollten sich nicht bevorzugt auf die
Opfer der Vernachlässigung fokussieren, sondern präventiv die Selbst-
Entwicklung mit väterlicher Zuwendung fördern, so dass gar keine
vernachlässigten Selbst entstehen können.
Das Ich will die Vernachlässigung ausgleichen, indem es die
Versorgungsmentalität kultiviert, alle Unterstützungsangebote
schamlos auszunutzen und die Sozialsysteme geschickt zu melken
versteht. Das Ich ist der Lobbyist der Vernachlässigten und
Benachteiligten, es managt die Versorgungshilfen.

Das überforderte Selbst («Vatermissbrauch»)


Das überforderte Selbst ist das tragische Ergebnis eines
Leistungsdrills. Es führt zu einem aufgeblähten Selbst, das oft sehr
erfolgreich im falschen Leben sein kann, aber in eine schwere
Selbstwert-Krise fällt, wenn die Blase des Erfolgs platzt oder einfach
nur die Luft ausgeht. Dem Selbst wird in der Regel vom ehrgeizigen
Vater kein Freiraum gelassen, durch eine Dressur zu besonderen
Leistungen wird die Selbstfindung verhindert. Erkennbare
Selbstbegabungen werden durchaus erfasst und gefördert, aber dabei
zählt nicht die Talententwicklung, sondern nur Erfolg, Sieg und
Gewinn. Die Tragik ist doppelt: überfordernder Missbrauch
vorhandener Selbstbegabungen unter Vernachlässigung von
Beziehungen einerseits; andererseits die Illusion des Erfolgs, der
womöglich zu Preisen und Verehrung, nicht aber zu Seelenfrieden
und Entspannung führt. Das Selbst bleibt gejagt und geplagt.
Höchstleistungen überfordern die Selbstmöglichkeiten, sie bedeuten
permanenten Stress und übermäßige Anstrengungen, verbunden mit
der ständigen Furcht, das Leistungsniveau nicht halten oder nicht
mehr steigern zu können, und getrieben von der Erfahrung, dass der
Erfolg von gestern durch die Ergebnisse von heute entwertet wird.
Echte Selbstleistung hingegen befriedigt an sich, ganz anders als die
trainierte Leistung, die Bewertung braucht, um etwas wert zu sein, ist
sie eine angemessene und individuelle Antwort auf die
Herausforderung der eigenen Existenz.
Es gibt das Selbstansehen, das vielen fehlt oder bei ihnen nur
mangelhaft entfaltet ist, und das Fremdansehen, dessen Glanz
lediglich erkämpft, erkauft, geborgt und unter falschem Anreiz
verliehen, aber nie wirklich erfüllend wirkt. Jeder Leistungsträger
kennt die Tragik, dass alle Anstrengungen nie mit dem Lohn honoriert
werden, nach dem man sich eigentlich sehnt: mit Selbsterfüllung und
Selbstliebe. Selbstliebe braucht die frühe Fremdliebe durch die Eltern,
die auch schützen würde vor übermäßigen Anstrengungen und der
Illusion materialisierter Erfolge. Geld und Ruhm ersetzen keine Liebe
– sie beruhigen, vorübergehend, wie Drogen und auch mit allen
fatalen Folgen der Süchtigkeit im falschen Leben.
Das Ich ist bemüht, den abnormen väterlichen Ehrgeiz zu
befriedigen, indem es alle Energien mobilisiert, um die unnatürlichen
Anstrengungen überhaupt bewältigen zu können. Das Ich organisiert
dazu auch die suggestive Verblendung, die das Leben nach Erfolgen
und Siegen, nach Trophäen und Medaillen, nach Ruhm bewertet.
Das Ich mutiert zum Antreiber von Höchstleistungen und zum
Ausbeuter des Lebendigen, um sich das Sklavendasein möglichst
durch eine Krönung versüßen zu lassen.
4 Die Grundmelodien des falschen Selbst

In der psychotherapeutischen Arbeit an den sogenannten


«Frühstörungen» lässt sich eine «Grundmelodie des falschen Selbst»
(Gedeon-Maaz) heraushören. Dieser Grundmelodie nähert man sich
am besten, indem man nach den ersten Gedanken der Mutter forscht,
als sie erfuhr, dass sie schwanger war. Es gibt dabei eine prinzipielle
Bejahung: «Oh, wunderbar! Ja, schön! Ich freue mich!» – oder eine
negative Resonanz des Erschreckens, der Angst, Sorge und
Ablehnung. In unserer psychotherapeutischen Arbeit haben wir
vielfach Erstreaktionen von Müttern finden müssen, die wesentlichen
Einfluss auf die Ausprägung des falschen Selbst nehmen.
Ich zähle einige davon auf:

«Das geht nicht gut!»


«Das schaffe ich nicht!»
«Das passt jetzt gar nicht!»
«Das darf nicht sein!»
«Was soll denn werden?»
«Das muss weg!»
«Das wird eine Last!»
«Hoffentlich geht das gut!»
«Das bringt mich um!»
«Das darf keine Arbeit machen!»
«Was soll denn aus meiner beruflichen Entwicklung werden?»
«Das passt nicht in meinen Lebensplan!»
«Endlich ein Kind für mich!»
«Endlich werde auch ich Mutter!»
«Das muss ein Junge werden!»
«Hoffentlich nicht nur ein Mädchen!»
«Das ist nur für mich!»
«Das bringt uns (Eltern) wieder zusammen!»
«Das wird mein Sonnenschein!»
«Das wird einmal etwas ganz Großes, Besonderes!»
Aus diesen Erstreaktionen lassen sich schon die Tendenzen erkennen für die folgenden
mütterlichen Beziehungsstörungen, die zum falschen Selbst führen.

Wer – in der Regel aufgerüttelt durch Erkrankung oder Lebenskrise –


den Mut gefunden hat, nach innen zu spüren, sich tiefer zu verstehen,
in seiner Lebens- und Entwicklungsgeschichte Antworten für sein
Sosein zu finden, wer nach Ursachen für seine Lebensprobleme sucht
und Zusammenhänge erforscht, der wird auch eine «Grundmelodie
seines Lebens» entdecken, von der er beeinflusst ist, die ihn
beherrscht und wie ein zentraler Slogan seine Existenz auf den Punkt
bringt. Natürlich sind die Grundmelodien des falschen Selbst bittere,
traurige, belastende Beschreibungen für das eigene Leben, die im
Grunde die persönliche Lebenseinschätzung und damit die
individuelle Weltsicht beherrschen. Mit dem Auffinden der eigenen
Grundmelodie des Lebens beginnt ein tieferes Verständnis, warum
man so und nicht anders ist. Man bekommt eine Orientierung, woran
man arbeiten kann, um die Folgen der erworbenen Grundmelodie des
falschen Lebens zu mildern und für Entwicklungen und hilfreiche
Veränderungen die Verantwortung zu übernehmen.
Nach meiner langjährigen psychotherapeutischen Erfahrung gibt
es keine Chance, die beladene Grundmelodie des falschen Selbst ganz
und gar loszuwerden. Aber bessere Regulation und Kontrolle der
belastenden Folgen sind möglich sowie auch entlastende und
befreiende Neuerfahrungen. Sie müssen allerdings ständig gepflegt
und behütet werden, damit sie nicht von der Grundmelodie des
falschen Selbst wieder dominiert werden. Deshalb ist nach meiner
Überzeugung Psychotherapie kein Weg ans Ziel, sondern ein nie
endender Lebensweg – «Psychotherapie als Lebensweg» –, um das
falsche Selbst in Verantwortung für das eigene Leben zu nehmen und
regulieren zu lernen, Alternativen zu finden, Neuerfahrungen
zuzulassen und Veränderungen zu üben. Es ist eine Entwicklung zu
einem echteren Sein möglich, das ich im Begriff der Beziehungskultur
zusammenfasse. Sie kann aber nur ein Weg sein, ohne je ein
abschließendes Ziel zu erreichen.

Im Laufe meiner langjährigen Praxis sind mir die folgenden Metaphern für die Grundmelodien
des falschen Selbst am häufigsten begegnet:

Für das bedrohte Selbst:

Ich bin nicht berechtigt.


Ich fühle mich ständig bedroht.
Ich sollte lieber nicht sein.
Das Leben ist eine Last.
Ich finde keinen Platz.
Das hat sowieso keinen Zweck.
Das wird nichts.
Für das gequälte Selbst:

Ich muss mich schützen.


Ich zieh mich lieber zurück.
Ich sage nichts von mir.
Ich zeige mich nicht.
Ich kann nicht vertrauen.
Ich bin misstrauisch, was mich erwartet.
Ich muss zur Verfügung stehen.
Ich muss das über mich ergehen lassen.
Ich werde immer vereinnahmt.
Ich fühle mich belagert, besetzt.
Ich bin wie ausgesaugt (ausgelaugt).
Für das ungeliebte Selbst:

Ich bin nicht okay.


Ich bin nicht liebenswert.
Das muss an mir liegen.
Ich bin schuld.
Ich muss mich anstrengen, ohne Fleiß kein Preis.
Von nichts wird nichts.
Ich werde es schaffen.
Ich muss mich bemühen.
Ich mach doch alles.
Ich bin so bedürftig.
Die Sehnsucht beherrscht mich.
Ich muss mich beweisen.
Ich bin so erfolgreich und doch nicht glücklich.
Für das abhängige Selbst:

Ich weiß nicht, wer ich wirklich bin.


Ich weiß nicht, was ich will.
Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich brauche Ansagen.
Sag mir, was richtig und was falsch ist.
Ich passe mich lieber an.
Ich bin Mutters Sonnenschein, Beschützer, Retter, Versteher.
Ich ordne mich immer unter.
Ich brauche Führung.
Ich mache, was alle machen.
Ich gehe mit der Mode.
Ich brauche Anweisungen, Regeln und Normen.
Ich habe dazu keine Meinung.
Für das gehemmte Selbst:

Das traue ich mir nicht (zu).


Ich muss vorsichtig sein.
Bloß kein Risiko.
Ich halte mich lieber zurück.
Ich warte ab.
Das Leben ist gefährlich.
Meine Meinung verrate ich nicht.
Ich fürchte mich.
Ich habe Angst vor den Folgen.
Für das vernachlässigte Selbst:

Ich habe zu nichts Lust.


Es ist alles sinnlos.
Es bringt sowieso nichts.
Bloß keine Anstrengung.
Das ist zu viel verlangt.
Ich will versorgt sein.
Ich will keine Verpflichtung.
Ich lass mich treiben.
Ich habe kein Ziel.
Wie soll ich das nur schaffen?
Das Leben ist schwer.
Ich muss mich ausruhen.
Für das überforderte/unbegrenzte Selbst:

Ich muss mich übermäßig anstrengen.


Es ist nie genug.
Es geht noch mehr, noch besser.
Ich muss/will perfekt sein.
Nur der Sieg zählt.
Damit bin ich noch nicht zufrieden.
Ich darf nicht nachlassen.
Ich strebe nach Erfolg.
Ich komme nicht zur Ruhe.
Ich darf nicht schwach werden.
Alles muss effektiv sein.

An solchen prinzipiellen Überzeugungen und Grundeinstellungen, die


alle Lebensbereiche betreffen, lässt sich ein entfremdetes und von
außen gesteuertes Selbst erkennen. Allein die formulierten Aussagen
machen deutlich, wie sehr ein Mensch unter solchen Motiven seines
Lebens leiden kann, wie stark er im Lebensvollzug eingeschränkt ist
und wie belastend solche Überzeugungen für das soziale
Zusammenleben sind. Und wenn bestimmte Grundmelodien
mehrheitlich ein Gruppenverhalten dominieren, dann werden
dadurch auch Entwicklungstendenzen in unserer Gesellschaft
generiert.
5 Die innerseelischen Schutzmechanismen der falschen
Selbst

Ein falsches Selbst ist ein Erziehungsprodukt oder Folge von frühen
Beziehungsstörungen. Zum falschen Selbst wird man durch
Androhung von Abwertung, Strafe, Liebesentzug und
Verlassenwerden gezwungen oder durch Zuwendung, Lob,
Auszeichnung und Geld für erwünschtes Verhalten verführt. Im
falschen Selbst haben die Betroffenen ein bestimmtes Denken und
Handeln erlernen müssen. Wesentliche individuelle Selbst-Anteile
durften sich nicht entwickeln oder wurden aktiv in ihrer Entfaltung
behindert. Natürlich möchte jeder Mensch auch im falschen Leben
einigermaßen zufrieden sein oder sogar glücklich werden. Das ist
dann aber nur noch im Rahmen der vorherrschenden (falschen) Werte
möglich. Die aus der Not heraus gefundene und aufgebaute
Lebensrealität ist dann nur Ersatz, Kompensation, eine Art
Sekundärleben, in dem man allerdings sehr reich, berühmt und
mächtig werden kann, so dass die Entfremdung nahezu perfekt
verleugnet werden kann.
So steht das Ansehen von Prominenten zumeist in keiner
angemessenen Relation zu ihrer zwar besonderen, aber völlig
einseitigen Leistung. Nur in der Ersatzwelt des falschen Lebens wird
das Bühnenverhalten etwa eines Tennisprofis, einer Schlagersängerin
oder eines Schauspielers bedeutungsschwer. Es sind die Projektionen
ungestillter Sehnsüchte des entfremdeten Selbst, die sich hier
Verehrungsobjekte aufbauen. Die ganz private Lebenssituation
hingegen, das oft bedürftige und unzufriedene, gehetzte und
erbärmliche Selbsterleben der Berühmten, ohne die
Projektionsenergie der Anhänger und Verehrer, bleibt der
Öffentlichkeit verborgen. Der Boulevard feiert den Schein und
beschmutzt erst beim Absturz mit voyeuristischer Gehässigkeit das
wirkliche Sein.
Um die Fälschung des Lebens nicht mehr sehen und erleiden zu
müssen, stehen dem falschen Selbst psychische Rettungsmechanismen
zur Verfügung, mit denen die verbogenen und defizitären
Persönlichkeitsstrukturen nach Erleichterung und Entlastung streben.
Es sind dies vor allem die psychosozialen Abwehrfunktionen der
Spaltung, der Projektion und der Reaktionsbildung.

Spaltung
Damit ist eine psychische Leistung benannt, mit der die
Wahrnehmung unliebsamer, verpönter, tabuisierter, verbotener oder
moralisch geächteter seelischer Eigenanteile nachhaltig ausgesperrt
wird. Ähnlich wie im Fall von Verleugnung und Verdrängung werden
belastende seelische Inhalte nicht mehr als zu einem selbst gehörend
wahrgenommen.
Aber die abgespaltenen Anteile sind nicht mehr wirklich
dem Bewusstwerden zugänglich, was mit verleugneten und
verdrängten Inhalten noch eher möglich ist. Während unerträgliche
Vorstellungen der eigenen Person damit verhindert werden, wird das
ausgesperrte Erleben zugleich anderen projektiv zugeschrieben. Das
führt beispielsweise dazu, dass man andere ausschließlich als «böse»
wahrnimmt, um sich selbst als nur «gut» einschätzen zu können. Mit
einer normalen ambivalenten Wahrnehmung der Realität, dass jeder
immer sowohl «gut» als auch «böse» ist, kann das falsche Selbst nicht
leben. Der notwendige Reifeschritt aus der primitiven gespaltenen
Welt in eine integrierte Weltsicht wird zum Schutz des Selbst nicht
wirklich vollzogen. Mit der gespaltenen Wahrnehmung von Gut oder
Böse, Richtig oder Falsch, Schwarz oder Weiß gehen alle
Zwischentöne, gehen das Farbige und das «Sowohl-als-auch» verloren.
Behelfsweise kann sich das «bedrohte Selbst» stabilisieren und
regulieren um den Preis, dass das «Böse» unbedingt außerhalb von
ihm selbst identifiziert werden muss. So werden völlig Schuldlose mit
schwersten Vorwürfen beladen oder so lange provoziert und gereizt,
bis man ihnen real etwas Schlechtes nachweisen und sich dann
absolut im Recht fühlen kann. Dieses tragische Spiel wird im
Unbewussten inszeniert: «Jetzt hab ich dich, du Schwein!»
Ein Beispiel: Der Partner wird so lange geärgert und bedrängt, bis
er zuschlägt; mit erotisierten Signalen wird so lange gespielt, bis einer
sich sexuell eingeladen fühlt und zugreift; durch widerständig-
störrisches Verhalten des Kindes wird die Mutter zum Ausrasten
gebracht und entlarvt dabei ihre falsche Liebe; oder der Vater wird
zur strafenden Gewalt gereizt und führt dabei seine verborgene
Ablehnung vor. Politiker diffamieren Protestler, bis diese sich strafbar
machen, und Demonstranten beleidigen Politiker, um deren
Janusgesicht hinter der demokratischen Maske zu enthüllen.
Die Spaltung ermöglicht eine einseitige Sicht zugunsten des
defizitären Selbst, aber mit der Notwendigkeit, das unannehmbar
Abgespaltene irgendwo anders unterzubringen und dann dort –
außerhalb von sich selbst – zu bekämpfen. Die gespaltene Welt ist das
Schlachtfeld der falschen Selbst.

Projektion
Projektion ist also die häufigste Folge der Spaltung. Denn wohin mit
den eigenen, nicht mehr wahrnehmbaren seelischen Inhalten, die ja
nicht verschwunden, sondern nur nachhaltig verschlossen sind? Das
Abgespaltene ist wegen seiner Bedrohungsqualität unbewusst so
drängend, dass es Träger für das Verbotene finden und mieten muss.
Bei anderen wird jetzt all das gesucht und denunziert, was man bei
sich selbst auf keinen Fall finden darf. Der Brave braucht Freche, der
Angepasste den Revoluzzer, der Fromme den Ungläubigen, der sexuell
Gehemmte den unverschämt Geilen, der Linke den Rechten, und
umgekehrt, der Wohlstandsbürger den Wirtschaftsflüchtling, um im
verhassten und gejagten Gegenbild die eigenen verpönten Anteile zu
bekämpfen. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass unabhängig von der
Bewertung der eigenen Position der innerseelische Zustand auf beiden
Seiten einseitig eingeengt und gestört ist. Der Projizierende ist ebenso
selbst-gestört wie der angeklagte und verfemte Gegenspieler. Nur die
äußere Bewertung ist politisch-ideologisch beziehungsweise vom
gesellschaftlichen Mainstream beeinflusst und jederzeit veränderbar.
So war der Eingeschüchterte in der DDR in der Regel erfolgreicher als
der Individualist, in der Bundesrepublik ist der narzisstisch
Aufgeblähte meist erfolgreicher als der Gehemmte. Völlig unabhängig
vom System lebt aber der Mitläufer, der Systemangepasste, immer am
unbehelligsten, zumeist jedoch auf Kosten der Selbstzufriedenheit und
häufig auch seiner Gesundheit.
Die mit projektiven Eigenschaften Bedrängten sind besonders
brauchbar, wenn etwas von dem Abgelehnten sich bei ihnen auch real
identifizieren lässt. Höchstens die Unverhältnismäßigkeit der
überschießenden Hassreaktion verrät dann noch etwas von der
projektiven Abwehr.
Das bedrohte Selbst braucht fremde Gewalt, das ungeliebte Selbst
braucht eine süchtige Wachstumsideologie, das abhängige Selbst
verhindert Freiheit, das gehemmte Selbst fürchtet die Expansion, das
passive Selbst hetzt gegen die Aktivisten, und das unbegrenzte Selbst
hasst Grenzen und verachtet Begrenzte.

Reaktionsbildung
Unserer Seele steht ein hervorragender Beruhigungstrick zur
Verfügung: Wenn man betont das Gegenteil dessen macht, was nicht
sein soll und wie man nicht sein sollte, dann ist man nach einiger Zeit
fest von der eigenen Maske überzeugt. Das «falsche Selbst» ist dann
nahezu das Gegenteil der verpönten Selbstanteile. Auf der sozialen
Bühne lebt man in einer Rolle von sich selbst, nur in den Träumen
tauchen die abgelehnten und eingesperrten Monster und Clowns
mitunter wieder auf. Auch in Gestalt von Symptomen und
Erkrankungen fleht das verlogene Selbst nach Erlösung. Deshalb
sagen wir zu Recht, dass die Psychotherapie die «Medizin der
Wahrheit» ist.
So wie mit der seelischen Abwehr der Projektion anderen jene
Eigenschaften angedichtet werden, die man selbst nicht haben will, so
verrät sich die Reaktionsbildung in den betonten und kämpferisch
vertretenen Gegenpositionen: Der Brave versucht seine verleugnete
Aggressivität unter Kontrolle zu halten, der Fromme bekämpft seine
Sünden, der Keusche flieht vor seiner Geilheit, der Helfer verbirgt
seine Hilfsbedürftigkeit, der Mächtige seine Ohnmachtsgefühle und
der Erfolgreiche seine Minderwertigkeit. Das betonte Gegenteil wird
zum Schutz vor der Wahrheit aufgebaut und muss sich wie jede
Kompensation immer stärker und häufiger zeigen und beweisen. Das
Falsche wird gewöhnlich, nutzt sich im Laufe der Zeit ab und muss
deshalb immer wieder aufgefrischt und mit verstärkten Argumenten
und zugespitzten Handlungen betont werden, um seine
Schutzwirkung zu erhalten. So werden «Brave» zu Friedenskämpfern,
«Fromme» zu Fundamentalisten, «Keusche» zu Tugendwächtern,
Helfer entwickeln ein Helfersyndrom, Mächtige werden
herrschsüchtig und autoritär und die Erfolgreichen immer gieriger
und gnadenloser.
Indem die falschen Selbst sich zu retten und zu stabilisieren
bemüht sind, nahezu zwanghaft bemüht sein müssen, die aufgenötigte
soziale Maske so zu tragen, dass die Seiten ihres Selbst, die nicht sein
sollen, verborgen bleiben, wird ihr falsches Leben zur vermeintlichen
Realität. Je überzeugter, je verbohrter, je kämpferischer die eigene
Überzeugung vertreten wird, dabei keine kritische Reflexion mehr
zulässt und Andersdenkende partout nicht mehr verstehen will,
sondern diffamieren muss, desto stärker auch der Verdacht auf die
Herrschaft der Reaktionsbildung über die falschen Selbst.
6 Die äußeren Rettungsversuche des falschen Selbst

Jedes entfremdete Selbst bedeutet Leid. Unsere Seele will Unlust


vermeiden und sich vor Schmerzlichem schützen. Dafür gibt es eine
Reihe von Möglichkeiten, die der individuellen Abwehr dienen und
als Sozialverhalten gesellschaftliche Relevanz bekommen. Die
wichtigsten Rettungsbemühungen der falschen Selbst sind:
Kompensation und Ersatz, Anstrengung und Leistung, Anpassung,
Ablenkung, soziales Ausagieren, masochistisches Aushalten und
Erkranken.

Kompensation und Ersatz


Wenn die Grundbedürfnisse des Selbst von den Eltern nicht akzeptiert
und nicht angemessen und regelmäßig befriedigt werden, entsteht ein
Spannungsdruck, ein Unlust-Zustand, der nach Befreiung sucht. Und
wenn eine bedürfnisgerechte Befriedigung nicht möglich ist, muss
Ersatz gefunden werden. Der Ersatzweg benutzt immer die real
vorhandenen Möglichkeiten. In der Kindheit mögen es die ständigen
nörgelnden Wünsche, der Hunger auf Süßigkeiten sein, das
unendliche Spielen, was etwa bei den Computerspielen schon in der
frühen Kindheit zur Sucht verführt, dann das unbegrenzte
Internetsurfen, die medialen Kommunikationsmittel, womit man sich
permanent beschäftigen, ablenken und in fiktive Rollen schlüpfen
kann. Aber auch auf der Verhaltensebene bieten sich Ersatzwege an.
Statt der ersehnten, aber nicht gewährten Beziehung wird über
Rückzug, Verweigerung und Trotz eine verbitterte Protest-Autonomie
zum Erhalt der kindlichen Würde demonstriert. Durch störend-
auffälliges Verhalten im Kindergarten, in der Schule und in der
Freizeit wird Aufmerksamkeit provoziert und an den Eltern hilflos
Rache geübt. Im erwachsenen Leben wird gerne das überall und
immer mögliche Essen zum Liebesersatz, das Geld soll die nicht
erfahrene Anerkennung bringen, und die Ohnmacht und Hilflosigkeit
einer unglücklichen Kindheit soll später durch Macht- und
Führungspositionen unschädlich gemacht werden. Immer geht es
darum, wie innere unbefriedigte Grundbedürfnisse in äußere
Ersatzbedürfnisse, in Ersatzhandlungen verwandelt werden können.
Da auf diese Weise keine natürliche, das Grundbedürfnis erfüllende
Befriedigung möglich ist, muss im Grunde das Ersatzmittel gesteigert
werden, um im Laufe der Zeit auch weiterhin falsche
Befriedigungsgefühle zu ermöglichen. Damit ist der Weg in jede Form
von Sucht gebahnt. Essen, trinken, arbeiten und leisten, Sexualität,
Anerkennungsstreben werden zur Droge. Als gesellschaftlich relevante
Belastungen entstehen daraus Adipositas mit zumeist hilflosen
Diätbemühungen, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, um innere
Spannung zu regulieren, Leistungs- und Wachstumssucht mit
Konsumgier, um die tiefe Bedürftigkeit zu stillen. Eine süchtige
Sexualisierung bedeutet Beziehungsverlust, egoistisches
Erfolgsstreben führt zu sozialfeindlichem Konkurrenzverhalten und
Machtmissbrauch als Ersatzbefriedigung zur Missachtung
gemeinnütziger Interessen. Eine Demokratie, die auf Machtstrukturen
kompensatorischer Bedürfnisse beruht, befördert sogar gefährliche
Fehlentscheidungen mit demokratischen Mitteln, wie angesichts der
verlogenen Begründung für den Irak-Krieg zu beobachten war.
Das ungeliebte (narzisstische) Selbst ist besonders auf
Kompensation und Ersatz angewiesen. (Wenn ich schon nicht geliebt
worden bin, dann will ich wenigstens Trost finden.) Und unsere
Gesellschaft bietet dafür Nahrung und Alkohol im Überfluss und die
Möglichkeit, sich über Geld, Besitz, Macht und Einfluss Bedeutung zu
ergattern.

Anstrengung und Leistung


Jeder Mensch möchte etwas leisten, will sich darin erkennen und
bestätigen und darüber hinaus auch im sozialen Verbund anerkannt
werden. Sich anzustrengen, um etwas zu erreichen, was man begehrt,
oder um seine Möglichkeiten zu entfalten, ist gesunde Lebendigkeit.
Allerdings ist der Missbrauch auch leicht gebahnt: Bei schwierigen
Aufgaben, besonders wenn es um Existenzsicherung und Überleben
geht, neigen wir Menschen dazu, uns besonders schützen und
absichern zu wollen, häufig mit einer Tendenz zur Übertreibung, weil
die Gefahren und Belastungen der Zukunft ungewiss bleiben. Ein
ungeliebtes Selbst wird schnell über das Ziel hinausschießen, um
seine Berechtigung und Liebenswürdigkeit zu beweisen. Aber leider
kann man sich Liebe nicht verdienen, Liebe wird geschenkt oder nicht
geschenkt. Eigentlich gibt es nur eine einzige Chance für wirkliche –
bedingungslose – Liebe, und das ist die Mutterliebe. Alles andere ist
«gekaufte» Liebe, also kein wirkliches Geschenk, sondern
Anerkennung, Respekt, Dankbarkeit und Zuneigung für eine hilfreiche
Dienstleistung und eine wohltuende Beziehung. «Ich habe dich gern,
weil du mich bestätigst, aufwertest und hilfreich bist!»
Bei verlorener, nie erlebter Mutterliebe bleibt ein «Stachel im
Fleisch» zurück, ein schmerzvoller Antreiber für Leistungen, um
Zuwendung zu erreichen. Das kann sehr erfolgreich sein. Man kann
Aufmerksamkeit, Anerkennung und Lob bekommen, aber das ist nicht
Liebe um seiner selbst willen, sondern nur für die erbrachten
Leistungen. Damit wird auf verhängnisvolle Weise die
Liebessehnsucht an Anstrengung geknüpft. Dass Liebesmangel ebenso
tödlich sein kann wie Nahrungsmangel – selbst wenn es erst nach
Jahrzehnten der Herzinfarkt als Folge einer Leistungssucht ist –,
macht die riesigen Anstrengungen für die ersehnte Bestätigung
verständlich.

Anpassung
Es gehört zur Sozialnatur des Menschen, in Beziehung zu leben. Jeder
Mensch will dazugehören: zu einer Familie, zu einer Partnerschaft, zu
einem Sozialkörper (einer Freundesgruppe, Arbeits- und
Berufskollegen, zu einer Religionsgemeinschaft oder politischen
Partei, einem Verein, einem Club, einer Sportgemeinschaft). So
bekommen auch der Wohnort, der Kiez, die Region, das Land, die
Heimat, die Nation eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für Halt,
Schutz und Orientierung. Es ist weder krank noch «von gestern»,
wenn eine Anbindung an die Heimat, an die Nation gebraucht und
gepflegt wird. Andererseits tragen Globalisierungsprozesse ein hohes
Risiko der Überforderung und Entwurzelung mit nahezu
zwangsläufigen Rebound-Effekten für das Nationale und Regionale.
Nur in gelebten, übersichtlichen Beziehungen, in vertrauter Runde,
mit bekannten Regeln und Ritualen kann sich ein Mensch
aufgehoben, gesichert und wohlfühlen, weil er sich auskennt und
dazugehört – er kennt seinen Platz, seine Bedeutung, seine Rolle, die
Möglichkeiten und Grenzen. Fremdes und Neues ist immer
verunsichernd und macht berechtigterweise so lange Angst, bis man
sich wieder auskennt, bis man weiß, was einen erwartet, bis man
wieder Kontrolle über die Situation erlebt. Fremdenangst ist völlig
normal und berechtigt.
Erst wenn man weiß, mit wem man es zu tun hat, wie man sich
verständigen und abstimmen kann, dass keine Gefahr droht, wie man
miteinander zurechtkommen kann, ohne dass die eigene Bedeutung
dabei infrage gerät, beruhigt sich die Alarmangst und eröffnen sich
Möglichkeiten der Zusammenarbeit, der psychosozialen Bereicherung
und kreativen Entwicklung. Fremdenfeindlichkeit ist ein Symptom der
misslingenden Verständigung und Integration bei eigenen
Anpassungsstörungen oder fortbestehender realer Bedrohung. Jeder
Mensch braucht Sicherheit, Bedeutung und ein eigenes «Territorium»
und ist ständig damit beschäftigt, sich den sich verändernden
Bedingungen anzupassen. Anpassung ist also eine wichtige
psychosoziale Leistung.
Selbst-Störungen bedingen Anpassungsstörungen in Form
behinderter Anpassungsfähigkeit oder als übertriebene
Gleichschaltung bis hin zur Unterwerfung. Das «bedrohte Selbst» ist
grundsätzlich so verunsichert, dass jede sinnvolle und geforderte
Anpassung mit paranoischem Misstrauen belastet ist und praktisch
verhindert wird.
Das «bedrohte Selbst» braucht zum Selbstschutz Distanz, es ist
jederzeit zum Kampf bereit. Das «bedrohte Selbst» ist das seelische
Militär, die Grenzschutzpolizei, um Nähe, Bestätigung und
Zuwendung abzuwehren, der man angesichts bedrohlicher
Früherfahrungen niemals mehr trauen kann. Das «gequälte Selbst»
entzieht sich einer dynamischen Anpassung durch Rückzug und
Verweigerung oder auch durch psychosomatisches Leiden, um jeder
Gefahr der übergriffigen Besetzung zu entgehen.
Das «abhängige Selbst» ist der «Weltmeister» der Anpassung.
Anpassung war die Überlebenschance. Mit der Anpassung an Mutters
Erwartungen und das Bemühen, ihr alles recht zu machen
(«Mutterbediener», «Frauenversteher»), ist eine Charakterstruktur
geformt, die ein Leben lang Führung, Anweisung und Beratung
braucht, weil man Eigenes nie finden und entfalten konnte. Von der
Anpassung der Abhängigen leben die Mode, die Werbung, die
Religion, die politische Führung, die Macht des Mainstreams und der
vorauseilende Gehorsam politischer Korrektheit. Die Reduzierung von
Anpassungsfähigkeit auf Abhängigkeit verschafft Gesellschaften
reichlich Mitläufer, die froh sind, wenn für sie entschieden wird,
wenn sie gesagt bekommen, was richtig oder falsch ist, was gerade
«in» ist und was sie tun oder lassen sollen. Die Gefolgschaft durch
Anpassung ist aber auch die Achillesferse jeder Gesellschaft oder
sozialen Gruppe – eine Riesengefahr, weil das ungeliebte und
abhängige Selbst sich nicht befreien kann; so wird es eher «bis in den
Tod» mitmarschieren als den Aufstand wagen.

Ablenkung
Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das «falsche Selbst» ein
Ersatzleben führt, zu dem es gezwungen oder verführt worden ist.
Doch das echtere Leben ist nicht tot – sonst wäre man tot –, es ist nur
unterdrückt, nicht entfaltet, mit Angst besetzt, moralisierend
abgewertet. Trotzdem drängt es immer irgendwie ans Licht, in die
Lebendigkeit. Davon leben wir Psychotherapeuten: die Signale des
authentischeren Lebens zu verstehen und die seelische Wahrheit
auffinden zu helfen. Aber auch ohne Erkrankung meldet sich das
falsche Leben durch Unzufriedenheit, innere Spannung, Gereiztheit,
vielfache Beschwerden und immer wieder durch psychosoziale
Konflikte der Kränkung, Verletzung, des Ärgers, der Enttäuschung,
mit Vorwürfen und Streitlust. Vor allem quälende Sinnfragen, Midlife-
Crisis, Torschlusspanik, das Gefühl, etwas verpasst zu haben, zu kurz
gekommen zu sein, dass es «das ja noch nicht gewesen sein kann»,
lassen eine tiefe Entfremdung ahnen und die Hohlheit des «falschen
Lebens» spüren. Deshalb haben viele Menschen große Scheu vor
Ruhe. Sie erleben dann quälende Langeweile, werden unruhig, gereizt
und vorwurfsvoll. Entspannungsmethoden und Meditation bergen die
Gefahr, dass mit dem Wegfall der Ablenkung schmerzlich unerfüllte
Grundbedürftigkeit spürbar wird als Sehnsucht nach einem anderen
Leben, nach Lebensveränderungen, nach anderen Verhältnissen. So
werden neue Partner gesucht, man geht auf sexuelle Abenteuer aus,
die Arbeitsstelle wird gewechselt, man schult vielleicht sogar um,
begibt sich auf die Suche nach neuen Verheißungen, Wohnung oder
Wohnort werden gewechselt, oder man wandert gleich aus.
Häufig wird das Heil in neuen Gemeinschaften mit alternativer,
therapeutischer, esoterischer, religiöser oder ideologischer
Orientierung gesucht und gefunden. Es darf keine innere Leere
entstehen, internale Reflexion muss vermieden werden. Deshalb
bedarf man ständiger Arbeit, braucht Aufgaben, Verpflichtungen,
Zwänge, mit denen man ständig beschäftigt ist, die aber im Grunde
das «falsche Selbst» nur mit falschen Inhalten füttern, auch wenn sie
sehr gewichtig erscheinen. Nicht zuletzt deshalb kann die Berentung
für manche zur lebensbedrohlichen Krise werden.
Die Hauptablenkung, die wir «modernen» Menschen uns
geschaffen haben, ist medialer Natur: TV, Computer und Handy sind
das Trio für umfassende grenzenlose Ablenkung. Medial ist ein
komplettes Ersatzleben in einer simulierten und fiktiven Welt möglich
geworden. Mit beziehungslosen Ersatzidentitäten, überflüssigen
Informationen, banaler Kommunikation und sinnfreiem Spielen
schafft die Ablenkung die hundertprozentige Gelegenheit, sich im
falschen Selbst zu bestätigen, vermeintliche Bedeutung zu gewinnen
und im falschen Leben unbegrenzt umherzusurfen. «Schöne neue
Welt», in der via Ablenkung ein vollkommen falsches Leben generiert
werden kann. Das falsche Leben ist im Grunde an Ablenkung
gebunden; ein Energieausfall würde unsere «zivilisierte» Welt in
kürzester Zeit in ein Tollhaus mit Mord und Totschlag, mit
Plünderung und Vergewaltigung verwandeln. Die Ablenkung dient
vor allem der Beruhigung, dem Betäuben der aufgestauten
Aggressivität. Dass sie aber der falsche Weg ist, der keine wirkliche
Befriedigung ermöglicht, sieht man auch daran, dass sie kein
entspannendes Ende findet.

Soziales Ausagieren
Ein falsches Selbst zwingt zu einem Verhalten, das die Inhalte der
Fälschung bedient und davor schützt, das Wahre und Echte zu
erfahren. Der Mensch neigt dazu, eher in der anerzogenen Störung zu
verharren, als zu sich selbst zu finden: einerseits weil das Verlassen
des aufgenötigten Ersatzlebens mit Nachteilen oder sogar Strafe
bedroht ist, andererseits weil es wegen der zwangsläufigen
Wiedererinnerung der erlittenen Entfremdung niemals ohne Angst,
Schmerz, Ernüchterung, Enttäuschung, Wut und Trauer möglich ist.
Psychosoziale Gesundung ist niemals Wunderheilung, sondern
immer schwere Arbeit, harter Kampf, mutige Ablösung von falscher,
aber tragender Gemeinschaft mit gesicherter Versorgung in ein nun
selbstverantwortetes Leben, das man praktisch ganz neu erlernen und
erfahren muss. Wer aus dem falschen Leben aussteigen will, stuft sich
herab zu einem Lehrling des eigenen Lebens, der Produzent, Regisseur
und Akteur zugleich sein muss. Wer den Zustand falscher Anpassung
aufgibt, der ist zunächst allein mit sich. Diese Krise ist unvermeidlich,
lässt sich aber durch emotionale Verarbeitung in hilfreicher
Beziehung bewältigen. Im Grunde genommen ist jeder erwachsene
Mensch immer allein, er muss aber nicht einsam bleiben. Die Angst
vor dem Alleinsein ist eine kindliche (schlimme) Erfahrung, für deren
Abhilfe die meisten Menschen faule Kompromisse eingehen,
unterwerfende Anpassung akzeptieren und so im «falschen Leben»
landen. Erst mit dem akzeptierten Alleinsein wird die Grundlage
geschaffen, in ehrlichen Beziehungen und nicht entfremdenden
Gemeinschaften authentisch leben zu können und eine entspannende
soziale Befriedigung zu erfahren.
Im falschen Leben sind immer andere schuld, damit die eigene
Beschädigung und Entfremdung nicht erkannt wird. Soziales
Ausagieren meint in diesem Zusammenhang, dass es einen
unbewussten seelischen «Antreiber» gibt, der provoziert oder verführt,
damit andere sich schuldig machen, um selbst im rechten Licht zu
erscheinen. Das verletzte Selbst tut alles dafür, um von sich selbst auf
andere abzulenken: Das ist hilfreicher Selbstschutz und
sozialfeindliche Abreaktion zugleich. So hält sich eine Familie ihr
«schwarzes Schaf» (das «schwierige Kind», der «Außenseiter», der
«brutale Vater», die «überforderte Mutter»), im sozialen Leben hält
sich jeder «sein Schwein» (der «lästige Nachbar», der «undankbare
Freund», der «ungerechte Vorgesetzte», der «bescheuerte Politiker»),
in der Partnerschaft heißt es dann: Du bist schuld! Du liebst mich
nicht mehr! Du machst mich unglücklich!
Mit «Ausagieren» ist also gemeint: Man agiert, provoziert, verführt
und projiziert, bis man glaubt, endlich eine Erklärung zu haben, einen
Schuldigen oder kritikwürdige Verhältnisse für die eigenen Probleme
benennen zu können – und das alles nur, um sich nicht selbst zu
erkennen und zu verstehen, um nicht die eigene Not der Entfremdung
zu fühlen. Das falsche Selbst braucht Feinde, die ihm helfen, das
Unbehagen im eigenen Leben zu erklären und das Arrangement im
falschen Leben zu verteidigen. Jedes auffällige Kind ist der
Symptomträger einer Störung des Familiensystems. Jeder unmögliche
Partner ist ursprünglich mithilfe der Verblendung der Verliebtheit
gewählt worden, während unbewusst schon erwartet wurde, dass er
für Leiden und Konflikte taugt. Wenn man sich darüber wundert,
weshalb zerstrittene Paare so lange aneinander leiden und einander
kränken, dann ergibt die Beziehungsanalyse sehr oft die Erkenntnis,
dass der andere gebraucht wird, um durch Streit und Kampf von den
eigenen inneren Konflikten und Behinderungen abzulenken. Der
ungeliebte Partner ist der Sparringskämpfer, an dem man den
Überdruck des falschen Lebens ersatzweise abreagieren kann. Die
Aggression ist berechtigter Gefühlsstau aus der eigenen Entfremdung,
wird aber leider gegen das falsche «Objekt» gerichtet, was für kurze
Zeit zwar entlastet, langfristig aber auch noch die Chancen einer
guten Partnerschaft zunichtemacht.

Masochistisches Aushalten
Die meisten Selbst-Störungen entstehen durch Beziehungs- bzw.
Liebesmangel und durch Einschüchterung. Im Laufe der Zeit neigen
viele dazu, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Als Kind hat man sich
noch gewehrt – durch Schreien, Weinen, durch auffälliges
Protestverhalten, durch Verweigerung, durch Erkrankungen oder als
«Sorgenkind». In der Jugendzeit eskaliert häufig der Protest gegen
Einengung, Unterdrückung, Kränkung und Lieblosigkeit. Das
bekommt dann den Stempel «Pubertät» aufgedrückt. Je mehr man
aber für sein eigenes Leben selbst verantwortlich wird, nötigen
Leistungen und Anpassungen in ein jetzt «kultiviertes» falsches Leben.
Man gibt nach, resigniert, will in Ruhe gelassen werden, sucht
Frieden mit den Verhältnissen. Ziele verlieren an Reiz, Sinnfragen
finden keine Antwort mehr, der Lebensweg wird infrage gestellt.
Partnerschaftlich erlahmt das Interesse aneinander, das Liebesfeuer
erlischt, die sexuelle Lust schwächelt. Wer nicht mehr ausbrechen
will, in eine neue Partnerschaft, in ein außereheliches Verhältnis, in
eine andere Arbeit oder Anstellung, in Reiseabenteuer oder
Kulturkonsum, der überlässt sich seiner Enttäuschung und beendet
das innere Aufbegehren durch masochistisches Ausharren. In der
Tiefe mögen noch Hoffnungen überleben, aber es dominiert die
Resignation. Im Heer der Passiven, der Nörgler und Dysphoriker, der
Wahlverweigerer, der Desinteressierten und Nischen-Existenzen findet
man im Rückzug eine relative Entlastung und Entspannung, wenn die
eigentlichen Wünsche und Erwartungen nicht erfüllt werden. «Wir
können ja sowieso nichts erreichen!» «Es ist doch alles vergeblich und
sinnlos!» Der mit der masochistischen Verweigerung verbundene
innerseelische Stress macht krank und entzieht dem sozialen
Zusammenleben produktive und kreative Energie.
7 Krankheit und Gewalt

Ich stelle Krankheit und Gewalt gegenüber, weil sie häufig Folgen
«falschen Lebens» sind und eine gemeinsame Quelle haben.
Nicht selten ist Krankheit nach innen, gegen sich selbst gerichtete
Gewalt, und Gewalt ist nach außen, gegen andere gerichtete
Krankheit. Damit ist natürlich nicht alles über Krankheit und Gewalt,
gesagt, das wäre zu einfach. Aber aus einer energetischen Perspektive
betrachtet, ist der Vergleich hilfreich. Er macht vor allem auf eine
gemeinsame Wurzel aufmerksam: auf inneren Stress, der verschiedene
Ausdruckswege sucht und findet.
Stress entsteht durch äußere und innere Reizüberflutung. Von
außen können Nahrungs- und Wassermangel, Kälte, Hitze, Lärm,
Strahlen, Gifte, Krankheitserreger u.a. als Stressoren wirken; innerlich
sind es erlebte Bedrohungen, Kränkungen, Demütigungen,
Überforderung, die Ängste und damit Stress auslösen können. Stress
bewirkt biochemische Schutzreaktionen, indem Stresshormone
(Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol) ausgeschüttet werden, damit wir
Energien zur Verfügung gestellt bekommen für erhöhte
Aufmerksamkeit und gesteigerte Leistungsfähigkeit, um uns durch
Kampf oder Flucht den Stressoren zu entziehen oder uns ihrer zu
entledigen. Mit beschleunigter Atmung und Herz-Kreislauf-Funktion
bringen wir eine schützende Handlungsfähigkeit in Stellung oder um
uns mithilfe emotionaler Abreaktion (schreien, weinen, schlagen,
treten, beißen) zu entlasten. Diese physiologischen und emotionalen
Reaktionen sind im Grunde unvermeidbare, biologisch vorgegebene
Schutz- und Verarbeitungsmöglichkeiten. Sie können aber erheblich
behindert werden, wenn Kampf nicht gewagt wird und Flucht nicht
möglich ist, wenn die Erkenntnis in die Ohnmacht führt oder der
emotionale Ausdruck tabuisiert oder gar verboten ist. Dann ist nur
noch ein dritter Weg offen, nämlich dass die aktivierte, aber
aufgestaute Überlebensenergie akut in Symptome verwandelt wird
und dann über längere Zeit Funktionsstörungen verursacht, die zu
Krankheiten führen können.
Psychischen Stress erleben wir auch, wenn gegensätzliche
Bedürfnisse sich innerseelisch im Kampf befinden, wenn äußere
Anforderungen den inneren Wünschen oder Möglichkeiten
widersprechen, wenn man etwas unbedingt möchte, was nicht zu
erreichen und zu bekommen ist, oder wenn man aufgefordert wird,
etwas zu tun, wozu man nicht wirklich in der Lage ist oder wogegen
man heftigen Widerwillen verspürt. Es geht also um ungelöste
innerseelische Konflikte, beispielsweise sich vorzugsweise versorgen
zu lassen oder selbständig zu handeln, sich unterzuordnen oder zu
bestimmen, sich mitnehmen zu lassen oder zu führen, nachzugeben
oder sich durchzusetzen. Stress ergibt sich auch aus
Entscheidungsdruck, Ja oder Nein sagen zu müssen, aus mehreren
Möglichkeiten eine auszuwählen und dann auf alle anderen zu
verzichten, also Entscheidungen treffen zu müssen, die Konsequenzen
haben, ohne sicher sein zu können, was die Folgen davon sind. Am
meisten Stress entsteht, wenn Menschen Leistungen erbringen sollen,
für die sie überhaupt nicht ausgerüstet sind, insbesondere wenn die
strukturellen Defizite ihrer Selbst-Störungen diesen Anforderungen
nicht gerecht werden können.
«Strukturstörung» heißt dann, dass der Betroffene keine
psychische Substanz entwickeln konnte, um die Realität angemessen
wahrzunehmen, um klar kommunizieren zu können, um seine Gefühle
zu regulieren (für angemessenen Ausdruck und notwendige
Beherrschung zu sorgen) und in Beziehungen gut zwischen Ich und
Du zu unterscheiden, Nähe und Distanz zu regulieren und eine
zuverlässige Bindung mit Konfliktbewältigung durchzuhalten.
Wenn im Zusammenspiel innerer und äußerer Stressoren eine
Belastungsgrenze erreicht wird, die individuell ganz unterschiedlich
hoch sein kann, und der Stress nicht mehr angemessen verhindert
oder verarbeitet werden kann, sind Krankheit oder Gewalt
unvermeidbar. Der individuelle «Eichstrich» ist abhängig von der
ausgebildeten Persönlichkeitsstruktur und adäquaten
Reaktionsmöglichkeiten, von der situativen Realbelastung und den
sozialen Hilfs- und Ausweichmöglichkeiten. Davon hängt auch ab, ob
eine akute Belastung nur hilflos macht oder als bewältigbar erlebt
wird. Nicht jede traumatische Situation bewirkt schon eine
krankheitswerte Traumatisierung. Andererseits kann eine für die
Selbstproblematik spezifische – relativ geringe – reale Bedrohung
oder Kränkung als Trauma erlebt werden.
Ob sich Stress zur Krankheit (als Gewalt gegen sich selbst)
entwickelt oder zur sozialen Gewalt (krankhaftes Verhalten gegen
andere) führt, ist sicher von vielen Faktoren abhängig. Aber
entscheidend ist, in welchem Milieu jemand aufwächst, welche
sozialen Hilfen er erfährt und ob moralische Verpflichtungen
Orientierung und Halt vermitteln. Im Grunde ist jede Erkrankung
nach ihrer psychodynamischen Beteiligung zu untersuchen, das heißt,
es gibt immer auch selbstschädigendes Verhalten, für das der
Erkrankte auch verantwortlich ist.
Es fällt sehr schwer zu akzeptieren und wird meist energisch
geleugnet, dass Krankheit auch Schuld bedeuten kann – allgemein
gesagt: die Schuld des «falschen Lebens». Der Streit zwischen
monokausalem und systemischem Denken ist so alt wie die Medizin.
Ersteres geht etwa davon aus, dass Bakterien und Viren allein die
Infektion bedingen, dass ausschließlich Allergene allergische
Reaktionen bewirken, dass nur Rauchen, Cholesterin und hoher
Blutdruck für Herzinfarkt verantwortlich sind, dass Übergewicht
ausschließlich durch Essen entsteht etc. Diese verkürzte Perspektive
bringt im Medizinbetrieb ungeheure Gewinne durch kurze
Konsultationen, die Inanspruchnahme teurer Apparatediagnostik und
bevorzugt pharmakologische Behandlung. Die psychosozialen
Zusammenhänge hingegen werden vernachlässigt, mit der Folge, dass
«Heilung» passiv erwartet wird – die Medikamente sollen wirken –,
statt sie durch Erkenntnis und Lebensveränderung aktiv anzustreben.
Krankheit wird dann nicht als gesunde Reaktion auf falsches Lebens
verstanden, und Therapie ist kaum mehr als Hilfe bei der
Wiederanpassung an das falsche Leben, höchstens mit einigen
symptomatischen und oberflächlichen Veränderungen. Bereits
zusammen mit der Nennung der sogenannten Risikofaktoren für Herz-
Kreislauf-Erkrankungen (Rauchen, Ernährung, Bewegung, Blutdruck)
müssten Analysen erfolgen, weshalb jemand raucht, sich falsch
ernährt, wenig bewegt und im Stress lebt, um die psychosozialen
Zusammenhänge zu erfassen und dann auch entsprechend behandeln
zu können. Eine systemische Medizin müsste bei jeder Erkrankung
Körper und Seele, die soziale Umwelt und die Lebensform, sowie die
Werte und Ziele des individuellen wie des gesellschaftlichen Lebens
einbeziehen, um zu einer ganzheitlichen Diagnose zu kommen.
Eine solche Diagnose sähe dann beispielsweise so aus: «Herzinfarkt
bei koronarer Arteriosklerose als Folge von Fehlernährung,
Bewegungsmangel, Hypertonie und Rauchen bei chronischem
beruflichen und akutem familiären Stress in der Folge chronischer
Arbeitsüberlastung und Partnerschaftskonflikten bei narzisstischer
Persönlichkeitsproblematik mit Kompensation der Selbstwertstörung
durch Leistung bei unerfüllter Sehnsucht nach Anerkennung und
Bestätigung, eingespannt in die überzogenen Erwartungen und
falschen Normen eines ‹Karriere-Lebens›. Der akute Infarkt wurde
ausgelöst durch eine existenziell bedrohliche Kränkung und
Abwertung im Beruf mit drohendem Arbeitsplatzverlust.»

Die angemessene ganzheitliche Behandlung würde umfassen:

akute medizinische Versorgung mit Medikamenten, evtl. Stent;


Analyse der Risikofaktoren mit umfassenden Hilfen für Ernährungsumstellung
und Lebensveränderung;
intensive Psychotherapie zur Behandlung der narzisstischen Strukturstörung;
politische, philosophische, religiöse Klärung der Lebensform, der Werte, der
Einstellungen und Haltungen;
gesellschaftliches Engagement zur Verminderung des «falschen Lebens».
Diagnose und Therapie in dieser Form haben Seltenheitswert. Denn die Aufteilung der
Medizin in Fachgebiete, die Apparatemedizin, die bedient werden muss, die Dominanz der
medikamentösen Behandlung mit erheblichen ökonomischen Zwängen sowie der
weitverbreitete Wunsch der Kranken nach einer schnellen und einfachen Hilfe von außen,
ohne tiefere Erkenntnis und schwierige Lebensveränderung, verhindern in aller Regel
systemisches Denken und Handeln.

Ähnliches lässt sich von der Gewalt als «Krankheit nach außen»
sagen. Kein Mensch wird als Gewalttäter geboren. Immer sind die
Entwicklungsbedingungen, vor allem die Qualität der
frühen Beziehungsangebote, die sozialen Hilfen durch Halt,
Förderung und Unterstützung und die gesellschaftlichen Werte
entscheidende Faktoren bei der Entstehung von Gewalt. Das heißt
nicht, dass kriminelle Gewalt nicht geahndet und bestraft werden soll,
aber noch wichtiger ist ihre Prävention. So gehört zur Bewertung
einer Gewalttat immer die Analyse der Ursachen
und Zusammenhänge. Die ungestillte Seele greift gern zur «Keule» –
verbal oder tatsächlich handgreiflich –, wenn sie weder zu weinen
noch zu trauern wagt, um nicht erneut die erlittenen und verdrängten
Kränkungen und seelischen Verletzungen zu beleben. Wenn Politiker
wachsende Gewalt in der Gesellschaft nur verurteilen, wissen sie
nicht, was sie tun: sie verleugnen und missachten die psychosozialen
Verhältnisse, die zur Gewalt führen und für die sie mit die
Verantwortung tragen. Mit der diskriminierenden Verurteilung ist
überhaupt nichts gewonnen. Wenn man einem Dicken zuruft: «Iss
weniger», einen Trinker zur Abstinenz auffordert, einem Raucher mit
tödlicher Gefährdung droht, werden das Leid und der Konflikt nur
verschärft, denn der Rat ist ja nicht unbekannt, nur vollkommen
unnütz. Eine Empfehlung kann nicht einfach befolgt werden ohne
tiefere Einsicht in das Fehlverhalten mit wirklichen Entwicklungs-
und Veränderungshilfen. Ebenso verhält es sich mit der Gewalt: Selbst
perverse Gewalttäter wissen, dass sie unrecht handeln, aber sie
können ihr krankhaftes Verhalten nicht einfach abstellen, eher kommt
es zu einer Trotzreaktion, die alles noch schlimmer macht. Es ist nicht
wirklich hilfreich, wenn man sich nur gegen Gewalt erklärt – man
mag sich dann auf der «guten» und «richtigen» Seite wähnen, trägt
damit aber nichts zur Aufklärung und notwendigen Veränderung der
psychosozialen Lebensbedingungen bei, die Gewalt erzeugen.
Wir dürfen aber auch nicht übersehen, dass die Gewalt auf der
Straße oder die Kriminalität nur die Spitze des Eisbergs
gewaltbereiter Fehlentwicklung darstellen. Weit verbreitet und oft
nicht wahrgenommen ist Gewalt gegen Kinder, Gewalt in der
Partnerschaft, Tierquälerei durch industrielle Tierproduktion,
Zerstörung der Umwelt, Gewalt gegen «Mutter Erde», gegen das
natürliche Gleichgewicht der Koexistenz von Pflanzen, Tieren und
Menschen. Unser «falsches Leben» ist strukturelle Gewalt! Mit dem
gekränkten und unterdrückten «falschen Selbst» zerstören wir unsere
Lebensgrundlage.
8 Die Krankheiten des falschen Selbst

Zugespitzt ließe sich formulieren: Das falsche Selbst ist die Krankheit
an sich! Gemeint ist damit, dass ein falsches Selbst die
Störungsgrundlage bildet, die für die Entstehung von vielen
Erkrankungen verantwortlich ist. Die mit dem falschen Selbst
verbundene Entfremdung von den individuellen Lebensmöglichkeiten
– oder allgemeiner formuliert von der eigenen Natur
und Natürlichkeit – erzeugt permanenten Stress. Im Grunde
genommen tobt ein ständiger innerseelischer Kampf zwischen den
gegebenen Bedürfnissen, die befriedigt werden wollen, und den
vorhandenen Entwicklungstendenzen, die sich entfalten möchten, auf
der einen und den das Selbst schädigenden Einflüssen aus frühen
Beziehungsstörungen auf der anderen Seite. Innere Gebote und
Verbote, Befürchtungen und Strafängste widersprechen den
natürlichen Strebungen; oder nicht erworbene und unterdrückte
Selbst-Fähigkeiten verhindern eine angemessene Reaktion auf inneres
Befinden und reale Anforderungen. Dieser ständige Kampf kostet
Kraft, verbraucht «Lebensenergie» für die Anpassung, zur
Ausbremsung vorhandener Impulse, zum Ausbau oft komplizierter
und aufwändiger Ersatzbefriedigungen oder zum aufreibenden Protest
gegen Einengung, Repression und erlittenen Beziehungsmangel.
Eine gesunde Selbstentfaltung wird ermöglicht durch Selbst-
Erkenntnis im Spiegel des Du, durch bestätigende Resonanz und
abgrenzende Auseinandersetzung, um Identität und Andersartigkeit
zu erleben. Ein echtes Selbst braucht Spiegelung, Bestätigung,
Akzeptanz und Kritik im Rahmen einer wohlwollenden,
empathischen, freilassenden Beziehungskultur. Da der «Spiegel» der
Beziehung nie vollkommen sein kann und Verzerrungen
unvermeidlich sind, führen Bewertungen, die mit «richtig» oder
«falsch», «gut» oder «schlecht» operieren, zu einer falschen Selbst-
Überzeugung. Für die gesunde Selbst-Entwicklung ist es wichtig, dass
sie in einem Beziehungsraum der Neugierde, der Überraschungen und
der angstfreien Akzeptanz von Unbekanntem und Andersartigem
geschehen kann.

Schauen wir auf die verschiedenen Formen des falschen Selbst, dann können wir aus der
jeweiligen Entstehungsgeschichte auch die vorhandenen oder zu erwartenden
Folgestörungen verstehen:

Das bedrohte Selbst


Im bedrohten Selbst fühlt sich der Mensch nicht wirklich
lebensberechtigt. Die erlittene frühe Existenzangst prägt ein
prinzipielles Bedrohungsgefühl, das später auch ohne reale Gefahren
aktiv werden kann. So verwundert es nicht, wenn fast paranoisches
Misstrauen alle Beziehungen belastet, immer und ständig Ablehnung
und Abwertung erwartet und erlebt werden, kleinste Kritik als
prinzipielle, vernichtende Infragestellung wahrgenommen wird und
der Betroffene in ständiger Hab-Acht-Stellung häufig hoch aufgerüstet
und zum präventiven «Erstschlag» bereit, ein sehr konfliktreiches
Leben führt.
Das bedrohte Selbst ist die Quelle einer gefahrdurchseuchten
Weltsicht, einer nur auf Distanz zu lebenden Beziehung, um sich vor
jederzeit erwarteten Verletzungen zu schützen. Beziehungen können
nicht lange halten, keine Arbeit erfüllt wirklich und ein möglicher
Lebenssinn erstickt in ewigen Zweifeln. Durch die verzerrten
Wahrnehmungen und Fehldeutungen und die ständigen Querelen
wird selbst die Alltagsgestaltung zu einem Kampf- und Schlachtfeld.
Das bedrohte Selbst ist brüchig und instabil, so dass auch keine
verbindlichen Zusagen und verlässlichen Absprachen gelingen und
keine vertrauensvollen Vereinbarungen möglich sind.
Eine besondere seelische Last entsteht durch den Hass, der als
berechtigte innerseelische Antwort auf die erfahrene Lebens- und
Existenzbedrohung vorhanden ist. Wohin damit? Es gibt nur zwei
Richtungen, die ich schon dargestellt habe: nach innen im
selbstzerstörerischen Handeln oder nach außen in Feindseligkeiten
und Gewaltaktionen. Eine sogenannte Borderline-Störung als
Ausdrucksform eines bedrohten Selbst findet man sehr häufig bei
Kriminellen, Extremisten, Fundamentalisten und Gewalttätern. Dann
werden Feindbilder ideologisch aufgebaut, in organisierten
Netzwerken und radikalisierten Gruppen hetzen Hassprediger und
demagogische Führer, um sich durch vermeintliche Befreiungstaten
der Bedrohung zu entledigen. Gewaltakte werden durch
gruppendynamische Prozesse erleichtert, weil alle so denken und man
sich gegenseitig anfeuern und bestärken kann, weil man fragwürdigen
Mut vor den anderen zeigen und sich hervortun kann und auch noch
Applaus für Straftaten bekommt. Endlich kann das bedrohte Selbst
selbst zur Bedrohung werden. Das innere Gefühl wird externalisiert
mit der völlig falschen Erwartung, dann endlich befreit zu sein. Aber
Rache löst kein tief verwurzeltes Bedrohungsgefühl. Jeder Täter ist
immer schon Opfer gewesen. Nur die Opfererfahrungen sind aber
behandelbar, der Täter kann nur bestraft werden.
Eine Politik, die die Kommunikation mit dem «Bösen» verweigert,
ist hilflos, die «Gutmensch-Ideologie», wie sie in einer Parole wie
«Nazis raus!» zum Ausdruck kommt, falsch. Denn Ausgrenzung
bestätigt nur das bedrohte Selbst, verstärkt das Schutzbestreben und
vermehrt die Rachefantasien. Kontakt und Kommunikation könnten
Chancen eröffnen, das Bedrohungserleben zu entlasten und die
Realitätswahrnehmung zu verbessern. Das wird nie einfach und leicht
sein, denn per Feindbild und Gewaltakt versucht das bedrohte Selbst,
Boden unter die Füße zu kriegen. Fiele das Feindbild weg, bekäme
der Sündenbock menschliche Züge und würde der Hass kein Ziel
mehr haben, dann bräche für den Menschen mit bedrohtem Selbst das
Ordnungs- und Erklärungsgerüst seines Lebens, der Not-Sinn seiner
Existenz, in sich zusammen. Wenn es keinen Außenfeind mehr gäbe,
würden die selbst erlittenen Feindseligkeiten wieder wund. So
gesehen kann dem Extremisten und Gewalttäter nichts Besseres
geschehen, als beschimpft, verfolgt, geächtet und bestraft zu werden.
Denn das bestätigt das schützende Weltbild der Bedrohung. Dagegen
wäre Liebe – in welcher Form auch immer: als Zuwendung, Zuhören,
Verstehenwollen – eine Chance, würde aber immer eine schwere Krise
auslösen, wenn die aufgebaute äußere Bedrohung wieder nach innen
genommen werden muss. Das lässt sich durchaus mit der
Entzugsbehandlung eines Drogensüchtigen vergleichen, die ohne
medizinische Hilfe und menschlichen Beistand kaum gelingen kann.
Um sich ein Bild von dieser Schwierigkeit zu machen, stelle man
sich vor, einen Menschen mit Glatze und Springerstiefeln, mit einem
Baseballschläger bewaffnet, der sich mit dümmlich-bösem Gegröle
und sehr bedrohlich-ängstigendem Gebaren wehrt, dennoch so lange
in die Arme zu nehmen und zu halten, bis die hässliche Fratze der
äußeren Bedrohung zum bedauernswerten Gesicht der unsicheren
Existenz und bedürftigen Zuwendung geschmolzen ist. Wer könnte
das leisten?
Das bedrohte Selbst lebt aber nicht nur rechts, sondern auch links,
es kann islamistisch wie fundamental-christlich Gott missbrauchen,
Dummheiten grölen, aggressiv fremdenfeindlich auftreten, aber auch
«willkommensfreundlich» und «weltoffen» zum Prügeln bereit sein.
Wer kämpfend agiert – selbst wenn er noch so recht hat –, versucht
immer auch, einer Bedrohung zu entkommen, die meistens nur außen
gesehen und nicht als innere Gefahr erkannt wird. Wer kommuniziert,
ist bemüht, der inneren Bedrohung und der im Gegenüber
standzuhalten.
Das bedrohte Selbst kann sich leider auch in der Politik austoben
und ein ganzes Volk in den Krieg treiben. Auch in der modernen
Finanzpolitik findet das bedrohte Selbst eine «Spielwiese», auf der es
seine Destruktivität im riskanten Zocken manifestieren und sich selbst
oder Millionen andere in existenzielle Gefahr bringen kann.
Fallbeispiel für das «bedrohte Selbst»
Eine 46-jährige Schauspielerin wird zur psychotherapeutischen
Behandlung überwiesen, nachdem sie dem Hausarzt durch häufige
Notarztkonsultationen mit dramatischen Symptomen («Herzanfälle»,
«akuter Bauch») aufgefallen war, für die keine körperlich
behandelbaren Ursachen gefunden werden konnten. Zuletzt war auch
ein Psychiater konsultiert worden, da bei den stark appellativen
Krisen eine Selbstmordgefährdung nicht mehr ausgeschlossen werden
konnte, zumal die Patientin mehrmals ihren Lebensüberdruss im
alkoholisierten Zustand hinausgeschrien hatte. Die Analyse der
aktuellen Lebenssituation ergab eine konfliktreiche Entwicklung: Sie
wurde kaum noch engagiert, war durch Unzuverlässigkeit,
Alkoholmissbrauch und wegen Streitlust bei hochgradiger
Kränkbarkeit in Misskredit geraten. (In jungen Jahren war sie mit
Rollen des «hysterischen Weibes», der «Verführerin» und «kriminell
Bösen» besetzt worden.) Sie war bekannt durch häufige sexuelle
Affären, hatte aber vor zehn Jahren einen deutlich älteren Mann
geheiratet, der ihr Halt gab und in der Lage war, sie zu zügeln und zu
besänftigen. Es war keine Liebesbeziehung, sondern eine
pragmatische Allianz: Er gab ihr Struktur und sie belebte den eher
rational orientierten und emotional gebremsten Handwerker-
Ehemann, der vor allem auch Nutznießer ihrer willfährigen Sexualität
war. In dieser Ehe wurde sie 36-jährig noch schwanger, und mit der
Geburt der Tochter begann auch das Beziehungsarrangement des
Paares zu bröckeln. Sie konnte keine Struktur halten, ihre Beziehung
zur Tochter schwankte zwischen überfürsorglich («Du bist doch mein
Ein und Alles!») und allein lassend («Ich will dich jetzt nicht sehen!»)
bis total abwertend («Du bist doch ganz unmöglich!»). Kein Wunder,
dass die Tochter Verhaltensauffälligkeiten entwickelte, für die sie von
der Patientin noch wüst beschimpft oder sogar geschlagen wurde.
Damit war der Punkt erreicht, an dem der Vater der Tochter zu Hilfe
kam, was aber die familiäre Situation noch verschlimmerte, indem
nun auch der Partner von der Patientin angeschrien und in die
Gewaltexzesse mit einbezogen wurde. Er zog sich immer mehr
zurück, weil er ihrem Affektsturm nicht mehr standhalten konnte,
werkelte in der Garagen-Werkstatt oder war nur noch unterwegs. Sie
verlor damit eine wesentliche regulierende Kraft und Kontrolle.
Die Analyse der Entwicklungsgeschichte ergab eine chaotische und
bedrohliche Frühgeschichte. Ihre Mutter war ungewollt mit ihr
schwanger geworden und lehnte das Kind von Anfang an ab. Später
erfuhr die Patientin auch, dass die Mutter heimliche
Abtreibungsversuche unternommen hatte. Den leiblichen Vater lernte
die Patientin erst mit 21 Jahren kennen, er hatte wegen der
Schwangerschaft die Beziehung beendet. Aber auch für die Mutter
wäre eine feste Partnerschaft mit diesem Mann (oder überhaupt?)
nicht infrage gekommen. Die Patientin kam schon nach wenigen
Wochen in eine Wochenkrippe. Als sie lebensbedrohlich erkrankte
(Ernährungsstörungen) und mehrere Wochen lang stationär behandelt
werden musste, erbarmten sich die Großeltern und nahmen sie zur
ständigen Pflege auf. Der Kontakt zur Mutter war auf wenige Tage
(am Wochenende), aber oft nur auf einige Stunden begrenzt, die von
der Patientin als ziemlich quälend und konfliktreich erinnert wurden.
Die Mutter war oft unbeherrscht, abweisend, gewalttätig und häufig
alkoholisiert. Die Patientin litt vor allem an den unerwarteten
hassvollen Reaktionen ihrer Mutter, wobei sie auch ohne Grund von
ihr geschlagen wurde. Als sie im Alter von sechs Jahren einmal
längere Zeit bei der Mutter bleiben musste, lief sie von zu Hause weg
und musste von der Polizei gesucht werden.
Die einzige positive Beziehung ihrer Kindheit bot ihr der
Großvater, der sie oft in seine Werkstatt mitnahm, ihr viele
handwerkliche Dinge zeigte, sie auch einfach machen ließ und häufig
lobte. Besonders aber bestätigte ihr Großvater sie, wenn sie
herumalberte, ihn belustigte, etwa wenn sie sich verkleidete und
entsprechende Rollen spielte. Er umarmte sie dafür liebevoll: «Mein
Clown!»
Das Schicksal der Patientin lässt sich so zusammenfassen: Als
ungewolltes und von der Mutter abgelehntes Kind, vaterlos
aufgewachsen und vom Großvater für wohlfeiles Verhalten
wertgeschätzt, blieb sie infolge von «Mutterbedrohung» und
«Vaterflucht» ein «bedrohtes und vernachlässigtes» Selbst. Aber
immerhin bildeten das spezifische Interesse des Großvaters und seine
manipulierende Förderung eine Basis, bei aller inneren Verlorenheit
und Orientierungslosigkeit den Schauspielerberuf zu erlernen und
darin auch erfolgreich zu agieren und in einem Handwerker einen
geeigneten Partner zu finden, den sie wertschätzen konnte. Erst als
ihre Unfähigkeit zu eigener Mütterlichkeit deutlich wurde, zog sich
ihr Mann verunsichert, geängstigt und enttäuscht zurück, und sie
wurde zunehmend Opfer ihrer schon längst erlittenen inneren
Bedrohung (durch Alkohol, beruflichen Absturz, psychosomatische
Krisen und latente Suizidalität). Im Grunde genommen waren Beruf,
Partnerschaft und Mutterschaft Bemühungen, das «bedrohte Selbst»
unter Kontrolle zu bringen. Auf Dauer vermochten sie aber das darin
abgewehrte «falsche Leben» nicht zu befrieden, das sich schließlich
durch Krankheiten, soziale Konflikte und Gewalt Ausdruck
verschaffte.
Die erlebte innere Bedrohung, die zwecks Überleben verborgen
werden muss, ist die Hauptquelle für jede spätere Gewalttat. Die
«emotionale Instabilität» des «bedrohten Selbst» – etwa völlig
unerwartete und unberechenbare Affektausbrüche, sei es
überschwängliche Freude oder hysterische Begeisterung, sei es
plötzliches (scheinbar unbegründetes) Weinen oder heftigste Erregung
mit unbeherrschten Wutausbrüchen – weisen auf eine völlig
unzuverlässige Persönlichkeitsstörung hin, deren Selbst bildhaft wie
ein unsicherer Unterboden verstanden werden kann: Es gibt einige
trockene (sichere) Stellen, und dann versinkt man plötzlich im Morast
und kann keinen sicheren Schritt mehr gehen. In dieser Situation
entsteht Todesangst, aber wenn jemand diesem Menschen zu Hilfe
eilt, wird er nicht selten durch Vorwürfe, Streit und Kampf mit
hineingezogen in die seelischen Untiefen der Verzweiflung. Die immer
wieder aufkommende Panik verwandelt sich leicht in Hass, mit dem
die Todesangst transformiert und dann in Gewalttaten abgeführt wird.

Das gequälte Selbst


Ein «gequältes Selbst» entwickelt häufig schwere psychosomatische
Erkrankungen. Das hat mit der frühesten Genese der
«Mutterbesetzung» zu tun, die die Einstellung der Mutter zum Kind im
Grunde von Anfang an beherrscht. So muss die Qual der
Übergriffigkeit vor allem körperlich – noch vor der
Sprachentwicklung und der Mentalisierungsfähigkeit – ausgetragen
werden.
Die häufigsten Erkrankungen sind Asthma bronchiale,
Neurodermitis, Migräne und Kopfschmerzen, Ernährungsstörungen.
Die Psychodynamik des Asthma bronchiale kann etwa bedeuten: Du
nimmst mir die Luft zum Leben! Neurodermitis signalisiert: Berühr
mich bloß nicht! Ich ekele dich an! – bei natürlich größter, aber eben
wegen der Gefahr der Übergriffigkeit verdrängter
Berührungssehnsucht. Ernährungsstörungen weisen möglicherweise
darauf hin, dass die Nahrung der Mutter mit ihrer Besetzung
«vergiftet» ist und wieder erbrochen wird oder mit Durchfall darauf
«geschissen» wird. Der Kopfschmerz kann den «Gefühlsstau» der
ohnmächtigen Wut signalisieren, wenn man sich den Übergriffen
nicht mehr entziehen kann. Bei allen psychosomatischen
Erkrankungen spielen psychodynamische Einflüsse eine wesentliche
Rolle, die im Zusammenhang mit genetischen Faktoren, körperlichen
«Schwachstellen» und äußeren Auslösern (z.B. Bakterien, Viren,
Allergenen, Stressoren) eine stets komplexe Erkrankung erzeugen.
Das «gequälte Selbst» macht sich als Erwachsener durch
Verweigerung, durch innere Emigration und mangelnde Offenheit mit
dem Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein, durch Rückzug aus sozialem
Engagement, durch Desinteresse an Politik und durch
Wahlverweigerung bemerkbar. Sich herauszuhalten, alles zu erdulden
und geschehen zu lassen sind passive Formen von Mittäterschaft. Es
ist der gequälten Seele recht, sich einer äußeren Übermacht («Ich
kann sowieso nichts verändern!») ausgeliefert zu erleben, um der
verleugneten inneren Qual eine äußere Adresse geben zu können. Je
mehr sich die Politik vom Willen der großen Bevölkerungsmehrheit
entfernt, desto mehr bekommt das gequälte Selbst Futter für seine
Not, für die erlebte Übergriffigkeit, die jetzt von der Politik
übernommen und dann auch nur noch im politischen Protest
ausgetragen wird. Jede autoritäre Struktur, ob nun Parteiräson,
Fraktionspflicht, religiöse moralisierende Enge, ideologische
Einschüchterung und Manipulation oder ökonomischer Zwang, eignet
sich dazu, durch die Qual geforderter Loyalität und Verpflichtung
dem gequälten Selbst ein Zuhause zu geben.
Fallbeispiel für das gequälte Selbst
Eine 54-jährige Pastorin mit einem psychosomatischen
Erkrankungssyndrom. Zur Psychotherapie kommt sie nach einem
Hörsturz mit nachfolgendem Tinnitus und sehr belastenden
Kopfschmerzen. Die organische Diagnostik war abgeklärt, die
medizinische Behandlung ohne wesentliche Verbesserung
ausgeschöpft. Die Krankheitsanamnese ergab sehr auffällige Befunde.
In der Jugend hatte die Patientin einige epileptische Anfälle ohne
erkennbare organische Ursache, mehrere Jahre lang war sie
medikamentös relativ erfolgreich behandelt worden; «relativ», weil
die Anfälle zwar sistierten, aber zeitlich parallel mit dem Ausbleiben
der Krampfanfälle Panikattacken auftraten. Psychodynamisch
gesprochen, war die körperliche Qual in eine psychische «gereift». Ein
weiterer Diagnose-Schlüssel für das «gequälte Selbst» waren
jahrelange fast zwanghafte Hautverletzungen durch Kratzen und
Quetschen, deren Bedeutung nach längerer psychotherapeutischer
Arbeit von der Patientin so erfasst wurde: «Es ist, als wenn ich die
Krallen meiner Mutter herausreißen müsste!» In der therapeutischen
Arbeit war ihr allmählich das «krallende», übergriffige Verhalten ihrer
Mutter deutlich geworden. Es war ihr nicht möglich gewesen, der
Neugierde, den Fragen, der Inbesitznahme durch die Mutter zu
entkommen. Nach außen erschien das Mutter-Tochter-Verhältnis sehr
innig, eine durchaus engagierte und interessierte Mutter, ohne dass
jemand (auch der Vater nicht!) die damit verbundene Besetzungsqual
der Tochter gesehen oder verstanden hätte. Sie war zwar schon als
Kleinkind durch häufige Infekte mit asthmatischer Komponente
aufgefallen, aber nur medizinisch behandelt worden, ohne dass ein
Arzt auf die Idee gekommen wäre, dass das Kind einfach «die Nase
voll» hatte und mit den geschwollenen Schleimhäuten und der
Atemstörung ihre Hilflosigkeit zu einer somatisierten Abwehr
aufgebaut hatte («Komm mir nicht zu nahe!», «Ich brauche Luft!»,
«Das ist mir hier zu eng!»). Im Nachhinein war auch ein
psychodynamisches Verständnis der Epilepsie denkbar: als Ausdruck
einer innerseelischen Spannung, einer aufgestauten Protestenergie,
für die es keine Möglichkeit einer beziehungsdynamischen Klärung
mit der Mutter gegeben hatte. Die Krampfanfälle waren ein
wirkungsvolles Mittel, sich durch Bewusstseinsverlust und
nachfolgende stationäre Behandlung vorübergehend dem Einfluss der
Mutter zu entziehen und die zurückgehaltene Energie abzuführen. Die
späteren Panikzustände konnte sie als angstvolle Befürchtungen
identifizieren, wenn sie sich in einer Situation erlebte, in der sie sich
peinlichen Befragungen nicht entziehen konnte. So bei der Visite
durch kirchliche Amtsträger oder der inneren Auseinandersetzung im
Zusammenhang mit der Eucharistie («Welche Sünden muss ich
bekennen?»). So wurde auch allmählich die Motivation für die
Berufswahl erkennbar: Ein strenger Gott, der alles sieht und weiß, das
verpflichtende Glaubensbekenntnis und die moralisierende Einengung
waren im Grunde eine externalisierte Qual, die aber subjektiv längere
Zeit über als Befreiung und Neuorientierung erlebt wurde. In ihrer
Rolle als Pfarrerin fühlte sie sich jahrelang gehalten und gesichert,
eine somatisierte Angst in Form von Kopfschmerzen und
Schweißausbrüchen trat nur auf, wenn sie die einengenden
Strukturen ihres Berufes verlassen und für sich selbst tätig werden
musste. Dann wurden beispielsweise Behördengänge und Arztbesuche
zu reiner Qual mit Angst- und Schweißausbrüchen, weil sie sich mit
ihrem Anliegen öffnen oder für notwendige Untersuchungen sich real
körperlich oder metaphorisch (etwa gegenüber zudringlichen
Befragungen) entblößen musste. In der seelischen Erfahrungstiefe
wurde sie dadurch an die erlebte Zudringlichkeit erinnert, die aber
verdrängt war und sich nun in lästigen Symptomen zeigte. Die
moralische Strenge ihres Berufes war ihr im Laufe der Zeit zur Last
geworden, sie stand nicht mehr wirklich hinter dem, was sie predigen
und verkünden musste. Ein Ausstieg aus dem Beruf war undenkbar. In
diesem Konflikt kam ihr der Hörsturz zu Hilfe, mit dem ihr allmählich
klar wurde, dass sie das fromme Gerede nicht mehr hören konnte.

Das ungeliebte Selbst


Liebe trägt entscheidend dazu bei, dass das Kind sein wahres Selbst
entdecken und entfalten kann. Mit ihrer Hilfe kann es sich auch völlig
anders entwickeln als von den Eltern gewollt und erwartet. Das
braucht niemanden zu beunruhigen, denn ein geliebtes Kind wird
kein störendes Fehlverhalten entwickeln. Alles, wovor Eltern Angst
haben können: Trotz, Lüge, Aggression, Verweigerung,
Kontaktabbruch, Vorwurf und «Pubertät», sind Folgen liebloser
Beziehung. Ein Kind ist – wie gut und böse es wird, hängt von der
erfahrenen Beziehungsqualität am Anfang seines Lebens ab. Wir
Menschen werden niemals als «Gute» oder «Böse» geboren, sondern
dazu gemacht. Das schließt nicht aus, dass es genetische
Besonderheiten gibt, hirnorganische Schädigungen oder angeborene
Handicaps, die eine besondere Herausforderung für liebende
Begleitung sind, damit psychosoziale Folgeschädigungen vermieden
werden.
Die Tragik eines ungeliebten Selbst besteht nicht nur in der
eingeschränkten Selbstentfaltung, die meist als Selbstwertstörung mit
Minderwertigkeitsgefühlen erlebt wird, sondern in der
Schutzfunktion, die das Ich zur Verfügung stellt, inklusive der
Einbildung, dass man selbst nicht liebenswert sei, um damit der
bedrohlichen Erkenntnis zu entkommen, dass die Eltern nicht
hinreichend liebesfähig sind. Sich selbst zu beschuldigen und
abzuwerten – die psychische Gnadenfunktion der Depression –, hilft
zu überleben, um die berechtigte (!) Kränkungswut und die
Hassgefühle, die ja auf die lieblosen Eltern gerichtet werden müssten,
zu zügeln, gegen sich selbst zu richten und schließlich ganz und gar
zu verleugnen, weil der «Aufstand» undenkbar bleibt. Mit der
unbewussten Befürchtung, die Eltern zu zerstören, sie in der Wut zu
vernichten oder von ihnen verlassen zu werden und damit die
Beziehung völlig zu verlieren, wird die Revolte verhindert. So bleiben
viele Menschen Überlebenskünstler, ohne je die im Selbst angelegte
Lebenskunst zu erfahren und zu erlernen. Dass die Eltern geschützt
werden müssen, um überleben zu können, begründet die weit
verbreitete Illusion einer «schönen Kindheit» mit den folgerichtigen
späteren enttäuschenden Beziehungskonflikten, vor allem in der
Partnerschaft, wenn der Partner bzw. die Partnerin endlich so
liebevoll sein soll, wie die Eltern es nie waren. (Elternliebe ist
prinzipiell niemals durch Partnerliebe zu ersetzen – dabei handelt es
sich um eine andere Qualität!)
Partnerschaften entstehen jedoch meist aus Verliebtheit, das heißt
mit der Illusion, der Partner könnte für alle widerfahrene
Lieblosigkeit entschädigen. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert.
Dann schlägt die Verliebtheit in Trennungshass um. Beide Formen,
sehnsüchtige Liebeshoffnung und hassvolle Enttäuschung, sind nur
zwei entgegengesetzte Abwehrformen desselben frühen
Liebesmangels, die entweder als illusionäre Erwartung oder als
unberechtigte Verletzung auf den jeweiligen Partner übertragen
werden. Wenn dann ein Partner sich anfangs besonders zugewandt
und liebevoll zeigt oder im Falle der Krise und Trennung sich realer
Kränkungen schuldig macht, wird das eigentliche unerfüllte – und
leider unstillbare – Verlangen nur mit scheinbar plausiblen
Begründungen verschleiert. Kein Partner kann so lieben, wie es die
Eltern hätten tun müssen. Keine Erwachsenenliebe kann
bedingungslos sein, sondern nur im ausgewogenen Geben und
Nehmen gedeihen. Die mangelhafte Elternliebe kann nur betrauert
und muss betrauert werden, wenn man sich nicht immer wieder neu –
am Ende – unglücklich verlieben und nicht mehr gegen stets nur
unzulängliche Partner kämpfen und an ihnen leiden und sie zu
Schuldigen erklären will.
Es ist besser, von einem Kind zu sprechen, das sich als nicht
geliebt erfahren hat, als vom «ungeliebten Kind». Die meisten Eltern
protestieren heftig, wenn ihnen der Vorwurf der Lieblosigkeit
gemacht wird. Sie waren doch «so bemüht», haben nur «das Beste für
ihr Kind» gewollt, alles nur getan, um «Nachteile oder
Beschädigungen von ihrem Kind fernzuhalten». Jeder müsse doch
einsehen, dass «gar nicht mehr möglich war», weil man ja keine Zeit
hatte, arbeiten gehen musste oder die finanziellen Mittel nicht
gereicht haben. Eltern finden eine Begründung und Entschuldigung
für ihre Fehler und Schwächen, um diese gar nicht erst als Fehler und
Schwächen zu identifizieren. Ihre eigene Liebesunfähigkeit oder
behinderte Liebesfähigkeit ist natürlich die Folge selbst erlittenen
Liebesmangels. Anders gesagt, ein sehr schmerzvoller Befund, der auf
keinen Fall aufgerührt, spürbar und erkannt werden soll. Deshalb
wird das erzieherische Verhalten gegenüber den eigenen Kindern so
hartnäckig verteidigt und keine kritische Reflexion zugelassen. Es gibt
richtig böse Eltern, die ihre Kinder körperlich und seelisch schwer
misshandeln – Gott sei Dank nicht so viele. Aber es gibt sehr viele
Eltern, die nicht realisieren, dass sie ihre Kinder nur mangelhaft und
fehlerhaft «lieben». Mangelhaft, weil zu wenig – nicht nur aus
Zeitgründen, sondern wegen gestörter Liebesfähigkeit. Und fehlerhaft,
weil «Liebe» als Erziehungsmaßnahme missverstanden wird, die
bestimmte Ziele verfolgt, Wirkungen erzielen will und vor allem
Wohlverhalten und Dankbarkeit des Kindes erwartet. Kinder, die
unter dem Vorwand oder mit der elterlichen Einbildung von «Liebe»
manipuliert werden und von der äußeren Bestätigung abhängig
bleiben, erleben einen Widerspruch zwischen dem, was ihnen
suggeriert wird, und dem, was sie wirklich erleben. Dieser
Widerspruch verwirrt und bedeutet Dauerstress als Ursache für
vielfache Erkrankungen. Wenn Kinder für das Bemühen der Eltern
noch dankbar sein sollen und Verständnis aufbringen müssen, sie sich
selbst aber unverstanden erleben und unbefriedigt bleiben, sind
Verhaltensstörungen eine angemessene Notwehr.
Das verhaltensauffällige Kind ist immer das Produkt verlogener
Beeinflussung und liebloser – liebesgefälschter – Beziehung. Als
Reaktion auf Liebesmangel oder Liebesfälschung ist im Wesentlichen
zweierlei möglich: Protest und Verweigerung oder besonderes
Bemühen und Anstrengung. Protest und Verweigerung führen zu
Beziehungsabbrüchen und Kommunikationsstörungen zwischen Eltern
und Kindern, zum Rückzug in die Computerwelt, zu Alkohol und
Drogen, zur Ersatzstabilisierung in Halt gebenden sozialen Milieus
und Gruppen und am Ende in Gewalt und Radikalisierung. Auf der
anderen Seite stehen das besondere Bemühen und die endlosen
Anstrengungen im Dienste der Illusion, sich «Liebe» verdienen zu
können. Da die elterliche Liebesstörung nicht akzeptiert und auch
nicht wahrgenommen wird, bleibt nur die falsche Selbsteinschätzung,
wohl selbst nicht ausreichend liebenswert zu sein: «Ich bin schuld,
dass ich nicht geliebt werde!» Diese tragische Fehleinschätzung
bedient die süchtig machenden Anstrengungen, den eigenen Wert
beweisen zu wollen. So organisiert das Ich alle vorhandenen Energien
für besondere Leistungen, mit denen der Einzelne sehr erfolgreich im
falschen Leben werden kann und eine Mehrheit davon Betroffener
eine süchtige Leistungs- und Wachstumsgesellschaft ausgestaltet, in
deren Dramaturgie die individuelle Entfremdung unkenntlich wird.
Die Beziehungsnöte werden in materielle Erfolge oder Verluste
verwandelt. Diese individuelle Fehleinschätzung wird untermauert
durch Forderungen und Bewertungen der Eltern, durch ihre Vorwürfe,
Klagen und Bitten, denen man nie ausreichend gerecht werden kann,
weil sie vor allem die Symptome der elterlichen
Persönlichkeitsprobleme sind. Aber die Verwirrung ist komplett,
wenn man als Kind, das Opfer der Erziehungsentfremdung ist, nun
zum schuldigen Täter der elterlichen Enttäuschung erklärt wird. Das
bedeutet verhängnisvolle Folgen für den Selbstwert («Ich bin nicht
okay!»), für die Lebensqualität («Ich schaffe das nie!»), für die
Krankheitsanfälligkeit (durch permanenten Stress der Anstrengungen
und der Konflikte) und für das Sozialverhalten (im «Größenklein»
werden die Beziehungen durch Selbstvorwürfe, Scham und
Schuldgefühle belastet und im «Größenselbst» durch Prahlerei und
Selbstbezogenheit vergiftet).
Mit dem ungeliebten Selbst wird die Gesellschaft gespalten in die
scheinbar Großen, Starken und Erfolgreichen und in die
vermeintlichen Loser und Hilfsbedürftigen. Die «Gewinner» verbergen
in ihren großartigen (manchmal allerdings auch kriminellen)
Leistungen ihre eigentliche Bedürftigkeit, die nur im Schatten ihrer
Erfolge aufscheint, wenn sie krank werden, wenn sie zur sozialen
Ungerechtigkeit beitragen, wenn sie Umweltfolgen zu verantworten
haben oder ihr falsches Leben zum wahren Leben erklären und damit
zu verhängnisvollen Vorbildern werden. Und die «Verlierer» wollen
entschädigt werden, wollen mitgetragen und alimentiert werden. Auf
die äußeren Ursachen fixiert, wird der innere erlittene Mangel
geleugnet und die persönlichen Möglichkeiten der Entwicklung und
Befreiung werden vernachlässigt.
Fallbeispiel für das ungeliebte Selbst
Eine 37-jährige Ärztin kommt in die Sprechstunde mit einem
sogenannten «Burn-out-Syndrom», das mit körperlicher Schwäche,
Schlafstörungen, Kopfschmerzen und depressiver Verstimmung als
«Erschöpfungsdepression» diagnostiziert wurde. Sie vermochte ihre
Arbeitsaufgaben nicht mehr leistungsgerecht zu erfüllen, war
unkonzentriert, ständig müde, fühlte sich überfordert und konnte sich
nicht mehr den Problemen ihrer Patienten interessiert und
aufmerksam zuwenden. Nach Abklärung möglicher organischer
Ursachen werden psychodynamische Zusammenhänge eruiert, die
folgendes Bild ergeben: Die Patientin war zu DDR-Zeiten sehr früh
(drei Monate nach ihrer Geburt) zur Weiterbetreuung in eine Krippe
gegeben worden. Nach ihrer Einschätzung war die Mutter nie
ausreichend für sie da, und laut den Erzählungen (sie hatte keine
direkte Erinnerung daran) gab es regelmäßig traurige
Abschiedsszenen, wenn sie früh in der Krippe abgegeben wurde (sie
habe geschrien und die Mutter geweint). Ihr Vater hatte die Mutter
schon vor ihrer Geburt verlassen, die Mutter blieb ohne Partner
alleinerziehend. Die Mutter war oft krank, gereizt, überfordert und
hat die Patientin mit ihrem unglücklichen Leben belastet. Sie hat viel
geklagt, wie schwer sie es habe, dass sie aber unbedingt das Kind,
sprich die Patientin, bekommen wollte und der Vater an allem schuld
sei, weil er sie verlassen habe. Die Patientin lebte mit einer Mischung
aus Existenzschuld, Dankbarkeit, Verpflichtungsgefühl der Mutter
gegenüber und einem starken Bedürfnis, beweisen zu wollen – vor
allem durch Leistungserfolge, große Hilfsbereitschaft bei geringen
Selbstansprüchen –, dass sie eine gute Tochter sei. Ihre Berufswahl
war immer mit dem Helferwunsch verbunden, so wie sie schon als
Kind für die permanent überforderte Mutter pflegeleicht und hilfreich
sein wollte. Durch Liebe für die Mutter wollte sie den eigenen
erlittenen Liebesmangel ausgleichen. Aufgrund der frühen Prägung
durch «Muttermangel», «Muttervergiftung» und «Vaterflucht» war sie
durch freundliches, angepasstes und hilfsbereit-bemühtes Verhalten
zu einer sehr beliebten Ärztin geworden. Auch ihrem eigenen Kind
(zwei Jahre alt) und ihrem Partner wollte sie alle mütterliche
Versorgung angedeihen lassen, die sie selbst nie erfahren hatte.
Die akute Symptomatik deutete auf eine Überforderung hin. In der
Analyse konnte sich die Patientin eingestehen, dass sie das Klagen
und Jammern ihrer eigenen Patienten nicht mehr hören konnte, dass
sie sich nach Ruhe und Geborgenheit sehnte, aber durch die großen
Ansprüche ihrer Tochter und ihres Ehemannes keinen Freiraum für
sich sah. Ihre Kompensation war krisenhaft zusammengebrochen, ihr
Körper hatte gesprochen. In der psychotherapeutischen Arbeit konnte
sie allmählich ihre Helferhaltung im Dienste einer nicht mehr
erfüllbaren Liebessehnsucht erkennen. Ihre Tochter hatte sie mit
falscher, weil angestrengter und von Pflichtgefühl getragener
Zuwendung verwöhnt, was folgerichtig das Kind nicht «stillte»,
sondern verstörte und zu einem «Quälgeist» werden ließ. Der letzte
Auslöser für ihre psychosomatische Krise aber war das Gefühl, die
Verbundenheit mit ihrem Mann verloren zu haben. Sie erkannte eine
Muttersehnsuchtsübertragung auf ihren Partner, den sie durch Dienen
und Versorgen für sich gewinnen wollte, was anfangs auch gut
gelungen war. Aber im Laufe der Zeit musste sie sich auch abfällige
Kritik von ihm anhören, dass sie weniger attraktiv und erotisch nicht
mehr so anziehend sei. Diese Sticheleien und kränkenden
Bemerkungen waren verbunden mit Belehrungen und Ratschlägen,
was sie doch verstehen und verbessern solle. Mit ihren
kompensierenden Bemühungen um das Wohlergehen ihrer Patienten,
des Ehemannes und ihres Kindes hatte sie sich zunehmend
überfordert. Einige erfolglos gebliebene Anstrengungen in ihrem
Beruf hatten ihre Abwehr bereits labilisiert («Bin ich nicht gut, nicht
tüchtig genug? Bin ich schuld, wenn die Behandlung einer Patientin
nicht erfolgreich war?»), aber die Kritik ihres Ehemannes hatte sie im
Kern ihres Selbstwertes erschüttert und die frühe Unsicherheit des
«ungeliebten Selbst» wieder schmerzhaft aufleben lassen. Mit der
akuten Symptomatik hatte sie im Grunde unbewusst die Notbremse
gezogen, die Fremdfürsorge zugunsten der notwendigen
Selbstfürsorge abgebrochen. Mit ihrer plötzlichen Erkrankung gewann
sie etwas Freiraum und reale Entlastung. Sie konnte sich auf
Psychotherapie einlassen und ihre ungestillte frühe Bedürftigkeit
erkennen. Sie lernte den frühen Liebesmangel zu betrauern und den
Ehemann aus der negativen Übertragung zu entlassen. Sie begann die
Praxisorganisation, ihre ärztliche Einstellung zum Helfen, die Grenzen
ihrer eigenen Mütterlichkeit und die Probleme der Partnerschaft und
Sexualität kritisch zu hinterfragen und wird bestimmt ihr weiteres
Leben damit beschäftigt bleiben. Aber sie hat sich einen Weg eröffnet,
die Folgen ihres «falschen Lebens» im «ungeliebten Selbst» zu
erkennen und zu verstehen und sich um ein echteres Leben zu
bemühen.

Das abhängige Selbst


Wer möchte nicht unabhängig und frei sein. Zusammen mit der Liebe
gehört Freiheit zu den größten Sehnsüchten des Menschen, aber
leider auch zu den mächtigsten Illusionen.
Im abhängigen Selbst fehlt eine wesentliche Basis der
Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis. Da man von Anfang an genötigt
wurde, Forderungen und Erwartungen zu erfüllen, ist alle
Wahrnehmungsaufmerksamkeit nach außen gerichtet worden, um
den übermittelten Erziehungszielen nachzukommen oder auch nur um
Wünsche und Bitten aufzuspüren und diese im vorauseilenden
Gehorsam zu erfüllen. Man darf dabei nicht vergessen, dass die
«Muttervergiftung» als Ursache des abhängigen Selbst entweder mit
Androhung von Ablehnung, Abwertung und Strafe erfolgt oder auch
«nur» mit Liebesentzug durchgesetzt wird. Der erlebte innere Stress,
«wenn ich nicht Mutters Wünsche erfülle, dann werde ich allein
gelassen, dann bin ich nicht mehr ihr Liebling», kann eine nahezu
lebensbedrohliche Qualität annehmen. Es geht immer darum, dass das
nicht bestätigte Selbst durch das Bemühen, es anderen recht zu
machen und sich damit eine Beruhigung und Entlastung zu
verschaffen, in Abhängigkeit gerät. Im Laufe der Zeit weiß man gar
nicht mehr, wer man wirklich ist, was man selber will und kann,
sondern erlebt sich selbst nur noch in Abhängigkeit von äußerer
Anerkennung, von Lob und Tadel. Kritik und Vorwurf sind dann auch
nicht so schlimm, Hauptsache, man hat das Gefühl, in gewisser Weise
wichtig zu sein und beachtet zu werden. Da sind selbst negative
Bewertungen und kritische Reaktionen viel besser als gar keine
Beachtung. Diese «Erziehung des Selbst», die einer Dressur gleicht
und die Selbst-Identität verkümmern lässt, braucht am Ende gar keine
Befehle mehr, es genügen Blicke, Gesten, Stimmungen, auf die die
Betroffenen geeicht sind und auf die sie wunschgemäß zu reagieren
gelernt haben. Ich habe unzählige Menschen kennengelernt, die
genau erspüren können, was ihr Gegenüber möchte und braucht, um
durch erfüllende Dienste ihrem abhängigen Selbst ersatzweise
Anerkennung zu ermöglichen. Bereits ein trauriger Blick der Mutti
oder ein strenger Gesichtsausdruck von Vati haben ausgereicht – ganz
ohne Worte –, um sich als Kind schuldig zu fühlen, um den Eindruck
zu haben, nicht gut genug oder nicht richtig zu sein, und um dann
alles dafür zu tun, die Blicke der Eltern aufzuhellen und freundlicher
zu stimmen. Eine Gehirnwäsche durch bloße Mimik! Das Selbst ist auf
Gnade angewiesen und diese ist oft willkürlich und ungewiss. Nur zu
leicht gerät ein derart abhängiges Selbst in die soziale Rolle des
Mitläufers. Und bei größerer narzisstischer Störung wird der Mitläufer
auch zum Mittäter.

Das Krankheitspotential eines abhängigen Selbst ist mehrfach begründet:

1. im Unwissen darüber, was man selber braucht, was gut für einen ist und was nicht –
so tut man auch Falsches, Unpassendes, Überforderndes;
2. durch die Abhängigkeit von Bewertungen anderer mit der Folge ständiger
Erwartungsangst, bestätigt und bloß nicht abgelehnt zu werden;
3. im Stress des Erspürens, der ständigen Aufmerksamkeit, das Richtige herauszufinden
und zu tun, und schließlich
4. in der regelmäßigen Gefahr, etwas zu tun und sich abzuverlangen, was erwartet wird,
ohne Rücksicht darauf, ob man es auch will, kann und ob es überhaupt zu einem passt.
Das abhängige Selbst ist Entfremdung an sich.

Krankheitsbedingte Krisen des abhängigen Selbst entstehen, wenn


man über seine Möglichkeiten lebt, im Selbst unpassende Dinge tut
oder tun muss, wenn die Bewertung ausbleibt und die Personen oder
Verhältnisse, von denen man sich abhängig gemacht hat, verloren
gehen oder sich deutlich verändern. Deshalb werden Menschen krank,
wenn nahe Bezugspersonen (Partner, Freunde, Eltern, Kinder)
weggehen oder sterben. Ein eigenständiges Leben ohne Eltern oder
ohne Kinder oder ohne einen bestimmten Partner, der kollusiv die
Abhängigkeit bedient und genutzt hat, hat man nie zu leben gelernt.
Die Verlust- oder Trennungskrise ist dann mit ihren vegetativen und
immunologischen Wirkungen die psychische Grundlage für
Erkrankungsanfälligkeit (z.B. chronische Infekte, hoher Blutdruck,
depressive Verstimmungen, pathologische Trauer u.a.m.). Das
abhängige Selbst lebt nicht aus sich heraus, sondern mit einer
freundlichen und hilfsbereiten Sozialmaske, die zumeist zu den
wirklichen Bedürfnissen und Möglichkeiten im Widerspruch steht.
Das abhängige Selbst produziert fast regelhaft Abhängigkeits-
Autonomie-Konflikte: Man vermag nicht selbständig zu werden, weil
man dann die Abhängigkeit von den angelernten und aufgenötigten
Lebenskoordinaten, die einem sagen, was man tun und lassen soll,
aufgeben müsste. Andererseits ist es kaum möglich, das gesamte
Leben befriedigend in Abhängigkeit zu verbringen, ohne wenigstens
von Zeit zu Zeit Schuld und Scham darüber zu empfinden, das eigene
Leben zu versäumen, keinen wirklichen Sinn zu erfahren, sondern
immer nur das mitzumachen, was andere tun. Das abhängige
Mitläufertum strebt immer massenpsychologisch wirksame
Ersatzbestätigung an: Was alle (oder die meisten) machen, wird dann
zur wesentlichen Orientierung. Werbung und Propaganda nutzen das
abhängige Selbst für Profit und Machtinteressen. Konsumverhalten,
Wahlentscheidungen, Mode, politische und religiöse Überzeugungen
sowie soziale Rollen werden massenpsychologisch konditioniert, um
die Autonomieschwäche der abhängigen Selbst manipulierend
auszunutzen. Das hat ganze Gesellschaften in den Krieg geführt.
Dieser Mechanismus ist die Quelle von Feindbilddenken und
Rassismus, insbesondere wenn Autoritäten dies entsprechend
vorleben und propagandistisch fördern. Ein eher harmloses Beispiel
dafür sind Menschen, die dem Mode-Druck nachgeben, sich
tätowieren lassen und eine Selbstbeschädigung zum Selbstschmuck
umdeuten, nur um «in» zu sein.
Fallbeispiel für das «abhängige Selbst»
Eine 21-jährige Studentin mit Angst- und Panikzuständen, depressiven
Episoden und Herzrhythmusstörungen. Ihre Symptomatik begann mit
der Aufnahme des Lehramtsstudiums und dem Umzug aus der
elterlichen Wohnung in einer Kleinstadt in eine WG am Studienort.
Es fiel ihr äußerst schwer, ihr Alltagsleben selbständig zu
strukturieren und sich mit den verschiedenen Studienangeboten und -
verpflichtungen zurechtzufinden. Sie suchte immer Anschluss, ließ
sich meistens mitnehmen, ohne selbst zu entscheiden, brauchte oft
Rat und folgte Empfehlungen. In der WG war sie die «Dienstmagd»,
beliebt wegen ihrer Hilfsbereitschaft, jederzeit verfügbar und zu
keiner Arbeit zu fein. So wurden ihre Dienste gerne genutzt mit einem
Gemisch von Anerkennung und Verachtung. Sie war über ein Jahr
lang mit einem Sportstudenten liiert, der sie forderte und der
«Bestimmer» in der Beziehung war. Sie war dankbar und anhänglich.
Die ersten Konflikte entstanden, als sie mehr Zärtlichkeit als Sex
wollte und ihm ihre Schmusereien und Wünsche nach bloßem
Zusammensein zunehmend auf die Nerven gingen. Gereizt wies er sie
zurück und verschwand auch schon mal für paar Tage, ohne für sie
erreichbar zu sein. Das erlebte sie qualvoll, wurde unsicher, ob sie gut
genug für ihren Freund sei, und konnte sich immer weniger auf die
eigenen Studienaufgaben konzentrieren. Eine erste Panikattacke erlitt
sie nach einem Streit: Sie hatte um ein Zusammensein gebettelt, er
hatte sie relativ schroff abgewiesen und erstmals Kritik geäußert: «So
geht das nicht weiter!» In der Nacht darauf wachte sie
schweißgebadet mit Panik und Herzstolpern auf; ihre WG-
Freundinnen riefen den Notarzt, der offenbar eine Beruhigungsspritze
verabreichte. Plötzliche Angstanfälle traten in der Folgezeit häufiger
auf – ohne dass die Patientin noch einen Zusammenhang mit ihrer
Lebenssituation oder unsicher gewordenen Partnerschaft erkennen
konnte oder zugeben wollte.
In der psychotherapeutischen Arbeit fiel es nicht schwer, ihre
Mutterabhängigkeit zu erkennen. Ihre Mutter war eine psychisch
schwache, leidende, oft sorgen- und angstvoll überforderte Frau. Sie
verlangte allerdings von ihrer Tochter Rücksicht und Verständnis,
forderte eher über Vorwürfe als durch direkte Bitten Hilfe ein («Das
ist mir zu viel!», «Das musst du doch verstehen und einsehen!», «Ich
mach doch schon alles für dich!», «Mir geht es heute gar nicht gut!»,
«Eine Mutter tut ihre Pflicht, auch wenn es ihr schwerfällt, und keiner
dankt es ihr!»). Die Patientin sah ihre Mutter als unglückliche,
geplagte Frau, abgewertet durch den dominanten, wortkargen und
verschlossenen Ehemann – den Vater der Patientin. Solange sie
denken kann, wollte sie ihre Mutter unterstützen und alles tun, um sie
aufzuheitern und ihr Arbeit abzunehmen. Dabei war ihr nie
aufgefallen, dass all ihre Bemühungen den Zustand der Mutter nicht
verbesserten. Erst in der kritischen Reflexion konnte sie erkennen,
dass sie niemals liebevolle Zuwendung erntete, sondern eher noch
Vorwürfe über ungenügendes Verständnis. Dieses trug die Mutter aber
nie direkt vor, sondern immer allgemein klagend, wie schwer sie es
doch habe, keiner sie wirklich verstehe und sie von ihrem Ehemann
nichts zu erwarten habe. Das Weltbild der Patientin war: Das Leben
ist schwer, ich darf nicht zur Last fallen, ich muss mich bemühen,
dass es anderen gut geht! Passive Männer sind nicht akzeptabel! Dass
sie sich auf diese Weise abhängig gemacht hatte von der
Anerkennung für ihr Bemühen um andere, ohne eigene Wünsche und
Bedürfnisse zu berücksichtigen, und dass ihre Partnerwahl auf
männliche Aktivität und Dominanz orientiert war, wurde ihr erst in
der therapeutischen Arbeit bewusst. Diese förderte bittere
Erkenntnisse zutage: dass sie im Dienen ausgenutzt wurde und mit
ihrem Anlehnungsbedürfnis Beziehungslebendigkeit aufgab und an
erotischer Ausstrahlung verlor.
Mit der Akzeptanz dieser unangenehmen Wahrheiten und dem
Zulassen von Empörung über «Muttervergiftung» und «Vaterflucht»
wurde den Angstzuständen die Energie entzogen, die in der Folge
auch nicht mehr auftraten. Die Herzrhythmusstörungen verstand die
Patientin als einen wichtigen Hinweis darauf, dass ihre
Herzensangelegenheiten aus dem Tritt geraten waren, dass Dienen
vergebliche Liebesmüh ist und dass für Partnerschaft und Sex eigene
Aktivität, selbst gemachte Vorschläge, Angebote und Forderungen
notwendig sind.

Das gehemmte Selbst


Das gehemmte Selbst steht permanent auf der Bremse. Das eigene
Leben darf nicht stattfinden. Lebensimpulse werden gezügelt und
kontrolliert, Selbstinitiativen angstvoll gemieden, Affekte unterdrückt.
Im Leben wird nichts ausprobiert, nichts riskiert, keine Abenteuer,
keine Experimente. Alles Neue ist angstvoll besetzt, es könnte ja die
eigene Zurückhaltung und Vorsicht mit neuen Erkenntnissen und
Möglichkeiten bedrohen und den Gefangenenzustand spürbar werden
lassen. Hemmungen des Selbst werden vor allem durch autoritäre
Erziehung erzwungen. Man muss dem folgen, was angesagt wird, was
geboten und verboten ist. Das ist einerseits ein Leben, das konkret
Halt und Orientierung vermittelt, andererseits aber
Entwicklungstendenzen des Selbst missachtet und berechtigtes
Aufbegehren bestraft. «Schwarze Pädagogik» erzwingt Gehorsam und
Disziplin und damit immer auch Wut, Hass und Rachegelüste. Ein
Leben unter Befehl schüchtert die Selbstverwirklichung ein. Der damit
provozierte Hass ist entweder eine Quelle zur selbstschädigenden
Verarbeitung in typischen psychosomatischen Erkrankungen (z.B.
Hypertonie, Magengeschwüre, chronische Muskelverspannungen mit
vielfachen Beschwerden im Bewegungsapparat) oder er führt zu den
psychischen Erkrankungen der Hemmung, beispielsweise zu
Depression und Zwangssymptomen. Die durch Hemmung und
Einschüchterung aufgestaute Aggressivität sucht sich aber auch gerne
– ganz ähnlich wie im bedrohten Selbst – Feindbilder und
Sündenböcke, an denen man sich dann stellvertretend abreagieren
kann. Das eingeschüchterte Selbst muss im Grunde krank werden,
weil die Selbst-Energie nicht zur angemessenen Lebens- und
Selbstgestaltung genutzt werden kann, sondern gemäß der Befehlslage
zur Selbstbeherrschung oder zur Fremdbekämpfung missbraucht
werden muss.
Der gehemmte Mensch führt sein ganzes Leben lang einen
symptom- und erkrankungsreichen Kampf gegen seine andrängende
Natur, die er noch nicht einmal selbst hat kennenlernen können. Der
gehemmte Mensch ist «der Neurotiker» an sich, der im ständigen
Konflikt zwischen seiner Natur und der mehr oder weniger
entfremdenden Kultur seine Behelfs- und Ersatzmöglichkeiten finden
und leben lernen muss. Das eigentliche Leid des ausgebremsten Selbst
sucht ständig ein Ersatzleid, um die unvermeidbare Konfliktspannung
wenigstens energetisch abzuführen. Dabei wird meistens übersehen,
dass das selbstgemachte neurotische Elend das kleinere Übel und im
Grunde genommen ein hilfreicher Gnadenakt der menschlichen Seele
ist, um das große Elend der Lebenshemmung zu verbergen. Im
gehemmten Selbst ersterben, wie gesagt, die Aktivität und Kreativität,
die Abenteuerlust erlahmt. Aber der gehemmte Mensch trägt immer
auch eine erhebliche (und berechtigte) Wut in sich, die er meist selbst
leugnet, die aber auch plötzlich durchbrechen kann. Dann stimmt das
Bild vom «Wolf im Schafspelz» oder es überrascht der so unscheinbare
und zurückhaltende Schüler, der plötzlich zum Amokläufer wird,
wenn sich bedrohte und gehemmte Selbst-Anteile verbinden, um die
kritisch gewordene innere Verzweiflung, von der niemand etwas
weiß, kathartisch abzuführen.
Die neurotischen Symptome können nicht einfach geheilt werden,
ohne ihre Schutzfunktion zu würdigen und die abgewehrte seelische
(gehemmte) Realität schmerzvoll anzunehmen und mühevoll zu
verändern. Wird die Bremse der Hemmung gelöst, kann das Selbst
Fahrt aufnehmen, muss aber erst lernen, eine eigene Verkehrsordnung
mit individuellem Fahrplan auszugestalten und zu verantworten.
Ein nicht gehemmtes Selbst ist kein enthemmtes Selbst, sondern
ein Selbst, das sich als existenziell eingebunden in größere
Zusammenhänge erfährt und Richtung und Geschwindigkeit seines
Lebens mit den Realitäten abstimmt.
Das gehemmte Selbst wird am häufigsten durch autoritäre
Erziehung, vor allem durch zu strenge und einschüchternde Väter
erzeugt. Aber auch Sozialnormen des Leistungs- und Erfolgsdenkens,
die mit Reichtum und Macht werben, provozieren resignative
Hemmung, wenn die geforderten Ziele nicht erreicht werden, welche
sowieso immer zu weit gesteckt sind. Wer lernen musste, Befehlen zu
gehorchen, der fühlt sich von jedem eigenen Impuls bedroht und
entwickelt Ängste, Schuldgefühle oder Selbstverachtung. Die
auferlegte Hemmung wird zur Selbsthemmung. Das gehemmte Selbst
zeigt sich in der Sozialmaske des Dienenden, Gehorchenden und
Willfährigen, aber man darf nie die aufgestaute Lebensenergie
übersehen, die aus dem Untergebenen auch Verräter, Denunzianten
oder gar Revoluzzer werden lassen. Das bedrohte und das gehemmte
Selbst ergeben zusammen einen zu allen Verbrechen bereiten
Kämpfer – nur über die Selbst-Erkrankung lassen sich perverse
Kriegsbegeisterung, Tötungslust und Bereitschaft zur Massen- oder
Völkervernichtung verstehen.
Fallbeispiel für das «gehemmte Selbst»
Ein 36-jähriger Mann, der nach Abschluss seines
Betriebswirtschaftsstudiums keine feste Arbeit fand und sich mit Jobs
über Wasser hielt, dabei von seinem homosexuellen Freund
finanziell unterstützt wurde. Er kam wegen depressiver Verstimmung
zur Psychotherapie, war dabei sehr dysphorisch-nörgelnd, stark
selbstanklagend und latent suizidal. Er fiel besonders durch seine
starke Zwanghaftigkeit auf, ließ sich im Gespräch nicht unterbrechen,
bestand auf der sehr ausführlichen und weitschweifigen Schilderung
seines sozialen Elends. Er war im Freundes- und Bekanntenkreis nicht
beliebt, galt als Sonderling und Eigenbrötler. Er war schon immer ein
unzufriedener Mensch, konnte seine Wünsche und Vorhaben nie
realisieren, wagte nach Abschluss seines Studiums nicht, sich zu
bewerben, oder tat dies nur unter finanziellem Druck, scheiterte aber
regelmäßig an den Bewerbungsgesprächen, in denen er nicht
verstand, sich anzubieten, gefällig zu zeigen, sich mit individuellen
Fähigkeiten – von denen er selbst nicht wirklich überzeugt war –
hervorzutun. In eine krankheitswertige Krise war er geraten, als sein
Partner mit Trennung drohte, da der Patient ihn zunehmend mit
Nörgelei, Passivität und Verweigerung gequält hatte.
Der problematische Charakter des Patienten wurde aus der
Lebensgeschichte verständlich: Er hatte unter einem extrem
rücksichtslosen, selbstsüchtigen Vater gelitten, der ihn mit
Forderungen terrorisierte, aber mit keinem Ergebnis wirklich
zufrieden war. So erfuhr er eine permanente Abwertung durch den
Vater, konnte ihm nichts recht machen, wurde von ihm oft heftig
beschimpft und auch in Anwesenheit Dritter beschämt: Der
Schwächling! Ein Versager! Der hat zwei linke Hände! Der Patient
war von eher schwächlicher Statur, seine körperliche Erscheinung
war unscheinbar, der Vater (von Beruf Polizist) dagegen sehr stark
und kräftig, von zupackender Art. Die Mutter litt sehr unter der
egomanischen Art ihres Mannes. Als sie sich von ihm trennen wollte,
wurde er gegen die Mutter gewalttätig, so dass sie zehn Jahre lang
nicht die Scheidung einzureichen wagte. Diese Zeit, im Alter vom
dritten bis vierzehnten Lebensjahr des Patienten, erinnerte er als
permanenten Krieg zwischen den Eltern ohne eine einzige Stunde des
Friedens. Die Eltern schliefen getrennt; der Patient hat bis zu seinem
vierzehnten Lebensjahr im Bett der Mutter schlafen müssen, was mit
einem gewissen Ekelgefühl einherging. Als die Mutter endlich die
Scheidung durchsetzte, trieb er eine Zeit lang sehr viel Sport. Er
besuchte einen Fitnessclub zum Muskelaufbau, um damit dem Vater
zu imponieren. Der aber verhöhnte ihn nur beziehungsweise
beachtete ihn gar nicht, weil er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt
war.
Der Patient war entwicklungspsychologisch Opfer von
«Vaterterror», «Vaterflucht» und «Muttervergiftung»
(Muttermissbrauch). Die Therapie war insofern sehr schwierig, als der
Patient seine berechtigte Aggression in seinem zwanghaften Verhalten
verbarg und ausagierte. Es bestand vor allem in umständlichen und
weitschweifigen Reden, die keinen Dialog zuließen und keine Frage
oder auch nur eine Reaktion erlaubten. Der «Vaterterror» hatte eine
zielgerichtete Expansivität des Patienten durch Kränkung, Abwertung
und Beschämung zunichtegemacht. So hatte er auch keine
regelmäßige Arbeit gefunden, blieb im realen Lebensvollzug gehemmt
und ideenlos. Seine Initiative war erlahmt; in der Partnerschaft wurde
er immer mehr zur Last, zu einem Menschen, der durch Dysphorie,
Passivität und Verweigerung seine erworbene Hemmung zur Waffe
gegen seinen Partner machte, der abbekam, was der Patient gegen
seinen absolut dominanten und gewalttätigen Vater und seine ihn
emotional missbrauchende Mutter nie hatte austragen können. Die
gehemmte Lebensenergie mit Selbstbehinderung und
Fremdbelästigung war Ausdruck des «falschen Lebens».
Eine zentrale Aufgabe der Therapie bestand darin, der
aufgestauten Aggression zum angemessenen Ausdruck zu verhelfen,
die Lebensenergie aus den Zwängen zu befreien, die er behelfsweise
ausgebildet hatte, weil er für eine individuelle und gesunde
Entwicklung keine Erlaubnis bekommen hatte. Mit dem Erkennen der
unterdrückten Wut und gehemmten Expansivität begann ein langer
therapeutischer Weg, die eigenen Möglichkeiten zu entdecken, sich
selbst wertzuschätzen und zielorientierte Aufgaben wahrzunehmen.
Schließlich fand er Arbeit in der Buchführung eines Fitnessclubs.
Dabei lernte er auch den Unterschied zwischen dem Wunsch nach
Selbstertüchtigung und dem Zwang, etwas beweisen zu wollen. Die
Partnerschaft steht weiter auf dem Prüfstand, da der Partner zwar
zunehmend unter der Lebensverweigerung des Patienten gelitten
hatte, mit dessen wachsender Initiative aber seine eigenen
Schwierigkeiten wuchsen, weil er seine dominante Rolle bedroht
sieht.

Das vernachlässigte Selbst


Das vernachlässigte Selbst vergleiche ich am liebsten mit einer nicht
gepflegten Pflanze, die entweder ihr vorhandenes Potential nicht
entfalten kann und verkümmert oder aber ungebremst wuchert, ohne
Ziel und Ordnung. Das Selbst braucht Nahrung: Nährstoffe, geistige
Anregung, ein Übungsfeld für Handlungen und soziale Unterstützung.
Wir Menschen sind soziale Lebewesen. Unser Selbst braucht Kontakte
und Kommunikation, Anregung, Ermutigung, aber auch Kritik und
Begrenzung, um sich finden zu können, verstehen zu lernen und
Orientierung zu gewinnen. Beziehungslosigkeit lässt das Selbst
vertrocknen.
Wenn das Bedürfnis nach Anregung und Auseinandersetzung keinen Widerhall findet, benutzt
das Selbst zwei Tricks, um die soziale Umwelt zu reizen und zu verführen:

1. Das unentfaltete Selbst äußert sich als Schwäche, Hilflosigkeit, Ratlosigkeit, die einen
enormen Appellcharakter haben. Wer
hinstürzt, dem muss aufgeholfen
werden, wer weint, löst Trostimpulse aus, wer sich verläuft, dem
weist man gerne den Weg. Keiner geht frei und gern an einem Bettler
vorbei; das Almosen dient vor allem der Beruhigung des Gönners.
«Gutmenschen» sind schnell dabei, die Not von Hilfsbedürftigen sofort
lindern zu wollen – das ist humanitär geboten, aber verschafft in aller
Regel auch ein gutes Gefühl und beruhigt ein schlechtes Gewissen.
Helfen hat immer zwei Seiten: die Linderung aktueller Not und die
Verschleierung komplexer Zusammenhänge und damit die
Verhinderung der Ursachenbekämpfung. Entwicklungshilfe zerstört
oder verhindert lokale Produktion, die Fürsorge für andere erschwert
deren Eigenständigkeit, Symptombekämpfung in der Medizin lässt
komplexe Ursachen von Krankheiten unentdeckt und Ratgeber lassen
die Intuition schrumpfen. Navigationsgeräte machen
orientierungsblöd. Umgekehrt: Verweigerte Aktivität, unterdrückte
Autonomie, fehlende Anstrengungsbereitschaft, ungeförderte
Kreativität und Orientierungslosigkeit provozieren Helfer und
verlangen nach Hilfsmitteln. Das ist dann zwar eine Chance für das
vernachlässigte Selbst, aber nur wirklich entwicklungsfördernd, wenn
Hilfe die ursprünglich versäumte Unterstützung zur Selbsthilfe
nachholt. Es wird zwar immer Menschen geben, die ihr Leben lang
auf Hilfe, Unterstützung und Führung angewiesen bleiben, aber sie
haben auch Ressourcen, die gefunden und unterstützt werden sollten.
Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ein
vernachlässigtes Selbst kann so sehr geschwächt und behindert sein,
dass es ohne Hilfe und Helfer nicht weiterleben könnte. Jede
Unterstützung und Förderung muss aber das Erreichen von
Selbständigkeit zum Ziel haben, sonst verstärkt sie nur Abhängigkeit,
Bequemlichkeit und Faulheit. Die Grenze zwischen Nichtkönnen und
Nichtwollen ist meist fließend, so dass auch helfende Menschen und
Systeme individuell-dynamisch reagieren müssen und weder
bürokratisch noch ideologisch festgelegt sein sollten.

2. Ein vernachlässigtes Selbst kann sich noch auf eine andere Weise auf die Bühne bringen.
Wird ein Mensch nicht von Anfang an von seinen Eltern in seinen
Möglichkeiten erkannt und entsprechend gefördert, sucht er sich, so
bald das möglich ist, Förderer, Ideenträger oder Unterstützer, die aus
eigenen Interessen Orientierungslose und Hilfsbedürftige für ihre
Zwecke rekrutieren und instrumentalisieren. Alle Vereine,
Religionsgemeinschaften und politischen Gruppierungen jeglicher
Couleur leben davon, aus vernachlässigten Selbst-Schwachen
besondere Leistungsträger bis hin zu Fanatikern für die eigenen Ziele
zu machen. Das ist nur dadurch möglich, dass ein nie aufgeblühtes
oder ein verwelktes Selbst plötzlich Zuwendung und Interesse erfährt.
In aller Regel führt das jedoch nicht zur Entfaltung des vorhandenen
Selbst-Potentials, sondern zu einem Ersatzselbst im Interesse des
Mäzens, Trainers oder Missbrauchenden. Die eigentliche Selbst-
Schwäche bleibt, sie wird nur durch Beförderungschancen geleugnet
und durch Gruppenzugehörigkeit in eine vermeintliche Stärke
verwandelt. Noch der schwächste Dummkopf kann so zum Anführer
oder Held in einer Gemeinschaft werden, die irgendeine Form des
falschen Selbst kultiviert. Die Selbst-Schwäche macht Menschen zu
Fans. Nur ein unentwickeltes Selbst fühlt sich als Befehlsempfänger
wohl und folgt ohne moralische Skrupel (denn die Moral hat im
Selbst gar keine Wurzeln schlagen können) sogar verbrecherischen
Aufträgen. In diesen Fällen bedeuten die Förderung und Anerkennung
in einer Gruppe mehr als die Strafandrohung für Fehlverhalten. Von
einer Gruppe getragen zu werden, verleiht dem vernachlässigten
Selbst Flügel. Was man selbst nicht hat, wird durch die Sozialenergie
der Gruppe ersetzt.
Das vernachlässigte Selbst kränkelt an seiner Schwäche – an
Passivität, Hilflosigkeit, Ratlosigkeit, Orientierungslosigkeit – und
erkrankt an den psychosozialen Folgen von Bequemlichkeit, Faulheit
oder Unzuverlässigkeit, an mangelndem Pflicht- und
Verantwortungsgefühl. In allen wesentlichen Beziehungen im
Familien- wie im Arbeitsleben muss das zu Konflikten führen, deren
Stress Erkrankungen bedient. Wenn dann das vernachlässigte Selbst-
Potential instrumentalisiert wird – da genügt schon: «Du bist wichtig!
Komm zu uns! Bei uns hast du Chancen und dienst einer wichtigen
Sache!» –, dann kann das dazu führen, dass bisher ungenutzte
Lebensenergie zu destruktivem Handeln missbraucht wird.
Fallbeispiel für das vernachlässigte Selbst
Ein 26-jähriger arbeitsloser lediger junger Mann, der für sein Abitur
viel Nachhilfe brauchte, dann das Musikstudium abbrach und sich mit
verschiedenen Jobs, auch als Gitarrist, finanziell über Wasser hielt. Er
kam wegen Alkohol- und Drogenproblemen zur Behandlung,
nachdem ihm der Führerschein nach Fahren unter Alkohol entzogen
worden war. Im Gespräch darüber wurde bald deutlich, dass er
Alkohol gerne zur Beruhigung und Entspannung konsumierte, wenn
er zu aufgeregt, unsicher und dann auch ganz zittrig war (nicht als
Alkoholentzugssymptom, sondern als ein Hinweis auf
Erwartungsangst, wenn er sich unter Leistungs- und Zeitdruck mit
entsprechender Beobachtung und Bewertung sah). Er war intellektuell
sehr begabt und vielfach talentiert, fand aber nicht zu einer
zielgerichteten und erfolgversprechenden Tätigkeit. Er hatte keinen
wirklichen Ehrgeiz, sein hauptsächliches Bestreben kreiste um
vergnügliche Geselligkeit und «Chillen». Man traf sich, quatschte,
trank Bier dabei und lästerte am liebsten über Büromenschen,
Muttersöhnchen, Zicken und Verheiratete. Verbindlichkeiten,
Pünktlichkeit und Verpflichtungen waren für ihn Fremdworte,
Anstrengungen wurden nur akzeptiert, wenn sie von einer väterlichen
Person verlangt wurden, von der dann auch Lob und Anerkennung zu
erwarten waren. Im Gespräch fiel auf, wie lebendig der junge Mann
wurde und ins Schwärmen geriet, wenn er über gute Erfahrungen mit
väterlichen Vorgesetzten sprechen konnte. Dabei war er sofort bereit,
eine unerfüllte Vatersehnsucht als Problem zu akzeptieren. Er hatte
zwar einen Vater, aber dieser war für die Familie so gut wie nicht
vorhanden, da im Auftrage einer weltweit operierenden Firma
unterwegs. Der Patient erinnerte sich, dass er wichtige Dinge, wie
Schwimmen, Rad- und Skifahren, mit Freunden und Übungsleitern
gelernt hatte, da auch die Mutter dafür nicht zur Verfügung stand.
Aber seine Mutter war fürsorglich, kochte gut und nahm sich auch
Zeit, wenn er mit Problemen ankam. Nur auf den Vater durfte er nicht
schimpfen, sie verteidigte dessen aufreibende, aber bedeutungsvolle
und finanziell sehr einträgliche Arbeit.
Die Charakteranalyse des Patienten zeigte seine soziale
Unsicherheit, eine leicht zu aktivierende Scham, meist bezogen auf
Leistungsanforderungen, in Verbindung mit einer deutlichen Tendenz
zum Widerstand. Er neigte dazu, Probleme auszusitzen, Konflikte zu
vermeiden, sich Pflichten zu entziehen. Er litt selbst sehr unter sich,
an dem permanenten Konflikt zwischen vorhandenen Begabungen
und fehlenden Erfolgen mit erlebter Perspektivlosigkeit.
Im Grunde genommen, aber das wollte er erst gar nicht
wahrhaben, wartete er nur darauf, aufgerufen zu werden, gemeint zu
sein, angeschoben zu werden, eine Aufgabe, ein Ziel genannt zu
bekommen. Wenn ihm jemand sagte, den er als Autorität akzeptieren
konnte, wo es langging oder was er tun sollte, war er sehr tüchtig,
gewissenhaft und auch zuverlässig. Fiel die Führung aber wieder weg,
brach das aufgebaute Energiefeld erneut in sich zusammen, und dann
suchte er Trost und Anregung durch Alkohol und Haschisch.
In der Therapie waren Beratung und Förderung angezeigt. Eine
väterliche Führungsfunktion musste übernommen werden. Dort, wo
andere Patienten sich zu Recht beeinflusst und manipuliert erleben
und gegen therapeutische Bevormundung rebellieren würden, war der
vernachlässigte Patient dankbar und froh über Anregung,
Orientierungshilfe und Unterstützung. Es gelang, ihn zum Abschluss
des Studiums und einer verbindlichen Zusage für eine Band, mit der
er schon manchmal gespielt hatte, zu bewegen. Statt des
autodestruktiven Verhaltens (Alkohol, Drogen, Verweigerung) konnte
er ein Engagement für sich selbst entwickeln. Der junge Mann wird
wohl immer mal «väterliche» Unterstützung brauchen, um gut in
seiner Spur bleiben zu können. Er ist sicher gut beraten, nicht
selbständig zu arbeiten, sondern sich von einem Team immer auch
etwas mitnehmen zu lassen. Seine Mitgliedschaft in einer Musikband
war dafür ein gutes Beispiel: Er konnte seine individuellen
Fähigkeiten einbringen, war zugleich aber auch in eine höhere
Verantwortung und Verpflichtung eingebunden. Sein «falsches Leben»
entstand aus Vernachlässigung und Laissez-faire-Vaterlosigkeit, wie
sie heute leider aus falsch verstandener Liberalität und antiautoritärer
Ideologie weit verbreitet ist und eine Null-Bock-Generation hinterlässt
oder eine entleerte Fun-Orientierung generiert.

Das überforderte Selbst


Das überforderte Selbst ist ein Spiegel der uns alle bestimmenden
Wachstums-, Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft. Es herrscht die
Überzeugung, wenn man sich nur richtig anstrengt, dann kann man
(fast) alles erreichen («Vom Tellerwäscher zum Millionär» und «Ohne
Fleiß kein Preis»). Man müsse lernen, sich durchzusetzen, sich zu
behaupten, geschickt und erfolgreich zu konkurrieren, immer
schneller und cleverer zu sein als andere. Der Übergang zu einem
offenkundig falschen Selbst ist schnell erreicht, wenn man sich gut
darstellen muss, sich geschickt verkaufen lernen soll, Tricks geübt
werden, um andere auszustechen, gelogen werden muss und
«Beziehungen» nur benutzt werden, um Vorteile zu erreichen. Für
Sieg, Erfolg und Profit ist dann bald jedes Mittel recht; der Weg hin
zur Kriminalität ist im Grunde der nahezu unvermeidbare Schatten
der Nötigungsenergie eines überforderten Selbst. Doping, Bestechung,
Korruption, Betrug oder Fälschung werden dann zu den
Folgesymptomen eines getriezten Selbst. Der überhöhte
Leistungsanspruch, der das Selbst auf eine einseitige und damit
falsche Bahn wirft, wird natürlich als Mühsal und Plage erlebt, die
durch Lob und Anerkennung für die Fehlentwicklung im falschen
Leben etwas gemildert wird. Manchmal bringt ein kurzes Nachlassen
der Nötigungen, von außen wie von innen, schon dankbare
Erleichterung. Zumeist ist ein Erfolg in Aussicht gestellt, der für alle
Qual am Ende entschädigen soll. Aber am Ende dreht es sich immer
nur um Geld und Gold, niemals um Liebe – oder um Macht und Status
in der Arena des falschen Lebens. Das überforderte Selbst kennt keine
wirkliche Entspannung und Ruhe, keine wirkliche Befriedigung, nur
den materiellen Erfolg, den schnell vergänglichen Sieg oder die
Schlagzeile, die schon morgen keinen mehr interessiert. Das
überforderte Selbst muss ständig wach sein, unaufhörlich traben und
ist immerzu auf der Suche nach optimierten Gewinnchancen. Das
Leistungsselbst ist stets auch süchtig, abhängig vom Erfolg, es kann
nicht nachlassen, weil dann die Illusion erkennbar würde. Es hält das
eigene Tun für notwendig und richtig, bis es an Erschöpfung
körperlich kollabiert oder an einer Sinnkrise seelisch zerbricht. Eltern,
Lehrer, Trainer schaffen das überforderte Selbst und sind seine
Antreiber. Es ist das Ergebnis eines Dressuraktes, der krank macht,
weil er übertreibt, nur einseitig wirkt, die Folgen nicht bedenkt und
unnatürliche Anreize schafft und Erfolge verspricht, die dem Selbst
nie wirklich Frieden schenken.
Die Krankheit entsteht durch den Dauerstress der ständigen
Anstrengungsbereitschaft, des Konkurrenzdrucks und der
Versagensangst bzw. der Kränkung, dass andere besser sind. So kann
im Sport bereits der zweite Platz, eine hundertstel Sekunde, zum
Anlass für eine schwere Selbstwertkrise werden. Das überforderte
Selbst kann nicht mehr entspannen, kann nicht zur Ruhe kommen.
«Burn-out» ist die Verschleierungsdiagnose eines gnadenlosen
Raubbaus an den individuellen Selbstmöglichkeiten. Wir wachsen
gegen die Natur, wir produzieren uns kaputt, wir provozieren Kriege
und Migration, wir siegen uns zu Tode. Geld, Geltung und Macht
schaffen niemals wirkliche Befriedigung, Erfüllung und
Sinnerfahrung. Der Herzinfarkt ist so typisch für das überforderte
Selbst wie die kollektiv verursachte Umweltvernichtung und
Klimaveränderung, die den Kreislauf des Lebens zerstören.
Fallbeispiel für das überforderte Selbst
Ein 52-jähriger Patient kam mit einer depressiven Symptomatik und
chronischen Rückenschmerzen, die bereits mehrfach orthopädisch
und physiotherapeutisch mit nur kurzen Verbesserungen behandelt
worden waren, zur Psychotherapie. Er war zu DDR-Zeiten
Leistungssportler (Handball) gewesen und war in seiner Jugend in
einer Sport-Spezialschule und in Trainingslagern regelrecht gedrillt
worden: Anstrengung, Härte gegen sich selbst, Leistungssteigerung
und Verzicht auf Genussmittel (Alkohol, Nikotin) einerseits und
Spezialernährung andererseits waren für ihn Selbstverständlichkeiten.
Im Kontakt fiel er durch seine Verbissenheit und Angestrengtheit auf
(«Das muss doch so sein!!», «Das kann ich überhaupt nicht
akzeptieren!», «Das geht gar nicht anders!», «Das kann doch nicht so
bleiben!», «Das muss doch zu schaffen sein!»).
Seine Sportlerkarriere war nach der Wende bald zu Ende, er
musste umschulen und wurde Versicherungsvertreter. Mit seiner
energischen und bestimmten Art war er überzeugend und erfolgreich,
gewann Ansehen und konnte in der Hierarchie der großen
Versicherung aufsteigen. Er hatte schon längere Zeit immer wieder
über Rückenschmerzen geklagt, wurde krankgeschrieben und vielfach
behandelt. Zur depressiven Krise kam es nach einer Versetzung auf
einen weniger lukrativen Arbeitsplatz mit längeren An- und
Abfahrtszeiten. Er war im Grunde degradiert worden, nachdem er die
Leistungen – oft krankheitsbedingt – nicht mehr wie gewohnt
erbracht hatte. Auch familiär gab es chronische Konflikte: Die beiden
erwachsenen Söhne waren weit weggezogen, wollten kaum noch
Kontakt haben oder, wie der Patient es formulierte: «Die wollen sich
einfach nichts mehr sagen lassen!» – «Ich kann ihren Lebensstil
überhaupt nicht akzeptieren!» Mit seiner Frau lebte er so nebenher,
jeder ging seiner Arbeit nach, emotionale Nähe und Herzlichkeit
waren beiden fremd. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie sich mal
zärtlich angefasst hätten, Sex fand immer seltener statt und offenbar
wenig lustvoll. («Das ist mir nicht so wichtig!» – «Ich bin oft erschöpft
und will nur noch meine Ruhe haben!»). Die Abende verbrachte er
meistens auf der Couch vor dem Fernseher, er trank auch öfter mal
mehr als ein Bier und hatte einen erkennbaren Bauchansatz.
In der psychotherapeutischen Arbeit war die frühere
Sportlerkarriere das Tor zum tieferen Verständnis. Er war
ausgesprochen streng von seinem Vater erzogen worden, der Leistung,
Anstrengung und Erfolg forderte und ihn heftig abwertete, wenn er
die gesteckten Ziele nicht erreichte. Die Angst, dass er eine
«Enttäuschung» für den Vater sein könnte, begleitete ihn wie ein
Damoklesschwert durch seine Jugend. Dabei ging fast unter –
jedenfalls fiel ihm die Erinnerung daran sehr schwer –, dass er von
der Mutter keine zärtliche Zuwendung, kein Verständnis für seine
Anstrengungsnot erhalten hatte. Sie war nur die «Assistentin» der
väterlichen Forderungen, indem sie dessen Härte als «fürs Leben
hilfreich» erklärte, ihn bei der Pflege seiner Sportkleidung
unterstützte und höchstens zu einem Lob über sportliche Erfolge in
der Lage war. Sein Weltbild aus den elterlichen Beziehungsangeboten
war: «Streng dich an! Von nichts wird nichts! Nur die Leistung zählt!
Lass dich nicht gehen! Der Erfolg schafft Anerkennung!» Dieses
Leistungsgebäude war mit dem Nachlassen der körperlichen Fitness
und den beruflichen Kränkungen zusammengebrochen, wobei er sich
vor der existenziellen Erschütterung durch Depression schützte. Die
schon seit längerer Zeit bestehenden Rückenbeschwerden waren
symptomatischer Ausdruck seiner Anstrengung und Anspannung, die
schwindende Leistungsfähigkeit aufhalten zu wollen und sich nun erst
recht noch mehr zusammenzureißen. Der Rucksack seiner
Leistungspflicht war zu schwer geworden und wirkliche Entspannung
– wozu ihm auch Physiotherapeuten geraten hatten – war für ihn
nicht lebbar, jedenfalls nicht, ohne die frühe Dramatik seiner
lieblosen und angestrengten Erziehung zu erinnern und unter
Empörung und seelischem Schmerz zu verarbeiten. Dass sich seine
Rückenschmerzen im Weinen auflösen konnten, wie es nach längerer
Therapie geschah, war für ihn eine Art Wunderheilung.
Teil II
9 Die Grundbedürfnisse des Selbst

Das falsche Leben wird vom falschen Selbst ausgebaut und auch
gebraucht. Das echte Leben wird gefälscht, das wahre Leben lässt sich
kaum noch leben.
Dabei müssen wir erkennen und akzeptieren, dass alles, was wir
als echt, wahr, richtig oder authentisch für unser Leben erfahren
können, immer nur eine Annäherung, ein Teil vom Möglichen sein
wird. Ein hundertprozentig richtiges Leben ist prinzipiell nicht
erreichbar, das liegt in unserer Natur. Kein Mensch ist so ideal
ausgestattet, dass er alle Schwierigkeiten des Lebens optimal bestehen
könnte. Unsere Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit ist immer
auch begrenzt. Die Eltern sind nie optimal, die sozialen
Umweltbedingungen nie ausreichend. Das aus inneren Behinderungen
und Begrenzungen und aus äußerer Not und Bedrohung entstehende
falsche Selbst ist eine Tragik für den Einzelnen, eine Gefahr für
gesellschaftliche Fehlentwicklung, aber immer auch eine schützende
Anpassungsleistung. Ein falsches Selbst lebt immer im Spannungsfeld
von Fluch und Segen.
Der Segen besteht in der Fähigkeit zur Anpassung, selbst an
widrigste Verhältnisse. Die Erfolge im falschen Leben (durch
Reichtum, Macht und Ruhm) zähle ich nicht mehr zum Segen; denn
in der Spur des falschen Lebens werden meist übertriebene Ziele
angestrebt, die dann für die eigene Gesundheit, das soziale
Zusammenleben und die Entwicklung der Gesellschaft zum Problem
werden. Eine Erkrankung oder eine Krise bremst die Menschen auf
ihrer Fahrt in der falschen Bahn, es entstehen Erkenntnishunger und
Veränderungswillen.
Durch eine nur symptomatische Medizin, ökonomische Zwänge
und moralisierende Belehrungen werden sie leider schnell wieder in
die «normale» Bahn gedrängt. Sosehr die Medizin, die Arbeit und eine
Religion den Menschen Hilfe, Halt und Orientierung geben, so sehr
können sie auch Sittenwächter für das falsche Selbst sein und dieses
im falschen Leben festhalten.
Ein falsches Selbst verrät sich an der Unsicherheit oder sogar
Ratlosigkeit, stimmige Antworten auf die beiden Fragen zu finden:
Wer bin ich und was will ich? Man nennt dann bestenfalls Name,
Alter und Beruf oder schmückt sich verlegen oder prahlerisch mit
Leistungen und Erfolgen, von denen man schon längst weiß, dass sie
die Seele nicht sättigen. Und bei den Wünschen landen viele bei
einem verbesserten Einkommen und Beziehungssehnsüchten. Damit
sind Enttäuschungen schon vorprogrammiert. Denn die materiellen
Ziele entsprechen vor allem den Werten des falschen Lebens und nicht
den psychosozialen Grundbedürfnissen des Einzelnen und das
eigentliche Leiden an unerfüllten frühen Beziehungswünschen kann
nicht mehr nachträglich gelöscht werden. Die illusionäre Hoffnung,
dass es trotzdem geschieht, ist ja die häufigste Ursache für
Partnerschaftskonflikte.
Die Orientierung an den Grundbedürfnissen ist eine große Hilfe,
wirklich etwas von sich zu verstehen und individuelle Antworten auf
die genannten Fragen zu finden. Die Grundbedürfnisse des Menschen
lassen sich ihrer Genese nach einteilen in körperliche, seelische,
soziale und spirituelle Anforderungen der Natur und ihre je einmalige
individuelle Ausformung. Der Körper fordert Sauerstoff, Nahrung,
Wasser, Wärmeregulation, Bewegung, Sexualität und Ausscheidung.
Die Seele braucht Verständnis, Bestätigung, Anregung, Unterstützung,
Ermutigung, Schutz, Trost und Begrenzung – mit einem Wort: Liebe!
Unsere soziale Existenz verlangt nach Kontakt, Spiegelung,
Gemeinschaft, Bedeutung, Anerkennung und Kritik. Und
spirituell suchen wir nach Sinn, Verwirklichung und der Erfahrung
nach Einbindung in höhere Zusammenhänge (Heimat, Nation,
Menschheit, Natur, Gott). Alle Grundbedürfnisse melden sich in den
jeweils spezifischen Bedürfnisspannungen. So erleben wir Hunger,
Durst, Frieren, Schwitzen, Bewegungsdrang, sexuelle Lust, Sehnsucht,
Angst, Unruhe, Unzufriedenheit, Kontaktwunsch, Rückzug,
Anstrengungsbereitschaft, Aktivitätsdrang, Kreativitätsenergie,
Gebetswunsch u.a. Ohne Störung und bei gesicherter Befriedigung
schwingen die Grundbedürfnisse in ihrem jeweiligen Rhythmus von
Anspannung und Entspannung. Die Variationsbreite der
Bedürfnisbefriedigung ist dabei sehr groß. Der eine möchte einmal
täglich Sex haben, der andere nur einmal monatlich, der eine liebt
sozialen Kontakt, ein anderer hingegen wünscht nur selten
Gemeinschaft, jemand betet oder meditiert täglich, ein anderer gar
nicht, weil er sein spirituelles Bedürfnis ganz ohne
Religionsanbindung und Ritual erfüllen kann, etwa durch ein
Naturerlebnis, eine besondere Begegnung oder einen erfüllenden
Augenblick. Jedes Grundbedürfnis ‹entartet›, wenn es nicht erfüllt
wird. In aller Regel werden dann verfügbare Ersatzbefriedigungen
gesucht, die aber nie originär stillen können und deshalb immer mehr
gesteigert werden müssen, um überhaupt noch eine kurze und nur
relative Befriedigung zu gewähren. So wird die ungestillte
Liebessehnsucht gerne durch die Zufuhr von Nahrung ersetzt oder
durch Alkohol gedämpft – wodurch aus Essen Fressen und aus
Trinken Saufen wird. Oder das ungestillte narzisstische
Grundbedürfnis nach Bestätigung pervertiert im Sinne einer
Trotzreaktion, um den eigenen Wert zu beweisen, zur Arbeits- und
Leistungssucht. Ein Mangel an Anerkennung macht anfällig für
Ideologien oder für eine Zugehörigkeit zu Gruppierungen, in denen
man Ansehen erlangen kann. So hat etwa die Stasi in der DDR die
soziale Anerkennungsbedürftigkeit ausgenutzt mit der Suggestion: Du
bist wichtig! Was du uns zu sagen hast, dient einer guten Sache! Du
hilfst damit auch, deine Freunde und Familie zu schützen! Auch von
radikalen und fundamentalistischen Gruppen wissen wir, dass sie
selbst-gestörten Menschen Strukturen und Hierarchien gewähren, die
Halt und Orientierung vermitteln, Ein- und Unterordnung erlauben
und im Gemeinschaftsgefühl Selbstwertstörungen neutralisieren.
Im falschen Leben verliert sich der natürliche Rhythmus von
Anspannung und Entspannung der Grundbedürfnisse in das
angestrengte Bemühen, sich über Ersatzbedürfnisse endlos
entschädigen zu wollen. Ich sehe die Politik in der Pflicht,
Grundbedürfnisse zu verstehen, anzuerkennen und für ihre
Befriedigung auf allen Ebenen – körperlich, seelisch, sozial und
spirituell – Sorge zu tragen.
10 Woran erkenne ich mein falsches Selbst?

Mein falsches Selbst erkenne ich daran...

… dass ich mich oft bedroht fühle.


Zumeist geschieht das schon aus ganz geringen Anlässen, bei äußeren
Veränderungen oder inneren Irritationen, die für andere gar nicht
wahrnehmbar sein müssen. Aber natürlich bieten reale äußere
Bedrohungen (der verletzende Partner, der ungerechte Vorgesetzte,
der bedrohte Arbeitsplatz, die Finanzkrise, die Klimakatastrophe, der
Terrorismus) eine hervorragende Möglichkeit, dem schon
vorhandenen inneren Bedrohtsein eine äußere Erklärung zu
verschaffen. Dann ist das bedrohte Selbst oft nur noch an der zu
heftigen Reaktion über die reale Bedrohungsgefahr zu erkennen.
… dass ich schnell und leicht gekränkt bin.
Ein Mensch mit narzisstischer Problematik muss seine tiefe
Unsicherheit und sein Minderwertigkeitsgefühl ständig durch
besondere Anstrengungen beschwichtigen. Das Erfolgsstreben, der
Kampf um Anerkennung, das Bemühen, auf sich aufmerksam zu
machen und zu zeigen, dass man wer ist, um beneidet und bewundert
zu werden, macht schnell anfällig, sich durch geringste Kritik und
Nichtbeachtung gekränkt zu fühlen. Ein Mensch mit einer
narzisstischen Problematik kann den Beifall bei einer großartigen
Leistung nur begrenzt genießen, aber bei nur einer kritischen Stimme
leicht in eine Kränkungskrise rutschen. Hundertmal Zustimmung
wiegt weniger als die Verletzung durch nur eine Ablehnung. Mit
selbstbezogenen Narzissten ist es schwer auszukommen, weil sie recht
behalten müssen, sich nichts sagen lassen, keine Ironie oder Satire
vertragen, sich immer nur selbst in den Mittelpunkt stellen oder sich
heimlich immer als überlegen dünken – was in der Realität nicht zu
halten ist. Deshalb sind sie so empfindlich und leicht kränkbar und
können keine Kritik annehmen.
… dass ich schwer allein sein kann und nicht selbständig zu entscheiden und
zu handeln wage.
Wer genötigt war, vor allem darauf achten zu müssen, wie man
Mutter und Vater (und später die Lehrer, Partner, Freunde,
Vorgesetzten) zufriedenstellen kann, der weiß nicht, wer er wirklich
ist und was er wirklich will und kann. Dann erlebt er bei jeder
Lebensentscheidung eine schwere Krise, wenn einem keiner mehr
sagt, was jetzt angemessen oder geboten ist, was richtig oder falsch
ist, weil man aus seinem eigenen Empfinden («aus dem Bauch
heraus», aus gewachsener Überzeugung, aus geprüfter Erfahrung)
keine Orientierung kennt. Das betrifft Menschen, die sich in allen
Beziehungen nur anhängen, mitmachen, die geführt sein wollen, die
äußere Anregung und Beantwortung brauchen. Und wenn eine
Freundschaft zu Ende geht, ein Partner weggeht oder stirbt, ein
Führer versagt, bricht die eigene Orientierungswelt zusammen und es
entstehen Angst, Panik, Verwirrung und Depressivität. Dann ist auch
eine konfliktreiche, leidvolle Beziehung besser als keine Beziehung.
… dass ich meine Möglichkeiten nicht umzusetzen wage, nichts riskiere und
ausprobiere, keine neuen Wege gehe.
Der gehemmte Mensch neigt zu Vorsicht und Zurückhaltung, er ist ein
Zweifler, Bedenkenträger, Angsthase. Jede Lebensveränderung wird
als Gefahr erlebt, der Verlust gewohnter Strukturen macht Angst.
Trotziges Verweigern, vorsichtiges Taktieren oder konservatives
Verharren signalisieren das gestörte Selbst.
… dass ich keine Verantwortung übernehmen will, Pflicht verabscheue, nicht
pünktlich sein kann und an jeder Anstrengung verzage.
Das falsche Selbst hat sich in möglichst risikoarmer Bequemlichkeit
eingerichtet, häufig mit versteckter Versorgungsmentalität. Die
Erfolglosigkeit des ungeforderten Selbst ist dann «Lebenskultur», mit
der die Eltern zur weiteren Versorgung erpresst und der Sozialstaat
ausgebeutet werden. Kann einer nicht oder will er nur nicht? Was ist
eigenes Verschulden durch falsches Selbst und was sind reale
Ungerechtigkeit und Behinderung? – das sind hier die Fragen.
… dass ich nie zufrieden bin. Dass es nie genug ist. Dass ein Erfolg mich
schon zur nächsten Anstrengung ruft.
Überzogener Ehrgeiz macht krank, erzeugt permanenten Stress,
verhindert Entspannung und lässt keinen inneren Stolz zu (es geht um
die äußere Trophäe und die Schlagzeile, aber nicht um befriedigende
Selbstverwirklichung).
… dass ich mich ständig gequält fühle,
und zwar durch die Anforderungen und Erwartungen, die ich ständig
erspüre, durch die Angst, dass jemand etwas von mir will, was ich
nicht will, ich mich aber nicht zu entziehen wage. Die Qual entsteht
dadurch, dass von mir etwas verlangt wird oder Forderungen an mich
gestellt werden, die ich als Übergriffe erlebe, als Verlust von
Selbstbestimmung, aus dem Gefühl heraus, manipuliert und
instrumentalisiert zu werden, und dass dabei die eigenen Bedürfnisse
zu kurz kommen oder gar nicht gesehen und akzeptiert werden.
Im Alltagsverhalten des falschen Selbst finden wir uns alle irgendwie
wieder: Ein «falsches Selbst» zwingt in festgelegte soziale Rollen, in
denen ich nicht mehr dynamisch variabel auf unterschiedliche
Anforderungen und Veränderungen des Lebens reagieren kann: wenn
ich also nicht mehr frei bin, zum Beispiel mich dieses Mal zu
behaupten und durchzusetzen und ein anderes Mal nachzugeben und
mich mitnehmen zu lassen, je nach der für mich und im Rahmen der
sozialen Situation besseren Variante. Ich bediene auch mein falsches
Selbst, wenn ich nur noch das für richtig halte, was in meiner Familie,
in meiner sozialen Gruppe, meiner Partei und Religionsgemeinschaft
vertreten wird, und ich die vorherrschende Meinung nicht mehr
kritisch infrage zu stellen wage.
Ich bewege mich im falschen Leben, wenn ich immer nur perfekt
und erfolgreich sein muss, wenn ich keine Schwäche und Begrenzung
zugeben darf und Ängste und Fehler unbedingt verbergen muss. Wenn
ich Äußeres und Geld über die Beziehung stelle und für die Karriere
die Kinder vernachlässige, gebe ich das eigene falsche Leben an die
nächste Generation weiter.
Wenn ich am Partner leide und sage: Du bist schuld! Wenn ich
hoffe, dass mich jemand oder etwas Äußeres glücklich machen
könnte, wenn ich denke, dass der Partner für meine sexuelle Lust
verantwortlich sei, verderbe ich auch in der Partnerschaft die guten
Möglichkeiten des Zusammenlebens.
Wenn ich überwiegend nörgele, über andere schlecht rede, über
die Verhältnisse nur klage, wenn ich mich resigniert zurückziehe oder
verbissen kämpfe, dann vergifte ich die soziale Umwelt mit meiner
Selbst-Störung.

Das Lamentieren und Protestieren aus der Unzufriedenheit des


falschen Lebens heraus dient nur der nie an ein Ende gelangenden
Abreaktion aufgestauter Affekte, ohne wirkliche Entspannung und
reale Verbesserungen zu erreichen oder Verhaltensänderungen
anzustreben. Dagegen bemüht sich echter Protest um Integration der
unterdrückten und vernachlässigten Selbst-Anteile mit dem Ziel guter
Lösungen, optimaler Kompromisse und einer möglichen
Übereinstimmung des eigenen Lebens mit den Beziehungspartnern
und der sozialen Realität. Echter Protest ist kreativ, dynamisch,
inhaltsorientiert und nicht phrasenhaft, nicht ideologisch, nicht
demagogisch, nicht populistisch. Echter Protest verbirgt nicht das
individuelle Motiv und das gewünschte Ziel, akzeptiert keine
Suggestion, Manipulation, keinen Einfluss durch Lobbyisten. Echter
Protest ist zielorientiert, er will real etwas erreichen und verändern
und dient nicht der emotionalen Abreaktion und der Abwertung
anderer Positionen. Echter Protest sucht nach Wegen zwischen
Anpassung, Rückzug und Durchsetzung, kann Irrtümer und Fehler
eingestehen und sich neu ausrichten. Echter Protest ist weniger
egoistisch (das immer auch!), sondern mehr ganzheitlich, systemisch
gedacht. Er beachtet das Zusammenspiel von Individuum und
Gemeinschaft und bedenkt die globalen Folgen.
11 Der Weg aus dem falschen Leben

Man kann dem falschen Leben nicht entrinnen. Aber ich teile nicht
die Sentenz des Philosophen Theodor W. Adorno aus dessen «Minima
Moralia», dass es «kein richtiges Leben im falschen» gebe. Zwar bin
ich auch davon überzeugt, dass man das in der frühesten Entwicklung
durch Beziehungsstörungen aufgenötigte falsche Selbst nie mehr
wirklich loswird, dass die früheste Prägung ein Leben lang dominant
bleibt und dass die mit einem falschen Selbst geprägten Menschen
auch das falsche Leben der Gesellschaft ausgestalten und zu
verantworten haben. So wird das Bemühen, aus dem falschen Leben
auszusteigen, stets von inneren Bedenken, Skrupeln, Zweifeln und
Kämpfen nachhaltig erschwert und durch die gesellschaftlichen
Zwänge und Regeln nahezu unmöglich gemacht.
Was ich in diesem Buch später die «Normopathie» einer
Gesellschaft nennen werde (siehe Kapitel 13), ist sozusagen die
versammelte und kulminierte Energie der falschen Selbst, die
unbedingt Gesellschaftsstrukturen brauchen, in denen sich ihre
Störungen erfolgreich entfalten oder auch protestierend austoben
können und zugleich garantiert wird, dass die eigene Fehlentwicklung
als solche auf keinen Fall erkannt werden kann. Eine nur «äußere»
Demokratie – auch auf den Unterschied zwischen einer politisch
«äußeren» und einer seelisch «inneren» Demokratie komme ich noch
zu sprechen – braucht zwingend den regulierenden Ausgleich der
verschiedenen falschen Selbst, die sich idealerweise in der
pluralistischen Meinungsvielfalt die Waage halten. Das Abwehrprinzip
einer solchen «Normopathie» besteht darin, dass das für richtig
gehalten wird, was die Mehrheit der falschen Selbst für richtig
befindet. In autoritären Systemen gibt es keinen erlaubten
Widerspruch, so dass die Pathologie der Selbst-Störungen wuchern
kann. In einer demokratischen Gesellschaft besteht immer die Gefahr,
dass die gestörten Selbst eine Mehrheit bilden, die dann die
Entwicklung bestimmt. Deshalb sollte die Mehrheitsmeinung immer
mit größten Bedenken und Zweifeln zur Kenntnis genommen und
kritisch hinterfragt werden und die Position der Minderheiten und
Außenseiter höchste Wertschätzung erfahren, weil diese zumindest
eine Teilwahrheit verkörpern und aufzeigen können, die die Mehrheit
aus Gründen ihrer Selbst-Störungen nicht wahrhaben will. Eine
narzisstisch geprägte politische Führung ist auch unter
demokratischen Verhältnissen ein hohes Risiko für die
Gesellschaftsentwicklung, wenn mehrheitlich Ziele und Werte falscher
Selbst verfolgt werden. Wenn «politische Korrektheit» die Macht einer
Zensur bekommt, ist die konstituierende Meinungsfreiheit einer
äußeren Demokratie in höchster Gefahr.
Adorno hat mit seiner Aussage sicher recht, dass sich das falsche
Leben in allen Lebensbereichen dominierend ausbreitet und das
Denken und Handeln bestimmt. Aber es gehört nicht nur zur Würde
des Menschen, für die er auch selbst Sorge tragen muss, sondern auch
zu seiner Freiheit, selbst unter widrigsten Bedingungen nach
individuellen Möglichkeiten zu streben, dem Falschen etwas zu
entkommen. Damit ist wieder das unendliche Bemühen benannt, für
sich Auswege aus dem falschen Selbst und dem falschen Leben zu
finden, was nie hundertprozentig, nie endgültig gelingen kann.
In meiner psychotherapeutischen Arbeit habe ich immer wieder
die Erfahrung machen dürfen, wenn es Menschen gelingt, sich selbst
besser zu verstehen, können sie dadurch relativ gesunden. Sie fühlen
sich wohler und erleben mehr Zufriedenheit, ja sogar
Glücksmomente. Ein besseres Selbstverständnis ermöglicht auch
entspanntere Beziehungen in der Partnerschaft, der Familie, mit
Kindern und Freunden, mit Arbeitskollegen und in allgemeinen
sozialen Kontakten. Vor allem aber nimmt mit den verbesserten
Beziehungen der Bedarf an Konsum, Geltung und Macht ab. Gute
Beziehungen lassen die Macht des Geldes schrumpfen.
Wie kommt man zu besseren Beziehungen? Zuallererst, indem
man bei sich selbst anfängt. Es geht darum, sich selbst besser zu
verstehen, das Sosein als ein Geworden-Sein zu erkennen; weiter die
Einflüsse von Mutter und Vater und von anderen wichtigen
Beziehungspersonen zu identifizieren, die uns als seelische
«Introjekte» beeinflussen, zuweilen beherrschen; darüber hinaus die
gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen, die politischen,
ideologischen und ökonomischen Zwänge, denen man ausgeliefert
war und weiterhin ist, zu erfassen. Noch vor der Identifizierung der
falschen Selbst-Anteile kommt es allerdings darauf an, sich nicht der
Erkenntnis zu verschließen, dass das eigene Leben in falschen oder
gefälschten Bahnen verläuft. Kaum einer geht diesen anstrengenden
Erkenntnisweg aus Übermut. Viel stärker verbreitet ist die Neigung,
sich in einer Krisensituation zu «garantiert» leichten Erfolgswegen
verführen zu lassen. Der Markt bietet dazu eine Unmenge von
«Erkenntnistrips», die in aller Regel aber nur eine neue Entfremdung
verkaufen, mehr profitinteressiert sind, als wirkliche Hilfe gegen das
falsche Leben anzubieten. Man erwirbt sich mit ihnen oftmals
lediglich eine neue Ideologie, verbunden mit dem zweifelhaften
Privileg, sich im falschen Leben illusorisch und überheblich als
«befreit» dünken zu dürfen.
Die mutige Selbsterfahrung, von der ich spreche, braucht zuerst
Raum und Zeit und dann eine hilfreiche Aufnahmemöglichkeit.
«Raum» heißt ungestörte Reflexions- und Mitteilungsmöglichkeit,
«Zeit» meint einen langen Weg, im Grunde solange man lebt, als
ständige Herausforderung, sich Zeit zum Nachdenken, Fühlen,
Reflektieren und Integrieren zu nehmen. Eine «hilfreiche
Aufnahmemöglichkeit» sind Menschen, die vorbehaltlos zuhören,
aufzunehmen und zu verstehen bereit sind. Es sind
Beziehungspartner, die nicht bewerten, kritisieren, moralisieren, die
keinen Rat geben, nichts besser wissen und sich nicht mit ihren
eigenen Erfahrungen auf die des anderen draufsetzen. Viele Menschen
stecken in ihren Grübeleien fest; sie finden in der intellektuellen
Diskussion oder moralischen Orientierung keinen Ausgang für sich
selbst, sie brauchen den wohlwollenden Nächsten als Anreger und
Ermutiger, auch als Tränenkissen und Boxsack, der nur empfängt und
bezeugt. Es ist eine der größten mitmenschlichen Leistungen, für den
anderen da zu sein, sich zur Verfügung zu stellen, dabei selbst keine
Ansprüche zu haben oder eigene Interessen zu verfolgen und sich vor
allem nicht einzumischen und sich in keiner Weise von den
abfließenden Affekten persönlich angesprochen zu erleben. Ein
solches altruistisches Interesse entfaltet am ehesten derjenige, der
auch selbst eine solche Chance zur Selbstwahrnehmung und
Selbstmitteilung bekommt und deren Segen kennt. Dann gleichen sich
Geben und Nehmen am ehesten aus, und man ist weniger in Gefahr,
aus dem Motiv eines falschen Selbst heraus helfen zu wollen, etwa um
sich beliebt zu machen, Bedeutung und Anerkennung zu ergattern.
Im Sich-Wahrnehmen und Sich-Mitteilen wird die wichtigste Basis
einer Beziehungskultur gelegt: Es geht um mich, um mein Leben, es
geht um meine Möglichkeiten, meine Fehler und Schwächen. An allen
persönlichen Störungen, Beschwerden und Erkrankungen bin ich
beteiligt. Bei allen Konflikten bin vor allem ich das Problem.
Natürlich gibt es Erkrankungsursachen, die ich nicht zu verantworten
habe, und es gibt Konflikte, die mir von anderen aufgedrängt werden,
Lebensbedingungen, denen ich mich kaum entziehen kann. Aber nur
wenn ich mich selbst als Problemträger und Verantwortlicher
verstehe, bekomme ich die Chancen, eigenständig und
selbstverantwortlich etwas zu meinen Gunsten zu verändern.
Natürlich kann man um Einsicht bei anderen bitten und um
Veränderung der Verhältnisse kämpfen, aber dabei geschieht es
schnell, dass man die Verantwortung verschiebt, sich abhängig macht,
Streit zündelt und Machtgerangel provoziert. Erste Überzeugung muss
stets sein: «Ich bin das Problem!» oder zumindest: «Ich bin ein
wichtiger Teil des Problems!» Das mündet dann in Fragen wie: «Was
ist mein Anteil?», «Was kann ich tun oder unterlassen oder
verändern?»
Wer diesen Ausweg aus dem falschen Leben sucht, der wird
zwangsläufig seinem falschen Selbst begegnen und muss mit allen
emotionalen Reaktionen rechnen, die ihn ursprünglich in das
entfremdete Selbst gezwungen haben. Der Weg der Selbsterfahrung
und Selbsterkenntnis ist mit Angst, Scham, Schuld, Wut und Hass, mit
seelischem Schmerz und Trauer verbunden. Deshalb sind Raum, Zeit,
Ermutigung, Schutz und Empfang so wichtig. Wer an seinem falschen
Selbst rüttelt, wird durch belastende Gefühlsregungen bestraft und
eingeschüchtert. Das falsche Selbst versteht sich auf Abwehr.
Selbstverteidigung, die in einer Gefühlsblockade, rationalen
Erklärungen, intellektueller Begründungsakrobatik oder auch einem
sozialen Schutzwall seitens der Peer-Gruppe bestehen kann, ist für das
falsche Selbst eine Überlebensfrage. In aller Regel lebt es in einem
Milieu, in dem alle etwa einer Meinung sind und keine Chance für
kritisches Nachdenken besteht, keine Ermutigung für eine andere
Perspektive erwartet werden darf bzw. abweichende Meinungen sogar
mit Strafe oder Ausschluss bedroht sind. Man muss aus dem Milieu-
Gefängnis heraustreten und braucht dann professionelle Hilfe, wenn
der meist vorhandene Gefühlsstau eröffnet werden muss. Deshalb ist
es so schwer, sich aus dem falschen Leben zu befreien, aber es ist
nicht gänzlich unmöglich. Der Einzelne kann wieder fühlen lernen.
Anfangs mag therapeutische Hilfe unerlässlich sein. Das falsche Leben
kann nicht einfach überwunden oder gar abgeschafft werden, aber
jeder hat Möglichkeiten, wieder fühlen zu lernen, etwas für die
Annäherung an ein echteres Selbst und ein weniger entfremdetes
Leben zu wagen.
Echte Gefühle fordern einen Ganzkörper-Ausdruck, sind berührend
und ansteckend und unterscheiden sich von den gemachten Gefühlen,
den Ersatzgefühlen, wie sie durch Entertainment produziert und von
Unbeteiligten oft als lästig, störend, als hysterisch-übertrieben und
aufgesetzt erlebt werden. Wer das Fußballspiel sucht, um sich zu
erregen, sich zu ärgern und sich zu erfreuen, wer schreiend einem
Superstar zujubelt, bei dessen Versagen oder Tod das eigene Leben
keinen Wert mehr zu haben scheint, wer sich bei Trennung des
Partners am liebsten das Leben nehmen möchte, wer dazu neigt,
jemanden übermäßig zu verehren oder zu beschimpfen, wer ständig
am Partner leidet usw., der macht auf seine Ersatzgefühle
aufmerksam, die gebraucht werden, um die echte schmerzlich
unerfüllte Sehnsucht oder die bei Strafe verbotene Wut unter
Kontrolle zu halten. Ersatzempörung, Ersatztränen, Ersatztrauer,
Begeisterung für etwas Unwichtiges, Animation und Fun blühen desto
mehr auf, je stärker echte Bedürfnisse ungestillt geblieben und echte
Gefühle an ihrem Ausdruck behindert worden sind.[2]
Selbstwahrnehmung und Selbstmitteilung ziehen fast
unvermeidbar Gefühlsvorgänge nach sich, die nach Entladung
drängen und durch kompetente Begleitung befördert werden sollten.
Nur die Gefühlsentladung erlöst vom Grübeln und befreit aus der
intellektuellen Falle. Der Mensch braucht dann auch keine äußere
Bestätigung und keinen «wissenschaftlichen» Beweis für seine
Entscheidung, weil ein Aha-Erleben möglich ist. Eine situative
Gewissheit bezeugt das wahre Erleben, dass etwas jetzt genau richtig
ist.
Die reinigende und klärende Gefühlsentladung schafft auch die
Basis für die dann notwendige Integration. Integration heißt, das
Erfahrene und Neu-Verstandene in das jetzige Leben einzubauen. Das
bedeutet Veränderung und Entwicklung, Optimierung der eigenen
Möglichkeiten und Akzeptanz der Begrenzungen – also Annäherung
an ehrlicheres Leben. Das veränderte Verstehen und Verhalten wird
immer wieder gegen innere Kräfte des falschen Selbst verteidigt und
vor allem gegen die mächtigen Einflüsse des äußeren falschen Lebens
geschützt werden müssen. Hier liegt die Chance für richtiges Leben
im falschen. Nach jeder erfolgreichen Psychotherapie wird der Patient
seine neuen Erfahrungen, gewonnenen Erkenntnisse und begonnenen
Verhaltensänderungen mit seinen nächsten Angehörigen und in seiner
sozialen Umwelt leben lernen müssen. Dabei entscheidet sich, ob die
wesentlichen Beziehungspartner sich mitverändern können und
wollen oder alles darauf hinausläuft, dass der Status quo der
Beziehungsverhältnisse unverändert erhalten bleibt. Dann wird der
Patient womöglich wieder auf jenen Zustand zurückgeworfen, infolge
dessen er in die Krise geraten oder krank geworden war. Jeder
Mensch ist mit seiner Erkrankung oder Krise immer Teil eines
kranken Systems. In dem Bemühen, in Verbindung mit sich selbst
auch das unmittelbare Beziehungsgefüge zu verändern, liegt für jeden
Einzelnen die einzige Chance, auch die Welt zu verändern.
12 Das wahre Leben

Das wahre, echte Leben zu definieren, gar zu beschreiben, ist sehr


schwierig, weil es so gut wie keiner mehr kennt und es real kaum
noch gelebt werden kann. Zu großer Erziehungsdruck, zu enge
gesellschaftliche Regeln und Werte zwingen praktisch in das Korsett
des falschen Lebens. Natürlich bleibt für jeden mehr oder weniger ein
Freiheitsgrad, sich ein Stück weit zu entziehen oder gar zu
widersetzen. Es sind immer weniger Menschen, die – relativ
unabhängig von den äußeren Werten – gut bei sich bleiben und im
Rhythmus der Erfüllung basaler Grundbedürfnisse eine sich
wiederholende lustvolle Befriedigung erfahren können. Damit sind
nicht unbedingt die Aussteiger der Gesellschaft, die betont
Alternativen, die militanten Protestler und Verweigerer gemeint, die
mit ihrer Lebensform oft nur den Gegenentwurf demonstrieren und,
statt abhängig zu sein, nur gegenabhängig sind und damit überhaupt
nicht in ihrem «wahren Leben» ankommen. Wesentliche Inhalte eines
echten Lebens lassen sich auch ideologisiert missbrauchen, können als
Kampfinhalte oder Attrappen instrumentalisiert werden.
Ein «wahres Leben» lässt sich ausschließlich subjektiv-individuell
finden und wird stets relativ und dynamisch bleiben. Jeder Einzelne
kann sein «wahres Leben» immer nur für den Augenblick subjektiv
erleben, nie vollständig und für immer, sondern nur in einer für die
gegenwärtige Situation optimal möglichen und jederzeit wieder
veränderbaren Form. Das erklärt sich aus der nie endgültig
erforschten seelischen Tiefe und Vielfalt und aus einer nie
vorhandenen sozialen «Reinheit», in der nichts Falsches, Verlogenes,
Gebotenes, Verbotenes, Gefordertes mehr bestehen würde. Aus allen
inneren Ambivalenzen und äußeren Zwängen gilt es, die jetzt beste,
ehrlichste und stimmigste Antwort nur für sich und nur für diese
Situation zu finden. Man hat nie wirklich und endgültig ein «wahres
Leben» erreicht: Zufriedenheit, Glückseligkeit, Weisheit und
«Erleuchtung» sind Begriffe für flüchtige und immer nur relative
psychosoziale oder spirituelle Erfahrungen. Das mag wenig sein und
enttäuschend klingen, doch wer solche Augenblicke der
Übereinstimmung des Innersten mit einer unverfälschten Realität
kennt, weiß um die Glückseligkeit aufblitzender Sinnerfahrung in der
Authentizität des gegenwärtigen Seins.
Ich verstehe «wahres Leben» auch als Resonanz von Energien. Als
Arzt und Psychotherapeut kann ich menschliches Befinden,
Symptome und Erkrankungen «energetisch» verstehen und
beschreiben: als blockiert, gestaut, überladen oder unterladen, als
ungleich und schädigend verteilt, als Dysbalance oder als frei
fließend, etc. Auf die gleiche Weise können wir soziale Kontakte und
die Umwelt energetisch erfahren und beschreiben. Wir kennen dafür
unzählige Begriffe, wie wir eine soziale Situation erleben: offen,
herzlich, gemütlich, frei, inspirierend, hilfreich, unterstützend,
willkommen, ruhig … – oder angespannt, belastend, bedrückend,
unfrei, ängstigend, düster, bedrohlich, behindernd, einschüchternd,
falsch, verlogen, aufgesetzt … Unsere Umwelt ist stets durch
verschiedenste Faktoren energetisch aufgeladen, so dass auch der
Resonanzboden für individuelle Lebensenergie vielfach verzerrt und
gestört ist. Schon deshalb bleibt «wahres Leben» als Dauerzustand
eine Illusion.
Ich formuliere das einerseits so bescheiden, weil ich erkennen oder
sogar erleben musste, wie selbst das ehrlichste Anliegen und die beste
Idee zur Überwindung der Entfremdung des «falschen Lebens», zur
Ideologie erhoben oder gar zum politischen Programm gemacht,
erneut im «falschen Leben» endet, nur in einer anderen Form. Und ich
formuliere andererseits so bedeutungsschwer, weil ich um die Chance
weiß, die jeder Einzelne hat, ein Stück vom echten Leben oder
Augenblicke wahrer Authentizität zu gewinnen. Dazu gehören
Erkenntnis, Mut, Mühen und Gefühle: Wissen und Weinen,
Abgrenzung und Wut, Integration und Lust. Mit «wahrem Leben»
meine ich auch kein «Zurück zur Natur», obwohl es sehr hilfreich
wäre, im Einklang mit Naturgesetzen, mit einer natürlichen Ordnung
zu leben, aber auch das bleibt eine ewige Illusion. Wir sind aus dem
«Paradies» Vertriebene, das ist schon das passende Bild zur
Lebensrealität. Wir werden auf immer zu wenig über die Natur
wissen, wir werden die Ganzheit nie wirklich erfahren können, und
unsere Möglichkeiten für ungestörtes, freies Erleben und für
energetische Resonanz werden immer begrenzt bleiben. Wir sind vor
allem anfällig für Irrtum und Versagen, wenn wir aus ungestillter
früher Bedürftigkeit immer mehr wollen, als zu haben ist und als uns
guttut. Der Mensch ist Natur, aber das ist ihm nicht genug.
Insbesondere wenn seine natürliche Entwicklung durch Erziehung
nachhaltig behindert oder störend beeinflusst ist, dann möchte er
entschädigt werden und glaubt, die Natur (seine eigene und die Natur
insgesamt) beeinflussen, beherrschen, kontrollieren und ausbeuten zu
können.
Wenn wir das Subjektive, das Relative und Dynamische – also das
Vergängliche und Bruchstückhafte eines jeweils einmaligen wahren
Lebensaugenblickes – berücksichtigen, gewinnen wir Hoffnung und
reale Chancen für «wahres Leben» trotz aller inneren und äußeren
Zwänge und Verführungen zum «falschen Leben». Mit der
individuellen Analyse der prägenden Beziehungsqualität unserer
Frühentwicklung erhalten wir auch Koordinaten für «falsch» und
«wahr».

Alles, was sich betont nach außen orientiert – also Geld, Besitz, Macht, Ruhm –, ist geeignet,
ins «falsche Leben» zu führen. Alles hingegen, was sich an innerer Wahrnehmung, Resonanz
und Echtheit orientiert, bietet Chancen für Augenblicke des «wahren Lebens»:

Im bedrohten Selbst ist Existenzberechtigung wahr; Bedrohungserleben hat


zwar eine reale Entstehungsgeschichte, ist aber falsches Leben.
Für das gequälte Selbst ist Frei-Sein wahr; die Akzeptanz, sich besetzen zu
lassen und ausgesaugt zu werden, hingegen falsches Leben.
Im ungeliebten Selbst ist die Liebesberechtigung wahr und die Überzeugung,
nicht liebenswert zu sein, falsches Leben.
Für das abhängige Selbst gehört auch Eigenständigkeit zum wahren Leben;
bloße Abhängigkeit bedeutet falsches Leben.
Das gehemmte Selbst hat ein Recht auf freie Entfaltung; seine Gehemmtheit
ist falsches Leben.
Das ungeförderte Selbst entwickelt sich durch Initiativen und Aktivität ins wahre
Leben; es krankt an Passivität, Bequemlichkeit und Versorgungsmentalität.
Für das überforderte Selbst ist Begrenzung die Wahrheit; der unbedingte
Steigerungs- und Siegeswille hingegen Ausdruck des falschen Lebens.
Mit «Beziehungskultur» (siehe Kapitel 25) fasse ich den möglichen Weg zu «wahrem Leben»
zusammen:

sich selbst erkennen;


die Entwicklungsbedingungen verstehen;
die Verletzungen, Bedrohungen, Kränkungen und Einschüchterungen
emotional verarbeiten, das heißt, Wut, Hass, seelischen Schmerz und Trauer
geschützt und begleitet zum Ausdruck bringen zu können.

Wer seinen berechtigten Hass nicht zeigen kann oder darf, dem wird
jede Chance auf Gewalt recht sein. Wer seinen seelischen Schmerz
nicht zulassen kann, der wird bedürftig bleiben und ein
willkommenes Opfer für alle Versprechungen und Verheißungen sein:
der Karrierist und Konsument an sich! Wer nicht zu trauern gelernt
hat, wird selbst unglücklich bleiben und stets daran interessiert sein,
für Unglück zu sorgen.
Erkennen – verstehen – fühlen; das Ungeübte erlernen und das
individuell Tabuisierte und Verbotene zu tun wagen, darin besteht
der nie endende Weg zum «wahren Leben». Gesetzlich festgelegte
Gebote und Verbote können eine Orientierungshilfe sein für richtiges,
wahres Leben. Sie können aber genauso eine schwere
Beeinträchtigung für die Chancen authentischen Lebens darstellen
und nahezu ins «falsche Leben» zwingen.
Ein Gesetzesbruch kann schweres Verbrechen bedeuten oder
notwendige Befreiung. Ein solcher Zwiespalt kann etwa bei einem
militärischen Einsatz existenzielle Bedeutung erlangen, wenn
Befehlsverweigerung mit schwersten Sanktionen bis zur Todesstrafe
verfolgt wird, es aber geboten wäre, einem verbrecherischen Befehl
nicht zu gehorchen. Arbeitsbedingungen müssen meistens akzeptiert
werden, um nicht entlassen zu werden, aber Kritik,
Verbesserungsvorschläge oder auch gewerkschaftlicher Kampf können
wichtige Bemühungen sein, um nicht zu erkranken und bessere
Arbeitsbedingungen zu schaffen. In einer Partnerschaft sollten
unterschiedliche Bedürfnisse akzeptiert werden, um die Beziehung
nicht im Streit zu ersticken.
Gute Absprachen, Kompromisse und einfühlsame Kommunikation
können helfen, die Beziehungschancen bei aller Begrenzung auch zu
sichern und zu gestalten. Politiker stehen permanent unter
Entscheidungsdruck, ohne die Folgen ihres Handelns überschauen zu
können. Und jeder Einzelne muss sich ständig zwischen innerer
Einengung, äußeren Anforderungen und der nie gestillten Sehnsucht
nach Glück, Zufriedenheit und Entspannung einen Weg bahnen.
Teil III
13 Normopathie

Seit meiner Jugend hat mich die Frage des Mitläufertums bewegt.
Noch im Nationalsozialismus 1943 geboren und zweijährig aus dem
damaligen Sudetenland nach Sachsen vertrieben, war die Not der
Eltern lange Zeit eine absolute Bremse für kritische Nachfragen. Erst
mit der Kraft pubertärer Sinnfragen suchte ich nach Antworten, wie
es sein kann, dass eine Mehrheit der Deutschen begeistert in den
Krieg gezogen ist, die Vernichtung der Juden aktiv mitvollzogen oder
passiv geduldet hat. Ich habe mich gefragt, wie es zu einem
Rassenwahn kommen kann, mit «Herrenmenschen» und
«Untermenschen». Erst sehr viel später – als Psychotherapeut – war
mir das Wissen um schwere narzisstische Störungen mit einem
«Größenselbst» und Abwertung jedes anderen hilfreich, die darin
steckende schwere Pathologie prinzipiell zu erkennen. Trotzdem
schien es undenkbar, diese «Krankheit» für die Mehrheit der
Deutschen zu diagnostizieren.
Meine kritischen Fragen wurden von den Eltern abgewiegelt, die
tschechische Schuld der Vertreibung der Deutschen mit allen
persönlichen Verlusten, die die Familie hinnehmen musste,
dominierte alle kritische Selbstreflexion. Ich bin mir ziemlich sicher,
dass die Suche nach Antworten meinen Berufswunsch, Arzt,
Psychiater, Psychotherapeut zu werden, wesentlich beeinflusst hat.
Dazu kam die neue irrwitzige Unterrichtung in der Schule, dass wir,
angeblich kollektiv in der Tradition des Antifaschismus stehend, jetzt
mit dem Sozialismus die besseren Menschen seien und im Westen
Deutschlands die Nazis als Revanchisten weiterlebten. Das war alles
sehr fragwürdig: Ich wollte nicht wahrhaben, dass ehemalige
Nationalsozialisten jetzt am Aufbau und der Ausgestaltung eines
demokratischen Staates im Westen wesentlichen Anteil haben
könnten, und erst recht war ich nachhaltig davon irritiert, wo denn
die Nazis in der DDR verblieben seien. Alle in den Westen geflüchtet?
Es gab keine überzeugenden Aussagen und Antworten! Das hat sehr
dazu beigetragen, misstrauisch-suchend zu bleiben und in den neuen
autoritär-repressiven Gesellschaftsstrukturen der DDR eine
unheimliche Verwandtschaft mit der Vergangenheit zu entdecken. Ich
war überzeugt, dass die Vergangenheit überhaupt nicht verstanden
oder gar «bewältigt» sei, dass alle Proklamationen von Frieden,
Sozialismus hohle Phrasen blieben – durch nichts im Alltag bestätigt
–, denn dieser Alltag war keineswegs friedlich und sozial gerecht. Das
Recht, die Macht und die Privilegien sowie auch die Verfolgung
Andersdenkender, das war lediglich neu gemischt und anders verteilt.
Die erste wesentliche Bestätigung meiner Vermutungen einer neuen
Fehlentwicklung auch in der Bundesrepublik gewann ich durch die
Achtundsechziger-Studentenbewegung, über die ich so viele
Informationen sammelte, wie nur zu bekommen waren. Etwa
zeitgleich war aufgrund des «Prager Frühlings», den ich hautnah
miterleben konnte, zu erkennen, dass der «real existierende
Sozialismus» eine neue schwere Massenpathologie verkörperte. Als
ich dann Wilhelm Reichs «Charakteranalyse» und «Die
Massenpsychologie des Faschismus» studiert und verstanden hatte,
fiel es mir leicht, einen ersten psychopolitischen Essay zur
«Massenpsychologie des Stalinismus» zu verfassen.
Irgendwie war mir der Begriff «Normopathie» bekannt geworden.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie und wann, aber es könnte sein,
dass er bereits von Viktor von Weizsäcker und Hannah Ahrendt in der
Auseinandersetzung mit dem Eichmann-Prozess benutzt worden ist.
Mit ihrer Einschätzung von der «Banalität des Bösen» hatten sie starke
Ablehnung erfahren, damit aber genau meine eigene Einschätzung
bestätigt, dass «die Bösen» keine geborenen Monster sind, sondern
Durchschnittsbürger, die aus psychosozialer Selbstentfremdung fähig
werden, Verbrechen zu begehen, deren psychosoziale Störung aber
nicht mehr erkannt wird, wenn eine Mehrheit davon betroffen ist.
Auch der Psychotherapeut Wolf Büntig, der in der von mir geleiteten
Psychotherapieklinik der Diakonie Halle eine
körperpsychotherapeutische Weiterbildung durchführte, hatte den
Begriff der «Normopathie» verwendet. Zitat nach persönlicher
Mitteilung: «Ich verstehe darunter die Psychodynamik, in der wir als
Preis für Zugehörigkeit unser Wesen – verkörpert als Eigenart –
verraten und nach den Normen derer leben, von denen wir dereinst
abhängig waren und von denen wir uns heute abhängig wähnen.»
Mit «Normopathie» hatte ich endlich eine Erklärung gefunden, wie
sich massenhaftes Mitläufertum und Mittäterschaft – wider besseren
Wissens, trotz einer Ahnung vom falschen oder sogar bösen Tun –
verstehen lassen. Wenn Menschen durch Erziehungsnormen, durch
politisch-ideologische Repression oder ökonomische Verführung
mehrheitlich in ein politisch gewünschtes oder ökonomisch
notwendiges Verhalten gedrängt werden, kann eine kollektive
Krankheit entstehen, die keiner mehr wahrhaben will und nur noch
wenige erkennen können. Letztere werden dann aber sofort gemobbt,
ausgegrenzt, beschimpft und diffamiert. Die wesentliche Kraft für
kollektive Anpassung vom Political-correctness-Verhalten bis zum
Mitläufertum ist der überlebensnotwendige Wunsch, dazuzugehören
und auf keinen Fall ein Außenseiter zu sein, der bedroht, beschimpft
und ausgegrenzt wird. Der Wunsch der Zugehörigkeit – nach sozialer
Gemeinschaft, nach sozialer Bedeutung und Bestätigung – ist ein
soziales Grundbedürfnis des Menschen, auf das keiner ohne
nachteilige Folgen verzichten kann. Regeln, Gesinnungsprüfungen,
Mutproben, Lippenbekenntnisse, Treuebeweise, aber auch Feiern,
Rituale, Gelöbnisse, Auszeichnungen und Verehrung, Lob und Tadel
sind sehr wirksame Mittel, um Zugehörigkeit zu erleben, und sie
lassen sich sehr leicht missbrauchen. Wir müssen nur die vielfältigen
Selbst-Störungen bedenken, um zu verstehen, wie pathologisch der
Sog der Zugehörigkeit werden kann. Im schlimmsten Fall werden
dann völlig normale, durchschnittliche Menschen zu Verbrechern und
Mördern. Würde es der Politik gelingen, hinsichtlich der
Gruppenzugehörigkeit und den sozialen Status des Einzelnen optimale
Bedingungen zu schaffen, wäre ein wesentlicher Schritt getan, die
große Zahl junger Menschen aus der kranken Zugehörigkeit zur
Drogenszene, zur politischen oder religiös begründeten Radikal- und
Gewaltszene zu befreien.
Auch die aktuelle Krise unserer Gesellschaft ist Ausdruck einer
«Normopathie». Qualitative Beziehungsstörungen in der
Frühbetreuung sind wesentliche Ursache für die Entstehung falscher
Selbst und eine Mehrheit falscher Selbst gestaltet eine kollektive
Normopathie, die von ideologisch Verblendeten, ökonomisch
Abhängigen und süchtigen Konsumenten geprägt wird. Da die
Mitläufer und Mittäter in der Mehrheit sind, haben sie auch kein
Schuldbewusstsein. Extremisten jeder Art sind immer nur die Spitze
des Eisberges – nie nur einige wenige Verirrte oder Verwirrte – und
als solche wichtige Indikatoren des gesellschaftlichen Zustandes.
Alarm! Alarm!, möchte man da heute nur noch rufen, aber das wäre
wahrscheinlich bereits «populistisch» oder ich wäre ein «Extremisten-
Versteher», der nicht ernst zu nehmen ist oder gar bekämpft werden
muss. «Normopathie» ist die Anpassung an mehrheitliche Meinungen
und Positionen, nicht weil diese etwa wahr sind oder als beste
Möglichkeit das Leben sichern, sondern weil das «falsche Leben»
damit am besten kaschiert und verleugnet werden kann. Was alle
denken und tun, kann ja auf keinen Fall falsch sein und ist sicher die
beste allgemeine Orientierung. «Lügenpresse» ist ein Vorwurf gegen
normopathische Berichterstattung. Dabei muss es gar nicht einmal um
«Lügen» gehen, es genügen schon einseitige und tendenzielle
Darstellungen, das Weglassen von Informationen, das Aussparen
kritischer Reflexion und dominierende Bewertungen. Eine mediale
Manipulation beginnt harmlos – albern, wenn beispielsweise Dieter
Bohlen nur noch mit der Bezeichnung «Pop-Titan» erwähnt wird; sie
wird bereits tendenziös, wenn eine politische Gruppierung festgelegt
wird mit Bezeichnungen wie «linksextrem» oder «rechtspopulistisch»,
und sie transportiert schon eine bedenkliche Ideologisierung, wenn
etwa das «Betreuungsgeld» fast automatisch als «Herdprämie»
diffamiert wird.
Die Auflösung demokratischer Strukturen beginnt, wenn jeder
substanzielle Protest mit einer Schlagwortkeule, z.B. «populistisch»,
«rechtsextrem», «rassistisch» oder «sexistisch» moralisierend
abgewertet und zum Schweigen gebracht werden soll. Demokratie
lebt von der Opposition! Opposition muss gepflegt werden, gehütet,
beschützt und gefördert werden, sonst stirbt auch die Demokratie.
Protest ist das notwendige «Salz», um unser Leben schmecken zu
können. Die Opposition zu beachten und zu achten ist die wichtigste
Pflicht der Machtpolitik, um einen Spiegel und ein Regulativ für die
notwendigen Entscheidungen zu erfahren. Das muss auch und gerade
für Kritik gelten, die völlig unsachlich, überzogen und ehrverletzend
ist. Je auffälliger ein Protest ist, desto notwendiger wird die kritische
Analyse der Entstehungsursachen. Notwendige Strafverfolgung und
eindeutige Abgrenzung ersparen nicht das Analysieren und Verstehen
des Protestes und ein hilfreiches Reagieren auf die Inhalte. Politiker,
die Protest beschimpfen, statt ihn verstehen zu wollen, verletzen
ihren politischen Auftrag. Die bloße Diffamierung von Protest ist ein
ziemlich sicheres Zeichen für das Schutzverhalten eines falschen
Selbst, das sich durch Kritik als bedroht erlebt, weil dadurch die
eigene Abwehr und Kompensation verunsichert wird. «Alternativlos»
als politische Position ist der Totengräber der Demokratie.

Im falschen Selbst ist der Mensch auf jeweils spezifische Erlebens- und
Denkweisen eingeengt, die im Gruppendruck mit verwandten Selbst-
Störungen die gesellschaftliche Normopathie prägen. Unbewusst
werden die verhinderten (ungelebten, unterdrückten, tabuisierten,
verbotenen) Selbst-Anteile jedoch immer nach Entfaltung streben. Das
führt zu Krisen, Konflikten und Erkrankungen, die sich am häufigsten
ganz individuell entwickeln, aber auch in unbewusster Resonanz mit
prinzipiell ähnlichen Selbst-Störungen in einer kollektiven
Fehlentwicklung Erlösung und Befreiung suchen.
Das falsche Leben wird von Menschen mit falschem Selbst getragen. Die
massenpsychologisch wirksame Dominanz bestimmter Selbst-Störungen formt auch die
jeweilige Spezifik einer normopathischen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der dargestellten
Differenzierung der unterschiedlichen Selbst-Störungen mit ihren wesentlichen Ursachen
werden auch typische Tendenzen einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung verständlich:

Das bedrohte Selbst wird immer bemüht sein, das tiefe Bedrohungsgefühl
unspezifisch abzuführen, um die erlittene Bedrohung wettzumachen. Dazu
braucht es Feinde, gegen die es seinen Hass richten kann. Aus dem Bedrohten
wird der Bedroher, der eine gewaltbereite Normopathie braucht, sucht und
ausgestaltet. Der «Kalte Krieg» war ein Musterbeispiel dafür.
Das ungeliebte Selbst wird sich immer anstrengen, für Leistungen «geliebt» zu
werden oder die innerseelische Verkümmerung von anderen pflegen zu lassen.
Der Vernachlässigte will beweisen, dass ihm Unrecht geschehen ist; mit Trotz und
demonstrierter Schwäche will er anderen Zuwendung abringen. Der Ungeliebte
wird zum Erfolgsmenschen in einer normopathischen Leistungsgesellschaft oder
zum Bedürftigen in einem Sozialstaat, der keine Forderungen mehr stellt.
Das abhängige Selbst wird immer Vorgesetzte suchen, bei denen es sich beliebt
machen oder unter denen es permanent leiden kann, weil man angeblich nichts
selbständig entscheiden darf. Ständig wird es gegen «oben» jammern, klagen und
schimpfen. Der Abhängige braucht Führer in persona und Führung durch
Gruppen, Parteien, Institutionen; er wird immer allen Moden und Trends frönen.
Der Abhängige wird Verehrer und Fan, er ist der typische Beratungsklient, aber
auch stets bereit zu Ernüchterung, Enttäuschung und Nörgelei.
«Muttervergiftung» schafft die Grundlage für eine erfolgreiche Marktwirtschaft und
für menschenfeindliche Konkurrenzstrukturen: Bist du erfolgreich und kannst
kaufen und bezahlen, wirst du von allen Seiten umschmeichelt und umworben.
Bist du Verlierer und verarmt, wirst du fallen gelassen und verachtet. Der
Abhängige ist der Mitläufer aller möglichen Normopathien.
Das gehemmte Selbst ist der Untertan par excellence: das willfährige und
dienstbare Mitglied, der Soldat, der gerne Befehlen gehorcht, der Konsument, der
der Werbung verfällt, ein Mensch, der gerne Anweisungen und Empfehlungen
folgt, immer bemüht, in der Masse mitzuschwimmen, ja nicht aufzufallen, in Ruhe
gelassen zu werden, möglichst nicht viel nachdenken zu müssen, sich nur
einordnen und dazugehören wollen. Aber immer wird hinter der Maske des
Angepassten ein Gefühlsstau voller Aggressivität wegen der erlebten Repression
und nicht entfalteter Expansivität und Kreativität verborgen sein. Der Gehemmte
ist der Unscheinbare, aber immer auch ein potentieller Amokläufer (in welcher
Form auch immer). So erschrecken alle sehr und verstehen die Welt nicht mehr,
wenn «der Stille» plötzlich laut wird, wenn «der Liebe» unerwartet zuschlägt, der
allseits beliebte «Helfer» zusammenbricht, der unermüdlich «Fleißige» alles
hinschmeißt und der «brave Familienvater» und «treue Ehemann» plötzlich
wegen einer Geliebten die Familie verlässt.
Das vernachlässigte Selbst ist nicht erwacht, nicht gefördert und gefordert
worden, es bleibt träge, passiv, mag keine Anstrengungen, keine Pflichten und
Verantwortung. Aufgrund der vorhandenen Orientierungs- und Ziellosigkeit und
bei ausbleibenden Erfolgen und mangelnder Anerkennung belastet es als
neidischer Störer, Stänkerer mit vorwurfsvollen Ressentiments gegen die
Fleißigen und Angestrengten die Sozialbeziehungen. Vernachlässigung fördert
Faulheit und Neid und bildet massenpsychologisch eine Normopathie mit
passiven Versorgungserwartungen.
Das überforderte Selbst kennt keine Grenzen, keine wirkliche Entspannung und
Ruhe, ist im ständigen Anstrengungsstress für weitere Erfolge. Es wird aber immer
auch mit Arroganz auf die Loser herabsehen und ist in Gefahr, die eigene Qual in
Missgunst und Feindschaft gegen Konkurrenten zu verwandeln und
Schadenfreude gegenüber Verlierern zu empfinden. Der Überforderte neigt als
Gewinner oder Verlierer zur Selbstüberhöhung oder Selbstabwertung, verbunden
mit egoistischer Selbstbezogenheit und sozialer Distanziertheit – der Nächste ist
immer irgendwie Konkurrent. Seine Normopathie ist die entgrenzter
Wachstumssucht und entfesselter Profitgier.
Was alle falschen Selbst auszeichnet, sind die sozialen Beziehungsstörungen mit einem
erheblichen Aggressionspotential.

Häufen sich spezifische Selbst-Störungen, wie sie durch Erziehung,


politische Macht, religiöse Repression und wirtschaftliche Zwänge
erzeugt werden, kann auch eine gesellschaftliche Fehlentwicklung
massenpsychologisch erklärt werden. Dem Einwand eines
übertriebenen «Psychologisierens» halte ich entgegen, dass natürlich
eine gesellschaftliche Normopathie immer ein komplexer Prozess aus
vielen Faktoren ist, dass aber alle bedeutungsvollen Einflüsse von
Menschen gemacht, behauptet, verteidigt und durchgesetzt werden.
Das heißt für mich auch, dass es immer grundlegende psychologische
– besser: psychosoziale oder psychopolitische – Motive gibt, die das
Handeln und Entscheiden der Menschen beeinflussen. So lässt sich
aus der Analyse der Psychodynamik von Zuständen und
Entwicklungen immer auch ein tieferes Verständnis finden mit einer
Chance, Fehlentscheidungen als Symptome der falschen Selbst zu
erkennen und zu verändern. Wenn wir Politik, Ökonomie und
Religion mit ihren Auswirkungen auf die realen Machtverhältnisse
immer als von Menschen gemacht verstehen, bekommen wir
Erkenntnisse, die uns eine kausale oder basale «Therapie» erlauben.
Auf diese Weise könnten wir den oft sinnlosen Streit auf
Symptomebene begrenzen. Denn Pro und Contra im Meinungsstreit,
selbst Alternativvorschläge oder pionierhaft neue Ideen bleiben
stecken, wenn nicht auch die psychodynamisch begründeten Motive
der jeweils vertretenen Position mit erforscht werden. Nur so lassen
sich auch die grundlegenderen Probleme, die sich häufig hinter einer
kämpferischen Position verbergen, erkennen. Ausschließlich mit
rationalen Argumenten ist einer normopathischen Gesellschaft nicht
beizukommen. Dann wuchert sie fast immer wie ein krebsiger Tumor,
dessen Ursprung nicht mehr erkannt wird. Dann wird auch nicht
mehr gesehen, dass eine politische Entscheidung wie ein aufgeblähter
Koloss auf schwächlichen Beinen oder wie ein Riesengebäude auf
unsicherem Grund stehen kann.
14 Die deutschen Normopathien

Mein Vorhaben in diesem Kapitel ist es, eine massenpsychologisch


wirksame Psychodynamik für die deutschen Gesellschaftspathologien
in der Vergangenheit und dann für die aktuelle deutsche Normopathie
aufzuzeigen. Der deutsche Nationalsozialismus erklärt sich mir als
Konsequenz von mehrheitlich bedrohten und ungeliebten Selbst. Die
deutsche Gesellschaft verstand sich mehrheitlich als bedroht.
Stichworte dafür sind etwa: «Versailler Verträge», «Volk ohne Raum»,
«jüdische Vorherrschaft». Diese ideologisch aufgeladenen
«Argumente» dienten als Vorwand, um den massenhaft vorhandenen,
innerlich bedrohten Selbst äußere Erklärungen zu geben, um nun
selbst zum Bedroher zu werden.
Mit dem Rassenwahn vom arischen Übermenschen konnten die
weitverbreiteten Selbstwertstörungen und Minderwertigkeitsgefühle
aus autoritär-repressiver Erziehung in einer kollektiven
Überheblichkeit kompensiert werden. Wie krank muss eine
Gesellschaft sein – das heißt, wie krank müssen unsere Eltern und
Großeltern gewesen sein, deren Nachkommen wir sind! –, um
begeistert in den Krieg zu ziehen, bereit zum Völkermord zu sein, real
zu morden und zu vernichten – nicht zu vergessen die Bespitzelung
und Denunziation, Inhaftierung und Erschießung der
andersdenkenden Nächsten. Der aufgestaute Hass der bedrohten und
ungeliebten Selbst hat sich wie in einem kollektiven Blutrausch
entladen. Die Macht autoritärer Strukturen, eine Ideologie, die
Heilung der gekränkten Seelen verspricht, eine Befehlslage und die
massenpsychologisch zwingende Macht «politischer Korrektheit»
waren die psychodynamisch wirksamen Faktoren der Borderline-
Normopathie des deutschen Nationalsozialismus.
Ohne die Ansammlung individueller Schuld ist eine
hochpathologische Gesellschaftsentwicklung nicht zu erklären, und
ohne die Erkenntnis, die Akzeptanz und heilsame Verarbeitung der
ganz persönlichen Beteiligung am destruktiven, verbrecherischen
Wahn gibt es keine wirkliche Reife. Das heißt nichts anderes, als dass
jeder Deutsche den Nazi, den Kriegsverbrecher, den Judenvernichter
in sich selbst finden muss, um diesen Anteil des eigenen Bösen – als
Symptom des falschen Selbst – heilsam zu integrieren oder behandeln
zu lassen.
Meine berufliche Erfahrung als Psychoanalytiker erlaubt mir eine
mögliche Deutung, deren Wahrheitsgehalt nicht verifizierbar ist, da es
den Patient «Deutschland» nicht gibt, sondern nur die «kranken
Deutschen». Das falsche Selbst tobt sich in aller Regel im
organisierten falschen Leben mit Pseudo-Erfahrungen
kompensatorisch aus oder reagiert die aufgestaute Aggressivität gegen
vermeintliche Feinde ab. Zum Feind werden dann am liebsten
Fremde, Andersdenkende, sozial Schwächere gemacht. Oder es
werden reale Schwächen und Fehler von anderen benutzt und
aufgebauscht, um sich mit dem vollzogenen Unrecht im Recht fühlen
zu können. Das ist aber immer nur die eine – verbrecherische – Seite;
die andere besteht in der unterdrückten Energie des «wahren Selbst»,
doch zum Leben, zu seinem Recht zu kommen und die anerzogene
und aufgezwungene Entfremdung zu überwinden. Dafür dienen
Krankheiten, die häufig einen Konflikt zwischen «wahrem» und
«falschem Selbst» signalisieren. Das Kranksein wird zur Chance für
Erkenntnis und Veränderung – wenn sie genutzt wird, was ein
zentrales Ziel psychodynamischer Therapie ist. Das führt mich zu der
möglichen Deutung, dass eine kranke Gesellschaft erhebliche
Energien aufgestaut hat, um gesunden zu wollen. Die Krankheit der
nationalsozialistischen Gesellschaft wären dann der angezettelte
Krieg, die Völkervernichtung, die vielfachen Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, um endlich in der Niederlage, in der Zerstörung vom
«Bösen» befreit zu werden. Der Untergang des Dritten Reiches wäre
dann die unbewusst gewollte und vollzogene Befreiung durch
Selbstzerstörung der falschen Selbst. Welche Tragödie, welche
Perversion, die mir aber mit dem Wissen um die mörderischen Kräfte
von Wut, Hass und Vernichtung im einzelnen Menschen mit
bedrohtem und ungeliebtem Selbst durchaus vertraut sind! Und wie
illusionär, wie irrwitzig zu glauben, man könnte nur durch
Veränderung des gesellschaftlichen Überbaus, durch verordnete
äußere Demokratie die destruktiven Kräfte langfristig binden oder
sogar heilen.
Im real existierenden Sozialismus der DDR sehe ich eine
vergleichbare gesellschaftliche Fehlentwicklung, im Grunde eine
Fortsetzung der vorausgegangenen Normopathie mit einer anderen
Fassade, ohne dass von den Ostdeutschen eine tiefere Erkenntnis und
individuelle Schuldanerkenntnis der Beteiligung am
Nationalsozialismus gefordert worden wäre. Ganz im Gegenteil: Mit
der ideologischen Errichtung eines kommunistischen Ideals waren alle
DDR-Bürger automatisch von individueller Schuld befreit, da sie ja
jetzt in einem erklärten und demonstrierten «antifaschistischen» Staat
lebten. So war in beiden deutschen Staaten durch den Willen der
Siegermächte Demokratie ohne Demokraten etabliert worden. Die
«Entnazifizierung» erfolgte, ohne die Wurzeln in den falschen Selbst
zu erkennen.
In der DDR wucherten erneut autoritär-repressive Verhältnisse in
der ganzen Gesellschaft. Bald dominierte wieder eine ideologisch-
verlogene Herrschaft mit Einschüchterung durch Bespitzelung,
Denunziation, Bedrohung und Strafen. Erneut wurden
Andersdenkende verfolgt; Anpassung und Unterwerfung wurden mit
Karriere belohnt. Damit konnten sich die weder erkannten noch
verstandenen bedrohten, ungeliebten und gehemmten Selbst in ihrer
Gestörtheit erneut ausformen. Der Sozialismus wurde zu einer neuen
normopathischen «Blüte» geführt, wobei die unveränderte strukturelle
Selbst-Störungsbasis einer Mehrheit der Bevölkerung die Grundlage
bildete. Erneut wurden die Energien gesunder Selbst-Ressourcen
unterdrückt, so dass ich mir auch hier die Deutung erlaube, dass der
ideologische und wirtschaftliche Zusammenbruch des Systems als ein
Resultat der unbewussten Kräfte des wahren Selbst erfolgte. Dazu
passen die zunehmende Verweigerung der DDR-Bürger, ihr passiver
Widerstand, der Schlendrian, der Abfall vom Glauben an soziale
Gerechtigkeit und die Friedfertigkeit des Sozialismus, mit der Folge,
dass das System kollabierte. Die Proteste der «friedlichen Revolution»
von 1989 haben nicht den Untergang der DDR bewirkt, sie waren
lediglich die Begleitmusik der Dekompensation des falschen Lebens
mit einer leider nur sehr kurzen Chance der Selbsterkenntnis und
Selbstheilung durch die auflebenden Ressourcen gesunder
Selbstanteile. Aber die befreiende Botschaft des «Wir sind das Volk»
wurde rasch aufgrund der Angst vor der Erkenntnis und Anerkennung
individueller Schuld und den daraus folgenden notwendigen
Selbstveränderungen mit dem Mehrheitsruf «Wir sind ein Volk»
wieder erstickt. Hinsichtlich der Chancen der Reifung hatte das einen
wesentlichen Schönheitsfehler: Die Hoffnung auf den Westen war
verbunden mit der Illusion, passiv vom Bösen erlöst und vom Mangel
befreit zu werden, ohne bittere Selbstkritik und mit der Illusion, keine
Selbst-Entwicklung vollziehen zu müssen. Erneut wurde die
psychodynamische Grundlage in den Selbst-Pathologien als Ursache
der sozialistischen Normopathie nicht erkannt. Der politische
«Beitritt» hat praktisch nur eine neue Anpassung verlangt, aber keine
Analyse ost- wie westdeutschen falschen Lebens.
Dieser Erkenntniswiderstand ist allerdings störungsimmanent. Es
geht darum, die eigene schuldhafte Beteiligung an den
Gesellschaftspathologien zu leugnen und das Erkennen und
Akzeptieren der Selbstbschädigungen um jeden Preis zu vermeiden.
Die Vereinigung mit der BRD sollte alles tilgen, äußere Freiheiten
sollten die innere Unfreiheit verbergen. Ernüchterung und
Enttäuschung folgten für viele schon nach kurzer Zeit. Aber auch das
führte bei der Mehrheit nicht zur Selbsterkenntnis, sondern zur
trotzigen Vorwurfshaltung an den Westen. Diese konnte einerseits
zwar investigativ sein, produzierte andererseits auch neue
hochpathologische Symptome (z.B. NSU, kriminelle Delikte gegen
Asylbewerber und Fremde, Wirtschaftskriminalität im
Vereinigungsprozess und jetzt anwachsende gewalttätige, hassvolle
Auseinandersetzungen in der gespaltenen Gesellschaft).

Die normopathische Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft sehe ich in mehreren


Phasen:

1945–1968
Es war die Zeit der Reinstallation eines zunächst wieder autoritären
Systems, mitgetragen von den ehemaligen Eliten des
Nationalsozialismus, unter Verordnung einer äußeren Demokratie
durch die Westmächte und einer sehr fragwürdigen, insuffizienten
«Reeducation» der Westdeutschen. Nach meiner Einschätzung ist das
«bedrohte Selbst» durch die neuen freiheitlichen Verhältnisse
beruhigt, wenn auch nicht «geheilt» worden; das «ungeliebte Selbst»
konnte seine gekränkte Energie in die Wirtschaftswunder-Chance
stecken und symptomatisch großartige Erfolge feiern: Profit und
Konsum wurden zur Droge – weg vom rassistischen Größenwahn und
hin zur wirtschaftlichen Größensucht!
In der Nachkriegszeit dominierten die Abwehrmechanismen des
Vergessens, Verschweigens und Nicht-wahrhaben-Wollens; denn die
tiefsitzende Identifikation der Mehrheit der deutschen Bevölkerung
mit dem Nationalsozialismus durfte auf keinen Fall als persönliches
Problem des falschen Lebens (des eigenen falschen Selbst) entdeckt
werden. Der gewünschte und auch verständliche Schutz der Selbst-
Störungen hat eben zwangsläufig auch das verbrecherische Handeln
verleugnen wollen. Eine nur ritualisierte allgemeine Schuld- und
Erinnerungskultur ist nicht wirklich befreiend und reinigend, wenn
individuelle Entfremdung und Verstörung unangetastet bleiben.
Die Studentenrevolte der Achtundsechziger hat sich vor allem von
den autoritären Strukturen der Elterngeneration, die fortlebten,
befreien wollen und hat eine Optimierung der äußeren Demokratie
zustande gebracht. Das wesentliche Problem der Protagonisten der
Studentenbewegung und erst recht ihrer Mitläufer lässt sich als
Gegenidentifikation verstehen. Der Angriff auf die autoritären und
schuldbeladenen Väter erfolgte vor dem Hintergrund einer
Identifikation mit geborgten anderen Autoritäten (Che Guevara, Ho
Chi Minh), ohne die eigene Selbstentfremdung zu erfassen und
auflösen zu wollen. Die verhängnisvolle Rolle der «deutschen Mutter»,
die gravierenden Mütterlichkeitsstörungen wurden so gut wie
überhaupt nicht thematisiert, da wäre die individuelle Betroffenheit
existenziell geworden. Die Abwehr dieser Gefahr hat sicher auch den
feministischen Kampf befeuert, mütterliche Schuld in sozialer und
beruflicher Gleichberechtigung auflösen zu wollen.
Eine innere Demokratisierung im psychodynamischen Sinn durch
Klärung der Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen im
Einzelnen war weder Programm noch Ziel, ganz im Gegenteil.
Wesentliche Protagonisten der Achtundsechziger-Bewegung blieben
im eigenen Autoritarismus befangen, in dem Glauben, mit neuer
Gewalt und Terrorismus die alten Verhältnisse überwinden zu
können. Sie fühlten sich im Recht und taten neues Unrecht! Statt
innerer Erkenntnis und Befreiung neue repressive Ideologie und
verbrecherische Gewalt! Das ähnelte der neuen repressiven Tendenz
im Sozialismus der DDR. Die äußere Demokratie der Bundesrepublik
war aber inzwischen differenziert und stark genug, um den Terror
abwehren zu können, vor allem mit der durchsichtigen Strategie, dem
«ungeliebten Selbst» im «Marsch durch die Institutionen» zu
Anerkennung, Geld und Macht zu verhelfen – vielleicht am besten
symbolisiert in Joschka Fischer, dem «Minister in Turnschuhen». Die
alten Achtundsechziger höre ich mitunter in ähnlicher Weise von
ihrer «Revolution» schwärmen wie viele Ostdeutsche von der
«friedlichen Revolution» von 1989, verbunden mit der
Selbstsuggestion, dadurch an psychischer Reife gewonnen zu haben,
ohne die neue Selbstanpassung an das «falsche Leben» zu realisieren.

1968–1989
Mit und durch die Achtundsechziger-Bewegung waren die äußeren
demokratischen Verhältnisse weiter ausdifferenziert worden und
hatten mehrheitliche Zustimmung gefunden. Der normopathische
Charakter war durch den Sozialstaat, «Wohlstand für alle», den
Konsumrausch und vor allem mit wachsender Liberalität nahezu
unkenntlich geworden. Die Emanzipation der Frauen, ihre
gesellschaftliche und berufliche Gleichberechtigung, die
Liberalisierung der Sexualmoral mit Akzeptanz unterschiedlicher
sexueller und partnerschaftlicher Lebensformen, die Kultivierung der
Meinungsfreiheit mit einer pluralen medialen Ausgewogenheit, die
Reisefreuden und die lebendige streitbare Demokratie mit neuem
wachsenden Ansehen der Deutschen in Europa und der Welt haben
den Fortbestand der Normopathie überdeckt.
Um die Pathologie des falschen Lebens zu hinterfragen, bedurfte
es wegen der normopathischen political correctness der Mehrheit schon
einigen Mutes. Da waren etwa das Feindbild Sozialismus und
Kommunismus einerseits, die überzogene Verehrung und
Kritiklosigkeit gegenüber den USA andererseits, die wachsende
soziale Spaltung zwischen Arm und Reich, die erkennbare
Umweltzerstörung und die Ausbeutung billiger ausländischer
Produzenten, aber auch auffällige Fehlentwicklungen in Deutschland
selbst, so die Macht eines kinderfeindlichen Feminismus mit
Ablehnung notwendiger guter Mütterlichkeit, ein absurder
Geschlechterkampf in der Gender-Mainstream-Ideologie, eine
allmähliche Entfernung der politischen Klasse von den Bürgern und
zunehmende Wirtschaftskriminalität, vom persönlichen kleinen
Betrug bis zu den großen globalen feindlichen Konkurrenzkämpfen.

1989–2014
Die Vereinigung Deutschlands hatte die Erkenntnis westdeutscher
Normopathie nahezu unmöglich werden lassen; denn nun war der
Westen zum «Sieger der Geschichte» aufgestiegen, alle Kritik an den
Auswirkungen und Folgen der kapitalistischen Gesellschaft
schrumpften schnell im Vereinigungsrausch. Mit der Herrschafts-
Unterwerfungs-Kollusion der beiden deutschen Staaten haben sich die
beidseitigen Normopathien wie «Topf und Deckel» passend ergänzt:
«Größenselbst» (West) und «Größenklein» (Ost) als die beiden Formen
der narzisstischen Kompensation des «ungeliebten Selbst». Die
Westdeutschen konnten ihre Überlegenheit als «gesunden» Erfolg
angesichts des ostdeutschen Dilemmas deuten. Die Ostdeutschen
wiederum glaubten, sich schnell in ein besseres Leben retten zu
können, wenn sie ihr erfolgloseres Leben nur schnell vergaßen und
sich der westlichen Kompensation anpassten. Die «Wende» bedeutete
auch Wechsel von einem falschen Selbst in ein anderes. Äußerlich
gelingt das zuweilen gut, wie alle Wendehälse stets beweisen.
Jedenfalls hat die normopathische Vereinigung angesichts des
überwiegend freudig und mit Genugtuung erlebten Untergangs der
DDR und der realen Lebensverbesserung im Rahmen der äußeren
Demokratie und der gewonnenen Konsummöglichkeiten keine
nennenswerte Protestbewegung aktiviert. Selbst «Die Linke» ist
alsbald als demokratische Partei in das westliche System eingeordnet
worden und regiert schon mit.
Die Normopathie entfesselte sich dann aber in der Finanzkrise, der
Eurokrise sowie den Nord-Süd-Konflikten der europäischen Staaten.
Der wirtschaftlich-finanzielle Kollaps des falschen Lebens war
erstmals nicht nur denkbar, sondern eine ganz reale Gefahr geworden.
Die Süchtigen des «ungeliebten Selbst» hatten sich verzockt. Die Gier
als ihr wesentliches Symptom betrifft jedoch die meisten Bürger der
westlichen Welt und natürlich besonders die alles beherrschenden
Finanz- und Kapitalmärkte mit den Banken und Großkonzernen. Die
Politik beherrscht und reguliert die Normopathie nicht mehr. Bei
einem Politikversagen mit einem entstehenden Machtvakuum legen
die nicht mehr durch Gesetze regulierten Kräfte der falschen Selbst
ihre Fesseln ab und agieren etwa das aufgestaute Aggressionspotential
im Bemühen um Profitmaximierung und in Konkurrenzkämpfen aus.
Die dabei oft gnadenlose, menschenverachtende und Sozialstrukturen
vernichtende Gewalt spiegelt das Ausmaß der pathologischen Affekte
des agierenden gestörten Selbst. Solange Liebesmangel bei vielen
Menschen eine wesentliche Ursache ihres falschen Selbst ist, wird das
süchtige Streben nach materiellem Ersatz keine Grenzen mehr
kennen, jedenfalls sobald der Staat es nicht mehr begrenzt. Je mehr
Selbst-Störungen in einer Gesellschaft versammelt sind, desto strenger
muss die Staatsgewalt in Gestalt von Sicherheitsdiensten, Polizei und
Justiz die Ordnung stabilisieren, vor allem wenn die «Droge für alle»
(Geld) knapp oder immer ungerechter verteilt wird. Nach
Entmachtung der Religion als regulierender, repressiver und
verbindender Kraft ist nur noch das Geld in der Lage, das Konstrukt
«äußere Demokratie» aufrechtzuerhalten. Die Menschen werden sich
zunehmend feindselig gegenüberstehen, wenn Geld als Ersatz für die
Entfremdung für viele seine Kraft verliert. Reale oder drohende
Verarmung löst Sorgen und Ängste um den Zusammenbruch des
mühevoll errichteten Ersatzlebens aus. Dann wird der Kollege zum
Konkurrenten, der Freund zum Neid-Objekt und der Andersdenkende
und Andershandelnde zum Feind. Werden die
Kompensationsmöglichkeiten durch Geld und Erfolg schwächer,
werden auch die individuell regulierenden Kräfte der Spaltung und
Projektion, die in «Friedenszeiten» das Zusammenspiel der falschen
Selbst im Pluralismus der äußeren Demokratie noch zusammenhalten,
zur wachsenden Gefahr für den sozialen Frieden.

Seit 2014
ist die kritische Phase der aktuellen gesamtdeutschen Normopathie
erreicht. Die Finanzmärkte werden nicht mehr beherrscht, der Euro
schwächelt, Europa fällt zunehmend auseinander. Bezogen auf den
Umgang mit Geld wächst der Streit zwischen den pflichtstrengeren
und «kühleren» Nordeuropäern und den hedonistischeren, «heißeren»
Südeuropäern. Die Rettungsbemühungen um Griechenland haben
längst jede Finanz-Vernunft über Bord geworfen, von der ungerechten
Verteilung der Kosten ganz zu schweigen. Mit den Flüchtlingsströmen
wird die bestehende Normopathie mit allen entfesselten Gefahren, die
bisher noch durch ein ausreichendes Ersatzleben gebändigt waren,
entlarvt. Es geht um die prinzipielle Frage, ob die bisherige – oft
mühevoll erarbeitete und verteidigte – Lebensform noch
weitergeführt werden kann. Es geht um die einfachen Werte, die aber
als Ersatz sehr wichtig sind: um Konsum, Besitz, um Reisen und Fun.
Es geht um die notwendigen Rahmenbedingungen der äußeren
Demokratie: Erhalt der staatlichen Ordnung, um Grenz- und damit
Souveränitätssicherung, um Verteidigung des bedrängten
Territoriums, um Durchsetzung des Grundgesetzes, um Erhalt des
Sozialstaates und um ausreichende Sicherheit. Und es geht um die
großen Werte: Verhinderung von Krieg, Schutz vor Terrorismus,
Schutz vor jeglicher politisch, religiös oder sozial motivierten Gewalt,
Eindämmung der Kriminalität, Verhinderung bürgerkriegsähnlicher
Straßenkämpfe. Unser «paradiesisches» Leben ist eine Kulisse der
Normopathie, im Wesentlichen getragen von den kompensatorischen
Ersatzbedürfnissen und Werten eines falschen Selbst. Wir stehen vor
der Wahl, die aufgeblähten Erfolge unseres falschen Lebens, das im
narzisstischen Wahn keine wirkliche Rücksicht auf die
Benachteiligten und die Umwelt nimmt, immer stärker verteidigen zu
müssen oder global natürlichere (echtere, gerechtere) Lebensformen
zu finden. Die weltweiten millionenfachen Flüchtlingsströme sind
nicht die Ursachen der Gesellschaftskrise, sondern die Symptome
eines kritisch gewordenen Sozialkampfes. Der bisherige Sieg der
Reichen und Bewaffneten kippt zugunsten der Macht der
unbewaffneten Armen, gegen deren Ansturm die narzisstische
deutsche Normopathie bisher kein hilfreiches Mittel gefunden hat.
Ganz im Gegenteil: Die «deutsche Krankheit» droht zum Verhängnis
zu werden. Eine moralisierende Humanität wird als Beweis endlich
geläuterter und gereifter Selbst missverstanden, und die globalen
Ursachen der Migration, die auch Folgen unseres falschen Lebens
sind, werden weiterhin verleugnet. Wir sind in Gefahr, symptomatisch
kurieren zu wollen, wo kausale Veränderungen gefordert sind. Auf
billige Arbeitskräfte oder auf einen Ausgleich der demografisch
bedingten Rentenlücken zu hoffen, ist eine Fortsetzung kapitalistisch-
kolonialen Denkens. Weder durch «Refugees welcome» noch durch
Fremdenfeindlichkeit werden die globalen Probleme gelöst. Aber die
«Helldeutschen» und die «Dunkeldeutschen» agieren zunehmend so
irrational feindselig, als dürfte unser falsches Leben auf keinen Fall
erkennbar werden – dass wir alle wie Süchtige am Tropf des
materiellen Wachstums hängen. Noch eher ziehen wir in den
«Geschwisterkrieg», als unser falsches Leben zu akzeptieren. Oder
wollen wir etwa unbewusst unser narzisstisch-größenwahnsinniges
Leben zerstören (lassen) mit der Hoffnung, von der Last der
Entfremdung befreit zu werden und eine bessere, weniger falsche
Lebensform zu finden?
Die Krankheiten der Deutschen – die deutschen Normopathien –
haben immer etwas mit Größe zu tun. Vom größten Verbrecherstaat
zum größten Tugendstaat! Auch das Streben nach wirtschaftlicher
Dominanz, nach Weltmarktführerschaft, Exportweltmeister zu sein
und ähnliche Kategorien verraten etwas vom «Größenwahn». Selbst in
der DDR spotteten wir über die «größte DDR der Welt», um das
peinliche Anerkennungsringen der Führungsriege zu kolportieren.
«Größe» als ein Symptom von Krankheit zu begreifen, dürfte bei
vielen auf Unverständnis stoßen, weil großartige Erfolge,
herausragende Leistungen und Wachstumsgröße zu den allgemeinen
Wünschen und erklärten Zielen in der Gesellschaft zählen. Aber mit
dem Verständnis über das Wesen einer narzisstischen Normopathie
können wir uns einer anderen Deutung nähern. Mit den süchtigen
Anstrengungen für ein «Wirtschaftswunder» war die deutsche Schuld
bald vergessen (Konsum als Droge). Im ungezügelten
Konkurrenzkampf werden menschliche Bedürfnisse missachtet und
Beziehungen materialisiert, wird die Umwelt zerstört und
ausbeuterisch und unfair gehandelt – äußere Probleme und Konflikte
genug, um nicht mehr nach innen schauen zu müssen.
Die narzisstische Normopathie verwandelt innerseelische Defizite
in materielle Größe, die zwangsläufig Suchtcharakter bekommt und
kriminelle Energien mobilisiert, um im gnadenlosen
Konkurrenzkampf bestehen zu können. Dann haben Tricks und
Betrügereien Konjunktur, wie sie in unzähligen Skandalen (vom
Gammelfleisch bis zum Abgasbetrug) hin und wieder aufgedeckt, aber
nie wirklich an den Wurzeln des falschen Lebens korrigiert werden.
Wir sind sicher gut beraten, «Größe» als Wert und Ziel zu
problematisieren. Dazu gehören unbedingt die Tiefenanalyse einer
Leistungsmotivation und die Berücksichtigung des Weges, statt sich
vom Ziel blenden zu lassen. Um Größe zu relativieren, darf man
Profit nicht über die menschlichen Bedürfnisse des sozialen
Zusammenlebens stellen und muss man die systemischen Folgen für
die Lebensbedingungen in anderen Regionen der Welt und für die
Zukunft bedenken. So gesehen sind die wichtigsten Gegenspieler von
«Größe» nicht etwa Kleinheit und Bescheidenheit, sondern Begriffe
wie «angemessen», «ausreichend», «ausgleichend», also auf die
Befriedigung natürlicher Bedürfnisse orientiert: statt Geltungs- oder
Erfolgsgröße entspannende Zufriedenheit. Ich füge «entspannend»
hinzu, weil auch der Süchtige eine relative und kurzfristige
Zufriedenheit mit seiner Droge erreichen kann, diese aber nie zur
wirklichen Entspannung führt. Bei der Erfüllung von
Ersatzbedürfnissen bleibt immer ein innerer Spannungszustand
erhalten, der sofort nach Steigerung verlangt – im Unterschied zur
Befriedigung von psychosozialen Grundbedürfnissen, die Ruhe und
Gelassenheit schenkt, bis das Bedürfnis erneut nach Befriedigung
strebt. Letzteres ist eine Wiederholung im Rhythmus natürlicher und
individueller Bedürftigkeit und erfolgt ohne Steigerungsdruck.
15 Die aktuelle deutsche Krise

Deutschland wird aktuell zur Bühne einer globalen Krise, die sich aus
vielen Ursachen speist, auf einen zentralen Punkt gebracht aber als
sich zuspitzender Konflikt eines kritisch gewordenen
Wohlstandsgefälles zusammengefasst werden kann. Es sind die Folgen
einer globalisierten Weltwirtschaftsordnung mit ungerechter
Verteilung der Gewinne, einer ausbeuterischen kapitalistischen
Produktions-, Handels- und Finanzpolitik mit einerseits wachsendem
Überfluss und andererseits noch schneller wachsender Verarmung, an
der wir Deutschen wesentlich beteiligt sind.
Geopolitische Kriege im Kampf um Ressourcen, die
Klimakatastrophe als Folge der Wachstumssucht und die soziale
Verelendung durch Ausbeutung schaffen millionenfache Opfer.
Offenbar ist eine kritische Grenze der sozialen Ungerechtigkeit
erreicht, deren Ursachen und Zusammenhänge durch eine ebenso
globalisierte Information immer weniger verleugnet und vertuscht
werden können.
Dass wir Deutschen uns im Fadenkreuz der aktuellen Krise
befinden, das verdanken wir unserer wirtschaftlichen Macht und einer
gegenwärtig scheinbar unbegrenzten Humanität. Viele Deutsche sind
stolz auf die Wirtschaftserfolge, die sie sich erarbeitet haben und
deren Ergebnisse sie ganz real genießen, aber eben auch zur
Beruhigung ihrer Selbst-Störungen brauchen. Von den
Realbefriedigungen eines materiell gesicherten Lebens und erst recht
von den Ersatzbefriedigungen des Luxuslebens werden allerdings
immer mehr Menschen ausgeschlossen. Viele Ausländer sind auf die
deutschen Verhältnisse zu Recht neidisch, vor allem wenn sie im
Elend leben müssen. Dass etwas Falsches, ja sogar Abnormes in den
deutschen Verhältnissen stecken könnte, das zu erkennen kann man
von Hungrigen und Bedürftigen nicht erwarten. Und viele Deutsche
demonstrieren – mitunter recht kämpferisch – ihre Überzeugung, sich
endlich auch zu den geläuterten «Guten» zählen zu dürfen, und sind
stolz darauf, dies auch von einem Teil der Weltöffentlichkeit
honoriert zu bekommen. Andere bleiben misstrauisch und fragen
verwundert, was mit den Deutschen passiert ist, wenn sie sich jetzt so
hilfreich anbieten. Allerdings fällt sowohl im Inland als auch erst
recht im Ausland auf, dass die deutsche Politik zerstritten und
widersprüchlich ist, wenn sie unbegrenzte Hilfe verspricht. Über eine
zum Schutze des Staates und der Menschen gegebenenfalls
erforderliche Begrenzung, über Grenzzäune und notfalls auch über
Waffengewalt wird überhaupt nicht mehr rational diskutiert, sondern
nahezu hysterisch polemisiert. Wenn aber mit (falschen) Emotionen
und mit moralisierenden Argumenten die notwendige Rationalität
politischer Entscheidungen aufgegeben wird, liegt der Verdacht einer
Reaktionsbildung nahe, also im betont gegenteiligen Verhalten
Schuldentlastung erfahren zu wollen. Schuld lässt sich aber nicht
durch humanitäre Hilfeleistung tilgen. Vielmehr besteht die Gefahr,
dass nicht akzeptierte individuelle Schuld zur neuen schuldhaften
Beteiligung an einer falschen Lebensform beiträgt, die auch nicht
durch unbegrenzte und damit falsche Hilfe gegenüber den Opfern
veredelt werden kann. Hilfe ist falsch, wenn sie aus Schuldgefühlen
und zur Selbstaufwertung angeboten wird, ohne die Ursachen der
Hilfsbedürftigkeit zu erkennen und beseitigen zu wollen und ohne die
Folgen der Hilfsangebote zu berücksichtigen.
Die deutsche Flüchtlingspolitik ist bisher vor allem heuchlerisch
und irrational und signalisiert damit die Verleugnung der
fundamentalen Gesellschaftskrise. Erkennbar wird das daran, dass die
berechtigte und notwendige Begrenzung des Zustromes von
Migranten anderen überlassen wird. So kann man kritisieren, dass die
Balkanroute geschlossen wurde, dass Grenzzäune errichtet wurden
und Waffengewalt zum Schutz der Grenzen angewendet wird, kann
die unliebsamen und sehr belastenden Zustände verzweifelter
Menschen in die Verantwortung anderer legen und sich selbst als
moralisch überlegen und «sauber» wähnen, indem die «Drecksarbeit»
anderen überlassen wird. Für das Chaos und Elend von Indomeni an
der griechisch-mazedonischen Grenze reichte dann aber die
humanitäre Kraft nicht mehr, und es wurde deutlich, dass die
irrationale Grenzöffnung vor allem eine beschwichtigende,
verleugnende, entlastende Funktion hatte. Das ungeliebte Selbst
braucht Anerkennung und Bestätigung, das der Kanzlerin und den
Deutschen reichlich geschenkt worden ist. «Mutter Merkel» wurde als
Retterin und wie eine Schutzheilige für die Bedrohten und Beladenen
gefeiert, und sie hat, ohne dieser Idealisierung zu widersprechen,
damit eigene Bedürftigkeit gezeigt und die emotionale Not von
Migranten – die auch ohne Krieg und Verfolgung existiert – völlig
unterschätzt. Es geht schon längst nicht mehr nur um Asylrecht für
Schutzsuchende, sondern um die eingeforderte Teilnahme an einem
besseren Leben. Wer möchte das nicht, aber eine solche Integration
lässt sich nur für eine sehr kleine Zahl der Millionen von
Migrationswilligen realisieren und ist der falsche Weg ins falsche
Leben. Wer in unmittelbarer Not ist, braucht unmittelbare
alimentierte Hilfe – für eine kurze Zeit der Krise –, dann aber eine
langfristige Hilfe zur Selbsthilfe. Eine humanitäre Krisenaktion kann
nicht das Ringen um eine global gerechtere Lebensform ersetzen.
16 Die gespaltene Gesellschaft

Wir wissen, dass Spaltung vor allem ein Schutzmechanismus der


Externalisierung für ein «bedrohtes Selbst» ist, um eine reale
Bedrohung, die geeignet ist, früh erlebte, tief verborgene,
abgespaltene Bedrohung wieder zu aktivieren und spürbar werden zu
lassen, zu verleugnen, zu bagatellisieren und dann stellvertretend
einem ausgemachten Feind anzuhängen. Eine zu große Zahl von
Asylsuchenden, mit Einheimischen konkurrierende
Wirtschaftsflüchtlinge, politisch motivierter Islam mit
Terroranschlägen, fremde Traditionen und Kulturen, eine andere
Zivilisation, ein anderes Menschenbild sind geeignet, Ängste und
Bedrohungsgefühle zu aktivieren. Eine reale Bedrohung durch
Konkurrenz entsteht schon durch das verständliche und normale
Bemühen der Zuwanderer, materiell bessere Lebensbedingungen
erreichen zu wollen, um auch in Sicherheit und Wohlstand leben zu
können. Erfolgreiche Migranten verdrängen Schwächere und
vermehren die soziale Ungerechtigkeit. Erfolglose Migranten sind
immer auch in Gefahr, ihre Enttäuschung, ihren Frust irgendwie
destruktiv abzureagieren. Wir Deutschen sind da überhaupt nicht
anders und nicht besser, aber es ist für eine Nichtakzeptanz der
Zuwanderung von Bedeutung, wenn diese Konkurrenz unerwünscht
aufgenötigt wird und sich dann zur Projektion hervorragend eignet.
Die völlig berechtigte Kritik an einem fundamentalistischen Islam
eignet sich hervorragend, um das Leiden an kapitalistischen
Lebenszwängen, Kränkungen, mühevoll beherrschten
Beziehungskonflikten, enttäuschenden Partnerschaften und sexuellen
Frustrationen projektiv abzuwehren. Fremde sind dann nicht nur
unwillkommen und bedrohlich, sondern auch willkommene Opfer,
um die eigenen unerwünschten Wahrheiten unter Kontrolle zu halten.
Die zunehmende Radikalisierung durch Fremdenfeindlichkeit,
durch rassistische und extremistische Einstellungen ist als sehr
gefährliches und unerträgliches Symptom der brüchig gewordenen
Abwehr der vorhandenen Störungen des bedrohten und ungeliebten
Selbst zu verstehen. Reale Bedrohung kann einerseits zur betonten
Verleugnung der Realität führen (Stichwort «Willkommenskultur»),
aber eben auch zur Reaktivierung von Gewalt zur Abwehr eines
längst vorhandenen Bedrohungserlebens. Wenn eine kritische Menge
paranoischer Bedrohungsfantasien aus eigenen seelischen
Verletzungen mit realer Bedrohung zusammenfließen, entsteht eine
hochexplosive Gesellschaftskrise. Für die einen sind dann die
Flüchtlinge und der Islam die Bedrohung, für andere sind die
Protestler die Feinde – so werden im «Bruderkrieg» die individuelle
Problematik wie auch die globale Krise auf verhängnisvolle Weise
verleugnet.
Unsere Demokratie funktioniert in einer entscheidenden Krise
nicht mehr, die Bundeskanzlerin wird aus Gründen des Machterhalts
geschützt, die Opposition gibt ihre Funktion auf, die notwendige
Diskussion über unsere Lebensform mit den globalen Folgen wird
vermieden, den Flüchtlingen wird etwas verheißen, was nicht
ausreichend gut zu realisieren sein wird, die besten Arbeitskräfte
werden den Herkunftsländern egoistisch entzogen, die
Destabilisierung der deutschen Gesellschaft wird hingenommen und
die wachsenden Kämpfe sich radikalisierender Gruppen werden
geschürt. Wir sollten in dieser Entwicklung eine Symptomatik der
Krise des «falschen Lebens» erkennen.
Das «abhängige Selbst» einer großen Zahl der Befürworter und
Zustimmer der Flüchtlingspolitik lässt sie offenbar im Glauben
handeln, das Richtige zu tun, weil es so suggestiv vorgegeben und
erwartet, aber nicht mehr mit eigener kritischer Prüfung rational
kontrolliert wird, sondern aus emotionaler Bedürftigkeit erfolgt. Das
unbegrenzte, überforderte Selbst («mächtigste Frau der Welt», «große
Kulturnation», «erfolgreiche und starke Wirtschaft») versteigt sich zu
Entscheidungen von unübersehbarer Tragweite, deren Last dann
andere zu tragen haben, und mit Folgen, deren sachliches Kalkül
durch den Rausch, das vermeintlich nur Gute zu tun, nicht mehr
zugelassen wird.
Zum Versagen innerdeutscher Politik gehört auch, dass jede
kritische Stimme, zumal die Forderung nach Begrenzung und
Kontrolle der Zuwanderung, zu schnell als «rechtsextrem» und
«fremdenfeindlich» diffamiert wird. Darin liegt ein unheilvolles
Motiv, nämlich das kritische Nachdenken, den notwendigen Disput,
die Suche nach einer grundsätzlichen Lösung zu verhindern, um die
Normopathie durch Macht zu schützen.
Im Moment sind wir Deutschen in zwei große Gruppierungen
gespalten: mit dem freundlichen Gesicht der Hilfsbereitschaft und mit
der hässlichen Fratze der Feindseligkeit. In beiden Varianten sehe ich
auch Masken des «falschen Lebens». So ist einerseits gut zu verstehen,
dass es uns Deutschen hilft, uns in der Weltöffentlichkeit endlich von
einer guten Seite zeigen zu können. Wir dürfen aber auch nicht
übersehen, dass uns die unverarbeitete individuelle Schuld unserer
Eltern und Großeltern als Erbe mitgegeben ist und transformiert
weiterlebt: einerseits im Wirtschaftsgrößenwahn und als
Reaktionsbildung abgewehrt im betont «Guten», in einer
demonstrierten Humanität und übertriebenen Liberalität. Wir sollten
das schlimme Wort des ungarischen Ministerpräsidenten Orban vom
«moralischen Imperialismus» nicht nur empört zurückweisen, sondern
reflektieren, was daran wahr sein könnte. Auf jeden Fall müssen wir
zur Kenntnis nehmen, dass die aktuelle deutsche Politik der globalen
Krise nicht gerecht wird, sondern dazu beiträgt, dass es eine Spaltung
und Radikalisierung innerhalb der deutschen Gesellschaft gibt, dass
der Zusammenhalt der EU gefährdet wird, dass mit einer falschen
Willkommenskultur verführende Verheißungen ausgesendet werden,
die zum Profit der Schleuserkriminalität und zum Tod von
Flüchtlingen durch lebensgefährliche Wege beiträgt. Dagegen wäre
eine klare Ansage, dass illegale Einwanderung auf keinen Fall
zugelassen wird und alle Anstrengungen zur Verminderung und
Beseitigung der Fluchtursachen unternommen werden, eine
entscheidende Hilfe gegen ein aufgeheiztes Migrationschaos. Am Geld
darf es nicht scheitern. Ich möchte zu einem «Armutssoli» aufrufen,
den jeder Einzelne nach seinen Möglichkeiten abgeben sollte und den
vor allem auch die Unternehmen und Konzerne aufbringen müssen.
Wir befinden uns im Sozialkrieg zweier Normopathien: der
westlich-liberalen und einer arabisch-religiös geprägten Gesellschaft
und Kultur. Wir sind nicht die Retter der Bedrohten, der Verfolgten
und Verarmten, sondern auch die Täter und selbst der Rettung aus
falschem Leben bedürftig. Aber auch die Migranten können sich nicht
durch Flucht in ein «besseres Leben» ihrer Verantwortung für die
Überwindung der eigenen religiösen, kulturellen und ökonomischen
Fehlentwicklung entziehen. Dass bei realer Not selbst ein Leben auf
HartzIV-Niveau «Rettung» bedeutet, ist leider wahr, wird aber nur
kurze Zeit genügen; weitere Erwartungen und Forderungen werden
gemäß der vorherrschenden Wachstumsnormopathie schnell
anwachsen. Die vordergründige Notversorgung wird uns alle
konflikthaft beschäftigen und dabei die erforderlichen Energien für
grundsätzliche Veränderungen der sozialen Verhältnisse binden.

Die aktuelle Gesellschaftskrise zeigt wesentliche Symptome des


falschen Lebens: Reale Angst und reale Bedrohung werden geleugnet
(das ist bei «bedrohtem Selbst» notwendig). «Wir schaffen das!»
entspricht einer phrasenhaften Selbstüberschätzung, wie es für das
narzisstische Selbst typisch ist. Mit dem Willkommensjubel werden
Schuldgefühle («ungeliebtes Selbst») beruhigt, und mit einem
angestrengten Bemühen um Integration («abhängiges Selbst») werden
die grundsätzlichen Fragen unserer Normopathie verdrängt. Ohne
Selbstentfremdung würden wir die nationale und globale Bedrohung
akzeptieren, uns nicht «besetzen» lassen, die Maßlosigkeit unseres
Lebensstiles erkennen, die eigenen Schuldanteile akzeptieren, eine
angemessene Aggressivität entfalten, eine überzogene Liberalität
aufgeben und die Realitäten unverzerrt, ohne ideologische Brille,
wahrnehmen.
Der islamistische Terror, die Attentate von Paris und Brüssel,
werden nur als Kriegserklärung verstanden und vor allem mit
erhöhten Sicherheitsmaßnahmen beantwortet. Die Europäer werden
auf weitere Anschläge vorbereitet, aber es gibt keine ernsthaften
Bemühungen, die komplexen Ursachen des Terrorismus verstehen zu
wollen und nach kausalen Lösungen zu streben.
Wir müssen einerseits zur Kenntnis nehmen, dass der politische
Islam im höchsten Maße ein destruktives Potential entwickelt und
fördert, und andererseits, dass die arabische Welt seit Jahrzehnten
durch westliche Hegemonialansprüche und Energieinteressen
missbraucht und der Hunger und die Armut in der Welt auch Folgen
unseres Wachstumswahns sind. Dass wir die tiefreichenden Probleme
islamischer Länder und die Gefahren fundamentalistischer
Religionspraktiken bagatellisieren und dabei an unserer Lebensform
unverdrossen festhalten wollen, halte ich für Symptome eines
falschen Selbst, das reale Bedrohung verleugnet, Illusionen
hinsichtlich unserer Macht und Größe hegt und einer ideologisierten
Liberalität gegenüber hochpathologischen Lebensformen anhängt, die
wir uns mit der Migration aufdrängen lassen. Die westlichen Werte –
Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Liberalität – sind erst in
jahrhundertelangen Kämpfen erreicht worden, und sie sind noch
lange nicht in ausreichendem Maße als innerseelische Fähigkeiten
integriert. Dieser äußere und damit noch labile Erfolg wird schon
durch die organisierte Kriminalität in Europa und erst recht durch die
Folgen islamisch autoritär-repressiver und patriarchaler Erziehung
sowie durch eine fundamentalistische Religionsabhängigkeit
nachhaltig infrage gestellt.
In der aktuellen Krise werden die falschen Selbst aktiviert, die mit
den typischen Abwehrmechanismen der Spaltung, Projektion und
Reaktionsbildung das gesellschaftliche Klima zunehmend vergiften
und das Zusammenleben belasten. Wir erleben Straßenkämpfe, deren
wirkliche Ursachen nicht erkannt werden, es mehren sich links- und
rechtsextremistische Straftaten, die als Selbst-Störungen weder
wirklich verstanden noch wirkungsvoll «geheilt» werden. Es gibt eine
zähe außerparlamentarische Opposition, die nicht ernst genommen,
aber heftig diffamiert wird, es bildet sich eine neue Partei mit
Millionen Wählern, mit der aber keiner aus der politischen oder
kulturellen Machtelite wirklich reden will. Was muss noch passieren,
dass wir unseren Gesellschaftszustand und unsere Lebensform kritisch
zur Diskussion stellen, statt den Streit, wie in Talkshows üblich,
lediglich auf Symptomebene anzuheizen und zu kultivieren? Wir sind
gefordert, die Dämonisierung kritischer Stimmen zu beenden. Es ist
sicher höchst ehrenhaft und auch notwendig, sich eindeutig von
radikalen Positionen und extremistischen Straftaten zu distanzieren,
aber es ist absolut falsch (falsches Leben eben), wenn mit
Argumentationskeulen wie Populisten, Rechtsextreme, Rassisten,
Fremdenfeindliche, Islamgegner nur diffamiert und damit die
notwendige inhaltliche Auseinandersetzung verhindert wird. Es ist
leider überhaupt nicht in Abrede zu stellen, dass es Neonazis und
linke Extremisten gibt mit zum Teil unerträglich falschen
Überzeugungen, dass diese auch noch Straftaten begehen, die
zwingend und nicht nachlässig zu ahnden sind. Aber «Nazis raus» hilft
überhaupt nicht (wohin denn?). Kein Mensch wird als Nazi oder
Krimineller geboren. Jeder «Nazi» ist ein Spiegel des Versagens von
Eltern, Lehrern, Managern und Politikern.

Wir stehen vor der Frage eines mühevollen Erkenntnis- und


Veränderungsprozesses oder eines destruktiven Zerfalls unserer
Gesellschaft. Gesellschaftliche Fehlentwicklungen im Sinne einer
Normopathie entwickeln sich, wenn die falschen Selbst einer
Mehrheit der Bevölkerung eine bestimmte einseitige Entwicklung
wünschen, brauchen und aktiv mitgestalten. Dies geschieht – wie wir
gesehen haben – zur Kompensation der durch Erziehung und soziale
Verhältnisse erworbenen seelischen Verletzungen und Defizite. Dann
wird sich stets eine politische Macht durchsetzen – auch durch
demokratische Mehrheitsentscheidungen –, die in der Lage ist, eine
tiefere seelische Realität zu verleugnen und zu kompensieren. Die
gewählte Regierung verkörpert dann auch das zurzeit beste
Ersatzleben. Das lässt sich auch so formulieren: Jedes Volk hat die
Regierung, die es verdient! Wenn es dann zu einer
Gesellschaftskatastrophe kommt, sind natürlich die politischen
Entscheidungsträger schuld, aber die massenhafte Beteiligung der
Mitläufer und Mittäter darf nicht bagatellisiert oder gar übersehen
werden.
Wird diese entwicklungspsychologisch bedingte individuelle Schuld
eines großen Teils der Bevölkerung in ihrer pathogenen Wirkung
nicht kontrolliert, befördern Freiheit und Liberalität leicht Neid,
Missgunst und kriminelles Handeln. Entfremdete Seelen brauchen
Halt, Kontrolle und Führung. Deshalb haben alle Ideologien, die Halt
und Orientierung versprechen und geben (!), Hochkonjunktur. Das ist
die Achillesferse einer nur «äußeren» parlamentarischen Demokratie.
Politische Entscheidungen werden dabei projektiv delegiert – was
zum Problem wird, wenn die Delegierung von entfremdeten Selbst
ausgeht. Es bekommen dann jene Führungspersönlichkeiten
Zustimmung, die den Wählern irgendwie sympathisch sind, Vertrauen
erwecken und in der Lage erscheinen, die eigene verleugnete
seelische Realität zu verwalten und nicht infrage zu stellen. Davon
profitiert etwa die Bundeskanzlerin, die trotz benennbarer
schwerwiegender politischer Fehlentscheidungen in ihrer
Führungskompetenz nicht ernsthaft infrage gestellt wird.
Eine parlamentarische äußere Demokratie lebt mehr von den
Delegationen und Projektionen der falschen Selbst als von gründlich
diskutierten und reflektierten Inhalten. Die vor jeder Wahl
plakatierten Porträts der Kandidaten und Slogans der Parteien
bedienen diese emotionale Manipulation. Zu Zeiten einer
Gesellschaftskrise werden die suggestiven Kräfte und projektiven
Hoffnungen im «Demokratie-Spiel» immer schwächer: erkennbar ist
das an Politikverdrossenheit, anschwellenden Protestbewegungen,
messbar an der Wahlverweigerung. Im Kontext meiner Hypothesen
gerät falsches Leben dann in die Krise, wenn unerkannte und
verleugnete falsche Selbst nicht mehr ausreichend kompensieren
können oder reale Veränderungen so bedrohlich werden, dass man sie
nicht mehr übersehen kann. Dieser kritische Zustand ist erreicht: Für
immer mehr Menschen gibt es einen Entzug von den «Drogen» Geld
und Konsum, und der Flüchtlingsstrom signalisiert eine globale Krise
mit Bedrohung unserer bisherigen Lebensform.
Die äußere demokratische, liberale, freiheitliche und
rechtsstaatliche Entwicklung findet keine Grundlage mehr in der
seelischen Realität. Wir haben sehr hohe Werte und Ziele angestrebt,
ohne die Seelen mitzunehmen. Ganz deutlich wird dieses Problem an
den Menschen aus Osteuropa und an einigen Migranten, die aufgrund
ihres unterdrückten und verstörten Selbst die mühevoll erarbeitete
westeuropäische Freizügigkeit nicht genießen können, sich davon
eher bedroht fühlen, die herrschende Liberalität aber zum kriminellen
Ausagieren ihrer Selbst-Störungen zu nutzen verstehen. Nur wenn
innere und äußere Freiheit und Liberalität halbwegs übereinstimmen,
kann Integration gelingen!
In diesem Zusammenhang darf man sich wohl fragen, weshalb
gerade jetzt zwei Ostdeutsche die höchsten politischen Ämter
Deutschlands bekleiden. Meine Deutung dazu: Beide «Ossis» dürften
noch beseelt sein von den großen Idealen «Freiheit» (Gauck) und
«Grenzenlosigkeit» (Merkel). Sie lassen sich als Reaktionsbildung auf
erlebte Unfreiheit, Eingrenzung und Mangelerfahrungen verstehen.
Die längst schwächelnden Ideale des Westens konnten von den
Ostdeutschen überzeugend wiederbelebt werden, aber um einen
hohen Preis: der idealisierten Verkennung der Realität einer
kapitalistisch-neoliberalen Lebens- und Wirtschaftsform. Ostdeutsche
konnten in die Illusion vom Westen ihre Selbst-Beschädigungen
versteckend unterbringen. So verwundert es nicht, dass beide
Politiker wenig zur Versöhnung und Integration mit deutschen
Protestlern beitragen, aber die Spaltung vertiefen, wenn sie zwischen
Hell- und Dunkel-Deutschland unterscheiden oder von Menschen
sprechen, die «Kälte und Hass in ihrem Herzen» (Merkel) tragen.
Die politischen Entscheidungen der Bundeskanzlerin kann man als
«grenzen-los» (gegenüber dem Erlebnis des Eingemauert-Seins in der
DDR) und als «all-mächtig» gegenüber erlittener Ohnmacht
interpretieren. Indem die Kanzlerin unverdrossen Fehlentscheidungen
verteidigt, Realitäten offenbar nicht wahrhaben will und verleugnet,
schafft sie zudem eine hervorragende Projektionsfläche für den
Archetyp der «großen Mutter», die in stoischer Ruhe, mit sanfter und
freundlicher Besonnenheit den Eindruck vermittelt, dass sie «den
Kindern» Sicherheit, Halt, Fürsorge verspricht, und der sich jeder im
Vertrauen ihrer Führung regressiv überlassen kann. Aber die Größe
und Stärke der Bundeskanzlerin wird vor allem von
Übertragungsenergien hergestellt.
Die Sehnsucht nach einer guten Mutter ist bei allen Selbst-
Störungen tief, aber ungestillt vorhanden. Diese Projektionsenergien
machen Frau Merkel – Kohls «Mädchen» – zur scheinbar «mächtigsten
Frau der Welt». Ich halte dies für eine projektive Blase, tragisch, wenn
die Kanzlerin das selber glauben würde, bitter-schmerzlich für die
Projizierenden, wenn das System kollabiert und die Realität nicht
mehr übersehen werden kann, und katastrophal für die
Gesellschaftsentwicklung, wenn aus Gründen projektiver
Muttersehnsuchtsübertragung Opposition sich auflöst und jeglicher
Protest dämonisiert wird; denn damit werden zwei wesentliche
Regulative der äußeren Demokratie faktisch aufgegeben.
17 Willkommen im falschen Leben

Die Rede von der «Willkommenskultur» transportiert für mich eine


bedenkliche Verleugnungstendenz. Sie erinnert mich sehr an das
peinliche Begrüßungsgeld, das uns Ostdeutsche mit Gönnergeste ins
westliche Konsum-Wunderland einführen sollte. Berauscht von der
Illusion des schönen, aber durchaus auch realen Scheins, ließen wir
uns unsere Würde und die revolutionäre Energie abkaufen. Schon 100
DM waren ein Anreiz, um von dem einen «falschen Leben» in das
andere zu wechseln, ohne die Folgen zu bedenken. Wir hatten eben
keine Revolution mit klaren politischen Zielvorstellungen geführt,
sondern mussten den Zusammenbruch eines gesellschaftlich völlig
falschen Lebens miterleben. Wir waren weniger die wirklichen
Akteure als die Betroffenen, so dass wir der Rettung bedürftig waren.
Es ist zwar sehr menschlich, aber eben auch für die
Weiterentwicklung bedenklich, wenn mit der Genugtuung über den
Zerfall einer Gesellschaftspathologie und im Rausch
aufblühender Hoffnungen die Frage der individuellen Entfremdung
und schuldhaften Beteiligung an einem falschen Leben nicht
beantwortet werden muss. Und Helfer in der Not werden schon gar
nicht kritisch geprüft.
Wir sollten also genauer hinsehen, was unter dem Begriff der
«Willkommenskultur» zu verstehen ist.
Die unmittelbare Hilfe für Menschen in Not ist selbstverständlich
und nicht diskutabel. Der freundliche Empfang von Menschen in Not
ist bereits zwiespältig: einerseits beruhigend, stabilisierend im Sinne
einer Krisenintervention, andererseits aber auch verheißungsvoll-
verführerisch hinsichtlich irrationaler Erwartungshaltungen und
illusionärer Hoffnungen. Aber eine Einladung in dem Sinne, ihr seid
alle (unbegrenzt!) willkommen, ist hochproblematisch, weil die
Willkommensverheißung auch Symptom einer narzisstischen
Selbstüberschätzung sein und der Selbstberuhigung bei schlechtem
Gewissen und Schuldgefühlen dienen kann.
Man will mit guten Taten sich gut fühlen können, um von eigenen
belastenden Problemen abzulenken und sich selbst aufzuwerten. Dann
wird der Hilfsbedürftige auch narzisstisch benutzt und missbraucht,
wie wir es bei Helferberufen (Stichwort «Helfersyndrom») häufig
finden können. Durch Helfen sich selbst zu helfen, ist durchaus
respektabel, solange die Hilfe nicht abhängig macht. Aber eine
grundlegende Verantwortung und Pflicht für alle Helfer besteht darin,
dass Selbsthilfe unterstützt wird, dass Anstrengungen gefordert und
zugemutet und auch leidvolle Begrenzungen akzeptiert werden.
Jede Hilfe muss auch Konsequenzen bedenken, wie das
unterstützte und gerettete Leben besser als bisher weitergeführt
werden kann. So ist eine «Willkommenskultur» für Migranten nur
dann wirklich humanitär, wenn der Empfang nicht nur durch
Freundlichkeit und Grundversorgung erfolgt, sondern echte Chancen
für Wohnen, Arbeiten, Erlernen der Sprache, medizinische
Versorgung, religiöse und kulturelle Integration und
sexualökonomische Regulation gewährleistet sind.

Deshalb muss eine «Willkommenskultur» die Konsequenzen bedenken:

Wie viel ist real zu schaffen, bezogen auf eine komplexe Integration der
Migranten?
Wie viel ist den Einheimischen, die Flüchtlinge hilfreich aufnehmen wollen, an
realer Belastung zuzumuten? Denn Schwierigkeiten, Ängste, Verunsicherung,
Bedrohungsgefühle, Einschränkungen und Veränderungen im bisherigen Leben
sind real und unvermeidbar. Dafür muss es Verständnis und psychosoziale Hilfen
geben. Materielle Einbußen lassen sich durch Einsicht in Unvermeidbares, aber
nicht in durchaus Vermeidbares plausibel machen. Das Sicherheitsbedürfnis des
Menschen ist an ausreichendes Einkommen, akzeptierten sozialen Status, nicht
umkämpftes oder streitig gemachtes Territorium und an eine Halt gewährende
Kultur gebunden.

Soll die Integration gelingen und das soziale Auskommen miteinander


gesichert werden, ist eine Begrenzung der Aufnahme von Flüchtlingen
zwingend. Je trotziger eine Obergrenze geleugnet wird, desto mehr
wird radikaler Protest provoziert. Auf beiden Seiten agieren dann
«falsche Selbst», einerseits im narzisstischen Größenselbst, das keine
Begrenzung akzeptieren kann, auf der anderen Seite mit der Gefahr,
dass eine kritische und berechtigte Opposition benutzt wird, um die
schon vorhandene Last aus bedrohtem und ungeliebtem Selbst auf die
Migranten zu projizieren.
Eine Willkommenskultur ist auch deshalb hochproblematisch, weil:

die suggestiven Verheißungen für ein besseres Leben nur für einen Teil der
Migranten Realisierungschancen haben;
der andere Teil sich als getäuscht oder zumindest benachteiligt erleben wird und
den verständlichen Frust in Ideologie, Radikalität und Kriminalität verwandeln
kann;
damit psychosoziale Spannungen und Konflikte in der Gesellschaft vermehrt
werden. Wer hier deutlich seine Bedenken und Sorgen äußert, ist nicht
selbstverständlich ein Fremdenfeind oder Rassist (das ist zwar auch möglich),
sondern in erster Linie ein Realist und ein Bürger, der belastende und
verunsichernde Veränderungen, die vermeidbar sind, nicht hinnehmen will. Ein
falsches Selbst drückt sich in einer unkritischen Willkommenskultur wie in einer
kompromisslosen Ablehnung der Migration aus. Ein Fremdenfreund kann man
ehrlicherweise nur werden, wenn eindeutig klar ist, dass von einem Neuen keine
reale Gefahr für Sicherheit, sozialen Status und Territorium ausgeht. Das betrifft
nicht nur Fremde, sondern auch jeden neuen Nachbarn und Arbeitskollegen. Und
warum soll man den «Islam» gut finden und zu Deutschland gehörend akzeptieren,
wenn nicht klar ist, welcher Islam konkret gemeint ist? Solange manche Muslime,
die bei uns leben wollen, sich nicht eindeutig von einer pathologischen Auslegung
und Praxis des Islams distanzieren, den Islamismus verneinen und seine
Ausbreitung verhindern helfen, tragen sie zur Spaltung der Gesellschaft bei. Die in
Deutschland lebenden Muslime haben angesichts der zugespitzten Konfliktlage
eine nachhaltige Verpflichtung, sich gegen einen islamistischen Terror, einen
fundamentalistischen Kampf gegen «Ungläubige» und gegen
Parallelgesellschaften mit eigenen Gesetzen erkennbar zu positionieren und zur
Verständigung zwischen den Kulturen und Religionen beizutragen. Wir tragen
mühevoll die Last unseres falschen Lebens, und es ist überhaupt nicht einzusehen,
dass wir zusätzlich im höchsten Maße anderes falsches Leben willkommen heißen
sollen.
Voraussetzung für eine Integration von Menschen mit vollständig anderen
religiösen, kulturellen und sozialen Erfahrungen und zum Teil auch inakzeptablen,
selbst Mord rechtfertigenden Ehrvorstellungen ist keineswegs nur, dass von ihnen
das deutsche Grundgesetz akzeptiert wird – es ist schon unverständlich, dass
darüber überhaupt diskutiert werden muss. Voraussetzung dafür ist auch, dass
Muslime in Fragen der Familienverhältnisse, der Stellung der Frau und Mutter,
sexueller Freizügigkeit, der Einstellung zur Gewalt und der Gleichberechtigung der
Religionen das eigene religiöse Verständnis kritisch und offen diskutieren. Es kann
nur um eine friedliche Koexistenz verschiedener Religionen gehen, ohne dass
Glaubenskämpfe um eine vermeintlich einzig rechtmäßige Religion ausgetragen
werden.
Auch die Zielvorstellung der «Integration» ist kritisch zu hinterfragen. Denn mit ihr
verbunden ist auch die Anpassung an unser «falsches Leben», eine Dynamik also
nicht von falsch zu richtig, nicht von mittelalterlich zu aufgeklärt, nicht von
traditionellen hin zu modernen Werten, sondern von falsch zu falsch! Wird mit
«Integration» die völlige Anpassung an die Lebensverhältnisse des Gastlandes
gemeint, dann muss die westliche Liberalität zugunsten klarer und strenger
Anpassungsforderungen zurückgestellt werden, vergleichbar jenen, unter denen
der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik vollzogen wurde. Oder meint «Integration»
eine wechselseitige Anpassung und die Entwicklung eines «dritten Weges», wie er
vielleicht mit einer «Multikulti-Gesellschaft» angedacht ist? Dann muss auf beiden
Seiten, der «christlich-abendländischen» wie der «islamischen» Welt, nach den
jeweiligen Anteilen und Inhalten falschen Lebens geforscht werden.

Eine «Integration» auf der Grundlage des Asylrechtes könnte auch


erfolgreich sein, wenn klar geregelt ist, dass das Asylrecht nur zeitlich
begrenzt ist und kein Bleiberecht konstituiert. Dann kann jeder
Asylberechtigte, so gut es geht, sich in seiner Lebensart als Gast
vorübergehend im asylgewährenden Land aufhalten, es bestünde kein
Druck zur Anpassung, nur die Akzeptanz der Gesetze des Gastlandes
muss gesichert werden. Die zunehmenden Proteste in der deutschen
Bevölkerung könnten schnell entschärft werden, wenn die Rückkehr
der meisten Migranten eindeutig festgelegt ist. Dann bestünde die
«Integration» vor allem im Bemühen um Bildung und Ausbildung,
auch völlig unabhängig vom deutschen Arbeitsmarkt, um die
Migranten für ihr späteres Leben in der Heimat optimal auszustatten.
Das wäre echte Hilfe zur Selbsthilfe und würde mit Sicherheit von
einer großen Mehrheit der Deutschen mitgetragen und großzügig
unterstützt werden und könnte die drohende Spaltung Europas
verhindern helfen.
Die Flüchtlingsproblematik bringt die Krise des falschen Lebens
kapitalistisch-narzisstischer Normopathie und der ungelösten
Konflikte und Probleme der «Entwicklungsländer» auf die nationale
wie auf die Weltbühne. Wir befinden uns in einem sozialen Krieg, der
nicht symptomatisch im Für und Wider der Migration gelöst werden
kann, sondern nur durch einen Ausstieg aus dem falschen Leben,
durch soziale Gerechtigkeit und weitgehenden materiellen Ausgleich.
Wenn wir nicht wollen, dass Afrika nach Europa übersiedelt, müssen
wir alles tun, um die Lebensverhältnisse in Afrika verbessern zu
helfen, statt süchtig unseren Überfluss immer weiter mehren zu
wollen. Sucht und Gier sind Symptome unseres falschen Lebens;
gerechte Verteilung und Chancengleichheit hingegen Ziele einer
Beziehungskultur im Sinne eines weniger entfremdeten Lebens.
18 Politische und psychische Demokratie

Politische Demokratie kann sich ein Volk in mühsamen und nicht


selten auch blutigen Kämpfen erobern oder sie wird einem Volk
«verordnet». In Deutschland ist Letzteres im zwanzigsten Jahrhundert
zweimal erfolgt. Nachdem die hochpathologische
nationalsozialistische Gesellschaft durch schwerste Verbrechen ihren
Untergang provoziert und real herbeigeführt hatte, wurde uns
Deutschen «Demokratie» von den Siegermächten des Zweiten
Weltkriegs verordnet.
Dabei war die Beliebigkeit einer solchen politischen («äußeren»)
Demokratisierung schon durch die beiden sehr verschiedenen
«Verordnungen» erkennbar: die kapitalistische Form mit
ökonomischer Orientierung und die sozialistische Form mit
ideologischer Orientierung. In beiden Systemen wurden Parteien
gegründet, deren führende Vertreter in Parlamente gewählt wurden.
Ein Grundgesetz und Gerichte sollten den demokratischen Weg
sichern. Die sogenannte «Umerziehung» der Deutschen fand nur sehr
oberflächlich oder gar nicht statt. Es wurde Wert auf Information und
Aufklärung gelegt, es ging um neue pädagogische Lehrinhalte und
mediale «Aufarbeitung», aber niemals um die Realität der
innerseelischen Selbst-Störungen und ihre Therapie. Individuelle
Schuld wurde nicht thematisiert oder gar als eine therapeutische
Aufgabe verstanden. Im Grunde genommen genügten
Lippenbekenntnisse für die neue Gesellschaftsordnung. Dass zur
Erkenntnis, Einsicht und wirklichen Veränderung schwierige und
langwierige innerseelische und beziehungsdynamische Prozesse
erforderlich sind, war kein Thema. Gewollte Unkenntnis – darin
waren die Deutschen jahrelang geübt –, psychische Widerstände
gegen das Erleben individueller Schuld und die realen Anforderungen,
die neuen Verhältnisse schnell ausgestalten zu müssen, haben dazu
geführt, dass die bisherigen Eliten und natürlich die Mitläufer-Massen
sich ohne größere Probleme die Demokratie-Verordnung zu eigen
machen konnten. Eine Demokratie ohne Demokraten! Der
Selbstbetrug eines Wendehals-Syndroms ist nur durch erhebliche
psychische Anstrengungen möglich: durch Verleugnung und
Verdrängung («Ich habe nichts gewusst», «Ich habe das nicht
gewollt», «Man konnte ja nichts dagegen machen», «Ich war
gezwungen, sonst wäre ich in meiner Existenz bedroht gewesen») und
vor allem auch durch Projektionen («Daran ist Hitler, sind die Nazis,
die SS usw. schuld»). Absolut falsche, aber weit verbreitete
Rationalisierungen werden oft sehr eloquent vorgetragen: «Es muss
doch mal ein Schlussstrich gezogen werden!», «Wir müssen jetzt nach
vorne schauen!», «Lasst die Vergangenheit ruhen, das bringt doch
nichts!» Aber jeder kann wissen, dass es keine gute Zukunft, keinen
Neuanfang geben kann, wenn die Fehler der Vergangenheit in ihren
wirklichen Ursachen nicht erkannt, verstanden und bereinigt sind.
Ein verordneter Systemwechsel, der sich auf solche psychischen
Abwehrprozesse stützt, braucht «Drogen», um die seelische Akrobatik
zu unterstützen: Im Westen Deutschlands wurden die
Konsummöglichkeiten des «Wirtschaftswunders» zur Droge und im
Osten die Ideologie von Frieden und Sozialismus. Auf der einen Seite
trug der materielle Erfolg das nur äußerlich veränderte System und
auf der anderen Seite die schöne Illusion, als «Antifaschisten» zu den
besseren Menschen zu gehören und mit dem Einsatz für soziale
Gerechtigkeit alle Schmach und Schuld tilgen zu können. Die Drogen
Geld und Konsum und das Ringen um eine Ideologie einer gerechten
Welt mussten zwangsläufig Suchtcharakter annehmen, weil sie aus
den Energien der falschen Selbst gespeist wurden, die keine
befreiende Erkenntnis mit Tiefenentspannung erlaubten.
Eine moralische Bewertung dieser unterschiedlichen – nahezu
konträren – Wege in Ost und West bringt keine wirkliche Erkenntnis,
da auf beiden Seiten eine seelische Reife im Sinne einer «inneren
Demokratisierung» nicht erfolgt ist, ja als notwendiger psychosozialer
Entwicklungsschritt für wirkliche Demokratisierung nicht einmal
verstanden wurde. Aber genau diese Verweigerung der individuellen
«Heilung» der innerseelischen Ursachen lieferte energetische
«Munition» für die wechselseitige moralische Diffamierung der
Systeme («Revanchismus» und «Imperialismus» auf der einen Seite
und «Kommunismus» und «Sozialismus» auf der anderen Seite). Statt
Selbsterkenntnis entstand neues Feindbilddenken! Statt Abfuhr
individueller «heißer Schuld» kam es zur Fortführung der Pathologie
im «Kalten Krieg». Ökonomisch gerechnet war die kapitalistische
Demokratie der sozialistischen überlegen. In den destruktiven Folgen
aber ist die Profitsucht des Kapitalismus wesentlich gefährlicher, als
es die Unmenschlichkeiten des Sozialismus sind. Während sich die
sozialistischen Systeme praktisch suizidiert haben, arbeitet der
Kapitalismus weiter an der Weltzerstörung. Aber auch hier bringt die
Aufrechnung der Ungerechtigkeiten, Missstände und kriminellen
Energien keinen wirklichen Erkenntnisgewinn, denn die eigentliche
Gefahr liegt nicht in den Symptomen, sondern in der verhinderten
psychosozialen Reife, in der fehlenden innerseelischen
Demokratisierung. Beide deutschen Gesellschaften – gegründet auf
verordneter Demokratie – haben ihre neue (lediglich im neuen
Gewand unvermindert fortgesetzte) Normopathie durch Projektion
des Bösen und Falschen auf die jeweilige Gegenseite verschleiert. Und
das hat sich bis heute nicht wesentlich verändert: Äußere Demokratie
braucht Feinde, um von der inneren Unreife und Spannung
abzulenken. Heute sind es vor allem die Terroristen, der «Islamische
Staat», der Islam ganz allgemein, aber auch schon wieder «die
Russen» mit ihrem Präsidenten Putin.
Die demokratischen Parteien leben von Konkurrenz und Kampf.
Nur wenn es für die Macht notwendig ist, gibt es auch eine
Verständigung in Gestalt einer Koalition. «Äußere» Demokratie hat
eine erhebliche pathologische Schwäche: narzisstische
Selbstüberhöhung und Fremdabwertung. Es geht dann nicht mehr um
Sachinhalte, sondern vor allem darum, sich zu behaupten und den
anderen schlechtzumachen. Das ist allgemein erkennbar und führt
heute zur «Politikverdrossenheit» – die Bürger spüren, dass den
Politikern Machterhalt und damit psychische Kompensation mehr
bedeutet als das «Wohl des Volkes». Sie selbst entlarven diesen
Projektionsmechanismus ihrer seelischen Abwehr, indem sie
neuerdings ganze Bevölkerungsgruppen, außerparlamentarische
Protestbewegungen und neue Parteien diffamieren, ohne sich mit den
Protesten inhaltlich auseinanderzusetzen. Und selbst wo dies versucht
wird, erschöpft sich die «Auseinandersetzung» in dem Bemühen
nachzuweisen, wie sehr die anderen falsch, dumm, böse oder im
Irrtum befangen sind. Führende Politiker haben im Grunde ihre
Selbst-Störungen vorgeführt, die mit den typischen
Abwehrmechanismen der Spaltung, der Projektion und
Reaktionsbildung zu erkennen waren.
Vom Bundespräsidenten etwa würde ich erwarten, dass er dafür
einsteht, dass die Ursachen für ein «dunkles Deutschland» erkannt,
verstanden und durch angemessene Politik und Sozialleistungen
überwunden werden. Von der Bundeskanzlerin würde ich erwarten,
dass sie zu erkennen gibt, wenn es Menschen mit «Kälte und Hass» im
Herzen gibt, dass ihr das große Sorge macht und sie sich dafür
einsetzt, dass die Not dieser Menschen erkannt, verstanden und
gelindert werden kann. Integrieren statt Ausgrenzen! Kommunikation
statt Verweigerung! Selbstkritik statt Diffamierung! Wenn Politiker
den zwingend notwendigen inhaltlichen Disput verweigern, wird die
Krise des falschen Lebens, das sie führen und verwalten, offenbar und
eine Entwicklung hin zur inneren Demokratisierung
überlebensnotwendig.
Was heißt «innere» (im Sinne von innerseelische) Demokratie? Wir
tragen alle seelische Inhalte in uns, die uns unangenehm sind, weil sie
uns ängstigen, irritieren, beschämen, weil sie nicht mit dem Idealbild
von uns selbst übereinstimmen oder nicht den Anforderungen der
sozialen Umwelt gerecht werden. Wir tun uns schwer, wenn wir
neidisch und eifersüchtig sind, wenn wir uns kränken, wenn wir
Angst haben und uns bedroht und verletzt fühlen, wenn wir Wut und
Hass empfinden, wenn wir lüstern oder geil sind und wenn wir etwas
nicht können und verstehen und nicht wahrhaben wollen, dass wir
Leistungsgrenzen erleben. Jeder einzelne Mensch ist ständig darüber
im Konflikt, was er möchte, was er sollte, was er muss und was auf
keinen Fall in ihm gesehen werden darf. Es ist der ewige Konflikt
zwischen Real-Ich, Ich-Ideal und Fremdanforderung. Wir sind in aller
Regel darauf getrimmt, unangenehme Gefühle und unliebsame
Eigenschaften zu verleugnen und zu verdrängen, das heißt, wir
nehmen sie dann wirklich nicht mehr wahr.
Unbewusst Gewordenes ist unbewusst und kann nicht wie mit
einem Kippschalter ins Bewusste gehoben werden. Aber es gibt immer
auch Gefühle und Ahnungen, die uns zugänglich sind, die wir aber
verheimlichen und nur in bestimmten Situationen oder gegenüber
vertrauenswürdigen Personen zuzugeben bereit sind. Der innere
Konflikt lautet dann: Ich verleugne mich, ich verstelle mich, weil ich
Angst vor Ablehnung, vor Kritik, vor Ausgrenzung habe. Wir wissen,
dass die Lüge die wesentliche Basis des sozialen Zusammenhaltes ist.
Wir wissen aber auch, dass die Verdrängung ins Unbewusste eine
zentrale Erkrankungsquelle ist und dass die bewusste Unwahrheit
über kurz oder lang die Konflikte provoziert, die man gerade
vermeiden wollte. Die Lüge dient nur der akuten Diplomatie, nicht
aber einer entspannenden Beziehungskultur.
Mit unbewussten Wahrheiten und verleugneten Realitäten können
Menschen eine «äußere Demokratie» gestalten, solange sich die Lügen
der einen mit den Lügen der anderen im falschen Leben halbwegs
ausgleichen und in der Waage halten. Der Pluralismus und die
Meinungsfreiheit sind konstituierende Bedingungen für ein
demokratisches System. Die Meinungsvielfalt neutralisiert die
einzelnen innerseelischen Defizite und psychischen Störungen, denn
man kann dann ungehindert eine individuell-fragwürdige Position
vertreten und sich unendlich mit ebenso einseitig-falschen Meinungen
streiten. Damit wird via Kompensation (die kämpferisch vertretene
Privatlogik) und Projektion (die anderen sind falsch!) das «falsche
Selbst» unkenntlich gemacht, und seine Äußerungen werden als
einzig «richtig» und «wahr» verteidigt. So bleibt «äußere Demokratie»
ein sehr labiles Gebilde, abhängig von der Ausgewogenheit und
Gleichwertigkeit fehlerhafter einseitiger Einschätzungen. Pro und
Contra haben immer beide etwas recht, und keiner ist im Besitz der
ganzen Wahrheit – aber sie halten sich in ihren Störungen
wechselseitig in Schach. Idealerweise gehört zu diesem anfälligen
äußeren Demokratie-Spiel ein von allen Beteiligten gemeinsam
getragener Wert, eine gemeinsame Orientierung und Zielsetzung. Das
war in der DDR für kurze Zeit die Hoffnung auf Sozialismus mit dem
Reiz sozialer Gerechtigkeit und in der BRD und jetzt im vereinigten
Deutschland die Hoffnung auf materiellen Wohlstand mit dem Reiz
von Konsum und äußerem Vergnügen.
Wenn der gemeinsame Wert wegbricht, kollabiert auch das
System. «Äußere Demokratie» bleibt nicht nur ein anfälliges System,
sondern immer auch eine Gefahr für die Verschärfung der Folgen der
unterdrückten Wahrheiten. Eine Eskalation ist dann folgerichtig: als
individuelle Erkrankung, als soziale Konflikte, als globale Krisen. Die
weltweiten Flüchtlingsströme halte ich für ein Symptom des globalen
Sozialkrieges von ursprünglich Reich gegen Arm und jetzt zunehmend
von Arm gegen Reich. Eine innere Demokratisierung halte ich für die
wichtigste Aufgabe gegen die destruktiven Folgen von Gesellschaften
mit nur äußerer Demokratie.

Eine innere Demokratisierung braucht folgende Entwicklungsschritte:

1. Anerkennung der Bedeutung des innerseelischen Befindens für das äußere Verhalten
und die politische Einstellung und Entscheidung;
2. Akzeptanz der Bedeutung der frühen Entwicklungsbedingungen des Kindes für die
Persönlichkeit des späteren Erwachsenen;
3. Erforschung der eigenen «seelischen Minderheiten», das heißt der Gefühle und
Meinungen, die unbewusst vorhanden sind oder bewusst zurückgehalten werden, im
Grunde die Analyse der «falschen Selbst»;
4. Verständnis für die eigenen Positionen aus der individuellen Entwicklungsgeschichte
heraus, verbunden mit der notwendigen emotionalen Verarbeitung der erlittenen
Kränkungen, Verletzungen, Demütigungen, Nötigungen und der Defizite an Zuwendung
und Bestätigung.
Mit der Erkenntnis, der Akzeptanz und Integration der eigenen
unerwünschten seelischen Inhalte müssen diese nicht mehr auf andere
übertragen und projiziert werden. Das Ziel solchen Bemühens wäre,
gut zu wissen, wer man wirklich ist und nicht nur sein sollte. Zu
wissen, was man will, braucht und kann und was man nicht will,
nicht braucht und nicht kann, um sowohl die eigenen Möglichkeiten
zu finden und zu entfalten als auch die eigenen Behinderungen und
Begrenzungen zu erkennen und zu akzeptieren. Damit könnte eine
wesentliche Quelle des falschen Lebens mit den destruktiven Folgen
süchtigen Kompensierens und den oft hassvollen Projektionen, die
den sozialen Zusammenhalt zerstören, allmählich versiegen. Wer sein
Böses kennt, braucht keinen bösen Feind mehr, wer seine eigenen
Grenzen und Schwächen zu akzeptieren lernt, wird keiner Sucht mehr
verfallen. Innerseelische Demokratie ist der befriedigendste Wert, der
die äußere Demokratie entscheidend stabilisieren kann und
unabhängig macht von vergänglichen Ideologien und falschen
Werten, vor allem vom Primat materiellen Wachstums. Die
Alternative oder wesentliche Ergänzung wäre die Annäherung an ein
echtes Leben durch Beziehungsreichtum mit Befriedigung der
zentralen psychosozialen Grundbedürfnisse, verstanden, bestätigt und
wertgeschätzt zu werden, frei zu bleiben und sich verbunden und
unterstützt zu erfahren und in den Begrenzungen akzeptiert zu
werden.
19 Der Fluch der Freiheit und Liberalität

Freiheit und Liberalität gelten nach «westlichem» Verständnis als die


Basis der Demokratie und als politisch reifste Lebensform. Dem kann
ich nur zustimmen, solange diese Einschätzung auch mit
psychosozialem Maß gemessen wird: mit dem der psychischen Reife
der Menschen und ihrer Beziehungskultur. Ohne «innere Demokratie»
können demokratische Freiheiten und die Selbstverantwortlichkeit
und Autonomie des Einzelnen zum Fluch werden. Äußere Freiheit
setzt innere Verantwortlichkeit voraus. Die Möglichkeiten der Freiheit
und Selbstentfaltung wollen genutzt und mit Inhalten gefüllt werden.
So fordert Freiheit Entscheidung und verlangt Verzicht. Freiheit
braucht Begrenzung, sonst endet sie in Gier. Die Autonomie braucht
selbststimmige Orientierung, sonst verliert sie sich in haltloser
Beliebigkeit und lässt sich für gefälschte Ziele einfangen und
missbrauchen. Gesetze sind die Hilfsmittel der Begrenzung. Der
innerseelisch freie Bürger kann um Gerechtigkeit bemühte Gesetze
und Naturbegrenzung gut akzeptieren und sich bei der Gestaltung
seiner Freiheit und Selbstbestimmung daran orientieren. Der innerlich
Unfreie ist immer verführt, mit dem Überschreiten von Grenzen, mit
Gesetzesbruch, seine innerseelische Einengung und Gefangenschaft zu
leugnen und die Verletzung notwendiger und sinnvoller Ordnung als
«Freiheit» und «Selbstverwirklichung» fehlzudeuten.
Mit der (nur äußeren) Demokratisierung einer Gesellschaft
wachsen durch das Agieren der falschen Selbst Kriminalität,
Betrügereien, Ungerechtigkeiten, Übervorteilung und Ausbeutung.
Der freigelassene unreife Mensch wird Opfer seiner nicht mehr
kontrollierten Bedrohung, Leere, Orientierungslosigkeit, Unsicherheit
und ungestillten Bedürftigkeit – die Freiheit kann zur Qual werden,
die durch Neid, Eifersucht, Gier und Hass nicht nur zum Ausdruck
kommt, sondern anhand dieser Affekte regelrecht Einengung und
Orientierung sucht. Die Schwere des pervertierten Verhaltens
signalisiert das Maß der Freiheitsangst. Strukturschwache Menschen
als Opfer früher Beziehungsstörungen brauchen als Erwachsene
Repression und Enge, Anordnung und Befehl, auch Lob und Kritik,
Auszeichnung und Strafe als Sekundär-(Ersatz-)Orientierung, um das
primäre seelische Manko nicht erleiden zu müssen. Das Leiden an
einer Obrigkeit ist wesentlich leichter zu ertragen und entlastender
als die Erkenntnis der innerseelischen Abhängigkeit und der Unreife
zu einem selbstbestimmten Leben. Und die Revolte gegen eine
repressive Macht oder gegen defizitäre Beziehungsangebote bedeutet
noch keinen wirklichen Reifeschritt, sondern bewirkt meistens nur im
Sinne einer Reaktionsbildung das betonte Gegenteil, etwa
antiautoritäre Liberalität, orientierungslose Laissez-faire-Beliebigkeit
und die «Alles-ist-möglich-Illusion». Freiheit und Demokratie werden
dann im Grunde «gespielt», eine Als-ob-Inszenierung, die aus dem
Ruder laufen muss, wenn Werthaltungen wie Ordnung, Pflicht und
Verantwortung nicht in die Selbstbestimmung übernommen werden.
Aber das ist kein Akt der Akklamation, sondern eine Aufgabe
innerseelischer Entwicklung. Bezogen auf die frühen
Beziehungsstörungen (die Mütterlichkeits- und
Väterlichkeitsstörungen) müssten das Erleben von Bedrohung,
Liebesmangel, Abhängigkeit, Hemmung und Bequemlichkeit erkannt,
verarbeitet und, so gut es geht, in den Folgen gemildert und als
eigene Begrenzungen akzeptiert werden.
Das Ende der DDR hat für kurze Zeit Energie für potentielle
Reifeschritte freigesetzt, es war verbunden mit Aktivität, Expansivität,
Kreativität und Eigenständigkeit. In den Umarmungen der Menschen
aus Ost und West, mit Gänsehauteffekt, ohne Rücksicht auf Herkunft,
Status, Alter, Geschlecht oder politische Position, waren Reste von
«wahrem Leben» spürbar. Mit der Droge «Geld» hat sich das falsche
Leben aber sehr schnell wieder durchgesetzt. Pikanterweise hatte die
Union aus CDU und CSU bereits im Wahlkampf 1976 die Parole
«Freiheit statt Sozialismus» bzw. «Freiheit oder Sozialismus»
ausgegeben und damit den westlichen Freiheitsbegriff einer Ideologie
gleichgesetzt. In diesem Sinne wurde «Freiheit» nach der Wende nun
auch als größte Errungenschaft für DDR-Bürger gefeiert, wobei
Ernüchterung und Illusion nicht lange auf sich warten ließen.
«Freiheit» als Ersatz für psychische Reife braucht Geld, um seelischen
Mangel zu beruhigen. «Äußere Freiheit» als Kompensation für «innere
Unfreiheit» braucht Arbeit und Status. Was innerlich kümmerlich ist,
braucht äußere Größe und künstliches Wachstum. Die äußere Freiheit
erschöpft sich im Konkurrenzkampf, endet am Arbeitsmarkt, bemisst
sich am sozialen Status, wird in den Mainstream gezwungen und von
der politischen Korrektheit beherrscht. Schwere Kränkungen erleidet
sie durch das Diktat der Jugendlichkeit, der Fitness und der Mode.
Das alles mussten die Ostdeutschen erst erkennen und mühevoll
erlernen. Dass bei ihnen die Freiheitsideologie nicht so wirkt wie bei
den meisten Westdeutschen, die in die Freiheitsillusion
hineingewachsen sind und nicht wie die Ostdeutschen einen
Ernüchterungsschock nach 1989 erlitten haben, ist mit ein Grund für
die immer noch vorhandene Abwertung eines angeblich
«undankbaren» Verhaltens der Ostdeutschen und für die
Diskriminierung ihres «ungebührlichen» Protestes. Ohne Arbeit und
ohne Geld ist äußere Freiheit nicht viel wert. Und der Kampf ums
Geld zwingt in ein Korsett, das selbst die Möglichkeiten «äußerer
Freiheit» erheblich begrenzt, geschweige denn noch innere Freiräume
zulassen würde. Der deutsche Vereinigungsprozess hat wie in einem
Großlabor die Ideologisierung des Freiheitsbegriffs erkennbar werden
lassen. Die Unfreiheit der nur «äußeren Demokratie» wurde gerade im
Osten bald erkannt und schmerzvoll spürbar.
Äußere Freiheit und innere Unfreiheit im «falschen Selbst»
beeinflussen sich erheblich und geraten nicht selten in Widerspruch
zueinander. Äußere Freiheit braucht innere Freiheit, um icht
missbraucht zu werden. Die innere Freiheit hingegen braucht die
unbegrenzten Möglichkeiten gar nicht, weil zur wirklichen Freiheit
die innerseelische Befriedigung, die Begrenzung und das Ende
selbstverständlich dazugehören. Eine unbegrenzte Liberalität macht
alles beliebig, verhindert die Orientierung, erschwert die
Entscheidung, lähmt das Handeln, leugnet Fehler und Irrtum und
kennt keine entspannende Zufriedenheit.
Die Politik der «äußeren Demokratie» folgt narzisstischer Abwehr:
Die eigene Position wird hochgelobt, die des politischen Gegners
abgewertet. Der politische Machtkampf zwingt zu Manipulation und
Suggestion, zu Heuchelei und Verlogenheit und begrenzt das freie
Denken und die Meinungsfreiheit. Im Parlament endet die
individuelle Freiheit am Fraktionszwang. Politische und ökonomische
Machtinteressen sind die Totengräber der Freiheit, ihre Opfer alle
Menschen ohne Geld und Status.
Wenn bedrohte und bedürftige Menschen in ein System äußerer
Freiheit geraten, müssen sie sich schützen. Äußere Freiheit ist die
größte Gefahr, wieder mit der erlittenen, aber inzwischen
verborgenen inneren Unfreiheit konfrontiert zu werden. Die äußeren
Möglichkeiten lassen innere Unmöglichkeiten spürbar werden. Der
strukturschwache Mensch wird im Grunde gezwungen, sich Führung
zu suchen, eine haltgebende Gruppierung, eine
Orientierungsideologie, um nicht unter der eigenen innerseelischen
Brüchigkeit und Labilität zu leiden. Irrationalität im Verhalten,
dumpfe Primitivität, Unbelehrbarkeit und Dialogunfähigkeit sind
nicht Zeichen von Schwachsinnigkeit, sondern Abwehrsymptome der
Not. Je verrückter, dümmer und aggressiver, desto mehr kann damit
verleugnet und verborgen werden, was man ehemals als Verlogenes,
Ungeheuerliches, Falsches und Gewalttätiges ertragen musste. Das
entschuldigt kein strafbares Fehlverhalten, erklärt aber
Zusammenhänge und Folgen, die verstanden werden müssen, damit
Politik und Ökonomie sich auf kausale Hilfen besinnen können.
Westliche Politiker wissen nicht, was sie tun, wenn sie
Menschenrechte und demokratische Freiheiten in autoritären
Systemen einfordern, ohne die psychosozialen Voraussetzungen zu
bedenken, die Menschen benötigen, um «äußere Freiheiten»
verantwortlich, sozial und lustbringend erleben und ausgestalten zu
können. Wenn im Namen «äußerer Freiheit» die innere Unfreiheit
kaschiert und kompensiert werden soll, führt das zur Vermehrung von
Leid und schürt Konflikte.
Menschen mit nicht ausreichender Bindung und defizitären frühen
Beziehungen brauchen ihr Leben lang Halt, Unterstützung und
Führung, sie brauchen Ansagen und Antworten, die in einer liberalen
Gesellschaft nicht mehr gegeben werden. Frühkindliche Frustrationen
als mehrheitliche Erfahrung und eine «offene» und «freie» Gesellschaft
stehen einander unversöhnlich gegenüber. Freiheit wird dann zu einer
ideologischen Blase, die nicht mehr in den Seelen der Menschen
wurzelt und durch verantwortungsbewusstes Handeln gestaltet wird.
Eine falsche, überzogene Liberalität, eine im Grunde «vaterlose»
Gesellschaft lässt Menschen mit Strukturhunger hilflos allein. Sie
ertrinken in ihrer Haltlosigkeit oder schaffen sich soziale
Parallelgesellschaften, die mit extremistischen und
fundamentalistischen klaren Ansagen und harten Regeln das seelische
Defizit wie mit Zement auffüllen und stabilisieren. Wenn die Politik
diesen Zusammenhang nicht begreifen und akzeptieren will und
keine Anstrengungen zur Verminderung der psychosozialen Not
unternimmt, führt die Liberalität die Gesellschaft in die Krise. Welche
Illusion und welcher Hochmut zu glauben, man könne
Hunderttausende Migranten aus autoritären
Gesellschaftsverhältnissen und prekären sozialen Bedingungen ohne
größere Konflikte integrieren. Integration heißt zuerst, dass sich die
Menschen aus der seelischen Enge familiärer, kultureller und
religiöser Zwänge befreien.
In der öffentlichen Debatte um die terroristischen Attentate in
Europa (Paris, Brüssel, Nizza, Würzburg, Berlin u.a.) oder das
strafbare Verhalten von Migranten (etwa in der Silvesternacht
2015/16 in Köln und anderswo) hört man öfter den Warnruf:
nur keine Pauschalisierung, bitte keinen Generalverdacht! Das halte
ich, gelinde gesagt, für sehr naiv und ist vermutlich zu einem großen
Teil der Verleugnung unseres falschen Lebens geschuldet. Ich halte
den «Generalverdacht» für angemessen und berechtigt, um die
politisch richtigen und ökonomisch notwendigen Entscheidungen
treffen zu können. Arabische und afrikanische Migranten,
überwiegend muslimischen Glaubens, sind kulturell, religiös,
erziehungs- und beziehungsdynamisch überhaupt nicht auf
freiheitliche und liberale Lebensformen vorbereitet. Angesichts eines
vollständig anders sozialisierten Selbst, verstärkt noch durch
Traumatisierung, ist immer mit schweren individuellen Krisen und
mit einem allgemeinen Kulturschock zu rechnen. Die menschliche
Seele muss sich schützen: durch Erkrankung, durch Ablehnung,
Abwertung und Verachtung der neuen Verhältnisse, durch
Radikalisierung und Kriminalisierung. Wenn wir auf unsere eigenen
deutschen Verhältnisse schauen und zur Kenntnis nehmen müssen,
wie viele Menschen durch psychische und psychosomatische
Erkrankungen, durch Alkoholismus, Drogen und anderes
Suchtverhalten, durch Radikalisierung und Kriminalität zu erkennen
geben, dass sie die innerseelische Reife für ein freiheitliches und
liberales Leben nicht erreichen konnten – weil sie in falsche Selbst
gezwungen worden sind –, dann sind größte Sorgen, wie Migranten
wirklich integriert werden könnten, nur zu berechtigt. Soll Integration
nur halbwegs gelingen, würde das eine grundlegende Umerziehung
(eine bessere als die Reeducation der Deutschen nach dem Krieg),
eine Neusozialisierung voraussetzen. Diese psychosoziale Arbeit ist
noch wichtiger als Sprachkurse, Ausbildung und Arbeit. Westliche
Freiheit und Liberalität sind bei konträrer Sozialisation kein Segen,
sondern ein Fluch, weil dadurch die bisherige seelische Orientierung
infrage gestellt und der bisherige Halt bedroht werden. Deshalb ist es
bis zur Verachtung des westlichen Lebens und zu einer terroristischen
Radikalisierung oftmals nur ein relativ kleiner Schritt. Der
islamistische Terror ist auch ein Abbild schwerster Selbst-Störungen.
Der großartige antiautoritäre, linksliberale Sieg der
Achtundsechziger hatte eine zentrale Schwachstelle: mit dem
erfolgreichen Protest gegen die äußeren Strukturen die innerseelische
Entwicklung zu vernachlässigen und die Entfremdung lediglich zu
übertünchen. Die falschen Selbst haben sich ein liberales Outfit
gegeben. Davon haben Arbeitnehmer, Frauen, Kinder Schwule und
Lesben, Behinderte, Minderheiten und Fremde durchaus profitiert.
Aber äußere Liberalisierung bedeutet noch nicht innerseelische Reife,
mit der Folge, dass der Fortschritt ein bloßes Überbauphänomen
blieb. Vom Erfolg gegen «Rechts» berauscht und ohne psychische
Revolution hat die heutige linksliberale Dominanz die Kraft verloren,
das Kapital zu zügeln, die Globalisierung zu begrenzen, wachsende
soziale Ungerechtigkeit zu verhindern, die erreichten Werte wirksam
zu schützen, bestehende Gesetze durchzusetzen und liberale
Fehlentwicklungen zu stoppen.
Diese Schwäche hat wesentlich zur Banken- und Finanzkrise, zur
Eurokrise, zum Verfall der EU, zur Migrationsproblematik, zur
Hilflosigkeit gegenüber fundamentalistischer Religion und fremder
autoritärer Kultur und vor allem zur Spaltung der Gesellschaft
beigetragen. So ist das Erstarken «rechtspopulistischer» Kräfte und
autoritärer Führungssehnsucht auch eine nahezu zwangsläufige
Reaktionsbildung auf die Illusion linksliberaler Freiheit als Konstrukt
der falschen Selbst. Es droht uns der bloße Wechsel der
normopathischen Fassade – mit Gefahr erheblicher Destruktivität.
20 Schuld und Selbst-Störungen

Wir sind immer in Gefahr, für sehr schmerzliche Ereignisse einen


Schuldigen zu suchen, um dem eigenen Affektstau ein Ventil zu
verschaffen. Damit reduzieren wir die Analyse eines sehr komplexen
Geschehens in unzulässiger, ja ungerechter Weise. Wir werfen Schuld
auf einen Sündenbock, der dann in die Wüste gejagt werden soll im
irrtümlichen Glauben, damit sei alles verstanden, geklärt und
bereinigt. Vor allem die eigenen schuldhaften Anteile sollen so
verborgen bleiben. Ein Täter-Opfer-Verhältnis wird erst dann gerecht
beurteilt, wenn auch der Täter als Opfer gesehen und das Opfer auch
mit seinen Täteranteilen verstanden werden kann. Das ist nie leicht.
Diese Sichtweise exkulpiert auch nicht strafbares Verhalten, aber sie
ist der beste Weg zu Prävention und einem gerechten Verständnis, das
die Basis für wirkliches Vergeben schafft. Dabei werden wir immer
differenzieren müssen, in welcher Weise man sich schuldig gemacht
hat. Es gibt ein schuldiges Verhalten gegen sich selbst (z.B.
gesundheitsschädigendes Verhalten), man kann sich in
zwischenmenschlichen Beziehungen schuldig machen (z.B. durch
Lügen, Betrug, Verrat, Missbrauch). Und man kann schuldig werden,
ohne dies gewollt zu haben, wenn durch das eigene Verhalten – durch
Handeln oder Unterlassen – Dinge passieren, die nicht wirklich
abzusehen waren. So machen sich im Grunde jeder Politiker, jeder
Wissenschaftler und jeder Chef permanent schuldig an
problematischen Entwicklungen und folgenschweren Ergebnissen, die
nicht gewusst, nicht bedacht und auch nicht entsprechend
berücksichtigt werden konnten. Die Verpflichtung, im redlichen
Bemühen, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden und zu
handeln, sichert keine Schuldfreiheit. Dabei ist die Grenze zum
nachlässigen, gewohnheitsmäßigen Tun – in der Erwartung: es wird
schon, wie immer, gut gehen – unscharf und fließend.
Die Frage der «Entschuldigung» müssen wir nach der Art der Schuld differenzieren:

Bei Schuld gegen sich selbst …


… kann man sich zur Entschuldigung um Selbsterkenntnis,
Verständnis und Verhaltensänderung bemühen. Die «Entschuldigung»
kann nur lauten: «Ich beende mein selbst zu verantwortendes
schuldhaftes Verhalten.» Die ist in den allermeisten Fällen erst
möglich, wenn man die Entwicklungsgeschichte, die Motive, den
Grund für das schuldhafte Verhalten wirklich verstanden und
gefühlsmäßig verarbeitet hat. Zur Orientierung für die
Selbsterfahrung können die dargestellten Selbst-Störungen dienen, die
jeder für sich erforschen kann. Dabei spielen auch unbewusste
seelische Vorgänge eine wichtige Rolle, für deren Verständnis meist
Hilfe in Anspruch genommen werden muss. Denn unbewusst ist
unbewusst und lässt sich nicht durch noch so vernünftiges
Nachdenken aufdecken. Vielmehr müssen mögliche Deutungen des
Erlebens und Denkens im Zusammenhang mit lebensgeschichtlichen
Erfahrungen und sich anbahnenden Gefühlen untersucht werden. Als
Zugang zu tieferen seelischen Prozessen können Fehlhandlungen,
Fantasien und Träume genutzt werden. Körperliche Symptome
können versteckte Inhalte transportieren und lassen sich in ihrer
psychosozialen Bedeutung verstehen. Der erwachsene Mensch ist
auch für sein Unbewusstes verantwortlich. Wer sich im Konflikt- und
Krisenfall nicht um Klärung der eigenen verborgenen Anteile bemüht,
macht sich schuldig – an sich selbst und auch hinsichtlich der
eventuellen Folgen.
Im Falle von Beziehungsschuld …
… gilt auch die Verpflichtung, zu erkennen und zu verstehen,
weshalb man sich schuldig gemacht hat. Was ist mein Anteil? Was
habe ich falsch gemacht? Was hat mich dazu gebracht? Welches
Motiv hat mich dazu geführt? Welche Selbst-Störung ist
verantwortlich für mein Beziehungsverhalten? Erst durch Einsicht in
das eigene Fehlverhalten, das auch dem verletzten Beziehungspartner
kommuniziert werden muss, kann eine ehrliche Entschuldigung
ausgesprochen werden: «Ich entschuldige mich bei dir für … Ich habe
eingesehen, dass mein Verhalten … falsch war. Es tut mir leid.» Der
Schuldige kann seine Schuld eingestehen und sich entschuldigen. Er
kann nicht um Entschuldigung bitten, sondern nur um Vergebung.
Der Fall unbeabsichtigter Schuld …
… ist am schwierigsten zu bewerten. Es wird genau geprüft werden
müssen, ob nicht doch Versäumnisse, Schlamperei, Leichtsinnigkeit,
Bequemlichkeit, Faulheit, mangelnde Aufsicht und Kontrolle oder
narzisstische Großspurigkeit und Vorteilnahme eine Rolle gespielt
haben. Dann handelt es sich immer noch um Beziehungsschuld oder
Schuld gegen sich selbst, und es sind Einsicht, Geständnis und
Konsequenzen gefordert. Die Entschuldigung muss lauten: «Ich
entschuldige mich, weil ich … (die und die Fehler gemacht habe).»
Und je nach Art und Schwere der Fehler müssen Konsequenzen
folgen. Eine Entschuldigung dafür, dass man jemanden
möglicherweise verletzt haben könnte, ist verlogen und peinlich. Es
kann nur um die Einsicht in das eigene Fehlverhalten gehen – sie ist
allerdings bei Politikern selten. In den verbleibenden Fällen
schließlich, in denen es zu Folgen kommt, die man durch seine
Entscheidungen zwar zu verantworten hat, aber ohne benennbares,
erkennbares Fehlverhalten, also Schuld durch Folgen, die nicht zu
erwarten und nicht vorauszusehen waren – für eine solche Schuld
braucht man Vergebung durch eine «höhere Macht». Dann kann es
nur heißen: «Ich trage die Verantwortung und entschuldige mich. Ich
habe (überprüft) nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Es tut
mir leid. Ich bitte um Vergebung!»
Selbstschuld kann man sich auch nur selbst vergeben.
Beziehungsschuld kann nur der Betroffene des schuldhaften
Verhaltens vergeben. Bei unbeabsichtigter Schuld werden die
Erkenntnis-, Einsichts- und Verhaltensfreiräume zu überprüfen sein.
Über Strafe und Sühne haben «höhere Mächte», beispielsweise
Vorgesetzte, ein Vorstand, ein Präsident, ein Gericht, zu entscheiden.
Für religiöse Menschen ist Gott die höchste Instanz für
Schuldvergebung. Aber eine psychisch wirksame Schuldentlastung ist
an einen intensiven innerseelischen Prozess der Schulderkenntnis, der
Reue und einer realen Verhaltensveränderung gebunden.
Bezogen auf die Selbst-Störungen entsteht reale Schuld, wenn:

das bedrohte Selbst sich durch Gewalt wehrt und rächt und wenn diese Abreaktion
am «falschen Objekt» geschieht (z.B. Partner, Vorgesetzte, sozial Schwächere,
Andersdenkende, Fremde);
das gequälte Selbst sich der Besetzung und Übergriffigkeit nicht entzieht und sich
missbrauchen lässt oder mit unerlöster Qual andere quält;
das ungeliebte Selbst sich narzisstisch aufbläht und sich damit auf Dauer
überfordert, das soziale Zusammenleben belastet und die Umwelt schädigt
(«Größenselbst») oder sich im «Größenklein» selbst behindert und Unterstützung
von anderen im Grunde erpresst;
das abhängige Selbst Ablösung und Eigenständigkeit verweigert und sich als
Mitläufer in einer Normopathie kritiklos einrichtet;
das gehemmte Selbst die Repression durch Selbstunterdrückung übernimmt und
seine Möglichkeiten nicht entfaltet;
das vernachlässigte Selbst trotzige Verweigerung, Bequemlichkeit und Passivität
kultiviert und soziale Zuwendung einfordert, obwohl es zur Selbstversorgung
prinzipiell in der Lage wäre;
das überforderte Selbst eine Begrenzung nicht akzeptiert, sich durch
permanenten Leistungsstress schädigt, Leistungs- und Wachstumsideologie
kritiklos befördert.

Auch wenn die Selbst-Störungen Folgen von Beziehungsstörungen


sind, die das Selbst beschädigt haben, ist jeder Einzelne (mit
Ausnahme des geistig Behinderten oder psychisch Schwerkranken)
verpflichtet, für seine Selbst-Beschädigungen Verantwortung zu
übernehmen. Das geschieht, indem er lernt, die Folgestörungen so zu
regulieren, dass sie für ihn selbst und für andere weniger schädlich
sind. Ich bin bei der Formulierung vorsichtig, denn das falsche Selbst
lässt sich in der Regel nicht wirklich überwinden oder in ein «wahres
Selbst» verwandeln. Trotzdem kann jeder lernen, mit seinen
Störungen und Begrenzungen kompetent und verantwortlich
umzugehen. Das ist auch der wesentliche Unterschied zwischen
«Heilung» und «Genesung». Die falschen Selbst aus frühen
Beziehungsstörungen sind unheilbar. Diese können nicht ungeschehen
gemacht werden. Dagegen ist «Genesung» in dem Sinne möglich, dass
man lernt, die Folgen der Selbst-Störungen zu regulieren, um weitere
Selbstbeschädigungen zu verringern und zu kontrollieren und um
destruktive soziale Auswirkungen zu verhindern.
Von der realen Schuld durch Selbst-Störungen sind (neurotische)
Schuldgefühle zu differenzieren. Schuldgefühle beinhalten keine
reale, sondern eine fantasierte oder eingebildete Schuld. So entwickelt
zum Beispiel das ungeliebte Selbst Schuldgefühle, wenn es meint, zur
erwünschten Liebe nicht berechtigt zu sein; oder das abhängige Selbst
entwickelt sie, wenn es zur größerer Eigenständigkeit aufbrechen will
und sich für die Traurigkeit der Mutter verantwortlich fühlt. Das
gehemmte Selbst glaubt sich schuldig zu machen und bestraft zu
werden, wenn es eine eigene Entwicklung anstrebt, das
vernachlässigte Selbst könnte sich abwertende Vorwürfe machen,
wenn es aktiv und erfolgreich wird, und das überforderte Selbst
erleidet permanente Schuldgefühle, wenn es seine Leistungen und
Erfolge nicht steigert.

Ich fasse zusammen:

Schuld ist reales Fehlverhalten, gemessen an den menschlichen


Grundbedürfnissen.
Schuldgefühle sind eingebildete oder eingeredete Fehler, gemessen an den
Werten des falschen Lebens.
Reale Schuld wird meistens geleugnet und verdrängt, Schuldgefühle hingegen werden oft
demonstrativ und klagend vorgetragen. Reale Schuld bleibt auf diese Weise versteckt und
wird auf einer Schuldgefühlsbühne ins falsche Leben gebracht. Für das Verständnis der
Normopathie ist dieser individuelle und kollektive Abwehrmechanismus der Verwandlung
realer Schuld in Schuldgefühle hilfreich.

Die Deutschen sind mehrheitlich real schuldig gewesen an den


Verbrechen des Nationalsozialismus. Die DDR-Bürger waren auch real
schuldig an der politisch-ideologischen Repression, am Unrecht
gegenüber Menschen und an der Zerstörung menschlicher Beziehung
sowie am wirtschaftlichen Zusammenbruch des DDR-Sozialismus. Wir
sind heute schuldig an den destruktiven Folgen einer narzisstischen
Gesellschaft mit wachsender sozialer Ungerechtigkeit, zerstörerischen
Umweltfolgen und der ökonomisch nahezu zwingenden Ausgestaltung
eines falschen Lebens. Die reale Schuld besteht in der Projektion der
Bedrohung, der Projektion des Bösen auf Fremde und
Andersdenkende (Projektion der bedrohten Selbst). Die reale Schuld
besteht im vermeintlichen Recht auf ständiges materielles Wachstum
(Wachstums- und Größenwahn der ungeliebten Selbst), im
abhängigen und unkritischen Mitläufertum von politischen und
religiösen Ideologien, in der Akzeptanz ökonomischer Zwänge und
eines vorauseilenden Gehorsams im Political-correctness-Verhalten
(abhängige Selbst), im wehrlosen Erdulden von Zumutungen und der
Resignation, dass man ja doch nichts machen könne (gehemmte
Selbst), in der passiven Versorgungsmentalität (ungefördertes Selbst)
und im unerbittlichen Ehrgeiz und Konkurrenzstreben der
überforderten Selbst. Dies alles wären notwendige Themen der
Erkenntnis, des Bedauerns, der Reue und realer
Verhaltensänderungen, um reale Schuld zur individuellen und
beziehungsdynamischen Vergebung zu bringen.
Stattdessen dominiert Schuldabwehr: «Ich war nicht beteiligt, ich
habe davon nichts gewusst, ich habe das nicht gewollt, man konnte ja
nichts dagegen tun, es war ja auch nicht so schlimm, ‹die anderen›
waren eben auch schuld, in der Vergangenheit wühlen bringt gar
nichts, wir müssen und wollen jetzt nach vorne schauen!»
Statt der Akzeptanz und Verarbeitung realer Schuld bleibt eine
Schuldgefühlskultur: Feierstunden, Gedenktafeln, Museen,
Ausstellungen, Gedenkrituale, Beschwörungsfloskeln («Nie wieder!»),
Gelöbnisse und Lippenbekenntnisse. Das kann durchaus höchst
ehrenwert gemeint sein, ist jedoch mit der großen Gefahr verbunden,
dass die eigentliche und höchst individuelle Schuld unverstanden und
verborgen bleibt. Die solchermaßen uneingestandene Schuld bleibt
aber ein Ausfluss der falschen Selbst; sie wird sich zwingend andere
Tummelplätze suchen und diese zu einer neuen Normopathie
ausformen. Das Leben im falschen Selbst erzeugt unvermeidbar
schuldiges Verhalten. Ohne das Bemühen um Selbsterkenntnis an
schuldiger Beteiligung gibt es keine psychosoziale Reifung, nur
andere Formen der Normopathie.
Man kann sich mit Wirtschaftserfolgen oder einer Ideologie von
Frieden und sozialer Gerechtigkeit von schuldhafter Beteiligung an
Verbrechen ablenken. Man kann in einer «Willkommenskultur» die
schuldhafte Gier am Wohlstandsleben zu beschwichtigen versuchen.
Man kann im Kampf und Hass gegen Andersdenkende, gegen
Radikale und Terroristen sich als edel und gut wähnen – aber eine
Chance oder gar Garantie für «Heilung» des falschen Selbst ist damit
überhaupt nicht gegeben. Der entscheidende Unterschied liegt darin,
ob man gegen das «Böse» kämpft, um eigene Selbst-Störungen zu
verbergen, und damit die feindselige Auseinandersetzung anheizt oder
ob man sich zwar klar abgrenzt, aber eine klärende Kommunikation
befördert, bei der auch die eigene Haltung und Einstellung zur
Debatte steht und nicht nur die gegnerische Position kritisiert und
abgelehnt wird, um damit zu einer wirklichen Verständigung zu
kommen, inklusive der Motive und Gründe der Verschiedenheit.
21 Protestbewegungen spiegeln falsches Leben

Kollektive Protestbewegungen entstehen zumeist dann, wenn die


«falschen Selbst» mit ihren (Ersatz-)Entwicklungschancen eine
kritische Grenze der möglichen (Ersatz-)Befriedigung erreicht haben.
Dann wirken die Drogen des «falschen Lebens» nicht mehr
ausreichend beruhigend und ablenkend und es werden Kräfte für den
Protest und für Veränderungswünsche frei. Der Widerstand kündigt
einen Gesundungswillen an, der sich aber häufig in einer neuen Form
des falschen Lebens verirrt. Die Achtundsechziger-Revolte hat sich am
eigenen Terrorismus stranguliert oder im «Gang durch die
Institutionen» kastriert. Die «Revolutionäre» von 1989 sind in den
«Westen» übergelaufen und haben sich an neue «Herren» verkauft.
Die «falschen Selbst» haben sich neu eingekleidet!
Protest transportiert immer einen Ich-Willen, formuliert ein «Nein»
gegen erlebte Belastung, Benachteiligung und Kränkung. Protest
entsteht zumeist aus einem Zusammenspiel einer individuellen
innerseelischen Krise und realen äußeren Belastungen und
Bedrohungen, verbunden mit der Gefahr, dass dann nur noch die
äußeren Auslöser und kritikwürdigen Verhältnisse angeprangert
werden, ohne die Qual der falschen Selbst zu erkennen. So kann der
Protest auf eine erneute Stabilisierung des Lebensarrangements der
falschen Selbst orientiert sein, ist immer aber auch von der tieferen
Hoffnung getragen, Wege zu einem echteren Leben zu finden.
Bei Protest sollten wir differenzieren: Was ist sachlich gebotener
und emotional berechtigter Protest, im Grunde ein Aufschrei, um sich
vom falschen Leben zu befreien? Oder dient der Protest der Erhaltung
der Fälschung, wenn reale Veränderungen die bisherige Anpassung
und den Erfolg der Kompensationsleistungen bedrohen? So gesehen
müssen wir zwischen «echtem» und «falschem» Protest unterscheiden.
Echter Protest ist inhaltlich wohlbegründet, logisch und
nachvollziehbar. Echter Protest ist zielorientiert und will real etwas
verbessern. Er sucht deshalb nach Wegen zwischen Durchsetzung,
Anpassung und Rückzug. Gesunder Protest ist weniger egoistisch (das
natürlich immer auch!) und mehr ganzheitlich, systemisch gedacht,
das Zusammenspiel der Beziehungspartner und des Individuums mit
der Gesellschaft sowie die globalen Folgen bedenkend. Echter Protest
bemüht sich um Integration, steht im Dienst optimaler Lösungen für
alle Betroffenen und sucht gute Kompromisse. So bleiben Kritik und
Suche kreativ, die Protestierenden können dazulernen und sich Fehler
eingestehen. Individuelle Motive werden nicht verborgen, sondern
stehen zur Diskussion.
«Falsche» Proteste, die falsches Leben verteidigen, sind
affektgeladen, unsachlich, irrational und verweigern den inhaltlichen
Disput. Das «Falsche» ist auf eine Position zwanghaft festgelegt, lässt
keine Zweifel und Einsicht zu und ist nie bereit, Fehler zuzugeben. Es
geht nicht um gemeinsame Lösungen, nicht um Kompromisse,
sondern um Machteroberung oder nur um Verbesserung oder erneute
Stabilisierung der eigenen Position. Falscher Protest ist phrasenhaft,
ideologisiert, demagogisch und feindselig gegen andere Meinungen.
Die Frage, ob Protest die eigene Entfremdung verteidigt oder
befreit und heilsam wirken kann, setzt die kritische Reflexion und
Auseinandersetzung über die Quellen der Unzufriedenheit voraus. In
einer Protestbewegung ist es allerdings wesentlich schwieriger, die
innerseelischen Spannungen zu ergründen, wenn sie vom
Kollektivunmut überschwemmt werden. Dann wächst auch die Gefahr
irrationaler Zuspitzungen des Protestes bis hin zu Gewalt, Hetze und
anderen strafbaren Delikten. Protest muss zwar nach innerseelischen
Motiven analysiert werden, das darf aber die Realkritik durch
Psychologisieren nicht vernachlässigen. Allerdings wird viel häufiger
mit dem Mittel der Politisierung die individuelle Problematik
verleugnet und übersehen. So können die Helden einer Revolution in
vergleichbarer Weise seelisch eingeengt sein wie die soeben mit
ehrenwerten Motiven bekämpfte, ermordete oder davongejagte
Machtelite.

Das äußere Konfliktthema transportiert – meist versteckt – eine


innerseelische Konfliktdynamik mit ganz persönlichen Motiven.
Insofern transportiert jeder Protest ein wichtiges Problem und ist
nicht nur zu feiern oder zu verurteilen, sondern durch Analyse und
Verstehen kritisch zu hinterfragen. In jedem Protest liegt immer eine
tiefe Wahrheit verborgen, egal wie verstört, überzogen, demagogisch
und inhaltlich falsch er vorgetragen wird. Mit einer Nichtbeachtung,
bloßen Ablehnung oder offensiven Abwertung einer kritischen
Opposition wird nichts verstanden und ist gar nichts gewonnen,
sondern nur Öl ins Feuer wachsender Feindseligkeit gegossen. Protest
kann immer als ein Aufschrei «falscher Selbst» verstanden werden.
Ein Gegenprotest und die diffamierende Bekämpfung einer kritischen
Position sind aber auch nur das Symptom «falscher Selbst». Im
Grunde sind Protest und Gegenprotest Spiegelbilder der Verteidigung
des falschen Lebens, nur auf entgegengesetzten Positionen.
Für den sozialen Frieden ist es verhängnisvoll, wenn die Mehrheit
jene beschimpft, die ihre Angst vor Veränderung und sozialer
Bedrohung herausschreien. Man stürzt sich dann auf wilde und
überzogene Parolen oder falsche Behauptungen. Dabei fällt der Eifer
auf, mit dem unangemessene und provokante Sprüche als «Beweis»
ausgeschlachtet werden, nur um die Kritik zu diffamieren und auf
keinen Fall inhaltliche Wahrheiten zuzulassen. Was ist gefährlicher:
ein dummer Spruch, der Affekte veröffentlicht, oder ein
diffamierendes Argument, das die inhaltliche Auseinandersetzung
über konfliktreiche Entwicklungen verhindern will? Wenn man
Protest moralisch oder physisch zum Schweigen bringt, werden die
wirklichen Probleme nicht beseitigt. Der ungeklärte Unmut aber staut
sich leicht zu Hass.
Äußere Demokratie lebt von äußeren Kämpfen auf
Symptomebene. Ein Sieg ist dann überhaupt keine Garantie für die
richtigere und bessere Lösung, sondern oft nur das Ergebnis
gekonnter Suggestion und Manipulation durch Machtmittel, durch
Tricks, durch Einfluss geschickter Berater und finanzstarker
Lobbyisten, um eine Mehrheitsmeinung zu erreichen. Mehrheiten
aber, die «falschen Selbst» geschuldet sind, können auch nur ein
«falsches Leben» generieren. Protest wird erst dann wirklich kreativ,
wenn die tragende innerseelische Problematik und das individuelle
Motiv erkennbar werden. Die Klärung der Selbst-Anteile ermöglicht
Verständnis und Akzeptanz mit der Potenz, eigene
Fehleinschätzungen zu erkennen und individuelle Lösungen zu finden.
Der Sachstreit mit dem Machtanspruch zur Verteidigung der eigenen
entfremdeten Position kann sich durch die Selbstanalyse in ein
tolerantes Nebeneinander unterschiedlicher Lebenserfahrungen mit
der Chance der Akzeptanz der Verschiedenheit verwandeln. Statt
Kampf und Streit der einseitigen Positionen falscher Selbst ist mit
dem Eingeständnis eigener Begrenztheit ein Interesse an ergänzender
Zusammenarbeit mit anders Begrenzten denkbar. Dadurch werden
auch Entwicklungschancen zum Abbau der eigenen Entfremdung
gefördert. Statt Kampf um Mehrheiten in äußerer Demokratie könnte
eine Konsenspolitik auf der Basis reifender Selbst wachsen, die nach
der besten Lösung für alle strebt.
Jede Protestbewegung fordert uns alle und verdient auch eine
inhaltliche Auseinandersetzung. Und das heißt: Auch wenn sie
wehtut, sollte berechtigte Kritik dankbar bestätigt werden, weil
dadurch eine Fehlentwicklung der Gesellschaft oder ein Versagen der
politischen oder wirtschaftlichen Führung angezeigt wird.
Unterschiedliche Sichtweisen dürfen nicht machtorientiert bewertet,
sondern müssen lösungsorientiert diskutiert werden. Erkennbare
falsche Positionen müssen inhaltlich aufgeklärt werden;
demagogische Hetze hingegen sollte sich ohne Gegenaggression ins
Leere verlieren.

Proteste müssen auf drei Ebenen analysiert werden:

1. der Ebene der individuellen Motive


Jede Selbst-Störung ist belastet durch erlittene Bedrohungen,
Kränkungen, Verletzungen und Mangelerfahrungen, wie ich sie bei
den verschiedenen falschen Selbst dargestellt habe. Zum Beispiel ist
von «Pegidisten» zu hören: «Ich werde nicht ernst genommen. Ich
fühle mich ohnmächtig. Ich habe keinen Einfluss auf politische
Entscheidungen, die mein Leben beeinflussen und verändern. Ich
fühle mich ausgeliefert, bedroht, finde keinen Halt, keine
Orientierung mehr, meine Sicherheit steht infrage.» Dies sind
deutliche Grundmelodien gestörter Selbst, die aber vordergründig an
den gesellschaftlichen Veränderungen festgemacht werden, die nach
der Wende in Ostdeutschland zu bewältigen waren und jetzt durch
die Globalisierung, die Finanz- und Eurokrise, die
Flüchtlingsproblematik und die islamistische Terrorgefahr als reale
Belastungen erlebt werden. Aber bei tiefenpsychologisch orientierter
Analyse werden die inneren Selbst-Störungen erkennbar, die schon da
sind, und können von der Realbedrohung differenziert werden. Es
wird für den Einzelnen immer abzuwägen sein, was individuell-
lebensgeschichtliche und was aktuell reale gesellschaftliche
Problematik ist, um Individuelles nicht zu politisieren (auf der Straße)
und Politisches auch nicht zu psychologisieren (durch Verstehen).
2. der Ebene der sozialen Motive
Soziale Ängste, die im Protest Ausfluss suchen, lassen sich bei den
Ostdeutschen relativ leicht verstehen. Fast jeder hat mit der
Vereinigung Deutschlands einschneidende Lebensveränderungen
hinnehmen müssen. Dabei haben sehr viele Menschen Halt,
Sicherheit, Orientierung und an sozialer Bedeutung verloren. Die den
DDR-Berufen zugrunde liegenden Kompetenzen waren mehr oder
weniger unbrauchbar geworden, der Wertekanon der DDR-
Verhältnisse (Anpassung, Unterwerfung, Vorsicht, Zurückhaltung,
passiver Widerstand, Kollektivgeist, soziale Rücksichtnahme und
Nachbarschaftshilfe, Leben in Nischen, aber auch gesicherte
Grundversorgung durch Arbeit und Wohnung) war über Nacht zu
Fehlanpassungen mutiert oder ganz verloren gegangen, denn jetzt
waren Egoismen, individuelle Stärke, Durchsetzungskraft,
Konkurrenzdenken, Sich-darstellen-und-verkaufen-Können angesagt.
Die Vorstellung, dass im Westen alles nur besser sein würde, war
rasch als Irrtum erkannt. Dass bei vielen Menschen persönliche
Hoffnungen und Erwartungen enttäuscht wurden, hat eine erhebliche
psychosoziale Labilisierung bewirkt. Man gibt nicht gerne zu, sich so
getäuscht zu haben. Es ist vielen peinlich geworden, gehofft zu haben,
dass sie in «blühende Landschaften» geführt würden und dabei auch
ihre Seelen aufblühen könnten. Wenn die materielle Versorgung, die
Lebenssicherheit, der soziale Status und die Rahmenbedingungen für
die Selbstentfaltung gefährdet sind, sind Protestbewegungen gesunde
Reaktionen – sie müssen nur verstanden und aus plakativer Polemik
in die realen kritikwürdigen Verhältnisse übersetzt werden.
3. der Ebene der gesellschaftlichen Motive
Das betrifft die politischen Fehlentwicklungen im «falschen Leben»
von der Vereinigungspolitik über die Asyl- und Flüchtlingspolitik bis
hin zur globalisierten Wirtschaftspolitik. Es beinhaltet kritische
Fragen zur Entwicklung der Demokratie und der kapitalistisch
dominierten Lebensform. Wachsende Armut, ungeklärte Fragen der
Euro- und Finanzkrise, die Herrschaft der Banken, die Ausbeutung
von Menschen und von Ressourcen, selbstverschuldete
Klimaveränderung, Umweltzerstörung, Artensterben, Tierquälerei, die
Radikalisierung mit Gewalt, Terror und Kriegen sind Anlass genug,
um tief beunruhigt zu sein und mit Protest klare Entscheidungen,
ehrliche Aussagen, hilfreiche Orientierung und vor allem Schutz und
Sicherheit einzufordern. Begriffe wie Patriotismus, Heimat, Tradition,
Nation, Sprache, Kultur und Religion sind Transportwege für das
Bedürfnis nach Halt und Zugehörigkeit, die angesichts einer durch
Globalisierungsprozesse und mediale Informationsüberschwemmung
unüberschaubar gewordenen, entgrenzten Welt zum Anker für soziale
Geborgenheit und Orientierung werden. Ökonomisch dominierte
Globalisierungsprozesse dienen vor allem der Profitmaximierung, sind
aber eine Extrembelastung für die Menschen mit Verlust an Halt,
Orientierung, Übersicht und Selbstwirksamkeit, was für alle Selbst-
Störungen eine Katastrophe ist. Im falschen Leben ist Kritik die
einzige Chance, die Entfremdung zu erkennen, zu regulieren und zu
verringern. Deshalb: Ehren wir die Proteste, würdigen jeden
Widerstand und bemühen uns um Analyse und Verstehen! Wenn sich
Demokratie auf den Kampf «falscher Selbst» um Mehrheiten reduziert,
hat das ihre normopathische Perversion zur Folge. Wenn Politik und
Gesellschaft sich aber bereitfinden, Proteste als Symptome von
Fehlentwicklungen zu verstehen, ihre tiefere Bedeutung zu erfassen
und in die Entwicklung der Gesellschaft zu integrieren, kann «falsches
Leben» allmählich gesunden. Jeder Straftäter ist ein Täter, der in die
Schranken gewiesen und bestraft werden muss.Aber er ist immer auch
Opfer, dessen Lebensgeschichte uns die Wurzeln «falschen Lebens»
auf drastische Weise aufzeigt, die wir alle mehr oder weniger auch in
uns selbst und den sozialen Strukturen wiederfinden können. «… der
werfe den ersten Stein!»
22 Populismus als Herausforderung

«Populismus» wird aktuell überwiegend als diffamierendes


Schimpfwort, als Kampfbegriff der Abwertung benutzt. Warum?
Gegen die «Stimme des Volkes», den Souverän der Demokratie, kann
der Vorwurf nicht gerichtet sein. Den «Populisten» wird vorgeworfen,
dass sie einfache Lösungen für komplexe Prozesse vorgeben und mit
unrealistischen Phrasen falsche Hoffnungen schüren, nur um selbst
Bedeutung und schließlich Macht zu erlangen. Ihnen werden
unlautere Suggestionen und Manipulationen im Kampf um
Mehrheiten in einer «äußeren» Demokratie vorgeworfen. So gesehen
aber ist «Populismus» politisches Tagesgeschäft jeder Partei: mit
plakativen Verheißungen, eingängigen Phrasen und emotional
getragenen Überzeugungen schwierigste Krisen und eine unsichere
Zukunft bewältigen zu wollen mit dem obersten Gebot: Nur keine
Beunruhigung des Volkes! Die Menschen sollen vor Ängsten, Sorgen
und Zweifeln geschützt werden. Das hat eine gewisse Berechtigung,
denn jede Form von Massenpanik ist hochgefährlich mit meist
destruktiven Folgen. Letztlich aber sind alle Politiker Populisten. Um
an die Macht zu kommen, müssen sie die Sehnsüchte und Bedürfnisse
der falschen Selbst mit entsprechenden Programmen ausnutzen. Wir
wissen alle, dass das, was vor der Wahl versprochen wird, meistens
nicht erfüllt wird. Und auch die Medien haben eine starke
populistische Tendenz, um Marktanteile durch Einschaltquoten und
Verkaufszahlen zu ergattern. Wir wissen auch alle, dass guter
Journalismus durch den schlechten Geschmack entfremdeter Selbst
korrumpiert werden kann.
«Populismus» wird also nicht selbstkritisch verstanden –
als Kennzeichen eines zweifelhaften Kampfes um Macht oder Quoten
– und schon gar nicht als seriöses Bemühen, der «Vox populi» eine
kreative Arena zu verschaffen. Vielmehr werden unter dem Begriff
projektiv abwertend alle lautstarken Kritiker subsumiert,
insbesondere dann, wenn der Protest Tabuthemen berührt. Und zum
Tabu wird mit wachsender Gesellschaftskrise alles erklärt, was nicht
mehr dem Willen und den Interessen der Machteliten entspricht.
Dann verkörpern sogenannte «Populisten» Positionen, die das
etablierte «falsche Leben» kritisieren oder denunzieren. Damit ist
nicht etwa gesagt, dass die Proteste inhaltlich etwa besser oder
richtiger seien als das, was sie kritisieren. Im Gegenteil, nicht selten
werden sie polemisch-feindselig und primitiv-pöbelhaft vorgetragen,
was ihre Diffamierung leicht macht. Dennoch sind sie wichtig, um
den kollektiven Abwehrpanzer einer normopathischen Gesellschaft
aufzuweichen und durchlässiger werden zu lassen.
Die «Populisten», die zurzeit europaweit an die Macht drängen
und in den USA mit Donald Trump bereits die Macht erobert haben,
sind natürlich keine Garanten für eine bessere Politik. In den USA hat
diese Entwicklung bereits groteske Züge angenommen, wenn das
«Prekariat» ausgerechnet von Milliardären reale Besserstellung
erhofft. Aber vielleicht ist die Hoffnung auf neue Arbeitsplätze schon
Droge genug, um sich im falschen Leben wieder stabilisieren zu
können. Trump steht bestimmt nicht für einen Ausstieg aus dem
falschen Leben kapitalistischer Normopathie, sondern für deren
«Rettung» gegen eine größere globale Gerechtigkeit und Liberalität.
«Amerika first» höre ich als entsprechenden Schlachtruf.

Diese Entwicklung wird von zwei typischen Auffälligkeiten falschen Lebens begleitet:

1. Dass «Populisten» an Einfluss gewinnen, zeigt die Spaltung zwischen politisch-medialen


Eliten und einem Großteil der Bevölkerung auf. Drohende
grundsätzliche
Lebensveränderungen werden geahnt und von den «Abgehängten»
fast schon leibnah erfahren. Für visionäre Gesellschaftsentwicklungen
aber gibt es zurzeit keine intellektuelle und politische Kraft.
Terrorismus, Migration und Klimaveränderungen nehmen bedrohliche
Formen an, so dass die erreichten «westlichen» Kompensationen des
falschen Lebens wie Wohlstand, Freiheit, Sozialstaat und Liberalität
brüchig werden. Die falschen Selbst rufen nach Rettung, nicht nach
Befreiung. «Rettung», das wäre nur die Restaurierung bisheriger
Erfolge kapitalistischer Normopathie, «Befreiung» hingegen wäre der
schmerzliche Erkenntnisweg der eigenen Entfremdung mit der
verunsichernden Suche nach neuen Verhältnissen des ökonomisch-
sozialen Zusammenlebens weltweit. Das Letztere bleibt bestimmt
Utopie.
Trotzdem: Das falsche Leben wird immer stärker als «falsch»
empfunden. Das «Falsche» war in letzter Zeit zunehmend mit einem
Zwang zur politischen Korrektheit tabuisiert worden. Deshalb wird
jeder, der frech und unverschämt die Tabus verletzt, entweder
verfolgt, weil er schlimme Wahrheiten aufdecken könnte, oder
gefeiert, weil der schwelende Unmut, die Ängste und Sorgen endlich
auch ein Sprachrohr finden. Die Populisten sind die Lobbyisten des
Gesellschaftsprotestes. Die Populisten vertreten vor allem die
bedrohten, abhängigen und gehemmten Selbst sowie die ungeliebten
Selbst im narzisstischen Größenklein. Die politisch-mediale Macht
hingegen vertritt vor allem die ungeliebten Selbst im narzisstischen
Größenwahn und die unbegrenzten Selbst in ihrer Leistungs- und
Wachstumssucht.

2. Mögliche Abweichungen vom falschen Leben werden aber nicht nur diffamiert, sondern vor
allem als schlichtweg unrealistisch, im Grunde als unmöglich eingeschätzt. Dieser
bedenkliche Irrtum ist vor allem beim Brexit und der Wahl von
Donald Trump aufs Peinlichste aufgedeckt worden. Klassischer kann
nicht vorgeführt werden, dass nicht sein kann, was nicht sein darf! Es
folgen die klassischen Abwertungen: Großbritannien stürze sich in ein
Wirtschaftsdesaster, Trump könne doch nur von den alten, weißen,
ungebildeten, abgehängten Männern vom Lande gewählt worden sein.
Er wird jetzt sicher im «Weißen Haus» wie in einer Erziehungsanstalt
Vernunft annehmen müssen. Warum aber wählen etwa 60 Millionen
Amerikaner einen «Rüpel»: populistisch, rassistisch, sexistisch? Weil
die populistischen Entladungen dem falschen Leben die politisch
korrekte Maske herunterreißen.
Der «Stammtisch» ist der seelischen Wahrheit oft näher als
moralische Statements sozialer Tugendhaftigkeit. Mit
skandallüsternem Blick auf sehr auffällige Persönlichkeiten wird die
Krise der Normopathie übersehen oder geleugnet. Es dominiert
Entsetzen über den Wahlerfolg eines Populisten, aber leider kein
Erschrecken über die kranken gesellschaftlichen Verhältnisse, die für
das Wahlergebnis verantwortlich sind. Beruhigungsformeln wie «Es
wird schon nicht so schlimm, wie es im Wahlkampf aussah!», «Trump
wird sich der politischen Realität beugen müssen!», «Schlimmstenfalls
verlieren wir vier Jahre!» sind dann Suggestionen, um nicht zur
Kenntnis nehmen zu müssen, dass die Entwicklung wirklich
«schlimm» ist. Aber in erster Linie nicht wegen Trump, sondern
wegen der bedrohlichen Krise des falschen Lebens, für die Trump nur
ein Symptomträger ist. Der Größenwahn der westlichen Welt hat
seine kritische Grenze erreicht. Das Erstarken nationalkonservativer
Kräfte erlebe ich wie eine Notbremse gegen das Profitdiktat globaler
Grenzenlosigkeit. In dieser grundsätzlichen Krise soll Angela Merkel
das «letzte Bollwerk» der «westlichen Freiheit» sein?
Viele Wähler werden wohl dieser verhängnisvollen Illusion
verfallen, damit sie ihr eigenes falsches Leben nicht erkennen müssen.
Das sind die Kräfte der Normopathie! Wir sollten uns nicht von den
medial hysterisierten Kämpfen zwischen den Macht-Populisten und
den Protest-Populisten anstecken lassen, sondern den immer wieder
verfemten «Dritten Weg» nach neuen Lebensformen suchen.
Populismus und politische Korrektheit sind keine guten Ratgeber
mehr für die Auseinandersetzungen, die wir führen müssen, um
falsches Leben zu erkennen und echteres Leben zu definieren und zu
gestalten.
23 Zur Ehrenrettung der Ostdeutschen

Ich habe mich zur Normopathie der DDR-Gesellschaft ausführlich


geäußert und die Ursachen und Folgen des politisch-repressiven DDR-
Systems umfassend und sehr kritisch dargestellt.[3] Ich habe
überhaupt keinen Grund, die DDR-Verhältnisse zu bagatellisieren
oder gar zu verklären. Mir ist auch eine «Ostalgie» fremd, aber ich
konnte, wie viele andere auch, das Leben in der DDR erst nach der
Vereinigung der beiden deutschen Staaten real wertschätzen.
In Relation zur westlichen Lebensart erschienen die DDR-
Verhältnisse in einem milderen Licht, und damals erkämpfte
Freiräume und bestandene Bewährungen erfuhren eine Aufwertung
und wurden bedeutungsschwer. Nicht in der Partei seine Restfreiheit
aufgegeben, seine Seele nicht der Stasi verkauft und die Würde – bei
aller Gehirnwäsche und Nötigung – irgendwie doch bewahrt zu
haben, konnte ich erst später als ehrenvoll erleben. Zu DDR-Zeiten
kannte ich eine ständige innere Auseinandersetzung, verbunden mit
Ängsten, Zweifeln, Skrupeln und Selbstvorwürfen, ob es nicht doch
besser wäre, im Strom der normopathischen Anpassung, Lüge und
Vorteilshoffnung einfach nur mitzuschwimmen. Permanent war es
erforderlich, sich nach außen irgendwie zu erklären, zu verteidigen
und zu entschuldigen – und das war nicht immer sehr geschickt und
ehrenvoll, sondern mitunter auch feige, verlogen und peinlich. Aber
auch die Scham wurde eine wichtige Lehrmeisterin in der
Auseinandersetzung zwischen individueller Würde und
normopathisch-ideologischen Anforderungen. Es hat aber einfach
auch Laune gemacht, im privaten Bereich die staatliche Ideologie zu
entlarven, sich der Repression in Nischen zu entziehen, im
allgemeinen Mangel kreativ zu werden und in den ganz persönlichen
Beziehungen sehr ehrlich und offen zu sein und dabei Entlastung,
Verständnis und Hilfe zu erfahren. Der Nächste war fast automatisch
nur Freund oder Feind als ein Spaltungssymptom – selbst wenn die
Spitzelei die Grenzen mitunter verwischt und später auch schwere
Enttäuschungen ausgelöst hat. Freundschaften wurden ohne
besondere Beachtung des Sozialstatus gepflegt und vermeintliche
«Feinde» gemieden oder – als Vorgesetzte, als Fremde oder auch bei
den Behörden – mit Vorsicht behandelt und mit Lügen abgespeist. Der
Nachbar war in aller Regel potentieller Helfer und Tauschpartner. So
war das soziale Leben weniger falsch, wir legten großen Wert auf
Freiräume, ohne soziale Maske und verlogene Heuchelei.
Mit der Verwestlichung kam eine neue Entfremdung: Nun musste
man sich gut darstellen, sich anbieten und verkaufen lernen, etwas
hermachen, immer gut drauf sein, keine Schwächen oder Ängste
zugeben und am besten mit Karriere, Reisekilometern und
demonstrierten materiellen Erfolgen prahlen. Plötzlich war wichtig,
wie man sich kleidete, welches Auto man fuhr, wie man wohnte und
was man an Äußerlichkeiten vorzuweisen hatte. Relative
Gleichrangigkeit mutierte zu sozialer Hierarchie, freundschaftliche
und hilfreiche Beziehungen verloren sich in bewertenden, neidischen
Konkurrenzverhältnissen. Am schlimmsten war für viele der Wechsel
von Internalität zu Externalität in den Sozialkontakten: Man sprach
immer weniger von sich und stattdessen immer mehr über etwas. Die
Beziehungen wurden für Ostdeutsche kälter, distanzierter,
unpersönlicher, fremder. Statt Freund oder Feind gab es jetzt
Gewinner oder Verlierer. Beziehungen wurden kommerzialisiert, und
bei dieser Bemessung waren und bleiben die Ostdeutschen
benachteiligt. Ihnen fehlten die Erfahrung, die Übung, das Geld, der
Besitz, die anderen Seilschaften und die unlauteren Tricks für den
äußeren Erfolg. Innere Werte waren auf dem materialisierten Markt
nichts mehr wert. So blieben die Ostdeutschen häufig real
Benachteiligte, Degradierte, Übers-Ohr-Gehauene, manchmal
Bemitleidete und Verhöhnte, auf keinen Fall aber Vorbilder für eine
andere Lebensweise und eine besondere Beziehungskultur.
Wie auf einer großen Bühne ließ sich der Normopathie-Wechsel
studieren. Mit der Verklärung des «Westens» («Es wird alles nur
besser») und der pauschalen Abwertung des «Ostens» («Es war alles
schlecht») versuchte jeder Mitläufer, sich als eigentlicher
Oppositioneller darzustellen und sich sogar selbst so zu verstehen,
verbunden mit alleinigen Schuldzuweisungen an die «Betonköpfe» der
Partei und Regierung und mit einer Hetzjagd gegen die Stasi – mehr
gegen die Inoffiziellen Mitarbeiter, die Spitzel und Denunzianten als
gegen die Hauptamtlichen. («Wir sind gar nicht schuld – ihr seid
schuld!», «Man konnte ja nicht anders!»). Die reale Schuld der
Machtelite der DDR machte es – wie immer – leicht, individuelle
Mitschuld zu verleugnen und zu projizieren. Da aber die zumeist
illusionären Hoffnungen auf ein in jeder Hinsicht besseres Leben im
Westen für viele sich nicht erfüllten, wuchs eine neue Spaltung
zwischen «Neuwessis» und «Ostalgikern». Die einen hatten sich
erfolgreich «gewendet», die anderen litten unter den neuen
Lebensbedingungen und Enttäuschungen und sehnten ehemalige klare
Orientierung, Sicherheit und Anerkennung zurück. Der Verlust an
Sozialstatus, berufliche Degradierung, Zwang zur Umschulung und
vor allem die völlig unbekannte Arbeitslosigkeit waren die Ursachen
für eine unvermeidbare Ernüchterung. Die «zähneknirschende
Normopathie» der DDR war nach der nur sehr kurzen Zeit eines
Freifluges wieder von einer harten und bitteren «Marketing-
Normopathie» eingefangen, die als «lächelnde Normopathie» die neue
Verlogenheit und die harten Marktbedingungen verbarg.
Der versuchte Normopathie-Wechsel der Mehrheit der
Ostdeutschen ist nicht ehrenvoll. Im Grunde genommen haben wir
unsere «friedliche Revolution» an die Bundesrepublik verkauft, wobei
der meiste Gewinn wieder in den Westen zurückfloss. Reale Werte
gegen Hoffnung und Illusion!
Zur Überwindung der ostdeutschen «Normopathie» wäre der
erfolgreiche Abschluss der Revolution mit juristischer Bestrafung der
real Schuldigen, einer neuen Verfassung, neuen Gesetzen,
eigenverantwortlicher Neuregelung der Wirtschaft, der
Eigentumsverhältnisse und ausführlicher Diskussion über die
politische und militärische Orientierung erforderlich gewesen. Am
wichtigsten aber wäre eine intensive Analyse der individuellen
Gründe und Selbst-Störungen für das Mitläufertum gewesen – das
Bemühen also um eine innerseelische Demokratisierung statt
geschenkter und gekaufter äußerer Demokratie. Vermutlich wäre es
uns kollektiv-wirtschaftlich wesentlich schlechter gegangen, aber
ohne die große Spaltung zwischen den Wende-Gewinnern und vielen
Wende-Verlierern. Auf jeden Fall aber hätte es eine Herausforderung
und Chance für psychische Reife (eine «psychische Revolution»)
gegeben. Dass wir Ostdeutschen dies nicht wollten und von den
dominierenden Westdeutschen eine Kritik an ihrer Entwicklung nicht
zugelassen wurde, ist die Folge unseres beidseitig falschen Lebens.
Wir hätten Gelegenheit gehabt, die Selbst-Störungen in Ost wie West
zu erkennen, zu relativieren und ausgleichen zu lernen –
beispielsweise zwischen dem westdeutschen «Größenselbst» und dem
ostdeutschen «Größenklein» zu einer gemeinsamen Größenrealität mit
unterschiedlichen Selbstfähigkeiten und Selbstbegrenzungen zu
finden. Es bringt nichts, darüber zu klagen, was wir nicht gekonnt
haben, aber analysieren und verstehen sollten wir es, um weitere
Fehlentwicklungen abzuwenden.
Die Ehrenrettung der Ostdeutschen angesichts des NSU und des
Aufblühens rechtsextremer Gruppierungen, aber auch angesichts der
verfemten Pegida-Proteste und des Zustroms zur AfD beginnt bei der
Feststellung, dass das westliche Leben nicht wirklich das Bessere ist,
sondern nur ein anderes mit wichtigen Vorzügen und erheblichen
Nachteilen. Eine Spaltung in das bessere und das schlechtere
Deutschland ist nur eine recht primitive Sicht und dient der Abwehr
sowohl der vergangenen als auch der gegenwärtigen individuellen
Schuld des Mitläufertums in den drei Normopathien seit 1933. Eine
ehrliche und intensive Auseinandersetzung mit den Vor- und
Nachteilen marktorientierter Zwänge (West) und einer erzwungenen
sozialorientierten Utopie (Ost) hat es nie gegeben. Die
Vereinigungspolitik wurde nie wirklich infrage gestellt. Die
Psychodynamik des Vereinigungsprozesses, die ich als «Herrschafts-
Unterwerfungs-Kollusion» bezeichne, wurde nicht kritisch diskutiert,
sondern, noch bevor Angela Merkel ihre auffällige Dominanz
entwickeln durfte, schon von Anfang an als «alternativlos»
eingeschätzt. Das traf sicherlich für die Profite und Selbstbestätigung
der westdeutschen Gewinner zu, aber eben nicht für eine mögliche
psychosoziale Gesundung aus ost- wie westdeutscher Sozialisation.
Den Normopathie-Wechsel haben die meisten Ostdeutschen ohne
größeres Murren, jedenfalls ohne Aufstände, aber nicht wenige mit
erneutem (gewohntem) Zähneknirschen und Erkrankungen
hingenommen. Die erhebliche Anpassungsleistung mit Umschulung,
neuen Karrierebemühungen, mit Akzeptanz von Arbeitslosigkeit, dem
Zurechtfinden im bürokratischen Dickicht, im Überstehen erheblicher
krimineller Betrügereien und im Erdulden westlicher Arroganz und
der Als-ob-Sozialmaske darf als großartige Anpassungsleistung und als
Erfolg gewürdigt, muss aber ebenso als verweigerte Befreiung aus
normopathischer Knechtschaft angeprangert werden. Umso mehr
hätten wir alle (Ost und West) das schnelle Erstarken rechtsextremer
Gruppen im Osten und krimineller Aktivitäten im Westen als eine
Folge der Vereinigung des «falschen Lebens» erkennen müssen. Dazu
hätte es allerdings einer kritischen Einsicht in Fehler der
Vereinigungspolitik und in die jeweiligen psychosozialen
Fehlentwicklungen bedurft.
Aber jetzt sollten wir wenigstens den vor allem ostdeutschen
außerparlamentarischen Protest durch Pegida und ihre Ableger als ein
wichtiges Symptom der bestehenden Normopathie begreifen. Im
Grunde genommen könnte die Stadt Dresden auch stolz auf Bürger
sein, die sich aus dem sogenannten «Tal der Ahnungslosen» (weil zu
DDR-Zeiten kein Westfernsehen zu empfangen war) auf die «Hügel
der Erkennenden» erhoben haben. Der ostdeutsche Protest überwindet
die ehemalige Anpassungsnormopathie und zielt auf die
Arroganznormopathie des Westens mit ihren mittlerweile
folgenschweren Fehlentwicklungen. Viele Ossis sehen mit einer
kritischen Brille, messen mit einem sozialen Maß, wünschen sich
noch nicht klar definierte Veränderungen und verweigern den bloßen
Normopathie-Wechsel. Dies geschieht aber nicht nur aus gereifter
Einsicht, sondern auch aus enttäuschter Kränkung, nicht mit einem
besseren Programm, aber mit mutiger Kritik und Anprangerung
erkennbarer und spürbarer Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft.
Die etablierte parlamentarische Opposition hat sich längst mit der
regierenden Macht verbündet, um gemeinsam die Kritik, die an der
Fassade des «falschen Lebens» kratzt, zu bekämpfen, und realisiert gar
nicht mehr, dass sie damit die Demokratie allmählich auflöst. Was
mich nicht wundert, denn äußere Demokratie bleibt nur ein
wackeliges Gerüst, solange keine innerseelische Demokratisierung
erfolgt. Natürlich werden auch von Protestlern Positionen vertreten,
die nicht verhandelbar sind, Meinungen kundgegeben, die nicht zu
diskutieren sind, und es wird strafbares Verhalten gezeigt, das
geahndet werden muss. Diese Fehler und Schwächen rechtfertigen
aber keine Pauschaldiskriminierung, sondern sollten uns erst recht zur
tieferen Analyse herausfordern.
Wer sich kritisch gegen Flüchtlinge und Muslime äußert, selbst
wenn diese kriminell geworden sind, wird sofort mit dem Verweis
«keine Pauschalisierung» belehrt, und das eigentliche kritisierte
Verhalten verschwindet im Diskussionsdickicht. «Pegida» wird
pauschal als «islamfeindlich» und die AfD genauso pauschal als
«rechtspopulistisch» gebrandmarkt. Das ist auch eine Erklärung für
das ebenso falsche Pauschalurteil «Lügenpresse».
Manchmal ist die Übertreibung eines Protestes leider notwendig,
um überhaupt noch im normopathischen Meinungsmainstream
wahrgenommen zu werden. Das entschuldigt keine Hetze, gibt aber
Hinweise auf den Ernst der Lage. Je heftiger und unsachlicher ein
Protest ist, desto mehr verweist er auf Angst, Ohnmacht und
Kränkung als Symptome des «falschen Lebens» und noch
unstrukturierter Befreiungsbemühungen. Vielleicht könnte es für das
Verständnis hilfreich sein, Pegida als eine andere Form der
antiautoritären Achtundsechziger-Proteste zu verstehen im Sinne
einer Kritik am politischen Establishment und der normopathischen
Mehrheit – das würde auch die Heftigkeit der unsachlichen
Gegenproteste von No- und Anti-Pegida, die Diffamierung durch
«Altachtundsechziger» sowie eine zumeist sehr tendenziöse und
einseitige mediale Darstellung erklären.

Der Vergleich mit Achtundsechzig hinkt natürlich, wie jeder Vergleich, aber nachdenkenswert
sind doch folgende Auffälligkeiten:

1968 hatte sich die jüngere Generation im Protest gegen die Nazi-
Eltern bzw. gegen überdauernde ideologische und autoritär-repressive
Strukturen erhoben. Die Älteren, die Kriegsgeneration, hatten sich mit
dem Wirtschaftsaufschwung «befreien» und entschädigen wollen.
Dieses Bemühen wurde von der nachgeborenen Generation als
verlogen und falsch erlebt, da ein ehrliches Bekenntnis der
Mitläuferschuld, die ja auch ihre eigene Erziehung geprägt hatte,
verweigert worden war. Die «antiautoritäre» Erziehung wurde deshalb
auch zur Befreiungsideologie erhoben. Bei den «Pegidisten» und AfD-
Anhängern und -Wählern fällt auf, dass diese mehrheitlich zur älteren
Generation zählen, die noch in der DDR aufgewachsen sind und dort
gelebt haben, aber keine «Erlösung» von ihrer Mitschuld durch
materiellen Erfolg gefunden haben oder finden konnten. Dagegen sind
die Pegida-Gegner, die «linken Autonomen», die «weltoffenen» und
«bunten» Kämpfer für die «moderne» Entwicklung und die Multikulti-
Verfechter eher zur jüngeren Generation zu rechnen. Dieser
Generation fehlt ein «68» der kritischen Auseinandersetzung über die
Schuld ihrer Mitläufer-Eltern. Und paradoxerweise kämpfen sie eher
auf der Seite der Machtelite der westlichen (narzisstischen)
Normopathie. Es ist schon eine historische Besonderheit, dass die
junge Generation nicht gegen das Establishment revoltiert. Ich habe
dazu folgende Verdachtsdeutung: Die Älteren haben schon vieles
verloren und ringen jetzt um ihre Würde, verbunden mit der Angst,
das mühsam Gerettete und neu Erworbene auch noch zu verlieren.
Die jüngere Generation hingegen, die auch wegen ihrer medialen
Abhängigkeit als «Generation der gesenkten Köpfe» bezeichnet wird,
ist so sehr mit einem falschen Leben der medialen Unendlichkeit und
der Ersatzvergnügungen abgefüttert, dass sie eine kritische
Veränderung des gegenwärtigen «falschen Lebens» fürchten müssen.
Ihnen droht Entzug, wenn die Wohlstandsnormopathie kollabiert. Die
falschen Selbst lassen keine kreative Alternative zu. Die Ahnung vom
Ende des bisherigen falschen Lebens wird gegenüber den
Überbringern der schlechten Nachricht abgewehrt und ausagiert.
Ich habe im vorherigen Kapitel darauf aufmerksam gemacht, dass bei
jedem Protest, ob privat oder öffentlich, zwischen innerseelischen (oft
auch unbewussten) sowie sozialen und gesellschaftlichen Ursachen
differenziert werden muss. Dies ist die einzige Chance, um auf Protest
angemessen reagieren zu können, also etwa mit Beratung und
Therapie oder mit sozialpolitischen Maßnahmen oder auch mit
politischer Diskussion und Veränderungen von Entscheidungen und
Planungen. Nach meinen Informationen und Recherchen haben
Ostdeutsche auf allen drei Ebenen gute Gründe, Protest und Unmut zu
äußern: Individuell sind die autoritär-repressiven Erziehungsnormen
der DDR, die nicht nur in den Kitas und Schulen, sondern auch in den
meisten Familien vorherrschten und vor allem bedrohte, ungeliebte
und gehemmte Selbst-Störungen verursacht haben, nie wirklich
«geheilt» worden. Der damit verbundene «Gefühlsstau» konnte kaum
abreagiert werden, weder in der «friedlichen» Revolution noch gegen
die rettende Pflegschaft des Westens. Eine nennenswerte Kritik an der
Vereinigungspolitik, an der Sozialhierarchie und der Dominanz des
Geldes, an der Arbeitsmarktpolitik ist nie zustande gekommen. Die
bedrohliche Entwicklung angesichts der Finanz- und Eurokrise, der
Asylpolitik und des Verlustes an Orientierung und Halt durch eine
entgrenzende Globalisierung und Liberalität haben offenbar die
Grenze der Anpassungsleistung überschritten.
Deshalb sind die Ostdeutschen ein sensiblerer Indikator für die
gesellschaftliche Fehlentwicklung: Der ungelöste Stress der
Entfremdung durch die DDR-Anpassung, verstärkt durch die
«alternativlose» Anpassung an die kapitalistische Lebensform und
aktuell durch die Anforderung, Flüchtlinge einer fremden Kultur, mit
einer oft auch problematischen Sozialisation und bedrohlichen
Religionsauslegung integrieren zu müssen, überfordert die
Abwehrmöglichkeiten der falschen Selbst. Im Protest sind die
Ostdeutschen deshalb der Wahrheit vom falschen Leben näher, aber
wohl ohne Chance auf Verständnis, Akzeptanz und kreative
Entwicklungen. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass die falschen Selbst
sich wirklich befreien können. Viel wahrscheinlicher ist eine
wachsende Feindseligkeit gegenüber gegensätzlichen politischen
Positionen, um durch Spaltungsabwehr Gegensätze aufzubauen, um
gemeinsam die Einsicht in falsches Leben zu vermeiden. Aber in der
Krise gibt es immer auch eine Chance, dass die gesunden Selbst-
Ressourcen aufleben.
Teil IV
24 Gefühlsfähigkeit ist das Tor zu echterem Leben

Gefühle sind das Stiefkind unserer Kultur. Es gibt im modernen Leben


sehr viele Missverständnisse und Fehlinformationen über Gefühle. Es
dominieren die Unterdrückung echter Gefühle und die Animation zu
falschen oder gemachten Gefühlen.
Gefühlsunterdrückung ist zunächst eine verständliche
Schutzfunktion unserer Seele, um uns vor seelischen Erschütterungen
zu bewahren. Wir können Gefühle beherrschen, unterdrücken,
abspalten, so dass wir nichts Schlimmes mehr spüren. Aber
Unterdrückung heißt nicht Beseitigung. So gesehen haben wir keine
Entscheidungsfreiheit, zu fühlen oder nicht zu fühlen, sondern nur,
Gefühle zuzulassen oder zurückzuhalten. Die Energie aktivierter
Emotionen muss abgeführt werden, und wenn dies nicht durch den
Gefühlsausdruck möglich ist, führt der Energiestau zu vegetativen
und körperlich-funktionellen Symptomen. Plötzliche Ohnmacht,
Herzklopfen, Zittern, Schweißausbruch oder Frieren, Kopfschmerzen,
Bauchkrämpfe, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Atemstörungen
sind uns alle irgendwie bekannt im Zusammenhang mit großen
affektiven Belastungen. In der Psychotherapie verfügen wir über
Erfahrungen und Methoden, Körpersymptome wie auch
Beziehungsstörungen wieder in die zugrunde liegenden, aber
unterdrückten Gefühle zurückzuübersetzen. Stark traumatisierende
und defizitäre Beziehungserfahrungen in frühester Entwicklungszeit
können zur totalen Gefühlsblockade oder Gefühlsabspaltung führen,
um am gefühlten Horror nicht zu sterben. Schwerwiegende
psychosomatische Erkrankungen, etwa Asthma bronchiale,
Neurodermitis oder Ernährungsstörungen, haben hier ihre
psychodynamische Quelle. Eine solche pathogenetische Prägung
geschieht schon vor der Sprachentwicklung des Kindes, so dass man
psychosomatische Erkrankungen als «emotionale Sprachlosigkeit mit
beredter Körpersprache» verstehen kann.
Die Gefühlsblockade ist aber nicht nur eine interne Schutzfunktion
unserer Seelentätigkeit, sondern auch ein repressives
Erziehungsprodukt. Das Kind wehrt sich mit Gefühlsausdruck – es
schreit, weint, wird wütend und traurig –, wenn es schlecht behandelt
wird. Der lange Weg der Entfremdung bis zu den Selbst-Störungen ist
affektiv hochbesetzt. Die Gefühle des Kindes signalisieren die
Misshandlungen oder die Vernachlässigung durch die
verantwortlichen Erwachsenen, die sich dann – zu Recht – angeklagt
und – zu Unrecht – genervt erleben und mit erzieherischen
Maßnahmen der Gefühlsunterdrückung reagieren. Das Gebrüll soll ihr
schlechtes Gewissen nicht nähren, und: «Was sollen denn die Leute
denken?!»
Das schreiende und weinende Kind wird als belastend und
unerträglich erlebt, was das Beziehungsverhalten der Eltern zum Kind
weiter verschlechtert, ohne dass sie auf die Idee kämen, dass nicht
das Kind, sondern sie die Ursache der Gefühlsäußerungen sind. Dann
wird das Kind beschimpft, bedroht, eingeschüchtert und falsch
getröstet: «Ich mag dich gar nicht mehr!», «Du bringst mich noch zur
Verzweiflung!», «Du bringst mich noch ins Grab!», «Wenn du nicht
aufhörst, dann …!», «Geh in dein Zimmer, und komm erst wieder,
wenn du dich beruhigt hast!» Sehr häufig sind es Befehle und
Aufforderungen: «Beherrsche dich!», «Beiß die Zähne zusammen!»,
«Sei tapfer!», «Heule nicht rum!», «Sei keine Memme!», «Werde nicht
frech!», «Halte dich zurück!», «Jungens weinen nicht!», «Du bist viel
zu aggressiv!», «Ist ja nicht so schlimm!», «Alles wird gut!» Der
Gefühlsausdruck wird regelrecht verboten, moralisierend abgewertet,
lächerlich gemacht oder zugetröstet. Im Erwachsenenleben werden
dann kaum noch wirkliche Gefühle gezeigt, weil das für Schwäche
gehalten und in der Selbsteinschätzung als beschämend erlebt wird.
So sind die meisten Menschen mit dem Gefühlstabu identifiziert. Sie
verbergen ihre Tränen peinlich berührt, wenden sich bei
Gefühlsregungen von anderen ab, entschuldigen sich und schlucken
ihre Affekte hinunter. Man kann Schluckbewegungen und das
Bemühen, den Atem anzuhalten, sowie Muskelanspannungen als
Funktionen im Dienste der Gefühlsbeherrschung beobachten. Kein
Wunder, dass bei Chronifizierung dieser Abwehrfunktion
Magenbeschwerden, Schmerzen im Bewegungsapparat (vor allem
auch Rückenschmerzen), Kopfschmerzen oder hoher Blutdruck
entstehen können. Gefühlsunterdrückung macht krank! Gefühle zum
Ausdruck zu bringen, wäre also klug, keine Schwäche, sondern
Stärke, indem man sich belastenden Wahrheiten stellt. Die Abreaktion
von Gefühlen wirkt entlastend, stressabführend und damit
gesunderhaltend.
Die anerzogene Gefühlsunterdrückung mit der Akzeptanz der
Gefühlsbeherrschung ist als Wegbereiter für viele Erkrankungen
verhängnisvoll, lässt aber andererseits nach Ersatzwegen der
Gefühlsentladung suchen. So benutzen wir Musik, Filme, Bücher,
Kulturevents, Sport und Nachrichten, um Gelegenheiten für
Gefühlsanregungen zu finden, auf die wir unsere verborgenen und
aufgestauten Gefühle aufsatteln können. Wir lassen uns emotional
Huckepack nehmen. Sportereignisse, vor allem Fußball, die
hysterische Verehrung von Stars auf der Bühne, das Lachen im
Kabarett, die Trauer beim Tod von Prominenten, die Empörung über
Vorgesetzte und Politiker sind insofern Ersatzgefühle, als der
Fühlende nicht unmittelbar betroffen ist, sondern nur per Projektion.
Über die verehrte Person oder das besondere Ereignis werden
Gefühlsreaktionen animiert, die dann öffentlich auch toleriert werden
oder sogar erwünscht sind. Gruppenbegeisterung oder öffentliche
Anteilnahme verstärken gemachte Gefühle. Nur wenn man den
Transportcharakter dieser Sekundargefühle erkennt, werden auch die
heftigen Begeisterungsstürme, das hysterische Schreien oder eine
abgrundtiefe Trauer ohne wirkliche persönliche Betroffenheit als
bemühte Befreiung aus einem Gefühlsstau verständlich. Die affektive
Heftigkeit steht in keinem angemessenen Verhältnis zum realen
Anlass. Fußball ist Fußball – nur ein Spiel, es geht nicht wirklich um
etwas, was das eigene Leben des Zuschauers betreffen könnte, anders
als bei den Spielern, den Trainern und dem ganzen Geschäftstross, die
damit Geld verdienen und sich narzisstisch stabilisieren können. Das
Besondere an diesen Ersatzgefühlen ist, dass sie zwar auch Entlastung
unterstützen, aber keine Erkenntnis über die wirklichen seelischen
Prozesse befördern und damit auch keine befreiende Wirkung aus
innerster Anspannung ermöglichen. Wie bei allen Ersatzerfüllungen
dominiert bald wieder innere Spannung, die nach nächsten Events
suchen lässt. Auch das kann zur Sucht werden und hat längst mit den
Computerspielen und dem Gebrauch eines fiktiven und simulierten
medialen Ersatzlebens weite Verbreitung gefunden. Die Medienwelt
ist die größte Arena für Sekundärgefühle geworden, und dieses
grenzenlose Ersatzleben hilft nachhaltig, von echten Gefühlsregungen
abzulenken. Sport, Kultur, Medien und Mode sind die Produzenten
und Verwalter falscher Gefühle. Das «Falsche» bezieht sich dabei auf
äußere Ereignisse, auf die mit hysterischen Gefühlen reagiert wird,
um die echte innere Gefühlswelt zu überdecken oder davon nur
heimlich etwas mitabfließen zu lassen.
Die Animation von Gefühlen durchzieht längst unseren Alltag bis
in die Freizeit hinein, für die viele Menschen Anregung brauchen,
indem sie etwa Abenteuerurlaub kaufen, erklärende Führung
konsumieren und sich vom Fernseher berieseln lassen. In der Freizeit
wird die Gefühlsanregung auch in der Gemeinschaft gesucht, um sich
durch andere und die Sozialenergie der Gruppe emotional beleben
und mitnehmen zu lassen. Selbst im Urlaub und noch am Strand oder
Swimmingpool sucht man Fun durch Animateure.
Wir Menschen brauchen die Gemeinschaft, wir brauchen auch
Anregung und sinnfreie Geselligkeit. Der bloße Zeitvertreib, möglichst
unterhaltsam, interessant, spannend und lustig, ist auch entspannende
Lebensqualität. Das «falsche Leben» beginnt dort, wo die äußere
Animation die innere Leere füllen soll oder die Gefühlsblockade, die
echte seelische Inhalte abpanzert, durch gemachte Gefühle
verschleiert wird und kultiviertes Ersatzleben das echte Leben
ersetzen soll.
Ich denke nicht, dass wir zu Langweilern mutiert sind, aber wir
haben es nötig, durch Animation und Ablenkung das falsche Leben zu
kultivieren, um uns vor der Erschütterung der Entfremdung zu
schützen und die notwendigen Mühen für ein echteres Leben zu
vermeiden.
Echte Gefühle sind so gut wie unbekannt oder sehr selten
geworden, weil sie unweigerlich die belastende Wahrheit der
individuellen Existenz spürbar machen würden. Diese Realität, der
enorme Abwehrpanzer gegen echte Gefühle, ist das zentrale Problem
im Ringen um ein authentischeres und damit auch gesünderes Leben.
Die schützende Gefühlsblockade rührt aus frühesten Bedrohungen
und Belastungen, die tatsächlich einen Kampf um Leben oder Sterben
erfordert haben können, der bestenfalls auf Kosten der Lebendigkeit
bestanden werden konnte. Dieser folgenschwere Bedrohungscharakter
bleibt den meisten unverständlich, weil er nicht erkannt wird. Die
wirklich sichtbare Gewalt und lebensbedrohliche Vernachlässigung
durch Eltern ist vergleichsweise selten gegenüber der verborgenen
Qual, die das Kind durch Kränkung, Demütigung, Einschüchterung
erleidet. Die Drohung durch Liebesentzug und Verlassenwerden, die
Verachtung und Abwertung der kindlichen Eigenarten und seines
Erlebens, die «Abrichtung» des Kindes auf den elterlichen Willen hin –
das geschieht alles ganz im Privaten und dringt fast nie nach außen.
Wir müssen uns vorstellen, dass das kleine Kind auf Gedeih und
Verderb dem ja mitunter eigensinnigen und vielfach problematischen
Verhalten der Eltern ausgesetzt ist und irgendwie, meist in einem
langen Kampf zwischen seiner individuellen Natur und der
kulturellen Entfremdung der Eltern, überleben lernen muss. So haben
wir fast alle Anpassung zum Überleben gelernt, aber nicht das Leben
selbst. Auch damit wird die Relativität sogenannter «Freiheit»
deutlich, die jedenfalls im Erziehungsergebnis nicht innerseelische
Freiheit bedeutet. Und wenn das Kind krank wird und
Verhaltensstörungen zeigt, wird zumeist das Kind «behandelt», aber
nicht die Eltern und schon gar nicht das schwer gestörte
Betreuungssystem. Wenn es therapeutisch gelingt, einen Zugang zu
diesen frühen Gefühlen zu bahnen, dann sind wir tatsächlich mit
existenzieller Angst, mörderischer Wut, zerreißendem Schmerz und
abgrundtiefer Trauer konfrontiert, was sehr schwer auszuhalten ist.
Deshalb sind sich die meisten Menschen unreflektiert darin einig,
diese Gefühlstiefe unbedingt unter Verschluss zu halten. Wir
Therapeuten wissen, dass echte Gefühle unweigerlich ansteckend
wirken und eigene Ängste, Aggressionen, seelische Schmerzen und
Trauer bei der therapeutischen Begleitperson aktiviert werden. Das
wird (leider!) auch von vielen Therapeuten mit rationalen
Erklärungen und Deutungen verhindert, um sich selbst nicht zu
belasten oder zu labilisieren. Dann soll der Patient «geschont» werden
in der Überzeugung, er könne nur sehr begrenzt und vorsichtig mit
seinem Schicksal konfrontiert werden. Das kann in Einzelfällen
durchaus notwendig sein. Wenn es aber zur schützenden Ideologie
des Therapeuten gehört, der seine eigenen Frühstörungsanteile nicht
wahrhaben will und emotional nicht verarbeitet hat, dann dient sogar
Psychotherapie der Chronifizierung im falschen Leben.
Die Kultivierung des falschen Lebens macht auch nicht vor den
Berufen halt, die das Potential hätten, zu echterem Leben zu
verhelfen; damit spreche ich alle Erzieher, Berater, Lehrer, Ärzte und
Therapeuten, Sozialarbeiter und Seelsorger an. Natürlich ist das
Berufsleben eingebettet in die Werte einer Normopathie und
emanzipatorische Abweichungen werden schnell abgewertet und mit
disziplinierenden Vorwürfen kontrolliert. In der Psychotherapie
betrifft das vor allem die Körperpsychotherapie, die die Potenz hat,
die existenziell prägenden frühen (präverbalen) Gefühle zu aktivieren,
zu halten und befreiend zu verarbeiten. Auch auf dem vielfältigen
Psychomarkt dominieren die Bedürfnisse des falschen Lebens:
schnelle Erfolge und vor allem Symptomentlastung und keine
existenzielle Erschütterung durch tiefe Erfahrungen! Damit bleibt die
Mitwirkung an gesellschaftlicher Normopathie erhalten und die
therapeutischen Hilfen werden zur möglichst «schmerzfreien»
Wiederanpassung an bestehende äußere Verhältnisse und zur
schnellen Beruhigung der innerseelischen Krise missbraucht. Auch
viele Formen alternativer Lebensweisen dienen nicht einer wirklichen
Selbstbefreiung, sondern kultivieren nur eine andere («alternative»)
Form der Selbstentfremdung, häufig mit starker Ideologisierung
verbunden. Eine emotionale Therapie des falschen Selbst wäre
zwangsläufig gesellschaftskritisch und müsste in politische
Bemühungen zur Auflösung des falschen Lebens führen, will man die
belastenden Erkenntnisse und die berufliche Verantwortung ernst
nehmen.
Echte Gefühle berühren uns sehr, Ersatzgefühle stören, sind lästig,
unangenehm, distanzieren, wirken peinlich und aktivieren
Fremdschämen. Für echte Gefühle braucht man in aller Regel Raum,
Zeit und hilfreiche Begleitung. Für Menschen im Gefühlsstau ist
therapeutische Begleitung nahezu zwingend, weil die Heftigkeit der
möglichen Entladung Gefahren mit sich bringt: Man kann sich
körperlich verletzen, psychisch in einen Ausnahmezustand mit
Verwirrung, Desorientierung kommen und für andere bedrohlich
werden und in entladender Erregung auch Gegenstände zerstören. Der
Abbau eines Gefühlsstaus muss geregelt, kontrolliert und in kleinen
Portionen geschehen. Das kann viel Zeit (vielleicht 100 Stunden und
mehr) in Anspruch nehmen. Es muss ein geschützter Raum sein, in
dem man laut weinen, schreien, schlagen, treten und toben kann,
ohne dass jemand sich bedroht fühlt und die Polizei ruft. Es ist schon
erstaunlich, wie schnell auf lautes Weinen eindämmend reagiert wird,
weil sich kaum noch jemand vorstellen kann, dass das ein heilsamer
und natürlicher Ausdruck sein kann und kein Signal aktuell realer
Gefahr ist, die sofortige Hilfe verlangt. Ein echter Gefühlsausdruck
dauert nie länger als 20 Minuten und sollte immer bis zur
vollständigen Entladung zugelassen werden, also ohne einen Trost,
der den Prozess abkürzen will. Ein fühlender Mensch braucht die
Anwesenheit eines Begleiters mit wohlwollender Zustimmung und
haltender Bejahung. Ein hilfreicher Gefühlsprozess endet stets mit
einer großen Erleichterung, nahezu in Heiterkeit, selbst wenn gerade
die belastendsten Affekte schwerster seelischer Verletzungen
wiederbelebt und erinnernd erlitten worden sind. Diese
beeindruckende Entspannung und Ruhe, das tiefe entlastende Atmen,
die rosig durchblutete Haut, die der kontrahierten Blässe der Angst
und des Schreckens folgt, der befriedete Gesichtsausdruck, das
befreite Auflachen belegen den echten Gefühlsprozess. Dagegen
finden neurotische Gefühle – das ewige Klagen, Jammern und
Schimpfen, die affektgetragenen Vorwürfe und Anklagen, das
demonstrativ vorgetragene Leiden und Weinen – kein befreiendes
Ende, weil sie als «falsche» Gefühle im Sinne von Symptomen des
falschen Selbst zwar auf ungelöste innerseelische Probleme
hinweisen, aber zugleich auch durch eine Kultivierung des
Ersatzleides ihre Lösung verhindern. Deshalb halte ich es für eine
Tragik, wenn auf die Symptomgefühle schnell beruhigend (verbal
tröstend oder medikamentös) reagiert wird, ohne eine Chance zu
eröffnen, das demonstrierte Leid in echtes zu verwandeln, um es dann
auch verstehend und wirklich fühlend annehmen zu können und um
den Energieaufwand der verleugnenden Abwehr in Energie für
Lebendigkeit zu verwandeln. Ich halte es für eine wichtige
therapeutische Aufgabe, auf Abwehrgefühle nicht mit Rücksicht,
Einfühlung und Schonung zu reagieren, sondern das falsche Fühlen
klärend zu konfrontieren, um einen Zugang zu den wirklichen
innerseelischen Belastungen, zum Gefühlsstau und zu seiner
Geschichte zu bekommen und das Dauerleiden durch echte
Gefühlsentladungen zu befreien. Damit kann nicht die Geschichte der
Entfremdung korrigiert, auch nicht die Selbst-Störung beseitigt
werden, aber es können der Stress der Folgewirkungen vermindert
und damit – auch bei aller verbleibenden Einschränkung und
Behinderung – die Lebensqualität wesentlich verbessert werden. Es
macht den entscheidenden Unterschied, ob man die
Entwicklungsgeschichte der eigenen Not verstehen kann und lernt,
mit den Folgen kompetent umzugehen, oder ob man keinerlei
Verständnis für die eigene Problematik findet, sich hilflos und ratlos
ausgeliefert erlebt und zur schon auferlegten, nicht zu
verantwortenden Lebenslast die Möglichkeiten und Chancen für
verbleibende Lebensqualität, die in der eigenen Verantwortung
liegen, versäumt. Man kann im Unglück des frühen
Beziehungsschicksals hängen bleiben oder ohne übertriebene
Hoffnungen und Erwartungen das Beste aus den immer auch
vorhandenen Ressourcen machen. Der echte Gefühlsprozess, der
immer wieder erforderlich ist, entlastet das Schicksal des falschen
Lebens und eröffnet Augenblicke echten Lebens.
Ich kenne Menschen, die jeden Tag auf ihre «Gefühlsmatte» gehen,
und andere, die das nur in größeren Abständen brauchen.
In aller Regel haben wir uns von einem echten Gefühlsprozess
psychisch und körperlich abgepanzert. Psychisch durch Verleugnung,
Verdrängung, Abspaltung, durch Sich-nicht-erinnern-Können, durch
Nicht-wahrhaben-Wollen und Nicht-für-möglich-Halten. Die Kindheit
war doch gut und die Eltern haben ihr Bestes gegeben. Mag sein, dass
das auch stimmt, aber was nicht gut war und wie die Eltern sonst
noch waren, ist aus der Erinnerung und dem Bewusstsein verbannt
und damit auch alle realen Gefühle, die bei der Zurichtung auf ein
falsches Selbst nicht zu verhindern sind. Die körperliche
Verpanzerung geschieht durch unwillkürliches Atemanhalten und
Muskelanspannungen, wenn ein echtes Gefühl droht. Dort kann
befreiende Körperpsychotherapie ansetzen: bewusst aktivierte
Tiefenatmung, übende Muskelentspannung durch Wahrnehmen,
bewusstes Verstärken oder Loslassen, durch Üben von Anspannen und
Entspannen, durch Berühren und Massieren. Dadurch wird das
Aufsteigen von Gefühlen aus der Tiefe ermöglicht, das heißt konkret
bis zu den frühesten Erinnerungen an affektiv geladenes
Beziehungserleben der vorsprachlichen Entwicklungszeit, eventuell
sogar bis zum Geburtsvorgang. Solche Gefühle umfassen dann
bisweilen auch den ganzen Körper in einer Vollentladung. Etwa bei
seelischem Schmerz: feuchte Augen, Tränenfluss, zitternde Wangen und
Lippen, geöffnete Kehle für Schmerzensschreie, bebende Brust, Halt
suchende Arme, schluchzendes Atmen mit entsprechender
Zwerchfellvibration, zerreißender «Herzschmerz», ziehender
Brustschmerz, zuckende Beckenbewegungen, krümmendes Einrollen
des Körpers und Anziehen der Beine und langanhaltendes Weinen,
Schluchzen und Husten meist mit reichlichen Schleimabsonderungen.
Oder bei Wut: blitzende Augen, verzerrter Gesichtsausdruck mit
Beißimpulsen, empörte brüllende Schreie und Laute, heftiges Atmen,
die Hände bilden Fäuste oder wollen zerren und reißen, die Arme
schlagen zu, die Beine treten weg, das Becken stößt nach vorne.
Sosehr solche Gefühlsentladungen für die Mehrheit der «falschen
Selbst» die entscheidende Entlastung mit Zugang zu einem echteren
Selbst sein können, so gibt es auch Menschen, vor allem bei
«bedrohtem Selbst», die sich nur sehr begrenzt oder lieber gar nicht
um einen echten Gefühlsprozess bemühen sollten. Wie könnte ein
Mensch reale Abtreibungsbemühungen oder Tötungswünsche seiner
Mutter, eine totale Verlassenheit und Ablehnung, schwerste seelische
und körperliche Gewalt fühlend erinnern und verarbeiten? Das
erinnerte Elend wäre eine lebensbedrohliche Erfahrung, die nicht
wirklich gefühlt werden kann. Stattdessen könnte es zu einer
Verwirrung und Dissoziation als letztem Rettungsanker kommen, so
dass es in einem solchen Fall therapeutisch nur um das schlimme
Wissen (nicht Fühlen) mit dem Einüben stabilisierender und
kontrollierender Verhaltensweisen gehen kann.
Deshalb ist Prävention wesentlich wichtiger als nicht mehr zur
Heilung fähige Therapie. Die therapeutische Ohnmacht und die
relativ gering verbreitete Kompetenz zur emotionalen Verarbeitung
der Frühgenese des «falschen Selbst» ruft die Politik zwingend in die
Verantwortung, für eine wirkliche optimale Frühbetreuung Sorge zu
tragen. Im Moment geschieht mit der Abwertung der Mütterlichkeit
und der als veraltet erklärten Verantwortung der Eltern für ihre
Kinder, verbunden mit einem moralisierenden und ideologischen
Druck zu Fremdbetreuung (die von einer optimalen
Betreuungsqualität leider auch oft noch weit entfernt ist), das genaue
Gegenteil. Die Eltern stehen in der Pflicht, ihre mütterlichen und
väterlichen Beziehungsqualitäten zu kennen und zu verbessern und
die Politik aufzufordern, für die beste finanzielle Unterstützung der
familiären Betreuungsqualität und der zeitlichen
Beziehungsmöglichkeiten der Eltern mit ihren Kindern zu sorgen.
Ohne eine optimale Frühbetreuung von Kindern hat die Gesellschaft
keine guten Entwicklungschancen, wird eine innerseelische
Demokratiebasis nie erreicht.
Wir Psychotherapeuten stehen in der Pflicht, unsere Erfahrungen
hinsichtlich der Gefahren von Fehlentwicklungen durch schlechte
Frühbetreuung zu veröffentlichen und politischen Druck für
Verbesserungen zu machen. In der Gesellschaft sind Information,
Aufklärung und Diskussion über die Wichtigkeit unserer Gefühle
geboten, die auch eine «Gefühlskunde» in den Kitas, Schulen und
Universitäten als Pflichtfach miteinschließen sollte. Fühlen darf nicht
eingeschüchtert werden, Fühlen muss gelernt und geübt werden, und
zwar der volle Gefühlsausdruck, aber auch eine sinnvolle
Gefühlsbeherrschung, wo es notwendig ist. Das emotionale Leben ist
eben sehr unterschiedlich, abhängig davon, ob es um diplomatische
Verhandlungen, das Steuern eines Kraftfahrzeugs, Privatleben oder
Sex geht. Es bedarf der Befähigung sowohl zur Beherrschung und
Kontrolle als auch zum Freilassen und zur ekstatischen Steigerung.
Mit einer gut verfügbaren Gefühlsfähigkeit schützen wir unsere
Gesundheit, lindern wir das Kranksein, gestalten befriedigendere
Beziehungen und sichern eine gerechtere gesellschaftliche
Entwicklung.
25 Was ist und will «Beziehungskultur»?

Mitmenschliche Beziehungen entscheiden über Gesundbleiben oder


Krankwerden, über Lebensfreude und Lebensleid, über gelingende
Sinnerfahrung und unglückliche ewige Sinnsuche.
«Beziehungskultur» erwächst aus den Erkenntnissen der Psychotherapie, der Säuglings- und
Kleinkindforschung und der modernen Hirnforschung, die folgende – hinreichend
wissenschaftlich belegte – Zusammenfassung erlaubt:

1. Ein Kind kann nicht mehr als Objekt von Erziehung, sondern muss als Subjekt von
Jedes Kind bringt einmalige,
Beziehung verstanden werden.
unverwechselbare Eigenschaften mit und beeinflusst so von Anfang
an seine soziale Umwelt. Eltern und Frühbetreuende haben die
Aufgabe, ein Kind zu erkennen, zu verstehen und hilfreich auf seine
Grundbedürfnisse zu reagieren und seine Eigenarten empathisch zu
spiegeln. Ein Kind erkennen, bestätigen, befriedigen und begleiten zu
können, ist grundsätzlich anders, als ein Kind erziehen zu wollen,
indem es Erwartungen und Forderungen der Eltern abspüren und
erfüllen lernen soll. An diesem Punkt entscheidet sich im Grunde
schon, ob sein Weg in ein authentisches oder falsches Selbst führt.
Beziehung lässt ein echtes Selbst wachsen, Erziehung erzwingt ein
falsches Selbst.
2. Die Beziehungserfahrungen des Kindes beginnen im Mutterleib und sind energetisch schon
durch die Einstellung der Eltern zu Zeugung, Schwangerschaft und Geburt vorgeprägt. Es
sind nicht nur die Ernährung, Alkohol, Nikotin und Medikamente der
Mutter, die das Kind im Uterus nachhaltig beeinflussen können,
sondern auch das Grundmotiv der Mutterschaft, der Elternschaft, des
Familienverständnisses, das sich auf das Kind überträgt: Das geborene
Kind ist nicht mehr «unbefleckt», es ist schon beeinflusst. Eine
«Elternschule» müsste deshalb vor allem die Selbsterfahrung zu den
Themen Mütterlichkeit, Väterlichkeit, durch Elternschaft veränderte
Partnerschaft und neue Familienkonstellation im gesellschaftlichen
Umfeld fördern.
3. Die Qualität der Geburt hat großen Einfluss auf die frühkindliche Prägung. Es
macht
einen Unterschied, ob das Kind in Übereinstimmung mit dem eigenen
Bedürfnis, geboren zu werden, und der mütterlichen Bereitschaft dazu
kommen kann oder ob die Mutter ihre Verantwortung vollkommen
der medizinischen Betreuung überlässt, ob eine Geburt forciert,
medikamentös beeinflusst oder gar ohne medizinische Not durch
Kaiserschnitt abgeschlossen wird. Die USA geben ein denkbar
schlechtes, höchst bedenkliches Vorbild: die operative Entbindung aus
juristischen Gründen, aus Bequemlichkeit und zur Entlastung der
Gebärenden, offenbar ohne zu berücksichtigen oder wissen zu wollen,
welches Schicksal damit dem Kind von Anfang an auferlegt wird. Es
kommt passiv zur Welt, es fehlt die prägende Erfahrung der
angestrengten Zusammenarbeit des Kindes mit der Mutter bzw. der
Mutter mit dem Kind und des gemeinsamen erfolgreichen Abschlusses
ihrer Bemühungen. Ich habe immer wieder durch Kaiserschnitt
entbundene Menschen kennengelernt, die in typischer Weise bei
Lebensherausforderungen nicht aktiv werden können, sondern
schlappmachen und auf Hilfe angewiesen sind. Von Anfang an ist der
Lebensbeginn passiv konstituiert, ohne aktive Anstrengungserfahrung.
Es wird nicht bedacht, welche Einstellung der Gebärenden zu ihrem
Kind zum Ausdruck kommt, wenn sie ohne zwingende medizinische
Indikation eine Kaiserschnittentbindung auf Wunsch durchführen
lässt und die Geburtshelfer das akzeptieren, womöglich – aus welch
fragwürdigen Gründen auch immer – sogar empfehlen. Wie wird
diese Frau als Mutter die tausendfachen Belastungen der
Kindsbetreuung annehmen und durchstehen?
4. Die Qualität der ersten Beziehungserfahrungen des Kindes – noch bevor es sprechen
gelernt hat – prägt sich auch als «Beziehungsrepräsentanz» neuronal in der
Gehirnentwicklung ein. Diese
frühe Prägung bestimmt im Wesentlichen den
späteren Charakter des Menschen (als Zusammenspiel genetischer
Voraussetzungen und beeinflussender Beziehungserfahrungen). Diese
Prägung geschieht vor allem in den ersten drei Lebensjahren, deshalb
ist die Qualität der Frühbetreuung von höchster Bedeutung.
Ein politisch-ideologischer oder aus ökonomischen Bedürfnissen und
Interessen geführter Kampf oder Streit um Familien- oder
Fremdbetreuung der jüngsten Kinder ist überhaupt nicht hilfreich.
Aus der Sicht des Kindes kann es nur um eine möglichst optimale
Betreuungsform gehen. Nur bei schlechter elterlicher Betreuung sollte
schnellstmöglich eine bessere Fremdbetreuung erfolgen. Aber eine
notwendige Fremdbetreuung sollte optimale Beziehungsangebote für
das Kind zur Verfügung stellen, die von der Qualifikation der
Betreuungsperson und vom Betreuungsschlüssel abhängig sind. Die
Ausbildung von Krippenerzieherinnen oder Tagesmüttern sollte nicht
pädagogische Kenntnisse in den Mittelpunkt stellen, sondern
«Herzensbildung», also Beziehungsfähigkeit und emotionale
Bindungssicherheit.
Nach der bereits im 1. Kapitel herausgestellten Beziehungsqualität
der elterlichen Beziehungsangebote seien hier «gute» und «schlechte»
mütterliche und väterliche Fähigkeiten gegenübergestellt.

Gute Beziehungsqualität Schlechte Beziehungsqualität


Mutterannahme Mutterbedrohung
Prinzipielle Annahme des Kindes durch die Prinzipielle Ablehnung des Kindes durch die
Mutter und seine existenzielle Bestätigung Mutter
«Du darfst sein!» – Das ist die Quelle von «Du sollst lieber nicht sein!» – Das ist die
Urvertrauen. Quelle eines Urmisstrauens mit Gefühlen
existenzieller Bedrohung und
Nichtberechtigung.
Mutterförderung Mutterbesetzung
Die Mutter unterstützt das Kind energetisch Die «Vampir-Mutter» lebt energetisch vom
durch Versorgung, Bejahung und Bestätigung Kind. Sie vereinnahmt das Kind für ihr
der eigenen Entwicklung. eigenes Leben.
«Ich unterstütze dein Leben!» – Das führt in «Ich brauche dich für mein Leben» – Das
die existenzielle Freiheit. Kind wird von der Mutter emotional
missbraucht.
Mutterliebe Muttermangel
Liebe heißt, alles zu tun, damit es dem Kind Die Mutter hat nicht genug Empathie,
gut geht (einschließlich Konfrontation und Liebesfähigkeit und Zeit für das Kind.
Begrenzung). Das Kind hält sich für nicht liebenswert und
Es kommt nicht darauf an, was die Mutter für entwickelt Minderwertigkeitsgefühle und
Liebe hält, sondern was vom Kind als Liebe narzisstische Selbstwertstörungen, die es im
erfahren werden kann (die Erfahrung, dass es «Größenselbst» oder «Größenklein» zu
wichtig ist und wirklich gemeint wird). kompensieren versucht.
Nur die Mutterliebe ermöglicht ein gesundes
Selbstvertrauen als «narzisstische Sättigung».
Mutterbestätigung Muttervergiftung
Die Mutter erkennt ihr Kind als eigenständigen Die Mutter hat Wünsche und Erwartungen an
Menschen, sie bestätigt dessen das Kind für ihren eigenen Selbstwert.
Einzigartigkeit, Andersartigkeit und akzeptiert Das Kind muss auf die Mutter achten und sich
Abgrenzung. nach ihr richten.
Diese individuelle Bestätigung ermöglicht Die Mutter zwingt das Kind in eine Bindung an
wirkliche Unabhängigkeit und Autonomie. sie. Das Kind bleibt abhängig an die Mutter
gebunden ohne die Erfahrung einer
authentischen Identität.
Vaterliebe Vaterterror
Der Vater lässt das Kind frei und unterstützt Der Vater lehnt das Kind ab, erlebt es als
dessen expansive und kreative Möglichkeiten. Konkurrenten um die Muttergunst, schüchtert
Das Kind kann sich im Rahmen seiner es ein, bestraft es und wertet es ab.
Möglichkeiten frei entfalten. So entwickelt sich ein gehemmter Mensch.
Vaterförderung Vaterflucht
Der Vater ist an der Entwicklung des Kindes Der Vater hat kein Interesse am Kind und der
interessiert und engagiert sich durch Familie, er ist selten da und im Grunde nie
Anregung, Ermutigung, Förderung und erreichbar.
Forderung. Das Kind bleibt ungefördert, unerweckt,
Es entwickelt sich ein mutiger, aktiver Mensch passiv, bequem und faul.
mit angemessenem Verantwortungs- und
Pflichtgefühl.
Vaterverständnis Vatermissbrauch
Der Vater erkennt die Möglichkeiten seines Der Vater wird zum Antreiber des Kindes,
Kindes und akzeptiert wohlwollend dessen dessen Leistungen nie ausreichen.
Begrenzung. So entsteht der gestresste und überforderte
Das ist die Basis für ein echtes, Leistungsmensch.
leistungsfähiges, aber entspanntes Leben.

Eine gute frühe Beziehungsqualität lässt die Grundbedürfnisse frei


und folgt deren natürlichen Rhythmen. Eine schlechte frühe
Beziehungsqualität missachtet die Grundbedürfnisse und zwingt in
eine Entfremdung der Erziehungsziele mit vielfach gestörter
Bedürfnisbefriedigung. Dann entwickeln sich Ersatzbedürfnisse, die
eine permanente quälende Anspannung erzeugen, weil keine
natürliche Entspannung mehr möglich ist.
«Beziehungskultur» beginnt mit der Beziehung zu sich selbst, mit
der Analyse der mütterlichen und väterlichen Beziehungsangebote,
um zu erforschen, wie Berechtigung, Selbstwert, Identität, Freiheit,
die Entwicklungspotenz, Anstrengungsbereitschaft und
Begrenzungsakzeptanz ausgebildet sind und erlebt werden.
Eine «Beziehungskultur» kann man sich nur selbst erarbeiten:
Erinnern, Analysieren, Reflektieren, Fühlen, Verstehen und
Integrieren sind die notwendigen «Werkzeuge», wobei aufnehmende,
bezeugende, schützende, ermutigende Begleitung hilfreich und
mitunter unerlässlich ist.

Im Ergebnis zeichnet sich «Beziehungskultur» in folgenden Qualitäten aus:

1. Ich kenne mich selbst:


Ich weiß, wer ich bin, was ich will und was ich kann. Ich weiß auch,
was ich nicht bin, was ich nicht will und nicht kann. Ein solches
Wissen von sich selbst ist das Ergebnis reflektierter Selbsterfahrung
als eine alltägliche Aufgabe, die die Dynamik von Veränderung,
Korrektur und Entwicklung berücksichtigt und akzeptiert. Das heißt
auch: Ich kenne mich nie vollständig, nie endgültig und bleibe für
Neuerfahrungen und Überraschungen offen. Die wichtigste Arbeit
bleibt, zwischen «selbst» und «fremd», zwischen «stimmig» und
«auferlegt» zu differenzieren – als unendliches, aber immer wieder
durch Klarheit befreiendes Bemühen.
2. Ich kann «ich» sagen:
Ich teile mich mit, ich spreche von mir und mache klare Ansagen:
«Ich bin …, ich weiß …, ich will …, ich bin nicht …, ich weiß nicht
…, ich will nicht …» Das «Ich» ist der Ausdruck von Freiheit und
Eigenständigkeit. Mit dem «Ich» wird Verantwortung übernommen
und der eigene Beziehungsanteil gekennzeichnet. Das «Ich» ist der
notwendige Egoismus, um die eigene Position zu benennen und damit
klare Verhältnisse für Verhandlungen und Kompromisse zu schaffen.
Das «Ich» ist die Grundlage einer Beziehung, mit der erst eine Ich-du-
wir-Kommunikation entstehen kann. Mit dem «Ich» definiere ich mich
und ermögliche Orientierung und Auseinandersetzung für die
Beziehung. Wer nur das «Man» benutzt oder nur über etwas redet, nur
sachlich begründet, sich auf «objektive», statistische Daten beruft und
politisch-ideologische, ökonomische, religiös-moralische Argumente
benutzt, verhindert Beziehungskultur mit einer wirklichen
Verständigungschance. Dann beherrschen Macht und Moral, Angst,
Tricks und Lüge die Beziehung.
3. Ich will und kann zuhören:
Nur durch Zuhören (natürlich auch zusehen und einfühlen) kann ich
annähernd erfahren, wie der andere denkt und fühlt, was ihm wichtig
ist, was seine Motive, Anliegen und Ziele sind. Ohne ein Gefühl und
ein Verständnis für den anderen ist eine Beziehungskultur nicht
möglich. «Ich» und «Du» müssen erkennbar sein.
Zuhören ist für viele Menschen eine sehr schwierige Aufgabe.
Zuhören ist oft durch Hören, um zu befolgen, eingeschränkt. Viele
hören sowieso nur das, was sie hören wollen, genauer gesagt, was sie
ertragen und aushalten, was in ihr entfremdetes Weltbild passt. Das
Hören ist zu einer Zensurbehörde geworden, um sich vor belastenden
Nachrichten zu schützen. Weniger vor schlechten Nachrichten des
äußeren realen Lebens, sondern vor allem vor Botschaften, die den
eigenen Schutzwall nach innen durchdringen und die
Entwicklungsqual des falschen Selbst wieder spürbar machen
könnten.
Zuhören meint zu hören, was der andere wirklich meint und vor
allem wie er es meint. Jede ungenaue, unkonkrete Aussage öffnet Tür
und Tor für Deutungen, Interpretationen und Projektionen zur
eigenen Abwehr des «Unerhörten». Eine einfache, aber sehr hilfreiche
und klärende Übung besteht im «aktiven Zuhören»: «Ich sage dir, was
ich gehört und verstanden habe!» Das richtige Zuhören macht nicht
nur das Gegenüber erkennbar, sondern macht auch die
Verschiedenheit, die unterschiedlichen Positionen deutlich, was nicht
immer leicht und angenehm, aber jene Wahrheit ist, auf der allein
Beziehungskultur gedeihen kann.

4. Ich akzeptiere Andersdenkende:


Diese reife Haltung ist gebunden an eine gute Selbstkenntnis mit
Akzeptanz der eigenen Schwächen, Fehler und Begrenzungen.
Andersdenkende, Andershandelnde und Fremde sind immer nur dann
bedrohlich und machen unweigerlich Angst, wenn sie etwas tun,
sagen oder verkörpern, was ich bei mir nicht akzeptieren kann oder
nicht kenne. Wenn meine inneren Verbote, meine Tabus, meine
moralischen Ansprüche, meine ideologisierten Überzeugungen – also
die Inhalte des falschen Selbst – missachtet, kritisch angefragt,
verhöhnt und abgewertet werden, dann werden auch die mit der
Entfremdung verbundenen Affekte erneut aktiviert. Die alten Wunden
«bluten» wieder, und das führt in den Kampf gegen die Verunsicherer.
Die Andersartigen sind nicht die Verursacher, sondern nur die
Auslöser, diejenigen, die die Abwehr gegen das eigene Fremde, das
Fremdgewordene, das mühevoll Verborgene und Unterdrückte
schwächen und deshalb irrtümlich als Schuldige erlebt werden. Gegen
einen Fremden in den Krieg zu ziehen, ist natürlich wesentlich
einfacher und leichter, als den eigenen inneren Kriegszustand und die
Besetzung zu erkennen und befrieden zu lernen.
5. Ich akzeptiere getrenntes Leben:
Wir sind alle verschieden. Jeder muss seine Bahn ziehen, seine
Lebenskurve gestalten. Das ist allein sehr schwer, aber «allein» ist
unvermeidbar und «allein» heißt nicht «einsam». In der
Verschiedenheit erlebe und bewahre ich meine Würde. Mit der
Freiheit und Autonomie akzeptiere ich auch meine Einmaligkeit,
Andersartigkeit und Verantwortung.
Im falschen Selbst bleibe ich abhängig von Bestätigung und
Bewertung, rackere in Beziehungen oder klammere mich am anderen
an. Erwarte, fordere und wünsche mitunter am liebsten
«Verschmelzung» mit einem Nächsten oder mit einer Gemeinschaft.
Mit der Akzeptanz der Getrenntheit gewinne ich Respekt für alle
«Getrennten», lerne zu verhandeln, Chancen der Verbundenheit zu
genießen und unvermeidbares Für-sich-Sein auch zu betrauern.
Verhandlung auf Augenhöhe wird damit zur Basis einer gestalteten
Beziehungskultur.

6. Ich kultiviere Gemeinsamkeiten:


Der Wert der Individualität wird erlebbar durch einen eigenen Platz
in Beziehung und Gemeinschaft. Wenn «Ich» und «Du» sich ergänzen,
sich wechselseitig anregen und bereichern, Gemeinsames schaffen,
was allein nie möglich wäre, dann adelt Beziehungskultur humanitäre
Verbundenheit. Das miteinander gestaltete, kreativ belebte, hilfreich
unterstützte und gemeinsam erlebte Leben krönt unsere soziale Natur.
Was wären Arbeit, Freizeit, Essen und Sex ohne Beziehung und
Gemeinschaft? Wir brauchen den anderen auch als Zuhörer,
Empfangsschüssel, als Beschützer, Berater, Tröster und Helfer –
vorausgesetzt, wir agieren nicht nur aus einem falschen Selbst heraus
im falschen Leben. Denn dann werden all diese das Menschsein
konstituierenden großartigen Gemeinsamkeiten entehrt und
missbraucht. Das Gemeinsame muss freilassen, damit ein wirklicher
Gewinn im Selbsterleben und Weltgestalten möglich werden kann.
So lautet das «Gebet» einer Beziehungskultur:

Ich bin ich.


Du bist du.
Ich und du sind immer verschieden.
Jeder ist für sein Leben verantwortlich.
Gemeinsam sind wir für unsere Beziehung verantwortlich.
Wir genießen Übereinstimmung und Gemeinsames.
Wir akzeptieren vorwurfsfrei Getrenntes.
Für das gewünschte und notwendige Zusammenleben in Verschiedenheit verhandeln wir.
Auf mein Böses, Feindseliges und Destruktives achte ich und kontrolliere es.
Ich lasse mich vom Gestörtsein anderer nicht anstecken, sondern:

Ich «spiele» dann nicht mit,


ich gehe aus dem Feld,
oder ich wehre mich aktiv bei Gefahr,
und ich engagiere mich für bessere Bedingungen.
26 Beziehungskultur ringt um echtes Leben

Wenn wir uns an den falschen Selbst und den daraus folgenden
Fehlentwicklungen orientieren, erhalten wir auch hilfreiche Hinweise,
was uns im (ewigen) Bemühen um ein echteres Leben helfen kann.
Die einseitigen bis falschen Einstellungen und problematischen
Haltungen der falschen Selbst weisen die Richtung, worauf man
achten muss und was verändert werden müsste. «Beziehungskultur»
meint grundsätzlich, dass jeder Einzelne die Verantwortung dafür
trägt, falsch oder echter zu leben, dass ihm die Erkenntnisschritte und
Veränderungsaufgaben keiner abnehmen kann. Selbstverständlich
kann man auf Bedingungen hoffen, die eine Annäherung an ehrlichere
Verhältnisse erleichtern. Man kann gegen Lebensbedingungen, die das
falsche Leben zementieren, engagiert protestieren und sich für
Verbesserungen einsetzen. Beides erspart aber keinesfalls das
persönliche Ringen um Befreiung aus dem eigenen falschen Leben,
selbst wenn die «Befreiung» in der Regel nur einem Freigang aus dem
Gefängnis gleichkommt.
Werden nur äußere Veränderungen angestrebt und erkämpft, ohne
die inneren Lebensmöglichkeiten zu verändern und zu verbessern, ist
der an sich höchst ehrenwerte Kampf um bessere Verhältnisse meist
mit einem tiefen Schatten verbunden. Eine wahrhaftige Revolution
wird nicht durch Straßenschlachten und die bloße Machtübernahme
ohne Veränderung der innerseelischen Lebensbasis herbeigeführt. Der
Ausstieg aus dem falschen Leben ist ein Beziehungsprozess und kein
Waffengang. Selbst wenn er noch so positiv gedacht und inhaltlich
überzeugend begründet ist, wird ein veränderter politischer oder
ökonomischer Überbau stets durch die falschen Selbst in eine neue
Krise geführt werden. Die blutige Gewalt der Revolutionen ist der
Ausfluss verletzter Seelen, die vor keiner Schandtat, keinem
Verbrechen zurückschrecken. Mit großem Entsetzen, mit Abscheu
konstatiert die historische Betrachtung unmenschliche Gräueltaten,
ohne die tiefe seelische Qual, aus der heraus sie entstanden, zu
begreifen. Die frühen seelischen Verletzungen, die die falschen Selbst
generieren, haben immer einen lebensbedrohlichen Charakter. Nur
dieser verborgene, unterdrückte und damit aufgestaute Hass kann
eine spätere Vernichtungswut und Mordlust erklären. Ohne
grundlegende Verbesserung der frühkindlichen Betreuung gibt es
keine wirkliche humanitäre Entwicklung, nur immer wieder
destruktive soziale Verhältnisse in wechselndem Gewand.

Welche Möglichkeiten, Aufgaben, Verpflichtungen und welche Verantwortung haben


Menschen, bezogen auf ihr falsches Selbst, für die «Beziehungskultur» und für ein echteres
Leben?

1. Mit einem «bedrohten Selbst»...


… besteht die wichtigste Aufgabe darin, immer wieder die reale
Situation von dem schon vorhandenen Bedrohungsgefühl zu
unterscheiden, um sich vor Realbedrohungen angemessen zu
schützen, bei fantasierter oder fehlgedeuteter Bedrohung jedoch die
sozialen Konflikte nicht durch affektive Überreaktion anzuheizen. Die
Hauptaufgabe heißt also: Was ist real? Und was lediglich
Reaktivierung alter Bedrohungserfahrung? Der Realbezug fordert
angemessenen Schutz, das Bedrohungsgefühl braucht Abfluss in
schützender Begleitung. Das bedrohte Selbst wird immer dazu neigen,
die innere aufgestaute Bedrohungserfahrung in eine reale
Außenbedrohung zu verwandeln und dafür auch
Bedrohungsszenarien zu provozieren. Dafür dienen dann Propaganda
und Gewalt. Deshalb braucht ein bedrohtes Selbst Verständnis,
Fürsorge, stützende und korrigierende Sozialarbeit und Therapie. Eine
Gesellschaft, in der Gewalt und Feindseligkeit wachsen, trägt dafür
die Verantwortung, die Entwicklungsbedingungen, die bedrohte
Selbst erzeugen, zu verbessern und entsprechende Hilfen zur
Verfügung zu stellen. Ein Mensch, der im bedrohten Selbst agiert, ist
aber auch verantwortlich für sein strafbares oder zerstörerisches
Verhalten und zur Kontrolle und Regulation seiner Störung
verpflichtet. Nur im Zusammenspiel individueller Störungseinsicht,
angemessener Prävention und von Hilfsangeboten kann für das
bedrohte Selbst eine hilfreiche Beziehungskultur entstehen. Im
Grunde genommen braucht ein bedrohtes Selbst einen lebenslangen
Beziehungsbeistand, mit dessen Hilfe die emotionale Instabilität
reguliert, die Impulsdurchbrüche kontrolliert sowie das hassvolle
Ausagieren angesichts von Projektionsobjekten verhindert werden
kann. Wenn Politik das nicht begreift und nur auf Diskriminierung
und Strafverfolgung setzt statt auf Prävention und Sozialarbeit, trägt
sie wesentliche Schuld an der Eskalation der durchaus verständlichen
und berechtigten mörderischen Affekte der bedrohten Selbst.
Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass Hassaffekte berechtigt sind,
weil sie aus real erlebter Lebensbedrohung in der Frühgeschichte
entstanden sind. Davon Betroffene sind aber keinesfalls berechtigt,
diesen Hass auszuleben und an Menschen oder Objekten
abzureagieren, die mit der Leidensgeschichte der Bedrohung gar
nichts zu tun haben. Geschieht dies dennoch, dann gehört zur
notwendigen Bestrafung unbedingt eine soziotherapeutische Hilfe
dazu, will man weitere Straftaten verhindern, was ja oberste
politische und gesellschaftliche Pflicht ist. Prävention wäre allerdings
die beste Lösung und deshalb auch die wichtigste Aufgabe.

2. Das gequälte Selbst...


… steht vor der äußerst schwierigen Aufgabe, die oft sehr belastende
körperliche (somatisierte) Qual wieder in die ursprüngliche
Beziehungsqual zurückzuübersetzen und die realen körperlichen
Folgen unbedingt auch medizinisch optimal behandeln zu lassen. Für
die «Übersetzungsarbeit» ist in aller Regel professionelle Hilfe
erforderlich. In der dann zu erlernenden Beziehungskultur wird es
darauf ankommen, sich vor besetzender Eindringlichkeit und
besitzergreifender Vereinnahmung in den gegenwärtigen Beziehungen
wirkungsvoll zu schützen, ohne die Hilfen, die durch interessierte
Zuwendung, kritische Nachfragen, ergänzende Hinweise und
suggestive Beeinflussung möglich sind, ganz und gar abzulehnen.
Auf Fragen, die mehr der Befriedigung der Neugierde und der
Betonung der Wichtigkeit des Fragenden dienen, muss man keine
Antwort geben, oder man gibt die Frage zurück: «Und was ist deine
Meinung?» Zu untersuchen ist, ob die angebotene Hilfe wirklich
hilfreich ist oder der Beruhigung beziehungsweise dem
Selbstwertgefühl des Helfers dient: «Warum tust du das für mich?»,
«Und was hast du davon?», «Und was willst du dafür von mir?»
Wenn dann nur altruistische Phrasen kommen, ohne die eigenen
Egoismen zu bekennen, sollte man die Hilfe ablehnen, weil sie durch
verborgene Erwartungen vergiftet ist. Die Vereinnahmung geschieht
oft ganz unmerklich: «Das wird dir sicher gefallen!», «Das willst du
doch auch!», «Ich kenne dich gut, das ist was für dich!», «Das ist bei
uns so…, wir denken so…, wir wollen doch… geht es dir nicht auch
so?!», «Du bist doch auch derselben Meinung!», «Du kannst dich da
nicht herausnehmen!»
Solche tausendfachen alltäglichen Vereinnahmungen fordern das
gequälte Selbst heraus, sich im Abgrenzen zu üben, nein zu sagen, das
Ich und die eigene Meinung zu betonen und sich auch behaupten zu
lernen. Die Gefahr einer Vereinnahmung ist in jeder Partnerschaft,
jeder Familie, jedem Verein gegeben. Religiöse Verhaltensforderungen
bedienen mit moralisierender Einschüchterung ein gequältes Selbst.
Menschen mit einer spezifischen Selbst-Störung neigen stets dazu,
Bedingungen zu suchen oder sich Verhältnisse zu schaffen, in denen
ihre Störung nicht nur unerkannt bleibt, sondern nahezu als positives
Referenzprädikat für den vereinnahmenden Missbrauch bestätigt
wird. So wird verständlich, dass auch leidvolle autoritäre Verhältnisse
gebraucht und regelrecht gesucht werden, um der inneren Qual eine
äußere Bühne zu geben.

3. Das ungeliebte Selbst...


… muss einsehen, dass es unmöglich ist, sich Liebe zu verdienen.
Liebe wird geschenkt oder nicht – und das liegt nicht in der Macht
des Bedürftigen. Das Ziel kann nur sein, sich selbst lieben zu lernen.
Und das ist nicht damit zu verwechseln, sich selbst durch Erfolge und
Leistungen beweisen zu wollen. Es ist nichts, was man «machen»
könnte.
Selbstliebe wird dann annäherungsweise möglich und erlebbar,
wenn man emotional gut bei sich sein kann. Erkennen lässt sich
dieser Gefühlszustand häufig an Feststellungen wie: «Ja, so ist es!»,
«Ja, das stimmt genau!», «So bin ich!» Die darin transportierte
Selbstbestätigung erkennt man an der tieferen Ausatmung, an einem
befreienden Entspannungsgefühl, an trockener, rosig durchbluteter
Haut, strahlenden Augen und einem säuglingshaft zufriedenen
Gesichtsausdruck. Diese körperlichen Zeichen unterscheiden sich von
einer narzisstisch-hysterischen Bestätigung im falschen Selbst, wie sie
in «Ja, dazu stehe ich! Und das ist gut so!» zum Ausdruck kommt,
meist verbunden mit übertriebenem Gewese, schneller Atmung,
aufgeregter Stimme, betontem Gestus und eher angespannter
Körperhaltung und Bestätigung erheischenden Blicken.
Die beste, natürlichste Selbstliebe ist die Bestätigung durch eine
früh prägende Fremdliebe (Mutterliebe). Dann hat die Mutter die
Liebesfähigkeit des Kindes wie eine «Liebesbatterie» praktisch
aufgeladen und die Selbstliebe ist ein Leben lang aktiviert. Und wenn
nicht – was am häufigsten ist –, muss man die mögliche Selbstliebe
auch selbst aktivieren durch das Bemühen, durch Selbsterfahrung
echte, ehrliche und authentische Reaktionen in sich zu finden. Diese
Selbsterfahrung schließt das Erkennen ein, dass es das Versagen der
Mutter war, nicht ausreichend liebesfähig zu sein. Für das Kind sind
die Gründe des Muttermangels irrelevant. Das entschuldigende
Verständnis für Mutters Versagen will verzeihen, ohne den erlittenen
Liebesmangel erleiden zu müssen. Aber um eine ausreichende
Selbstliebe erreichen zu können, ist die bittere und schmerzliche
Erkenntnis des Defizits die Grundlage.
So bleibt das Ringen um Selbstliebe eine beschwerliche und
lebenslange Aufgabe. Sich ihr aber zu stellen, ist die beste
Voraussetzung für eine gelingende Beziehungskultur. Selbstliebe ist
eine emotionale Form der Selbstbefriedigung, deren Bedeutung darin
besteht, sich unabhängig zu machen von den
Übertragungshoffnungen und den zwangsläufigen Enttäuschungen
durch eine eroberte Fremdliebe. Erreichte Selbstliebe, auch wenn sie
brüchig und begrenzt bleibt, ist die einzige wirkliche Chance, um
auch andere zu lieben im Sinne, dafür zu sorgen, dass es dem
Geliebten/der Geliebten auch gut geht, ohne dafür etwas zu erwarten.
Diese Fremdliebe ist selbstlos, aber nur auf der Basis von Selbstliebe
möglich, die aus der gesicherten Selbstbestätigung heraus auch geben
kann. Denn womit sollte einer, der sich selbst nicht lieben kann,
andere lieben. Wenn dann gesagt wird: «Ich liebe dich», heißt das in
aller Regel: «Ich brauche dich!»

4. Das abhängige Selbst...


… muss lernen, was es will und was nicht, was es wirklich braucht
und was nicht, wie es in Abgrenzung von den auf es projizierten
Erwartungen und Wünschen leben kann. Das abhängige Selbst ist
beladen mit Fremdinhalten, die es mitunter für die eigenen hält, weil
sich Eigenes gar nicht erst entfalten durfte. Es ist harte Arbeit, die
Suggestionen mütterlicher Vergiftung aufzugeben, weil man erst
einmal zur nichtigen Existenz schrumpft. Und es ist sehr bedrohlich,
mütterliches Verlangen zu begrenzen und schließlich völlig
auszuschlagen, weil man angesichts frühester Drohungen dann Strafe,
Ablehnung und Verlassenheit befürchten muss, mitunter sogar «Gottes
Zorn».
Kinder sind niemals emotional für ihre Eltern verantwortlich,
Kinder tragen keinerlei Schuld ihren Eltern gegenüber. Aber Eltern
sind für ihre Kinder verantwortlich und tragen Schuld für deren
Fehlentwicklung. Erst dann entstehen schwer erträgliche und böse
Kinder, die durch Fehlverhalten auch schuldig werden, aber nicht
verantwortlich dafür sind. Das erwachsene «Kind» ist vielleicht
juristisch und wirtschaftlich für die Betreuung bedürftiger Eltern
verantwortlich, aber nicht für deren Zufriedenheit.
Ein falsches Selbst der Eltern können Kinder (auch erwachsene
Kinder) nicht heilen! Die befreienden Übungen für abhängige Selbst
bestehen darin, «ich» sagen zu lernen: «Ich bin …, ich will …, ich
brauche …», und ebenso die Verneinungen: «Ich bin nicht …, ich will
nicht …, ich brauche nicht …» Beziehungsdynamisch sind
Abgrenzung und Selbstbestimmung wichtig, wirkliche Schuld ist von
eingeredeten Schuldgefühlen zu unterscheiden. Es ist «böse» von einer
Mutter und Symptom ihrer Entfremdung, wenn sie meint: «Du bist an
meinem Unglück schuld!», «Du machst mich ganz krank!», «Ich bin so
enttäuscht von dir!» «Und das ist nun der Dank!» Für sein Befinden ist
immer jeder Einzelne selbst verantwortlich, erst recht als Eltern.
Kinder haben nicht die Macht, die Eltern glücklich oder unglücklich
zu machen. Das wird ihnen nur eingeredet. Die Befreiung von dieser
Suggestion ist eine wichtige Aufgabe, um aus der Abhängigkeit in die
Selbstbestimmung zu finden.
Eine gewonnene Unabhängigkeit wird zuweilen besonders
demonstriert und betont, was als Reaktionsbildung und nicht als
Reifeschritt einzuschätzen ist. Denn Abhängigkeit – sich führen und
mitnehmen zu lassen, etwas gesagt zu bekommen, Entscheidungen
nicht selbst oder alleine treffen zu müssen – bleibt auch weiterhin ein
psychosoziales Grundbedürfnis mit hohem Lustgewinn bei
entsprechender Erfüllung. So steht das abhängige Selbst vor der
Aufgabe, sich abzugrenzen und sich mitnehmen zu lassen. Beides
muss Vergnügen bereiten können: «Ja» zu sagen und «Nein» zu sagen.
Die reife Beziehungskultur besteht darin, unterscheiden zu können:
Was ist reale Abhängigkeit, was ist wünschenswerte Abhängigkeit,
was ist neurotische (eingebildete) Abhängigkeit einer Selbst-Störung
und was ist wünschenswerte, mögliche und sogar notwendige
Selbstbestimmung?

5. Das gehemmte Selbst...


… muss sich von der erlebten Repression, der Einschüchterung
befreien. Dabei ist es wichtig, zwischen der verinnerlichten
Unterwerfung und einer situativ gebotenen Zurückhaltung zu
unterscheiden. Das gehemmte Selbst lebt gut in jeder Befehlslage,
aber natürlich auf Kosten der freien Entfaltung eigener Potentiale.
Autoritäre und hierarchische Strukturen werden gesucht, ja nahezu
gebraucht. Das wird dann zum Problem, wenn der Bestimmer zu viel
verlangt oder Abnormes fordert. Es ist erstaunlich, wie lange Unrecht
dennoch mitgemacht oder toleriert wird und angesichts von Befehlen
sogar Verbrechen bedenkenlos begangen werden. Soldaten sind in
dieser Hinsicht hoch gefährdet. Das Problem des «gehemmten Selbst»
besteht in der Schwierigkeit, ohne Fremdbestimmung das Eigene zu
entdecken, zu entfalten und zu verantworten.
Der Gehemmte kann lange Zeit ein von Entscheidungslast befreites
Leben führen, gerät aber in eine Krise, wenn die Anforderungen zu
hoch oder zu falsch werden, wenn plötzlich der «Führer» wegfällt
oder eigene Entscheidungen selbständig getroffen werden müssen. Die
Freiheit wird dann zur Bedrohung. Das kann schon Heranwachsende
treffen, deren Eltern ein strenges Regime nicht mehr aufrechterhalten
können oder die als Autoritäten nicht mehr akzeptiert werden. Dann
wissen die jungen Menschen oft nicht, was sie wirklich zu tun oder zu
lassen haben, was das Richtige für sie ist, was für sie stimmt, und sie
sind in großer Gefahr, sich neuen «Herren» oder einem autoritären
Gruppenverband anzuschließen, um wieder Halt und Orientierung zu
finden. Unabdingbare Voraussetzung wirklicher Hilfe für sich
radikalisierende Gruppen ist, diesen überlebensnotwendigen Sog zur
sozialen Einbindung zu verstehen. Eine radikale Gruppe gewährt Halt,
Orientierung, gibt einen sozialen Platz, vermittelt Bedeutung und
schenkt Anerkennung.
Nur wenn die Gesellschaft eine echte Qualität sozialer
Anerkennung, haltgewährender Gemeinschaft und zu erwerbender
Bedeutung zur Verfügung stellt, kann eine Fehlentwicklung der
gehemmten Selbst in Gruppen mit ideologischer, politischer und
religiöser Instrumentalisierung verhindert werden. Unsere «Nazis»,
«Faschos», die «Autonomen» und «Anarchos» – die «Rechts- und
Linksextremisten» – suchen Gemeinschaft, brauchen Halt, wollen
wichtig sein und gebraucht werden, benötigen immer einen
Außenfeind und meistens auch Gelegenheit, um den Gefühlsstau aus
repressiver Erziehung und liebloser Verletzung und Kränkung
ersatzweise abführen zu können. Angesichts feindseliger Gegnerschaft
werden die eigenen Positionen meistens militant vertreten.
Psychodynamisch gesprochen haben beide Seiten jedoch mit der
gleichen Störung der Selbstentfremdung zu kämpfen. Die äußere
Form ist polar entgegengesetzt, die innere Quelle ist die gleiche!
Beziehungskultur für das «gehemmte Selbst» besteht darin, sich
aus den Fesseln der Unterwerfung zu befreien. Dazu bedarf es
unbedingt der Gelegenheit zur Aggressionsabfuhr. Sie muss so
gestaltet werden, dass man sich weder selbst beschädigt noch andere
verletzt, noch Sachen zerstört. Das ist in entsprechenden Antigewalt-
Workshops möglich. Sie erlauben, begründete Aggressionen inhaltlich
gezielt an symbolischen Objekten abzureagieren, um nicht real
gewalttätig zu werden oder einer gewaltaffinen Ideologie zu verfallen.
Auch durch Sport, vor allem in den Kampf- und
Verteidigungssportarten, aber auch ganz unspezifisch durch einen
sublimierten Energieverbrauch, der für Gewaltexzesse dann nicht
mehr zur Verfügung steht, ist eine wirksame Entladung möglich. Die
Aggressionsentladung ist die Voraussetzung dafür, eigene Positionen
zu finden und individuelle Wege zu gehen, um im besten Sinne
expansiv und kreativ werden zu können, ohne am Hass zu ersticken
und ohne bei den notwendigen Versuchen, Eigenes zu wagen, etwas
zu probieren und zu riskieren, sich durch unangemessene
Affektdurchbrüche zu gefährden. Sodann muss ein beharrliches
Auffinden und Üben eigener Möglichkeiten erfolgen, deren Entfaltung
das eigentliche Selbst zum Ausdruck bringt und dem Selbstwert, der
Selbstorientierung und der Selbstliebe dient.
Die Beziehungskultur für das «gehemmte Selbst» heißt
Aggressionsentladung und Selbstentfaltung, die Einschüchterung und
Verbote überwindet, notfalls auch zur Befehlsverweigerung bereit und
in der Lage ist, die aber auch Anregung und Unterstützung zu nutzen
versteht und bereit ist, Verpflichtungen zu erfüllen. Im sozialen Leben
ist eine notwendige Zurückhaltung aus freier Entscheidung von
neurotischer Gehemmtheit bei Selbst-Störung zu unterscheiden.
Wagnisse, Experimente und Risiken müssen in realitätsgerechter
Selbsteinschätzung verantwortet werden. Dabei sollten auch neue
Erfahrungen durchaus gesucht werden.

6. Das vernachlässigte Selbst...


… muss seine Faulheit und Bequemlichkeit, die kultivierte Passivität,
als zwar verständliche, aber letztlich gestörte und störende
Trotzreaktion verstehen lernen. Wer nicht beachtet und unterstützt
wurde, hat nicht viel kennenlernen können; er hat vor allem die
narzisstisch wertvolle Bestätigung durch Anstrengung, Leistung,
Pflicht und Verantwortung nicht erfahren. Mit Trotz und
Enttäuschungswut wird eine Versorgungsmentalität kultiviert, mit der
man sich stellvertretend rächt und andere zur Betreuung verführt
oder sogar zwingt. Das ungeförderte Selbst ist das Ergebnis einer
Laissez-faire-Erziehung, einer zu liberalen Gleichgültigkeit, einer
«Vaterlosigkeit» innerhalb der Gesellschaft. Mit der passiven
Verweigerung wird das erlittene Desinteresse kultiviert. Nicht gut
versorgende Eltern kann man mit Abchillen und Rumhängen, mit
Null-Bock-Einstellung und planloser Lebenseinstellung bestrafen und
so ihre verweigerte Unterstützung der kindlichen Entwicklung
entlarven. Der Nachwuchs bleibt sich völlig selbst überlassen; die
Eltern wollen nichts mehr wissen von Alkohol, Drogen und
Spielsucht, sie fordern keine Struktur und Ziele mehr ein, gewähren
aber dennoch nicht selten aus einem Schuldgefühl heraus die
materielle Versorgung oder verweigern aus Hilflosigkeit und
Enttäuschung jede noch so notwendige Unterstützung.
Zur Beziehungskultur des unterversorgten, ungeförderten Selbst
gehören die Überwindung des selbstzerstörerischen Trotzes und einer
rachelüsternen passiven Verweigerung sowie das Erlernen von
sinnvoller Anstrengung, notwendigen Pflichten und von
Verantwortung. Dafür ist väterliche Hilfe gefordert, die von realen
Vätern, väterlichen Begleitern und einer väterlich-herausfordernden
Gesellschaft geleistet werden muss. Das falsche Verständnis für eine
vermeintliche freie Entscheidung, nichts zu wollen und nichts zu
müssen, ist die Fehleinstellung einer zu liberalen Gesellschaft, deren
Freiheitsbegriff nur das falsche Leben einer vaterlosen Realität
verschleiert. Das Väterliche ist eben auch immer eine eingeforderte
Anstrengung, um das psychosoziale Grundbedürfnis, gefordert zu
werden, zu erfüllen. Die Belastungen durch den Flüchtlingsstrom in
der Gegenwart haben in der breiten Öffentlichkeit erstmals wieder zu
einer Diskussion über die Notwendigkeit von Forderungen an
Hilfsbedürftige und zu Betreuende geführt. Aber das Grundbedürfnis,
gefordert zu werden, besteht auch für jeden Erwachsenen – seine
«Brötchen» selbst zu verdienen, Steuern zu zahlen, sich demokratisch
zu verhalten, sich Fehlentwicklungen in der Gesellschaft zu
widersetzen und das eigene falsche Selbst korrigieren zu lernen.

7. Das überforderte (unbegrenzte) Selbst...


… leidet an der aufgezwungenen Grenzenlosigkeit: immer mehr,
immer besser, immer weiter – ohne Rücksicht auf reale
Möglichkeiten, mit den Folgen einer permanenten Überforderung
und den damit verbundenen schädlichen Auswirkungen auf das
soziale Zusammenleben und die Werte einer Gesellschaft. Ein
ungeliebtes Selbst angesichts von «Muttermangel» gerät häufig unter
die Leistungsknute eines «Vatermissbrauchs», in der illusionären
Erwartung, wenn schon nicht von der Mutter geliebt, dann
wenigstens vom Vater anerkannt zu werden. Eine unbegrenzte
Anstrengungserwartung führt in eine süchtige Leistungsbereitschaft
und damit in einen chronischen Stresszustand mit allen
psychovegetativen und somatisierenden Belastungsfolgen
(Schlafstörungen, hoher Blutdruck, Kopfschmerzen,
Rückenschmerzen, Beschwerden im Herz-Kreislauf- und Magen-Darm-
System sowie im Bewegungsapparat). Psychisch führt die permanente
Anspannung zu Nervosität, Gereiztheit, Unzufriedenheit, zu
Selbstvorwürfen und nach längerer Zeit zum sogenannten «Burn-out-
Syndrom» als Erschöpfungsdepression.
Das überforderte Selbst wird also zuallererst Entspannung lernen
müssen, die im Widerspruch zu Leistungsdruck und
Erfolgserwartungen steht. Die inhaltlichen Erkenntnisziele sind: Ich
bin begrenzt! Ich darf nachlassen! Entspannung ist nicht
nur notwendig, sondern ein Gewinn, ein Genuss! Erfolg ist nicht alles!
Damit beginnt eine grundsätzliche Neubewertung von Lebenszielen
und sozialen Werten. Beziehungsdynamisch ist es vor allem
notwendig, die Angst über den vermeintlichen Bedeutungsverlust bei
eingeschränkter Leistung aufzufangen. Das schwindende Ansehen,
wenn man keine Höchstleistungen mehr vollbringt, kann durchaus
real sein. Genau das erleben ja viele Spitzensportler oder Prominente,
wenn sie nicht mehr auf der Bühne gefeiert werden – aber das ist der
Wertemaßstab der falschen Selbst. In und durch Beziehungskultur
lassen sich hingegen menschliche Zuwendung und Anerkennung
gewinnen – durch unverstellte Kommunikation mit der befreienden
Wirkung von Offenheit und Ehrlichkeit und erfahrbarer echter
Wertschätzung nach Ablegen der sozialen Erfolgsmaske. Dem
überforderten Selbst liegt ja zumeist große Leistungsfähigkeit
zugrunde. Sie wäre im Sinne einer Beziehungskultur zu kultivieren:
sich selbst erfüllende Beziehungsleistung statt fremd geforderte
Erfolgsleistungen.
Wer die befriedigende und heilsame Wirkung befreiender
Selbsterkenntnis und wohltuender Bestätigung durch
Beziehungskultur erfahren hat, dem fällt das Loslassen von
unerbittlichen Anstrengungen für falsche Götzen überhaupt nicht
mehr schwer. Hier stehen sich Beziehungsbefriedigung und
Konsumsucht konträr gegenüber. Man kann erst dann von äußeren
Werten ablassen, wenn Beziehungswerte gelingen.
27 Meine Selbstentfremdung

Mein ärztlich-psychotherapeutischer Beruf, meine publizistische


Tätigkeit und mein psychopolitisches Engagement dienen dem
Bemühen, meine Selbstentfremdung zu verringern. Seit frühester
Jugend haben mich Fragen wie die folgenden geplagt: Wieso
bekommen normale, durchschnittliche Menschen, ja höchst
erfolgreiche, freundliche und angesehene Bürger und Bürgerinnen
Lust auf Krieg und beteiligen sich an unvorstellbaren Verbrechen,
sind bereit, erkennbar irrwitzigen Überzeugungen zu folgen, und
lassen sich gegen ihre Bedürfnisse «abrichten»? Ich habe keine
überzeugenden Antworten bekommen, nur billige Entschuldigungen,
dumme Ausreden und verlogene Reue mit hohlen Gelöbnissen. Wieso
akzeptieren Menschen hohle Phrasen und Lügen für ihr
gesellschaftliches Zusammenleben? Wieso feiern Menschen Erfolge,
die ihrer Gesundheit schaden, das Zusammenleben vergiften, die
Umwelt zerstören, die Zukunft vernichten und Kriege schüren? Wieso
leben Menschen gegen ihre Natur? Wie kann «Kultur» so
pervertieren? Wieso können wir «falsches Leben» nicht einfach
beenden? Und ich bin immer irgendwie beteiligt, mittendrin, Täter
und zugleich auch leidendes und protestierendes Opfer.
Ich habe für mich nach überzeugenden Antworten gesucht, die ich
in diesem Buch übermittle, die mich allerdings überhaupt nicht
beruhigen. Ich habe den «Feind» in mir entdeckt und habe etwas von
der Not der Entfremdung bei den meisten Menschen verstanden. Wir
leben fast alle mit einer sozialen Maske der Freundlichkeit und
Anständigkeit, um uns und allen anderen das falsche Leben erträglich
zu machen. Die Verlogenheit (bewusst und unbewusst) ist die Basis
des friedlichen sozialen Zusammenlebens. Die hinter der Fassade
verborgene Wahrheit, von der wir aus nachvollziehbaren Gründen
nichts wissen wollen, ist wie ein ungezähmtes wildes Tier, das bei
Bedrohung zum Angriff übergeht. Und meistens schaffen wir es auch,
unsere geschmückte Oberfläche als unser vermeintlich ehrliches
Gesicht anzubieten. Die Tragik entfremdeten menschlichen Lebens
besteht darin, dass lebensbedrohliche Gefahr erlebt wird, wenn das
«falsche Leben» mit seinen Kompensationen und Ideologien ins
Wanken gerät. Dann wird nicht das mögliche echte Leben verteidigt,
sondern das gestörte soll erhalten bleiben. Mit dem Verständnis dieser
Paradoxie habe ich meine Fragen beantworten können. Wir werden in
ein «falsches Leben» gedrängt – vor allem durch Erziehung, die von
machtpolitischen, ideologischen, ökonomischen und religiösen
Interessen geprägt ist. Wir sind die Opfer der ganz individuellen
Beziehungsstörungen der falschen Selbst unserer Eltern und
Frühbetreuenden – bis wir die Entfremdung aus Überlebensangst
akzeptieren und integrieren und dann selbst zu Tätern werden. Jede
Infragestellung dieser mühevollen Anpassung würde wieder die frühe
Nötigung zum geforderten Verhalten mit aller damit verbundenen
Empörung, dem Hass, dem Schmerz und der Trauer spürbar werden
lassen. Wenn man die Not des Kindes verstanden hat und nachfühlen
kann, werden auch spätere Verbrechen – und Krankheiten sowieso –
erklärbar, die die innerseelischen Ursachen mörderischen Hasses
dadurch verbergen sollen, dass man Feinde erfindet und sich damit
eine immer notwendige energetische Abreaktion verschafft. Auch
deshalb werden beispielsweise Tötungsbefehle mit «Lustgewinn»
befolgt. In meiner beruflichen Laufbahn wurden die Milgram-
Experimente zu einem Schlüsselerlebnis: Dass durchschnittliche
Personen unter autoritären Anweisungen mehrheitlich bereit waren,
anderen Menschen Qualen zu bereiten bis hin zu lebensbedrohlichen
elektrischen Schlägen (sie wussten nicht, dass keine wirkliche Gefahr
bestand) – das hat mein Menschenbild grundlegend erschüttert.
Ähnliche Erfahrungen habe ich dann tausendfach machen müssen,
wenn wir in einer Sonderform der Gruppentherapie die erwartete
autoritäre Führung verweigert haben und mit dem labilisierenden
Verlust der Anpassungsorientierung ganz durchschnittliche Menschen
zu heftigsten aggressiven Reaktionen und hassvoller Verfolgung dazu
auserkorener Sündenböcke in der Lage waren. Sie verteidigten im
Angriff ihre innere Unsicherheit und Ratlosigkeit, ihre tiefe
Verlorenheit im Kampf gegen vermeintliche Schuldige und waren im
Grunde genommen zu jeder Schandtat bereit, wenn man sie in ihrer
Abwehrparanoia bestätigt und nicht ausgebremst hätte. Im Grunde
war das ein Lehrstück der Extremismus-Forschung: Nimm einem
beschädigten, falschen Selbst die stabilisierende Orientierung, so dass
bisherige Kompensationen nicht mehr greifen, und alle aufgestauten
Folgen der frühen Beschädigung und Verbiegung brechen affektiv
durch. Im Therapieprozess wird in einer führer- und themenlosen,
unstrukturierten Gruppensituation die bisherige Anpassung zu einer
Verlorenheitsfalle. Alle Anstrengungen, sich zurechtzufinden und
sozialen Status zu sichern, bleiben erfolglos oder werden
konkurrierend zunichtegemacht, da keines der Gruppenmitglieder die
Autorität hat, ein gemeinsames Ziel vorzugeben oder erarbeiten zu
lassen, und der therapeutische Gruppenleiter diese Funktion bewusst
nicht einnimmt. Ohne Führung gibt es keine Orientierung für die
gewohnte Anpassung oder gezielte Verweigerung. Wenn das erprobte
Verhalten mit der sozialen Maske der falschen Selbst nicht mehr
erfolgreich ist und mit der Verunsicherung alle aufgestauten, bisher
verborgenen Affekte der Entfremdung (Wut, Schmerz, Trauer)
durchbrechen, entsteht die Gefahr der sozialen Spaltung. Im
Zusammenspiel und Kampf der Gegensätze verschiedener Positionen
soll die gemeinsame Verunsicherung wieder ersatzweise stabilisiert
werden. Die Konflikte des sozialen «Rollenspiels» sollen dann das
eigentliche Dilemma der Ratlosigkeit und Orientierungsunsicherheit
überdecken. Die durchsetzungsfähigen «Starken» (gruppendynamisch
die «Alphas», die zumeist ungeliebte und unbegrenzte Selbst sind),
getragen von den Mitläufern (gruppendynamisch die «Gammas», die
zumeist abhängige und gehemmte Selbst sind), unterstützt von den
intellektuellen Kommentatoren (die «Betas», zumeist die ungeliebten
Selbst), bringen sich als Mehrheit gegen die Außenseiter der Gruppe
(die «Omegas», zumeist die bedrohten und ungeförderten Selbst) in
Stellung. Für die Entwicklung und soziale Reifung der Gruppe sind
die «Omegas» am wichtigsten, denn diese verkörpern in aller Regel
Positionen und Teilwahrheiten, mit denen falsches Selbstverhalten
kritisch hinterfragt wird. Erst mit der Integration der Außenseiter und
deren Kritik und Erfahrung bekommen die Selbst-Störungen der
Mehrheit eine Chance der Erkenntnis, Einsicht und Entwicklung.
Dann sind nicht mehr die einen richtiger oder besser als die anderen,
sondern die verschiedenen Selbst-Störungen werden kritisch
hinterfragt, können relativiert werden und sich zugunsten aller
hilfreich ergänzen. Eine normopathische Demokratie kann zu einer
Demokratie der Beziehungskultur reifen, in der selbst Außenseiter
einen anerkannten sozialen Rang einnehmen.
Mein bisheriges Leben ist durch drei deutsche Normopathien
beeinflusst: Im Kleinkindalter bin ich durch die Erziehungsideale des
Nationalsozialismus, durch die Kriegsbedrohungen, durch das
familiäre Vertreibungstrauma geprägt worden. In meiner Kindheit,
der Jugend, der Schule, im Studium und Beruf bin ich durch die
autoritär-repressiven DDR-Verhältnisse eingeschüchtert worden. Ich
habe früh gelernt, was ideologisierte Verlogenheit ist, was
Gruppendruck bedeutet und welchen Wert das Bemühen um
Bewährung gegen allerlei Versuchungen hat. Ich habe beschämende
Anpassung mitgemacht, mich vorsichtig und angstvoll in Opposition
geübt, aber unbedingt einen Weg finden wollen, trotz allem in Würde
zu leben, also Entfremdung zu erkennen und zu vermindern. In der
narzisstischen Gesellschaft bin ich den Konsummöglichkeiten, den
Ablenkungsangeboten etwas verfallen und ringe darum, dem
verführerischen Erfolgs- und Wachstumswahn in einer
Beziehungskultur im Privaten wie im Beruflichen und
Gesellschaftlichen etwas entgegenzusetzen und das «falsche Leben»
damit zu begrenzen.
Meine Selbst-Störungen kann ich besonders im Sinne des
ungeliebten, des abhängigen und überforderten Selbst einordnen (als
Folge von «Muttermangel», «Muttervergiftung», «Vatermissbrauch»
und chronifiziert durch die gesellschaftlichen Verhältnisse).
Das ungeliebte Selbst hat mich leistungsstark werden lassen, um
meine Liebenswertigkeit und Wichtigkeit zu beweisen. Mit dem
abhängigen Selbst und der Orientierung auf die Not der anderen
(anfangs der Mutter) bin ich ein erfolgreicher Psychotherapeut
geworden. Der Helferberuf ist eine hervorragende Möglichkeit, die
eigene Bedürftigkeit durch das Bemühen um andere zu verbergen und
Anerkennung zu ernten. Wenn man allerdings dieses Dilemma nicht
erkennt und regulieren lernt, droht ein Burn-out im Sinne einer
Erschöpfungsdepression. So habe ich meine psychotherapeutische
Arbeit im Wesentlichen auf Selbsthilfe orientiert, die nach
Bearbeitung des Gefühlsstaus gut möglich wird. Die schließlich auch
von mir selbst akzeptierte überfordernde Anstrengungsbereitschaft
hat mir eine relative Freiheit in Führungsfunktionen ermöglicht, aber
auch sehr bedrohliche Erkrankungen beschert.
Ich verstehe mein Leben als ein permanentes Ringen, die
aufgenötigte und dann in eigener Verantwortung weitergelebte
Entfremdung, so gut ich kann, überwinden zu lernen. Darin sehe ich
meine Möglichkeit, in Würde zu leben, unabhängig von der
Gesellschaftsordnung. Meine Einstellung dazu ist, dass mir meine
Würde keiner geben und letztendlich auch keiner wirklich nehmen
kann. Darüber verfüge ich allein, auch wenn ich durchaus förderliche
oder hinderliche Bedingungen erkenne, die es einem leichter oder
schwerer machen, würdig zu leben. Und Würde heißt für mich vor
allem, im wahren Selbst zu leben oder zumindest danach zu streben.
Ich bin davon überzeugt – im Wesentlichen gestützt auf meine eigene
therapeutische Selbsterfahrung und die Erkenntnisse aus über 40
Jahren Psychotherapie mit allen wissenschaftlich gesicherten Belegen
–, dass

der menschliche Charakter in der frühen Kindheit für das ganze Leben
nachhaltig geprägt wird;
die frühe Prägung wesentlich durch die Beziehungsqualität (in Form von
Mütterlichkeit und Väterlichkeit) im Umgang mit dem Kind geschieht, wobei
auch die Entfaltung oder Behinderung genetischer Veranlagungen sozialer
Beeinflussung unterliegt;
eine frühe Prägung nicht mehr grundsätzlich verändert werden kann; das heißt,
dass Selbst-Störungen nicht mehr geheilt werden können und deshalb
Prävention wesentlich wichtiger ist als Therapie;
auch Psychotherapie (oder irgendeine andere Form von Beratung, Therapie,
Meditation oder Übung) keine «Heilung» ermöglichen kann, aber Erkenntnis,
Entlastung, Verhaltensänderung und ein kompetenterer (weniger selbst- oder
fremdschädigender) Umgang mit den Selbst-Störungen gefunden und
ausgestaltet werden kann;
eine Mehrheit falscher Selbst auch eine normopathische Gesellschaftsstruktur
entstehen lässt, deren Normen und Regeln wieder zur Entfremdung der
nächsten Generation beitragen oder diese sogar erzwingen. «Falsche Selbst»
konstituieren «falsches Leben», in dem nur wieder «falsche Selbst»
heranwachsen können.
Mein Erkenntnisstreben kann ich heute auf eine zentrale Formel bringen:

Alle individuellen und kollektiven Verbrechen, die von Erwachsenen


begangen werden, sind krankheitswertige Folgen ihrer falschen
Selbst. Das oft völlig Unverständliche und absolut Ungeheuerliche
böser Taten ist das Spiegelbild der tief verletzten Seelen. Diese
schreckliche Erkenntnis «verdanke» ich Tausenden ganz
durchschnittlichen und sonst unauffälligen Menschen, die mich aus
therapeutischen Gründen bei Erkrankungen oder Konflikten in ihr
tabuisiertes Inneres blicken ließen. Eine normopathische Gesellschaft
kann nur durch Bemühungen um eine Beziehungskultur verbessert
werden.
Diese Erfahrungen, vor allem der sich perpetuierende Kreislauf der
Entfremdung, haben mich nachhaltig beeinflusst. Ich kenne
Ohnmacht, Verzweiflung, Ratlosigkeit und Wut wegen der
dominierenden Ignoranz, der Abwertung des Psychischen, der
Leugnung der frühkindlichen Genese späterer Erkrankungen und
Fehlentwicklungen. Und ich habe reichlich Freude erleben und
Bestätigung erfahren können, wenn Selbstentfremdung überwunden
oder vermindert werden konnte.
Mit dem Erfahrungswissen, dass Erwachsene um alles in der Welt
immer eine Politik, Gesellschaftsnormen und mediale Einseitigkeit
unterstützen werden, die helfen, die eigene Entfremdung zu
verschleiern und sogar deren pathologische Kompensationsformen zu
feiern, bin ich grundsätzlich pessimistisch hinsichtlich der
Entwicklung der höchsten Werte wie Frieden, soziale Gerechtigkeit,
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die über kurz oder lang zerstört
werden, wenn sie nicht auf innerseelischem Frieden, innerer
Demokratie und innerer Gerechtigkeit durch Überwindung der Folgen
der «falschen Selbst» beruhen. Ich bin pessimistisch, aber nicht
resigniert. Ich leide an meinen ärztlichen Erfahrungen, dass eine
Beratung, dass Wissen zur notwendigen Gesunderhaltung niemals
wirkliche Veränderungen bewirken – und selbst ein redliches
individuelles Bemühen, falsches Leben zu verlassen, an den
aufgezwungenen pathogenen Lebensformen in aller Regel scheitert.
Die Motivation zu anstrengenden und mutigen Veränderungen reift
erst in einer Krise, wenn es einem richtig schlecht geht oder man
schwer erkrankt ist, heran. Dann aber braucht man zwingend Partner,
mit denen auch ein sozialer Schutzraum gegen einen pathogenen
Mainstream aufgebaut werden kann.
Im Protest gegen die Lebensform meiner Eltern
(gefühlsvermeidend, beziehungsgestört, materiell orientiert, politisch
voller Ressentiments), in der Verweigerung einer Parteizugehörigkeit
und Karriere in der DDR, in der oppositionellen Analyse einer
narzisstisch orientierten Gesellschaftsentwicklung ringe ich um die
Rückgewinnung und Erhaltung gesunder Selbst-Anteile, die ich im
Begriff der «Beziehungskultur» zusammenfasse. Dabei geht es immer
um eigene Schuldanteile, um die emotionale Verarbeitung
unvermeidbarer innerer und äußerer Belastungen, um Verständnis für
Andersdenkende (auch für Unerträgliches und Strafbares ohne eine
falsche Exkulpierung) und um kommunikative Brücken. Damit habe
ich genug zu tun, mehr ist wahrscheinlich auch prinzipiell nicht
möglich. Ich kann weder die Welt noch die Verhältnisse verändern,
aber wenn ich mich verändere, verändere ich auch die Verhältnisse
und die Welt. Ich könnte kein Politiker oder Manager sein, weil man
in diesen Positionen ins «falsche Leben» gezwungen wird. Ich habe
Respekt vor den Leistungen der Staats- und Wirtschaftsführer, in
deren Funktion ich nicht einen Tag ohne erhebliche Skrupel und
Zweifel, ohne Schulderfahrung und körperliche Beschwerden leben
könnte. Ich empfinde Mitleid und Fremdschämen über die Phrasen
und nichtssagenden Verlautbarungen, über die verlogenen
Rationalisierungen im Dienste des «falschen Lebens». Ich empöre
mich über Entscheidungen, die «falsches Leben» chronifizieren,
besonders hinsichtlich der Frühbetreuung von Kindern. Und ich kenne
Verachtung, wenn mit erkennbarer Selbst-Störung die politische und
ökonomische Macht missbraucht wird, um aus Gründen eigener
Entfremdung und Verstörung über das Schicksal anderer und über die
Zukunft aller zu entscheiden. Wer zählt die Toten, die von psychisch
kranken Machthabern – auch in demokratischen Systemen – in Kriege
geschickt werden, die dem Geltungsdrang, dem versteckten Hass, der
Paranoia der Befehlshaber geschuldet sind.
Mit meinen Lebens- und Berufserfahrungen kann ich mich nicht
zufrieden zurücklehnen, sondern «erleide» (möchte ich sagen)
Verantwortung, durch konstruktive Kritik etwas beeinflussen zu
wollen, «falsches Leben» zu identifizieren und auflösen zu helfen.
Dieses Wollen bin ich mir schuldig. Es ist der Ausdruck eines
Verpflichtungsgefühls, spezifisches Erfahrungswissen und
Erkenntnisse aus meiner Arbeit – wenn sich Menschen öffnen und sich
zeigen, wie sie es sonst nie tun würden, und dabei oftmals sogar vor
sich selbst erschrecken – zur öffentlichen Diskussion zu bringen. Es
geht nicht um vermeintlich objektive Befunde und nicht um
wissenschaftliche Beweise, sondern um ganz subjektive Erfahrungen
und individuelles Verstehen der falschen und der echten Selbstanteile
zum Schutz vor Erkrankung und sozialem Unfrieden. Es geht darum,
die eigene Selbstentfremdung immer wieder zu erkennen und Wege
zu wissen und Beziehungen zu finden, um die wahren Selbstanteile zu
würdigen und leben zu lassen. Wie könnte man sonst in Würde
gehen?
Ich habe oft mit dem Zynismus einer Überlebensschuld vom
unverdienten Glück gesprochen, zwischen zwei Weltkriegen (dem 2.
und dem 3.) leben zu dürfen. Mir kam das mitunter wie ein magisches
Denken vor, so wie man als Kind vielleicht pfeifend in den dunklen
Keller geht, um die bösen Geister zu vertreiben. Mit dem Wissen, dass
«falsche Selbst» immer wieder Kriege brauchen, um der
innerseelischen Bedrohung und Entfremdung eine äußere Bühne der
Rechtfertigung zu verschaffen, bleibt mir inzwischen die frivole
Unkerei in der Kehle stecken. Es dominiert die Erkenntnis, dass wir
längst eine neue Kriegsform gefunden haben, einen Sozialkrieg, der
zunächst durch Kolonialisierung, Unterwerfung und Ausbeutung,
durch Kampf um Ressourcen und durch unfairen Handel und
kriminelle Tricks der Finanzmärkte angezettelt worden ist und jetzt
womöglich in Gestalt von Terrorismus und Migration zurückschlägt.
Humanitäre Gesten oder reale Hilfen in der Not lösen nicht das
Problem. Wir sind gefordert, das «falsche Leben» zu erkennen und
aufzugeben – oder der Krieg nimmt seinen verhängnisvollen Lauf.
1
Siehe Hans-Joachim Maaz, Der Lilith-Komplex. Die dunklen Seiten
der Mütterlichkeit, München 2011.
2
Über die Bedeutung echter Gefühle und wie sie befördert werden
können, habe ich mich als wichtigste Voraussetzung zur
Überwindung von Entfremdung immer wieder geäußert, vor allem in
«Die Liebesfalle» und in «Hilfe! – Psychotherapie». Im vorliegenden
Buch stelle ich die Bedeutung unserer Gefühle und der damit
möglichen Beziehungskultur in den Kapiteln 22 und 23
(«Gefühlsfähigkeit ist das Tor zu echterem Leben» und «Was ist und
will Beziehungskultur?») besonders heraus.
3
Vgl. Hans-Joachim Maaz: «Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der
DDR», Berlin 1990, sowie «Der Gefühlsstau. Psychogramm einer
Gesellschaft», München 2010; dort insbes. das Vorwort «Zwanzig
Jahre danach».
Originalausgabe
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2017
Satz: Michael Hempel, a.visus, München
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, Christian Otto
Umschlagabbildung: © Shutterstock
ISBN Buch 978 3 406 70555 7
ISBN eBook 978 3 406 70556 4
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