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Kurz-Lehrbücher
Thomas Vesting
Rechtstheorie
2. Auflage
C.H.BECK
https://doi.org/10.17104/9783406746154-I
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Das Lehrbuch richtet sich an Studierende der Rechtswissenschaft
und solcher Disziplinen, in denen Recht auf unterschiedliche
Weise Thema der jeweiligen Fachkulturen ist, wie zum Beispiel in
Philosophie, Soziologie, Ökonomie, Politik-, Literatur- oder Medien-
wissenschaft. Es wird ein Überblick über die Themen Rechtsnormen,
Rechtssystem, Rechtsgeltung, Rechtsgewalt, Rechtsinterpretation
und Rechtsgeschichte geboten. Dabei wird ein kulturwissen-
schaftlicher und medientheoretischer Ansatz erprobt, wie er sich
in unterschiedlichsten Fachrichtungen als neue Möglichkeit des
(interdisziplinären) Denkens durchgesetzt hat.
Besondere Vorteile:
■ Vermittlung von Grundlagenwissen
■ Einbeziehung aktueller (rechts-)theoretischer Debatten
■ knappe präzise Darstellungen
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Rechtstheorie
Ein Studienbuch
von
Dr. Thomas Vesting
o. Professor an der Universität Frankfurt am Main
2. Auflage, 2015
C. H. BECK
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www.beck.de
ISBN Print 978 3 406 68434 0
ISBN E-Book 978 3 406 74615~ ~ 4
© 2019 Verlag C. H. Beck oHG
Wilhelmstraße 9, 80801 München
Druck und Bindung: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
In den Lissen 12, D-76547 Sinzheim
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Vorwort zur 2. Auflage
Die hier in zweiter Auflage erscheinende Rechtstheorie ist als Lehrbuch für Unterrichts-
zwecke an Universitäten konzipiert. Sie richtet sich an interessierte Studenten der
Rechtswissenschaft und solcher Disziplinen, in denen, wie in der Philosophie, Sozio-
logie, Ökonomie, Politik- oder Literaturwissenschaft, Recht auf unterschiedliche
Weise Thema der jeweiligen Fachkulturen ist. Das Buch konzentriert sich darauf,
einen Überblick über einige der Themen zu geben, die von der Rechtstheorie des
20. Jahrhunderts immer wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt worden
sind: Rechtsnormen, Rechtssystem, Rechtsgeltung, Rechtsgewalt, Rechtsinterpreta-
tion und Rechtsgeschichte. Im Unterschied zur analytischen Rechtstheorie geht die
vorliegende Rechtstheorie allerdings davon aus, dass man diese Themen nicht losge-
löst von ihrem historischen Kontext behandeln kann und dass Kontextualität nicht
nur ein „Argument“ ist. Im Gegenteil: Die Geschichte und Evolution des Rechts ist
eng mit der Geschichte und Evolution von Formen gemeinsamen Wissens verklam-
mert, eines ständigen Flusses geteilter praktischer Bedeutungszusammenhänge wie
etwa Sprache, Sitten, Gebräuchen und Konventionen. Das gilt auch für die Rechts-
theorie. Oder, um Hegels allbekannte Formulierung aus der Vorrede zur Philosophie
des Rechts von 1821 aufzugreifen: Wie das Individuum ist die Rechtstheorie notwendi-
gerweise ein Kind ihrer Zeit, ihre Textualität ist „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“.1
Bei Hegel ist die Annahme der Geschichtlichkeit des Rechts eng mit der Idee eines zu
sich selbst findenden Geistes verknüpft, mit einer „Reproduktionslogik des Identi-
schen“,2 der Bewegung eines kollektiven Subjekts, das auf die mögliche Verwirkli-
chung von Vernunft und Freiheit angelegt ist. Bekanntlich war Hegel der Auffassung,
dass sich diese Möglichkeit im preußischen Staat von 1820 realisiert hätte.3 In der hier
vorliegenden Rechtstheorie geht es freilich weder um eine Neuauflage der Hegelschen
Geschichtsphilosophie, um eine dialektische Aufhebung aller Widersprüche und
Trennungen, noch um eine Theorie des Rechts, die sich primär über ihre In-Bezie-
hung-Setzung zum Staat oder zur Politik bestimmen würde. Vielmehr wird in der
Rechtstheorie ein kulturwissenschaftlicher und medientheoretischer Ansatz erprobt,
wie er sich heute in unterschiedlichsten Fachrichtungen als eine neue Möglichkeit des
(interdisziplinären) Denkens durchgesetzt hat. Darin ist zugleich eine epistemologi-
sche Unterstellung eingeschlossen, die besagt, dass die Theoriebildung ihrer eigenen
Geschichtlichkeit und Ereignishaftigkeit nicht entraten kann. Das hat wiederum zur
Folge, dass die herkömmliche Erkenntnistheorie einer historischen Epistemologie
weicht, die jede Möglichkeit, das Recht „transzendentalen Voraussetzungen oder
doch einer apriorischen Norm zu unterwerfen“ verschließt, um es von einem je spezi-
fischen kulturhistorischen Regime her zu fassen.4
Rechtstheorie ist dann nicht länger das Produkt eines einsamen Autorsubjekts, son-
dern immer schon in die Welt und ihre praktischen Bedeutungszusammenhänge ver-
strickt. Sie kann nicht allein Produkt von Gedankenarchitekturen sein, erst auf der
1
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1970, Vorrede, 26.
2 Den Begriff entnehme ich A. Koschorke, Hegel und wir, 2015, 11.
3 Vgl. dazu die klassische Studie von F. Rosenzweig, Hegel und der Staat (1920), 2010, 405, 438.
4
Vgl. H.-J. Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, 2007, 12.
V
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Vorwort zur 2. Auflage
VI
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Vorwort zur 2. Auflage
sche ist in Arbeit. Nicht zuletzt diese Resonanz hat mich dazu bewogen, eine 2. Auf-
lage in Angriff zu nehmen. Dazu wurde die Rechtstheorie umfassend durchgesehen
und dort, wo es mir sinnvoll erschien, auf den neuesten Stand gebracht.
Isa Weyhknecht-Diehl hat den gesamten Text in eine perfekte Form gebracht. Cara
Röhner und Andreas Engelmann haben Korrektur gelesen und viele gute Ergänzungs-
und Verbesserungsvorschläge gemacht. Dafür sei allen dreien herzlich gedankt.
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Inhaltsverzeichnis
§ 2. Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
1. Typen und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2. Konditionalschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
3. Abstrakt normatives Regelverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
II. Allgemeinheit des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
1. Kants praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2. Anwendung des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
IV. Pragmatisches Regelverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
§ 3. System I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
I. Einheit und Hierarchie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
II. Systembegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
1. In der Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
2. Praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
III. Systembildung im Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
1. Zur juristischen „Construction“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
2. Lückenlosigkeit, Folgerichtigkeit, Positivität des Rechts . . . . . . . 56
3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
4. Auflösungserscheinungen (Kelsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
§ 4. System II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
I. Unterscheidung von System und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
II. Operative Geschlossenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
1. Autopoiesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
2. Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
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Inhaltsverzeichnis
§ 5. Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
I. Staatszentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
1. Zur tradierten Rechtsquellenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
2. Das Problem der (staatlich sanktionierten) Gewalt . . . . . . . . . . 92
II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . 97
1. Begriff und historischer Kontext des Naturrechts . . . . . . . . . . . 97
2. Gerechtigkeitsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
3. Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
III. Dynamisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
1. Positives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
2. Normative Geltungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
3. Geltung als zirkulierendes Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts . . . . . . . . . . . . 110
1. Heterarchie der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
2. Gesellschaftliche Konventionen und praktisches Wissen . . . . . . 113
§ 6. Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
I. Auslegung oder Konkretisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
1. Der Zugriff der neueren Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
2. Zum Methodenkanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
II. Modellbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
1. Im Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
2. Philosophische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
3. Juristische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
III. Paradoxie des Entscheidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
IV. „Postmoderne“ Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
1. Entparadoxierung der Entscheidungsparadoxie . . . . . . . . . . . . . 139
2. Rechtsstrukturen und Sachstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
3. Die Bedeutung des gemeinsames Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . 142
4. Abdämpfung von Rationalitätsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . 147
§ 7. Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
I. Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
III. Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
1. Evolutionstheorie und Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
2. Zur Autonomie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
IV. Medien als pre-adaptive advances . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
1. Zur Verknüpfung von Evolutionstheorie und Medientheorie . . . 167
2. Primäre Oralität und Schriftgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
X
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3. Buchdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
4. Elektronische Medien und Computer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
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§ 1. Ort und Funktion
1. Frühe Rechtstheorie
Schon im 19. Jahrhundert sprach man gelegentlich von „Rechtstheorie“.1 Der Name 1
Rechtstheorie wurde von Autoren wie v. Savigny jedoch annähernd synonym mit
Rechtswissenschaft gebraucht. Erst im 20. Jahrhundert nimmt der Begriff schärfere
Konturen an. Vor allem im Umkreis der Internationalen Zeitschrift für Theorie des
Rechts wurde seit Mitte der 1920er Jahre die Pflege einer Rechtstheorie eingefordert,
die sich – zwar unabhängig von den Besonderheiten der einzelnen (nationalen)
Rechtsordnungen – aber doch auf die gemeinsamen Probleme des „positiven Rechts“
konzentrieren sollte.2 Rechtstheorie war insoweit als Gegenprogramm zur Rechtsphi-
losophie formuliert, als Alternativentwurf zu Theorien des natürlichen, richtigen oder
gerechten Rechts. Bestimmt wurde dieses Programm nicht zuletzt durch Hans Kelsen,
dem bedeutendsten Mitherausgeber der Internationalen Zeitschrift. Für Kelsen und
seine Reine Rechtslehre (1. Auflage 1934) war Rechtstheorie primär Normentheorie,
wobei unter Norm die expliziten ausformulierten geschriebenen oder gedruckten Nor-
men, wie etwa die Gesetze des bürgerlichen Privatrechts oder die Normen einer Staats-
verfassung, verstanden wurden. An diesen Typus von Normentheorie knüpft die
rechtstheoretische Diskussion noch heute vielfach an.3 Auch die analytische Rechts-
theorie des anglo-amerikanischen Rechtskreises ist weitgehend um Rechtsnormen
oder -regeln zentriert. Ein prominentes Beispiel dafür ist etwa Harts The Concept of
Law (1961) und die dort entwickelte Unterscheidung von „primary“ und „secondary
rules“, deren Zusammenspiel nach Hart jedes Rechtssystem charakterisiert.4
Das Sprungbrett für die Rechtstheorie Kelsens war die neukantische Unterscheidung von Sollen und Sein, 2
die hier in eine unüberbrückbare Differenz zwischen Rechtsnormen und außerrechtlicher Wirklichkeit
übersetzt wurde. Diese Unterscheidung und Separierung begründete Kelsen mit Hilfe einer eigentüm-
lichen Aussagenlogik, die nach seiner Auffassung im Bewusstsein (aller Menschen) verankert ist.5 Ihr Re-
sultat ist eine Art Zwei-Welten-Lehre: Welt 1 ist die Welt der Rechtsnormen, die Welt des reinen (norma-
tiven) Sollens, Welt 2 ist die Welt der Faktizität, der Seinstatsachen und Fälle. In Welt 1 heißt es: Du sollst
nicht stehlen (heute § 242 StGB), in Welt 2 wird aber dennoch gestohlen, etwa in Kaufhäusern, Tankstel-
lenshops, bei Flohmärkten etc. Die Wirklichkeit wird als eine norm- und sinnunabhängige Wirklichkeit
gedacht, während umgekehrt das wirkliche Geschehen niemals Einfluss auf die Geltung und Verbindlich-
keit von Normen hat, die für Kelsen eben in einer anderen Welt, in Welt 1 verankert sind. Aus einem Sein
könne niemals ein Sollen folgen, von Fakten könne und dürfe man nicht auf die Gültigkeit von Normen
1 Vgl. nur F. C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, XXII;
K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892, z. B. 480 mit Bezug auf die „historische
Rechtstheorie“ von Savigny und Puchta; R. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 1902, 12ff.
(„theoretische Rechtslehre“).
2
Vgl. Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 1 (1926/27), Vorwort, 1ff.
3 So z. B. M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein ..., 2006, 28 („Rechtstheorie ist ... normwissen-
schaftlich arbeitende Reflexionswissenschaft.“).
4
H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, 77ff.
5
H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 5 („Der Unterschied zwischen Sein und Sollen kann nicht
näher erklärt werden. Er ist unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben.“); dazu einführend H. Dreier,
Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, 27ff., 33 („Dualismus
von Sein und Sollen“).
1
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§ 1. Ort und Funktion
schließen et vice versa. „Niemand kann leugnen, daß die Aussage: etwas ist – das ist die Aussage, mit dem
eine Seins-Tatsache beschrieben wird – wesentlich verschieden ist von der Aussage: daß etwas sein soll –
das ist die Aussage, mit der eine Norm beschrieben wird; und daß daraus, daß etwas ist, nicht folgen
kann, daß etwas sein soll, so wie daraus, daß etwas sein soll, nicht folgen kann, daß etwas ist.“6 Wer den-
noch von einem Sein auf ein Sollen schließt, begeht einen „naturalistischen Fehlschlusß“.
2. Frühe Rechtssoziologie
3 Bevor die Rechtstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine unmittelbar an juris-
tischen Bedürfnissen orientierte Normentheorie umschwenkte, war sie Bestandteil
eines weiter angelegten Unternehmens, nämlich der sich herausbildenden Soziologie
des 19. Jahrhunderts. Rechtstheorie trat also zunächst in Form der (Rechts-)Soziologie
in Erscheinung, etwa als Kritik der Abstraktionen des bürgerlichen Rechts in der Deut-
schen Ideologie (1845/46) von Karl Marx oder in Émile Durkheims Analyse des Zu-
sammenhangs von sozialer Arbeitsteilung und Vertrag in De la division du travail social
von 1893.7 Bei Max Weber, einem weiteren Gründungsvater der Soziologie als eigen-
ständiger Fachdisziplin, manifestierte sich das Interesse am Recht in einem vermutlich
vor 1914 entstandenen Manuskript, das später von Marianne Weber und Melchior
Palyi unter dem Namen Rechtssoziologie als 7. Kapitel in Wirtschaft und Gesellschaft
eingefügt wurde – und deshalb heute meist als Webers Rechtssoziologie firmiert.8 We-
ber nutzte in diesem Manuskript ebenfalls die (neukantische) Unterscheidung von
Normen und Fakten, aber für einen – von Kelsen aus gesehen – genau entgegengesetz-
ten Zweck: Webers Rechtssoziologie wollte mit Hilfe der Unterscheidung von Sein und
Sollen die größtmögliche Distanz zum rechtswissenschaftlichen Betrieb aufbauen.9
Während die juristische Betrachtungsweise an der logischen Erschließung von Sinn-
problemen arbeite, interessiere sich die Rechtssoziologie für Recht als Ausdruck fak-
tischer Bestimmungsgründe menschlichen Handelns. Die Jurisprudenz fragt nach
Weber, was als Recht ideell gilt. „Das will sagen: Welche Bedeutung, und dies wiede-
rum heißt: Welcher normative Sinn einem als Rechtsnorm auftretenden sprachlichen
Gebilde logisch richtigerweise zukommen sollte“; die Soziologie dagegen frage, was
„innerhalb einer Gemeinschaft faktisch um deswillen geschieht, weil die Chance be-
steht, daß am Gemeinschaftshandeln beteiligte Menschen ... bestimmte Ordnungen
als geltend subjektiv ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln an
ihnen orientieren.“10
4 Aus der strikten Entgegensetzung von juristischem und soziologischem Sinn resultierte in Webers metho-
dologischen Schriften die Annahme einer Differenz von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise
6
Moralphilosophisch gewendet kann man dann formulieren, „that it is impossible to deduce an ethical
conclusion from entirely non-ethical premises“. So etwa A. N. Prior, Logic and the Basis of Ethics,
1944, 18, hier zitiert nach Kelsen (Fn. 5), 5.
7
Vgl. W. Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, 1993, 275ff. (Marx), 328f. (Durkheim); zu den
„klassischen Ansätzen“ der Rechtssoziologie vgl. auch N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, 10ff. (mit
der Reihung K. Marx, H. S. Maine, E. Durkheim, M. Weber, T. Parsons).
8 Vgl. den Bericht von W. Gephart, Das Collagenwerk, RG 3 (2003), 111ff., 113, 114 (mit dem Hin-
weis, dass das überlieferte Manuskript keinen Titel trägt).
9
Vgl. dazu K. Quensel/H. Treiber, Das „Ideal“ konstruktiver Jurisprudenz als Methode, Rechtstheorie 33
(2002), 91ff., 98, mit der die Sache komplizierenden Bemerkung, dass Weber die soziologische Be-
griffsbildung geradezu aus dem Geiste der Jurisprudenz konzipierte.
10 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 181; zur Methodologie der Weberschen Rechts-
soziologie näher Quensel/Treiber (Fn. 9).
2
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I. Auftritt einer Selbstbeschreibungsformel
des Rechts. Wie Kelsen schrieb auch Weber der Methode eine gegenstandskonstituierende Kraft zu, d. h.
die Methode erzeugt hier die Wirklichkeit, die sie beschreibt; deshalb leitete auch Weber die Heterogenität
juristischer und soziologischer Probleme aus der Unterschiedlichkeit ihrer „Erkenntnisobjekte“ ab. Damit
navigierte Weber die Rechtssoziologie zwar nah an das methodologische Fahrwasser des Neukantianismus
heran; dennoch darf man seine Position nicht mit dem soziologischen Naturalismus eines Kelsen ineins-
setzen. Für die reine Rechtslehre bestand ein unüberbrückbarer methodologischer Gegensatz zwischen ju-
ristischer und soziologischer Methode: Rechtssoziologie referierte auf das tatsächlich Gegebene, die Welt
des Seins, in der die Dinge in einem naturnotwendigen Kausalzusammenhang miteinander verknüpft
waren, während die Rechtswissenschaft als Analytik von Sollensordnungen etwas davon vollständig Ge-
trenntes behandelte.11 Dagegen ging es Weber gerade um die soziologische Analyse der Einheit der Diffe-
renz von Normen und Fakten, um die Erkundung der normativen Kraft faktischen Verhaltens und umge-
kehrt um Einblicke in die Formalisierungs- und Ordnungsleistungen, die das formal-rationale Recht für
die moderne (liberale) Gesellschaft erbrachte. Zwischen beiden Ebenen, zwischen ideellem Gelten-Sollen
und faktischen Bestimmungsgründen menschlichen Handelns, existierten daher für Weber – wiederum im
Gegensatz zu Kelsen – mannigfache Vermittlungen und Überlappungen. Solche Zusammenhänge akzen-
tuierte Weber etwa im Traditionsbegriff. Tradition hieß Orientierung am Gewohnten, an dauernden fakti-
schen Wiederholungen und Übungen, wie sie bis heute den religiösen Ritus auszeichnen, etwa den jüdi-
schen Sabbat, der immer am Freitagabend beginnt und immer bis zum Eintritt der Dunkelheit am darauf
folgenden Samstag dauert. Orientierung am Gewohnten hieß bei Weber also nicht einfach mechanische
Reaktion und passive Anpassung auf äußere Stimuli, kein „dumpfes Reagieren“, sondern Integration des
Handelnden in ein sinnhaftes Geschehen, das auf Selektionen aus anderen Möglichkeiten beruhte und in
dem kognitive (und normative) Strukturen laufend an tatsächliche Erfahrungen assimiliert wurden.12
11 Vgl. nur H. Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode (1911), 1970, 5,
11 („Während die Kausalwissenschaften oder explikativen Disziplinen Naturgesetze zu gewinnen be-
strebt sind, nach denen die Vorgänge des realen Lebens tatsächlich geschehen und ausnahmslos natur-
notwendig geschehen müssen, sind Ziel und Gegenstand der normativen Disziplinen, die keineswegs
irgendein tatsächliches Geschehen erklären wollen, lediglich Normen, auf Grund deren etwas gesche-
hen soll, aber durchaus nicht geschehen muß, ja vielleicht tatsächlich nicht geschieht.“).
12
Vgl. nur S. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, 1991, 71ff., 75 (mit Rückgriff auf die Entwick-
lungspsychologie J. Piagets).
13 E. Ehrlich, Die Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), 382f.
14 Ehrlich, ebd., Vorrede; vgl. auch M. Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehr-
lich, 1967.
3
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§ 1. Ort und Funktion
3. Neuere Entwicklungen
6 Gegenüber diesen frühen rechtssoziologischen und rechtstheoretischen Ansätzen hat
die Rechtstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen enormen Entwick-
lungssprung gemacht. Dieser Entwicklungssprung hängt einerseits mit der Erfindung
und Entwicklung der Systemtheorie als soziologischer Rechtstheorie sowie ande-
rerseits mit der sich daran teils anschließenden, teils sich von ihr distanzierenden Kul-
tur- und Medientheorie des Rechts zusammen (dazu mehr unten, am Ende des Ab-
schnitts).
Die Systemtheorie wurde zunächst von Talcott Parsons als genuin normative Soziolo-
gie begründet und in ihren rechtstheoretischen Implikationen vor allem von Niklas
Luhmann ausbuchstabiert.15 Methodologisch gesehen macht die Systemtheorie eine
grundlegende Umschreibung des rechtstheoretischen Forschungsprogramms erforder-
lich. Startpunkt aller Operationen ist hier eine Unterscheidung, nicht, wie noch in der
frühen Rechtstheorie, „irgendeine vorauszusetzende Einheit, nicht irgendein Prinzip,
auch nicht das System als Träger (Subjekt) seiner eigenen Operationen.“16 Das Recht
wird in der Systemtheorie genauer als soziales System, als permanent laufendes Kom-
munikationssystem, gedacht und die Frage nach Grund und Wesen des Rechts durch
die Frage nach seiner Grenze ersetzt. Die zentrale Fragestellung lautet dann: Wie sieht
die Einheit des Rechts aus, wenn man diese mit systemtheoretisch-soziologischen Mit-
teln, d. h. als Unterscheidung von System (Recht) und Umwelt (Gesellschaft, d. h. an-
dere soziale Systeme) beschreibt und das Recht als ein sich selbst produzierendes und
reproduzierendes Kommunikationssystem?17
7 Der grundlegende Unterschied zur älteren Rechtstheorie und Rechtssoziologie muss
darin gesehen werden, dass die Systemtheorie (wie große Teile der Kultur- und Me-
dientheorie des Rechts) auf ein differenztheoretisches Denken in dynamischen Ver-
hältnissen umstellt. Für die Systemtheorie ist das Operieren des Rechtssystems keine
„Anwendung“ einer gegebenen Ordnung. Darin reagiert sie auf die heute weithin ge-
teilte Einsicht, derzufolge „Ordnung das Resultat von Praxis ist, nicht ihre Präsupposi-
tion.“18 Für die Systemtheorie bedeutet das: Das Recht arbeitet als informationsverar-
beitendes Entscheidungssystem, das nicht hierarchisch, sondern heterarchisch,
netzwerkartig, nachbarschaftlich und rekursiv prozessiert, d. h. das Operationen auf
Resultate von Operationen anwendet und durch hinreichend lange Wiederholung sol-
che Formen herausfiltert, die unter dynamischen Bedingungen stabil sein können.
Das System verknüpft Rechtskommunikationen „horizontal“, im Fluss der Zeit, etwa
dadurch, dass ein Gericht eine neue Entscheidung argumentativ auf vorangegangene
Entscheidungen und die Bindungen stützt, die sich aus der getroffenen Entscheidung
für weitere Entscheidungen ergeben. Diese Selbstreferentialität des Systems, seine re-
kursive Geschlossenheit, versucht die Systemtheorie seit Mitte der 1980er Jahre nicht
15
Vgl. dazu Luhmanns Selbsteinschätzung und frühe Distanzierung von Parsons in ders. (Fn. 7), 20f.
16 N. Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 17 (1986), 171ff., 176; vgl. auch
K.-H. Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft,
ARSP 1988, 218ff., 223 (an die Stelle der Einheit tritt das Prozessieren einer Unterscheidung bzw. Dif-
ferenzierung).
17 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 20; zur Bedeutung der Grenze für die Systembildung
vgl. auch D. Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005, 152ff., 156.
18
A. Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, 2006, 302.
4
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I. Auftritt einer Selbstbeschreibungsformel
zuletzt im Begriff der „Autopoiesis“ (von gr. autos, selbst und gr. poiesis, herstellen, ma-
chen) abzubilden (näher Rn. 112ff., 129ff.). Im Zentrum der Systemtheorie steht
mithin die laufende Eigenstabilisierung des Rechtssystems durch die zirkuläre Verket-
tung stets flüchtiger Ereignisse (Rechtsentscheidungen, Operationen), nicht aber etwa
ein wissenschaftlich formulierter Anspruch auf normative Selbstabschließung des
Rechtssystems durch einen vermeintlich zeitstabilen „Anfang“, wie z. B. den der
Grundnorm in Kelsens Reiner Rechtslehre.
Der Sinn des rechtstheoretischen Programms der Systemtheorie liegt in der Herstel- 8
lung eines Zusammenhangs von Rechtstheorie und Gesellschaftstheorie. Es geht Luh-
mann um die Formulierung einer gesellschaftstheoretischen (soziologischen) Refle-
xion des Rechts.19 Selbstreflexion des Rechtssystems heißt hier genauer: Aufklärung
über Recht durch die Systemtheorie als universaler Gesellschaftstheorie. Die soziologi-
sche Rechtstheorie fragt nach der Einheit des Rechtssystems, nach dem Sinn des
Rechts, nach seiner sozialen Funktion etc.20 Ihre Leitfrage lautet: Warum und wozu
braucht die moderne Gesellschaft ein autonomes autopoietisches Rechtssystem? Im
Gegensatz zur rechtswissenschaftlichen Rechtstheorie will die Systemtheorie als
Rechtssoziologie weder Teil des Rechtssystems sein noch irgendwelche Botschaften
unmittelbar an dieses adressieren. Gerade Luhmanns Systemtheorie läuft nicht auf
ein rechtswissenschaftliches Forschungsprogramm hinaus. Sie legt – jedenfalls von
ihrem Selbstverständnis her – keine unmittelbar praxisrelevanten (normbildenden)
Folgerungen nahe. „Im Unterschied zu jurisprudentiellen, rechtsphilosophischen
oder sonstigen Rechtstheorien, die auf Gebrauch im Rechtssystem selbst abzielen
oder jedenfalls den dort einleuchtenden Sinn aufnehmen und verarbeiten wollen, ist
der Adressat der Rechtssoziologie die Wissenschaft selbst und nicht das Rechtssys-
tem.“21
Luhmann grenzt sein Unternehmen einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie des Rechts nach zwei 9
Seiten ab. Zum einen von den klassischen Formen der Rechtsphilosophie, die ihm zu sehr auf das Begrün-
dungsproblem des Rechts fixiert sind. Hier wird der Beitrag der Rechtstheorie ausschließlich in der Formu-
lierung einer philosophischen Außenabstützung der Rechtspraxis lokalisiert. Das läuft für Luhmann letzt-
lich auf die Suche nach Letztbegründungen hinaus, nach einer normativen Ersatzlösung für ehemals
operationsfähige Großformeln wie „Gerechtigkeit“, „Gott“ oder „Vernunft“. Andererseits will Luhmann
über die Beschränkungen einer rein für die Gerichtspraxis oder für Zwecke des praxisbezogenen Rechtsun-
terrichts betriebenen Rechtsdogmatik oder Methodenlehre hinausgehen. In beiden Disziplinen herrscht
nach Luhmann ein Vorrang methodischer vor theoretischen Fragen, da Rechtsdogmatik und Methoden-
lehre durch die praktische Notwendigkeit determiniert würden, zu tragfähigen und konsistenten (Ge-
richts-)Entscheidungen zu kommen. Demgegenüber siedelt Luhmann sein Unternehmen einer soziologi-
schen Rechtstheorie auf einer „Metaebene überdogmatischer Begrifflichkeit“ an.22
Aus dieser Theoriearchitektur folgt u. a., dass die für die neukantische und analytische Rechtstheorie (Kel-
sen, Hart u. a.) grundlegende Unterscheidung von Fakten und Normen in einer soziologischen Perspektive
entschärft wird. Für die Systemtheorie ist die Unterscheidung von Normen und Fakten eine rechtssystem-
interne Unterscheidung, mit der sich etwa Kelsens Rechtstheorie selbst dem Rechtssystem zuordnen
kann. Gerade die Unterscheidung von Sein und Sollen, die Kelsen irrigerweise einer allgemeinen im Sub-
jekt verankerten Aussagenlogik zugeschrieben hatte, kann daher in der soziologischen Rechtstheorie nicht
19 Luhmann (Fn. 17), 24; ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 419ff.
20
Diese Funktion besteht in der Bildung stabiler normativer Mechanismen (Erwartungen) zur Identifi-
zierung und Bewältigung von lokalen Konflikten.
21 Luhmann (Fn. 17), 31; vgl. aber auch die Ausführungen über strukturelle Kopplung von Rechtssozio-
logie und Rechtswissenschaft, ebd., 543f.
22
Luhmann (Fn. 19), 419.
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§ 1. Ort und Funktion
übernommen werden. Die Systemtheorie hat es – als Form der wissenschaftlichen Beobachtung des
Rechts – immer mit Tatsachen zu tun. „Es ist nur eine andere Version dieser Grenzziehung gegenüber
einer, sagen wir, ‚rechtsfreundlichen‘ Rechtstheorie, wenn wir festhalten, daß die Unterscheidung von Nor-
men und Fakten eine rechtssysteminterne Unterscheidung ist. Schon durch Ausarbeitung dieser Unter-
scheidung ordnet sich die Rechtstheorie dem Rechtssystem zu – und in es ein. Für die Wissenschaft ist
diese Unterscheidung – als Unterscheidung! – ohne Belang.“23
9a Einen Entwicklungssprung gegenüber der frühen Rechtssoziologie und Rechtstheorie haben auch die neu-
eren Kultur- und Medientheorien des Rechts gemacht. Einerseits kommen diese theoretischen Innovatio-
nen aus den Kulturwissenschaften und der Medientheorie selbst. Dafür stehen beispielsweise die Arbeiten
des Kulturwissenschaftlers und Ägyptologen Jan Assmann. Assmann hat am Beispiel von Analysen der
normativen Strukturen der antiken Welt – im Anschluss an Aleida Assmann – den Begriff des „kulturellen
Textes“ entwickelt, worunter er nicht nur das aufgeschriebene oder oral praktizierte Recht versteht, son-
dern auch solche „normativen“ und „formativen Texte“, die Äußerungen gesteigerter Verbindlichkeit ver-
breiten, wie etwa Weisheitsliteratur, Sprichwörter, Mythen und Ursprungssagen.24 Zur Kultur- und Me-
dientheorie des Rechts kann man ferner solche literaturwissenschaftlichen Unternehmen zählen, die, wie
etwa Viktoria Kahns Untersuchungen zur politischen Theologie und zur Legitimität der Neuzeit in The
Future of Illusion (2014), die mythopoetische (literarisch-imaginäre) Seite des modernen (Rechts-)Denkens
betonen.25 Andererseits hat die Kulturwissenschaft bereits explizit rechtstheoretische Reflexionen hervor-
gebracht; verwiesen sei hier nur auf Lawrence Rosen Law as Culture (2006) und auf Werner Gepharts
Recht als Kultur (2006). Ein stärker medientheoretisches Konzept hat etwa Cornelia Vismann in ihren Ar-
beiten verfolgt.26 Das sind nur ganz wenige Beispiele für eine in sich heterogene, aber doch recht breite
Strömung eines neuartigen – an Kultur, Medien und Sprache interessierten – rechtstheoretischen Den-
kens.27
9b Ein großer Unterschied zwischen Kultur- und Medientheorie einerseits und der Systemtheorie andererseits
kann darin gesehen werden, dass die Kultur- und Medientheorie das explizite geltende Recht und die mit
ihm eng verknüpften normativen und formativen Texte – im Sinne von Jan Assmann – Gewohnheiten,
Sitten, Konventionen, Ursprungsmythen etc. nicht so stark voneinander separiert, was nicht heißt, dass
sie beispielsweise den Unterschied zwischen Recht und Gewohnheit einfach ignorieren würde. Aber sie
würde immer die Einheit der Differenz betonen und auch mit Luhmanns Vorstellung einer „Autonomie“
des Rechts eher sparsam umgehen. Das Rechtssystem arbeitet nicht einfach auf der Basis einer Recht/Un-
recht-Unterscheidung, die ausschließlich über rechtsinterne (Konditional-)Programme – und nur über sol-
che – prozessiert wird. Ohne reiche kulturelle Vorleistungen kann das Recht keine effektive Handlungsko-
ordination erbringen und somit keine Ordnungsleistung. Das Recht ist also stets auf das „Andere der
Kultur“ verwiesen.28 Demgegenüber bleibt die theoretische Aufmerksamkeit in der Systemtheorie ganz
auf der Innenseite der Systemgrenze, auf der Seite der „Selbstaufrufung einer Prozedur innerhalb eines Pro-
gramms“.29 Luhmanns primäres Forschungsinteresse gilt dem „unaufhebbaren Fürsichsein“30 des Recht-
systems, nicht seiner Außenseite und seinen Außenkontakten: Es sind die Systeme selbst bzw. ihre Auto-
poiesis, die „den Geltungsrand der Bedingungen markieren, unter denen ein System wahrnimmt und
operiert“,31 während die Kultur- und Medientheorie demgegenüber gerade die Einbettung des Rechts in
einen weiteren kulturellen Rahmen und der sich in ihm abspielenden alltäglichen Erfahrungen akzentuie-
ren würde.
23
Luhmann (Fn. 17), 33.
24 Vgl. nur J. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 2000, 127.
25 Vgl. etwa auch S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, 2004; und die Aufsätze in I. Augsberg/
S.-C. Lenski (Hrsg.), Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt des Rechts, 2012.
26
Vgl. nur C. Vismann, Akten, 2000; dies., Medien der Rechtsprechung, 2011; dies., Das Recht und seine
Mittel, 2012.
27 In diesen Kontext gehören ferner: I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009; F. Steinhauer, Bildre-
geln, 2009; S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012; K. D. Lerch, Lesarten des Rechts,
2008.
28
Vgl. P. Stoellger, Über die Grenzen der Metaphorologie, 2009, 203ff.
29 N. Bolz, Ratten im Labyrinth, 2012, 46.
30 Luhmann (Fn. 19), 107; Bolz (Fn. 29), 85.
31
A. Koschorke, Wahrheit und Erfindung, 2012, 385.
6
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II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung
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§ 1. Ort und Funktion
17ff. Zur historischen Genese dieses Beobachtungstypus vgl. Y. Elkana, Die Entstehung des Denkens
zweiter Ordnung im antiken Griechenland, 1987, 52ff.
36 Luhmann (Fn. 17), 403f.; Teubner (Fn. 35), 28, definiert Selbstbeobachtung gar als Fähigkeit eines Sys-
tems, „die Verknüpfung seiner Elemente nicht nur faktisch zu vollziehen, sondern die eigenen Opera-
tionen mit Hilfe der eigenen Operationen nachzuvollziehen“.
37
Vgl. dazu B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, 2002, 176ff.
38
Fuchs (Fn. 35), 11; zur Umstellung auf differenztheoretisches Denken allg. auch J. Clam, Was heißt,
sich an Differenz statt an Identität zu orientieren?, 2002; zum Hintergrund vgl. auch V. Descombes,
Das Selbe und das Andere, 1981, 161ff.
39
Vgl. auch Luhmann (Fn. 17), 215 (der den Begriff des Beobachters, desjenigen, der die Unterscheidung
trifft, sehr formal anlegt, wenn er darauf hinweist, dass der Beobachter kein Subjekt oder Mensch sei,
sondern eine „Systemstelle“.
40 Luhmann, ebd., 176; zu Derrida vgl. nur G. Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien, 2003, 25ff.,
37ff.; vgl. auch Ladeur (Fn. 35), 15f. Mit dem Begriff der „Paradoxie“ (A weil nicht-A) sollen hier Wi-
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II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung
Beobachtung zweiter Ordnung unentscheidbar: Der Hollywood-Star weiß sich im Recht, das Gericht
weiß ihn im Unrecht. Ein Gutachter erklärt das Gerichtsurteil für verfassungswidrig, das Verfassungsge-
richt hält es für angemessen. So gesehen setzt sich die Recht/Unrecht-Unterscheidung selbst voraus und
ist den Beobachtern der Rechtspraxis stets als Paradox gegeben, als etwas, das im Rechtsalltag dennoch stets
zum positiven Wert, zum Recht hin, entfaltet werden muss, weil es anders gar keine geordnete Rechtspra-
xis geben könnte (vgl. näher Rn. 132ff.).
Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung sind verschiedene Typen der rechts- 13
bezogenen Expertise auseinanderzuhalten.41 Zur sekundären Beobachtungsebene ge-
hören einerseits solche Texte, die selbst Effekte auf der operativen Ebene der Rechts-
praxis erzeugen oder erzeugen können (z. B. Gerichtsurteile, praktisches Wissen über
die sichere Honorarabrechnung, juristische Gutachten) und andererseits solche, die
eher an der Peripherie des Rechtsgeschehens angesiedelt sind (z. B. rechtstheoretische
Überlegungen über den Zerfall der Einheit des Textes). Das ist zugleich der Hinter-
grund und der rationale Kern der heute fest etablierten Unterscheidung von Rechts-
dogmatik und Rechtstheorie: In der Rechtsdogmatik werden Schrifttexte mit dem An-
spruch der direkten Einflussnahme auf den Entscheidungsbetrieb etwa der Gerichte
oder der politischen Gesetzgebung publiziert; das Recht wird Techniken der Beobach-
tung und Deutung unterworfen, in der es zu einer Art Kommentierung und Kanoni-
sierung, einer Sinnpflege des Rechts, kommt. Dazu stehen eine Mehrzahl von Medien
(Schrift, Buchdruck, Computer), literarischen Gattungen und Institutionen zur Ver-
fügung, wie z. B. der anwaltliche Schriftsatz, das Gutachten, die (wissenschaftliche)
Urteilsanmerkung, die rechtspolitische Empfehlung, der Juristentag oder – mit fließ-
endem Übergang zur Theorie – der Aufsatz in einer juristischen Zeitschrift. Von die-
sen unmittelbar praxisorientierten Typen der Rechtsexpertise sind die verschiedenen
Formen der theoretischen Behandlung des Rechts, etwa die schulförmig aufbereitete
Darstellung des Schuldrechts oder die lehrbuchartige Einführung in die Rechtstheorie,
zu unterscheiden.
dersprüche (auch Ambivalenzen) im weiten rhetorischen Sinn bezeichnet werden; vgl. dazu G. Teubner,
Netzwerk als Vertragsverbund, 2004, 80 (Fn. 47).
41 Vgl. M. Schulte, Begriff und Funktion des Rechts der Gesellschaft, 2003, 769.
42 E. A. Havelock, The Muse Learns to Write, 1986, 111; vgl. auch W. J. Ong, Orality and Literacy (1982),
2002, 27ff.
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§ 1. Ort und Funktion
tikos) und nannte diejenige Lebensform „theoretisch“, die sich ganz und gar der Be-
trachtung der Dinge verschrieb.43 Darin unterschied sich das theoretische Leben
sowohl vom politisch-praktischen Leben (bios politikos), dessen Zweck darin bestand,
nach öffentlicher Anerkennung, Ehre oder Aufmerksamkeit zu streben, als auch vom
bios apolaustikos, bei dem der reine Genuss – Essen, Trinken, Sexualität usw. – im
Zentrum stand.
15 Wenn Aristoteles Theorie und Praxis unterscheidet, heißt das also nicht, dass Theorie
für ihn etwas Unpraktisches oder gar Weltfremdes gewesen wäre und mit der sozialen
Realität nichts zu tun gehabt hätte. Im Gegenteil, für Aristoteles war das theoretische
Leben so aktiv oder passiv, so weltzugewandt wie jede andere Lebensweise auch. Der
bios theóretikos unterschied sich von den anderen Lebenspraxen aber durch eine höher-
wertige Zielsetzung, nämlich dadurch, dass sich das Leben hier der – an anderen Or-
ten der Gesellschaft (polis) nicht so ohne weiteres gegebenen – Möglichkeit der Erzeu-
gung gesicherter Erkenntnisse verschreiben und darin seine Vollendung und sein
Glück finden konnte.44 Die verschiedenen Zielsetzungen der drei von Aristoteles ge-
nannten Lebensformen waren für ihn also nicht gleichwertig. Das theoretische Leben
war gegenüber den Zielen anderer Lebensformen jedoch höher einzustufen, sowohl
gegenüber dem reinen Genussleben als auch gegenüber der politischen Praxis. Allein
im Theoretisieren erreichte der Mensch die höchste Stufe des Lebens, die Stufe der
Vernunft (logos). Damit artikulierte Aristoteles nur eine zu seiner Zeit zumindest unter
Philosophen allgemein verbreitete Ansicht. Schon bei Platon stand die Suche nach si-
cherem Wissen (epistéme) – im Gegensatz zu bloßem Meinungswissen (dóxa) – im
Zentrum allen Denkens und Schreibens.45 Auch für Platon stellte das theoretische Le-
ben nicht nur die vornehmste aller Lebensformen dar, sondern auch die Einzige, die
zum guten Leben führte; die Bedeutung des Strebens nach Weisheit nahm das Wort
Philosophie erst bei Platon an.46
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§ 1. Ort und Funktion
Eine solche Position ist aber letztlich nicht haltbar, zumindest nicht für die kontinen-
taleuropäische Rechtstradition.51 Schon das römische Zivilrecht nutzte allgemeine
wissenschaftliche Entwicklungen. Dasselbe gilt für die humanistische Jurisprudenz im
Übergang zur Neuzeit, und auch die im 17. und 18. Jahrhundert aufkommende Idee
eines systematischen Rechts, wie sie sich in Deutschland im rechtswissenschaftlichen
Positivismus und im BGB manifestierte (und heute noch immer nachwirkt), wäre
ohne Anleihen beim naturphilosophischen Systemdenken nicht möglich gewesen. An
dieser laufenden Kontaktsuche zu Theorieentwicklungen außerhalb der Rechtswissen-
schaft im engeren Sinn wird hier festgehalten. Damit entzieht sich die Rechtstheorie
einer abschließenden disziplinären Festlegung und Zuordnung, sie bleibt ein „Grenz-
gänger“, aber ein solcher, der sein „Publikum“ nicht nur in fachübergreifenden theore-
tischen Auseinandersetzungen und Diskussionen, sondern auch in der Rechtspraxis
sucht.52
18 Rechtstheorie ist freilich nicht unmittelbar auf die Sichtung, Ordnung und Bearbeitung des gegebenen
Rechtsstoffs bezogen.53 Wer dieses Buch gelesen hat, wird hoffentlich mehr über Recht wissen als vorher
und Studienanfänger werden hoffentlich eine genauere Vorstellung davon haben, worauf sie sich einlassen,
wenn sie Jura studieren. Die Rechtstheorie transportiert für den Ausbildungsbetrieb durchaus einen Wert,
den keine andere rechtswissenschaftliche Disziplin ersetzen kann: die Erfahrung theoretischer Reflexion,
man könnte auch sagen, die „Erschließung eines Ganzen in der Gedankenarchitektur, deren Weite und
Subtilität“54 für Studienanfänger nicht nur eine Bereicherung, sondern auch ein Vorteil sein kann, weil
diese Weite und Subtilität dazu beitragen können, einen Überblick über einzelne Fallkonstellationen hin-
weg zu entwickeln, der schließlich auch bei der Lösung von Rechtsfällen helfen kann. Ein solches Projekt
mag heute eher Außenseiterstatus haben und an der Universität auf ein für Theorie im Allgemeinen und
Rechtstheorie im Besonderen wenig aufgeschlossenes „Lernmilieu“ treffen. Aber es gab schon immer und
gibt noch immer die andere Seite der Suchenden und Reflektieren-Wollenden, der Wißbegierigen und Bü-
cher-Lesenden, die Welt des jungen Jurastudenten und späteren Archäologen Ludwig Curtius etwa, der
1894, beim Anblick der Eingangshalle der Münchner Universität, eine Art „glücklichen Rausch“ empfand
oder – aktueller – die Welt der Charlotte Simmons, deren Selbstbehauptung gegen die ernüchternden Er-
fahrungen in einer US-amerikanischen Elite-Universität Thomas Wolfe in seinem Roman Charlotte Sim-
51
Auch für Luhmann (ebd.), 61, 80, setzt die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen Rechtssys-
tems voraus, dass es kontinuierlich (nicht nur gelegentlich) auf der Ebene zweiter Ordnung operieren
kann. Nur hier gewinne es „adäquate Komplexität“. Wenn aber das System erst durch eine sekundäre
Beobachtungsweise geschlossen wird, kann es sich – auch operativ – nicht vollständig von wissenschaft-
lichen Beobachtungen in der Weise abkoppeln, wie Luhmann Theorie und Praxis trennt. Andernfalls
hätte sich das westliche („okzidentale“) Recht niemals als autonome Ordnung ausdifferenzieren kön-
nen. Das zeigt auch die Problematik von Luhmanns funktionaler Differenzierungstheorie. Es ist doch
sehr fraglich, ob das Rechtssystem ohne Internalisierung des Wissenschaftscodes (wahr/falsch) aus-
schließlich auf der Grundlage der Differenz Recht/Unrecht erfolgreich in der Realität operieren kann
(vgl. auch § 4 III).
52
Vgl. auch G. Teubner, Coincidentia oppositorum, 2004, 18, der Rechtstheorie als Reflexion der Rechts-
praxis von Rechtssoziologie als wissenschaftlicher Beobachtung des Rechts unterscheidet, aber zugleich
für „strukturelle Kopplung“ von Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft, für „soziologische Juris-
prudenz“, plädiert. Das kommt dem hier verfolgten Anliegen nahe, nur halte ich daran fest, dass
Rechtstheorie nicht auf die Recht/Unrecht-Unterscheidung – mit Notwendigkeit zur Rechts- und
nicht zur Unrechtstheorie – verpflichtet werden kann. Das ist nur als Rechtsdogmatik möglich. Des-
halb ist mit dem Gebrauch des Wortes „Theorie“ der Horizont der binären Codierung des Rechtssys-
tems immer schon überschritten und die Rechtstheorie notwendigerweise genauso Teil des Wissen-
schaftsdiskurses wie die Rechtssoziologie. Unter dem Strich bleibt immer ein „notwendiges Ding der
Unmöglichkeit“.
53 So die Definition von Rechtsdogmatik bei H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, 661.
54 So eine auf die Philosophie gemünzte Formulierung von D. Henrich, Die Philosophie im Prozeß der
Kultur, 2006, 14.
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III. Abgrenzungen und Überlappungen
mons mit kaum zu überbietender Plastizität beschrieben hat: als Differenz zwischen Wissbegier auf der
einen und Dauerkonsum auf der anderen Seite, als Versuch, dem bios theoretikos auch heute einen Platz zu
lassen, im Unterschied zum Leben eines Frat-Boys wie Hoyt Thorpe, dessen Interesse an Universität und
Wissenschaft sich in Trinkgelagen und „Frischfleisch“ erschöpft.
1. Zur Rechtsdogmatik
„Rechtsdogmatik“ in einem sich von Rechtswissenschaft und Rechtstheorie abgren- 19
zenden Sinn ist eine relativ junge Erscheinung. Rechtsdogmatik ist wie Rechtstheorie
ein Effekt des Auseinanderziehens von Beobachterperspektiven, Resultat der Ausdiffe-
renzierung rechtsbezogener Expertisen auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ord-
nung. Während sich mit der Rechtstheorie seit den 1920er Jahren das Bedürfnis nach
einer Reflexion des Rechts unabhängig von der Lösung konkreter Fälle und Rechts-
probleme (in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen) zu artikulieren begann, ist
in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts im Gegenzug das Bedürfnis nach einer dis-
ziplinären Selbstvergewisserung von Aussagen über praktiziertes Recht entstanden.
Die Karriere von Rechtsdogmatik ist nicht zuletzt durch die Bedürfnisse eines an der
Gerichtspraxis orientierten Universitätsunterrichts ausgelöst worden,55 vor allem im
Privatrecht, wohingegen das öffentliche Recht bis heute stärker interdisziplinär orien-
tiert ist. Jedenfalls hat das öffentliche Recht auf Grund seiner anhaltenden staatswis-
senschaftlichen Orientierung, seiner Nähe auch zum politischen Betrieb und zur öf-
fentlichen Verwaltung, nie einen ähnlich einheitlich dogmatischen Kanon entwickelt
wie das Privatrecht.
Während lange Zeit die Meinung vorherrschte, dass Juristen das Konzept einer Dogmatik – vermittelt 20
über Christian Wolff – von den Theologen übernommen hätten, wird seit einer Arbeit von Herberger die
Nähe der juristischen Dogmatik zur „medizinischen Wissenschaftstheorie“ und den darin angelegten refle-
xiven Aspekten herausgestellt.56 Dieser Streit mag in einer Einführung zur Rechtstheorie auf sich beruhen.
Festzuhalten aber bleibt: Selbst wenn sich das griechisch-lateinische Wort dogma (Glaubens- oder Lehrsatz)
oder sein Plural dogmata in der einen oder anderen Quelle der römisch-rechtlichen Jurisprudenz nachwei-
sen ließe, so werden Bezeichnungen wie „Rechtsdogmatik“ oder „juristische Dogmatik“ dort doch nir-
gends in einer von Jurisprudenz unterschiedenen Bedeutung gebraucht. Das römische Juristenrecht
nannte sich selbst iuris prudentia, Cicero spricht manchmal von praeceptae (Regeln, Voeschriften). Das rö-
mische Recht des Mittelalters kennt ebenfalls keine gepflegte dogmatische Semantik, kein ausdrücklich
unter dem Namen „Rechtsdogmatik“ gesammeltes und als bewahrenswert angesehenes Wissen.57 Auch
das 19. Jahrhundert machte keinen nennenswerten Unterschied im Gebrauch solcher Formeln wie Rechts-
wissenschaft (im Sinne praktischer Jurisprudenz) und Rechtsdogmatik. In einem solchen eher weiten und
unspezifischen Sinn verwendet beispielsweise Rudolf v. Jhering den Begriff Dogmatik in dem von ihm
1857 gegründeten Unternehmen der Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Pri-
vatrechts. Und wenn etwa Carl-Friedrich v. Gerber in der Vorrede zu seinen Grundzügen eines Systems des
deutschen Staatsrechts von 1865 das „Bedürfniss einer schärferen und correcteren Präcisirung der dogmati-
55
Wichtige Beiträge dazu sind u. a. F. Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, 1970,
311ff.; W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung,
VVDStRL 30 (1972), 245ff.; N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974.
56
Vgl. dazu den Eintrag „Rechtsdogmatik“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992.
57
Deshalb spricht beispielsweise F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1996, 49, von einem
Geist der Dogmatik, der in einer „Verknüpfung von Autoritätsglauben und intellektuellem Formalis-
mus“ (54), in einem „Erkenntnisverfahren, dessen Bedingungen und Fundamentalsätze durch eine Au-
torität vorwegbestimmt sind“, fundiert gewesen sein soll.
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§ 1. Ort und Funktion
schen Grundbegriffe“ einforderte,58 hätte er auch von rechtswissenschaftlichen oder juristischen Grundbe-
griffen sprechen können, ohne dass dies an der Sache irgendetwas geändert hätte. Auch für Paul Laband
war Rechtsdogmatik ein Synonym für (positivistische) Rechtswissenschaft.59 Noch 1932 ordnete Gustav
Radbruch die Rechtsdogmatik in eine übergreifende „Logik der Rechtswissenschaft“ ein.60
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III. Abgrenzungen und Überlappungen
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§ 1. Ort und Funktion
dung gelöst werden. Auch in solchen Zusammenhängen kann die Rechtstheorie keineswegs alle Probleme
lösen. Sie kann aber helfen, die Dogmatik auf Distanz zu bringen und die grundlegenden Verschiebungen
in der Architektonik des Rechtssystems deutlich zu machen, d. h. die Rechtsdogmatik an die stillschwei-
genden Prämissen ihrer Kommunikationsroutinen, an die sozialen und historischen Bedingtheiten ihrer
Begriffe und Vorstellungen, zu erinnern.
2. Rechtsphilosophie
24 Rechtsphilosophie etablierte sich in Deutschland als Fachdisziplin aus einer Konkur-
renz mit der ungefähr gleichzeitig entstehenden Rechtswissenschaft. Während der Ge-
brauch des Wortes „Rechtswissenschaft“ bereits im späten 18. Jahrhundert in Mode
kam, wurde das Wort „Rechtsphilosophie“ erst um die Jahrhundertwende, ja eigent-
lich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, verwendet.69 Kant sprach um
1800 noch von „Rechtslehre“, Hegel etwa 20 Jahre später von der „Philosophie des
Rechts“ bzw. – gegen Hugo (und Savigny) gerichtet – von „philosophischer Rechtswis-
senschaft“.70 Kantische Rechtslehre und hegelsche Rechtsphilosophie waren ihrerseits
Teil der aus dem neuzeitlichen (formalen) Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts
hervorgegangenen Diskursformation, die mit der Theorie des Gesellschaftsvertrages
und Namen wie Hobbes, Locke, Smith, Rousseau u. a. verbunden ist. Rechtsphiloso-
phie kann daher nicht von der aus dem Naturrecht übernommenen Frage nach der
richtigen Staats- oder Gesellschaftsordnung getrennt werden. Auch die deutsche idea-
listische Rechtsphilosophie von Kant bis Hegel ist ein intellektuelles Unternehmen im
Prozess der Durchsetzung liberaler Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Freiheit,
Gleichheit vor dem Gesetz etc., die gegen die traditionale (altständische) Adelsgesell-
schaft mit ihren Privilegien und Ausnahmen gerichtet werden. Das unterscheidet die
Rechtsphilosophie von der Rechtstheorie, die erst in den 1920er Jahren, nach einer
ersten Konsolidierung der modernen (liberalen) Gesellschaft als „Massengesellschaft“
entstanden ist und die ihren Gegenstand, das Recht, von Anfang an als liberales Sys-
tem mit Eigentums- und Vertragsfreiheit, Grundrechten, Gesetzesvorbehalt, Verfas-
sung etc. voraussetzen konnte.
25 Aufgrund ihrer historischen Entstehungsbedingungen ist die Rechtsphilosophie bis
heute stark an der umfassenden Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft orien-
tiert, zu der das Recht beitragen soll. Das unterscheidet sie etwa von den auf weniger
Emphase angelegten Formen, wie sie in Anwaltspraxen, Gerichten, Rechtsabteilungen
von Unternehmen, in der öffentlichen Verwaltung und in Gesetzgebungsorganen ge-
pflegt werden. Zwar war die Rechtsphilosophie in ihrer Gründungsphase durchaus
auch am kodifizierten Recht oder einzelnen Rechtsinstituten wie Eigentum, Vertrag,
Eherecht, Rechtspflege etc. interessiert. Autoren wie Kant und Hegel entwickelten
ihre Rechtsphilosophien aber nicht aus in der Erfahrung vorkommenden Fällen, son-
dern abstrakt aus allgemeinen Prinzipien, aus „metaphysischen Anfangsgründen“
(Kant) bzw. aus einer sich über die Stufen des abstrakten Rechts, der Moralität und
der Sittlichkeit realisierenden „Idee“ (Hegel). Recht und Moral waren hier keineswegs
immer klar voneinander getrennt, und noch heute geht es der Rechtsphilosophie sehr
oft um eine staatsphilosophische bzw. moralphilosophische Fundierung des geltenden
expliziten Rechts, um dieses dann seinerseits – mit Hilfe der Rechtsphilosophie – auf
69 Vgl. Eintrag „Rechtsphilosophie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992.
70 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Werkausgabe Bd. 7, 1970, § 1; zum
Verhältnis Hegel/Hugo vgl. die Bemerkungen von J. Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, 262 Fn. 6.
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III. Abgrenzungen und Überlappungen
eine Stufe substantieller Rationalität heben zu können. Der Fluchtpunkt der Rechts-
philosophie ist letztlich eine Gerechtigkeit realisierende Gesellschaft. Dieser Flucht-
punkt mag auch für eine Rechtstheorie, wie sie hier gepflegt wird, nicht hintergehbar
sein. Im Unterschied zu einer Rechtsphilosophie, die ihr Wissen ausschließlich aus
Gedankenarchitekturen gewinnt, käme es aber darauf an, den Ort, den Kontext und
den Sprecher dieser „kommenden“ Gerechtigkeit genauer zu adressieren und darüber
hinaus die epistemologischen wie medialen Möglichkeiten und Beschränkungen ge-
nauer zu analysieren, die den Anruf eines anderen Rechts, einer anderen Gerechtigkeit
oder eines anderen Systems der Rechte rahmen.
Der ständig wiederholte Rekurs der Rechtsphilosophie auf Kant, Hegel, Radbruch 26
und all die anderen 5-Sterne-Helden der eigenen Fachtradition hat nicht zuletzt Aus-
wirkungen auf das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur Rechtswissenschaft. Die
Rechtsphilosophie sieht sich selbst als Teil der Philosophie. Noch Radbruch, der die
letzte klassische Rechtsphilosophie vorgelegt hat, geht ganz selbstverständlich davon
aus, dass „Rechtsphilosophie ein Teil der Philosophie ist“.71 Das ist auch nur folgerich-
tig, denn gerade in der deutschen idealistischen Philosophie war die Philosophie für
die Formulierung der Einheit und Absolutheit des Wissens und der sie tragenden Prin-
zipien verantwortlich. Darin liegt insofern ein wichtiger Unterschied zur Rechtstheo-
rie, als diese zur Selbstbeschreibung (nicht aber: Fremdbeschreibung) des Rechtssys-
tems beitragen will und daher – institutionell gesehen – auch an die juristischen und
nicht an die philosophischen Fakultäten gehört. Jedenfalls würden wir die Rechtstheo-
rie institutionell der Rechtswissenschaft zuordnen. Der Bezugspunkt der Rechtstheo-
rie ist das praktizierte Recht und seine kulturellen Verweisungszusammenhänge, auch
wenn die Rechtstheorie als wissenschaftlich hoch angereicherte Form rechtsbezogener
Expertise enger mit geistes- und naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen kommu-
niziert als etwa die Rechtsdogmatik; als Metatheorie agiert die Rechtstheorie immer in
einem „polykontexturalen“ Milieu, zwischen Rechts- und Nachbarwissenschaften.
Rechtsphilosophie wird heute primär in zwei Varianten praktiziert. Zum einen ver- 27
steht sich Rechtsphilosophie als „Rechts- und Staatsphilosophie“. Hinter diesem
Selbstverständnis steht letztlich die aus dem 19. Jahrhundert stammende Vorstellung
des „Rechts-Staats“, demzufolge Recht und Nationalstaat eng in einem politisch-recht-
lichen System gekoppelt sind, das im Konstitutionalismus des modernen Staates, im
Verfassungsstaat, seine Einheit findet. Während die Einheit und Bindungsfähigkeit
des Rechts für die Rechtstheorie die Leistung der Rechtspraxis ist, der ständigen An-
wendung und Wiederanwendung des expliziten positiven Rechts und der dieses stütz-
enden gesellschaftlichen Konventionsbildung (vgl. Rn. 182ff.), basiert das Recht der
Rechts- und Staatsphilosophie auf einer primär politischen Abstützung. Diese Abstüt-
zung liegt in der Form der Gewalt, gedacht als politische Macht oder legitimes staat-
liches Zwangsmittel, also beispielsweise in der Existenz eines staatlichen Vollstre-
ckungsapparats, der die Durchsetzung eines streitigen Zahlungsanspruchs zwischen
zwei Privatparteien garantiert. Diese Verknüpfung von Gewalt und Recht ist durch
den Einfluss von Thomas Hobbes und John Austin auch in der anglo-amerikanischen
Rechtstheorie bekannt,72 aber nur in der deutschen Tradition ist daraus – unter dem
Einfluss der hegelschen Vergöttlichung des preußischen Staates (Staat als „Wirklich-
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§ 1. Ort und Funktion
keit der sittlichen Idee“73) – eine eigene Rechts- und Staatsphilosophie geworden.
Heute wird die Rechts- und Staatsphilosophie prominent etwa von Ernst-Wolfgang
Böckenförde, Hasso Hofmann und Horst Dreier vertreten.74 Die Reflexion des Rechts
steht hier im Kontext der politischen Ideengeschichte und die interdisziplinären Kon-
takte der Rechtsphilosophie werden im Wesentlichen auf solche mit der politischen
Philosophie beschränkt,75 während kulturwissenschaftliche, medientheoretische oder
literaturwissenschaftliche Anleihen nur selten gemacht werden.
28 In der zweiten Variante von Rechtsphilosophie, der Diskurstheorie des Rechts, steht
die Abhängigkeit des Rechts von deliberativen (von lat. deliberatio, Beratschlagung,
Überlegung) Verfahren im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Hier wird die
Rechtsphilosophie tendenziell in eine Rechtsbegründungswissenschaft verwandelt,
die die bereits in Max Webers Herrschaftssoziologie aufgeworfene Frage nach der „Le-
gitimität“ des „gesatzten Rechts“ zu einem verständigungsorientierten Dauerdiskurs
zuspitzt. Recht wird hier nahezu auf Legitimation bzw. auf die demokratischen Verfah-
ren seiner Erzeugung reduziert, aus Recht und Gesetz wird Gesetzgebung, und darin
bleibt die Diskurstheorie des Rechts, obwohl sie sich selbst als eine eher institutionen-
kritische Theorie sieht, antithetisch auf Staat und Politik fixiert. Anstatt jede an einer
letzten substantiellen Einheit orientierte Begründung des Rechts abzuschneiden, geht
die Diskurstheorie des Rechts davon aus, dass das verständigungsorientierte Sprach-
handeln eine empirische Grundlage hergibt, um abschließende wissenschaftliche Aus-
sagen über die Gültigkeit oder Legitimität von Prozeduren der Erzeugung von Recht
treffen und diese als Praxis empfehlen zu können. Das läuft letztlich auf ein Lob der
„Zivilgesellschaft“ hinaus, womit nicht so sehr die Institutionen der repräsentativen
Demokratie gemeint sind, der Parteien- und Verbändestaat, sondern eher soziale Be-
wegungen aller Art (Anti-Atom-Bewegung, Frauenbewegung, Globalisierungsgegner
etc.), die als notwendiges Korrektiv zu den herkömmlichen repräsentativen Institutio-
nen angesehen werden.
29 Der intellektuelle Ziehvater der Diskurstheorie des Rechts ist Jürgen Habermas. Habermas hat vor dem
Hintergrund der von ihm in den 1980er Jahren ausgearbeiteten Theorie des kommunikativen (verstän-
digungsorientierten) Handelns eine Rechtsphilosophie entworfen, die in Faktizität und Geltung (1992)
ihre vielleicht bündigste Formulierung gefunden hat. Habermas geht es um nicht weniger als einen um-
fassenden Ansatz sowohl zur Grundlegung des Eigensinns des modernen Rechts als auch des demokrati-
schen Verfassungsstaates in einem prozeduralen Gerechtigkeitskonzept bzw. im öffentlichen Diskurs.
Auch bei Habermas wird eine enge Verknüpfung von Recht und Politik vorausgesetzt, der Unterschied
zur Staats- und Rechtsphilosophie besteht lediglich darin, dass der Einheitsanspruch nicht mehr direkt
an den Staat adressiert wird, sondern über die Idee einer Sprachgemeinschaft, die sich als „freiwillige
Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen“ verstehen kann,76 umgelenkt wird: Das Begründungs-
paradox des modernen Rechts landet letztlich zur Daueraufbereitung in der „demokratischen Öffent-
lichkeit“, während beispielsweise die Wirtschaft und die spontanen Handlungsmuster der „Privatrechts-
gesellschaft“ (Böhm) auch und gerade in ihren globalen Erscheinungsformen (Großkonzerne,
internationale Finanzindustrie, Medienkonglomerate etc.) eher als Bedrohungsszenario für die demo-
73
Hegel (Fn. 70), § 257, Staat = „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“, die „substantielle Einheit“ (§ 260),
in der das Recht seine höchste Stufe erreicht und – subjektive und objektive Momente des modernen
Rechts ineinander aufhebend – sich als Ausdruck konkreter Vernunftsbestimmtheit, als „das an und für
sich Vernünftige“ (§ 258), manifestiert.
74
E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002; H. Hofmann, Einführung in
die Rechts- und Staatsphilosophie, 2011; H. Dreier, Hans Kelsen (1881–1973), 2015, 219ff.
75 Vgl. Wahl (Fn. 68), 916, 917 (in einer Würdigung des Werks von H. Hofmann).
76
J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 143.
18
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III. Abgrenzungen und Überlappungen
77
Zur Kritik vgl. nur Ladeur (Fn. 35), 137ff.; ders., Discursive Ethics as Constitutional Theory, Ratio
Juris 13 (2000), 95ff.
78 A. Honneth, Das Recht der Freiheit, 2011, 221ff.; kritisch dazu etwa R. Pippin, Hegel’s Practical Philo-
sophy, New York 2008, 257.
79
R. Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 2010.
80
R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, 75ff., 498ff.; kritisch dazu M. Jestaedt, Grund-
rechtsentfaltung im Gesetz, 1999, 206ff.
81 K. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, 1988, insb. 335ff.
82
Etwa G. Frankenberg, Autorität und Integration, 2003; ders., Staatstechnik, 2010.
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§ 2. Normen
I. Grundlagen
1 Vgl. nur K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 250ff. (Lehre vom Rechtssatz).
2 Digesten 2. 14. 7; 50. 16. 19; dazu M. Th. Fögen, Zufälle, Fälle und Formeln, RG 6 (2005), 84ff.
3
BGHZ 136, 182, 186.
20
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I. Grundlagen
In ihrer sprachlichen Form als explizite (schriftliche) Sätze unterscheiden sich Rechts- 32
normen normalerweise von anderen gesellschaftlichen Regelbeständen wie etwa von
religiösen oder moralischen Geboten, von Konventionen, Sitten, Brauch, Takt, Mode
etc., die oft ungeschrieben und unartikuliert sind.4 Soziologisch und kulturtheoretisch
gesehen geht es bei Normen und Regeln immer um Ordnungsmuster, um Regel-
mäßigkeiten und Gepflogenheiten innerhalb sozialer (Verkehrs-)Beziehungen; das
gilt sowohl für juristische Regeln über die Abgabe von Willenserklärungen als auch
für einfache Benimmregeln am Esstisch. Die Ordnung ist also keineswegs mit der
Rechtsordnung identisch. Jedoch müssen gewisse Regelbestände, auf denen Rechts-
normen gleichsam aufruhen können, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit stets vo-
rausgesetzt werden; ansonsten müsste zu viel Unbestimmtheit, Unstrukturiertheit
und Chaos bewältigt werden, die jedes Recht überfordern würden. Diese gesellschaft-
lichen Regelbestände, Gepflogenheiten und Konventionen sind an implizites (prak-
tisches) Wissen gebunden, das häufig unbewusst „mitläuft“, nicht eigens reflektiert
wird und deshalb auch als Wissen von Beobachtungen erster Ordnung qualifiziert
werden kann (vgl. Rn. 186ff.). Das bevorzugte Kommunikationsmedium dieser
Normbestände ist eher die mündliche Rede und weniger die Schrift, wenngleich etwa
religiöse Normen in den großen Buchreligionen wie dem Christentum durchaus in
Schriftform vorkommen. Jedenfalls aber sind gesellschaftliche Regeln und Normen
oft vorreflexiv als eingefleischte Handlungsweisen in der Umgangssprache und den
vielen lebensweltlichen „communities of practice“5 verankert. Was Höflichkeit und
Takt in einer Ehe verlangen, weiß jeder Ehepartner intuitiv. Dafür bedarf es keines ex-
pliziten Regelwerks, und wenn doch, dann ist es meistens schon zu spät. Dagegen hat
der historisch schon früh zu beobachtende Schriftgebrauch im Recht die semantische
Dichte des Normenmaterials potenziert; jeder Versuch der scharfen Begrenzung eines
Begriffs setzt eine sich im Schreiben vollziehende Reflexion voraus, etwa in Form der
Transformation von alltagssprachlichen Formeln wie „gehört mir“ oder „ist meins“ zu
einem juristischen Begriff des Eigentums und seinen dogmatischen Daumenregeln.6
Ist ein solcher Klassifikationsbetrieb einmal angelaufen, sind definierte Begriffe und
Regeln ihrerseits einer laufenden Konfrontation zustimmender oder dissentierender
Meinungen ausgesetzt. Man kann deshalb den Grund für die hohe Reflexivität und
Spezifizität rechtlicher Normen gerade in dieser Dynamik einer Beobachtung zweiter
Ordnung sehen.7
Während Rechtsnormen meist genaue und recht konkrete Kriterien anzugeben suchen, um eine Hand- 33
lung als rechtswidrig qualifizieren zu können (Diebstahl wird beispielsweise auf die Wegnahme fremder
beweglicher Sachen beschränkt) oder wenigstens intendieren, begrifflich (und damit eindeutig) zu sein,
4 Ein einführender Überblick über außerrechtliche Normen findet sich bei B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk,
Rechtstheorie, 2015, Rn. 97ff.
5
Dieser Begriff geht (wohl) zurück auf E. Wenger, Communities of Practice, 2005.
6
Vgl. dazu in einem allgemeineren (linguistischen) Zusammenhang Ch. Stetter, System und Performanz,
2005, 28; vgl. auch L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1945), 2003, § 71.
7 Vgl. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 211 („Es gibt keine andere Normordnung, die eine
solche, über Verfahren laufende Reflexivität entwickelt hat. Man findet sie nur im Recht und nicht zum
Beispiel in der Moral ... Nur das Recht ... kann sich rechtmäßig selbst bezweifeln, nur das Recht verfügt
in seinen Verfahren über Formen, die es ermöglichen, jemandem rechtmäßig sein Unrecht zu bescheini-
gen, und nur das Recht kennt jenen weder eingeschlossenen noch ausgeschlossenen Grenzwert der tem-
porären Unentschiedenheit einer Rechtsfrage.“) und 118ff., 212 (zur Spezifikation des Rechts durch
Schrift).
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§ 2. Normen
bleiben gesellschaftliche Regeln demgegenüber oft durchgängig kontextabhängig und erscheinen dadurch
unbestimmter und vager. Moralnormen, die auf die Unterscheidung von gut und schlecht bzw. gut und
böse ausgerichtet sind, lassen sich oft nur schwer aus ihren kulturellen Zusammenhängen lösen oder sind
eng an bestimmte lokale Berufs- und Alltagsethiken gebunden. Moralnormen überlappen sich daher häu-
fig mit anderen sozialen Normen und Konventionen, etwa mit religiösen Geboten, man denke nur „Liebe
Deinen Nächsten“. Im Unterschied zum Recht fehlt es bei moralischen und religiösen Normen außerdem
nicht selten an Reflexionen darüber, was aus einem Gebot wie „Liebe Deinen Nächsten“ konkret in einem
Konfliktfall folgt, wenn etwa Nachbar A die Frau des Nachbarn B verführt und bei seinen nächtlichen Be-
suchen wiederholt über das frisch angepflanzte Rosenbeet des B läuft. Hat B hier irgendwelche Ansprüche
gegen A? Auf Wiedergutmachung oder Schadensersatz? Die praktische Handhabung von Moralnormen
bleibt also unsicher. Zwar verfügt die Moral in der Ethik über eine Reflexionstheorie, wie etwa über Kants
kategorischen Imperativ, mit dessen Hilfe die Allgemeingültigkeit von moralischen Normen begründet
werden soll.8 Aber gerade Kants kategorischer Imperativ ist ein Beispiel für die Spezialisierung der Ethik
auf normative Begründungs- und nicht auf praktische Anwendungsfragen.
2. Konditionalschema
34 Schriftlich verfasste Rechtsnormen folgen häufig einem konditionalen Schema und
werden deshalb von der Normentheorie auch als „Bestimmungssätze“ bezeichnet.9 In
einem auf Niklas Luhmann zurückgehenden Sprachgebrauch werden solche Sätze
auch – mit einem aus der Computerkultur entlehnten Begriff – als „Konditionalpro-
gramme“ bezeichnet.10 Von Bestimmungssätzen oder Konditionalprogrammen wird
in der Literatur dann gesprochen, wenn Rechtsnormen eine tatsächliche Bedingung A
konditional mit einer rechtlichen Wirkung B verknüpfen, während Zweckprogramme
das Handeln oder Verhalten von Rechtssubjekten an einem Zweck, wie etwa der
„wirksamen Umweltvorsorge“ in § 1 UVP-Gesetz, orientieren. Die tatsächliche Be-
dingung eines solchen Rechtssatzes wird in der Normentheorie normalerweise „Tatbe-
stand“, die rechtliche Wirkung „Rechtsfolge“ genannt. So legt § 823 Abs. 1 BGB als
Tatbestand das Verbot der vorsätzlichen oder fahrlässigen widerrechtlichen Verletzung
subjektiver Rechtsgüter wie Leben, Eigentum oder Gesundheit fest. Wird dieses Ver-
bot missachtet, spricht § 823 Abs. 1 BGB als Rechtsfolge die Verpflichtung zum Scha-
densersatz aus. Nicht anders ist es im öffentlichen Recht, z. B. im Medienrecht: Nach
§ 20a Rundfunkstaatsvertrag darf eine rundfunkrechtliche Zulassung nicht an juristi-
sche Personen des öffentlichen Rechts erteilt werden, es sei denn, es handelt sich um
eine Kirche oder Hochschule, weil diese nach dem Grundsatz der Staatsferne mit einer
besonderen Autonomie versehen sind. Das konditionale Schema besagt also, dass im-
mer dann, wenn ein gleicher Sachverhalt einen Tatbestand verwirklicht, die gleiche
Rechtsfolge ausgelöst wird.11
35 Die Theorie des Konditionalprogramms konkurriert mit der so genannten „Imperati-
ventheorie“.12 In der Imperativentheorie wird die in einem Rechtssatz entweder aus-
8
I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werkausgabe Bd. 7, 1974, A 54 („Handle so, daß die Maxime
deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“).
9 Vgl. Larenz (Fn. 1), 253ff.; vgl. auch Rüthers/Fischer/Birk (Fn. 4), Rn. 148b.
10 Luhmann (Fn. 7), 195.
11
Larenz (Fn. 1), 256 („Immer dann, wenn ein konkreter Sachverhalt S den Tatbestand T verwirklicht,
gilt für diesen Sachverhalt die Rechtsfolge R.“).
12 Programmtisch etwa bei Larenz, ebd., 253ff. Als Kronzeuge dieser Auffassung wird im deutschen
Sprachraum oft Th. Hobbes herangezogen, in der englischsprachigen Literatur gilt J. Austin als ihr Be-
gründer.
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I. Grundlagen
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§ 2. Normen
20
Digesten 1. 3. 7; dazu M. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1971, 211.
21
Hart (Fn. 13), 26ff., 237 (mit Hinweis auf D. Daubes „Forms of Roman Legislation“).
22 Vgl. dazu nur H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, 141ff.
23 Rules conferring powers im Sinne von Hart (Fn. 13), 35f.
24
Larenz (Fn. 1), 190.
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I. Grundlagen
dung von Sein und Sollen eine unüberwindbare Sperre zwischen der Welt der Fakten,
wozu auch das tatsächliche (menschliche) Verhalten gezählt wird, und der Normativi-
tät oder Geltung von Rechtsnormen. Demnach ist es Aufgabe der Rechtswissenschaft,
Verhaltensereignisse in der Wirklichkeit unter eine Rechtsnorm zu fassen, um dem tat-
sächlichen Verhalten dadurch einen spezifisch positiv-rechtlichen und nicht etwa mo-
ralischen, ökonomischen oder ästhetischen Sinn zu verleihen: Wird eine Autotür von
einem jugendlichen Rowdy eingetreten, liegen eine Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1
StGB) und zugleich eine unerlaubte Handlung (§ 823 BGB) vor, aber – aus der Sicht
des Rechts – kein ökonomischer Wertverlust und kein Kunstwerk. Dieser Deutungs-
und Zuschreibungsakt setzt jeweils einen entsprechenden Willensakt voraus, der sich
in einschlägigen Rechtssätzen artikuliert, die allerdings nicht mit der Rechtsnorm
selbst verwechselt werden dürfen.25 Damit wird zwar die Notwendigkeit der juristi-
schen Deutung eines tatsächlichen Geschehensablaufs als grundsätzlich konstitutiv
für die Konstruktion von Rechtsnormen qualifiziert,26 d. h. die Abhängigkeit aller ju-
ristischen Regelbildung von einer reflektierenden Wahrnehmung oder Beobachtung
zweiter Ordnung. Aber letztlich ist Kelsens strikter Normativismus nicht viel überzeu-
gender als die Larenz’sche Blickrichtung eines normativen Sinns.
Beide Auffassungen sind insofern problematisch, als sie die Normativität von Rechts- 40
normen im Unterschied zu tatsächlichem Verhalten bestimmen, nicht aber – wie es rich-
tig wäre – über die Unterscheidung von (rekursiver) Rechtspraxis und der ihr korrespon-
dierenden vorrechtlichen Infrastruktur aus gesellschaftlichen Regelbeständen und
praktisch erprobten Konventionen. Das Recht operiert nicht einfach auf der Grundlage
sinnhaft zu deutender Willensakte, die unvermittelt – „gleichsam von außen her“27 –
durch die hypothetischen (schriftlichen) Urteile bzw. die Rechtssätze der Rechtswissen-
schaft erkannt werden. Rechtsnormen können nicht auf sinnhaft zu deutende Willens-
akte zurückgeführt werden, weil Willensakte stets ein abgeleitetes Phänomen sind und
ihrerseits etwa entsprechende umgangssprachliche Gepflogenheiten und ein daran ge-
bundenes praktisches Wissen voraussetzen. Mit dem französischen Philosophen Corne-
lius Castoriadis kann man an dieser Stelle auch von einer institutionsgebenden Macht
sprechen, die jeder rechtskonstituierenden (gesetzgebenden oder verfassungsgebenden)
Macht vorausgeht und sich ihr entzieht, wie beispielsweise die Sprache, die Familie, die
Sitten und Gebräuche, vom Stillen der Säuglinge bis zu den gemeinsamen Trachten und
Festen, die jede Kultur immer schon kennt.28 „Die Gesetzgebung kann die Sprache
nicht schaffen, in der sie abgefasst sein wird, so wenig sie die Sitten schaffen kann, dank
deren sie kein toter Buchstabe bleiben wird.“29 Diese kulturellen Voraussetzungen des
Wissens werden manchmal auch als „soziale Epistemologie“ bezeichnet.30 Die implizite
25 H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 5 („‚Norm‘ ist der Sinn eines Aktes, mit dem ein Verhalten
geboten oder erlaubt, insbesondere ermächtigt wird. Dabei ist zu beachten, daß die Norm als der spezifi-
sche Sinn eines intentional auf das Verhalten anderer gerichteten Aktes etwas anderes ist als der Willens-
akt, dessen Sinn sie ist. Denn die Norm ist ein Sollen, der Willensakt, dessen Sinn sie ist, ein Sein.“).
26
Klar und deutlich W. Kersting, Politik und Recht, 2000, 288, 384 (Rechtsnormen sind für Kelsen „In-
terpretationsprodukte, Deutungskonstrukte“).
27 Kelsen (Fn. 25), 74.
28
V. Descombes, Die Rätsel der Identität, 2013, 226ff., mit Hinweis auf C. Castoriadis, Le monde mor-
celé, 1990, 134.
29 Descombes, ebd., 2013, 231.
30 K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 72ff., 110ff.;
ders., Strategien des Nichtwissens im Bereich staatlicher Aufgabenwahrnehmung – insbesondere am
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§ 2. Normen
institutionsgebende Macht oder soziale Epistemologie ist für das Recht jedenfalls von
allergrößter Bedeutung: Wo das kaufmännische Bestätigungsschreiben nicht als Han-
delsbrauch bekannt ist, kann es keine Rechtsregel werden und damit auch niemals recht-
liche Bindungswirkung (oder Geltung) entfalten. Was Kelsen als Willensakte und Deu-
tungsschemata formalisiert, setzt in Wahrheit eine lebendige „Infrastruktur aus
selbstorganisierten Konventionen, Erfahrungen und Handlungsmustern“ voraus (vgl.
Rn. 182ff.).31
41 Die Isolierung explizit-rechtlicher Normativität im hier als abstrakt normativ bezeich-
neten Regelverständnis hängt eng mit dessen Sinnpurismus, in dem der Sinn zur zen-
tralen Kategorie der Normentheorie aufsteigt, zusammen. Die reine Rechtslehre ba-
siert nicht zufällig auf der strengen Unterscheidung von Rechtssatz und Rechtsnorm.
Sie stellt dementsprechend ganz auf die semantische Dimension der Rechtsnorm ab,
auf die „eigentümliche rechtliche Bedeutung“, die den faktischen Ereignissen durch
die „Norm als Deutungsschema“ verliehen wird.32 Damit wird die normative Deutung
als Kategorie der Beschreibung (oder Erkenntnis) der Rechtsnorm dem Rechtssatz in
seiner sprachlichen (medialen) Verfasstheit geradezu entgegengesetzt.33 Nicht auf die
sprachliche und mediale Existenz von Rechtsnormen in Worten und Sätzen kommt
es dann an (und damit letztlich auf den Gebrauch der Rechtssprache), sondern allein
auf den Sinn des normsetzenden Aktes! Ähnlich argumentiert noch heute Robert
Alexy. Alexy vertritt – im Anschluss an normentheoretische Arbeiten von v. Wright –
einen „semantischen Normbegriff“, der in der Sache wiederum den Sinn von Normen
privilegiert.34 Es muss dann beispielsweise zwischen der Grundrechtsnorm des Art. 5
Abs. 1 Satz 1 GG und der als Textkörper vorliegenden Grundrechtsbestimmung un-
terschieden werden. Das hat u. a. zur Konsequenz, dass derselbe normative Aussagege-
halt durch unterschiedliche schriftliche Formulierungen zum Ausdruck gebracht wer-
den kann. Umgekehrt wird Rechtsnormen hier – wie bei Kelsen – eine von Sprache,
Schrift und Buchdruck unabhängige, rein sinnhafte Existenz zugesprochen, „Sprache
als bloß ‚äußere‘ Bezeichnung ‚derselben‘ Gedanken verstanden“.35
42 Im Unterschied zur Normentheorie Kelsens geht es der soziologischen Systemtheorie
Luhmanns gerade darum, die wechselseitige Entfremdung von normativen und sozio-
logischen Wissenschaften abzubauen. Rechtsnormen werden bei Luhmann ausdrück-
lich auf Sinn- bzw. Erwartungsstrukturen der sozialen Realität und damit auf fakti-
sches Erleben und Kommunizieren in kulturellen Zusammenhängen bezogen.36 In
der Vorstellung eines normativen Erwartungsstils, der nur Wissen, nicht aber andere
Normen in sich aufnehmen kann, verbleibt der systemtheoretische Normbegriff aber
dennoch in einem mit Kelsens reiner Rechtslehre vergleichbaren neukantischen Fahr-
Beispiel von Bildung und Sozialarbeit, 2014, 103ff.; vgl. auch I. Augsberg, Informationsverwaltungs-
recht, 2014, insb. 80ff.
31
K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 27f.; vgl. auch T. Vesting, Das moderne Recht
und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015 (i. E.) m.w.N.
32
Kelsen (Fn. 25), 5.
33 Kelsen, ebd., 73ff., 83f.
34 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 43, 54.
35
J. Simon, Philosophie des Zeichens, 1989, 105.
36
Vgl. dazu Luhmann (Fn. 7), 133 Fn. 18 („als Soziologe wird man nicht auf die Meinung verzichten wol-
len, daß Normen als Sinnstrukturen der sozialen Realität faktisch vorkommen. Die Alternative wäre zu
sagen: Es gibt gar keine Normen, es handelt sich um einen Irrtum. So weit werden weder Soziologen
noch Juristen gehen wollen.“).
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I. Grundlagen
wasser. Luhmann definiert den Begriff der Rechtsnorm funktional als „kontrafaktisch
stabilisierte Verhaltenserwartung“, die bestimmt sei durch die Entschlossenheit, aus
Enttäuschungen nicht zu lernen.37 Rechtsnormen sind danach „enttäuschungsfeste“,
„bockige“ Erwartungen, die – gegebenenfalls mit Hilfe sanktionierter (politischer) Ge-
walt – die normative Geschlossenheit des Rechtssystems gewährleisten, im Unter-
schied zu kognitiven Erwartungen, die Lernen und Offenheit für faktische Umwelt-
veränderungen ermöglichen.38 Die Erwartung, in einem Speiselokal als Bedienung
nicht verprügelt zu werden, wird auch im Enttäuschungsfall stabil gehalten (normative
Erwartung), während sich die (männliche) Kundschaft normalerweise darauf einstellt,
dass die neue Bedienung nicht blond, sondern brünett ist (kognitive Erwartung).
Der Begriff der normativen Erwartung, die enttäuschungsfeste, „bockige“ Erwartung, 43
ist eng mit Luhmanns These verknüpft, dass das Recht ausschließlich durch Konditio-
nalprogramme Normativität generieren und damit letztlich auch nur durch Konditio-
nalprogramme seine soziale Funktion der Erwartungssicherung realisieren kann. Aus-
schlaggebend für das Konditionalprogramm ist, dass es Bedingungen statuiert, die sich
auf „vergangene, gegenwärtig feststellbare Tatsachen“ beziehen.39 Ob der Kaufmann A
morgen wieder ein Angebot schriftlich bestätigen wird oder ob es ein anderer Kauf-
mann B tun wird, ist ungewiss. Aber wenn ein solches Bestätigungsschreiben von ir-
gendeinem Kaufmann verfasst würde, hätte ein solches Schreiben die gleiche Bin-
dungswirkung wie jedes andere auch. Und diese Wirkung, Erzeugung einer Bindung
zwischen Kaufleuten, wird durch eine im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung fest-
stellbare Tatsache ausgelöst, dem Zugang des Bestätigungsschreibens beim Empfän-
ger, so ungefähr fasst Luhmann, etwas verkürzt, sein Argument.
In dieser Art Vergangenheitsorientierung unterscheidet sich das Konditionalprogramm von seinem Gegen- 44
modell, dem „Zweckprogramm“.40 Das Zweckprogramm berücksichtigt auch künftige, im Zeitpunkt der
Rechtsentscheidung noch nicht feststehende Tatsachen. Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren
macht die Sicherheit der Atomanlage, d. h. ihre Genehmigungsfähigkeit, davon abhängig, dass die nach
dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden getroffen ist (§ 7 Abs. 2
Nr. 3 AtomG). Hier wird mit dem Verweis auf den „Stand von Wissenschaft und Technik“ eine zeitbezo-
gene Offenheit in die Rechtsnorm eingebaut, die nach Luhmann Sinn und Funktion des Rechts sprengt.
Das technische Sicherheitsrecht betreibt im Atomrecht eine zweckorientierte Zukunftsvorsorge, die auf
ständiges Lernen angelegt ist. Die Norm ist nicht nur kognitiv offen; kognitive und normative Offenheit
gehen vielmehr ineinander über und heben die Unterscheidung von normativem und kognitivem Erwar-
tungsstil letztlich auf. Luhmann bezweifelt natürlich nicht, dass solche Rechtsnormen dem Recht von der
Politik als Sinnangebote zur Verfügung gestellt werden, aber er ist der Auffassung, dass sie nicht in eine
justiziable Form gebracht werden können bzw. dass solche Normangebote die Gerichte zu einer Form des
technical engineering zwingt, für das sie nicht gerüstet sind.
37
Luhmann, ebd., 134, 80 („Normen gegenüber Enttäuschungen stabil gehalten werden müssen“); vgl.
auch 61 („Intention des obstinaten, kontrafaktischen Festhaltens von Erwartungen“); ähnlich ders.,
Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 17, 115, 210ff., 212 (Norm befindet sich auf der Ebene des „Er-
wartens von Erwartungen“).
38 Zur „strukturellen Kopplung“ von Recht und Politik vgl. nur Luhmann (Fn. 7), 150 („Das Recht ist zu
seiner Durchsetzung auf Politik angewiesen, und ohne Aussicht auf Durchsetzung gibt es keine allseits
überzeugende (unterstellbare) Normstabilität.“); zu der an J. Galtung anschließenden Unterscheidung
von normativen und kognitiven Erwartungen vgl. Luhmann, ebd., 77ff., 84f.
39 Luhmann, ebd., 197.
40
Luhmann, ebd., 195f.
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§ 2. Normen
41
Dazu ausführlich Q. Skinner, Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, 1996, 294ff., 334 (für
den Leviathan).
42 Vgl. Ladeur (Fn. 31), 10 (mit Hinweis auf M. Oakeshott).
43 R. Esposito, Communitas, 2004, 100.
44
B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, 2006, 25; vgl. auch ebd. 11 (Kants Versuch einer Grundlegung
der Moral läuft zwangsläufig auf eine Selbstbegründung des praktischen Gesetzes hinaus); J. Rogozinski,
Le don de la Loi, 1999, 91 („Si l’autonomie se définit comme le pouvoir de se donner la Loi, il faut alors
admettre que l’autonomie originaire n’est pas celle de la volonté se soumettant librement à la Loi, mais
l’autonomie du Nomos lui-même, l’auto-donation de la Loi.“); Esposito (Fn. 43), 101; vgl. auch Ladeur
(Fn. 31), 9 („Die – von der Tradition entbundenen – freien Subjekte haben keine andere Wahl als die
Unterwerfung unter ein Gesetz so zu akzeptieren, als ob es ihnen von einem anderen gegeben worden
wäre ... Deshalb ist es auch eher das Gesetz, das sich selbst gibt.“).
45 Ausführlicher T. Vesting, Die innere Seite des Gesetzes, 2009; vgl. auch B. Waldenfels, Sozialität und
Alterität, 2015, 194, 195 (der das Gesetz als Antwort auf einen fremden Anspruch verhandelt); ähnlich
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II. Allgemeinheit des Gesetzes
Was damit gemeint ist, wird sofort verständlich, wenn man sich die Grundzüge der 46
kantischen praktischen Philosophie klar macht. Im Mittelpunkt von Kants praktischer
Philosophie oder Ethik stand die Konstruktion allgemeiner moralischer Gesetze. Der
kategorische Imperativ, das Zentrum der kantischen praktischen Philosophie, gebietet
Ego so zu handeln, dass die Maxime seines Willens „jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“.46 „Maximen“ waren für Kant subjektiv gül-
tige Regeln oder Grundsätze, die ihre situative Berechtigung haben mochten, dem
Charakter des moralischen Gesetzes als objektiv und allgemeingültig aber oft entge-
gengesetzt waren. Jemand, der es sich beispielsweise zur Maxime gemacht hatte, sein
Vermögen mit allen Erfolg versprechenden Mitteln zu mehren, eignete sich das Depo-
situm eines verstorbenen Eigentümers an, über das es keine schriftliche Niederle-
gungsurkunde gab. Damit handelte er zwar der eigenen Maxime entsprechend, als all-
gemeines Gesetz taugte diese Maxime aber keineswegs. Würde man die Maxime zum
allgemeinen Gesetz erheben – mehre Dein Vermögen mit allen Erfolg versprechenden
Mitteln und behalte das verwahrte Gut, das Dir jemand anvertraut hat, immer dann,
wenn niemand beweisen kann, dass es nicht Dir gehört –, würde die Maxime gerade
das negieren, was vorausgesetzt bleiben muss, nämlich die Existenz und Integrität der
Institution des Depositums.47
Während die aristotelisch-mittelalterliche (Schul-)Ethik noch gemeinsame Zwecke 47
aus natürlichen Gegebenheiten wie etwa dem Stand oder dem Geschlecht abgeleitet
hatte, machte der kategorische Imperativ keine inhaltlichen (materialen) Vorgaben
über Gut und Böse mehr. Damit reagierte Kants praktische Philosophie ersichtlich
auf die Erfahrung des Zerfalls der traditionalen (Adels-)Gesellschaft und ihrer objektiv
fundierten moralischen Gewissheiten, dem Schwinden einer „Gesamtordnung“ und
dem Rückzug der praktischen Philosophie auf die Begründung einer „Grundord-
nung“.48 Dieser Unterschied zwischen Kant und der traditionellen (Schul-)Ethik
wurde insbesondere in Hegels Kant-Kritik deutlich, denn Hegel wies zu Recht darauf
hin, dass kein Widerspruch in der Ansicht liege, dass es kein Depositum gäbe.49 Damit
traf Hegel zwar insofern einen wunden Punkt der kantischen Ethik, als diese auf
einem unbestimmten Willensbegriff aufbaute, der sich seiner Abhängigkeit von vor-
findlichen gesellschaftlichen Regelbeständen und praktisch erprobten Konventionen
nicht immer bewusst war: Kant musste mit anderen Worten von vorfindlichen sozia-
len Institutionen ausgehen, die Vertrauen zwischen den Subjekten schaffen, er musste
die praktische Existenz unstreitiger Regeln – Sitten, Konventionen und Gewohnhei-
ten voraussetzen, d. h. eine Form vorreflexiver Regelbindung, die das Subjekt verin-
nerlicht, bevor es sich an abstrakten Regeln orientiert. Auch Kants Argument einer
H. Lindahl, Fault Lines of Globalization, 2013, 222ff., 249 (auf der Ebene des kollektiven Handelns
und seiner notwenigen Selbstbeschränkungen – „self-restraint“).
46
Kant (Fn. 8), A 54; zum Verhältnis der späteren Formulierung des kategorischen Imperativs in der Kri-
tik der praktischen Vernunft zu seinen früheren „Verdeutlichungen“ in der Grundlegung der Metaphy-
sik der Sitten, BA 52ff. und die dort behandelten Beispiele (Selbstmord, Selbstliebe, Genussleben,
Hilfsbereitschaft) vgl. nur J. Simon, Kant, 2003, 185ff.
47 Kant (Fn. 8), A 50 („Ich werde sofort gewahr, daß ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten
würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe.“).
48
Vgl. dazu Waldenfels (Fn. 44), 15ff.; Ladeur (Fn. 30 – Negative Freiheitsrechte), 13ff., 42f.
49 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), Werkausgabe Bd. 3, 1986, 322 („Nicht darum
also, weil ich etwas sich nicht widersprechend finde, ist es Recht; sondern weil es das Rechte ist, ist es
Recht.“).
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§ 2. Normen
Undenkbarkeit des Despositums ergab sich allein daraus, dass es das Depositum als
Institution schon lange Zeit gab und ein daran gebundenes Vertrauen der Subjekte in
diese Institution.50 Gleichwohl kann man sich dem Urteil von Josef Simon anschlie-
ßen, dass Hegels Einwand die kantische Intention eher verdeutlicht, „als dass er ihr
widerspricht“.51 Kant versuchte gerade, die Ethik universalistisch, über ein rein for-
males Prinzip, einen Verallgemeinerungsschluss, auf die neuen Gegebenheiten einer
(moralischen) Grundordnung nach dem Zusammenbruch einer übergreifenden (sitt-
lichen) Gesamtordnung einzustellen. Er formulierte den obersten Imperativ der Ethik
als Gesetz und deduzierte Letzteres aus reinen Vernunftprinzipien bzw. aus dem sei-
nerseits für Kant bedingungslosen Faktum der Vernunft.
48 Kants Konstruktion des kategorischen Imperativs als Ausdruck einer abstrakten und reinen Vernunft hatte
sein Vorbild in der neuzeitlichen, modernen Naturwissenschaft, wie sie vielleicht bei Newton ihren ersten
Höhepunkt erreichte. Diesem Vorbild folgte Kant nicht nur in der Kritik der reinen Vernunft, sondern auch
in seiner praktischen Philosophie. War jene um die Vorstellung einer objektiven Gesetzmäßigkeit der Ele-
mente der Natur, d. h. durchgehender notwendiger Ursache-Wirkungszusammenhänge zentriert, ging es
der praktischen Philosophie um die Sicherstellung allgemeiner moralischer Verbindlichkeit. Und so wie das
klassische Gesetz der newtonschen Mechanik, das Inertialgesetz der Bewegung, nicht aus der Erfahrung
stammte, sondern ihr gerade zuwiderlief und dennoch als universell-gültiges Gesetz nachgewiesen werden
konnte, fundierte Kant die Allgemeinheit des moralischen Gesetzes in reiner praktischer Vernunft.52 Diese
wurzelte in der (transzendentalen) Idee der Freiheit, die als Eigenschaft des Willens vorausgesetzt werden
musste, „wenn Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff sein soll“.53 Die praktische
Vernunft konnte damit nicht länger unabhängig vom Akt des Erkennens (oder Beobachtens) gedacht wer-
den und auch nicht unabhängig von der „tätigen Auswahl gesetzestauglicher Maximen“.54 Darin brachte
Kants praktische Vernunft das neuzeitliche Subjekt zur Geltung. Kants Subjekt, der Träger seines Systems,
blieb allerdings in jedem Erkenntnisakt, in jeder Situation, in der Maximen von Handlungen zu allgemeinen
Gesetzen generalisiert wurden, mit sich selbst identisch. Kant fundierte das allgemeine praktische Gesetz
mit anderen Worten konstruktiv im Denken und Handeln eines mit allgemeinen Normen arbeitenden Sub-
jekts, in einer „Einheit der Synthesis“,55 die auf die gleiche Weise die Einheit des moralischen Kosmos garan-
tierte wie Newtons Bewegungsgesetz die der natürlichen Ordnung der Dinge.
49 Die kantische Rechtslehre ergänzte den kategorischen Imperativ der praktischen Phi-
losophie um das Rechtsgesetz. Das Rechtsgesetz war ebenfalls durch das formale Prin-
zip der Allgemeinheit bestimmt, und nicht etwa Produkt einer bloß statistischen, aus
praktischen Erfahrungen abgeleiteten Regelmäßigkeit. „Eine bloß empirische Rechts-
lehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur
schade! daß er kein Gehirn hat.“56 Praktische Philosophie und Rechtslehre hatten bei
Kant allerdings verschiedene Anwendungsfelder, auch wenn die Differenz zwischen
Moral und Recht nicht immer durchsichtig und in der Kant-Interpretation dement-
sprechend umstritten ist.57 Das allgemeine Gesetz der Rechtslehre legte die Kompati-
50 Vgl. Waldenfels (Fn. 44), 59 Fn. 22; Ladeur (Fn. 31), 12 Fn. 37, 95 Fn. 644.
51 Simon (Fn. 46), 167.
52
H. Krämer, Integrative Ethik, 1992, 95, unterscheidet Kants universale Regelmäßigkeit strikt nomolo-
gischer, deterministischer Art von einer generell-typologischen, stochastisch-probalistischen Regelmä-
ßigkeit statistischer Geltung, wie sie die ältere Strebens- und Klugheitsethik bis hin zu Vico etwa in
Konzepten der phronesis und prudentia gekannt habe.
53 Simon (Fn. 46), 165f.
54
Simon, ebd., 165.
55
Simon (Fn. 35), 281; Ladeur (Fn. 30 – Negative Freiheitsrechte), 43.
56 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. 8, 1977, AB 31, 32.
57 Die Unterschiede betonend Simon (Fn. 46), 171, 176 Fn. 28, 194ff., 380ff.; eher den Zusammenhang
von praktischer Philosophie und Rechtslehre betonend z. B. R. Dreier, Recht-Moral-Ideologie, 1981,
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II. Allgemeinheit des Gesetzes
Hegel kritisierte in der Rechtsphilosophie von 1821 erneut den bloß formalen Charakter dieser kantischen 50 a
Konstruktion. Aber damit wollte Hegel nicht hinter das (Vernunft-)Prinzip der Allgemeinheit zurück-
gehen, zumal etwas als Allgemeinheit zu setzen, für Hegel mit dem Begriff des Denkens deckungsgleich
war.61 Eher sollte die formale Allgemeinheit des kantischen Gesetzes mit den konkreten Formen und
Strukturen des „sittlichen Lebens“ vermittelt werden.62 Bei Hegel mutierte das allgemeine Gesetz deshalb
zu einem objektiven Geist der „bestimmten Allgemeinheit“, der sein (paradoxes) Ziel in „konkreter Frei-
heit“ hatte, einem sittlichen Leben unter Einschluss „der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohl-
ergehen der Individuen“.63 Diese „wahrhafte Bestimmtheit“ der Gesetzesform, die das Abstrakte und Leere
des kantischen Gesetzes hinter sich lassen wollte, musste nach Hegel in einem systematischen (nationalen)
Gesetzbuch zum Ausdruck gebracht werden, das sich damit zugleich von bloßen Rechtssammlungen ab-
heben sollte, insbesondere von der „ungeheure(n) Verwirrung“ des Common law und der bloßen „Samm-
lung von Dezisionen“ im römischen Corpus iuris.64 Hegel war also Anhänger einer umfassenden systema-
tischen Kodifikation mit einer Verfassung als höchstem Punkt der Rechtsordnung, wie es die Amerikaner
und Franzosen in ihren jeweiligen Revolutionen bereits im späten 18. Jahrhundert vorgemacht hatten, wie
sie aber in Deutschland noch lange umstritten blieb.
286ff.; W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1996, 183ff.; I. Maus, Zur
Aufklärung der Demokratietheorie, 1992, 271ff.
58
Vgl. Simon (Fn. 46), 380.
59
Darin manifestierte sich schon bei Kant eine – später etwa auch bei H. Kelsen sichtbar werdende –
Staatsfixierung der Rechtslehre. Vgl. nur Kelsen (Fn. 25), 31ff., 34 (Das Recht: Eine Zwangsordnung),
60ff., 64 (Moral als positive Ordnung ohne Zwangscharakter).
60 Kant (Fn. 56), A 33.
61
Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Werkausgabe Bd. 7, 1970, §§ 13,
21.
62 Dazu einflussreich J. Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, insb. 281ff.
63 Hegel (Fn. 61), § 260 Zusatz.
64
Hegel, ebd., § 211.
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§ 2. Normen
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III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn)
70 Larenz (Fn. 1), 271ff.; vgl. auch H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 125, 126.
71 Formulierung in Anlehnung an J. Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskon-
zepts unseres Jahrhunderts, 1979, 7.
72
Vgl. dazu allg. R. Rorty, Der Spiegel der Natur, 1981, 152f. Fn. 4, 288ff. mit der Bemerkung, dass ge-
rade für das kantische Projekt einer Transzendentalphilosophie der Unterschied „mentaler Vorstellun-
gen“ und „sprachlicher Darstellungen“ relativ unwichtig gewesen sei. Zu Kants Vernachlässigung der
Sprachbezogenheit allen Denkens vgl. auch Simon (Fn. 46), 559.
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§ 2. Normen
73
Wittgenstein (Fn. 6), 7 („Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie ver-
woben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen.“).
74
Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 119; S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 2001, 20
(mit dem Saussure-Zitat: „Die Sprache bildet ein System von Zeichen.“).
75 Vgl. dazu Stetter (Fn. 74), 145ff. (mit dem Saussure-Zitat: „Le signe linguistique est arbitraire.“).
76
Simon (Fn. 35), 9; vgl. auch die abweichende Interpretation von Aristoteles, Peri hermeneias, 16a, bei
Stetter (Fn. 74), 300ff.
77 Ausdruck bei K.-H. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 1992, 30. Symbolisch hier verstanden als Zei-
chen, Bedeutung, Sinn, nicht im Sinne des traditionellen, religiös-sakralen Sprachgebrauchs, in dem
das Symbol mit dem Symbolisierten identisch ist, wie z. B. im Fall von Jesus Christus/Gott.
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III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn)
78 Vgl. den Überblick bei Krämer (Fn. 74), 96, 109ff.; M. Sandbothe, Pragmatische Medienphilosophie,
2001, 63ff.
79
Stetter (Fn. 74), 417ff.
80
Wittgenstein (Fn. 6), §§ 197ff.; dazu Stetter (Fn. 74), 571ff.; ders. (Fn. 6), 172ff.; siehe auch Krämer
(Fn. 74), 109ff.
81 Wittgenstein (Fn. 6), § 201.
82
Wittgenstein, ebd., § 206.
83
Krämer (Fn. 74), 133, spricht von einem „naturalistischen Kulturalismus“, vgl. auch 119f.
84 Wittgenstein, Zettel, § 309, hier zitiert nach Krämer (Fn. 74), 134.
85 In teilweise wörtlicher Anlehnung an Krämer, ebd.; zu diesem Komplex auch instruktiv B. van Roer-
mund, Legal Thought and Philosophy, 2013, 241ff.
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§ 2. Normen
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IV. Pragmatisches Regelverständnis
kann nicht auf subjektiver (privater) Ebene entschieden werden. Denn es ist möglich
und kommt häufig vor, dass jemand in seinem Handeln gegen Gepflogenheiten ver-
stößt und zugleich doch subjektiv der Meinung ist, sich regelkonform verhalten zu
haben. Der-Regel-Folgen setzt eine gesellschaftliche Praxis voraus, die entsprechende
Vorbereitungen für die private Aneignung von Regeln bereitstellt. Man kann nicht
nur als Einzelner „privatim“ einer Regel folgen, „weil sonst der Regel zu folgen glauben
dasselbe wäre, wie der Regel folgen.“92
Akzeptiert man die Einsichten des neueren Sprachdenkens und insbesondere die prag- 60
matische Wende des linguistic turn, muss die Rechtstheorie ihre Festlegung auf ein
normatives Regelverständnis überdenken, d. h. die Festlegung auf ein Regelverständ-
nis, in dem dem Sinn einer Regel unabhängig von ihrem praktischen Gebrauch und
den sie ermöglichenden Medien Normativität und Bindunskraft zugeschrieben wird.
Nicht nur als Alltagsnormen, auch als explizite Rechtssätze sind Regeln Teil einer
Sprachpraxis. Die normative Qualität von expliziten Rechtsnormen ist heute nicht zu-
letzt in den Praxisformen juristischer Expertisen und ihren kognitiven und medialen
Infrastrukturen verankert (der wissenschaftlichen Publikation, dem Schriftsatz vor Ge-
richt, den Gutachten usw.), und als explizite Rechtssätze weisen Rechtsnormen schon
auf Grund ihrer Sprachlichkeit keine andere Substanz und Qualität als andere explizite
Regeln auf.93 Dass Rechtsnormen, wie es bei Kelsen heißt, objektiven und nicht nur
subjektiven Sinn zur Geltung bringen und dass alle „Rechtserkenntnis“ schon eine
„rechtliche Selbstdeutung des Materials“ vorfindet,94 ist völlig zutreffend. Die recht-
liche Selbstdeutung des Materials ist jedoch stets das Ergebnis operativen Sprach- und
Mediengebrauchs, empirisch zu beobachtender Kommunikation, nicht aber ist die
Normativität von Rechtsnormen in einer „unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben
(en)“ Unterscheidung von Sein und Sollen verankert.95 Normen sind emergente Phä-
nomene, ihre Explikation und Verfeinerung durch Juristenrecht ist nur auf der Grund-
lage ihrer (vorreflexiven) Verankerung in der Umgangssprache und ihren communities
of practice möglich.
Es wäre also zu erwägen, den juristischen Normbegriff aus der Tradition des abstrakt 61
normativen Regelverständnisses herauszulösen und in einem post-normativen, „pra-
xeologische(n) Regelverständnis“ neu zu verankern.96 Das abstrakt normative Regel-
verständnis ist zu sehr auf statische Vorstellungen von Regelmäßigkeit fixiert, wie sie
in der alteuropäischen Tradition von norma, regula und kanon bis heute tradiert wer-
den und in der Vergangenheit etwa die deterministische Art der universalen Gesetz-
mäßigkeit der praktischen Philosophie Kants und ihrer neukantischen Nachfolger
bestimmt hat. Diese Tradition legt es nahe, Recht auf Normen im Sinne vor-schrei-
bender, zeitstabiler, den Anspruch auf „Maßgeblichkeit“ im Sinne eines Richtmaßes
92 Wittgenstein, ebd., § 202, vgl. auch § 258; zu beiden Paragraphen Stetter (Fn. 6), 174f.
93
Luhmann (Fn. 7), 49 („Eine Beschreibung des Rechtssystems kann deshalb nicht davon ausgehen, daß
Normen ... von anderer Substanz und Qualität sind als Kommunikationen.“).
94 Kelsen (Fn. 25), 3.
95 Kelsen, ebd., 5 Fn. 1 [Hervorhebung von mir, T. V.].
96
Begriff bei Krämer (Fn. 74), 130.
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§ 2. Normen
in sich tragender Formen zu reduzieren.97 Dominant bleibt hier die auch von Kant so
geschätzte gerade/krumm-Metaphorik, Worte wie „Maßstab“, „Richtlinie“ und
„Richtschnur“, der Rekurs auf Instrumente der Baukunst, von dem das griechische
Wort kanon und sein semitisches Lehnwort qaneh letztlich abgeleitet sind; bezeichnete
das Wort qanu doch bereits in der babylonisch/assyrischen Sprache eine Rohrart
(arundo donax), die zur Herstellung gerader Stangen und Stäbe geeignet war.98 Rechts-
normen bilden sich in der modernen (liberalen) Gesellschaft, die auf dauernden Wan-
del angelegt ist, aber erst im Vollzug eines „Sprachspiels“, also erst durch eine erfolg-
reiche Rechtspraxis, „in der Handlungen und Urteile erprobt und in ihrem
Zusammenhang beobachtet werden“.99
62 Regel und Regelgebrauch fallen auch in einem praxeologischen oder pragmatischen
Regelverständnis nicht zusammen. Sie sind jedoch netzwerkartig miteinander ver-
knüpft und werden durch ihre vorherige und spätere Praxis getragen. Sie bilden zwei
Seiten einer Form, in der die Rechtsnorm sowohl Produkt wie Voraussetzung ihres Ge-
brauchs ist. Kybernetisch formuliert: Der Normgebrauch, das Benutzen und Zitieren
einer Norm, generiert eine Rückkopplungsschleife, die eine Pfadabhängigkeit zur
Folge hat (herrschende Meinung), bis zu dem Punkt, an dem die herrschende Mei-
nung neue Anschlussmöglichkeiten eröffnet und damit Variationen vom bisherigen
Ordnungsmuster möglich werden. Regeln ändern sich im Vollzug ihrer Praxis laufend
selbst, ohne einfach Unordnung zu erzeugen. Damit wird vor allem der Primat der
Rechtsnorm gegenüber ihrem Gebrauch aufgegeben, die Vorstellung voneinander zu
trennender Stufen oder Ebenen des Rechts, in der die Anwendung und Interpretation
von Rechtsnormen stets nachrangige oder mit innerer Notwendigkeit folgende syllo-
gistische Schlusshandlungen sind (vgl. Rn. 194).
63 Halt könnte das pragmatische Regelverständnis u. a. am Auftreten neuer Formen der
Prozeduralisierung und rekursiven Vernetzung des Rechts finden. Die Probleme, auf
die beispielsweise die neuen Schichten des Verwaltungsrechts reagieren, sind in hohem
Maße Probleme des Umgangs mit Phänomenen der Ungewissheit.100 Diese Probleme
versucht das Verwaltungsrecht aber nicht durch eine an zeitstabilen Maßstäben orien-
tierte Gesetzgebung zu bewältigen, sondern gerade durch Flexibilisierung solcher
Maßstäbe. Gemeint sind vor allem neue experimentelle Formen eines Lernprozesse ar-
rangierenden Rechts, Formen der laufenden kybernetischen „Nachsteuerung“, rück-
koppelnde Verfahren der Lektüre der Praxistauglichkeit von Recht, wie man sie etwa
im Technikrecht oder in der Risikoregulierung findet. Dazu treten horizontale Orga-
nisations- und Verfahrensarrangements, in denen Prozesse wechselseitiger Fremd- und
Selbstbeobachtung institutionalisiert werden, wie z. B. im Fall der Preisregulierung in
der Telekommunikation (§§ 10ff. TKG – europäischer Regulierungsverbund). Dieser
Entwicklungssprung führt gerade im Bereich der politischen Gesetzgebung weg „von
juristischer Deduktion anhand relativ statischer Normprogramme hin zu einem Ge-
97
So z. B. Larenz (Fn. 1), 190 („Maßstab“); ähnlich G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, 45
(„... Rechtsnormen in ihrer Urgestalt die Natur von Maßstäben haben, an denen das Zusammenleben
der Einzelnen gemessen wird“).
98
J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1992, 107; zur Begriffgeschichte von kanon, regula, norma vgl.
auch H. Oppel, KANWN, Philologus 4 (1937).
99 Ladeur (Fn. 31), 2.
100 Vgl. etwa W. Hoffmann-Riem, Eigenständigkeit der Verwaltung, 2012, Rn. 113; und die Beiträge in
I. Augsberg (Hrsg.), Ungewißheit als Chance, 2009.
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IV. Pragmatisches Regelverständnis
setzestyp, der auf die Verarbeitung von Ungewissheit angelegt ist und Selbstbeobach-
tung und -evaluation eines offenen Normprogramms institutionalisiert. Die ursprüng-
liche, auf Gewissheit im Entscheidungszeitpunkt angelegte Gesetzeskonzeption, ent-
wickelt sich zunehmend zur flexiblen rechtlichen Plattform.“101
Anstatt die Produktivität der Rechtstheorie durch einen Sollens-Normativismus zu 64
blockieren, der sich stets nur historisch, bei Kant oder Kelsen, zu vergewissern weiß,
muss sich die Rechtstheorie darauf einstellen, dass das moderne Recht nur in einge-
schränktem Umfang mit Befehlen und Konditionalprogrammen operiert. Eine aus-
schließliche Verknüpfung von Rechtsnorm, Rechtsbefehl und Konditionalschema hat
es vermutlich nie gegeben, jedenfalls ist sie längst zugunsten flexiblerer Formen der
Gesetzgebung und Regulierung relativiert worden, in denen nicht mehr Befehl und
Zwang, sondern andere Ressourcen der „Verhaltensregulierung“ in den Vordergrund
gerückt sind. Hier kann man auch an die neuere – im Staats- und Verwaltungsrecht
geführte – steuerungstheoretische Diskussion anschließen. Diese bleibt zwar einer
allzu engen Steuerungsperspektive verhaftet, die sich bis heute nur punktuell von der
tradierten Vorstellung der Gesetzesanwendung gelöst hat,102 sie hat aber gezeigt, dass
neben die vertrauten Formen des verwaltungsförmigen Gesetzesvollzugs beispielsweise
Verfahren regulierter Selbstregulierung getreten sind, „‚indirekte‘ Steuerungsformen,
wie etwa das Setzen ökonomischer Anreize oder die Beeinflussung von Handlungs-
kontexten durch Rahmenvorgaben und Spielregeln“.103 Um diese Veränderungen an-
gemessen verarbeiten zu können, ist es nicht zuletzt notwendig, die Gerichtszentrie-
rung der Normentheorie zu relativieren, d. h. ihre ausschließliche Ausrichtung auf das
Tätigkeitsfeld der Richterin oder des Richters.
Diese Entwicklung legt es darüber hinaus nahe, nach Möglichkeiten einer stärkeren 65
Verknüpfung des Regelbegriffs mit „kognitiven Mechanismen der Wissenserzeugung“
zu suchen.104 Es wäre also zu erwägen, Rechtsnormen als einen Handlungstypus regel-
hafter Informationsverarbeitung unter Ungewissheitsbedingungen zu konzipieren. Im
Begriff der Rechtsnorm wird Regelmäßigkeit (Redundanz) zunächst in Form eines
hierarchisch abgeschichteten Wissens verankert, mit der Möglichkeit des wiederholten
Abrufens/Anwendens einmal gespeicherter Informationen (Regelanwendungsmodell).
Dagegen treten heute zunehmend konnexionistische Muster der Wissenserzeugung an
die Stelle des alten Regelanwendungsmodells. Was auch im neuen kybernetischen
Rückkopplungsmodell bleibt, ist die „Notwendigkeit der Bindung von Ungewissheit
jenseits der Möglichkeit der Reproduktion einer Tradition“.105 Die Normentheorie
muss aber in Zukunft auch darauf reagieren, dass diese Bindung nicht über zeitstabile
Maßstäbe erreicht werden kann und das Normative der Rechtsnorm möglicherweise
schon immer ein Effekt praktischen (impliziten) Wissens war, auch wenn erst die
101
K.-H. Ladeur/T. Gostomzyk, Der Gesetzesvorbehalt im Gewährleistungsstaat, Die Verwaltung 36
(2003), 141ff., 166.
102
Vgl. dazu etwa C. Franzius, Funktionen des Verwaltungsrechts im Steuerungsparadigma der Neuen
Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 39 (2006), 335ff., 343 („Jedoch sollten Setzung und
Anwendung von Recht nicht im Sinne strikter Funktionsdifferenz verstanden werden.“).
103
W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, 2012,
Vorwort zur ersten Auflage, IX; vgl. auch A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, 2012, § 1
Rn. 10ff. („Krise“ des Ordnungsrechts).
104 Ladeur (Fn. 30 – Negative Freiheitsrechte), 12, vgl. auch 56ff.
105
Ladeur (Fn. 31), Vorwort.
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§ 2. Normen
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Radbruch (Fn. 97), 34.
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§ 3. System I
Rechtssystem nennt man im 19. Jahrhundert und teilweise noch heute eine nach Prinzi- 67
pien geordnete Ganzheit des Rechts, die zu „innere[r] Einheit“ gefügte, aus Rechtsnor-
men und Institutionen bestehenden Rechtsordnung.1 „Innere Einheit“meint dabei eine
ganz spezifische Anordnung des Rechtsstoffes, nämlich die Relationierung aller Rechts-
normen und Institutionen nach höheren und niederen Rängen, mit einem höchsten
Rang als Abschluss oder Spitze. Dieses hierarchische Modell hat sich gegenwärtig im Be-
griff der „Normenpyramide“ durchgesetzt; manchmal wird – in Anknüpfung an Kel-
sen – auch von „Stufen“ oder von einem „Stufenbau der Rechtsordnung“ gesprochen.2
Danach steht z. B. in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland „die Verfas-
sung an der Spitze, ihr folgen das Gesetz, die Rechtsverordnung und die Satzung“.3 Die-
ses Schema ist als operative Prämisse auch in der Rechtspraxis präsent.4 Vor allem die
Gerichte arbeiten bei ihren Entscheidungen mit einer hierarchischen Abschichtung
von Rechtsnormen (Normenhierarchie) auch wenn das Hierarchieschema inzwischen
an Leistungsgrenzen zu stoßen scheint, wie beispielsweise das nicht abschließend
geklärte Verhältnis der Grundrechte des Grundgesetzes zu den Grundfreiheiten der
Europäischen Union bzw. zu den Menschenrechten der EMRK zeigt.5
Woher kommt der Gedanke, dass das Recht ein nach Rängen oder Stufen geordnetes 68
Ganzes sei, ein hierarchisch gegliedertes „inneres“ System? Das juristische System-
denken lässt sich am besten über den Kodifikationsgedanken bzw. das Kodifikations-
recht des 19. Jahrhunderts erschließen. Das Kodifikationsrecht des 19. Jahrhunderts
strebte – vor dem Hintergrund der sich auf dem europäischen Kontinent bildenden
Nationalstaaten – eine umfassende Neuordnung des „gesamten Rechts“ an. Dieser
Prozess hatte in den modernen Verfassungsurkunden im Amerika und Frankreich des
späten 18. Jahrhunderts einen ersten Vorläufer und realisierte sich erstmals in den gro-
ßen Gesetzbüchern in der Folge der französischen Revolution von 1789,6 im Code civil
(1804), Code de commerce (1806), Code de procédure civile (1807) und Code pénal
(1810). Nach Ansicht Max Webers brachte Kontinentaleuropa damit ein drittes gro-
ßes Weltrecht hervor, das Recht der „rationalen Gesetzgebung“.7 Vom Common law,
1 Vgl. nur F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, 433ff. (Dort heißt es mit Bezug auf die
Pandektenwissenschaft: „Eine gegebene Rechtsordnung ist stets ein geschlossenes System von Institutio-
nen und Rechtssätzen.“); für die heutige Sichtweise C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in
der Jurisprudenz (1969), 1983, 11ff., 13ff. („innere Einheit der Rechtsordnung als Grundlage des juris-
tischen Systems“).
2 H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 228ff.
3
H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, 70f.; vgl. auch H. Dreier, Hierarchische Verwaltung
im demokratischen Staat, 1991, 2ff., 141ff.
4
Vgl. G. Teubner, Des Königs viele Leiber, Soziale Systeme 2 (1996), 229ff., 234 Fn. 4.
5 Vgl. dazu nur W. Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte,
EuGRZ 2002, 473ff.
6
Zum Systemanspruch des modernen Verfassungsrechts vgl. nur D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung,
1991, 31ff., 34f., 60 (Verfassungen erheben im Unterschied zu älteren vertraglichen Bindungen den
Anspruch, „die Herrschaftsausübung umfassend zu normieren“).
7 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 496 (Im Code civil und den anderen Kodifikatio-
nen realisierte sich die Tatkraft einer „spezifischen Art von Rationalismus: des souveränen Bewußtseins“,
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§ 3. System I
das inkrementell aus der juristischen Praxis hervorgegangen war, und vom römischen
Juristenrecht unterschied sich das Kodifikationsrecht nach Weber durch die in ihm zur
Vollstufe gesteigerten „formalen Qualitäten“.8 Darunter verstand Weber eine systema-
tische Bearbeitung des Rechtsstoffes: die Relationierung aller Rechtsbegriffe und
Rechtsnormen derart, „daß sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch wider-
spruchsloses und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden“.9
69 Der Anspruch auf Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit, der den französischen
Code civil seit dem frühen 19. Jahrhundert für ganz Europa zum Vorbild gemacht
hatte,10 bestimmte auch die gesamtdeutsche Gesetzgebung seit der Reichsgründung
von 1871, vor allem das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 (BGB).11 Ja, noch deut-
licher und reiner als der Code civil ist das BGB von der Idee einer abschließenden
und erschöpfenden Aufzeichnung aller privatrechtlichen Normen und Institutionen
geprägt. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das BGB gemeinsame begriffliche
Merkmale der Rechtsverhältnisse konsequent vor die Klammer zieht (so vor allem im
1. und 2. Buch) und diese gemeinsamen Merkmale der Rechtsverhältnisse als allge-
meinen Teil den besonderen Regeln des Privatrechts vorordnet. Diese hierarchische
Abschichtung von Allgemeinem und Besonderem wird im BGB zwar mit dem Nach-
teil erkauft, dass die Kohärenz der verschiedenen Bücher untereinander nicht immer
klar ist; man denke nur an den Ausschluss der Irrtumsanfechtung nach § 119 Abs. 2
BGB durch die lex specialis des Kaufmängelrechts der §§ 434ff. BGB. Sehr viel kon-
sequenter als andere Kodifikationen erreicht das BGB dadurch aber eine hohe begriff-
liche Disziplin und systematische Durchbildung des gesamten (privatrechtlichen)
Rechtsstoffs.
70 Die begriffliche Disziplinierung und systematische Durchbildung des Rechtsstoffs
entsprach dem Anspruch des Kodifikationsrechts, Gesetzgebung aus einem Guss zu
sein, eben Gesetzbuch und nicht Loseblattsammlung oder Onlinepublikation mit lau-
fenden updates. Das BGB stellt vielleicht keine abschließende Antwort auf alle juristi-
schen Fragen in Aussicht, aber die Form des systematischen Gesetzbuches ermöglichte
der Rechtspraxis davon auszugehen, dass eine solche Antwort prinzipiell im Gesetz-
buch gefunden werden konnte; noch heute schlagen deshalb Examenskandidaten
nach der Frage des Prüfers in der Regel als erstes das Gesetzbuch auf. Webers Charak-
terisierung des juristischen Systems als widerspruchsfrei und prinzipiell lückenlos fängt
daher eine der wesentlichen Intentionen der Kodifikationsidee des 19. Jahrhunderts
ein, auch wenn die „innere Einheit“ des Privatrechts bei genauerer historischer Be-
trachtung weder in Frankreich noch in Deutschland jemals tatsächlich realisiert
wurde. In Deutschland waren wesentliche Teile des Privatrechts wie etwa das Handels-
ein „rein rational ... von allen historischen ‚Vorurteilen‘ freies Gesetz, Benthams Ideal entsprechend“);
vgl. auch Wieacker (Fn. 1), 339ff., der den Code civil allerdings zu unspezifisch unter die „Naturgesetz-
bücher“ subsumiert; anders z. B. K. Zweigert/H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1996,
84ff., die die Unterschiede zwischen Code civil und preußischem Allgemeinem Landrecht stärker beto-
nen.
8 Weber (Fn. 7), 496; vgl. auch 503ff.
9
Weber, ebd., 396. Weber sprach – in Übereinstimmung mit dem juristischen Sprachgebrauch seiner
Zeit – auch von einer spezifisch systematischen Aufgabe des Rechtsdenkens.
10 Dazu Zweigert/Kötz (Fn. 7), 97ff.
11 Vgl. nur Weber (Fn. 7), 494f. (dort wird das BGB allerdings nur indirekt angesprochen); Wieacker
(Fn. 1), 468ff.
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I. Einheit und Hierarchie des Rechts
recht und der gewerbliche Rechtsschutz von vornherein in besondere Gesetze ausge-
gliedert; und gerade die inhaltlich strittigen Materien, die aus dem Aufstieg der indus-
triellen Massengesellschaft mit ihrer Spaltung in Arbeit und Kapital herrührten, So-
zialrecht und Arbeitsrecht, wurden, wenn überhaupt, erst sehr viel später kodifiziert.
Die kodifikationsrechtliche Idee einer rationalen Systematik des „gesamten Rechts“ 71
diente zugleich der Begründung der Autonomie des bürgerlichen Rechts. Nur wenn
man Prinzipien, Grundsätze oder sogar eine einzige, die Einheit des Systems tragende
Rechtsidee von rangniedrigeren einfachen Rechtssätzen unterscheiden kann, ist eine
Rang-, Ebenen- oder Stufenordnung innerhalb eines Systems mit einer Spitze oder
Abschlussformel möglich. Der Begriff des Systems wiederum ist nicht ohne die Unter-
scheidung von innen (System) und außen (Umwelt) zu haben, folglich setzt jede Vor-
stellung eines autonomen Rechtssystems, einer „inneren Einheit“ des Rechts, Unab-
hängigkeit gegenüber allen rechtsfremden Normen voraus, insbesondere Autonomie
gegenüber historisch gewachsenen gesellschaftlichen Regelbeständen und praktisch er-
probten Konventionen. Was das heißt, lässt sich gut an einem bekannten Rechtsfall
der preußischen Geschichte verdeutlichen: Dem Müller Arnold, dessen in Erbpacht
betriebene Mühle ohne Rechtsgrund zwangsversteigert worden war, wurde der An-
spruch auf Schadensersatz verweigert, weil die Zwangsversteigerung auf Betreiben des
Grafen Gottfried Heinrich Leopold von Schmettau erfolgte, in dessen Eigentum die
Mühle stand. Eine Gleichbehandlung von Müller und Graf hätte u. a. eine von ständi-
schen Interessen und Einflussmöglichkeiten unabhängige Justiz anstelle der in Preu-
ßen um 1780 noch üblichen Patrimonialgerichtsbarkeit erforderlich gemacht. Das sys-
tematische Kodifikationsrecht musste sich von diesen (und anderen) vorgegebenen
Traditionen der Adelsgesellschaft befreien, wenn es sich als autonom, als selbst gesetz-
gebend beschreiben wollte. Nur dann war eine Gleichbehandlung von Graf und Mül-
ler, von Personen ganz unterschiedlichen Standes, in prozessualer wie materiell-recht-
licher Hinsicht überhaupt denkbar.
Die Sicherung der Autonomie des Systems erfolgte in der Rechtswissenschaft des 72
19. Jahrhunderts maßgeblich durch den Freiheitsbegriff bzw. den Begriff des freien
Willens. Als Gründungsfigur hatte der Freiheitsbegriff vor allem die Aufgabe, das Sys-
tem von der Kontinuität der Tradition abzulösen. Aber sobald ein System auf der
obersten Stufe Freiheit, Unabhängigkeit von der Tradition und ihren Autoritäten, zu-
lässt, kommt ein „Punkt höchster Unsicherheit und letzter Unentscheidbarkeit“ zum
Vorschein:12 die hierarchische Systemarchitektur korreliert mit Kontingenz an ihrer
Spitze. Dieses Problem tauchte im Systemdenken und im Kodifikationsrecht des
19. Jahrhunderts allein deshalb nicht auf, weil der freie Wille stets als vernunftgeleite-
ter Wille vorausgesetzt wurde. Schon seit der frühen Neuzeit war der Wille, den man
zunächst Gott zugeschrieben hatte, auf den Fürsten umgeleitet worden, später – im
Zuge der Bildung von größeren Flächenstaaten wie etwa Frankreich – auf den König;
der König war aber per se gerecht, ansonsten galt er als Tyrann, gegen den Widerstand
rechtmäßig war. An diese Rationalitätsunterstellung knüpfte noch das moderne Na-
turrecht an. Rousseau etwa versuchte die Willkür an der Spitze des Systems durch die
(ambivalente) Überordnung der volonté générale über die volonté de tous zu binden,
durch einen auf das Volk als Totalität projizierten Gemeinwillen, der auf Grund der
ihm immanenten Allgemeinheit nicht irren und sich selbst kein Unrecht zufügen
12
N. Luhmann, Die Rückgabe des 12. Kamels, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), 3ff., 60.
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§ 3. System I
konnte. Eine andere Lösung favorisierte Kant. Kant lenkte die mögliche Willkür an
der Spitze des Systems auf ein „transzendentales Feld ..., innerhalb dessen sich der
Wille selbst konstituiert“,13 als allgemeingültiges Gesetz aus Grundsätzen a priori, die
ihrerseits aus dem Faktum der Vernunft folgten. Infolgedessen blieben Freiheit und
Autonomie im juristischen Systemdenken des 19. Jahrhunderts immer an eine
„fremde“ Vernunft gebunden, die hier – wie bei Kant – durch das System als Subjekt
der Vernunft bzw. Träger allgemeiner Gesetze repräsentiert wurde. Das zeigt sich z. B.
in der engen Verschränkung von subjektivem und objektivem Recht bei Friedrich Carl
v. Savigny. Das Recht einer Person wird bei Savigny als die ihr zustehende Macht in
einem Gebiet, „worin ihr Wille herrscht“, definiert, aber diese Befugnis zur Herrschaft
des Willens ist keine beliebige, sondern wiederum von einer allgemeinen Regel, vom
„Recht schlechthin“, abhängig.14
II. Systembegriff
1. In der Naturphilosophie
73 Mit dem Aufkommen der Naturphilosophie (philosophia naturalis) im 17. Jahrhundert
gingen wissenschaftliches Denken und Erfahrung eine neue Beziehung ein, mit der sich
Charakter und Stellenwert von Wissenschaft und damit auch der Charakter wissen-
schaftlicher Methoden grundlegend in Richtung einer systematischen Beweisführung
veränderten. Nachdem sich erste Ansätze zu einer stärker systematischen Ordnung des
wissenschaftlich relevanten Materials schon im Humanismus angekündigt hatten, ins-
besondere in der logisch-dialektischen Methode von Petrus Ramus (1515–1572), stieg
das wissenschaftliche Verfahren in der Naturphilosophie – etwa bei Autoren wie Galilei,
Gassendi, Descartes, Hobbes und Spinoza – in den Rang einer (unhintergehbaren) Vor-
aussetzung für die Erkenntnis der Wahrheit der Dinge auf. So heißt es etwa in einer
1701, nach dem Tode Descartes’ erschienenen Frühschrift: Necessaria est methodus ad
rerum veritatem investigandam. Notwendig ist das Verfahren, um der Wahrheit der
Dinge auf die Spur zu kommen.15 Das wissenschaftliche Vorgehen oder Verfahren, die
certitudo modi procedendi, bestimmte von nun an, wie die Natur der Dinge zu sehen war,
nicht mehr die certitudo obiecti, die nur in bestimmten, unveränderlichen (meist meta-
physischen) Gegenstandsbereichen eine Repräsentation des Seins im Denken und
damit sicheres („apodiktisches“) Wissen zugelassen hatte. Wegen der damit einher-
gehenden Ausdehnung mathematischer (konstruktiver) Erkenntnisverfahren auf das
Studium der Naturphänomene ist die philosophia naturalis später auch als „exakte
Wissenschaft“ oder „mathematische Naturwissenschaft“ bezeichnet worden.16
13 R. Esposito, Communitas, 2004, 100. Die neuere politische Philosophie – wie J. Rogozinski, Le don de
la Loi, 1999, 91 – sieht daher das kantische Gesetz am Ursprung der Gemeinschaft, als Urform, Urgabe
(archidonazione) oder als Selbst-Gebung des Gesetzes (l’auto-donation de la Loi). Das ist auch die Auf-
fassung der Phänomenologie in Bernhard Waldenfels‘ Schattenrisse der Moral (2006).
14 F. C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, 7, 9; in der Pandektenvorlesung
von 1824/25, 1993, 15, heißt es ähnlich: „Recht im subjectiven Sinne ist das was durch allg: Regel als
dem Willen des einzelnen unterworfen, anerkannt und geschützt wird.“
15
Hier zitiert nach M. Heidegger, Die Frage nach dem Ding (1935/36), 1987, 79. Zu Ramus’ dialekti-
scher Methode vgl. W. J. Ong, Ramus, 1958, 171ff., 225ff.
16 Etwa bei P. Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik, 1990, 149 („mathematische Naturwissen-
schaft“); E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit
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II. Systembegriff
Zirkulär mit der neuen Methode verknüpft war in der frühneuzeitlichen Naturphilo- 74
sophie die Auffassung, dass die Welt in ihrer Gesamtheit sie determinierender univer-
saler Gesetzmäßigkeiten unterworfen sei. Dazu wurde der Gesetzesbegriff erstmals mit
Kriterien wie Unveränderlichkeit und Notwendigkeit angereichert und auf das Stu-
dium der Bewegung materieller Körper im Raum angewandt; und damit wurde die
Bewegung zum Studienobjekt von Veränderung (gr. metabolé) überhaupt. Das ge-
schah zunächst im Bereich der Bewegung von Himmelskörpern, später wurde der Ge-
setzesbegriff auf alle Körperbewegungen im Raum ausgedehnt. Schon Kepler hatte
Himmel und Erde ein „System“ gleicher Bewegungsgesetze genannt, und Galilei ver-
teidigte die von ihm durchgeführte Vereinheitlichung aller Arten von Körperbewegun-
gen zu einer einzigen kinematischen Theorie mit dem Argument, dass das Buch der
Natur überall in der gleichen mathematischen Sprache, den Buchstaben der Kreise,
Dreiecke und anderer geometrischer Figuren geschrieben sei.17 Newtons Philosophia
naturalis principia mathematica von 1687 bildet dann den vorläufigen Abschluss des
neuen, um die Bewegung von Körpern zentrierten Denkens. Newton definiert zu-
nächst physikalische Grundbegriffe wie Materie (quantitas materiae), Bewegung (mo-
tus) und Kraft (vis), dann Grundsätze oder Gesetze von Bewegungen (axiomata sive le-
ges motus). Daraus leitet er Lehrsätze über verschiedene Bewegungsarten (de motu
corporum) ab, die in drei Bewegungsgesetzen verdichtet werden, zu denen u. a. das
Trägheitsprinzip gehört, demzufolge ein Körper in einem Zustand der Ruhe oder der
gleichförmig geradlinigen Bewegung verharrt, solange keine äußere Kraft auf ihn ein-
wirkt. Dies alles wird im dritten und letzten Buch der Principia, im „Newtonschen
System“ des Universums, zusammengeführt; das Universum wird jetzt als Ganzes von
der Gravitation durchherrscht, einer universalen Gesetzmäßigkeit, die ebenso für den
fallenden Apfel an einem beliebigen Ort in England wie für die Bahnen der Gestirne
noch in der letzten Galaxie gilt.18 Die Naturphilosophie führte mit anderen Worten zu
einem System mit Absolutheitsanspruch, zu einem System, das in seinem Medium,
dem gedruckten Buch, eine universelle Gültigkeit der von ihr entdeckten Gesetzmä-
ßigkeiten (Bewegungsgesetze) einforderte.
Der Name „System“ stammt aus dem Altgriechischen (tò systema) und bedeutete dort wörtlich der Zusam- 75
menstand, das Zusammengestellte, auch das Zusammengesetzte.19 Mit dem zugrundeliegenden Verb be-
zeichnete man Tätigkeiten wie aufstellen, hinstellen oder etwas errichten. Verb wie Substantiv verwiesen
anfänglich auf elementare Praktiken der Baukunst, wie etwa der Anordnung von Säulen in einem Tempel.
Später bezog sich der Systembegriff hauptsächlich auf Beziehungen zwischen dem Ganzen und seinen Tei-
len und wurde dementsprechend auf zusammengesetzte Gebilde aller Art angewandt, nicht nur auf Tem-
pel, die aus Säulen bestanden, sondern auch auf Menschen, Tiere, Pflanzen, Wasser, aber auch auf die Stadt
(1922), 1991, 314ff. („exakte Wissenschaft“). Zur Entstehung der Naturphilosophie aus wissenschafts-
historischer Sicht P. Rossi, Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, 1997, insb. 94ff.;
I. B. Cohen, Revolution in der Naturwissenschaft, 1994, 167ff.
17
Im Saggiatore von 1637 heißt es: „Die Philosophie ist in jenem großen Buch geschrieben, das ständig
offen vor unseren Augen liegt (ich meine das Universum); dieses Buch kann man aber nur verstehen,
wenn man vorher die Sprache und die Buchstaben gelernt hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in ma-
thematischer Sprache geschrieben, und die Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische
Figuren, und ohne diese Hilfsmittel ist es Menschen unmöglich, auch nur ein Wort davon zu begrei-
fen.“ Hier zitiert nach Cohen (Fn. 16), 214. Dazu instruktiv H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt,
1981, 71ff.
18 M. Riedel, System, Struktur, in: Geschichtliche Grundbegriffe, 2004, 285ff., 295; vgl. auch Cohen
(Fn. 16), 242ff., 245f.; Rossi (Fn. 16), 309ff.
19
Dazu und zum Folgenden ausführlich Riedel (Fn. 18), 285ff.
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§ 3. System I
(polis), den Zusammenschluss mehrerer Städte, eine Herde von Tieren, ein Heer von Soldaten oder Pries-
terkollegien. Als Indikator eines Unterschieds, eines Mehr des Ganzen gegenüber seinen Teilen, war der
Systembegriff in der griechischen Philosophie aber nicht oder allenfalls schwach ausgebildet. Der System-
begriff verwies vorwiegend auf Ganzheiten bzw. Gesamtheiten, die sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in
ihren Teilen als natürlich gegeben galten. So war beispielsweise das Leben in der Stadt eine Einrichtung der
Natur; aber auch die Rangunterschiede zwischen Bürgern und Sklaven, Männern und Frauen, Vätern und
Kindern, wurden als von der Natur gegeben angesehen. Das System war kein Begriff, der etwa die polis als
abstrakte, von ihren Einwohnern abgelöste Einheit bezeichnet hätte, wie heute der Begriff der juristischen
Person eine künstliche oder fiktive Einheit oder Zuschreibungsadresse denominiert. Die Beschreibung von
Objekten wurde durch den Systembegriff lediglich in das Ganze und seine Teile verdoppelt, während die
Frage, wie denn ein Ganzes seine Einheit herstellt und reproduziert, durch die Unterstellung natürlicher
(„ontologischer“) Hierarchien beantwortet wurde. Aristoteles beispielsweise verglich die Stadt mit dem
Menschen und argumentierte, dass nicht nur der menschliche Körper von seinem beherrschenden Teil be-
stimmt werde, sondern auch die polis selbst.20
Mit der Unterstellung natürlicher Hierarchien korrespondierte in der griechischen Philosophie eine Vor-
rangstellung der Metaphysik gegenüber allen anderen Arten von Wissenschaft. Namentlich für Aristoteles
war Metaphysik, nicht aber etwa Physik und Mathematik, erste Philosophie (gr. ton metà tà physicá, lat.
prima philosophia).21 Diese Rangordnung gründete in der Überzeugung, dass es jenseits der veränderlichen
empirischen Natur, der natürlich bestehenden Dinge, eine unveränderliche, nicht-empirische Substanz
gab, eine Sphäre der Transzendenz, des Metaphysischen. So musste z. B. die Bewegung eine stabile unver-
änderliche Anfangsursache haben, und dies hatte sie nach Aristoteles in der Existenz eines ewigen, unbe-
weglichen Bewegers. Erst hier, in der Erkundung der ersten unveränderlichen bzw. notwendigen und
gleich bleibenden Prinzipien, erreichte die Philosophie – als Metaphysik – ihre höchste und würdigste
Form. Das Transzendente war einer streng demonstrativen Erfassung durch Theorie besonders zugänglich,
während die Welt der empirischen Erscheinungen, etwa das Leben in der Stadt, als veränderlich und flüch-
tig galten und sich daher nicht in gleichem Maße in der Form sicheren („apodiktischen“) Wissens erfassen
ließen.
Mit zunehmendem Einfluss des Christentums wurde die aristotelische Metaphysik in Richtung einer All-
macht der Seele Gottes umgebaut. Das führte zu der für das christliche Mittelalter zentralen Vorstellung,
dass die Welt wie eine Pyramide über unterschiedliche Seinsebenen hierarchisch gegliedert sei, über eine
stationäre Verteilung von Positionen verfüge und in der Autorität Gottes ihr Zentrum und ihren Stifter
habe.22 Diese Weltbeschreibung bestimmte auch das mittelalterliche Naturrecht, dessen Grundlage eine
von der Natur gestiftete Gerechtigkeit war. Die Natur teilte die Aufgaben und die Plätze in der Gesellschaft
selbst zu, und die Gerechtigkeit bzw. das Recht waren daran zu messen, dass sie diese natürliche Ordnung
beachteten (iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi).23 Damit erstreckte sich die
Natur als Ordnung gleichsam in das gesellschaftliche Leben hinein. Eine besondere Rolle des Systembe-
griffs zur Beschreibung von Gesellschaft und Recht war auch im frühen und hohen Mittelalter nirgends
in Sicht. Der christliche Glaube, im Alten und Neuen Testament aufgeschrieben, kannte kein System. Er
ließ lediglich die Darstellungsform der „Summa“, des „Corpus“, des „Compendium“ oder der „Synopsis“
zu. Auch beim Corpus iuris civilis handelte es sich um einen „Corpus“ von Rechtsregeln und nicht um ein
20
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1168b 31–33. Das Argument taucht später bei Thomas von Aquin
wieder auf; vgl. auch den Kommentar von O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3
(1873), 1954, 555 („... gelangt so zu dem Satze, daß jeder gesellschaftliche Körper eines herrschenden
Theiles (pars principans) bedarf ...“).
21
Aristoteles, Metaphysik, 1026a.
22
Vgl. nur E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen Bd. 1 (1912), 1994, 320
(„Und so erhebt sich über dem Ganzen mit dem religiösen Zentralzweck die religiöse Autorität als die
eigentliche Seele der ganzen menschlichen Gesellschaft in all ihren Stufen und Gruppen, die ... das
Ganze selber in seinen Grundverhältnissen leitet und bedingt, um jeden auf seine Weise und an seinem
Ort an dem ewigen Zwecke seinen entsprechenden Anteil finden zu lassen.“); ähnlich v. Gierke
(Fn. 20), 555.
23 So wird der Satz aus den Digesten 1.1.10. jedenfalls im Mittelalter interpretiert. Vgl. G. Post, Studies in
Medieval Legal Thought, 1964, 494ff., 540; vgl. auch N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993,
518.
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II. Systembegriff
System im neuzeitlich-modernen Sinn.24 Allerdings dürfte der Monotheismus des Christentums – über die
Bibel als kanonisches Buch – durchaus zum Aufstieg von Einheitsvorstellungen in den verschiedensten
Sinnfeldern der europäischen Gemeinschaft und damit auch im Recht beigetragen haben.
Dem griechischen Denken war neben dem Systembegriff auch der Begriff des Gesetzes als nomos vertraut. 76
In der Bedeutung von oraler Tradition, Gewohnheit, Sitte, Brauch lässt sich das Wort nomos bereits in ar-
chaischer Zeit – bei Hesiod – nachweisen;25 die Sophisten, z. B. Antiphon, setzten nomos dann stärker in
Differenz zu physis (Natur, von Natur aus).26 Alle Menschen greifen mit den Händen (physis). Benutzt aber
jemand seine Hände, um ein Schaf zu stehlen, widerspricht das zwar nicht der Natur, verletzt aber mög-
licherweise ein schriftlich erlassenes Gesetz (nomos). Die Bedeutung von nomos als schriftlich erlassener
und verbindlicher Norm stabilisiert sich vermutlich um 500 (im Umfeld der Kleisthenischen Reformen),
auch im klassischen Athen wurde nomos im Sinn von Schriftgesetz gebraucht.27 Für Aristoteles waren no-
moi jene Regeln oder Gesetze einer Stadt, die entweder auf bloßer Anordnung beruhten, nur für einzelne
Fälle getroffen wurden oder das Resultat örtlicher Beschlussfassung (Plebiszite) waren.28 Die nomoi ergänz-
ten das tradierte Naturrecht, ja sie standen in einem Gegensatz zur Natur und zur natürlichen Perfektion.29
Der Gesetzesbegriff war damit aber von vornherein in einem Bereich angesiedelt, in dem auf Grund der
Unvorhersehbarkeit der Ereignisse kein wirklich sicheres Wissen möglich war. Der Zugang zu allgemein-
gültiger Gesetzmäßigkeit war im Bereich des politisch-praktischen Lebens gerade dadurch versperrt, dass
hier – im Unterschied zur Natur – immer auch alles anders sein konnte.30
Der römische Gesetzesbegriff hatte wie der griechische nichts mit der modernen Vorstellung eines allge-
meinen Gesetzes zu tun. Das römische Gesetz (lex) der frühen Zeit war situatives Recht, im Unterschied
zum alten, seit unvordenklichen Zeiten geübten Stadtrecht (ius civile).31 Auch die Gesetze der Republik
waren in hohem Maße Maßnahmegesetze oder leges ad personam, politische Ad-hoc-Entscheidungen wie
etwa Kriegserklärungen, Friedensschlüsse, Koloniegründungen, Weihungen eines Tempels, Exilierungen
bzw. Rückrufe aus dem Exil, Ernennungen außerordentlicher Beamter etc.; es herrschte eine „enge Ver-
flechtung von Gesetzgebung und Tagespolitik“, das „Volksgesetz war Tagesaktion, nicht nachhaltige Rege-
lung auf lange Sicht“.32 Wie groß die Differenz zwischen dem modernen und dem römischen Gesetzes-
begriff ist, erkennt man auch daran, dass das römische Recht keinerlei Schwierigkeiten hatte, im Fall von
Vertragsklauseln von lex contractus zu sprechen.33 In beiden Fällen, sowohl im antiken griechischen wie im
antiken römischen Recht, werden Rechtsregeln und Gesetze eher lokal und situationsabhängig gedacht,
nicht aber, wie in den Rechtssystemen des 19. Jahrhunderts, als allgemeine Normenbestände, die in die
Zukunft wirken und eine unbestimmte Zahl künftiger Anwendungen vorwegnehmen.
24 Vgl. Riedel (Fn. 18), 290 u. a. mit Hinweis auf Th. v. Aquin, Summa Theologica; anders für das Corpus
iuris aber H. J. Berman, Recht und Revolution, 1991, 199.
25
Hesiod, Werke und Tage, 275–280; zur Bandbreite der frühen Verwendungen von nomos vgl.
M. Ostwald, Nomos and the Beginnings of the Athenian Democracy, 1969, 21 („order of living, way
of life“); E. A. Havelock, Preface to Plato, 1963, 62f. („custom-laws“, „usage“, „custom“).
26 M. Gagarin, Antiphon the Athenian, 2002, 65ff., 68f., 184; Ostwald (Fn. 25), 37.
27 K. Robb, Literacy and Paideia in Ancient Greece, 1994, 125ff., 147f.; Ostwald (Fn. 25), 36f. (nomos
= „statutory enactment“ bei Aristophanes), 137ff. (zum Übergang von thesmos zu nomos im Zuge der
Kleisthenischen Reformen).
28 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134b, 18–24; vgl. dazu auch den Kommentar zu dieser Stelle in
N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 120 Fn. 16.
29
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134b, 18–1135a 5.
30
Aristoteles, ebd., 1140a 35.
31
F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, 1988, 277ff., 278 („Im Begriff der Lex ist somit das Element
einer allgemeinen, auf eine unbestimmte Zahl künftiger Anwendungen zielende Regelung und vollends
das einer allgemeinen Normierung rechtlichen Sollens von Haus aus nicht enthalten“); ähnlich
M. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1971, 30f.
32
Wieacker (Fn. 31), 411ff., 414, 421; vgl. auch J. Bleicken, Die Verfassung der Römischen Republik,
1995, 127ff.
33 D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 1998, 237 („Verba contractus sunt lex con-
tractus. Die Worte eines Vertrags sind das Gesetz des Vertrags.“).
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§ 3. System I
77 Stellt man die Leistungen der neuzeitlichen Naturphilosophie in einen historisch wei-
ter ausgreifenden Kontext von Ideengeschichte oder „Ideenevolution“,34 transfor-
mierte die neue Naturphilsosophie den alten theologischen Gedanken von einem ein-
zigen Stifter und Gesetzgeber der Natur in ein einheitliches Bewegungsgesetz, das
seinerseits die Form eines „ersten“ Satzes in einem auf Absolutheit programmierten
System annahm. Aus der antiken und christlichen Semantik übernahm die Naturphi-
losophie den Gedanken einer durch Rangverschiedenheit gekennzeichneten Ordnung
und machte sie zum Bestandteil des Systems. Auch die Einverleibung des Hierarchie-
schemas in das System verweist auf eine theologisch schon aufbereitete Erschlossen-
heit – und weniger auf einen voraussetzungslosen Entwurf, einen Inbegriff des Den-
kens, aus dem das System hervorgeht. Aber wie immer man die Beziehung zwischen
der Naturphilosophie und der theologischen Tradition des Alten Europa genauer be-
stimmt: Die Erzeugung wissenschaftlicher Sätze und Erkenntnisse konnte damit je-
denfalls auf eine vermeintlich selbsttragende, von Metaphysik und Gott unabhängige
Basis gestellt werden. Schon bei Hobbes gründete die Bewegung in sich selbst und be-
durfte – im Unterschied zur aristotelischen Philosophie – keines unbeweglichen Bewe-
gers mehr.35
78 Mit Hilfe dieser Konstruktionstechnik konnte sich das System der Naturphilosophie
zu der Form entfalten, in der allein gesichertes Wissen (Gewissheit) produziert werden
konnte. Das System erzeugte selbst einen Vorrang gegenüber allen empirischen Er-
scheinungen, ohne diese einfach zu negieren. Wissen konnte jetzt nicht mehr ohne
Sinnesdaten aus reiner Kontemplation gewonnen werden, sondern musste sich immer
wieder in der Realität bewähren. Insofern verfuhr die Naturphilosophie – im Unter-
schied zur aristotelischen-christlichen (Schul-)Metaphysik – induktiv. Allerdings
nahm die erfahrungsgestützte Induktion jetzt einen konstruktivistischen Zug an.
Sicheres Wissen setzte stets eine Abstraktion, die alles Sinnliche auf Distanz brachte,
voraus. Anders formuliert: Die Bedingungen der empirischen Beobachtung wurden
in der Naturphilosophie erstmalig von den Bedingungen des Systems her definiert,
der sinnliche Beweis in einem erweiterten und veränderten Verständnis von Empirie,
auf der Basis artifizieller Beobachtungsweisen mit Hilfe von Instrumenten erbracht,
z. B. mittels Fernrohr oder mit Hilfe des künstlichen Fallexperiments. Das System
stellt ex ante einen gesetzmäßigen notwendigen Zusammenhang her, eine systemati-
sche Einheit, die anschließend – ex post – durch Experimente bewiesen wird. Die all-
gemeinen Gesetzmäßigkeiten der Natur wurden also weder empirisch vorgefunden
noch auf analytische Aussagen reduziert. Die universalen Gesetzmäßigkeiten wurden
im Systementwurf nach dem Selbstverständnis der Naturphilosophie selbst erzeugt
und zu „ersten“ Sätzen, Axiomen oder Prinzipien kondensiert, um von diesem höchs-
ten Punkt aus alle anderen wahren Sätze mit innerer Notwendigkeit und Konsequenz
ableiten zu können.
34 Zu diesem Begriff N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 536ff.; vgl. auch J. Assmann,
Das kulturelle Gedächtnis, 1996, 99, 259ff. „Ideenevolution“ wird erst auf der Grundlage von (Alpha-
bet-)Schrift möglich. Sie setzt höherstufig generalisierten Sinn, „preserved communication“ (Havelock)
bzw. „gepflegte Semantik“ (Luhmann) voraus; preserved communication bzw. gepflegte Semantik im Ge-
gensatz zur Alltagskommunikation, in der bekanntlich jeder Fluch der Ruderer in den Galeeren zählt.
35 Kondylis (Fn. 16), 190 (Ursache der Bewegung ist nicht mehr der ewige unbewegliche Beweger, son-
dern die ewige universale Bewegung).
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II. Systembegriff
2. Praktische Philosophie
Eine Loslösung von der aristotelischen Metaphysik und ihre Ersetzung durch die neue 79
naturphilosophische Methode lässt sich seit dem 17. Jahrhundert auch in der prakti-
schen Philosophie nachweisen, klar und deutlich etwa in De Cive (1642) und im Le-
viathan (1651) von Thomas Hobbes. Hobbes war der erste Theoretiker von Rang, der
die von Galilei, Descartes u. a. begründete Naturphilosophie um das Projekt einer
praktischen Philosophie oder, wie Hobbes sie nannte, Sozialphilosophie (philosophia
civilis), ergänzte.36 Die geometrische Methode wurde damit wohl zum ersten Mal kon-
sequent auf das Studium künstlicher Körper angewandt.37 Zwar steht der Systembe-
griff selbst bei Hobbes nicht im Zentrum der praktischen Philosophie wie später bei
Kant oder Hegel. Hobbes gebraucht „System“ eher als Synonym für Körperschaft. Im
Leviathan wird der Begriff primär auf die untergeordneten Körperschaften des
Gemeinwesens (Commonwealth) bezogen, z. B. auf die sich in Abhängigkeit von der
englischen Krone befindlichen Provinzen, während das Commonwealth eher beiläufig
ein „reguläres“, d. h. absolutes und unabhängiges System genannt wird.38 Hinter der
hobbesschen Konstruktion des Gemeinwesens als artifiziellem Körper lässt sich jedoch
unschwer eine auf den Monarchen als großen Menschen zulaufende hierarchische Sys-
tematisierung von Politik und Recht im Zuge der Auflösung der traditionellen Adels-
gesellschaft (societas civilis) erkennen, die eng mit einer System- und Einheitsvorstel-
lung verwandt ist.
Hobbes’ genuiner Beitrag für die Geschichte der praktischen Philosophie oder Sozial- 80
philosophie besteht darin, die natürliche Legitimation der traditionalen (Rechts-)Ord-
nung endgültig zerschnitten und auf ein davon unabhängiges Subjekt, den souveränen
Monarchen als neuem Zentrum der Rechtsordnung, umgelenkt zu haben. Denn
anders als etwa später Rousseau lässt Hobbes aus dem Gesellschaftsvertrag „kein corpus
myticum des sozialen Ganzen hervorgehen, und anders als in den organologischen Ge-
sellschaftsmodellen ist für ihn der Staat keine unvordenkliche soziale Substanz, son-
dern erklärtermaßen Effekt symbolischer (juridischer, mathematischer) Operatio-
nen.“39 Für Hobbes ist das Gemeinwesen, das er Leviathan nennt, also ein durch und
durch künstliches, von Menschen gemachtes Konstrukt, dessen Existenzweise auf
einer Ebene der Artifizialität, des Mythos und der Poesie angesiedelt, dadurch aber
nicht weniger wirklich als die aristotelische Polis ist.
Dabei kappte Hobbes auch die traditionelle Anbindung der politischen an die gött- 80 a
liche Macht. Der göttlich-weltliche Systemverbund, das divine right der Könige,
36
Das Begriffspaar philosophia naturalis/philosophia civilis benutzte Hobbes allerdings noch nicht im Le-
viathan, sondern erst ein paar Jahre später in De Corpore I, 9 (1655). Philosophia civilis wird in den
deutschen Hobbes-Ausgaben meistens mit „Staatsphilosophie“ übersetzt!
37
Auch Q. Skinner, Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, 1996, 334, der die rhetorischen
Anteile im Leviathan im Unterschied zu De Cive akzentuiert, lässt keinen Zweifel daran, dass der Le-
viathan ein Werk der neuzeitlichen exakten Wissenschaft (civil science) ist. Zur Gründungsfunktion der
Naturphilosophie als neuer prima philosophia bei Hobbes vgl. auch Y. Ch. Zarka, Philosophie et poli-
tique à l’âge classique, 1998, 7ff. (der die Inkonsistenzen und theologischen Reste im Hobbesschen
Werk akzentuiert und von einer „fondation aporétique“ spricht); zur Methode bei Hobbes vgl. auch
J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2012, 171f.
38 Hobbes, Leviathan, Ch. 22, 155; vgl. auch Riedel (Fn. 18), 299.
39 A. Koschorke, Der fiktive Staat, 2007, 112. Die Künstlichkeit der Hobbesschen Staats- und Personen-
konstruktion betont auch V. A. Kahn, The Future of Illusion, 2014, 35ff.
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§ 3. System I
40 Hobbes, Leviathan, Ch. 13, 89 („And the life of man, solitary, poore, nasty, brutish, and short.“).
41 Hobbes, ebd., Ch. 17, 120.
42
Hobbes, ebd., Ch. 16, 111f.; dazu Zarka (Fn. 37), 128f.; L. Jaume, Hobbes et l’Etat représentatif mo-
derne, 1986, 95 („Chez Hobbes, la personne a un statut de désignation nominaliste et non de propriété
ontologique.“). Mit einem artifiziellen, abstrakten Personenbegriff wurde schon im kanonischen Kör-
perschaftsrecht experimentiert (persona ficta), erst Hobbes sprach jedoch explizit von einem Common-
wealth als einer Person. Das ist im Einzelnen strittig. Viele Rechtshistoriker glauben, dass bereits die
katholische Kirche als abstrakte Person gedacht wurde. In der Sache gab es sicher Vorläufer, dazu dürfte
auch das englische Gemeinderecht des späten Mittelalters zählen.
43 Kondylis (Fn. 16), 189.
44 Vgl. dazu H. Bredekamp, Thomas Hobbes, 2003, 41; vgl. auch R. Brandt, Philosophie in Bildern,
2001, 312ff.; L. Marin, Das Portrait des Königs, 2005.
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II. Systembegriff
als später bei Kant und im staatsrechtlichen Positivismus, noch nicht vollständig von-
einander geschieden sind.45
Insgesamt weist die hobbessche Konstruktion eine Reihe von Ambivalenzen auf, die ihre Zuordnung in die 82
Kategorien der politischen Ideengeschichte, insbesondere ihre Zuordnung als liberale oder absolutisch-au-
toritäre Theorie schwierig macht. Einerseits handelte der Monarch als weltlicher Souverän, als derjenige,
der als beherrschender Teil weiterhin das Leben des Gesamtkörpers bestimmte. Der Monarch konnte die
ihm sich unterwerfenden Personen kraft seiner Souveränität an eine gemeinsame öffentliche Sprache und
ein darin eingelassenes Wissen binden, ein Wissen, das die Untertanen verinnerlichen mussten, schon weil
sie dem Monarchen und seinen Befehlen uneingeschränkten Gehorsam schuldeten. Da die hierarchische
Position des Monarchen aber eine Position innerhalb eines politischen Körpers war, erzeugte das System
einen Rückkopplungseffekt, der die Absolutheitsstellung des Souveräns relativierte: Der Souverän war das
Produkt einer künstlichen (nominalistischen) Sprache, eines öffentlichen Sprechens, das mit der natürli-
chen Repräsentation der Dinge gebrochen hatte und die Souveränität von einem performativen Akt der
Namensgebung, einer Autorisierung, abhängig machte.46 Damit war politisches Handeln auch ohne die
Voraussetzung tradierter gemeinsamer Zwecke möglich, und darin, in dieser Mobilisierung und Freiset-
zung des politischen Körpers aus der Enge und den Zwängen der herkömmlichen Feudalordnung, kann
man den eigentlichen politischen Sinn der hobbesschen Konstruktion sehen.47
Im Bereich des Rechts zeigen sich ähnliche Ambivalenzen wie im Feld der Politik und des Staates. Lange
bevor das Common law im 19. Jahrhundert, im Übergang vom traditionellen precedent zur modernen
Doktrin von stare decisis, eine tiefe Transformation auf der methodischen Grundlage der Naturphilosophie
erlebte,48 versuchte Hobbes dem Common law seine Eigenständigkeit zu nehmen und es in ein einheitli-
ches, „rationales“, durch den Monarchen bestimmtes System zu integrieren. Auf der einen Seite konnte das
Recht dadurch von der Tradition gelöst und vom Monarchen für unterschiedlichste (in der Zukunft lie-
gende) Zwecke mobilisiert werden. Auf der anderen Seite war die Artikulation des monarchischen Willens
aber jetzt den Formen einer gemeinsamen Rechtssprache unterworfen, in dem Sender (König) und Emp-
fänger (Untertanen) die gleiche Sprache sprachen. Auch deshalb ist die hobbessche Rechtstheorie als Impe-
rativentheorie, als Theorie, die das Recht auf die Anwendung von Befehlsgewalt und Sanktionsmacht zu-
rückführt, höchst unzureichend charakterisiert.49 Das Rechtsgesetz bleibt bei Hobbes in eine öffentliche
Sprache eingebunden und zudem eng mit der naturphilosophischen Rationalität des allgemeinen (Bewe-
gungs-)Gesetzes verknüpft. Rechtsgesetze sind nicht einfach situative Befehle, sondern durch Befehl in all-
gemein verständlicher (Schrift-)Sprache in Kraft gesetzte Regeln (rules), anhand derer jeder Untertan zwi-
schen Recht und Unrecht unterscheiden (lernen) kann.50
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§ 3. System I
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III. Systembildung im Rechtspositivismus
terte) wurde der Auftrag zur Realisierung des neuen systematischen Rechtsdenkens
deshalb bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein nicht als Forderung
nach einer einheitlichen Kodifikation an die Politik adressiert, sondern als Auftrag zur
Konstruktion von Systementwürfen an die Rechtswissenschaft selbst.56
Der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts teilte die Ausgangsannahme der Natur- 85
philosophie, dass wissenschaftliche Erkenntnis nur in der Form der Systembildung zu
erreichen war. Schon Savigny hatte in seiner Kollegschrift von 1802/03 gefordert, dass
die „Gesetzgebungswissenschaft“ – und damit meinte Savigny die gesamte Rechtswis-
senschaft – „eine historische Wissenschaft“ und „auch eine philosophische“ zu sein
hätte.57 Philosophisch hieß bei Savigny – nicht anders als bei Kant oder Hegel – syste-
matisch,58 und diesen Weg setzte Savigny dann 1840 im System des heutigen Römischen
Rechts um, einem Werk, das den Systembegriff bereits im Titel trug. Damit forcierte
Savigny zugleich eine für die deutsche Rechtswissenschaft bis in das 20. Jahrhundert
hinein einflussreiche Tradition: Die Systembildung wurde primär am römischen
Recht entwickelt, das jetzt in ein systematisches Recht umgewandelt wurde, was es in
seiner antiken und mittelalterlichen Erscheinungsform nicht war.59 Sein Material ent-
nahm der Rechtspositivismus dem Corpus iuris civilis, vor allem den Digesten (von
lat. digesta, Geordnetes), die seit der unter Justinian verfassten Constitutio Dedoken
von 533 auch Pandekten genannt wurden (von gr. pandaectae, allumfassend, das
Ganze zu Einem versammelnd). Noch Windscheid publizierte sein Hauptwerk – seit
1862 – unter dem Titel Pandektenrecht. Darunter verstand Windscheid – in der Sa-
che nicht anders als Savigny – „das gemeine deutsche Recht römischen Ursprungs“.60
Deshalb ist es auch üblich geworden, von „Pandektenwissenschaft“ statt von rechts-
wissenschaftlichem Positivismus zu sprechen.
Systembildung heißt in der Pandektenwissenschaft und bereits in der historischen 86
Rechtsschule: Konstruktion einer „inneren Einheit“ des „gesamten Rechts“. So wie
bei Kant das System die „vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis“ war, „nicht
bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhän-
gendes“ Ganzes,61 unterschied Savigny 1802/03 ebenfalls in einer architektonischen
Systemsprache und Metaphorik „eine Einheit“ des Rechts aus „innerem Zusammen-
56
Das ist der Hintergrund für den „Kodifikationsstreit“ zwischen Savigny und Thibaut. Darstellungen
dazu finden sich z. B. bei Wieacker (Fn. 1), 390ff.; H. Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsge-
schichte, 2001, 142ff.
57 F. C. v. Savigny, Juristische Methodenlehre (1802/03), 1951, 14. Savigny betonte sogar die Einheit des
Unterschieds von historischer und philosophischer Wissenschaft, wenn er verlangte, dass die Rechts-
wissenschaft „historisch und philosophisch“ zugleich sein müsse; der „vollständige Charakter der Juris-
prudenz“, so Savigny, beruhe auf dieser Verbindung. Vgl. dazu die Darstellungen bei Wieacker (Fn. 1),
370f., 386; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 11ff.; Schröder (Fn. 54), 121ff.
58 Vgl. nur Savigny (Fn. 57), 15f., 48. Man kann auch mit Wieacker (Fn. 1), 367, formulieren, dass die
historische Schule eher eine systematische Schule war, in der es um die Neubegründung einer metho-
denbewussten systematischen Rechtswissenschaft ging. „Ihr Kern ist vielmehr ein innerer Wandlungs-
prozeß der Rechtswissenschaft selbst, die um 1800 das neue Ideal einer zugleich positiven, d. h. auto-
nomen, und philosophischen, d. h. systematisch-methodischen Rechtswissenschaft ins Auge faßt.“,
D. Wielsch, Freiheit und Funktion, 2001, 114.
59
Vgl. dazu nur den Hinweis bei Weber (Fn. 7), 492f., und Zweigert/Kötz (Fn. 7), 183f., die zu Recht da-
rauf aufmerksam machen, dass das antike römische Recht eher dem Common law als dem Pandekten-
recht ähnelte.
60 B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1862, 1.
61
Kant (Fn. 51), A 646.
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§ 3. System I
hang“ auf der einen Seite vom „bequemen Aggregat der Materien“, dem „bloßen Fach-
werk“, auf der anderen Seite.62 Im System des heutigen römischen Rechts von 1840
wurde daraus die methodische Forderung nach einer Erkenntnis und Darstellung des
„inneren Zusammenhangs“ des Rechtsstoffs, „wodurch die einzelnen Rechtsbegriffe
und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verbunden werden“.63 Auch bei Puchta war
es die „systematische Erkenntniß“, die Erkenntnis des „inneren Zusammenhangs“,
welche „die Theile des Rechts“ verband.64 Eine systematische Anordnung des Stoffes
im Sinne einer „großen Einheit“ verfolgte auch Gerber. Gerber, der die juristische
Konstruktionstechnik und Systembildung in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf das
deutsche Privatrecht und später auch auf das Staatsrecht übertrug, forderte ebenfalls
die „Aufstellung“ eines wissenschaftlichen Systems, „in welchem sich die einzelnen
Gestaltungen als die Entwicklungen eines einheitlichen Grundgedanken darstellen“.65
Gerbers staatsrechtlicher Konstruktivismus wurde nach der Reichsgründung von 1871
von Laband aufgegriffen und weiterentwickelt. Bei Otto Mayer fand die rechtswissen-
schaftliche Systembildung dann ihre überzeugendste Realisierung auf dem Feld des
Verwaltungsrechts.66
87 Die Systeme der historischen Rechtsschule und der Pandektenwissenschaft verfügten
wie die Systeme der Naturphilosophie über eine hierarchische Abschichtung von All-
gemeinem und Besonderem. Puchtas Lehrbuch für Institutionen von 1829 trennte bei-
spielsweise einen „Allgemeinen Theil“ von einem „Besonderen Theil“, wobei ersterer
später – im ersten Band des Cursus der Institutionen von 1841/42 – mit dem Titel „En-
zyklopädie“ überschrieben wurde.67 Im allgemeinen Teil des Institutionenlehrbuchs
behandelte Puchta Themen wie „Das Recht“, „Das Subject des rechtlichen Willens“,
„Die Rechte“, „Der Proceß“ usw., bevor im besonderen Teil Sachenrecht, Eigentum,
Besitz, Rechte an Handlungen und Rechte an Personen erörtert wurden.68 Im System
des Deutschen Privatrechts von Gerber (erste Auflage 1848/9) stößt man auf eine ver-
gleichbare Theorietechnik: In einem „Ersten Theil“ werden die allgemeinen Grundla-
gen des Privatrechts dargestellt wie u. a. die Entstehung des Rechts, Anwendungsge-
biete, Rechtsverhältnisse, Rechtsgegenstände; in einem „Zweiten Theil“ die einzelnen
Privatrechte wie Eigentum, Rechte an fremden Sachen (Lehnrecht), Rechte an Hand-
lungen (Forderungen, Verträge), Personenrechte (Ehe, Erziehung) und Erbrecht.
Auch Windscheid beschrieb in seinem Lehrbuch des Pandektenrechts von 1862 zu-
nächst allgemeine Grundlagen des Rechts wie Rechtsquellen, Auslegung und wissen-
schaftliche Behandlung des Rechts, Gegensätze im Recht, Begriff des Rechts, Rechts-
subjektivität, juristische Person usw., bevor in weiteren „Büchern“ die einzelnen
besonderen Privatrechte wie Sachenrecht, Besitz, Eigentum, Dienstbarkeiten, Pfand-
recht usw. thematisiert wurden. Mayer schaltete dem besonderen Teil seines Verwal-
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III. Systembildung im Rechtspositivismus
tungsrechts ebenfalls einen allgemeinen Teil vor. Dieser behandelte die Geschichte des
Verwaltungsrechts, die Grundzüge der Verwaltungsrechtsordnung und den Recht-
schutz in Verwaltungssachen.
Wie die Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts operierte auch der Rechtspositivis- 88
mus des 19. Jahrhunderts mit „ersten“ Sätzen, Axiomen oder „Principien“ an der
Spitze seiner Systementwürfe. Diesen Platz nahm hier – wie wir im ersten Abschnitt
dieses Kapitels bereits gesehen haben – der Begriff der Freiheit ein, durch den der
Rechtsbegriff letztlich auf willensgesteuerte Selektionsmöglichkeiten eines Rechtssub-
jekts zurückgeführt wurde. Puchta definierte Freiheit als „Möglichkeit einer Wahl,
oder eines Willens“.69 Jedes Recht war die Beziehung des freien Willens eines Sub-
jekts auf einen „Gegenstand“, wobei die Beziehung zwischen Wille und Gegenstand
wiederum hierarchisch gefasst wurde, als „Herrschaft“ oder Macht“, die „der Person
über einen Gegenstand gegeben ist“.70 Das deckte sich weitgehend mit Savignys Vor-
stellung von Willensherrschaft. Darin zeigt sich noch einmal die ebenfalls bereits
angesprochene paradoxe Be-Gründung des rechtspositivistischen Systems: Die unbe-
dingte Freiheit des subjektiven Willens war in eine durch das System selbst getragene
Regelhaftigkeit eingebunden und im Grenzfall mit dieser identisch; nach einer zutref-
fenden Beobachtung Labands war die Objektivität des Rechts im rechtspositivisti-
schen System vom subjektiven Willen des einzelnen Rechtsanwenders vollkommen
unabhängig, sofern der einzelne Rechtsanwender sich der Selbstverpflichtung be-
wusst wurde, das objektive Recht „als von einer über ihm stehenden Macht gegeben“
hinzunehmen.71 Der freie Wille gründete in einem Allgemeinen, in einem Anderen
der Vernunft, für dessen fremde Ansprüche sich das Individuum und sein Wille
öffnen mussten; keineswegs aber ging es im Rechtspositivismus um inhaltsleere sub-
jektive Willkür, um beliebige Freiheit, wie später etwa in Carl Schmitts verfassungs-
gebender Gewalt, dem pouvoir constituant.72 Historisch gesehen akzentuierten his-
torische Rechtsschule und rechtswissenschaftlicher Positivismus vor allem die
Ordnungsleistung dezentraler subjektiver Entscheidungsrechte, insbesondere in
Form der Eigentums- und Vertragsfreiheit. Aber auch der Staat war hier als juristische
Persönlichkeit in die Form einer allgemeinen, aus einer „Willensmacht“ hervorgehen-
den Gesetzmäßigkeit eingebunden.73
Mit Hilfe eines in subjektiver Willensfreiheit gründenden Systems lösten historische 89
Rechtsschule und rechtswissenschaftlicher Positivismus den gesamten Rechtsstoff von
seinen lokalen Traditionen, um ihn allein durch begrifflich-logisches Denken von
oben nach unten nach Maßgabe niederer und höherer Wertigkeit neu abzuschichten.
Bei Puchta hieß die Methode der hierarchischen Ordnungsbildung „Genealogie“. De-
ren Aufgabe sah Puchta darin, die positiven Rechtssätze „in ihrem systematischen Zu-
sammenhang, als einander bedingende und voneinander abstammende, zu erkennen,
um die Genealogie der Einzelnen bis zu ihrem Princip hinauf verfolgen, und ebenso
von ihren Principien bis zu ihren äußersten Sprossen herabsteigen zu können“.74 Die
69 Puchta (Fn. 64), 7, vgl. auch 9 („Vermöge der Freiheit ist der Mensch Subject des Rechts.“).
70 Puchta, ebd., 12; Haferkamp (Fn. 68), 266.
71
P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 2 (1911), 1964, 178.
72
C. Schmitt, Die Diktatur (1928), 1978, 142.
73 Vgl. nur v. Gerber (Fn. 65), 3; näher dazu Kremer (Fn. 65); W. Pauly, Der Methodenwandel im deut-
schen Spätkonstitutionalismus, 1993, 140ff.; vgl. auch Koschorke (Fn. 39), 319ff.
74
Puchta (Fn. 64), 37.
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§ 3. System I
Ehe, so erläuterte Puchta dieses Verfahren beispielhaft,75 gehöre in die Lehre vom Ei-
gentum, von den Servituten, vom Pfandrecht, von den Obligationen, von der Ver-
wandtschaft, von der väterlichen Gewalt, vom Erbrecht usw. In all diesen Rechtsver-
hältnissen spiele die Ehe in der Praxis eine Rolle und müsse daher in der Darstellung
dieser Rechtsverhältnisse vorkommen. Die Aufgabe der Systembildung bestand für
Puchta aber gerade darin, alle (Privat-)Rechte durchgehend zu klassifizieren, also auch
die Ehe selbst zum Gegenstand eines eigenen, selbstständigen Rechtsverhältnisses zu
machen, eine Aufgabe, die Puchta dadurch löste, dass er die Trichotomie von Rechten
an Sachen, Handlungen und Personen neu arrangierte und das Eherecht den subjekti-
ven Rechten „an Personen außer uns“ zuordnete.76
90 Synonym mit Systembildung wurde im Rechtspositivismus auch der Begriff der „juristischen Construc-
tion“ benutzt.77 Der Begriff der juristischen „Construction“ bezog sich unmittelbar auf das System als Ge-
samtentwurf, auf die Konstruktion aller Elemente und Strukturen des Systems. Bei Savigny und Puchta
umfasste das etwa die Konstruktion eines inneren Zusammenhangs von Person, Freiheit, Wille, Rechtsre-
geln, Rechtsinstituten und Rechtsverhältnissen, im Staatsrecht bei Gerber etwa die Konstruktion eines in-
neren staatsrechtlichen Systems, seiner Begriffe, Verbindungen, Prinzipien, Rechtsinstitute und Rechte.
„Construction“ machte die Rechtswissenschaft mit anderen Worten zu einer „producierenden Wissen-
schaft“, die – im Unterschied etwa zur aristotelischen Moralphilosophie – ausschließlich nach selbstgesetz-
ten Regeln operierte, die sich als berufen ansah, „allgemeine ... Principien in voller Freiheit nach ihren Ge-
sichtspunkten und den Regeln ihrer Kunst zu entwickeln“.78 In diesem Anspruch, alle Bestimmungen aus
sich selbst zu schöpfen, partizipierte die Rechtswissenschaft an einem konstruktivistischen Systemdenken,
das im Deutschland des 19. Jahrhunderts auch andere gesellschaftliche und kulturelle Felder – wie etwa die
Malerei Caspar David Friedrichs – beherrschte. Damit sollte die Tradition der Theologie, die den höchsten
Willen in einem Anderen, nämlich in Gott, verankert hatte, überwunden werden.
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III. Systembildung im Rechtspositivismus
das System als lückenlos gedacht. Entsprechend ergänzte sich das System bei Savigny
oder Puchta im Moment seines Gebrauchs selbst, etwa durch Analogiebildung.81
Auch Labands Bemerkungen über die logische Behandlungsart des Staatsrechts, die
Konstruktion der Rechtsinstitute durch „Zurückführung der einzelnen Rechtssätze
auf allgemeinere Begriffe“ einerseits und die „Herleitung der aus diesen Begriffen sich
ergebenden Folgerungen“ andererseits,82 sind nur vor dem Hintergrund des konstruk-
tiven Systembegriffs verständlich. Das juristische System konnte so wenig Leerstellen
haben wie die Natur von allgemeingültigen Naturgesetzen abweichen konnte.
War der Stoff einmal in einen lückenlosen Zusammenhang gebracht, konnten mit in- 92
nerer Folgerichtigkeit „Consequenzen“ aus dem System deduziert werden. Die Rechts-
wissenschaft konnte jetzt von organischer auf logische Orientierung im Sinne einer
Umstellung von evolutionärem Zufall oder historischem Gewachsensein auf strikte
Grund- und Folgehierarchien umstellen, auf ein konsequentes Denken von „ersten“
Sätzen aus; so wie es Hobbes bereits im 17. Jahrhundert für die praktische Philosophie
gefordert hatte.83 War der Rechtsbegriff einmal im Personenwillen, im Subjekt, veran-
kert, war es beispielsweise leicht zu erklären, dass auch das Wegerecht eine partielle
Willensmacht über einen fremden Gegenstand enthielt und daher vom Nutzenden
und nicht einfach vom fremden Eigentum her zu konstruieren war: Auch das Nut-
zungsrecht enthielt ein subjektives Moment und war so an den obersten Grundsatz
des Rechtssystems, die Willensherrschaft, angebunden. Eine Prüfung der rechtlichen
Natur der einzelnen Institute und ihres Zusammenhangs „mit den stufenweise bis
zum letzten Sammelpunkte aufsteigenden Gesammtideen“ forderte ganz ähnlich Ger-
ber.84 Im Staatsrecht konnte Gerber dann etwa aus der staatsrechtlichen Natur des
Monarchenrechts folgern, dass der Thronfolger zur Übernahme des Monarchenberufs
befähigt sein musste.85
Der Begriff des „positiven Rechts“, der dem Rechtspositivismus seinen Namen gege- 93
ben hat, bedeutete hier: Orientierung an selbst gesetzten Regeln, Autonomie der
Rechtsordnung gegenüber anderen Normordnungen, nicht einfach Rechtsetzung
durch ein wie auch immer legitimiertes Subjekt. Die Positivität des Rechts ruhte im
Rechtspositivismus in einer „Zucht des Auffassens“ (Hegel), die an eine allgemeine
Rationalität gebunden war und insbesondere für das einzelne Individuum nicht zur
Disposition stand. Deshalb wird der Begriff des positiven Rechts verfehlt, wenn man
ihn – wie es seit Weber, Schmitt und Kelsen weithin üblich geworden ist – als beliebi-
ges Recht kraft Satzung oder Entscheidung definiert.86 Im Rechtspositivismus des
19. Jahrhunderts ging es nicht um die politische Setzung von Recht je nach situativen
Erfordernissen. Vielmehr stand der Gedanke im Mittelpunkt, Recht als autonomes
81 Savigny (Fn. 14), 290f.; G. F. Puchta, Lehrbuch der Pandekten, 9. Aufl., 1863, § 16, 29 („diese Lücken
zeigt zugleich das System auf und füllt sie aus“); vgl. auch Schröder (Fn. 37), 249f.
82
P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 1 (1911), 1964, S. IX (Vorwort).
83
Vgl. nur Hobbes, Leviathan, Ch. 5, 33 („The Use and End of Reason, is not the finding of the summe,
and truth of one, or a few consequences, remote from the first definitions, and settled significations of
names; but to begin at these; and proceed from one consequence to another.“).
84 C. F. Gerber, System des Deutschen Privatrechts, 5. Aufl., 1855, VI (Vorrede).
85
Kremer (Fn. 65), 200.
86
Vgl. nur Weber (Fn. 7), 124f. (beliebiges Recht durch gesatzte Ordnung); C. Schmitt, Politische Theo-
logie (1922), 1985, 16 (Rechtsordnung beruht auf Entscheidung, nicht auf einer Norm); Kelsen
(Fn. 2), 201 (positive Normen = gesetzte Normen); ähnlich, in frühen Arbeiten, Luhmann (Fn. 28),
122, 124 (positives Recht = gesetztes Recht, Geltung kraft Entscheidung).
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§ 3. System I
3. Zwischenbilanz
94 Die Rechtswissenschaft nach 1800 nutzte das naturphilosophische System, um sich zu
einer „autonomen Wissenschaft des positiven Rechts“, „zu einer erkenntnistheoretisch
fundierten, die Totalität des positiven Rechtsstoffs zum inneren System organisieren-
den Wissenschaft“ umzuwandeln.87 Autoren wie Savigny, Puchta, Gerber, Jhering,
Windscheid, Laband u. a. hinterfragten die Mannigfaltigkeit und Zufälligkeit orga-
nisch gewachsener Institutionen und versuchten diese in einem homogenen Raum
universaler (und zeitlich reversibler) Gesetzmäßigkeiten zum Verschwinden zu brin-
gen; damit waren sie Teil einer Bewegung zur Abstraktion, zur Objektivierung des
Rechts jenseits persönlicher „subjektiver“ Urteile, wie sie für die (bildungs-)bürgerli-
che Kultur und ihre literarischen Manifestationen insgesamt typisch war.88 Daran
kann und muss man heute vieles kritisieren, aber dieser Leistung des Rechtspositivis-
mus wird man nicht gerecht, wenn man z. B. Puchtas Methode der Genealogie, die
Rückführung aller Rechtssätze in ein Prinzip, in pejorativem Tonfall als „Begriffsjuris-
prudenz“ abtut89 oder dem Rechtspositivismus insgesamt „leeren Formalismus“ be-
scheinigt.90 Der rechtswissenschaftliche Positivismus hatte nichts mit „Blindheit“ ge-
genüber „dem Leben“ zu tun. Niemand im 19. Jahrhundert war so naiv, das Recht in
seiner operativen Wirklichkeit mit seiner Darstellung in einem rechtswissenschaftli-
chen Lehrbuch zu verwechseln. Es ging darum, das vorgefundene gemeine Recht wis-
senschaftlich-systematisch zu ordnen und diesen Ordnungsanspruch an die (künftige)
Realität zu adressieren, um so „die Enge der Verknüpfung zwischen Recht und lokalen
Gewohnheiten“ aufzubrechen.91 Wenn ein Bürger in München wohnte und im Ham-
burger Hafen brasilianische Fichte kaufte, sollten in Hamburg eben dieselben Rechts-
regeln gelten wie in München. Keineswegs aber wurde bestritten, dass explizite
Rechtssätze eine lebendige protorechtliche Praxis aus Erfahrungen, praktischem Wis-
sen und gesellschaftlichen Konventionen voraussetzen.
95 Schon beim jungen Savigny stand das Aufzeigen der inneren Vernünftigkeit des posi-
tiven Rechts durch eine systematisch verfahrende Rechtswissenschaft im Vordergrund,
87
Wieacker (Fn. 1), 352f., 368 (Zitat); zur Autonomie der Rechtswissenschaft vgl. auch J. Rückert, Auto-
nomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, 1988, insb. 56ff.
88 Vgl. F. Moretti, The Bourgeois, 2013, 89, 90 (es geht um „objective impersonality ...: the more perfect,
the more ... dehumanized“).
89
Wie es seit dem späten Jhering bzw. den frühen 1920er Jahren üblich geworden ist. Manchmal wird die
Begriffsjurisprudenz auch als „blutleer“ bezeichnet, was immer das im Hinblick auf Texte heißen soll.
Dazu und zur Geschichte dieser pejorativen Begriffe kritisch Haferkamp (Fn. 68), 94ff. (Begriffspyra-
mide), 26ff. (Begriffsjurisprudenz).
90
Der Formalismusvorwurf findet sich stellenweise auch bei Wieacker (Fn. 1), z. B. 401f.; nietzeanisch in
diese Richtung argumentiert bisweilen Kiesow (Fn. 67), z. B. 19, 157ff.; kritisch zum Formalismusvor-
wurf etwa J. Rückert, Das BGB und seine Prinzipien, 2003, 34ff., 100.
91 So K.-H. Ladeur, Der „Eigenwert“ des Rechts, 1999, 31ff., 42f. (mit Blick auf die Funktion des franzö-
sischen Code civil).
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III. Systembildung im Rechtspositivismus
deren Vorgegebenheiten Savigny durch einen Rekurs auf den „Volksgeist“, also durch
eine vom Körper des Herrschers gelöste, rein „geistige“ Figur, zu fassen suchte.92
Puchta entfernte sich nicht von diesem Standpunkt, wenn er beispielsweise im Cursus
der Institutionen von 1841/42 darauf hinwies, dass die Systembildung „Rechtssätze
zum Bewußtsein“ bringe, die „weder in der unmittelbaren Überzeugung der Volksglie-
der und ihren Handlungen noch in den Aussprüchen des Gesetzgebers zur Erschei-
nung gekommen sind“, die aber im „Geist des nationalen Rechts verborgen“ seien
und „erst als Produkt einer wissenschaftlichen Deduktion sichtbar entstehen“.93
Wenn es später bei Windscheid hieß, dass ethische, politische oder volkswirtschaftli-
che Erwägungen „nicht Sache des Juristen als solchen“ seien,94 dann stand auch hier
die Intention der wissenschaftlichen Systembildung im Vordergrund. Die Autonomie
des Rechtssystems konnte ja nicht einfach ethisch, politisch oder volkswirtschaftlich
begründet werden, sondern eben nur durch eine eigenständige rechtswissenschaftliche
Expertise, die man als „logisch“ oder „juristisch“ bezeichnete.
In der Konstruktion einer „inneren Einheit“ des Rechts fand das juristische System des 96
19. Jahrhunderts seine Vollendung – und zugleich seine Grenze. Vor allem die hierar-
chieförmige Rückkopplung aller Rechtssätze und Institutionen an eine „Gesamtidee“
blieb einer Semantik verpflichtet, die die Mannigfaltigkeit des Gegebenen auf eine
Einheit zurückführte und darin an ältere (theologische) Traditionen anknüpfte. Das
juristische System des 19. Jahrhunderts wurde durch ein beherrschendes Allgemeines
bestimmt, durch die subjektive Willensmacht; diese wurzelte ihrerseits in einem Un-
bedingten, der Freiheit oder Vernunft, so wie das antike oder mittelalterliche System
durch einen beherrschenden Teil bestimmt wurde, der aller Notwendigkeiten entho-
ben war, wie der Adel, die Philosophen oder Gott. Zwar wurde das Moment der Be-
herrschung im Systembegriff des 19. Jahrhunderts von Natur auf Kunst, auf artifizielle
Personen und konstruierte Zusammenhänge und von Partikularität auf Allgemeinheit,
auf Freiheit und Gleichheit verschoben. Die Plausibilität der hierarchischen Systemar-
chitektur wurde aber nirgends hinterfragt. Am höchsten Punkt, an der Spitze des Sys-
tems, fielen Eins und Alles zusammen, von dort aus ließen sich alle Ereignisse im Sys-
tem überblicken, ordnen und kontrollieren. So wie man früher Gott Allmacht und
Allwissenheit zugeschrieben hatte, kannte auch das positivistische System keine blin-
den Flecken, jedenfalls keine, die es nicht selbst hätte sichtbar machen können.
4. Auflösungserscheinungen (Kelsen)
Der rechtspositivistische Systementwurf geriet spätestens um 1900, mit dem Aufstieg 97
der industriellen Massengesellschaft, in die Krise. Der späte Jhering, der jetzt den
Zweck im Recht entdeckte, die Interessenjurisprudenz und Freirechtsschule, sie alle
suchten unter dem Eindruck großer gesellschaftlicher und kultureller Umwälzungen
nach Alternativen zum Systemdenken (vgl. Rn. 207). Anzeichen einer Krise des
92 Dazu etwa Wieacker (Fn. 1), 385 (Volksgeist zielt auf „kulturelle Tradition“, nicht auf einen biologi-
schen Befund oder eine soziale Realität); vgl. auch E.-W. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit,
1991, 9ff., 15ff.
93
Puchta (Fn. 64), 36 (Hervorhebung von mir).
94 B. Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, 1904, hier zitiert nach Wieacker (Fn. 1), 431
Fn. 3a. Zur Kritik am begriffsjuristischen Windscheid-Bild vgl. allg. U. Falk, Ein Gelehrter wie Wind-
scheid, 1989.
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§ 3. System I
Rechtspositivismus lassen sich auch an Kelsens reiner Rechtslehre von 1934 studieren.
Es war zwar keineswegs irreführend, wenn Kelsen die Reine Rechtslehre als „Fortent-
wicklung von Ansätzen“ der „positivistischen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhun-
derts“ etikettierte.95 Um das rechtspositivistische Systemdenken auf veränderte gesell-
schaftliche, kulturelle und politische Verhältnisse einzustellen, wurde Kelsen jedoch zu
erheblichen Modifikationen gezwungen, und der größte Unterschied zum rechtsposi-
tivistischen System des 19. Jahrhunderts lag sicher darin, dass das Rechtssystem jetzt
nicht mehr in der Freiheit eines Personenwillens – als Ausdruck eines mit dem Selbst-
bild der liberalen Gesellschaft vermittelten Anfangs – gründete, sondern aus einer abs-
trakt-wissenschaftlichen „Grundnorm“ als „Ein-Setzung des Grundtatbestandes der
Rechtserzeugung“ hervorging.96 Damit schnitt Kelsen die Rechtstheorie zugleich auf
eine Normen- und Geltungstheorie zu, nicht ohne weiterhin selbst mit einer Einheits-
vorstellung zu operieren, nämlich mit der Möglichkeit, eine Vielheit von Normen
über „eine einzige Norm“ auf einen „letzten Grund“ ihrer Geltung zurückzuführen.97
98 Mit der Grundnorm verfügte das Normensystem der reinen Rechtslehre wie alle Sys-
teme in der Tradition der Naturphilosophie über einen „ersten“ Satz. Diese Rückfüh-
rung erfolgte hier ebenfalls in einem hierarchisch angelegten Normenerzeugungszu-
sammenhang, dem „Stufenbau“ der Rechtsordnung.98 Im Vergleich zum klassischen
Rechtspositivismus rückte das Rechtssystem bei Kelsen aber viel näher an das politi-
sche System heran. Das System arbeitete jetzt als dynamischer Normenerzeugungszu-
sammenhang, der auch an seiner Spitze offen für jeden beliebigen Inhalt war:99 Wurde
eine monarchische durch eine republikanische Regierung ersetzt und verhielten sich
die Menschen im Großen und Ganzen nach den Regeln der neuen republikanischen
Ordnung, bedeutete dies die „Ein-Setzung“ eines neuen Grundtatbestandes der
Rechtserzeugung.100 Diese Offenheit setzte freilich eine Kontingenz am wichtigsten
Punkt des Systems frei, die die Reine Rechtslehre für jede Art von Politik öffnete und
das Recht als instituierte Ordnung völlig aus dem Auge verlor.101 Kelsen versuchte
zwar später – in der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre von 1960 – den Haltepunkt
des Systems durch Rekurs auf die (neukantische) Tranzendentallogik zu externalisie-
ren.102 Damit verstärkte sie aber nur das von Anfang an in der Grundnorm angelegte
Moment, die Einheit des Rechtssystems nur noch von außen, wissenschaftlich, als
notwendigerweise anzunehmende Bedingung der Möglichkeit von Rechtsgeltung,
fundieren zu können. Der im Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts stets vorausge-
95 H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), 1994, X (Vorwort).
96 Kelsen, ebd., 64.
97
Kelsen, ebd., 62.
98
Kelsen, ebd., 73ff.; dazu erläuternd O. Lepsius, Hans Kelsen und die Pfadabhängigkeit in der deutschen
Staatsrechtslehre, 2013, 241ff., 257ff.
99 Kelsen (Fn. 95), 63.
100
Kelsen, ebd., 67f.
101
Noch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erbrachten K. Gödel und A. Turing den Beweis der
prinzipiellen Unvollständigkeit axiomatischer (mathematischer) Systeme. Dadurch wurden Entwürfe
unmöglich, die, wie derjenige Kelsens, in einem System widerspruchsfrei eine Regel zu begründen ver-
suchten, die die Geltung und Anwendbarkeit aller anderen Regeln regelte. Vgl. dazu K. Mainzer,
Computerphilosophie zur Einführung, 2003, 44ff.
102
Vgl. Kelsen (Fn. 2), 205 (Die Grundnorm wurde hier zu einem für jeden Inhalt offenen, rein formalen,
lediglich den infiniten Regress vermeidenden „Geltungsgrund“ des Rechts); vgl. zur Grundnorm
H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, 42ff., 83ff.,
88 (Grundnorm = „Platzhalter der Idee der Normativität“).
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IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung
setzte Anspruch auf praxisrelevante Aussagen über die Einheit des Rechts in einer libe-
ralen Gesellschaft geriet dabei weitgehend aus dem Blickfeld.
Widersprüche und Unbestimmtheiten zeigten sich auch im inneren Aufbau der reinen 99
Rechtslehre. Kelsen relativierte vor allem die Striktheit der Grund- und Folgehierar-
chien. An die Stelle des zwingenden Schlusses vom Allgemeinen auf das Besondere,
an die Stelle von „Consequenz“ und logischer Folgerichtigkeit, traten Unbestimmt-
heitsstellen etwa im Verhältnis von höherer und niederer Rechtsstufe. Rechtssicherheit
galt nunmehr als „Illusion“,103 Lückenlosigkeit des Systems als „Schein“ und „Fik-
tion“.104 Auch am Ende des Stufenbaus herrschte Ungewissheit. Kelsen wagte zwar
einen Schritt in die richtige Richtung, wenn er die im Rechtspositivismus vorausge-
setzte Hierarchie von Rechtsnorm und Anwendung durch ein Modell ersetzte, in der
Rechtsanwendung nicht mehr prinzipiell von „Rechtserzeugung“ unterschieden war.
Das Recht bildete sich jetzt stärker fallabhängig als individuelle Norm im Rahmen
mehrerer, durch eine generelle Norm vorgegebener Möglichkeiten fort. Aber auch an
dieser Stelle ließ die Reine Rechtslehre den Leser auf halber Strecke zurück. Kelsen fielen
für die von ihm selbst aufgedeckten Unbestimmtheitsstellen nur kompetenzielle und/
oder rechtspolitische Lösungen ein. So erklärte er etwa die Rechtsinterpretation zur
„Willensfunktion“, zu einem Vorgang von rechtspolitischem Charakter,105 der sich
nicht ausschließlich am positiven Recht, sondern darüber hinaus auch je nach Situa-
tion an sozialen Zielen wie Volkswohl, Staatsinteresse, Fortschritt usw. orientiere.106
Im Großen und Ganzen steigerte die Reine Rechtslehre also eher den Grad an Unbe-
stimmtheiten und Paradoxien innerhalb des Systemdenkens, ohne dafür plausible Lö-
sungen anbieten zu können.
Die juristische Systembildung des frühen 19. Jahrhunderts setzt das gedruckte Buch 100
als Medium voraus. Das Buch mit seinem durchgängig formatierten Raum, mit Zeile,
Absatz und Seite, mit Titelblatt, Überschriften, Inhaltsverzeichnis, Seitenzahlen und
Register, das Buch mit seinen starren Buchstabenfiguren, seiner strikten orthographi-
schen Regelmäßigkeit, mit seiner Fähigkeit schließlich, der Summe der gesammelten
Informationen durch zwei Buchdeckel den Charakter eines abgeschlossenen Ganzen,
einer „natürliche(n) Totalität“,107 zu verleihen: All diese medialen Eigenschaften des
Buchs verändern die kognitiven Verhältnisse – die soziale Epistemologie108 – grundle-
gend und eröffnen ganz neuartige Chancen zu einer systematisch angelegten Anord-
nung und Durchbildung des Rechtsstoffes, die vorher, auf der Grundlage von Einzel-
103 Kelsen (Fn. 95), 101 („Es ist die Illusion der Rechtssicherheit, die die traditionelle Rechtstheorie – be-
wußt oder unbewußt – aufrechtzuerhalten strebt.“); kritisch dazu M. Jestaedt, Das mag in der Theorie
richtig sein ..., 2006, 48 Fn. 137.
104
Kelsen (Fn. 95), ebd., 102.
105 Kelsen, ebd., 98.
106 Kelsen, ebd., 99.
107
J. Derrida, Grammatologie, 1974, 35; zum technologischen Hintergrund des Buchdrucks M. Giesecke,
Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, 1998, 63ff.
108 Vgl. nur K.-H. Ladeur, Strategien des Nichtwissens im Bereich staatlicher Aufgabenwahrnehmung,
2014, 103ff.; und I. Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, 2014, insb. 80ff.; vgl. auch T. Vesting,
Das moderne Recht und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015i. E.
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§ 3. System I
109 Blumenberg (Fn. 17), 17, 18; vgl. auch F.-J. Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, 2014, 124.
110 Luhmann (Fn. 23), 500.
111
Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 67 Fn. 36.
112
Stetter, ebd., 11f.
113
Diesen Begriff benutzt Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 11. Luhmann (Fn. 34), 195, ver-
wendet dagegen einen medienneutralen Medienbegriff, in dem Medium als „Differenz von medialem
Substrat und Form“ definiert wird. Die Materialität des Mediums wird damit zu einer für das System
letztlich indifferenten Masse verdünnt. Dann hilft nur noch „strukturelle Kopplung“! Es fragt sich
also, ob der Medienbegriff durch Differenz oder durch eine Differenz in sich selbst bestimmt werden
muss.
114 Den Begriff der „medialen Spur“ übernehme ich von S. Krämer, Das Medium als Spur und als Appa-
rat, 1998, 73ff. Dazu weitere Überlegungen bei Stetter (Fn. 111), 10f., 79ff., 91ff.
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IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung
115
N. Goodman, Sprachen der Kunst (1976), 1995, 154ff.
116
Goodman, ebd., 210.
117
Goodman, ebd., 139.
118 Das ist eine nur grobe Wiedergabe der Definitionen. Vgl. genauer Goodman, ebd., 154f.; Stetter
(Fn. 111), 117ff. (mit Bezug auf den digitalen Charakter der Alphabetschrift).
119
Goodman (Fn. 115), 155.
120
Dazu näher Giesecke (Fn. 107), 489ff.
121 Stetter (Fn. 113), 66.
122 Stetter, ebd., 66; vgl. auch ders. (Fn. 111), 58ff., 60 (zur Starrheit des dinglichen Substrats der Druck-
schrift); Giesecke (Fn. 107), 90ff. (zum Setzen).
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§ 3. System I
123
Stetter (Fn. 113), 67.
124
Ebd. Stetter kann im Übrigen auch plausibel machen, dass der Buchdruck nicht zufällig auf der
Grundlage der Alphabetschrift entstanden ist. Die Alphabetschrift ist der evolutionär einmalige Fall
einer Schrift, in der die „Digitalisierung bereits im Grundprinzip dieses Graphismus angelegt“ ist.
Vgl. Stetter (Fn. 111), 100, 140 (Zitat).
125
F. Steinhauer, Bildregeln, 2009.
126 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1945), 2003, § 122; dazu S. Krämer, Sprache,
Sprechakt, Kommunikation, 2001, 9, 113, 121 (Denkweisen sind für Wittgenstein Sehweisen).
127
Savigny (Fn. 57), 15f.
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IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung
det.128 Die „innere Einheit“ des Rechts wird eben erst jetzt, unter Buchdruckbedin-
gungen, darstellbar. Erst wenn der hierarchische Aufbau des Systems durch innere
Gliederung immer wieder anschaulich gemacht werden kann, gewinnt auch die Rede
von der Vollständigkeit und Lückenlosigkeit des Rechts ihre Evidenz. Erst dann kann
das Recht sein, was es werden soll: ein System. Auch das systematische Kodifikations-
recht des 19. Jahrhunderts ist daher intrinsisch mit dem Buchdruck verknüpft. Es setzt
die digitale Aufbereitung der Sprache im Buchdruck voraus, die Transformation der
vielen lokalen juristischen Sprachgemeinschaften zu einer nationalen Gemeinschaft
schreibender und druckender Juristen. Demgegenüber muss man kein Prophet sein,
um zu sehen, dass das Zeitalter des Buchdrucks und mit ihm das Zeitalter der systema-
tischen Kodifikationen heute hinter uns liegen. Wenn auch noch immer juristische
Bücher gedruckt und Gesetze gemacht werden, werden beide Formen doch heute
durch das Medium des Computers und seine heterarchischen, konnexionistischen
und netzwerkartigen Informationsstrukturen bestimmt, nicht aber länger durch die
hierarchische Architektur des Buchwissens der „Gutenberg-Galaxis“.
Mit den hier angestellten (recht knappen) Überlegungen zum Buchdruck als medialer 107
Voraussetzung der rechtswissenschaftlichen Systembildung öffnet sich zugleich ein
Forschungshorizont, in dem die rechtstheoretischen Überlegungen bei Hobbes, Kant,
Hegel und im staatsrechtlichen Positivismus stärker in ihrer metaphorisch konstrukti-
ven (oder imaginären) Bedeutung wahrgenommen werden könnten, ähnlich wie
schon Hans Blumenberg Kants Staatsbegriff, der den monarchischen Staat ganz vom
beseelten Körper des Monarchen abzieht, als absolute Metapher interpretiert hat.129
Das würde bedeuten, den Sinn des Buchdrucks und der in ihm entfalteten Begrifflich-
keiten, Metaphern und Systemvorstellungen in einem „Aufschließen von Total-
horizonten“ zu sehen.130 Insbesondere absolute Metaphern wie Geschichte, Leben,
Mensch, Sein, Freiheit, Gott oder System geben, wie Hans Blumenberg immer wieder
zu Recht betont hat, „einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie über-
sehbare Ganze der Realität“.131 Sie liefern oder erzeugen anschauliche Bilder für Phä-
nomene, die sich strenggenommen nicht abbilden lassen, um so das „als Gegenständ-
lichkeit unerreichbare Ganze ‚vertretend‘ vorstellig“ zu machen.132 Die moderne
Rechtslehre, auch der rechtswissenschaftliche Positivismus, würden sich dann immer
schon in einem Feld mythopoetischer Bedeutungsproduktion bewegen, all diese Un-
ternehmen wären immer schon an der Erzeugung „fiktiver“ Totalhorizonte – der
Leviathan, die Verfassung, das Rechtssystem, das Gesetzbuch etc. – durch gedruckte
Bücher beteiligt. Ob man an dieser Stelle mit der amerikanischen Literaturwissen-
schaftlerin Viktoria Kahn von einer rein säkularen Konzeption von poiesis sprechen
kann, derzufolge Menschen nur das wissen können, was sie selbst gemacht haben, das
Historische, das Soziale und das Säkulare,133 wäre im Hinblick auf die Kategorie der
Säkularisierung sicher zu diskutieren. Aber in dieser Perspektive kann die moderne
Rechtstheorie seit Hobbes zweifellos als ein begriffliche Wissenschaft und unbegriffli-
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§ 4. System II
Die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die verschiedenen Interpretationen, die sie 108
in der Rechtstheorie erfahren hat,1 können als Versuche interpretiert werden, auf die
Krise des Rechtspositivismus zu reagieren, ohne den Begriff des Rechtssystems zur Be-
zeichnung der Einheit der Rechtsordnung aufzugeben. In der Systemtheorie bekommt
der Begriff des Systems allerdings einen völlig anderen Gehalt. Im Unterschied zum
Rechtspositivismus wird das System der Systemtheorie nicht mehr über eine „innere
Einheit“ aufeinander abgestimmter Rechtsnormen und Institutionen konstituiert.
Auch die Annahme der reinen Rechtslehre Hans Kelsens, dass das Rechtssystem eine
„Grundnorm“ voraussetzen muss, um erfolgreich operieren zu können, wird aufgege-
ben. An die Stelle einer wissenschaftlich vorauszusetzenden Grundnorm tritt die lau-
fende Grenzziehung des Rechtssystems selbst, seine unablässige Abgrenzung gegen-
über allem, was nicht Recht ist. Statt an Einheit orientiert sich die Systemtheorie
deshalb an Differenz,2 an einem Denken, dass das Rechtssystem von einer System/
Umwelt-Unterscheidung her konzipiert. „Unter ‚System‘ verstehen wir ... einen Zu-
sammenhang von faktisch vollzogenen Operationen, die als soziale Operationen Kom-
munikationen sein müssen, was immer sie dann noch zusätzlich als Rechtskommuni-
kationen auszeichnet. Das aber heißt: die Ausgangsunterscheidung [der Rechtstheorie,
T. V.] nicht in einer Normen- oder Wertetypologie zu suchen, sondern in der Unter-
scheidung von System und Umwelt.“3
Die Definition des Rechtssystems als Unterscheidung von System (alles, was Recht ist) 109
und Umwelt (alles andere) will der erkenntnistheoretischen Einsicht Rechnung tragen,
dass jede Beobachtung (oder Beschreibung) mit einer Unterscheidung oder Differenz
beginnen muss.4 Luhmann knüpft hier zunächst an die platonische Tradition der be-
griffsbezogenen Unterscheidungskunst an, derzufolge jeder zu bezeichnende Gegen-
stand nur in Differenz zu einem anderen Gegenstand bezeichnet werden kann; insbe-
sondere das in den platonischen Spätdialogen entwickelte Verfahren der diairesis (von
gr. hairéo, greifen, fassen) diente dem begrifflichen Unterscheiden, der Einteilung von
Gattungen (gr. géne).5 Heute ist das differenztheoretische Denken in verschiedenen
akademischen Disziplinen verbreitet, prominent etwa in der Philosophie von Jacques
Derrida und seinem Kunstbegriff der „différance“ oder in der Soziologie von Pierre
Bourdieu und den von ihm analysierten „Distinktionspraktiken“. Erinnert sei an dieser
1 Einen Überblick geben u. a. G.-P. Callies, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, 2009, 53ff.; T. Vesting/
I. Augsberg, Das Recht der Netzwerkgesellschaft, 2013, 1ff.; vgl. allg. auch A. Korschorke/C. Vismann,
Widerstände der Systemtheorie, 1999.
2
Zum Differenzbegriff vgl. J. Clam, Was heißt, sich an Differenz statt an Identität zu orientieren?, 2002,
15ff.; vgl. auch V. Descombes, Das Selbe und das Andere, 1981, 161ff. Dies hat zur Folge, dass
„Grenze“ – wie D. Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005, 156 – bemerkt, der mög-
licherweise wichtigste Begriff zur Beschreibung der Merkmale eines Systems ist.
3
N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 40f.
4
Luhmann, ebd., 26.
5 Vgl. Platon, Sophistes, 253d. Die Diairetik zielte nicht zuletzt auf die Vermeidung von Paradoxien; vor
allem sollte vermieden werden, „daß man nicht ein und denselben Begriff für einen anderen hält und
den, der ein anderer ist, für denselben“.
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§ 4. System II
Stelle außerdem noch einmal an die grundlegende, mit dem Namen Ferdinand de Saus-
sure verbundene Erkenntnis von der Willkür der Zeichenfestlegung (l’arbitraire du
signe) in den natürlichen Sprachen. Nach Saussure bestimmt sich der Wert eines sprach-
lichen Zeichens nur in Differenz zu einem anderen Zeichen, nicht aber aus der Einheit
des Zeichenwerts mit einem durch das Zeichen repräsentierten Sein. Die Bezeichnung
Apfel funktioniert in der Alltagskommunikation, weil „Apfel“ leicht von „Birne“ unter-
schieden werden kann, nicht aber, weil das Wort Apfel eine ontologisch stabile Bezie-
hung zu dem von ihm bezeichneten Obststück unterhielte (vgl. Rn. 54ff.).
110 Im zweiten Schritt wird das Unterscheidungsdenken in der Systemtheorie allerdings ra-
dikalisiert. Während sich die platonische Unterscheidung von Begriff und Gegenbegriff
immer innerhalb einer vorausgesetzten Einheit bewegte, in der letztlich alle Differenzen
im Sein des Seienden aufgehoben wurden, transformiert die Systemtheorie das Unter-
scheidungsdenken in eine – aus traditionell philosophischer Sicht – „postontologische“
Theorie.6 Für Luhmann ist der Systembegriff ein Anwendungsfall des Formbegriffs des
englischen Mathematikers George Spencer Brown. Dessen Werk Laws of Form (1969)
entwirft eine präidentitäre (Ur-)Logik oder Protologik, „welche die Differenz und die
Paradoxie als die Anfangsvollzüge alles Denkens ansetzt.“7 Formen sind für Spencer
Brown nicht das, was eine Gestalt ausmacht, so wie etwa die Formensprache des franzö-
sischen Bildhauer Auguste Rodins (1840–1917) die Gestalt seiner Skulpturen, son-
dern – entgegen dem normalen und philosophischen Sprachgebrauch – sind Formen
für Spencer Brown Grenzlinien, Markierungen einer Differenz, die zwei Seiten tren-
nen.8 Der Vollzug der Trennung, die Markierung, basiert wiederum auf einer Anwei-
sung, nämlich auf der Anweisung, eine Unterscheidung zu treffen („Draw a distinc-
tion!“). Damit soll u. a. zum Ausdruck gebracht werden, dass allen „ersten“ Sätzen,
Axiomen oder Prinzipien, wie sie für das naturphilosophische und rechtspositivistische
System konstitutiv waren (vgl. Rn. 73ff., 83ff.), eine Differenzsetzung vorausgeht; dass
nur dann, wenn – an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit – eine Unter-
scheidung getroffen und etwas als etwas bezeichnet wird, überhaupt eine beobachtbare
Operation anlaufen und eine Theorie einen Anfang des Denkens setzen kann.
111 In diesem Sinne fungiert der Formbegriff Spencer Browns als Startpunkt der System-
theorie. Der „erste“ Satz, der Anfang oder Grund des Systems schrumpft von theore-
tisch anspruchvollen Konzepten wie der Konstitution eines Souveräns durch einen
(hypothetischen) Gesellschaftsvertrag (Hobbes), einem transzendentalen Subjekt
(Kant), einem sich in der Geschichte realisierenden Geist (Hegel) oder einem freien
Willen (Rechtspositivismus) auf den Vollzug einer Markierung/Unterscheidung zu-
sammen: Der Anfang des Systems der Systemtheorie besteht in der Transformation
einer Hintergrundsunbestimmtheit in die Bestimmtheit zweier Seiten, von der jede
Seite der Form die andere Seite der anderen Seite ist.9 Zeichnet man z. B. einen Kreis
6
Vgl. Clam (Fn. 2), 28ff., 48ff.
7
Clam, ebd., 19, 27 („eine Art nicht-philosophischer Apriorik“) und 107 („Urlogik der Beobachtung und
ihrer Reflexivität“); vgl. auch N. Luhmann, Die Paradoxie der Form, 1993, 197ff.
8 Vgl. G. Spencer Brown, Laws of Form, 1977 („We take as given the idea of distinction and the idea of
indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction. We take, therefore,
the form of distinction for the form.“); vgl. auch Clam (Fn. 2), 32 (der auf die Selbstgenügsamkeit/
Selbstenthaltsamkeit der Formen Spencer Browns hinweist).
9 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 60; eine gute Einführung in die Problematik
findet sich bei N. Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, 2006, 70ff.
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II. Operative Geschlossenheit
auf ein weißes Blatt Papier, erzeugt man zugleich eine Differenz („distinction“) und
eine Markierung („indication“), nämlich die Innenseite und die Außenseite des Krei-
ses, die sich jeweils über die andere Seite bestimmt. Das System der Systemtheorie ver-
steht sich als Anwendungsfall einer solchen Zwei-Seiten-Form im Sinne Spencer
Browns. Es basiert auf einer Form, die das System von seiner Umwelt unterscheidet
und bezeichnet. Dabei wird die Einheit des Systems sozusagen zwischen die Unter-
scheidung von System und Umwelt geschoben, also auf jede ontologische Einheitslö-
sung verzichtet. Einheit, auch die dialektische Identität von Differenz und Identität,
wird durch Differenz ersetzt bzw. durch die „Differenz von Identität und Differenz“.10
1. Autopoiesis
Soweit sich die Rechtstheorie als Normentheorie versteht, interessiert sie sich primär, 112
wenn nicht ausschließlich, für vermeintlich stabile Strukturen, für Rechtstexte wie Ge-
setzbücher oder einzelne Rechtsnormen wie z. B. § 823 BGB, nicht aber für deren je-
weilige Anwendung. Die Systemtheorie denkt in gewisser Weise umgekehrt: Für sie
steht der Akt rechtsrelevanten Sprachhandelns, die Rechtskommunikation, im Vor-
dergrund. Sie beobachtet nicht die (geschriebene) Norm des § 823 BGB als solche
oder als Bestandteil eines umfangreicheren (gedruckten) Gesetzestextes, sondern ihren
jeweiligen Gebrauch in einer kommunikativen Episode, im Alltagsgeschehen und im
Rechtsbetrieb. Das rechtsrelevante Handeln kann unterschiedliche Erscheinungsfor-
men annehmen, eine kommunikative Episode kann auch das sein, was man juristisch
einen Fall nennt: Nach Abschluss der Verhandlung billigt das Zivilgericht dem Kläger
mit Urteil vom 7.12.2014 Schadensersatz für seinen 6 Monate zuvor widerrechtlich –
von einem Porsche 911 Turbo – angefahrenen Zuchtbullen zu. Schon Kelsen hatte
diese dynamische Seite des Rechts von aller „Rechtsstatik“ abgesondert,11 die Dyna-
mik der laufenden Rechtserzeugung von Fall zu Fall aber letztlich doch wieder an eine
zeitstabile Idealität, an eine den Stufenbau der Rechtsordnung abschließende Grund-
norm rückgebunden. Luhmann kappt noch diesen Anker und folgt den pragmatischen
Strömungen der (Sprach-)Philosophie seit Wittgenstein (vgl. Rn. 54ff., 60ff.). Damit
verliert die Rechtsnorm ihren Status als ontologisches Objekt. Die Rechtstheorie
beobachtet nicht vermeintlich stabile Normen, sondern flüchtige Rechtsereignisse –
Schadensfälle,Vertragsschlüsse, Gerichtsurteile, Verwaltungsakte, Gesetzgebungspro-
zesse usw. –, kommunikative Episoden, in denen Normen als Anknüpfungspunkte für
rechtsrelevantes Handeln und damit als Strukturen für Wiederholungen, für Wieder-
verwendungen in jeweils anderen Situationen fungieren.
Verknüpft man die Vorstellung eines sich aus einzelnen rechtsrelevanten Handlungen 113
und Kommunikationen zusammensetzenden Rechtsgeschehens mit der Differenz-
theorie, dann lautet die Ausgangsfrage: Wie kann das Rechtssystem seine Grenzzie-
hung laufend operativ wiederholen und sich im Laufe der Zeit so stabilisieren, dass es
10
N. Luhmann, Soziale Systeme, 1984, 26. Vgl. dazu auch den treffenden Kommentar von Clam (Fn. 2),
26 („Die differentialistische Systemtheorie ... kennt keine in sich zentrierte Identität, sondern nur ein
Ineinander von Identität und Differenz, daß an sich nichts ist, sondern nur im operativen Vollzug der
Grenzziehung und Unterscheidung etwas wird.“).
11
H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 114ff., 196ff.
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§ 4. System II
sich selbst von anderen Systemen in seiner Umwelt unterscheiden kann? Die Antwort
der Systemtheorie auf diese Frage lautet: durch operative autopoietische Geschlossen-
heit. Als operativ geschlossene Systeme bezeichnet die Systemtheorie solche Systeme,
„die zur Herstellung eigener Operationen auf das Netzwerk eigener Operationen an-
gewiesen sind und in diesem Sinn sich selber reproduzieren“.12 Das System der Sys-
themtheorie setzt sich also selbst voraus und betreibt mit weiteren Operationen seine
eigene Reproduktion. Im Unterschied zu älteren Theorien der Selbstorganisation be-
zieht sich die fortwährende Reproduktion des Systems aber nicht nur auf die system-
eigenen Strukturen, sondern auch auf die elementaren, für das System selbst nicht
weiter auflösbaren Operationen, die rechtsrelevanten Ereignisse und Handlungen,
„und damit auf alles, was im System für das System als Einheit fungiert“.13 Die
laufende Herstellung der Strukturen und Elemente des Systems im Netzwerk des
Systems, wird – im Anschluss an den chilenischen Biologen Humberto Maturana –
als „Autopoiesis“ bezeichnet und von Luhmann als „Invariante“ in die Rechtstheorie
eingeführt.14
114 Autopoiesis des Systems meint Selbst-Herstellung (von gr. autos, selbst und gr. poiesis, herstellen, machen)
der systemeigenen Strukturen und Elemente durch das System, nicht vollständige ursächliche Produktion
oder Kreation des Systems durch das System. Der Prozess der netzwerkartigen Selbstproduktion schließt
niemals die Kontrolle über sämtliche Ursachen ein, die die Systembildung ermöglichen. Hier geht es der
Systemtheorie wie der Fotographie. Die Fotographie bildet normalerweise Dinge, körperliche Gegen-
stände, ab, aber diese sind kein Bestandteil der Fotographie selbst. Auch ein Modefoto von Cara Dele-
vingne schließt nicht ihren Körper ein, und dies obwohl der Körper von Cara Delevingne zweifellos die
wichtigste Ursache für das Schießen von Modefotos mit ihr als Model sein dürfte.
115 Mit der Konzeption eines autopoietischen Systems richtet die Systemtheorie das Au-
genmerk ganz auf die interne Konditionierung der Systemelemente und -strukturen.
Das System praktiziert eine selektive Verknüpfung, eine systeminterne Auswahl von
Informationen, und nur wenn das der Fall ist, ist es sinnvoll, „von systemeigenen Ele-
menten, von Systemgrenzen oder von Ausdifferenzierung zu sprechen“.15 Die Auto-
nomie des Systems im Sinne der traditionellen Fassung des Begriffs – Selbstgesetz-
gebung, Selbstlimitierung (gr. autonomia)16 – erscheint dann als Konsequenz der
operativen Geschlossenheit des autopoietischen Systems.17 Das System selektiert und
verknüpft sinnhafte kommunikative Ereignisse, die sich dem Rechtssystem zuordnen
und seine Strukturen benutzen, nicht aber gehört z. B. die Körperlichkeit des Hand-
schlags, mit dem zwei Parteien einen Vertrag abschließen, zum System. Damit wird
nicht bestritten, dass ein Vertrag durch Handschlag und wechselseitigen Körperkon-
takt „besiegelt“ werden kann; es wird lediglich unterstellt, dass der Handschlag für das
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II. Operative Geschlossenheit
18
Vgl. Luhmann (Fn. 10), 193ff.; zum Versuch, Kommunikation zugleich abhängig und unabhängig von
Psyche und Bewusstsein zu denken, vgl. D. Baecker, Kommunikation, 2005, 17ff.
19 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 33.
20
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1913), 1976, 394ff., 406ff., 427ff.
21
Zum Verhältnis System/Mensch vgl. G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 59f.
22 Zur Kritik und zu den Inkonsistenzen dieser Auffassung vgl. T. Vesting, Die Medien des Rechts, Bd. 1:
Sprache, 2011, 47ff., 67ff.
23
Luhmann (Fn. 3), 441; zur „strukturellen Kopplung“ vgl. auch Calliess (Fn. 1), 65.
71
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§ 4. System II
tion“ als dauerhafter Verknüpfung von Bewusstsein und Gesellschaft.24 Aber auch strukturelle Kopplung
und Interpenetration ändern nichts an der systemtheoretischen Vorstellung einer Autopoiesis aller sozialen
Systeme; kein Gedanke, so die ganz grundlegende Annahme, kann unmittelbar aus dem Rechtssystem in
das Bewusstsein des Einzelmenschen eindringen (sofern er als „Gedanke“ ernst genommen wird), und um-
gekehrt kann das einzelne Bewusstsein nie direkt in die Autopoiesis des Rechtssystems intervenieren. Das
Bewusstsein kann im Rechtssystem lediglich Irritationen, Überraschungen oder Störungen auslösen, wo-
hingegen Gehirn, Blutkreislauf, Muskulatur und andere körperliche Elemente ohnehin nicht Gegenstand
der Rechtskommunikation als sinnhafter Kommunikation werden können. Es ist die Einheit einer Unter-
scheidung, die an die Stelle der (unmittelbaren) Identität von Mensch und Recht oder Mensch und Gesell-
schaft tritt. Rechtspolitisch gesehen liegt darin eine Fortsetzung der liberalen Tradition des Gesellschafts-
vertrages (Hobbes, Locke, Schottische Aufklärung etc.).25 Auch in der Systemtheorie bleibt eine
Spannung zwischen Individuum und sozialem System erhalten, eine Fremdheit der anderen Seite, ein An-
deres der Kultur (wie man vielleicht auch sagen könnte), ein Bruch, der eine „Aufhebung“ dieser Spannung
in einer den Menschen ganz und gar einschließenden Rechtsidee oder Rechtsgemeinschaft nicht zulässt.
2. Zeit
117 Das System der Systemtheorie ist ein dynamisches System. Es besteht nicht aus festen
Partikeln, sondern aus Sprechakten oder Kommunikationen. Von „Element“ kann mit
Bezug auf autopoietische Systeme daher nur im Sinne von temporalisierten Elemen-
ten, von zeitpunktgebundenen Ereignissen oder Operationen, die Rede sein; Opera-
tion ist dementsprechend als „Reproduktion der ereignishaften Elemente“ eines Sys-
tems definiert.26 Auch für das Rechtssystem ist Zeit nur ereignishaft, als Zeitpunkt,
gegeben, als Differenz zwischen einem Vorher und einem Nachher der Zeit. Der Zeit-
punkt markiert aber nicht so sehr eine bestimmte Stelle in der gleichmäßig dahin fließ-
enden chronometrischen Zeit, der Zeit der Minuten, Stunden, Tage und Wochen etc.,
obwohl auch diese – z. B. bei Verjährungsfristen – eine wichtige Rolle im Recht spielt.
Zeit ist für das System der Systemtheorie zuallererst eine Dimension der Bestimmung
von Sinn; sie besteht aus „Aktualisierungen sinnhafter Möglichkeiten, die im Augen-
blick ihrer Realisation schon wieder verschwinden“.27 Der Richter verkündet den Be-
weisbeschluss, und schon im nächsten Augenblick kann daran nur noch – mit Hilfe
des Protokolls – erinnert werden. Setzt man so an, operiert das Recht stets in einer
punktualisierten Gegenwart: Alles, was geschieht, geschieht gleichzeitig, d. h. jetzt, in
diesem Augenblick – oder im nächsten. „Auch Vergangenheit und Zukunft sind stets,
und nur, gleichzeitig relevant, sind Zeithorizonte jeweils gegenwärtiger Operationen
und können als solche nur in der Gegenwart unterschieden werden. Ihre rekursive
Verknüpfung wird in jeweils aktuellen Operationen hergestellt.“28
118 Für autopoietische Systeme ist diese zeitpunktgebundene Zeit, die Zeit des Augen-
blicks, konstitutiv. Autopoietische Systeme existieren nur im Moment ihres Vollzugs,
im Moment der Operation, nicht aber zeitüberdauernd über ein Ereignis hinaus.
24
Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 108; ders. (Fn. 10), 286ff.
25
K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 21ff.
26 Luhmann (Fn. 10), 79; ders., Temporalisierung von Komplexität, 1980, 241 („Temporalisierte Systeme
können also nur als temporalisierte Elemente, das heißt aus Ereignissen bestehen.“).
27
Luhmann (Fn. 3), 50; in ders., Die Politik der Gesellschaft, 2000, 150 verschärft Luhmann diesen Ge-
danken dahingehend, dass im Moment der Operation des (politischen) Systems, der Entscheidung,
sich dieses selbst mit Hilfe der Zeit erzeugt, indem das System die Zeit noch einmal – in Form des re-
entry – in der Zeit thematisiert. Ähnlich Clam (Fn. 2), 59ff.
28
Luhmann (Fn. 3), 45.
72
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II. Operative Geschlossenheit
Identitäten (Elemente) sind nicht der Zeit vorgegeben, vielmehr steht das System mit-
ten in der Zeit und konstruiert und reproduziert je gegenwärtig für eine gewisse Zeit
Formbildungen, die Zeitbindungen erzeugen.29 Auch das Rechtssystem produziert
und reproduziert ein ständiges Kommen und Gehen, die Elemente, die rechtsrelevan-
ten Handlungen, verschwinden, weil sie sich in der Zeit nicht halten können und lau-
fend erneuert werden müssen. „Normativität“ ist daher für das Rechtssystem der Sys-
temtheorie nicht als zeitstabile Normativität oder gar als „ewiges Naturrecht“
gegeben.30 Das Rechtssystem ist zwar wie alle sozialen Systeme auf Selbstproduktion
und damit wie ein Computer auf dynamische Stabilität angelegt, aber die punktuali-
sierte Zeit der Systemtheorie ist wie die Zeit der modernen Physik irreversibel, so dass
ein Sich-Selbst-Gleichbleiben der Systemstrukturen, der binären Recht/Unrecht-Co-
dierung und der darauf bezogenen Normen (Programme), nur durch einen beständi-
gen Austausch der Elemente, durch einen unaufhörlichen Betrieb, erzeugt werden
kann. Das Rechtssystem vollzieht die Reproduktion normativen Sinns auf der Grund-
lage stets aktueller und kontextabhängiger Verwendung von Rechtsnormen. Damit
wird die Möglichkeit der Wiederverwendung derselben Regeln in anderen Situationen
nicht ausgeschlossen. Aber die Wiederverwendung wird nicht mehr – wie nach antiker
oder noch mittelalterlicher Auffassung – als Synonym für eine Gegenwart und Zu-
kunft beherrschende Vergangenheit oder Tradition gefasst. Und Wiederverwendung
meint auch nicht mehr: Anwendung eines zeitstabilen allgemeinen Gesetzes, das
sich – wie in Kants praktischer Philosophie und im Rechtspositivismus des 19. Jahr-
hunderts – in eine homogene Zukunft hinein erstreckt, die aus der Wiederholung
ein- und derselben Gegenwart hervorgeht.
Vor allem in dieser Hinsicht – in Bezug auf die Punktualisierung der Zeit – ist die Sys- 119
temtheorie eine strikt postontologische Theorie. Für Luhmann gibt es nicht dinghafte
Identität der Elemente einerseits und Zeitlichkeit der Operationen andererseits. Die
Vorstellung ist vielmehr, dass es Identität, seien es Objekte (Dinge) oder Subjekte
(Menschen), nur in der Zeit gibt. Die Sprache ist vielleicht das Paradigma für eine sol-
che Art von (Objekt-)Identität, wie sie sich die Systemtheorie vorstellt: für nicht sei-
ende, sondern werdende und insofern sich kontinuierlich verändernde Substanz.
Diese Eigenschaft der Sprache, ihre ständige Fluktuanz, hat Ferdinand de Saussure in
ein unvergessliches Bild gekleidet: Boguslawski – Bewohner einer russischen Klein-
stadt – lässt zweimal im Monat eine Portraitaufnahme von sich anfertigen. Als man
diese Fotos nach zwanzig Jahren in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung
nebeneinander legt, zeigen die jeweiligen benachbarten Portraits stets den gleichen Bo-
guslawski, das erste und das letzte Bild jedoch zwei ganz verschiedene Männer.31 In
ähnlicher Weise kann man sagen, dass das Deutsch Immanuel Kants ein anderes ist
als dasjenige Luhmanns, aber es ist kaum möglich, einen Punkt in der Geschichte der
deutschen Sprachen zu bestimmen, an dem das Deutsch Kants aufhört und das
Deutsch Luhmanns beginnt.
Zeit ist für die Systemtheorie mit anderen Worten ein der Kommunikation immanen- 119 a
tes Ereignis, das auch nicht durch die Fiktion einer der Zeit vorgegebenen „logischen“
29
Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 998, 1015.
30
Luhmann (Fn. 3), 211f. („Codes und Programme (Normen) findet man daher nicht vor als Sachver-
halte eigener Qualität, als ob sie wie Ideen oberhalb der Kommunikation eine eigene Existenz führ-
ten.“). Vgl. auch ders. (Fn. 9 – Gesellschaft), 45 (hier im Zusammenhang mit dem Sinnbegriff ).
31
Vgl. dazu Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 129.
73
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§ 4. System II
Sphäre, auf der die berühmte juristische Sekunde beruht, übersprungen werden kann.
Die Vorstellung einer punktualisierten Zeit bricht – wie auch andere Denkfiguren der
Systemtheorie – mehr oder weniger vollständig mit dem Alltagsbewusstsein und der
philosophischen Tradition und gehört damit zu den großen Zumutungen, die von
der Systemtheorie für das (traditionelle) Denken und die Rechtstheorie ausgehen.
Denn die klassische Philosophie von Aristoteles bis Hegel ist immer – wie der
„gesunde Menschenverstand“ – von einer ontologischen Einbettung der Zeit ausge-
gangen: Während Zeit hier also wie ein Seinsfaktum, wie eine Bewegung im Raum,
behandelt wurde,32 sprengt Luhmanns Zeitauffassung die herkömmliche Unterschei-
dung von Statik und Dynamik, Ruhe und Bewegung, Festem und Fließendem. Wäh-
rend das Feste in der Tradition immer als die obere Seite galt, wird bei Luhmann alles
Feste auf das Fließende gegründet bzw. Ruhe und Bewegung, Statik und Dynamik in
einen zirkulären Zusammenhang gebracht. Daraus geht die Vorstellung dynamischer
Systemstabilität hervor, einer – in den Worten Gunther Teubners – „dynamischen
Ordnung der Dauerveränderung“.33
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II. Operative Geschlossenheit
von anderen Kommunikationen unterscheiden lassen und dadurch, mit nur margina-
len Randunschärfen, sich aus sich selbst heraus reproduzieren können.“36
Die frühe Rechtssoziologie Luhmanns (1. Aufl. 1972) entwickelt den Begriff der Rechts- 121
autonomie im Kontext einer gesellschaftstheoretischen Funktionsanalyse.37 Daran hält
Luhmann auch später fest, insofern er noch im Recht der Gesellschaft unter „funktionaler
Spezifikation“ die Ausrichtung des Rechtssystems auf ein spezifisch gesellschaftliches
Problem versteht, dessen erfolgreiche Lösung durch kein anderes soziales Funktionssys-
tem ersetzt werden kann und deshalb in die Gesamtgesellschaft hinein verallgemeinert
werden muss. Diese spezifisch soziale Funktion des Rechtssystems besteht in der Siche-
rung normativer Erwartungen, die für den Fall, dass sie nicht erfüllt werden, kontrafak-
tisch – gegebenenfalls mit Hilfe sanktionierter (politischer) Gewalt – gegen Enttäu-
schungen abgesichert sind (vgl. Rn. 42ff.). Der Zeitaspekt, die Erwartungssicherheit,
bezieht sich dabei immer auf die Rechtsnorm als der besonderen Kommunikationsform
des Rechts, nicht auf die individuelle Erwartung einzelner Personen;38 das Prozessieren
normativer Erwartungen wird dementsprechend als Versuch der modernen Gesell-
schaft gewertet, „sich wenigstens auf der Ebene der Erwartungen auf eine noch unbe-
kannte, genuin unsichere Zukunft einzustellen“.39 Damit wird erneut die dynamische
Stabilität autopoietischer Systeme betont. Das Rechtssystem hat unter der Bedingung
eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels und einer prinzipiellen Zukunftsunge-
wissheit die Aufgabe, ein Netzwerk von stabilen Zeitbindungen aufzubauen und zu er-
halten, normative Erwartungen stets mit normativen Erwartungen zu verknüpfen, und
die Gesellschaft damit insgesamt dynamisch zu stabilisieren.
Im Recht der Gesellschaft wird allerdings deutlicher als noch in der frühen Rechtssoziolo- 122
gie herausgestellt, dass das Rechtssystem zu seiner autopoietischen Schließung eine ei-
gene Codierung benötigt.40 Der Begriff der „Codierung“ steht für eine nicht weiter auf-
lösbare Unterscheidung, die wiederum nur in einem (und in keinem anderen) System
der Gesellschaft benutzt wird. „Codierung“ ist für strikt binäre Strukturen im kyberne-
tischen Sinn reserviert,41 d. h. für einen zweiwertigen Schematismus, der nur einen po-
sitiven (Recht) und einen negativen Wert (Unrecht) kennt und andere „dritte“ Werte
ausschließt. Immer wenn Rechtsbehauptungen aufgestellt werden, seien es explizite
oder implizite Rechtsbehauptungen, immer wenn erkennbar Rechtsgeltung in An-
spruch genommen wird, ordnet sich die Kommunikation dem Rechtssystem zu.42 Das
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§ 4. System II
ist nicht nur vor Gericht z. B. bei einem Antrag auf Klageabweisung der Fall, sondern
kann auch außerhalb von Rechtsorganisationen, wie Gerichten, Verwaltungen oder
Parlamenten, geschehen. Am häufigsten dürften Rechtsbehauptungen im Kontext von
Verträgen auftreten. Aber auch andere Fälle sind denkbar. Wenn beispielsweise in Paris
Studierende demonstrieren, um ihre Ablehnung gegenüber einer mit parlamentarischer
Mehrheit zustande gekommenen Arbeitsgesetzgebung zum Ausdruck zu bringen und
den status quo ante einfordern, fordern sie – gegen einen parlamentarischen Mehrheits-
beschluss und damit zu Unrecht – die Wiederherstellung alten Rechts. Auch die Er-
widerung des Premierministers, an der Flexibilisierung des Kündigungsschutzes für
Berufsanfänger festhalten zu wollen, ist eine Rechtskommunikation: Das neue Kündi-
gungsrecht wird – zu Recht – als das neue, jetzt geltende Recht qualifiziert.
123 Der binäre Code des Rechtssystems ist demnach nichts anderes als die Struktur eines
Zuordnungsverfahrens, die das Oszillieren zwischen Recht als positivem Wert und
Unrecht als negativem Wert reguliert.43 Das Beispiel der demonstrierenden französi-
schen Studierenden macht allerdings deutlich, dass die Codierung des Rechtssystems
auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung mit großen Unsicherheiten behaftet
ist. Es wäre ja durchaus denkbar, vielleicht sogar naheliegend, dass die Studierenden
in ihrem eigenen Selbstverständnis politisch agieren wollten und auch Dritte, z. B.
der Auslandskorrespondent der FAZ, den Protest der Studierenden als Reaktion auf
eine verfehlte Bildungspolitik und nicht als Rechtsargument verstanden hat, zumal
wenn an der formalen Korrektheit des Zustandekommens des Gesetzes im parlamen-
tarischen Verfahren keine Zweifel aufkommen konnten. Eine stabile Handhabung des
Codes Recht/Unrecht kann daher wohl erst auf der Ebene der Beobachtung zweiter
Ordnung eingerichtet werden, auf der Ebene professioneller Expertise, auf der etwa
Anwälte, Gerichte oder Hochschullehrer den Protest der Studierenden dem Rechtssys-
tem zuordnen (oder nicht zuordnen).
124 Die formale Definition von Beobachtung zweiter Ordnung heißt, wie wir weiter oben schon gesehen
haben: Beobachtung von Beobachtern (vgl. Rn. 11ff.). Inhaltlich gesehen ist Beobachtung zweiter Ord-
nung mit einem reflexiven Umgang von Unterscheidungen verbunden, im Rechtssystem damit, die
Recht/Unrecht-Unterscheidung professionell-juristisch zu handhaben, nicht aber religiös, ethisch oder po-
litisch. Erst wenn Rechtsnormen an bereits vorliegende Rechtsnormen anschließen und der binäre Schema-
tismus von Recht/Unrecht auf der Ebene zweiter Ordnung kontinuierlich gehandhabt wird, wird das
Rechtssystem nach Luhmann operativ geschlossen.44 Die französischen Studierenden appellieren an die
„Gerechtigkeit“, aber der Premierminister weist auf die Einhaltung aller Rechtsvorschriften im Gesetzge-
bungsverfahren hin. Für den reflektierenden Beobachter ist der Fall damit klar: Soweit es sich bei dem Pro-
test der Studierenden um Rechtskommunikation handelt, nimmt sie zu Unrecht für sich in Anspruch,
Recht zu haben.
125 Zur Ausdifferenzierung des Rechtssystems tragen über den binären Code hinaus be-
sondere Programme, d. h. in unserer Terminologie Rechtsnormen oder Rechtsregeln
bei. Erst die Programme, erst Rechtsnormen, steuern die Zuordnung zur einen oder
43 Luhmann, ebd., 70 („Das Recht der Gesellschaft realisiert sich über die Codereferenz – und nicht über
eine (wie immer hypothetische oder kategorische, vernünftige oder faktische) Erzeugungsregel.“), vgl.
auch 178 („Dank des binären Codes gibt es einen positiven Wert, wir nennen ihn Recht, und einen
negativen Wert, wir nennen ihn Unrecht.“).
44 Luhmann, ebd., 70 (für den Code), vgl. auch 61 („Die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen
Rechtssystems setzt voraus, daß das System auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung operieren
kann, und zwar nicht nur gelegentlich, sondern kontinuierlich.“).
76
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II. Operative Geschlossenheit
45
Luhmann, ebd., 76. Bei Edgar Morin lautet die Formel: „L’ouvert s’appuye sur le fermé.“
46
Luhmann (Fn. 3), 76; Spencer Brown (Fn. 8), 56f., 69ff.; G. Teubner, Coincidentia oppositorum, 2004,
187; kritisch Clam (Fn. 2), 107.
47 Vgl. nur Luhmann (Fn. 3), 52f.
48
Luhmann, ebd., 77.
77
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§ 4. System II
renz) und Fakten (Fremdreferenz) auseinander zu halten und dabei jeden Ansatz zur
Verwischung dieser Unterscheidung zu vermeiden sucht, einschließlich aller Versuche,
von Fakten auf Normen zu schließen.49 Mit Bezug auf die binäre Codierung folgt aus
der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz außerdem, dass der Ver-
weis auf externes Wissen nur über die Ebene der Programmierung des Codes, nur
über Gesetze, Rechtsnormen oder Präjudizien, wirken kann.50 Nur weil im Zivilrecht
ausdrücklich nach der Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gefragt wird
(z. B. § 276 BGB), kann das Haftungsrecht sich wandelnde gesellschaftliche Konven-
tionen rezipieren. Nur weil das öffentliche Recht vielfach Generalklauseln in seine
Normstrukturen integriert, kann etwa das Polizeirecht auf gesellschaftliche Konventio-
nen zurückgreifen, um in der Gefahrenabwehr an Wahrscheinlichkeiten und Erfah-
rungen des täglichen Lebens anzuknüpfen. Ähnlich ist es im Technikrecht: Weil die
aus technischer Expertise hervorgehenden Grenzwerte zu einer rechtlich relevanten
Information erklärt werden, kann das Immissionsschutzrecht die Beeinträchtigung
der Lebensqualität durch Lärmeinwirkungen im Inneren eines Wohnraums anhand
der Richtlinie 2058 des Vereins Deutscher Ingenieure über die Beurteilung von Ar-
beitslärm in der Nachbarschaft regulieren. Gerade in solchen Fällen verfügen Normen
über eine sehr weitreichende Aufgeschlossenheit gegenüber vorweg nicht festlegbaren
Umweltbedingungen. Damit wird die normative (operative) Geschlossenheit des
Rechtssystems nach Luhmanns Ansicht aber so lange nicht tangiert, wie sich aus-
schließlich das Recht am Schematismus von Recht oder Unrecht orientiert.51
128 Ladeur hat die Operationsweise operativ geschlossener (autopoietischer) Systeme mit der Situation eines
Blinden verglichen.52 Der Blinde benutzt einen Stock, um die Stabilität der ihn umgebenden Umwelt da-
raufhin zu überprüfen, ob sie hinreichende Festigkeit für die eigene Fortbewegung bietet. Mit Hilfe der
binären Codierung stabil/instabil konstruiert der Blinde ein operativ geschlossenes Orientierungssystem,
indem er einzelne Wahrnehmungen, die er über das Abtasten seiner Umwelt macht, miteinander verkettet.
Dies erlaubt ihm – bei entsprechender Übung – sich relativ sicher fortzubewegen, obwohl ihm der Stock
keineswegs eine auch nur annähernd vollständige Umweltbeschreibung liefert. Der Blinde kann sich nur
Vorstellungen über das machen, was der von ihm benutzte stabil/instabil-Code an Informationen liefert.
Gerade deshalb hat der differenztheoretische Ausgangspunkt der Systemtheorie weitreichende erkenntnis-
theoretische Implikationen: Das, was das System als Realität beobachtet, ist nicht die Realität als solche,
sondern immer nur das, was sich nach Maßgabe der systemeigenen Codierung als Realität darstellt. Damit
ist vor allem die Vorstellung unvereinbar, dass ein soziales System die „gesamte“ Wirklichkeit erkennen
könnte. Alles, was etwa das Rechtssystem über seine Umwelt lernt, ist kein Einblick in die Fülle des Seins,
49 Luhmann, ebd., 86f.
50 Luhmann, ebd., 93.
51 Luhmanns Argumentation in diesem Zusammenhang ist nicht immer unproblematisch. Sie tendiert
dazu, die komplexen Voraussetzungen des impliziten (praktischen) Wissens gegenüber der expliziten (öf-
fentlichen) Regelbildung zu vernachlässigen und die demokratische und verfassungsrechtlich gehegte
politische Regelbildung – zumindest gelegentlich – zum „vorherrschenden Variationsanlaß“ (ebd.,
278f.) der Rechtsevolution zu stilisieren. An diesem Punkt wäre mit K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die
Gesellschaft, 2006, 86, darauf hinzuweisen, „dass das Recht nicht ohne einen Bestand an in der Gesell-
schaft selbsterzeugtem Wissen operieren könnte, der nicht durch die öffentliche Vernunft der Regeln ge-
filtert werden kann. Es gibt keine Rechtsregel ohne gesellschaftliche Konventionen!“. Vgl. dazu auch
T. Vesting, Das moderne Recht und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015i. E.; zur Problematik der
rigiden Grenzziehung in Luhmanns Systemtheorie vgl. auch A. Koschorke, Die Grenzen des Systems und
die Rhetorik der Systemtheorie, 1999, 49ff.; und U. Stäheli, Sinnzusammenbrüche, 2000.
52
K.-H. Ladeur, The Theory of Autopoiesis as an Approach to a Better Understanding of Postmodern
Law, 1999 12; vgl. auch Baecker (Fn. 2), 154ff., der das Beispiel von Touristen wählt, die sich in einer
fremden Umgebung anhand von Merkmalen wie schlechten Betten, ungenießbarem Essen, ver-
schmutzten Stränden, schlechtem Personal usw. orientieren.
78
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III. Dynamische, rekursive Vernetzung
sondern eben in seine Umwelt. Anders gesagt: Der „Blick auf das Ganze“ wird durch einen höchst selekti-
ven und von vornherein beschränkten Blick auf die Welt ersetzt.
Die beschränkte Sicht auf die Welt hat freilich erhebliche Vorteile. Der Blinde realisiert, dass der Stock bei
geschickter Handhabung eine gute Orientierung ermöglicht, also hohe Umweltsensibilität garantiert. Der
Blinde kann gerade auf Grund der Geschlossenheit des Systems und der Benutzung nur einer Differenz
(stabil/instabil) wiederkehrende Muster schnell erkennen und dadurch eine relativ komplexe „Landkarte“
seiner Umgebung entwerfen. Darin liegt der Vorteil des binären Codes: Nur weil soziale Systeme irgend-
wann in ihrer Geschichte beginnen, die eigenen Operationen zu spezifizieren und nur noch nach Maßgabe
des eigenen binären Codes (und der dazu gehörigen Programme) zu prozessieren, finden sie einen eigenen
Zugang zur Umwelt, eine eigene Form der Verarbeitung unstrukturierter Komplexität.
Dieses Beispiel zeigt zugleich, dass autopoietische Systeme nur im Plural existieren können. Das Rechts-
system grenzt sich nicht nur von seiner natürlichen, sondern auch von seiner sozialen Umwelt ab, heute
insbesondere von anderen Funktionssystemen. Wirtschaft, Politik, Wissenschaft oder Massenmedien ar-
beiten ebenfalls nach eigenen Codierungen (und Funktionen), aber die Vielzahl autonomer (Funktions-)
Systeme erlaubt dem Rechtssystem, die durch andere Systeme strukturierte Komplexität für sich als Um-
welt zu benutzen. So ist es gerade für das Rechtssystem unerlässlich, dass andere Funktionssysteme wie
etwa das Wirtschaftssystem eine eigene Autonomie entwickeln und entsprechend strukturierte Komplexi-
tät bereitstellen. Es ist z. B. nicht vorstellbar, dass ein autonomes Rechtssystem ohne professionelle Juristen
existieren könnte. Rechtsprofessionalismus setzt jedoch spezialisierte Organisationen wie z. B. Anwalts-
kanzleien, Gerichte, Unternehmen, staatliche Verwaltung, Hochschulen oder Kirchenämter voraus. An-
wälte, Richter und Justitiare müssen wiederum Geld verdienen (können). Das geht freilich nur in einer
geldbasierten Wirtschaft, die global konkurrenzfähig ist, usw.
Ladeurs Beispiel des blinden Mannes ist auch im Hinblick auf die funktionale Differenzierung der moder-
nen Gesellschaft lehrreich. Auch der blinde Mann muss unterstellen, dass es eine vorstrukturierte Ord-
nung in seiner Umwelt gibt. Er muss etwa davon ausgehen können, dass Gehwege und Straßen nicht das-
selbe sind, dass Leute freundlich zu anderen Menschen sind (und nicht rüpelhaft) und dass die Wege, die
er beschreitet, ihn an Orte bringen, an denen er die Bedürfnisse des täglichen Lebens, wie etwa die Be-
schaffung von Nahrungsmitteln, befriedigen kann. Wäre all das nicht gegeben, wäre die binäre Codierung
weitgehend nutzlos. Der Blindenstock funktioniert also nur und nur so lange, wie die Umwelt eine für sei-
nen Code zugängliche Komplexität bereitstellt.
53 Luhmann (Fn. 3), 144 (hier in Zusammenhang mit der Funktion des Rechts).
54 K.-H. Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft,
ARSP 74 (1988), 218ff., 222.
79
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§ 4. System II
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III. Dynamische, rekursive Vernetzung
Schrift jede Wiederholung mit Andersheit (Iterabilität, Iterierbarkeit), mit einer dauernden Sinnverschie-
bung und Sinnaufschiebung, den jeder Akt der Wiederaneignung eines Textes unweigerlich produziert.
Diese Vorstellung dynamischer, rekursiver Systembildung wäre in einer rechtswissenschaftlichen Rechts-
theorie zu adaptieren und – anknüpfend etwa an die (hier vielfach zitierten) Arbeiten von Gunther Teub-
ner und Karl-Heinz Ladeur – in ihren Konsequenzen weiter auszuarbeiten.
81
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§ 4. System II
Vielmehr dreht Luhmann den Spieß um: Rechtsbildung ist gerade deshalb erforder-
lich, weil es bei der Paradoxie nicht bleiben kann. Recht und eine geordnete Rechts-
pflege kann es nur dann geben, wenn das Rechtssystem Mechanismen der laufenden
Entparadoxierung oder „Entfaltung“ der Gründungsparadoxie institutionalisiert.
Dazu wird die Gründungsparadoxie des Systems im laufenden Betrieb in eine Ent-
scheidungsparadoxie transformiert,66 derzufolge Rechtsfragen gerade deshalb entschie-
den werden müssen, weil sie unentscheidbar sind.67 Die laufende Entfaltung der Ent-
scheidungsparadoxie wird wiederum durch die Institution des Entscheidungszwangs
innerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit gesichert, dem Rechtsverweigerungsverbot
(vgl. z. B. § 300 ZPO), das seinerseits durch eine Form der juristischen Interpretation
(Argumentation) abgestützt wird, die ganz auf die Belange der gerichtlichen Entschei-
dung zugeschnitten ist.68
134 In diesem Kontext erweist sich die Theorie der Autopoiesis als Angebot, sich erst gar
nicht in (Be-)Gründungsfragen zu verstricken. Da autopoietische Systeme die Struk-
turen und Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst
erzeugen, läuft die Paradoxieentfaltung des autopoietischen Systems bereits in dem
Moment an, in dem das System – mit der „ersten“ Kommunikation – in den „Fluss
der Zeit“ eintritt und all seine „Unschuld“ für immer verliert. In dem Augenblick, in
dem die zeitpunktbezogenen Operationen des Systems beobachtet werden können,
hat das System schon angefangen zu prozessieren; und nur unter dieser Voraussetzung
kann die Frage nach dem Anfang des Systems gestellt und die Entdeckung gemacht
werden, dass der Anfang stets ein im System gefertigter Mythos ist.69 Auch das Rechts-
system hat immer schon angefangen zu prozessieren, denn nur wenn es praktisch ar-
beitet, kann es sinnvoll zum Gegenstand systembezogener Reflexion werden. „Die
Rechtspraxis operiert stets in einer Situation mit historisch gegebenem Recht, denn
anders könnte sie gar nicht auf die Idee kommen, sich selbst als Rechtspraxis zu unter-
scheiden. Entsprechend gibt es, historisch gesehen, keinen Anfang des Rechts, son-
dern nur Situationen, in denen es hinreichend plausibel war, davon auszugehen, daß
auch schon früher nach Rechtsnormen verfahren worden ist.“70
66
Vgl. G. Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien, 2003, 33 („Nach Luhmann kommt das Recht
dadurch überhaupt erst zur autopoietischen Systembildung, dass es das Paradox in eine Differenz ver-
wandelt, indem es das unendliche Oszillieren zwischen Recht und Unrecht als einen konditionierbaren
Widerspruch missversteht, ja in einen programmierbaren binären Code technisiert.“); vgl. auch
R. Christensen/A. Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts, 2007, 224ff.
67
Im Anschluss an H. v. Foerster, Ethics and Second-Order Cybernetics, 1992, 1ff., 6 („Only those ques-
tions that are in principle undecidable, we can decide.“). Vgl. Luhmann (Fn. 3), 307ff.; ders., Die Para-
doxie des Entscheidens, Verwaltungsarchiv 84 (1993), 287ff. Dazu näher Rn. 224ff.
68 Vgl. nur Luhmann (Fn. 3), 297ff., 338ff., vgl. auch 520f. (für den Fall des Common law), und 527 (für
den Fall des kontinentaleuropäischen Rechtspositivismus); zum Rechtsverweigerungsverbot
M. T. Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, 2006, 37ff.; und kritisch K.-H. Ladeur, Das subjektive Recht
als Medium der Selbsttransformation der Gesellschaft und Gerechtigkeit als deren Parasit, ZfR 29
(2008), 109ff., 111ff. (spricht vom Mythos des „Justizverweigerungsverbots“).
69 Dazu allg. Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 441 („Nur wenn das System operiert und wenn es hinrei-
chende Komplexität aufgebaut hat, um sich selbst in der Zeitdimension beschreiben zu können, kann
es einen Anfang ‚postizipieren‘. Die Bestimmung eines Anfangs, eines Ursprungs, einer ‚Quelle‘ und
eines (oder keines) ‚Davor‘ ist ein im System selbst gefertigter Mythos – oder die Erzählung eines ande-
ren Beobachters.“).
70
Luhmann (Fn. 3), 57.
82
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IV. Systemtheorie und Computerkultur
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Suche nach Letztbegründungen im frühen 135
20. Jahrhundert auch die Geisteswissenschaften (und nicht nur die mathematische Grundlagenforschung)
erfasste. Sie stand hier allerdings vielfach unter dem zweifelhaften Vorzeichen einer geradezu fieberhaften
Suche nach Bruchstellen und Rissen in den Institutionen der liberalen Gesellschaft; Apokalypse, Mensch-
heitsdämmerung oder Untergang des Abendlands lauten die hierfür einschlägigen Stichworte.71 Im Kon-
text einer philosophischen Kritik der Gewalt sprach etwa Walter Benjamin schon 1921 von der „entmuti-
gende(n) Erfahrung der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme“.72 Benjamin entwickelte
daraus eine scharfe Kritik am angeblich gewaltfundierten und gewaltförmigen modernen Recht – und legte
die Sorge um Recht und Gerechtigkeit ganz in die Hand eines kommenden Gottes.73 Andere, wie etwa
Carl Schmitt, interessierten sich weniger für Geschichtsphilosophie und Theologie als für die konkreten
politischen Kräfte, die in einer von anonymen Instanzen beherrschten Welt noch in der Lage waren, den
Direktkontakt mit einer echten Form „seinsmäßiger Ursprünglichkeit“ qua Dezision herzustellen.74 Noch
Derridas frühe Arbeiten weisen Berührungspunkte mit dieser Tradition des Ursprungsdenkens auf. Insbe-
sondere die Grammatologie setzt die différance gerade auf jenen elementaren Vorgang an, „mit dem die
erste Spur gesetzt wird, auf dem jedes Unterscheiden und Identifizieren aufruht“,75 um dieses Unterschei-
den und Identifizieren dann seinerseits „dekonstruieren“ zu können. In späteren Publikationen, insbeson-
dere nach der Paul-de-Man-Affäre von 1987, tritt Derridas Interesse an der Dekonstruktion von Letztbe-
gründungen jedoch gegenüber dem Anliegen zurück, eine eo ipso vorhandene Verknüpfung des Rechts
mit einer „kommenden“ Gerechtigkeit („justice à venir“) nachzuweisen. Diese „Wende zur praktischen
Philosophie“ mündet schließlich in einer Konzeption der Gerechtigkeit als Erfahrung des Unmöglichen
im Recht bzw. als Möglichkeit der Dekonstruktion des Rechts.76
Karl-Heinz Ladeur hat bereits 1988 in einem Beitrag zur Methodendiskussion in der 136
Rechtswissenschaft die Frage aufgeworfen, ob der sich in nahezu alle Lebensbereiche
ausdehnende Einsatz des Computers dem herkömmlichen (rechtspositivistischen)
System nicht die Grundlagen entzogen hat und deshalb die Suche nach einer begriff-
lich angemessenen Alternative zu dieser „Rahmenerzählung“ (méta récit) der Moderne
und des modernen Rechts nahelegt.77 Diese Frage ist – mit Ladeur – unbedingt zu be-
jahen. Die Einheitsform des systematischen Buchwissens, auf der sowohl die norma-
tive „Rahmenerzählung“ der Moderne, die Natur- und Sozialphilosophie, als auch das
rechtspositivistische System beruhten, wird in einer vom Computer dominierten Kul-
tur – insbesondere durch die neuartige Hypertextstruktur des Internets78 – zuneh-
71 Zum Kontext und zum Hintergrund vgl. nur H. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, 1994; K. Vondung,
Die Apokalypse in Deutschland, 1988; N. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, 1991; S. Breuer,
Ästhetischer Fundamentalismus, 1995.
72
W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1921), 1965, 54.
73
Benjamin, ebd., vgl. auch 63f.; T. Hitz, Jacques Derridas praktische Philosophie, 2005, 71 (mit der tref-
fenden Bemerkung, Benjamin verlege die Gerechtigkeit in die Fernflucht der Göttlichkeit); dazu
Ch. Menke, Recht und Gewalt, 2011, insb. 49ff., 59ff.
74
C. Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), 1963, 33; vgl. dazu Hitz (Fn. 73), 63; zur Beziehung
Schmitt/Benjamin vgl. nur Menke (Fn. 73), 59ff.; Hitz (Fn. 73), 63ff.; Bolz (Fn. 71), 85ff.
75
Die Formulierung stammt von Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 91, vgl. auch 98f. (mit Be-
zug auf Derrida (Fn. 60), 113f.), beides in einem medientheoretischen Zusammenhang.
76 J. Derrida, Gesetzeskraft, 1991, 30, 45f.; vgl. auch Teubner (Fn. 66), 25ff., 37ff., der die theologischen
Bezüge akzentuiert, und – aus philosophischer Sicht – Hitz (Fn. 73), 73ff.
77
Ladeur (Fn. 54), 218ff.
78 Vgl. dazu nur I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, 131ff.; R. Christensen/K. D. Lerch, Perfor-
manz, 2005, 55ff.; und die Analyse der Rechtsprechung des EuGH bei F. Müller/R. Christensen, Juris-
tische Methodik Bd. 2, 2012, 235ff., 245ff.
83
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§ 4. System II
mend anachronistisch. Die Rechtstheorie muss daher auf die sich etablierende Com-
puterkultur reagieren und, soweit sie am System als „Ordnungsidee“ festhalten will,79
ihre Modellbildung den neuen kognitiven Verhältnissen, d. h. der Computerkultur
und ihrer Epistemologie anpassen. Diese Kultur und Epistemologie dürften vor allem
dadurch bestimmt sein, dass das Internet – das mit Hilfe eigener plattformunabhängi-
ger Sprachen selbst wie ein „gigantischer Computer“ operiert – ein „komplexes sich
selbst organisierendes Informationssystem“ ist, in dem „keine zentrale Leistungsver-
mittlung“ mehr stattfindet.80
136a Die neue Computerkultur leitet den Übergang in eine neuartige postontologische,
post-metaphysische und postmoderne epistemologische Situation ein, „in der man
sich die Wirklichkeit nicht mehr als eine fest in einem einzigen Fundament verankerte
Struktur denken kann“.81 In der Computerkultur tritt eine „Konnektivität von Wis-
sensfragmenten“ an die Stelle der alten, mit der Buchdruckkultur zusammenhängen-
den Vorstellung der Einheit des Wissens. Damit zerfällt auch die Illusion eines unmit-
telbaren Zugriffs „auf die eine Realität aus einer Zentralperspektive“.82 Auch unter den
neuen epistemologischen Bedingungen zerfällt das Wissen über die Welt nicht einfach
in Stücke, die völlig unabhängig voneinander existieren und keinerlei Berührungs-
punkte untereinander aufweisen würden. Die alte Einheit des Wissens ist aber inso-
fern verloren gegangen, als das Wissen heute flüssiger und polykontexturaler geworden
ist und nur noch in Form vorübergehender Verknüpfungen von Wissenssegmenten zu
Geweben, Geflechten und ähnlichen Konfigurationen als „Einheit“ in Erscheinung
tritt. Etwas anders formuliert: An die Stelle einer relativ zeitstabilen vertikalen (baum-
förmigen) Organisation des Wissens mit Vollständigkeitsanspruch und Abschlussfor-
mel ist eine Dynamik der netzwerkartigen Wissensgenerierung getreten, eine fließ-
ende Kombinatorik der Erzeugung von Wissen aus schon vorhandenem Wissen. Der
„stabile Datenspeicher“ aus gedruckten Büchern und Bibliotheken wird durch eine
„Schrift elektronischer Impulse“ abgelöst, „einem flüssigen System der Selbstorganisa-
tion von Daten“.83
137 Zweifellos antwortet Luhmanns autopoietisches System durchaus auf die Emergenz
der Computerkultur und die mit ihr einhergehenden neuen epistemologischen Bedin-
gungen.84 Luhmann entwirft ein Rechtssystem, das wie der Computer mit Differen-
zen und einem binären Code operiert, statt mit irgendeiner vorauszusetzenden Ein-
heit.85 Es arbeitet zudem ohne zentrale Leistungsvermittlung oder „Gesamtidee“
(Gerber). Es ist netzwerkartig angelegt (wie das Internet), statt hierarchisch und pyra-
midenförmig. Es reflektiert Phänomene wie Unbeobachtbarkeit („blinde Flecken“)
und weist dem Nicht-Wissen eine konstitutive Funktion zu, statt das Operieren des
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IV. Systemtheorie und Computerkultur
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§ 4. System II
Die Reine Rechtslehre war, wie Klaus Mainzer bemerkt hat, in manchem der Mathema-
tik von David Hilbert ähnlich, derzufolge man sich „unter formalen Axiomen und Ge-
setzen der Mathematik Beliebiges“ vorstellen konnte, „sofern sie logisch konsistent“
waren; wobei Hilbert – wie Leibniz – keine Zweifel hatte, dass „mathematisches Den-
ken mit endlichen (finiten) Mitteln widerspruchsfrei formalisierbar“ sei.92 Seit den lo-
gischen und informationstheoretischen Forschungen der 1930er Jahre – seit Gödels
beiden Unvollständigkeitssätzen und Turings Nachweis der Nicht-Entscheidbarkeit
des Stopp-Problems von Computern – ist jedoch geklärt, „dass die Widerspruchsfrei-
heit eines formalen Systems nicht mit den finiten Mitteln bewiesen werden kann, die
in diesem System selbst verwendet werden.“93 Was das für die Rechtstheorie bedeutet,
lässt sich leicht zeigen: Wenn alles Recht positives Recht ist, ist nicht-positives Recht
kein Recht. Dann aber kann die Anweisung oder Regel, die das positive Recht erkenn-
bar macht, nicht eine dem positiven Recht selbst angehörige Regel sein. Das ist der
Hintergrund, der schon Kelsen zur Quasi-Externalisierung der Grundnorm durch
ihre Einbettung in einen transzendental-logischen Kontext zwang. Dieser logische
und informationstheoretische Kontext aus der Anfangsphase der Computerkultur ist
es aber auch, der Luhmann dazu veranlasst hat, die (Be-)Gründung des rechtspositivis-
tischen Systems durch einen „ersten Satz“ in eine Gründungs- und Entscheidungspa-
radoxie autopoietischer Systeme umzuformulieren, nicht aber ein allgemeiner (kon-
textfreier) Fortschritt logischer Denkmöglichkeiten.
140 Ein vergleichbares Schwanken zwischen gegenwartsbezogenem Denken und Apriorik
lässt sich auch in Luhmanns Theorie der Autopoiesis nachweisen. Einerseits dient der
Begriff der Autopoiesis dazu, eine neuartige dynamische Selbststabilisierung von Sys-
temen auf den Begriff zu bringen. Vor dem Hintergrund eines beschleunigten gesell-
schaftlichen Wandels, bei dem „Ordnung das Resultat von Praxis ist, nicht ihre Prä-
supposition,“94 wird der autopoietische Systembegriff von Vorläuferkonzepten
abgegrenzt, wie etwa von dem der „Selbstorganisation“, bei dem die systemeigene
Ordnungsbildung auf Strukturaufbau begrenzt wurde (Selbstregulation).95 Zugleich
wird Autopoiesis als „Invariante“ eingeführt, die „bei allen Arten von Kommunikatio-
nen stets dieselbe“ sein soll.96 Beide Thesen sind nur schwer miteinander zu vereinba-
ren. Letztere ist darüber hinaus für das Rechtssystem auch nur schwer zu akzeptieren.
Recht wird ja nicht seit jeher dynamisch, rekursiv und heterarchisch determiniert.
„Normenpyramide“ und „Stufenbau“ der Rechtsordnung sind keine lediglich modell-
haften Selbstbeschreibungen einer schon immer anderen Geschichte des Rechts, viel-
mehr gehört die Hierarchie des Rechts noch heute zur Rechtspraxis (vgl. Rn. 67). Erst
in jüngerer Zeit hat das Rechtssystem begonnen, seine hierarchischen Strukturen ab-
zubauen, und das hängt mit einem historischen Wandel der medialen und epistemolo-
gischen Bedingungen der Gesellschaft zusammen, der – allgemein – beschrieben wer-
den kann als „eine Umstellung der Gesellschaft von der Orientierung an der Erfahrung
und relativ stabilen Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft auf prospektive Mo-
92
Mainzer (Fn. 80), 179, 53; vgl. auch S. Krämer, Symbolische Maschinen, 1989, 138ff., 145.
93 Mainzer (Fn. 80), 53; Krämer (Fn. 92), 146; vgl. auch Luhmann (Fn. 3), 102 („Überhaupt kann es im
System keine Regel geben, die die Anwendbarkeit/Nichtanwendbarkeit aller Regeln regelt.“) Zu Tu-
rings Papiermaschinen vgl. B. Heintz, Die Herrschaft der Regel, 1993, 63ff.
94
A. Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, 2006, 302.
95 Luhmann (Fn. 3), 45; vgl. auch ders. (Fn. 9 – Gesellschaft), 64f.
96 Luhmann (Fn. 3) („Autopoiesis wird mithin als ‚Invariante‘ eingeführt. Sie ist bei allen Arten von Le-
ben, bei allen Arten von Kommunikation stets dieselbe.“).
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IV. Systemtheorie und Computerkultur
delle eines Wissens, das nicht mehr durch stabile hierarchische Trennungen von Allge-
meinem und Besonderem, sondern von heterarchischen hybriden Verschleifungen
und Relationierungen von Suchprozessen in Netzwerken bestimmt wird“.97 Das gilt
sowohl für den innerstaatlichen als auch für den außerstaatlichen Kontext. So wird
das staatszentrierte Völkerrecht herkömmlicher Prägung seit einiger Zeit durch ein
funktional ausgerichtetes, „fragmentiertes Weltrecht“ unterlaufen,98 das die Hierarchie
des Völkerrechts dekomponiert und durch neue netzwerkartige, heterarchische Ord-
nungsmuster ablöst.99
Die Schwierigkeiten, die sich Luhmann einhandelt, zeigen sich schließlich auch in der 141
Zeitdimension. Die historische Invarianz des autopoietischen Systems hängt ja vor al-
lem mit seiner zeitpunktabhängigen Arbeitsweise zusammen. Solange es Autopoiesis
und damit Elemente und Strukturen des Rechtssystems gibt – so muss man Luhmann
wohl verstehen – weist jede gelungene Fortsetzung des Systems dieselbe zeitpunktbezo-
gene Gegenwärtigkeit auf. Es ist jedoch evident, dass die Vorstellung einer „zeitpunk-
tabhängigen Gegenwärtigkeit“ eine Zeitstruktur voraussetzt, die frühestens die mo-
derne Gesellschaft ausgebildet hat, nämlich die Abkoppelung einer operativen oder
linearen Zeit von jedweden anthropomorphen oder kosmomorphen periodischen Vor-
gängen („zyklische Zeit“).100 So sieht es im Übrigen auch Luhmann selbst, zumindest
soweit es um die Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft in der Zeitdimension
geht.101 Für Luhmann hat im Übergang zur Neuzeit eine Verschiebung in der Zeitse-
mantik stattgefunden, in der Zeit (tempus) nicht mehr in der zeitlosen Zeit, der Ewig-
keit (aeternitas), zustande kommt; vielmehr diene der Zeitpunkt gerade der Verzeitli-
chung der Gegenwart, die dadurch zum historisch einmaligen Ereignis und als solches
zum einzig Unvergänglichen werde. Die Akzentuierung des Ereignisses, des Augen-
blicks, der nicht mehr durch die Vergangenheit determiniert sei, erfahre schon im spä-
ten 17. Jahrhundert – schon vor der deutschen Romantik – bei Autoren wie Alain-René
Le Sage und Luc de Clapier Marquis de Vauvenargues erste Formulierungen.102
Diese Umstellung der Zeitsemantik interpretiert Luhmann dahingehend, dass sich die 142
autopoietischen Systeme der modernen Gesellschaft – entgegen der räumlichen Meta-
phorik der Zeit – nicht in Richtung auf andere, schon bekannte Stellen im Raum be-
wegen, sondern in Richtung auf einen Weltzustand, „den es noch gar nicht gibt. Man
bewegt sich ins Bodenlose“.103 Das Alte wird nicht im Neuen bewahrt und aufgeho-
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§ 4. System II
ben, das System kombiniert nicht Kontinuität und Wandel, sondern arbeitet – im
Grenzfall – mit reiner Diskontinuität. Das Operieren unter Ungewissheitsbedingun-
gen, unter der Bedingung auch, dass die Geschichte selbst keine Kontinuität mehr si-
chert, weil die fortlaufende Punktualisierung der Gegenwart die Kontinuität mit der
Vergangenheit unwiderruflich entwertet hat, setzt aber wiederum den Primat der Zu-
kunft, eine Wertschätzung des Neuen, voraus; und auch das sind nach Luhmann ge-
nuin moderne Errungenschaften. Sie werden seit dem 17. Jahrhundert in positiv be-
setzten Begriffen wie Genie, Kreativität, Innovation, Erfinden usw. vorbereitet und
schließlich auf ein „progressistisches“ Selbstverständnis der Gesellschaft übertragen,
die sich etwa in der Geschichtsschreibung in einer „neuen Zeit“ lokalisiert und sich
als „modern“ interpretiert.104
143 Gerade wenn man der Zeittheorie der Systemtheorie ihren „Realismus“ nicht abspre-
chen will, stellt sich die Frage, ob diese darin nicht auf eine Erfahrung rekurriert, die
erst im 20. Jahrhundert auftreten konnte. Immerhin kombiniert die Philosophische Se-
mantik den modernen Zeitbegriff noch lange mit der Vorstellung einer sich zur Vollen-
dung hin bewegenden Geschichte, man denke nur an Hegel und seine Vorstellung eines
zu sich selbst – in seiner Absolutheit – kommenden Geistes. Noch mehr als ein Jahr-
hundert später liegen in der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers alle Akzente auf der
historisch gestifteten Kontinuität, die das Vorverständnis einer jeden Epoche ausma-
chen, gegen den Ästhetizismus und das ästhetische Bewusstsein, als dessen Hauptzug
Gadamer die reine Diskontinuität, die Punktualisierung der Zeit, ansieht.105 Ja noch
in der kritischen Theorie Theodor W. Adornos produziert die abstrakte Zeit eine Ahis-
torizität des Bewusstseins, das Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung.106 Für
Adorno ist die Realisation dieser abstrakten punktuellen Zeitlichkeit insbesondere in
den nachklassischen Formen der Musik, im Jazz und den frühen Formen der Popmusik
(Schlager) verankert, auch im Film, also allgemein in dem, was in der Dialektik der Auf-
klärung von 1944 als „Kulturindustrie“ und „Massenbetrug“ bezeichnet wird.107 Na-
türlich teilt Luhmann diese kulturkritische Geste Adornos nicht, aber auch Luhmann
hat gerade in seinen späten Veröffentlichungen wiederholt betont, dass die operative
Zeit außer in der Wirtschaft vor allem in den Massenmedien präsent sei.108 Die elektro-
nischen Medien bilden also ganz offensichtlich einen impliziten Hintergrund, vor dem
die Beobachtung einer diskontinuierlichen Zeit des sich laufend wiederholenden Au-
genblicks überhaupt erst möglich geworden ist.
Vernunft aufgefallen. R. Koselleck, Vergangene Zukunft, 1979, 356, hat dazu treffend bemerkt, dass
sich die Zeit bekanntlich sowieso nur in spatialen Metaphern ausdrücken lasse.
104
Vgl. Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 1000f. Diese Wertschätzung des Neuen erfasst selbst das noch
heute gern als „konservativ“ beschriebene Rechtssystem. Das Recht wird nicht mehr durch Traditions-
bindungen (und Erfahrung) gehalten, sondern durch Verfassungsgesetze, die ihre eigene Selbstände-
rung regeln bis hin zur Paradoxie der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, einer Vorschrift, die
ein absolutes Änderungsverbot in einem historischen, d. h. vergänglichen Dokument verankert.
105
G. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 1997, 62 (weitere Nachweise oben Rn. 210ff.).
106
Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 8, 1980, 217ff., 230. Für Adorno verweist die abstrakte
Zeit auf die mathematisch naturwissenschaftliche Rationalität und d. h. auf die Durchsetzung des
Tauschprinzips.
107
Dazu ausführlich S. Breuer, Aspekte totaler Vergesellschaftung, 1985, 34ff., 46ff.
108
N. Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 1996, 44 („Hinter den viel diskutierten Eigenarten mo-
derner Zeitstrukturen wie Dominanz des Vergangenheit/Zukunft-Schemas, Uniformisierung der
Weltzeit, Beschleunigung, Ausdehnung der Gleichzeitigkeit auf Ungleichzeitiges stecken also vermut-
lich neben der Geldwirtschaft die Massenmedien.“).
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IV. Systemtheorie und Computerkultur
Deshalb wäre – gegen Luhmann – darauf zu insistieren, dass alle Kategorien der 144
Rechtstheorie, auch die des autopoietischen Systems, ihre volle Gültigkeit nur in einer
bestimmten historischen Epoche und nur in einem bestimmten medialen environment
entfalten. Luhmanns Konzeption eines stets augenblicklich operierenden Rechtssys-
tems wäre also historisch genauer zu situieren und als Reaktion auf eine neuartige,
„postmoderne“ Konstellation zu begreifen, in die der gesellschaftliche Wandel sichtbar
erst im späten 20. Jahrhundert geführt hat. Dieser Wandel ist eng mit dem Aufkom-
men der elektronischen Medien und dem Computer verknüpft, enger jedenfalls als es
die Theorie des autopoietischen Systems expliziert, vielleicht auch explizieren kann.
Denn anders als im Fall lebender Zellen ist die an Sprache und Medien gebundene Be-
schreibung des Rechts als Einheit und System zugleich eine Intervention in das Recht
als instituierte Ordnung. Dagegen überzieht Luhmann vermutlich die Möglichkeiten
der Systemtheorie, wenn er die dynamische und rekursive Vernetzung des Rechtssys-
tems mit einem Import aus der Kognitionsbiologie von Humberto Maturana – als
„Autopoiesis“ – auf der operativen Ebene als Invariante zu fassen sucht. Einmal davon
abgesehen, dass die Kognitionsbiologie Maturanas selbst ein Produkt der Computer-
kultur ist,109 ist die ausschlaggebende Neuerung der autopoietischen Systembildung
gegenüber dem rechtspositivistischen System die netzwerkförmige, zeitpunktgebun-
dene Operationsweise. Diese ist aber keine historisch invariante Operationsweise, son-
dern auf die neuen medialen und epistemologischen Verhältnisse der Computerkultur
zurückzuführen, insbesondere auf den Aufstieg einer Welt, in der sich die „letzten
Orientierungspunkte der Gewißheit“ aufgelöst haben und eine neue „Empfänglichkeit
für das Unbekannte der Geschichte“ entsteht.110 Diese Vor-Bedingung wird auch
sprachlich in dem dem Altgriechischen entlehnten Begriff „Autopoiesis“ kaum abge-
bildet.
Die hier angesprochenen Probleme hängen neben einem vielleicht nicht so glücklichen Begriffsimport vor 145
allem mit Luhmanns Neigung zusammen, Selbstbeschreibung und Operation des autopoietischen Sys-
tems voneinander zu isolieren. Luhmann reißt vor allem im Fall des Rechtssystems zwischen der laufenden
Selbstherstellung der operativen Einheit des Systems und den Formen seiner theoretischen Expertise einen
Graben auf, der kaum überbrückbar erscheint; zumindest wird der Übergang zwischen theoretischer und
praxisorientierter Expertise an nur relativ wenigen Schnittstellen für möglich gehalten, etwa im Zusam-
menhang von Freiheit, subjektivem Recht und Klagebefugnis.111 Eine Trennung zwischen theoretischer
Expertise, die sich der „Sonderaufgabe“ der „Darstellung von Einheit, Funktion, Autonomie und auch In-
differenz des Rechtssystems“ widmet, und „normalen juristischen Theorien“,112 die primär an den Ent-
scheidungsbetrieb der Gerichte adressiert sind, ist heute sicherlich weit verbreitet und eine der Ursachen
für die Anpassungsprobleme des Rechtssystems an den beschleunigten gesellschaftlichen Wandel. Aber in
der von Luhmann vorausgesetzten Art ist die wechselseitige Abschottung etwa von Rechtsdogmatik und
Rechtstheorie erst ein Resultat des Auseinanderziehens von Beobachterperspektiven, in denen über Recht
nachgedacht wird. Dieses Auseinanderziehen von Beobachterperspektiven ist aber wiederum ein Produkt
der aktuellen medialen Reproduktionsbedingungen rechtswissenschaftlicher Kommunikation und kann
beispielsweise nicht auf die Situation des 19. Jahrhunderts zurückprojiziert werden. Bei Savigny etwa fin-
det man keine Trennung von Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, zumal dort schon das Wort „Rechtsdog-
matik“ keine tragende Rolle spielt, sofern es überhaupt vorkommt.
109
Vgl. dazu allg. L. E. Kay, Das Buch des Lebens, 2005.
110
C. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen, 1999, 54; vgl. auch C. Pornschlegel, Nach dem Post-
strukturalismus, 2014, 139.
111 Luhmann (Fn. 3), 499.
112
Luhmann, ebd.
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§ 4. System II
Darüber hinaus gerät die Trennung von operativer und reflexiver Systemebene mit Luhmanns eigenen Prä-
missen in Konflikt. Nach Luhmann wird das Rechtssystem als autopoietisches System erst auf der Ebene
der Beobachtung zweiter Ordnung geschlossen.113 Dann kann aber auch die operative Systemzeit keine
von der Zeitsemantik unabhängige Form sein. Sicher kann man nicht zweimal über denselben Fluss gehen
(Heraklit), das mag invariant sein, aber es gibt doch keine zeitüberdauernde Notwendigkeit zeitlicher Se-
quenzierung von Rechtsoperationen einerseits und eine davon strikt zu trennende, historisch variierende
Beschreibung der vom System benutzten Systemzeit (Zeitsemantik) andererseits. Wenn Luhmann wieder-
holt betont, dass die Umstellung auf ein Primat der Zeitdimension nicht nur thematisch, sondern viel
tiefer greifend auch operativ in die Selbstbeschreibung der Gesellschaft und ihrer Welt eingebaut sei, dann
kommt es eben gerade auf die Medien an, die operativ Zeitbindungen erzeugen. Dafür aber ist in
Luhmanns Systemtheorie wenig Platz, vor allem weil der Begriff des Mediums als lose Kopplung von
Elementen definiert und damit die spezifische Medialität des Mediums, der Schrift, des Buchdrucks, des
Computers etc., kaum Rechnung getragen wird (vgl. Rn. 100ff.).
113 Luhmann, ebd., 18, 61, 80 (jeweils zur Funktion der Beobachtung zweiter Ordnung als Voraussetzung
operativer Schließung).
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§ 5. Geltung
I. Staatszentrierung
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§ 5. Geltung
6 Zur Internationalisierung des Verwaltungsrechts vgl. etwa E. Schmidt-Aßmann, Aufgaben und Perspek-
tiven des Verwaltungsrechts, 2006, 486ff.; zur Komitologie vgl. nur Ch. Joerges, Comitology and the
European model?, 2003, 501ff.; dazu auch G. Teubner, Verfassungsfragmente, 2012, 237ff.
7
Zur Satzung als „Rechtsquelle“ vgl. nur T. Vesting, Satzungsbefugnis von Landesmedienanstalten und
die Umstellung der verwaltungsrechtlichen Systembildung auf ein „Informationsverwaltungsrecht“,
Die Verwaltung 35 (2002), 433ff.
8 Ross (Fn. 1), 291f.
9
H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, 92f., 97ff.
10
J. Derrida, Randgänge der Philosophie, 1988, 297 („Die Quelle selbst ist die Wirkung von dem, (als)
dessen Ursprung (man) sie angibt.“).
11 Vgl. – Derrida kommentierend – N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 524, vgl. auch ebd.,
546.
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I. Staatszentrierung
12
B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts Bd. 1, 1862, 38. Für Windscheid war die „Rechtsver-
nunft“ die höchste Quelle allen Rechts, die sich zunächst im Gewohnheitsrecht artikulierte. Anders
sah es Windscheid allerdings in späteren Auflagen, in denen er einen allgemeinen Bedeutungsverlust
des Gewohnheitsrechts im Verhältnis zur Gesetzgebung konstatierte.
13
Zum „Gesetzespositivismus“ vgl. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1996, 458ff.;
M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, 330f., zum „staatsrechtli-
chen Positivismus“ vgl. 276ff.; W. Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus,
1993, 92ff.
14
Vgl. einerseits C. F. v. Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865, 137ff. („Als Ge-
setzgeber offenbart der Staat seinen Willen in der Form abstracter Normen.“); und – bereits weitaus tech-
nischer – andererseits P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches (1911), 1964, Bd. 2, 4ff., 62.
15 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht (1924), 1969, 64 („Herrschaft des Gesetzes“).
16
Vgl. Eintrag Verfassung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 2001.
93
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§ 5. Geltung
staatsrechtlichen Positivismus als eine „Art“ des Gesetzes.17 Der bürgerliche Rechts-
staat, wie ihn schon Kant gefordert hatte, mutierte zum Gesetzgebungsstaat.18
151 Damit wurden der Staat und seine überlegene Befehlsgewalt zugleich zum obersten Ga-
ranten des von ihm – in Gesetzesform – geschaffenen Rechts. Der gesamte Rechtsbil-
dungsprozess wurde jetzt auf den Staat als Souverän zugeschnitten, der als ein von allen
anderen Rechtsquellen zu unterscheidendes abstraktes Subjekt galt, als die artifizielle
Person (jenseits der natürlichen Personen und ihrer Beziehungen zueinander), die über-
haupt erst über Autorität und Geltung des Rechts entschied. Dieser Entwicklung hatte
bereits Kants Metaphysik der Sitten von 1791 Tür und Tor geöffnet: Das allgemeine Ge-
setz der Freiheit blieb hier zwar als Voraussetzung und Richtschnur aller Rechtsgesetze
erhalten (vgl. Rn. 50), gleichwohl koppelte schon Kant den Begriff des Rechts – im Un-
terschied zur „innerlich“ verpflichtenden Moral – an die Verknüpfung von allgemeiner
Freiheit und „äußerlich“ wirkendem Zwang.19 Die Geltung des Rechts war damit von
politisch sanktionierter Gewalt abhängig, und diese Vorstellung gewann im späten
19. Jahrhundert einen immer größeren Stellenwert. Für Laband beispielsweise manifes-
tierte sich das spezifische Wirken der Staatsgewalt in der Versorgung des Gesetzes mit
„verbindlicher Kraft“ und „äußerer Autorität“.20 Auch wenn Laband dabei noch deut-
lich zwischen der Herstellung der Rechtsinhalte und der Geltungsebene trennte, blickte
doch bereits in seinem formellen Gesetzesbegriff ein Konzept durch,21 dass das auto-
nome, sich selbst begründende Recht des rechtswissenschaftlichen Positivismus in
Richtung auf ein für äußere (politische) Einflüsse offenes Staatsrecht zu transformieren
begann. Führte Savigny Rechtsgeltung auf einen „Volksgeist“ zurück, also auf eine rein
abstrakte – nicht-körperliche, nicht-personale – Souveränität, und war noch bei Wind-
scheid die „Rechtsvernunft der Völker“ die letzte Quelle allen Rechts,22 wurde jetzt der
über Polizei und Militär verfügende Nationalstaat und sein „beliebiger Wille“ zur
höchsten Quelle aller Rechtsgeltung/Gesetzgebung.
152 In voller Konsequenz wurde diese Vorstellung einer unauflöslichen Verknüpfung von
Rechtsgeltung und sanktionierter Staatsgewalt wohl erstmals in der Herrschaftssozio-
logie Max Webers entfaltet. Weber verknüpfte das Recht insbesondere im Idealtypus
der „legalen Herrschaft“ unauflöslich mit dem modernen Anstaltsstaat als der für We-
ber typisch zeitgenössischen Form der legitimen Herrschaft.23 Legitime Herrschaft be-
17
Der Ausdruck „Art des Gesetzes“ stammt von Bernatzik. Im 20. Jahrhundert ist diese Ansicht vor allem
von E. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, 1976, 130, popularisiert worden.
18 Zur Genese des Rechtsstaats bei Kant vgl. I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1992, 70ff.
(der Monarch ist als Regent „an die Gesetze gebunden, die er als rechtlich ungebundener Souverän
gibt“); zur Entwicklung vgl. nur E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, 143ff.
19
I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797/98), Werkausgabe Bd. 8, 1977, A 36. Dass Kant damit die Bin-
dung des Rechts an eine „oberste Gewalt“ meint, wird insbesondere im Kantischen Strafrecht, B 225ff.,
deutlich. Zum Rechtszwang bei Kant J. Simon, Kant, 2003, 387, 399.
20
Laband (Fn. 14), 4 („das spezifische Wirken der Staatsgewalt, das Herrschen, kommt nicht in der Her-
stellung des Gesetzesinhalts, sondern nur in der Sanktion des Gesetzes zur Geltung, in der Ausstattung
eines Rechtssatzes mit verbindlicher Kraft, mit äußerer Autorität“).
21 Laband, ebd., 62 („Form, in welcher der staatliche Wille erklärt wird, gleichviel, was der Inhalt des Wil-
lens ist“); E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1981, 226ff., 230. Zur heutigen Hete-
rogenität der Gesetzestypen vgl. F. Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontroll-
maßstab 2012, § 9 Rn. 15.
22 Windscheid (Fn. 12), 37.
23 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 124ff.; dazu S. Breuer, Max Webers Herrschafts-
soziologie, 1991, 191ff.; ders., Max Webers tragische Soziologie, 2006, 63ff.
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I. Staatszentrierung
ruhte jetzt nicht mehr, wie noch die traditionale Herrschaft, auf dem „Alltagsglauben
an die Heiligkeit von jeher geltenden Traditionen“,24 sondern war das Resultat ab-
sichtsvoller Entscheidungen, dem Durchbrechen einer vorgegebenen Ordnung durch
einen Akt der Ordnungsstiftung. Ja, Recht galt in Webers Typus der legalen Herr-
schaft ausschließlich kraft Selektion, womit zugleich die jederzeitige Änderbarkeit des
(momentan) geltenden Rechts impliziert war; legale Herrschaft hieß Setzung „beliebi-
gen“ Rechts.25 Die damit unterstellte Kontingenz jeder Ordnungsstiftung durch Ge-
setzgebung rief umso mehr die Notwendigkeit der Absicherung des jeweils geltenden
Rechts auf den Plan. Legale Herrschaft galt Weber daher als von „gewaltsamem
Rechtszwang“ abhängig, der wiederum ein „Monopol der Staatsanstalt“ war.26 (Dahin-
ter steht möglicherweise der Einfluss Jherings, der bereits den Ursprung der römischen
Rechtsordnung in der Speerspitze lokalisiert hatte.27) Der Staat und sein Gewaltmono-
pol bildeten jedenfalls für Weber die zentrale Voraussetzung dafür, dass das Recht
nicht nur auf bedrucktem Papier in Gesetzbüchern geschrieben stand, sondern im
Konfliktfall auch wirksam, und das hieß gegebenenfalls durch den Einsatz legitimer
staatlicher Gewaltmittel, durchgesetzt werden konnte.
Legale Herrschaft bedeutete Herrschaft einer unpersönlichen Ordnung, hieß Herrschaft nicht von Men- 153
schen und Personen, sondern Herrschaft der Bürokratie, Herrschaft abstrakter Rechtsregeln, an die die Re-
gierenden und Vorgesetzten ebenso gebunden waren wie die Regierten und Anordnungsempfänger,28 im
Gegensatz etwa zum patrimonialen Herrscher, der unmittelbare (nicht regelgebundene) Macht von Men-
schen über Menschen ausübte, im Unterschied auch zur charismatischen Herrschaft, die sich ohne jede
Vermittlung durch Regeln aus der irrationalen Verehrung von Helden speiste, dem spontanen „Anhim-
meln“ von „Politstars“ Ausschlaggebend für Webers Typus der legalen Herrschaft war ihr „rationaler Cha-
rakter“, der „Glaube an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur
Ausübung der Herrschaft Berufenen“.29 Der Glaube an die legale Herrschaft bedeutete Orientierung an
durchschnittlich rationalen Zwecken und Werten und setzte einen Kosmos „gesatzter Ordnungen“, also
abstrakte Rechtsregeln sowie ein Rechtssystem im Sinne des rechtwissenschaftlichen Positivismus noch vo-
raus. Aber weil es sich auch nur noch um einen Glauben an die Legalität handelte, und nicht mehr, wie
etwa noch bei Kant, um die Selbstvergewisserung der moralischen Überlegenheit einer allgemeinen Ge-
setzgebung, führte schon Webers Herrschaftssoziologie zu dem eher paradoxen Konzept einer an faktischen
Durchschnittsgegebenheiten orientierten Rechtsgeltung.
Waren es im staatsrechtlichen Positivismus und bei Weber noch der Staat und sein Ge- 154
waltmonopol, die für die Geltung des Rechts sorgten, radikalisierte nicht zuletzt Carl
Schmitt in der Weimarer Republik den Gedanken einer Gewaltfundierung des Rechts.
Schmitt erklärte das Recht zum Erzeugnis letzter, ihrerseits nicht weiter ableitbarer
Entscheidungen: Die Rechtsordnung beruhe nicht auf Normen, sondern, wie jede
Ordnung, auf einer Entscheidung (Dezision).30 Das bezog sich vor allem auf die
Verfassung und die sie gebende Gewalt, die verfassungsgebende Gewalt (pouvoir consti-
tuant). Für Schmitt war die verfassungsgebende Gewalt nicht etwa der höchste Entste-
hungsgrund der Rechtsordnung, sondern Ausdrucksform einer „Gesamt-Entschei-
dung über Art und Form der politischen Einheit“,31 einer Souveränität, die zugleich
24
Weber (Fn. 23) 124.
25 Weber, ebd., 125.
26 Weber, ebd., 185.
27
Vgl. R. Esposito, Immunitas, 2004, 41, 43.
28
Weber (Fn. 23), 125.
29 Weber (Fn. 23), 124 (Hervorhebung von mir).
30 Vgl. nur C. Schmitt, Politische Theologie (1922), 1985, 16.
31
C. Schmitt, Verfassungslehre (1928), 2003, 20.
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§ 5. Geltung
innerhalb und außerhalb des Rechts stand32 und die bei Schmitt letztlich auf eine per-
sonale (körperliche) Form von Souveränität hinauslief, auf die Herrschaft von Men-
schen und Personen. Wie Schmitt bereits in der Diktaturschrift von 1921 ausgeführt
hatte, war die die Verfassung tragende „Gesamt-Entscheidung“ Manifestation einer
prinzipiell unbegrenzten, schlechthin alles vermögenden „Urkraft“, eines Willens, der
beliebig wollen konnte und immer denselben rechtlichen Wert hatte; die verfassungs-
gebende Gewalt war verfassungsbegründende, konstituierende Gewalt, die jenseits al-
ler rechtlichen Selbstbindungen und Formen überhaupt erst die extralegalen Bedin-
gungen aller Legalität schuf.33 Mit dieser Diagnose stand Schmitt um 1920
keineswegs allein. Auch ein politisch ganz anders zu verortender Denker wie Walter
Benjamin äußerte im Rahmen einer Kritik des Rechts die Ansicht, dass Recht letztlich
durch eine juristisch nicht ableitbare Gewalt garantiert werde, „Rechtsetzung ...
Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation von Gewalt“
sei.34 Weil, so Benjamins Argument, etwa im Fall polizeilichen Handelns laufend
Rechtsentscheidungen getroffen werden, die ihrerseits nicht vollständig durch das
Recht determiniert sind,35 sabotiert jede Rechtsentscheidung das, was vorausgesetzt
werden muss: die Differenz von Rechtserhaltung und Rechtsentscheidung als Bedin-
gung von Rechtsgeltung.36
155 Je mehr die Geltung des Rechts an Gewalt gebunden wurde, desto deutlicher stellte sich im Gegenzug die
Frage, was denn Recht von bloßer Macht (und Souveränität) unterschied. Wenn das Recht nichts weiter
als das Produkt eines prinzipiell unbegrenzten, schlechthin alles vermögenden Willens war, der beliebig
wollen konnte und immer denselben rechtlichen Wert hatte (um noch einmal Schmitt zu paraphrasieren),
dann fielen Recht und Gewalt am höchsten Punkt der Rechtsquellenhierarchie offensichtlich zusammen,
dann war Rechtsgeltung nichts anderes als Ausdruck politischer Entscheidungsmacht. Aber wenn Recht
nur Faktum politischer Macht und (staatlich sanktionierter) Gewalt war, wie konnte dann überhaupt
noch in gehaltvoller Weise von Recht (und von Rechtstheorie) gesprochen werden? War Rechtsgeltung
dann nicht in Wahrheit ein unmöglicher Begriff, eine contradictio in adjecto?
Es ist exakt dieser Hintergrund, vor dem einerseits Kelsen den Normbegriff als Absprungbasis für eine nor-
mativistische Lösung des Geltungsproblems benutzte (dazu oben Rn. 176ff.). Andererseits ist dieser Hin-
tergrund auch für die noch heute verbreitete Doktrin verantwortlich, derzufolge das geltende Recht aus-
schließlich in den der Verfassung gemäßen demokratischen Verfahren und Bestimmungen erzeugt werde.
Ausgetauscht wird lediglich das Subjekt der Gewalt als letztem Grund aller Rechtsgeltung. An die Stelle des
Staates und seiner „vor-rechtlichen“, „souveränen“ Gewalt tritt die demokratisch legitimierte „Gewalt“ des
Volkes. Für diese demokratietheoretische Geltungstheorie des Rechts hat Ernst-Wolfgang Böckenförde
unter Rückgriff auf das alte – insbesondere in monotheistischen Religionen verbreitete – Bild der Kette
32 Daran knüpft heute G. Agamben an. Vgl. nur ders., Ausnahmezustand, 2004, 45 („Außerhalb der
Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören: das ist die topologische Struktur des Ausnahme-
zustands, und insofern der Souverän ... in seinem Sein über diese Struktur logisch bestimmt ist, kann er
auch durch das Oxymoron einer Ekstase-Zugehörigkeit charakterisiert werden.“). Vgl. zu Agamben,
E. Geulen, Giorgio Agamben zur Einführung, 2009, 56ff.
33
C. Schmitt, Die Diktatur (1928), 1978, 140, 142; ders. (Fn. 31); zu den Differenzen zwischen Schmitt
und Sieyès S. Breuer, Aspekte totaler Vergesellschaftung, 1985, 176ff., 191f.
34
W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze (1921), 1965, 57.
35 Benjamin, ebd., 43 („Diese [die Polizei, T. V.] ist zwar eine Gewalt zu Rechtszwecken (mit Verfügungs-
recht), aber mit der gleichzeitigen Befugnis, diese in weiten Grenzen selbst zu setzen (mit Verordnungs-
recht).“).
36
Vgl. N. Luhmann, Die Rückgabe des 12. Kamels, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), 3ff., 16.
Für eine genauere Analyse der Beziehung Schmitt/Benjamin vgl. nur Ch. Menke, Recht und Gewalt,
2011, 59ff.; Agamben (Fn. 32), 64ff.; T. Hitz, Jacques Derridas praktische Philosophie, 2005, 63ff.;
N. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, 1991, 85ff.; vgl. auch Esposito (Fn. 27), 45f.
96
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II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie
(aurea catena)37 die Bezeichnung „Legitimationskette“ gefunden.38 Aber die auf das Volk zurückführende
Legitimationskette ist offenkundig ein ebenso politisches Rechtsgeltungskonzept wie dasjenige Schmitts,
das insofern nicht akzeptabel ist, als die Vielfalt der Umwelten der Rechtsordnung, die die Geltung und
Bindungskraft von Rechtsnormen beeinflussen und absichern, nicht auf Akte politischer Gesetzgebung re-
duziert werden kann.
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§ 5. Geltung
158 Schon auf Grund der Vielzahl an Autoren und Bewegungen – Sophisten, Stoiker, Ci-
cero, Thomas v. Aquin usw. – ist es nur schwer möglich, über die Geschichte des euro-
päischen Naturrechts seit der Antike verallgemeinerbare Aussagen zu machen.41 Man
kann aber sicherlich die These wagen, dass die Vorstellung eines Naturrechts erst entste-
hen kann, wenn ein von der Perfektion der Natur abweichendes, artifizielles, „positives“
Recht an Kontur gewinnt und die Normativität des Rechts von einer performativen
Schriftlichkeit abhängig wird, die das Recht in präskriptiver, verbindlicher Weise publi-
ziert. Das ist – im Kontext einer Theologisierung des Rechts – wohl erstmals in Alt-Is-
rael und – in einem stärker politischen Kontext – im antiken Griechenland der Fall.42 In
den griechischen Stadtstaaten kommt es um 600 v. Chr. zu einer starken Verschriftli-
chung des Rechts, zu Gesetzesinschriften unterschiedlichster Art, und zu einem ver-
gleichenden Rechtsdenken, das die Dinge, die von Natur sind, von denen zu unter-
scheiden lernt, die auf (künstlicher) Vereinbarung oder (bloßer) Gewohnheit beruhen.
Dabei wird das Naturrecht (gr. physei dikaion) teilweise kritisch gegen das (demokrati-
sche) Stadtrecht in Anschlag gebracht. Das ändert aber nichts an der Vorstellung einer
hierarchischen Abschichtung von physis und nomos, derzufolge Abweichungen von der
Tradition nur im Rahmen einer insgesamt als unverfügbar und invariant geltenden Na-
tur vorstellbar sind. Die Natur wächst hier gewissermaßen als ewig geltendes Recht in
das von Menschen gemachte Recht hinein. Nur das römische Zivilrecht bildet davon
in gewisser Weise eine Ausnahme, als es in (spät-)republikanischer Zeit ein besonderes
Recht hervorbringt, das früh Gegenstand eines juristischen Expertenwissens wird und
bis in das 19. Jahrhundert hinein Gegenstand von Rezeptionen ist, an denen sich das
europäische Juristenrecht immer wieder schult (dazu unten Rn. 261ff., 288ff.).
159 Das frühe griechische Recht der entstehenden Stadtstaaten war ein im Sinne der neueren pragmatischen
Sprachphilosophie (vgl. Rn. 54ff.) handlungsbezogenes, performatives Recht. Es bildete seit früher Zeit ein
relativ striktes Verfahrensrecht aus,43 artikulierte sich im rechten Spruch weiser Männer (oder eines Richter-
königs – basileus) und war von dem Grundgedanken getragen, dass es seit alters her galt und daher auch in
Zukunft weiter gelten würde.44 Recht nahm um 700 v. Chr. bei Homer die Form von epischen Exempeln
an, die in Heldengeschichten verwoben wurden; noch bei Hesiod hat das Recht den Charakter eines implizi-
ten – von Musen eingehauchten – Wissens um das Rechte (und Gute), nicht aber einen explizit regelhaften
Charakter. Erst bei den Vorsokratikern kam es z. B. im homo-mensura-Satz (der Mensch ist das Maß aller
Dinge) zu einer Explikation von Rechtsvorstellungen, aber auch nach der Ausbildung der Unterscheidung
von physis und nomos bei den Sophisten, etwa bei Antiphon,45 in der das Naturrecht kritisch gegen das positive
Recht als Recht des Stärkeren gewendet wurde, blieb die Geltung der Gesetze (nomoi) von einer einheitlichen
Vergangenheit und Überlieferung abhängig. Auch das römische Zivilrecht sattelte auf tradierte (ewig gültige)
Konventionen des Adels auf; als fides bildeten sie im spätrepublikanischen Recht den Kontext, in dem sich das
auf die „guten Sitten“ (bona fides) gegründete Zivilrecht aus der Ursuppe von moralischen, religiösen und
rechtlichen Normen herauslöste, ohne den Bezug zu diesen Kontexten jedoch je zu verlieren.46 Noch im Mit-
41 Bei Luther heißt es dazu: De iure naturae multa fabulamur. Für einen Überblick vgl. etwa E.-
W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002; vgl. auch – in sozialhistorischer
Absicht – S. Breuer, Sozialgeschichte des Naturrechts, 1983.
42
Vgl. dazu J. Assmann, Exodus, 2015, 249ff.; ders., Herrschaft und Heil, 2002, 178ff.; zur Performanz
des Rechts vgl. auch allg. S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012.
43 M. Gagarin, Writing Greek Law, 2008, 13ff., 39ff.
44 E. A. Havelock, Preface to Plato, 1963, 105 („speaking the things that are and those to be and those that
were before“); K. Robb, Literacy and Paideia in Ancient Greece, 1994, 74ff.
45
M. Gagarin, Antiphon the Athenian, 2002, 62ff., 64, 184.
46 Vgl. M.-Th. Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, 167ff., 199ff.; A. Schiavone, The Invention of
Law in the West, 2012; skeptischer im Hinblick auf die Autonomie des römischen Rechts T. Vesting,
Die Medien des Rechts, Bd. 2: Schrift, 2011, 137ff., 158ff.
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II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie
telalter stand das positive Recht (lex positiva) im Schatten der Legeshierarchie, die das Naturrecht und das gött-
liche Recht (lex naturalis, lex divina) oberhalb des praktizierten Rechts ansiedelte.47 Die Natur blieb auch hier
den Prinzipien der Invarianz und Unverfügbarkeit verpflichtet, bei Thomas v. Aquin etwa repräsentiert durch
die Anbindung des Rechtsbegriffs an einen wesenhaft gerechten Gott.
2. Gerechtigkeitsphilosophie
Gerechtigkeit wird in den Digesten als der unwandelbare und dauerhafte Wille defi- 160
niert, jedem sein Recht zu gewähren.48 Diese Definition hat eindeutig griechische
Wurzeln und entspricht etwa der stoischen – Chrysipp zugeschriebenen – Vorstellung,
jedem das zu geben, was ihm gebührt. Gerechtigkeit meint proportionale Gleichheit,
eine harmonische Verbindung der Teile, im Unterschied zur arithmetischen (abstrak-
ten) Gleichheit. Sie ist ganz auf die gerechte Verteilung der Dinge zugeschnitten, auf
die gebührende „Verteilung“ oder „Austeilung“ von (ehrenvollen) Ämtern, Geld oder
anderen Gütern unter der Führungsschicht (Adeligen) eines Stadtstaates (polis). Sie
setzt voraus, dass die Dinge ihrem Wesen nach verschieden sind und es natürliche Dif-
ferenzen gibt, wie z. B. die Differenz zwischen Bürger und Sklaven, Griechen und Bar-
baren oder Männern und Frauen. Für Aristoteles ist die verteilende Gerechtigkeit
(gr. to dianemetikon dikaion, lat. iustitia distributiva) daher ganz selbstverständlich der
Tauschgerechtigkeit (gr. to en tois synallagmasi dikaion, lat. iustitia commutativa) vor-
geordnet.49 Noch Irnerius, der Begründer der Glossatorenschule im Bologna des
12. Jahrhunderts, interpretierte die in römischen Rechtstexten, in den Digesten, tra-
dierte Definition der (verteilenden) Gerechtigkeit auf exakt diese Voraussetzungen
hin: Die Natur teile die Aufgaben und die Plätze in der Gesellschaft zu, und Gerech-
tigkeit sei daran zu messen, dass sie dies beachte.50
Meistens wird im Anschluss an den mittelalterlichen Begriff der iustitia distributiva von „austeilender Ge- 161
rechtigkeit“ gesprochen. Diese Übersetzung ist freilich ungenau, zumal Aristoteles in der entscheidenden
Passage der Nikomachischen Ethik nicht das von Platon in die Philosophie eingeführte Substantiv Gerech-
tigkeit (gr. dikaiosyne) benutzt, sondern in Form des versubstantivierten Adjektivs to dikaion vom „Rech-
ten“ spricht.51 Das ist möglicherweise ein weiterer Hinweis darauf, dass sich – im Unterschied zu der ein-
gangs zitierten Definition aus den Digesten – Recht nicht auf das Substantiv Gerechtigkeit zurückführen
lässt, vielmehr die Entwicklung historisch und systematisch genau umgekehrt verlief. Der substantivische
Gebrauch von Recht als das Gerechte und dessen Überführung in das Kunstwort Gerechtigkeit (dikaio-
syne) ist das Resultat einer evolutionären (historischen) Unwahrscheinlichkeit, die eng mit der Ingebrauch-
nahme der Alphabetschrift in Athen zusammenhängt,52 während Recht in oralen Kulturen – und in Grie-
chenland noch zu Zeiten Homers – ausschließlich an Performanzen geknüpft ist. In der ethnologischen
47
Th. v. Aquin, Summa Theologiae, II, I qu. 91ff.; vgl. Bockenförde (Fn. 38), 225ff.
48
Digesten 1. 1. 10. (Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens).
49 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b, 30ff. Dabei knüpft Aristoteles möglicherweise direkt an Vor-
stellungen Platons an. Jedenfalls grenzt Platon die Gerechtigkeit in Nomoi, 757, als wahrhafte Gleich-
heit, deren nähere Struktur nur die Götter kennen, ausdrücklich von einer bloß (arithmetischen)
Gleichheit nach Maß, Gewicht und Zahl ab.
50
Vgl. G. Post, Studies in Medieval Legal Thought, 1964, 494ff., 540; vgl. auch Luhmann (Fn. 11), 518;
zum mittelalterlichen Recht vgl. auch G. Dilcher, Normen zwischen Oralität und Schriftlichkeit, 2008,
insb. 123ff.
51
Das altgriechische Wort dianemetikon, das Aristoteles zur Kennzeichnung dieser Art von „Gerechtig-
keit“ benutzt, ist von dianemein abgeleitet, was sich wohl am besten mit „verteilen“ übersetzen lässt.
Dianemetikos meint also verteilungsbezogen. Die „austeilende Gerechtigkeit“ wäre deshalb vielleicht
angemessener als „das Rechte verteilend“ zu übersetzen.
52
E. A. Havelock, The Greek Concept of Justice, 1978, insb. 308ff.
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§ 5. Geltung
Forschung ist verschiedentlich gezeigt worden, dass Vorstellungen von Recht oft mit dem Finden des gera-
den oder richtigen Wegs durch den dichten Wald verknüpft sind. Ähnlich existiert auch im frühen griechi-
schen Recht zunächst nur die adjektivische Verwendung von Recht als rechtens, gerade, richtig, fair usw.
162 Mit ihrer Bezugnahme auf eine von Natur vorgegebene Ordnung von Differenzen
steht die verteilende Gerechtigkeit im Gegensatz zur Tauschgerechtigkeit, die bei Aris-
toteles – wie schon bei Platon – eine arithmetische Gleichheit nach Maß, Gewicht und
Zahl meint.53 Für Aristoteles beherrscht die Tauschgerechtigkeit einerseits vertragliche
(„freiwillige“) Beziehungen wie Kauf, Darlehen, Bürgschaft, Nießbrauch, Hinterle-
gung oder Miete, andererseits benutzt Aristoteles diesen Begriff auch für straf- und
schuldrechtliche („unfreiwillige“) Beziehungen wie Diebstahl, Ehebruch, Giftmische-
rei, Kuppelei etc. Als arithmetische Gerechtigkeit, als Gleichheit, ist die Tauschgerech-
tigkeit beispielsweise durch Geld vermittelbar, so wie schon bei Homer – im berühm-
ten Schild des Achilles – der Totschlag durch Geldzahlung gesühnt werden konnte.54
Erst allmählich wird die aristotelische Hierarchie dann umgestülpt. Vermittelt über
Stoizismus, Christentum, Protestantismus und Aufklärung kommt es im westlichen
Kulturkreis allmählich – und nur hier – zu einer Umkehrung der Gewichtung und
schließlich zu einem Vorrang der arithmetischen Gleichheit, der Tauschgerechtigkeit
vor der verteilenden Gerechtigkeit.55 Aus dem (aristotelischen) Grundsatz, Gleiches
gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, wird zunächst – etwa bei Kant – eine
universale formale Gleichheit und schließlich wird daraus – im 19. und 20. Jahrhun-
dert, im Zuge des Aufstiegs der industriellen Massengesellschaft – die Forderung nach
einer materialen Gleichheit zwischen den Menschen, die gerechte Verteilung der Gü-
ter und des materiellen Reichtums in einer Gesellschaft.
3. Moralphilosophie
163 Obwohl die moderne (liberale) Gesellschaft der Tradition des alteuropäischen Natur-
rechts und der mit ihr korrespondierenden Gerechtigkeitsphilosophie sämtliche gesell-
schaftsstrukturellen Grundlagen entzogen hat, übt die Unterscheidung von Natur-
recht und positivem Recht noch immer eine große Anziehungskraft insbesondere auf
die Rechtsphilosophie aus. Noch immer wirkt sie dort als Auslöser, Rechtsgeltung in
der Ethik bzw. in einem moralphilosophischen Gerechtigkeitsdiskurs zu suchen und
zu fragen, ob das geltende Recht einer normativen Begründung bedarf bzw. ob Ge-
rechtigkeit (im Sinne von arithmetischer Gleichheit) eine unabdingbare Komponente
positiver Rechtsgeltung sei. John Rawls hat dafür einen Gültigkeits- oder Legitimitäts-
test entworfen, den „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance),56 der das Treffen
von grundlegenden Gerechtigkeitsentscheidungen auf einen hypothetischen Urzu-
stand der Gleichheit rückbezieht und Gerechtigkeit als Verfahrensgerechtigkeit ausge-
staltet. Ronald Dworkin konstruiert die Bindung des Geltungsbegriffs an substantielle
(Gerechtigkeits-)Vorgaben über eine zielorientierte Theorie der individuellen Frei-
heitsrechte, in der diese als (konkrete) politische Ziele behandelt werden.57 Die wohl
53 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b, 30ff.
54 Vgl. dazu E. Cantarella, Dispute settlement in Homer once again on the shield of Achilles, 2002,
147ff.; Gagarin (Fn. 43), 13ff.
55
H. Krämer, Integrative Ethik, 1992, 60, 63.
56 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, 159ff.; vgl. dazu einführend R. Dreier, Recht – Staat –
Vernunft, 1991, 8ff., 29.
57
R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1984, 93.
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II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie
58
J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1996, 166; vgl. auch M. Neves, Zwischen Themis und Leviathan,
2000, 88ff.
59
Habermas (Fn. 58), 12.
60 Habermas, ebd., 139; dazu kritisch K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 59f., 125f.
u. ö.
61
Habermas (Fn. 58), 153.
62
P. Niesen/O. Eberl, Demokratischer Positivismus: Habermas und Maus, 2009, 3ff., 4 (diese Idee dürfte
ihrerseits stark von Ingeborg Maus beeinflusst sein).
63 Habermas (Fn. 58), 137.
64
Dreier (Fn. 39), 124; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 16, 405.
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§ 5. Geltung
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III. Dynamisierung
aus, dass Sprache ein immanentes Rationalitätspotential innewohnt, ja dass der Sprachgebrauch Rationa-
lität und Vernunft selbst hervorbringt. In das Sprechen-Können ist ein universelles Können, eine „Gat-
tungskompetenz“, eingelassen, von der man zu Recht bemerkt hat, dass sie eine latent juridische Struktur
insofern aufweise, als Sprechen-Können bei Habermas eng mit der Möglichkeit des Recht-Haben-Kön-
nens verknüpft sei.71
III. Dynamisierung
1. Positives Recht
Das, was die Rechtstheorie heute unter dem Stichwort der Rechtsgeltung behandelt, 168
wird seit dem 19. Jahrhundert und teilweise noch heute als „positives“ Recht bezeich-
net. Dieser Sprachgebrauch wird in Deutschland mit den rechtspositivistischen Syste-
mentwürfen üblich (vgl. Rn. 93),72 und der Begriff positives Recht hatte hier vor allem
die – eng mit der Rechtsquellenlehre verknüpfte – Funktion, das geltende (positive)
Recht von dem abzugrenzen, was nicht Recht ist, das geltende (positive) Recht also
insbesondere aus seinen Verknüpfungen mit sittlichen, religiösen oder sonstigen ver-
bindlichen Normen und Handlungsmustern herauszulösen.73 Das „positiv“ im Begriff
des positiven Rechts geht etymologisch auf das mittelalterlich-lateinische positivus, po-
situm und ponere (ponere, setzen, stellen, legen) zurück, das wiederum – jedenfalls in
der rechtshistorischen Literatur – von gr. legei dikaion abgeleitet wird.74 Während die
griechische Wurzel zweifelhaft sein dürfte (der Sinn von positivus dürfte eher im Um-
feld der physis/nomos-Unterscheidung zu finden sein), ist die Bedeutung von positivus
als gesetzt, erlassen, erfunden im Spätmittelalter (um 1200) auch in Verbindung mit
Recht (ius) und Gesetz (lex) nachweisbar.75 Jus positum lässt sich daher – mit dem
Rechtshistoriker Franz Wieacker – als „gesetztes Recht“, ius positivum als „die auf ‚Set-
zung‘ beruhende Rechtsordnung“ übersetzen.76
„Setzung“ meint im Zusammenhang mit dem Begriff des positiven Rechts die Vorstel- 169
lung, dass man Recht machen, d. h. künstlich entweder durch längere und allgemeine
Übung (consuetudo) herstellen oder durch ein zur Rechtsetzung befugtes Organ inner-
halb einer Gemeinschaft, eines Gemeinwesens, absichtsvoll schaffen kann. Vor allem
die letzte Möglichkeit, die Vorstellung der absichtsvollen Rechtsetzung innerhalb einer
Gemeinschaft (eines Dorfes, Marktfleckens, Stadtstaats, Fürstentums, Königreichs
etc.) verweist zwar unmittelbar auf das Feld der Politik und des Staates, aber – und
das wird häufig übersehen – dieser Verweis muss im Kontext und Horizont der Adels-
gesellschaft des Alten Europa gelesen werden: Der Setzungsbegriff ist genetisch an die
naturrechtliche Rechtsauffassung der alten Zivilgesellschaft (societas civilis) gekoppelt,
71 S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 2001, 91.
72
Der Begriff selbst wird allerdings schon bei G. Hugo, Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosophie
des positiven Rechts, 1798, verwendet. In England beschreibt sich das geltende Recht seit Jeremy Ben-
tham (1748–1832) als positiv.
73 Vgl. nur G. F. Puchta, Lehrbuch der Pandekten, 1863, 33 („Die rechtliche Beurtheilung der Verhält-
nisse ist selbstständig gegenüber den sittlichen und religiösen.“); vgl. dazu H.-P. Haferkamp, Methode
und Rechtslehre bei Georg Friedrich Puchta, 2012, Rn. 213ff., 256; D. Wielsch, Freiheit und Funktion,
2001, 114ff.
74 Wieacker (Fn. 13), 1996, 431 Fn. 5 m.w.N.
75 Eintrag Positiv, Positivität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989, 1110.
76
Wieacker (Fn. 13), 431 Fn. 5.
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§ 5. Geltung
die die „Natur“ stets als das Nicht-Gesetzte, Nicht-Änderbare und Nicht-Kontingente
vorausgesetzt hatte. Positives Recht bestimmt sich also zunächst allein durch den Ge-
gensatz von „Recht“ und „Natur“ in dem Sinn, dass das positive Recht dem entgegen-
gesetzt ist, was von Natur aus besteht, was die Natur gemacht hat, was überall gleich ist
und was der Mensch nicht verändern kann, wie etwa die schon von Aristoteles
beobachtete Tatsache oder Erfahrung, dass Feuer in Persien genauso brennt wie in
Athen. Und erneut ist die Unterscheidung als Hierarchie gebaut: Die Natur als das
Unveränderliche und Vorbildhafte ist die limitierende Voraussetzung, von der alle
Rechtsgeltung, alle „Positivität“ des Rechts, zehrt.
170 Der frühen griechischen „Gesetzgebung“ während der archaischen Zeit kann man nicht den Charakter
einer Kodifikation positiven Rechts unterlegen. „Gesetzgebung“ war hier zunächst Aufzeichnung, Einker-
bung oder Einschreibung oral tradierter Formeln und Sprüche in Stein.77 Erst mit dem Aufflackern des
Experiments der Demokratie kommt ein Moment der Setzung in die Festigkeit und Unveränderlichkeit
der oralen Rechtstradition hinein; und erst die Sophisten bringen die klare Differenz von gesetztem
Recht/Gesetz (nomos) und Natur (physis) als zweier entgegengesetzter Weisen von Regelhaftigkeit hervor.
Auch die sophistische physis/nomos-Unterscheidung lässt sich aber nicht als Ausdifferenzierung einer eigen-
ständigen Sphäre der Rechtsgeltung interpretieren. So wird die Unterscheidung von physis und nomos in
einem Antiphon-Fragment beispielsweise dahingehend benutzt, die Anforderungen der Gesetze (nomoi)
als ergänzend, die Anforderungen der Natur (physis) als notwendig zu beschreiben. Dominant bleibt also
der Bezug auf die Natur: Die Regeln der Natur werden mit Wahrheit (gr. alétheia, Unverborgenheit,
Nicht-Verdeckt-Sein) assoziiert, während die Gesetze der Stadtstaaten auf die Mehrheit der Meinungen
(doxa) bezogen sind, gegen die man jederzeit verstoßen kann, solange man nicht entdeckt wird.78
Rechtsgeltung blieb in Griechenland über seine Frühzeit hinaus eng mit den Normbeständen anderer so-
zialer Handlungskontexte (Riten, Sitten, Brauch, Konventionen) verknüpft. Noch im Athen der klassi-
schen Zeit existierte kein einheitlicher (objektiver) Rechtsbegriff wie das römische ius, und noch hier
sprach die griechische Rechtskultur dem althergebrachten ungeschriebenen Recht (agraphoi nomoi) eine
höhere Geltungskraft zu als dem geschriebenen („positiven“) Stadtrecht (gegrammenoi nomoi).79 Das hängt
vielleicht auch damit zusammen, dass die griechische Philosophie, obwohl Erfinder des „Denkens zweiter
Ordnung“,80 nie eine eigenständige Reflexionspraxis des Rechts, nie eine eigenständige Form der juristi-
schen Expertise, wie später die Römer, ausgebildet hat. Auch Platon entwarf keine Theorie „positiver“
Rechtsgeltung, sondern eine allgemeine Theorie der Gerechtigkeit (dikaiosyne), die nicht auf einen be-
stimmten Handlungsbereich beschränkt war, sondern eine – von verschiedenen – Tugenden in der polis
beschrieb und daher unauflöslich mit der Vorstellung einer gerechten politischen Seinsordnung verknüpft
war. Bei Aristoteles war das Rechte (gr. tò dikaion, von dikaion, gerecht, rechtens) Teil der Ethik und diese
Ausdruck einer allgemeinen Theorie menschlichen Handelns, die die Natur als sinnvoll geordnetes und
verpflichtendes Ordnungsgefüge voraussetzte, aber keine Geltungstheorie des „positiven Rechts“.
171 Das Mittelalter verwendete positivus ebenfalls im Unterschied zu natürlich. Das Spät-
lateinische (2.–6. Jahrhundert n. Chr.) kannte das Wort u. a. als dasjenige, was nicht
von Natur aus besteht, sondern durch Setzung oder Kunst erzeugt wird (non natura,
sed positione, arte constitutum). In rechtlichen Zusammenhängen wurden im 12. Jahr-
hundert positive und natürliche Gerechtigkeit – iustitia positivus und iustitia naturalis –
77
Die Griechen benannten die Gesetze oft nach dem Medium, in dem sie realisiert wurden, z. B. to gra-
phos (das Geschriebene) oder einfach grammata (die Buchstaben). Vgl. zu dieser Entwicklung Robb
(Fn. 44), 85ff., 99ff., 103; K.-J. Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archa-
ischen Griechenland, 1999, 60ff., 262ff.; vgl. auch R. Thomas, Writing, Law, and Written Law, 2005,
41ff., 48.
78
Zu dem Fragment vgl. Gagarin (Fn. 45), 184. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird da-
raus, dass „die Gebote der Gesetze willkürlich, die der Natur dagegen notwendig sind“.
79 Vgl. dazu Robb (Fn. 44), 147f.
80
Y. Elkana, Die Entstehung des Denkens zweiter Ordnung im antiken Griechenland, 1987, 52ff.
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III. Dynamisierung
unterschieden; Elternliebe galt als natürliche, das Hängen von Räubern als erfundene
(positive) Gerechtigkeit.81 Erneut scheint hier der Begriff der Natur als etwas Festes,
Unwandelbares und Vorbildhaftes durch: Die Geltung des Rechts ist weiterhin in
einer nicht-empirischen Seinsordnung verankert, deren Gesetze das menschliche Han-
deln nur verfehlen, gegen die es aber nicht dauerhaft verstoßen kann. Das Recht ruht
noch im Mittelalter auf einer festen ontologischen Verankerung; der Naturbegriff wird
jetzt allenfalls stärker als in der Antike mit der Existenz eines wesenhaft gerechten Got-
tes verbunden, so dass göttliches und natürliches Recht weitgehend zusammenfallen.
Diese Prädominanz des Naturbegriffs war auch im 16. Jahrhundert noch präsent. In
der frühen Neuzeit wurde die autoritative Verkündung des Rechts (ius) als Gesetz
(lex) zwar zum Merkmal des geltenden Rechts, aber die Geltungsgrundlage und
Grenze des Gesetzes blieb auch hier das Naturrecht im Sinne der Auffassung der socie-
tas civilis des Alten Europas.82
Die Verknüpfung von Gesetzesbegriff und Voluntarismus stand vor allem bei Jean Bodin in engem Zu- 172
sammenhang mit der Herausbildung des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffs und des modernen Territo-
rialstaates. Darauf reagierte Bodin in seinen Sechs Büchern über den Staat (ab 1576) mit der Unterschei-
dung von Recht (ius) und Gesetz (lex) und der Bindung des Gesetzesbegriffs an einen „commandement
du souverain“, der wiederum auf eine „pure e franche volonté“ zurückgeführt wurde,83 eine Umpolung
der Rechtsgeltung von Natur auf Willen (absichtsvolle Setzung), die an den theologischen Voluntarismus
des Spätmittelalters (Wilhelm v. Ockham) anknüpfte.84 Bodin ging es darum, den Gesetzesbegriff aus dem
Kontext eines als unveränderlich geltenden Naturrechts zu lösen, das Gesetz für den Fürsten fungibel zu
machen und es dadurch insgesamt zu dynamisieren; deshalb wurden die Gesetze jetzt über das Gewohn-
heitsrecht (coutume) gestellt. Damit sollte das Gesetz im Willen des Königs, aber nicht jenseits des Willens
Gottes, der Natur und der Konventionen der Adelsgesellschaft fundiert werden; es sollte im fürstlichen
Gesetzesrecht also keinesfalls beliebig oder gar willkürlich zugehen. „Somit erstreckt sich also die absolute
Gewalt der Fürsten und souveränen Herrschaften in keiner Weise auf die Gesetze Gottes und der Natur
und der beste Kenner der absoluten Gewalt [Papst Innozenz IV, T. V.]... hat gesagt, sie erlaube nur, vom
gewöhnlichen Recht, nicht aber von den Gesetzen Gottes und dem Naturrecht abzuweichen.“85 In Bodins
Neuformulierung des Konzepts der Souveränität stand mit anderen Worten die Kopplung des Gesetzes an
die Funktionsbedingungen der königlichen Monarchie im Vordergrund, die Bewahrung von Rechtssicher-
heit und die Sicherung von Vertrauen (fiance) in die gleichbleibende Gültigkeit der bestehenden Gesetze,
und nicht so sehr die Möglichkeit der Schaffung neuer Regeln durch die Gesetzgebung.86
Dieser historische Kontext darf nicht ausgeblendet werden, wenn man den Begriff des 173
positiven Rechts richtig verstehen will. Gerade weil der Begriff des positiven Rechts
seine Bestimmung und Bestimmtheit im Spiegel des Naturrechts erfährt, also auf
einen Bruch mit der traditionellen (ontologischen) Geltungsbegründung des Rechts
verweist, geht es hier nicht um eine Umpolung der Rechtsgeltung auf Willkür oder Be-
liebigkeit. Die Vorstellung, dass alles geltende Recht positives Recht ist, ist ein Erbe
der neuzeitlichen praktischen Philosophie, der philosophia socialis, und diese ist durch
das Systemdenken eines rationalen Subjekts bestimmt, wie es die Naturphilosophie
hervorgebracht hat (vgl. Rn. 73ff., 83ff.). Schon in der frühliberalen Tradition ist
81
Eintrag Positiv, Positivität (Fn. 75), 1110.
82 Luhmann (Fn. 11), 511f. m.w.N.; vgl. dazu aber auch P. Kondylis, Konservatismus, 1986, 72f., der den
Bruch stärker betont.
83
J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1583), 1981, F 133 – hier zitiert nach Kondylis (Fn. 82), 73.
84
Vgl. dazu Luhmann (Fn. 11), 519 m.w.N.
85 Bodin (Fn. 83), 1981, F 133.
86 Vgl. nur E. Hinrichs, Ancien Régime und Revolution, 1986, 9ff., 19; und T. Vesting, Die Medien des
Rechts, Bd. 3: Buchdruck, 2013, 81ff. m.w.N.
105
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§ 5. Geltung
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III. Dynamisierung
An diesen Diskussionsstand des späten 19. Jahrhunderts knüpft dann die bis heute 175
verbreitete Vorstellung an, Rechtsgeltung auf einen willensförmigen Setzungsakt zu re-
duzieren bzw. auf das von den zuständigen Organen in vorgesehener Weise gesetzte
Recht.92 Noch die frühen rechtssoziologischen Arbeiten von Niklas Luhmann stehen
in dieser Linie: Positives Recht wird mit Gesetztheit, Entscheidungsabhängigkeit und
Änderbarkeit assoziiert, mit der Notwendigkeit einer Selektionsleistung aus einem
Überschuss von Möglichkeiten.93 Wäre diese Annahme richtig, wäre Recht in der
modernen (liberalen) Gesellschaft eine beliebige „Steuerungsmasse“ der zu seiner Set-
zung ermächtigten politischen Institutionen im Rahmen der verfassungsrechtlichen
„Verhältnismäßigkeit“. Dann wäre Rechtsgeltung im besten Fall deckungsgleich mit
der sich in Reaktion auf den beschleunigenden gesellschaftlichen Wandel seit dem
Ersten Weltkrieg herausbildenden Gesetzgebungstätigkeit des Wohlfahrtsstaates. Im
schlimmsten Fall wäre alles Recht jedoch Produkt der unbegrenzten Willkür politi-
scher Diktatoren (Stalin, Hitler, Mussolini etc.). Darin zeigt sich aber schon das ganze
Problem der staatszentrierten Umpolung der rechtspositivistischen Rechtsquellen-
lehre. Kann man Rechtsgeltung tatsächlich zum ausschließlichen Produkt politischer
Gesetzgebung erklären und alle anderen sozialen Zusammenhänge, in denen sich Pro-
zesse rechtlicher Normbildung vollziehen, einfach übergehen?
2. Normative Geltungsbegründung
Einen äußerst zwiespältigen Versuch, den Geltungsbegriff von allen machtpolitischen 176
Implikationen abzulösen, ihn aber gleichzeitig für einen Bedeutungszuwachs der poli-
tischen Rechtsetzung und Gesetzgebung zu öffnen, unternimmt Kelsen mit einer rein
„normativen Geltungsbegründung“ des Rechts.94 Ausgangspunkt dieses Unterneh-
mens ist eine – an den Neukantianismus angelehnte – Fundierung der Rechtstheorie
als Erkenntnistheorie. Danach konstituiert erst die rechtswissenschaftliche Beobach-
tung das Recht als System.95 Das mag als Prämisse noch akzeptabel sein, aber Kelsen
verknüpft diese Erkenntnistheorie mit einer Zwei-Welten-Lehre, der zufolge das
Rechtssystem als einheitlicher Sinnzusammenhang einem anderen Objektbereich an-
gehört als natürliche, in Raum und Zeit sinnlich wahrnehmbare Ereignisse wie z. B.
Kommunikationen bzw. Sprechakte oder andere soziale Handlungen. Im Unterschied
zum System der Natur, dessen Ereignishaftigkeit vollständig durch Kausalität determi-
niert ist, ist das Rechtssystem durch die einer (Sprach-)Handlung attribuierte recht-
liche Bedeutung bestimmt, die eine spezifisch juristische Zurechnung zur Geltung
bringt: Erst Rechtsnormen als Deutungsschemata verleihen dem tatsächlichen Gesche-
hen/Verhalten einen spezifisch rechtlichen Sinn. Neben die kausal-gesetzlich determi-
92 Vgl. nur H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 9, 201; R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts,
2002, 143 (so zum „juristischen“ Geltungsbegriff ).
93
N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, 210 („Wir können diesen Begriff der Positivität demnach auf die
Formel bringen, daß das Recht nicht nur durch Entscheidung gesetzt (das heißt ausgewählt) wird, son-
dern auch kraft Entscheidung (also kontingent und änderbar) gilt.“); ders., Ausdifferenzierung des
Rechts, 1981, 124 („als Auswahl aus anderen Möglichkeiten und damit als jederzeit änderbar erlebt
wird“); vgl. dazu Neves (Fn. 58), 69ff.
94
Kelsen (Fn. 92), 364.
95 Kelsen, ebd., 74; daran anknüpfend etwa M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein ..., 2006, 28
Fn. 83; Alexy (Fn. 92); vgl. auch O. Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentaris-
muskritik, 1999, 63ff.
107
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§ 5. Geltung
nierte Ordnung der Natur tritt damit eine normative Welt der wissenschaftlichen Er-
zeugung und Ordnung allen Rechts zu einem stufenförmigen System.
177 Der rechtliche, in Deutungsschemata gespeicherte Sinn des positiven Rechts wird genauer
als mentales, dem Bewusstsein unmittelbar gegebenes „Sollen“ im Unterschied zum
„Sein“ bestimmt.96 Darauf sattelt der Geltungsbegriff auf: Geltung bezeichnet die spezifi-
sche Existenzweise einer Rechtsnorm, die Bedeutung eines normsetzenden Aktes, mit
dem irgendein menschliches Verhalten befohlen, angeordnet, vorgeschrieben oder erlaubt
wird.97 Der Bedeutungsbegriff selbst bildet hier das Verknüpfungsglied, um den Gel-
tungsbegriff von allem empirischen Sprach- und Mediengebrauch abzulösen und auf eine
rein ideelle – mit Husserl könnte man sagen: noumenale – Ebene abschieben zu können:
Die Geltung der Soll-Norm ist weder mit dem Willensakt der Autorität zu verwechseln,
die die Norm in Geltung gesetzt hat, noch mit ihrer tatsächlichen Wirksamkeit (Befol-
gung). Geltung im Sinne objektiver Soll-Geltung ist vielmehr ein intrinsischer Wert des
unserem Bewusstsein gegebenen Sollens und damit des Rechtssystems, der an der Spitze
des Systems durch die Grundnorm gesetzt wird und von dort aus, bei jeder Operation,
auf alle Stufen des Systems durchgereicht werden kann. Die Grundnorm ist wiederum
kein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand der Rechtsordnung, sondern muss wie eine
Art Stoppregel vorausgesetzt werden, sonst ist der unendliche Regress der Ableitung der
Rechtsgeltung unvermeidlich und die Frage, warum geltendes Recht überhaupt befolgt
werden soll, unentscheidbar. Befehle der Vater dem Kind, zur Schule zu gehen, so erläutert
Kelsen, müsse ab einem bestimmten Punkt der Ableitung eine normsetzende Autorität
vorausgesetzt werden, „die in letzter Linie diese Weise der Normsetzung statuiert“.98
178 Dieses Stufenmodell ist mit dem schwerwiegenden Nachteil verbunden, Rechtsgel-
tung nur noch wissenschaftlich oder erkenntnistheoretisch begründen zu können. Da-
mit werden die epistemologischen und medialen Grundlagen von Rechtsgeltung mehr
oder weniger ausgeblendet. Kelsen bestreitet zwar nicht, dass ein „Minimum an soge-
nannter Wirksamkeit“ eine Bedingung von Normgeltung sei,99 zumal eine Rechtsord-
nung per definitionem eine „Zwangsordnung“ ist, die im Gegensatz zur Moral an
„normwidersprechendes Verhalten“ einen „gesellschaftlich organisierten Zwangsakt“
knüpft.100 Aber auch eine im Großen und Ganzen effektive Rechtsordnung, eine
durch staatliche Zwangsakte gesicherte Rechtswirksamkeit, ist „nicht die Geltung
selbst“.101 Rechtsgeltung ist eben das Ganz-Andere, das – ähnlich wie Walter Benja-
mins Sprache102 – den Kontrapunkt zur staatlichen Gewalt bildet und dieser vollstän-
dig unzugänglich sein soll. Aber die Antwort auf die Frage, warum das so ist, versperrt
sich Kelsen durch einen Sinnpurismus, für den Recht die Bewegung mentaler Deu-
tungsschemata ist. Sinn verweist jedoch unweigerlich auf Sprache und Kommunika-
tion, auf Verstehen und damit auf gemeinschaftliche „vorreflexive“ Praktiken im Sinne
Wittgensteins und kann daher nicht in einem „reinen Sollen“ lokalisiert werden.
96
Kelsen (Fn. 92), 4ff.; vgl. auch O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, 325.
97
Kelsen (Fn. 92), 15f., 33f., 43, 248 (positive und negative Regelung).
98 Kelsen, ebd., 199, vgl. auch 204ff. (die Grundnorm als transzendental-logische Voraussetzung); vgl.
dazu H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, 42ff.,
83ff., 88.
99
Kelsen (Fn. 92), 10, 215 u. ö.
100 Kelsen, ebd., 34ff., 64, 65.
101 Kelsen, ebd., 220; Dreier (Fn. 98), 122.
102
Benjamin (Fn. 34), 48.
108
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III. Dynamisierung
103
Luhmann (Fn. 11), 49; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 116f., mit der hegelianischen
Formulierung, dass das autopoietische System nichts anderes ist oder hat als die Geschichte seiner ei-
genen Bewegung.
104 Luhmann (Fn. 11), 107, 58; H. v. Foerster, Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebs-
wirtschaftlichen Bereich, 1993, 233ff., 245ff.
105
Luhmann (Fn. 11), 110.
106 Nicht-Geltung ist deshalb für Luhmann kein Bestandteil des Rechtssystems, sie spielt nur insofern
eine Rolle, als das System den Geltungsbegriff durch negative Abgrenzung (Nichtgeltung) reflektieren
und konturieren kann.
109
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§ 5. Geltung
181 Weil Rechtsgeltung mit jeder Verwendung einer Rechtsoperation weitergereicht bzw.
im System von Moment zu Moment neu erarbeitet werden muss, bezeichnet Luh-
mann Rechtsgeltung auch als „Verknüpfungssymbol“ bzw. – im Anschluss an eine Ter-
minologie von Talcott Parsons – als „zirkulierendes Symbol“.107 Symbol meint hier
nicht einfach „Zeichen“ im Sinne der (sausurreschen) Differenz von Bezeichnendem
(signifiant) und Bezeichnetem (signifié). Luhmann will mit dem Symbolbegriff viel-
mehr zum Ausdruck bringen, „daß das Getrennte zusammengehört, so daß man das
Bezeichnende als stellvertretend für das Bezeichnete (und nicht nur: als Hinweis auf
das Bezeichnete) benutzen kann“.108 Christus ist – jedenfalls nach verbreiteter An-
sicht – nicht nur Symbol/Repräsentant Gottes auf Erden, er ist der „in geschichtlicher
Wirklichkeit Mensch gewordene“ Gott.109 Ein 100-Euroschein symbolisiert nicht nur
den Wert von 100 Euro, er ist ein 100 Euroschein und verkörpert damit genau diesen
Wert. Und so wie das Geld, das nach Ansicht der Systemtheorie ein symbolisch gene-
ralisiertes Kommunikationsmedium darstellt, die Wahrscheinlichkeit steigert, zeitliche
Differenzen zu überbrücken und Kommunikation mit Annahmechancen auszustatten
(der Händler gibt das Auto gerne heraus, nachdem bezahlt worden ist), so ist Rechts-
geltung ein Symbol, das in der Verschiedenheit seiner Operationen die Einheit des
Rechtssystems wahrt und reproduziert.110 Geltung ist eine semantische Errungen-
schaft der Eigendynamik eines autopoietischen Rechtssystems, das den normativen
Erwartungen des Systems attachiert wird.111 Unter dem Strich wird hier also wie bei
Kelsen eine enge Verknüpfung zwischen Rechtsgeltung und dem staatlichen Gesetzge-
bungs- und Justizapparat unterstellt. Diese enge Verknüpfung ermöglicht dem Rechts-
system auch in der Systemtheorie letztlich, im laufenden Rechtsbetrieb bindende Ent-
scheidungen – geltendes Recht – zu erzeugen.
110
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IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts
112 Und zwar auf einem Wissen „strikt nomologischer“ Art im Sinne von H. Krämer (Fn. 55), 95.
113
Die kantischen Formulierungen sind angelehnt an R. Esposito, Communitas, 2004, 110.
111
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§ 5. Geltung
oder auf eine Grundnorm, eine „rule of recognition“ oder ein Geltungssymbol redu-
ziert werden. Diese Überlegung muss auchfür die tradierte Rechtsquellenhierarchie
Konsequenzen haben, die künftig in ein heterarchisches, auf Gleichordnung der ver-
schiedenen Rechtsquellen angelegtes Modell umzuschreiben wäre.
185 Das Recht der Computerkultur durchbricht das Konzept einer Normenhierarchie, die eine klare Trennung
und Abstufung der Rechtsquellen nach ihrem jeweiligen Ursprung vorausgesetzt hatte.114 Deshalb wäre
die staatszentrierte Rechtsquellenhierarchie aufzugeben, zumindest aber doch erheblich zu modifizieren.
Fasst man Geltung – wie Luhmann – als Verknüpfungssymbol, das von Moment zu Moment im Rechts-
system immer wieder neu erarbeitet wird, wird Rechtsgeltung immer dann weitergereicht, wenn eine
Kommunikation rechtserheblich ist, d. h. Rechtsfolgen und nicht lediglich faktische Ereignisse zu be-
obachten sind, die solche Folgen nach sich ziehen können. Das wäre immer dann der Fall, wenn eine
Rechtshandlung rekursiv auf geltendes Recht Bezug nimmt, etwa ein Gerichtsurteil verkündet, ein Verwal-
tungsakt erlassen oder ein Gesetz verabschiedet wird, nicht aber schon dann, wenn z. B. ein Richter belei-
digt, der Polizeiwagen beschmiert oder ein verheirateter Parlamentsabgeordneter mit intimen Fotografien
seiner Freundin von einem Paparazzo unter Druck gesetzt würde.
Eine Verschiebung des Geltungssymbols durch rechtsfolgenrelevante Kommunikationen ist prinzipiell
auch bei privatrechtlichem und nicht nur bei staatlichen Rechtshandlungen möglich. Daher sind vor allem
der Vertrag und die private Norm- und Standardsetzung als eigene Rechtsquellen anzuerkennen. Das er-
öffnet nicht nur im innerstaatlichen Bereich einen neuen Blick auf die private Norm- und Standardset-
zung, z. B. im technischen Sicherheitsrecht oder im Vertragsrecht.115 Auch in transnationalen Zusammen-
hängen wäre die dezentrale, autonome Produktion von Konventionen, Regeln und Standards, etwa die
arbeitsrechtliche Bindung an interne codes of conduct eines transnational operierenden Unternehmens,116
grundsätzlich zu akzeptieren. Das staatliche Gesetzgebungsmonopol würde dann einem Gesetzgebungs-
wettbewerb ausgesetzt, für den die Idee eines flexiblen Netzwerks von Rechtsquellen an die Stelle starrer
Vor- und Nachrangrelationen treten könnte. Die (staatszentrierte) Rechtsquellenhierarchie könnte dann
zugunsten der Vorstellung einer Heterarchie von Rechtsquellen aufgegeben werden.
Erst unter dieser Voraussetzung kann dann die immer wichtiger werdende Frage gestellt werden, nach wel-
chen secondary rules insbesondere die private Regelproduktion zu akzeptieren ist und wie private Rechtsre-
geln auf existierende (öffentliche) Regelbestände, etwa die Grundrechte des nationalen Rechts, abgestimmt
werden können. Es geht dann um die Abstimmung zwischen privater und öffentlicher Regelsetzung, die
vermutlich auch neue Formen der Selbstkontrolle der Rechtsproduktion notwendig machen wird. Nach
Gunther Teubner stellt sich hier sogar die Verfassungsfrage: die Frage nach „konstitutionellen Sekundär-
normen“, die „das Geltungsparadox“ eines selbst gemachten Rechts „zu überwinden vermögen und über
die Rechtsnormqualität von sozialen Normen selektiv entscheiden“.117 Ob der Rekurs auf den Verfas-
sungsbegriff hier wirklich in jeder Hinsicht hilfreich ist, erscheint diskussionsbedürftig,118 richtig ist es
aber jedenfalls, derartige Abstimmungsprobleme – mit Teubner, Rudolf Wiethölter, Karl-Heinz Ladeur
u. a. – kollisionstheoretisch zu lösen. Denn das produktive Potential des kollisionsrechtlichen Denkens
liegt gerade jenseits der Hierarchie.119 Das spräche zugleich dafür, die Tradition des Verfassungsrechts nicht
114 Vgl. dazu H. Hill/M. Martini, Normsetzung und andere Formen exekutivischer Selbstprogrammie-
rung, 2012, § 34 Rn. 90 (für den Fall des Verwaltungsrechts); Ch. Tietje, Recht ohne Rechtsquellen?,
ZfR 24 (2003), 27ff. (für das Völkerrecht); vgl. allg. auch W. Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzes-
vorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), 5, 57ff.
115 Vgl. dazu nur Ruffert (Fn. 3), Rn. 19f. („Der Rechtsquellenlehre ist daher die Integration privater
Rechtsetzungsakte aufgegeben“); vgl. dazu P. Zumbansen, Ordnungsmuster im modernen Wohl-
fahrtsstaat, 2000, insb. 241ff.
116
Vgl. dazu etwa L. C. Backer, Economic Globalization and the Rise of Efficient Systems of Global Pri-
vate Lawmaking: Wal-Mart as Global Legislator, University of Connecticut Law Review 39/4 (2007),
1739ff.
117
G. Teubner, Globale Zivilverfassungen, ZaöRV 63 (2003), 21; vgl. auch ders. (Fn. 6).
118
Vgl. K.-H. Ladeur, Die Evolution des Rechts und die Möglichkeit eines „globalen Rechts“ jenseits des
Staates, 2012, 220ff.; Th. Vesting, Constitutionalism or Legal Theory, 2004, 29ff.
119 Zum kollisionsrechtlichen Denken vgl. allg. Teubner (Fn. 6), 225ff.; ders., Recht als autopoietisches
System, 1989, 123ff.; siehe auch R. Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts, 2003,
112
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IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts
als Entfaltung von Ebenen fortzuschreiben. Aus medientheoretischer Sicht legt dies auch der Übergang
vom Buch als Träger der deduktiven Hierarchien des rechtspositivistischen Systems zum Internet als Träger
dezentraler und konnexionistischer Formen des Rechts nahe (vgl. auch Rn. 237ff.).
113
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§ 5. Geltung
124
Dazu näher V. Descombes, Die Rätsel der Identität, 2013, 226ff., 230, 231.
125
Zum Begriff des „impliziten Wissens“ vgl. M. Polanyi, Personal Knowledge (1958), 1974; vgl. dazu aus
neuerer Zeit T. Vesting, Das moderne Recht und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015i. E.;
K.-H. Ladeur, Strategien des Nichtwissens im Bereich staatlicher Aufgabenwahrnehmung, 2014,
103ff.; I. Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, 2014, insb. 80ff.
126
B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 1985, 85 (in der Terminologie von G. Ryle).
127
J. C. Scott, Seeing like a State, 1998, 318 („partisan knowledge“ ist dadurch charakterisiert, dass „the
holder of such knowledge typically has a passionate interest in a particular outcome“); vgl. auch Ladeur
(Fn. 60), 45, 197.
128
Dieses Beispiel verwendet Scott (Fn. 127), 311f.
114
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IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts
gen gesammelt sind.129 Daraus resultiert gerade in der modernen (liberalen) Gesell-
schaft ein Vorrang des praktischen gegenüber dem theoretischen Wissen, d. h. die er-
folgreiche (orale) Praxis geht ihrer (schriftlichen) Explikation voraus.130 Diese Asym-
metrie ist auch für das Rechtssystem konstitutiv: Das Recht muss sich zu den
Wissensinfrastrukturen der Gesellschaft produktiv verhalten und sie so weit wie mög-
lich in seine eigenen Normstrukturen übernehmen. Das zivilrechtliche Haftungsrecht
kann den Begriff der Fahrlässigkeit nur dadurch bestimmen, dass es an die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt anknüpft, d. h. an einen Maßstab, den nur der (Wirtschafts-)
Verkehr selbst festlegen kann.131 Das Polizeirecht kann eine Gefahr nur dadurch fixie-
ren, indem es in der polizeilichen Generalklausel auf implizite gesellschaftliche Wis-
sensbestände verweist.132 Das Medienrecht kann nur dann etwas über „Fairness“,
„Sorgfalt“ oder die Trennung von „Nachricht und Kommentar“ in den Medien wissen,
wenn es die entsprechenden journalistischen Konventionen kennt.133 Ohne Rück-
griffe auf derartige Kenntnisse gibt es keine Rechtsgeltung. Die Geltung von Rechts-
normen ist also nicht – wie Kelsen meinte – von einem „Minimum“ an „Wirksamkeit“
abhängig.134 Im Gegenteil: Zur Rechtsbildung ist stets ein Maximum an praktisch er-
folgreicher Konventionsbildung notwendig!
Wenn man von hier aus den Bogen noch einmal zu unserem Ausgangspunkt zurück- 190
schlägt, dann zeigt sich, dass Rechtsgeltung ein höchst voraussetzungsvoller Begriff ist.
Die spezifische Geltung des Rechts kann heute nur noch in Differenz zu sonstigen ge-
sellschaftlichen Regelbeständen und praktisch erprobten Konventionen bestimmt wer-
den, was auch heißt, dass die Eigenständigkeit rechtlicher Bindungsfähigkeit von dieser
anderen Seite nicht getrennt werden kann. Das meint etwas anderes als Luhmanns kog-
nitive Offenheit bei normativer Geschlossenheit des Rechtssystems (vgl. Rn. 126ff.).
Die hier ins Auge gefasste Konzeption geht – ähnlich wie die jüngeren Arbeiten von La-
deur (vgl. auch Rn. 240ff.) – insofern über die systemtheoretische Differenz von kogni-
tiven und normativen Erwartungen hinaus, als ein produktives Spannungsverhältnis
zwischen gesellschaftlichen Konventionen einerseits und ihrer Explikation als sozialer
Reflexionspraktiken und sodann als expliziter Rechtsregeln andererseits unterstellt
wird; letztere müssen zwar im Rechtssystem selektiert und verfeinert werden, sie entfal-
ten dort aber keine grundsätzlich andere „Geltung“ oder „Normativität“ als außerhalb
des (staatlichen) Rechts. Die Frage zu beantworten, ob und wenn ja, auf welche Weise
es heute überhaupt noch Sinn macht und gegebenenfalls Sinn machen könnte, von
einer spezifischen „Geltung“ oder „Normativität“ des Rechts zu sprechen, ist sicherlich
eine der größten Herausforderungen der gegenwärtigen Rechtstheorie. Auch in diesem
Zusammenhang deutet aber alles darauf hin, dass das normativistische durch ein prag-
matisches Regelverständnis ersetzt werden muss (vgl. Rn. 60ff.).
129 Polanyi (Fn. 125), 54 („To become an expert wine-taster, to acquire a knowledge of innumerable diffe-
rent blends of tea or to be trained as a medical diagnostician, you must go through a long course of
experience under the guidance of a master.“).
130
Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 176 (in einem linguistischen Zusammenhang); zu den vor-
modernen Arten praktischen Wissens (metis, phronesis etc.) vgl. M. Detienne/J.-P. Vernant, Cunning
Intelligence in Greek Culture and Society, 1978.
131
Vgl. nur K. Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, 1987, 282ff.
132
K.-H. Ladeur, Privatisierung öffentlicher Aufgaben und die Notwendigkeit der Entwicklung eines
neuen Informationsverwaltungsrechts, 2000, 225ff.
133 Näher T. Vesting, Programmaufsicht im Fernsehen, 2002, 181ff.
134
Kelsen (Fn. 92), 10, 219.
115
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§ 6. Interpretation
1
Zur Begriffsgeschichte vgl. den Eintrag „Hermeneutik“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Bd. 3, 1974.
2 Dazu näher D. Weidner, Deutung und Undeutbarkeit, 2015i. E.
3
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), 1990, 87ff., 90.
116
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I. Auslegung oder Konkretisierung?
Für die laufende Anpassung der geltenden Rechtsnormen an immer neue Fälle hatte 193
Friedrich Carl v. Savigny ein „regelmäßiges Verfahren“ gefordert und die Reflexionen
darüber als Teil seines – die Methodenlehre selbst übergreifenden – „Systems des heu-
tigen römischen Rechts“ – im Abschnitt über die Rechtsquellen – behandelt.4 Seit
dem 19. Jahrhundert hat sich die Methodenlehre von anderen rechtswissenschaft-
lichen Fragestellungen weitgehend abgelöst. Heute läuft Methodenlehre praktisch
darauf hinaus, Fragen der Rechtsinterpretation eng mit Fragen des Dirigierens von
Gerichtsentscheidungen zu verknüpfen und im Grenzfall Rechtstheorie auf Metho-
denlehre zu reduzieren. Karl Larenz versteht unter Methodenlehre eine Reflexion der
„Arten des Vorgehens“ der Rechtswissenschaft, die ihrerseits auf die Bearbeitung des
positiven (geltenden) Rechts durch die Gerichte bezogen ist.5 Hans-Martin Pawlowski
assoziiert mit juristischer Methode zuallererst „sichere Regeln für die juristische Ar-
beit“; auch bei ihm hat die juristische Arbeit vor allem die methodische Verarbeitung
gerichtlicher Entscheidungen im Blick.6 Friedrich Müller versteht unter Methodik die
„Analyse der Struktur rechtlicher Normativität und der grundsätzlichen Bedingungen
juristischer Konkretisierung“,7 wobei juristische Konkretisierung auch hier Konkreti-
sierung des Rechts durch die staatlichen Gerichte meint.
Die Methodenlehre ist freilich keine homogene wissenschaftliche Bewegung, sondern 194
in unterschiedliche Lager und Schulen gespalten. Für einen ersten Zugriff können
dabei das herkömmlicherweise dem rechtswissenschaftlichen Positivismus zuge-
schriebene „Anwendungs- und Subsumtionsmodell“ auf der einen Seite und das im An-
schluss an die juristische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts formulierte „Konkretisie-
rungsmodell“ auf der anderen Seite unterschieden werden. Im Anwendungs- und
Subsumtionsmodell heißt Interpretation des Rechts: Anwendung des Gesetzes auf
einen gegebenen Fall. Oder umgekehrt: Subsumtion des Tatsachenmaterials eines
Rechtsfalls unter das Gesetz. Die Anwendung von Rechtsnormen und Gesetzestexten
erfolgt hier im Wege eines logisch zwingenden Verfahrens, welches nach dem Muster
des deduktiven Syllogismus (von gr. syllogizesthai, zusammenrechnen) als Schluss von
einem weiteren auf einen engeren Begriff angelegt ist. Auch in diesem Kontext kommt
die hierarchische Architektur des Weltbildes des Alten Europas zur Geltung: Der logi-
sche Schluss wird als Schluss von „oben“ nach „unten“ bzw. als Korrelation von „Ober-
satz“ und „Untersatz“ gefasst. Das berühmteste Beispiel für dieses Schlussverfahren lau-
tet: „Alle Menschen sind sterblich“ (Obersatz), „Sokrates ist ein Mensch“ (Untersatz),
„Sokrates ist sterblich“ (Schlussfolgerung). Das Anwendungs- und Subsumtionsmodell
geht also davon aus, dass die Interpretation einer Rechtsnorm ein Wissen zum Vor-
schein bringt, das vorher schon in ihr enthalten ist, bzw. als Wille des Gesetzes zu-
mindest unterschwellig im Gesetzestext artikuliert ist, nicht aber wird das Recht im In-
terpretationsakt durch neues, nicht schon im Gesetzestext vorhandenes Wissen
angereichert. Die Entscheidung des Richters ist Erkenntnis, Nachvollzug, Rekonstruk-
tion einer Weisung, quasi automatische Anwendung des Rechts oder des geschriebenen
Gesetzes und daher vom Willen oder von der Willkür des Interpreten unabhängig. Paul
Laband hat diese Bindung des Interpreten an das Gesetz um 1900 so beschrieben: „Die
4
F. C. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts Bd. 1, 1840, 206ff., 207.
5
K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 5, 195.
6 H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 2, 8, 9 (mit der Feststellung, es gehe in der
Methodenlehre um „wiederholbare Erkenntnisse“ für verschiedene Rechtsgebiete).
7
Vgl. nur F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1994, 241, vgl. auch 13 Fn. 2.
117
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§ 6. Interpretation
2. Zum Methodenkanon
196 In der methodentheoretischen Literatur werden üblicherweise vier „Elemente“ oder
„canones“ unterschieden: Grammatische, systematische, historische und teleologische
Interpretation. Unter „grammatischer Interpretation“ – heute oft ungenau als am
8 P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 2 (1911), 1964, 178.
9
Etwa bei H.-J. Koch/H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 14ff., in Form von „Kettende-
duktionen“ und „Subsumtionsschritten“.
10 Vgl. neben den Arbeiten der juristischen Hermeneutik (K. Larenz, C.-W. Canaris, R. Alexy, J. Esser,
F. Müller u. a.) M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1976; A. Kaufmann, Das Verfahren der
Rechtsgewinnung, 1999; vgl. auch den Überblick bei U. Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland
seit 1945, 1994, 145ff., 158ff.
11
Vgl. nur W. Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, 2011,
251ff., 252f.; Kriele (Fn. 10), 243ff.; ambivalent J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der
Rechtsfindung, 1972, 187ff., der einer der Promotoren der „judicial legislation“ im deutschen Sprach-
raum ist, Präjudizien aber als „vorgedachte Wertungsrelationen“ ansieht und ihnen offensichtlich den
Verbindlichkeitsgehalt einer Rechtsquelle abspricht; bisweilen ablehnend Larenz (Fn. 5), 430 m.w.N.
in Fn. 150.
12 BVerfGE 34, 269, 286; weitere Nachweise zur Rechtsprechung des BVerfG bei F. Müller/
R. Christensen, Juristische Methodik Bd. 1, 2013, Rn. 23ff.
118
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I. Auslegung oder Konkretisierung?
13
Zu den Details vgl. die ausführliche Behandlung bei Larenz (Fn. 5), 320ff.; F. Bydlinski, Grundzüge der
juristischen Methodenlehre, 2005, 11ff.; Koch/Rüßmann (Fn. 9), 166ff.
14 Zur rechtsvergleichenden Auslegung vgl. nur Bydlinski (Fn. 13), 42ff.; zur allg. Entwicklung vgl. nur
Esser (Fn. 11), 125ff. („Methodenpluralismus“ – mit Beispielen aus der Rechtsprechung des BGH);
Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 31ff. und die dortige Analyse der Erweiterung des Methodenarsenals
in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Einheit der Verfassung, verfassungskonforme
Gesetzesauslegung, funktionell-rechtliche Richtigkeit, sachbestimmte Konkretisierungsaspekte z. B. bei
Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG etc.); K. Larenz/C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995,
163 (mit der Bemerkung, dass die heutigen Auslegungskriterien weit über Savigny hinausgingen).
15
K.-H. Ladeur/I. Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36 (2005), 143ff., 176.
16 Vgl. nur Larenz (Fn. 5), 322; Müller (Fn. 7), 155 (Unersetzlichkeit der klärenden und stabilisierenden
Funktion des Normwortlauts); ders./Christensen (Fn. 12), Rn. 308ff.
17
BVerfGE 85, 69, 74f.; 69, 315, 350f.
119
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§ 6. Interpretation
lich ab. Wenn es bei Randy Newman heißt: „Short people got no reason to live“,
könne man dies einerseits als Angriff auf kleine Leute verstehen, andererseits aber
auch als selbstironische Beschwerde über die Unzulänglichkeiten des Lebens eines
nach eigener Einschätzung zu klein geratenen Popsängers. Jedenfalls sei es der Akt der
Interpretation selbst (und ihr Kontext), der den „Wortlaut“ herstelle, nicht aber sei
dieser stabil im Textkörper vorgegeben.18 Ähnliche Überlegungen findet man bei Ino
Augsberg. In einer texttheoretischen Perspektive wird hier die „Unlesbarkeit“ der Ge-
setze mit dem Imperativ ihres „Lesens“ verknüpft. Damit soll eine produktive Dyna-
mik der gleichzeitigen Unlesbarkeit/Lesbarkeit der Rechtstexte freigestzt werden und
so „die Möglichkeit zur Varianz und damit zur Fortentwicklung des Systems“.19
198 Auch wenn sich in Gerichtspraxis und methodentheoretischer Literatur kein abschließender Konsens über
den Umgang mit dem Wortlautargument feststellen lässt, ist es in kulturwissenschaftlicher und medientheo-
retischer Perspektive nicht verwunderlich, dass der grammatischen Auslegung (von gr. gramma, Buchstabe)
unter den Auslegungskriterien noch heute eine Sonderstellung eingeräumt wird. Das Haften am Buchsta-
ben, der Versuch, den Text buchstäblich zu sichern, ist eine sehr alte Vorstellung, die eng mit der Erfindung
der Buchstabenschrift und ihrer Ingebrauchnahme für dokumentarische Zwecke zusammenhängt. In Meso-
potamien, wo die phonetische Schrift vermutlich ab dem späten 2. Jahrtausend v. Chr. verwendet wurde,
wird diese Vorstellung wohl zuerst in der sogenannten Wortlautformel, „nichts wegnehmen, nichts hinzufü-
gen“, konserviert; schon im 13. Jahrhundert v. Chr. heißt es in einem hethitischen Text, den Pestgebeten von
Mursilis, mit Bezug auf einen auf Ton geschriebenen Vertrag: „Dieser Tafel aber fügte ich kein Wort hinzu,
noch nahm ich irgendeines weg.“20 Auch die altisraelische Kultur pflegte die Bindung an den Wortlaut insbe-
sondere der mosaischen Gesetze. „Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts
davontun, auf dass ihr bewahrt die Gebote des Herrn, eures Gottes, die ich euch gebiete.“21 Ferner kannte die
Gesetzgebung der griechischen Stadtstaaten (poleis) seit frühester Zeit, etwa im Gortyn-Code, die strenge
Verpflichtung des Magistraten auf das buchstäblich Geschriebene.22 Auch das römische Recht ist zunächst
vermutlich an buchstabengenauer Auslegung orientiert.23 In einer dem römischen Juristen Marcellus
(2. Jahrhundert n. Chr.) zugeschriebenen Digestenstelle heißt es, dass vom Wortlaut des Gesetzes nicht ab-
gewichen werden dürfe.24 Außerdem sind weitere römische Rechtsregeln bzw. Rechtssprichwörter dieser Art
überliefert, wie etwa der Satz, dass derjenige, der von einer Silbe abgehe, vom ganzen Text abgehe.25 Aller-
dings kannte das (spätere) römische Recht auch eine Reihe von Regeln, die das Gegenteil besagen, wie z. B.
die Formel, dass die dem Wortlaut widersprechende Auslegung kein Unrecht schafft.26
199 Uneinig ist man sich in der Methodenlehre bis heute nicht nur über den (korrekten)
Umgang mit dem Wortlautargument, sondern auch darüber, in welcher Reihenfolge
und Kombination die Elemente der Auslegung zur Interpretation des Rechts herange-
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II. Modellbildungen
zogen werden sollen.27 Konstatieren lässt sich insoweit allenfalls ein Minimalkonsens:
So geht die ganz überwiegende Meinung davon aus, dass die Interpretation des Rechts
und der Gesetzestexte den objektiv gültigen Sinn eines Rechtssatzes oder Gesetzes er-
mitteln soll, nicht den subjektiven Standpunkt des Gesetzgebers.28 Dadurch wird die
Unbestimmtheit der Auslegung freilich noch weiter gesteigert. Die Erschließung des
objektiv gültigen Sinns eines Gesetzes ist gegenwärtig vor allem an die teleologische
Auslegung gekoppelt; das teleologische Verfahren ermöglicht es jedoch, dem Gesetz
rechtspolitische, ökonomische oder sonstige Zwecke argumentativ zu unterlegen, die
nicht in der Rechtsordnung selbst, sondern in den Strukturen des jeweiligen Praxis-
felds oder Sachbereichs liegen.29 Damit eröffnen Objektivismus und Teleologie Mög-
lichkeiten und Spielräume für einen nahezu ungefilterten Wirklichkeitszugriff. In wel-
chem Umfang kann und darf die Interpretation auf Strukturen des Sachbereichs, etwa
den etablierten Praktiken des Versandhandels, zurückgreifen? Darf der Zivilrichter
heute beispielsweise danach fragen, welche ökonomischen Folgen es für die Prozess-
parteien und die Allgemeinheit haben kann, dass eine Produkthaftungspflicht des Au-
tomobilherstellers in dem Fall bejaht würde, in dem jemand von seinem eigenen Auto
überfahren worden ist, weil sich die Automatik bei geöffneter Motorhaube und laufen-
dem Motor selbst von der neutral-position in die drive-position geschaltet hat? Oder gilt
hier: „Gerechtigkeit gibt’s im Jenseits, hier auf Erden gibt’s das Recht“ (William Gad-
dis). Die theoretische Erklärung und Einordnung derartiger Fragen und Unbestimmt-
heiten ist bis heute strittig. Das betrifft bereits die Frage, inwiefern die teleologische
Methode Folgenberücksichtigung überhaupt zulässt,30 insbesondere wenn es um die
Berücksichtigung ökonomischer Folgen geht.31
II. Modellbildungen
1. Im Rechtspositivismus
Der Rechtspositivismus teilte mit der neuzeitlichen Naturphilosophie die Annahme 200
der Produktivität einer deduktiven Systembildung, einer hierarchischen Abschichtung
von Allgemeinem und Besonderem (vgl. Rn. 73ff., 83ff.). Der rechtswissenschaftliche
Positivismus wollte die Gesamtheit des gegebenen Rechtsstoffs, der zerstreuten lokalen
Rechte, des römischen Gelehrtenrechts, des Fürstenrechts usw., durch „Construction“
27 Esser (Fn. 11), 124; Larenz (Fn. 5), 322; ähnlich bereits Savigny (Fn. 4), 215.
28 In der Rechtsphilosophie schon früh G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, 106ff.; Larenz
(Fn. 5), 318 (allerdings eher unklar mit Einschluss des Willens des Gesetzgebers); anders etwa
M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, 328ff.
29 Larenz/Canaris (Fn. 14), 154 (Teleologie ist bezogen auf „Strukturen des geregelten Sachbereichs“,
„Sachgemäßheit“ etc.); deutlicher noch Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 67e („Normbereichsanalyse“);
W. Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004,
11ff., 36ff.
30
Zur Folgenorientierung vgl. etwa D. Grimm, Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, 1995, 139ff.;
G. Hermes, Folgenberücksichtigung in der Verwaltungspraxis und in einer wirkungsorientierten Ver-
waltungsrechtswissenschaft, 2004, 359ff.
31
Zur ökonomischen Folgenorientierung der ökonomischen Analyse des Rechts vgl. den Überblick bei
F. Müller, Ökonomische Theorie des Rechts, 2009, 359ff., 351ff.; zur neueren Diskussion vgl. auch
Ch. Kirchner, Methodiken für die judikative Rechtsfortbildung im Zivilrecht, 2012, Rn. 1252ff.;
K.-H. Ladeur, Die rechtswissenschaftliche Methodendiskussion und die Bewältigung des gesellschaft-
lichen Wandels, RabelsZ 64 (2000), 60ff. m.w.N.
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§ 6. Interpretation
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II. Modellbildungen
Richter selbst als Rechtsquelle angesehen wurden (und weniger der politische Gesetz-
geber). Das mag man heute, in einem demokratischen Verfassungsstaat, kritisieren
wollen, aber darin dachte der Rechtspositivismus durchaus politisch, nur eben inner-
halb einer eigenen juristischen Form.
Ebenso verfehlt wie der pauschale Vorwurf der „Realitätsblindheit“ ist die Ansicht, 202
dass der Rechtspositivismus die Interpretationslehre durchgängig nach dem Vorbild
des Anwendungs- und Subsumtionsmodells, gewissermaßen als „Subsumtionsauto-
maten“ entworfen habe.37 Versteht man unter Subsumtionsautomat eine triviale Ma-
schine, die Inputs (Gesetze) auf immer gleiche und wiederholbare Weise in Outputs
(Urteile) transformiert,38 wäre die rechtspositivistische Methodenlehre auf das Schluss-
schema des deduktiven Syllogismus festgelegt gewesen. In der Mitte des 18. Jahrhun-
derts, so die Legende, habe schon Montesquieu das Verhältnis von legislativer und
richterlicher Gewalt im 11. Buch von „De l’esprit des lois“ (1748) in einer derartigen
Weise bestimmt: Von den drei Gewalten habe Montesquieu die richterliche Gewalt
(puissance de juger) als in gewisser Weise gar nicht vorhanden erklärt (en quelque façon
nulle); der Richter sei nur der Mund, der den Wortlaut des Gesetzes spreche (la bouche
qui prononce les paroles de la loi), ein willenloses Wesen, das weder die Schärfe noch die
Strenge des Gesetzes zu mildern vermöge.39 Solche Gedanken waren im frühen
19. Jahrhundert sicherlich auch in Deutschland präsent (Feuerbach, Schoemann,
Grolmann u. a.), und zweifellos kannte auch der Rechtspositivismus einige dieser me-
chanistischen Ideen. Dazu gehörten etwa die Vorstellung von der Rechtsanwendung
als einem dem naturwissenschaftlichen Denken vergleichbaren „Erkenntnisakt“ oder
der ebenfalls weit verbreitete Gedanke vom „logischen Schließen“ als Ausdruck einer
Bindung der juristischen Interpretation an allgemeine, zwingende Denkgesetze (vgl.
dazu nur die oben zitierten Äußerungen Labands, Rn. 194). Dennoch lässt sich die In-
terpretationstheorie des rechtswissenschaftlichen Positivismus keineswegs auf das An-
wendungs- und Subsumtionsmodell und seine logisch-erkenntnisförmigen Beweis-
führungsschemata reduzieren.40
Seit Savigny konstruierte der Rechtspositivismus immerhin umfangreiche Auslegungs- 203
regeln als Teil der eigenen Systementwürfe. Der Methodenkanon fungierte hier als
Summe der Anweisungs- und Abstimmungsregeln, nach denen die Bedingungen der
Empfänglichkeit des Rechtssystems für seine Umweltgegebenheiten im System selbst
festgelegt wurden. Die Auslegung wurde also – ähnlich wie die Rechtsquelle – als
Komponente eines Handlungssystems verstanden, als Komponente einer etablierten
Rechtspraxis, nicht aber bildete der Methodenkanon einen quasi ontologischen Status
37
Das unterstellt z. B. M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein ..., 2006, 20f.; zum Begriff des
„Subsumtionsautomaten“ vgl. R. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986, 212 („me-
chanische Rechtsanwendungsvorstellung“) und allg. 292ff.
38
Zum Maschinenbegriff und zur Unterscheidung von trivialer/nicht-trivialer Maschine vgl. H. v. Foers-
ter, Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, 1993, 233ff.,
244ff.
39 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze 1 (1748), 1992, 220, 225; vgl. dazu R. Ogorek, Die erstaunliche
Karriere des ‚Subsumtionsmodells‘ oder wozu braucht der Jurist Geschichte?, 2002, und dies., De l’Es-
prit des légendes, 1983, 277ff. Auch der Rückgriff auf C. Beccaria, der im 4. Kap. seines Buches über
Verbrechen und Strafen die Interpretation gleichsam wegdefiniert haben soll (der Richter, so diese Le-
gende, habe bei jedem Urteil einen „vollkommenen Syllogismus“ zu vollziehen), ist nach Ogorek
(Fn. 37), 40f., problematisch.
40
Vgl. dazu nur Ogorek, ebd., 151ff.; J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2012, 211ff.
123
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§ 6. Interpretation
ab. Der Methodenkanon sorgte für die laufende Abstimmung und Mikrovariation des
geltenden positiven Rechts auf und durch neue Sachverhalte und Fälle. Auch ver-
knüpfte der Rechtspositivismus das positive Recht durchaus mit anderen gesellschaft-
lichen Regelbeständen und Konventionen einer arbeitsteiligen Kultur: Die grammati-
sche Auslegung war ja gerade an die Darlegung der auch vom Gesetzgeber lediglich
„angewendeten Sprachgesetze“ gebunden!41 Das Rechtssystem kannte also durchaus
Möglichkeiten für apokryphes (verborgenes) Lernen, vorausgesetzt, dass sich die Ge-
sellschaft und ihre detailreichen Praxisfelder nicht zu schnell und abrupt änderten.
Um denselben Gedanken leicht zu variieren: „Man darf die logische ‚Subsumtion‘
nicht einfach beim Wort nehmen, sondern muss diese Konstruktion als operative Regel
innerhalb des Rechtssystems konstruieren, die der Strukturierung der kognitiven Of-
fenheit des normativen Systems und seiner Selektivität für Umweltkontakte dient.“42
204 Wie wenig sich die Interpretationstheorie des Rechtspositivismus auf das Anwen-
dungs- und Subsumtionsmodell reduzieren lässt, zeigt auch das Feld der Gesetzesin-
terpretation. Die Gesetzesinterpretation hatte für den Rechtspositivismus bis in das
späte 19. Jahrhundert hinein eher Ausnahmecharakter. Savigny sprach in diesem Zu-
sammenhang von „legaler Interpretation“, im Unterschied zu der – für ihn im Zent-
rum stehenden – „doktrinellen“ oder „wissenschaftlichen Auslegung“, die sich auf das
gemeine Recht, d. h. das ohnehin konstruktiv-wissenschaftlich bearbeitete römische
Recht bezog.43 Aber selbst die Bindung des Interpreten an das Gesetz wurde keines-
wegs im Sinne der Bindung an einen politischen Befehl verstanden. Im Zentrum die-
ses Abschnitts stand vielmehr die „Reconstruktion des dem Gesetze innewohnenden
Gedankens“; und diese rekonstruktive Arbeit war für Savigny „freie Geistesthätig-
keit“,44 den Gedanken des Gesetzes im Denken von neuem Entstehenlassen. In dieser
freien Geistestätigkeit war für den Rechtspositivismus durchaus – nicht anders als bei
Schleiermacher – die Möglichkeit angelegt, einen Text besser zu verstehen, als sein Au-
tor ihn selbst verstanden hatte.45 Mit der Anweisung, den Gedanken des Gesetzes im
Anwendungsakt neu entstehen zu lassen, war das positive Recht also keineswegs auf
einem einmal erreichten status quo eingefroren, sondern offen für eine in die Zukunft
gerichtete Anwendungsgeschichte, die sogar den echten Lückenfall, den Auftritt eines
neuen, bisher unbekannten Rechtsverhältnisses einschloss. Das „Verstehen“ des Geset-
zes hatte seine Schranke allenfalls in dem nicht angemessenen Selbstbild als rekonst-
ruktiver Vollzug einer Produktion zu gelten.
205 Dass der rechtspositivistische Subsumtionsautomat, das „Rechnen mit Begriffen“, ein nachträglich ge-
schaffener Mythos der Methodenlehre des 20. Jahrhunderts ist, lässt sich auch am Beispiel des Lehrbuchs
zum Pandektenrecht von Bernhard Windscheid (1817–1892) verdeutlichen. Windscheid unterschied
grammatische, logische, objektive und Lücken bzw. Widersprüche aufhebende Interpretation. Auslegung
sei Darlegung des mehr oder minder gegebenen Inhalts des Rechts und sowohl für das Gesetzes- als auch
41
Savigny (Fn. 4), 214.
42
Vgl. K.-H. Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung in kognitivistischer
Perspektive, ARSP 77 (1991), 176ff., 177.
43 Savigny (Fn. 4), 206ff.
44
Savigny, ebd., 213, 207; dieser Gedanke wurde später u. a. von Thibaut aufgegriffen; Ogorek (Fn. 37),
143f.; dazu auch J. Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), 2012,
Rn. 148ff.
45 Zu Schleiermacher und der Geschichte dieses berühmten Satzes vgl. Gadamer (Fn. 3), 195; S. Meder,
Mißverstehen und Verstehen, 2004, 106ff., sowie 17ff. zur Hermeneutik Savignys.
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II. Modellbildungen
für das Gewohnheitsrecht notwendig.46 Die Gesetzesauslegung konnte grammatisch oder logisch erfolgen.
Die grammatische Auslegung zielte primär auf die Feststellung des Sinns, welchen der Gesetzgeber mit den
von ihm gebrauchten Worten verbunden hatte. Die Interpretation hatte sich hier, nicht anders als bei Sa-
vigny, unter Zuhilfenahme der Sprachgesetze möglichst vollständig in die „Seele des Gesetzgebers“ hinein-
zudenken; dabei, so Windscheid, sei sowohl der Zweck des Gesetzes als auch der Wert des Resultats zu
berücksichtigen (hier hatte bereits der späte Jhering seine Spuren hinterlassen).47 Ging die Auslegung
über die Anwendung der Sprachgesetze im Wege der „berichtigenden Auslegung“ hinaus, sprach Wind-
scheid von logischer Auslegung.48
Darüber hinaus sah es Windscheid noch in der letzten Auflage des Pandektenrechts als „edelste und
höchste Aufgabe“ der Auslegung an, den „eigentlichen Gedanken“, den der Gesetzgeber hatte ausdrücken
wollen, hervorzuziehen.49 Das galt sowohl für das Gewohnheitsrecht als auch für das Gesetzesrecht. Erneut
spielte ein rechtspositivistischer Autor damit ganz offensichtlich auf die Möglichkeit an, dass der Interpret
einen Text besser verstehen konnte, als sein Urheber ihn selbst verstanden hatte. Es kann also keine Rede
vom Interpreten als Subsumtionsautomaten sein. Windscheid führte vielmehr ein hohes Maß an Flexibili-
tät in die Interpretation ein, ohne das eigentliche Ziel der Interpretation, eine gleichbleibende Rechtssi-
cherheit, aus dem Auge zu verlieren. Larenz hat in diesem Zusammenhang bemerkt,50 dass Windscheids
Interpretationstheorie nicht ohne Anleihen bei der objektiven Theorie ausgekommen sei. Das ist völlig
richtig, aber weitaus weniger überraschend als Larenz selbst anzunehmen scheint: Entscheidend war für
Windscheid nicht der Gehorsam gegenüber dem Gesetz, sondern der Gehorsam des Interpreten gegen-
über seiner eigenen (juristisch geschulten) inneren Stimme. Auch für Windscheid war das positive Recht
zweifellos fähig, im Kontakt mit der Praxis eine eigene Anwendungsgeschichte zu erzeugen. Diese Flixibi-
lität der Rechtsinterpretation im Konkreten wurde gerade durch die im rechtspositivistischen System ver-
ankerte Interpretationstheorie möglich. Die subjektive Auslegungslehre, die der Rechtspositivismus angeb-
lich gepflegt habe, ist dagegen Teil der Mythologie des nachpositivistischen „Wertedenkens“ des
20. Jahrhunderts, zu deren Verbreitung nicht zuletzt Larenz selbst beigetragen hat.
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§ 6. Interpretation
füllende oder gegebenenfalls analoge Auslegung im Sinne des deduktiven Systems be-
wältigen. Das System hat die Antwort – jedenfalls idealiter – immer schon parat.
207 Auf das Problem einer sich rascher wandelnden Gesellschaft reagierte bereits die teleologische Methode,
prominent von Rudolf v. Jhering als „Zweck im Recht“ thematisiert. Die teleologische Methode gewann
erst im späten 19. Jahrhundert an Bedeutung. Bei den Begründern des Rechtspositivismus, wie etwa bei Sa-
vigny, kam die teleologische Interpretation noch nicht vor, zumindest bekommt sie einen eher beiläufigen
Platz zugewiesen.52 In teilweiser Übereinstimmung mit Jherings Terminologie rückte das teleologische
Denken vor allem in der Interessenjurisprudenz des späten Kaiserreichs (Philipp Heck, Max Rümelin u. a.)
ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dem Gesetz wurde jetzt eine unmittelbar materiale, an sozialen Zwecken
orientierte – heute würde man vielleicht sagen: steuerungstheoretische – Vorstellung unterlegt, die „Interes-
senkonflikte“ und ihre Bewertung in die Mitte der so bezeichneten „Rechtsfindungsmethode“ rückte. Das
ging schließlich in der Freirechtsschule (Erich Fuchs, Eugen Ehrlich, Hermann Kantorowicz) mit einer Lo-
ckerung oder Auflösung der Gesetzesbindung zugunsten eines social engineering-Ansatzes einher.53 Die
Krise der rechtspositivistischen Methodenlehre wurde nicht zuletzt in der staatsrechtlichen Diskussion der
Weimarer Republik folgenreich. Insbesondere Carl Schmitt richtete alle Aufmerksamkeit auf die Unbe-
stimmtheitsstellen des Rechtssystems, diagnostizierte eine zwischen dem Gesetz und seiner Anwendung lie-
gende „auctoritatis interpositio“ und schlussfolgerte daraus, dass es für die „Wirklichkeit des Rechtslebens“
darauf ankomme, „wer entscheidet“.54
208 Das große Vertrauen in die durch die eigenen Auslegungsmethoden versprochene Si-
cherheit und Gewissheit der Interpretationsergebnisse konnte der Rechtspositivis-
mus des 19. Jahrhunderts nur entwickeln, weil er dem Phänomen der Irreversibilität
der Zeit, der Frage nach der Möglichkeit der Wiederholung desselben Sinns in einer
anderen Situation, wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Jede Rechtsinterpretation
muss auf Informationen zurückgreifen, die nicht in Rechtstexten gespeichert sind,
sofern man den Textbegriff hier eng als expliziten Text, etwa als schriftliches Gesetz,
versteht. Die Rechtsinterpretation muss diese Texte aber stets aufs Neue in einer an-
deren praktischen Situation, einem anderen Fall, zur Geltung bringen. Interpreta-
tion ist also stets rekursive Wiederverwendung schriftförmiger Information. Aber
diese Wiederverwendung ist – entgegen dem ersten Anschein – nicht abschließend
im Rechtstext zu finden, sondern notwendigerweise auf kontextabhängige Verwen-
dungserfahrungen und praktisches Wissen angewiesen, das unterschwellig mitläuft
und nicht vollständig expliziert werden kann. Die Kontexte werden also niemals
eins zu eins wiederholt. Immer werden einzelne nicht wiederholbare Momente weg-
gelassen, wird bewährter Sinn von einem Fall zum nächsten verschoben und damit
verändert. Die Interpretation gehorcht mit den Worten Derridas, einer Logik der
Iterabilität, „welche die Wiederholung mit der Andersheit verbindet.“55 Sie vollzieht
stets – in Luhmanns Diktion – eine Doppelbewegung: Interpretation ist „Konden-
sierung“ von Sinn, d. h. Weglassen von nicht-wiederholbaren Momenten anderer Si-
tuationen, und zugleich dessen „Konfirmierung“, d. h. Generalisierung bewährten
Sinns, ohne dass dieser Vorgang auf einen seiner beiden Aspekte reduziert werden
52
Savigny (Fn. 4), 212ff., 228 (wo der „Grund“ des Gesetzes als Auslegungstopos in einer eher diffusen
Weise herangezogen wird); vgl. dazu insgesamt Rückert (Fn. 44), Rn. 135ff.
53 Vgl. dazu F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, 451f. ( Jhering), 574ff. (Interessenju-
risprudenz), 579ff. (Freirechtsschule); vgl. auch J. Rückert, Die Schlachtrufe im Methodenkampf – ein
historischer Überblick, 2012, Rn. 1402ff.
54
C. Schmitt, Politische Theologie (1922), 1985, 42, 46; zu diesem Motiv, das die Stimme gegenüber der
Schrift des Gesetzes privilegiert, vgl. die glänzende Interpretation von H. Lethen, Verhaltslehren der
Kälte, 222ff.
55
J. Derrida, Randgänge der Philosophie, 1988, 333.
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2. Philosophische Hermeneutik
Gegen die rechtspositivistische Interpretationstheorie, gegen die Vorstellung einer 210
Richtigkeitskontrolle der Rechtsanwendung durch einen systemintern konstruierten
Methodenkanon, setzt die hermeneutische Philosophie Hans-Georg Gadamers
(1900–2002) die Einsicht, dass Interpretation stets ein „Dolmetschen“ ist, die Über-
setzung eines Zeichens von einem Kontext in einen anderen. Interpretation ist zirkulär
angelegt, jedes Verstehen, jeder Interpretationsakt, setzt notwendigerweise einen be-
reits erschlossenen „Sinn des Ganzen“ voraus.62 Wer verstehen will, was die Verfassung
des Grundgesetzes heute meint, wenn sie Eigentum gewährleistet (Art. 14 Abs. 1
Satz 1 GG), muss schon wissen, was Eigentum ist oder zumindest eine Idee davon
haben, wie es zu dem geworden sein könnte, was es dann zu einem bestimmten histo-
rischen Zeitpunkt ist. Aus diesem hermeneutischen Zirkel gibt es kein Entrinnen,
auch nicht durch Kommentierungen von Gesetzestexten, denn diese müssen ihrerseits
interpretiert und verstanden werden: Jede Interpretation verweist auf einen Verständ-
56
N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 75.
57 Windscheid (Fn. 46), 101.
58 N. Luhmann (Fn. 56), 66, 75.
59
Vgl. nur H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), 1994, 85, vgl. auch 20, 121 u. ö. in jeweils unterschied-
lichen Zusammenhängen.
60 Kelsen, ebd., 228ff.
61 Kelsen, ebd., 346ff., 353; dagegen kritisch Jestaedt (Fn. 28), 49 Fn. 137.
62
Gadamer (Fn. 3), 271; dazu J. Grondin, Einführung zu Gadamer, 2000, 125ff.
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§ 6. Interpretation
nishorizont jenseits der Rechtstexte und geschriebenen Gesetze, auf die Kontinuität
einer „Geschichtlichkeit des Verstehens“,63 das akkumulierte Wissen einer historisch
gewachsenen Kultur. Interpretation ist immer schon historisch, sozial und sachlich si-
tuiert, und über diese konkrete Zeit-, Gesellschafts- und Sachabhängigkeit gewinnt
das hermeneutische Unternehmen Boden unter den Füßen. „Die hermeneutische
Aufgabe geht von selbst in eine sachliche Fragestellung über und ist von dieser immer
schon mitbestimmt.“64
211 Der hermeneutische Zirkel hat seinen Grund in der Natur der Sprache, die für die philo-
sophische Hermeneutik das primäre Medium der Kommunikation, des Gesprächs, und
aller Erfahrung ist. Während der Rechtspositivismus sprachphilosophisch gesehen in
den Prämissen der Bewusstseinsphilosophie stecken bleibt, schafft die Hermeneutik
den Sprung auf die Ebene des Mediengebrauchs: Sprache und Schrift sind die Mittel
der hermeneutischen Erfahrung.65 Und so wie Sprechen für die pragmatische Sprach-
philosophie seit Wittgenstein Handeln ist, ist auch die verstehende Auslegung für die
Hermeneutik ein Tun, eine „Vollzugsform“.66 Diese Vollzugsform operiert nicht einfach
rezeptiv, sondern produktiv. „Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Ent-
werfen.“67 Interpretation erschöpft sich nicht in der Rekonstruktion eines im Rechtstext
zum Ausdruck kommenden Gedankens, sondern bedeutet – notwendigerweise – Vor-
entwurf, sachbestimmte, erwartungsgeleitete Sinnanreicherung. Erst im Vollzug dieses
ständigen Neu-Entwerfens erfährt der Text seine eindeutige Bestimmung und Be-
stimmtheit. Ob die Tötung des Liebhabers der Schwester durch die von den Brüdern
geplante Verabreichung von Gift (während eines gemeinsamen Mittagessens) die Merk-
male der Mordqualifikation von § 211 StGB erfüllt, zeigt sich erst mit Blick auf den gan-
zen Fall: der Deutung des Geschehenen, nicht aber ist dessen juristische Einordnung als
Mord oder Totschlag (§ 212 StGB) bereits abschließend durch das Gesetz beantwortet,
wie etwa Cesare Beccaria im 18. Jahrhundert meinte, als er das strafrechtliche Urteil (zu-
mindest rechtspolitisch) auf einen „vollkommenen Syllogismus“ reduzierte.
212 Während der Rechtspositivismus auf einen stabilen Methodenkanon setzt, um die
auch von ihm nicht prinzipiell geleugnete Mehrdeutigkeit der (juristischen) Sprache
zu bewältigen, kommt es in der Hermeneutik zu der Vorstellung einer situativen und
sachbestimmten Anreicherung und ständigen Transformation des Sinngehalts von
Rechtsnormen. Auslegung heißt „Konkretisierung des Gesetzes“ im Kontext eines je-
weiligen Falles,68 Sinnproduktion im Akt der „Applikation“,69 Anwendung des zu ver-
63 Gadamer (Fn. 3), 270; dazu G. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 1997, 62 (mit der Bemerkung, dass
der Akzent bei Gadamer gerade auf der Kontinuität liege, d. h. in der Unterstellung eines geschichtlich
gewachsenen einheitlichen Sinnzusammenhangs).
64 Gadamer (Fn. 3), 273.
65 Gadamer, ebd., 383ff., 454, 478 („Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“); dazu Vattimo
(Fn. 63), 16 („Bei Heidegger wird die Interpretation trotz allen Nachdrucks, den er, besonders in der
Spätphase seines Denkens, auf die Sprache legt, vor allem unter dem Gesichtspunkt des Sinns von
Sein betrachtet; bei Gadamer wird die Interpretation trotz aller Betonung der Ontologie vom Gesichts-
punkt der Sprache aus gedacht.“). J. Habermas hat in diesem Zusammenhang treffend von einer „Ur-
banisierung der Heideggerschen Provinz“ gesprochen.
66
Gadamer (Fn. 3), 271.
67
Gadamer, ebd. Das heißt: Es gibt keine Fakten, es gibt nur Interpretationen.
68 Gadamer, ebd., 335.
69 Gadamer, ebd., 346 („Applikation ist nicht die nachträgliche Anwendung von etwas gegebenem Allge-
meinen, das zunächst in sich verstanden würde, auf einen konkreten Fall, sondern ist das wirkliche Ver-
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II. Modellbildungen
stehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten. Da jeder neue Fall
eine neue Applikation verlangt, verschiebt die Interpretation fortlaufend den Sinn
von Regeln und damit auch von Rechtsnormen. „Das Allgemeine, unter das man ein
Besonderes subsumiert, bestimmt sich eben dadurch selber fort.“70 Damit wird die im
Rechtspositivismus unterstellte Möglichkeit einer strikten Trennung von Gesetz und
Gesetzesanwendung, von Rechtsetzung und Rechtsauslegung, durch eine „tangled
hierarchy“ (Douglas Hofstadter) ersetzt, und die Unterscheidung von Regel und Re-
gelanwendung wird insofern relativiert bzw. aufgegeben, als die Unvermeidbarkeit
und Notwendigkeit „produktiver Rechtsergänzung“ im Akt der Interpretation aner-
kannt wird.71 Wenn aber die Methode die Sicherheit und Gewissheit der richtigen
Interpretation nicht gewährleisten kann, bleibt dann nur noch die jeweilige Ansicht
des Rechtsinterpreten, z. B. die Ansicht des einen konkreten Fall entscheidenden
Richters? Ist die Hermeneutik eine Theorie, die an die Stelle der objektiven Rechtser-
kenntnis subjektive Meinungen oder gar beliebige Wertungen einzelner zur Entschei-
dung befugter Personen setzt, insbesondere die Vorstellung der produktiven Rolle der
Rechtsanwendung? Kann man wirklich sagen, dass der „Schein der Objektivität der
Gesetzesauslegung ... von der philosophischen Hermeneutik endgültig und unwider-
ruflich zerstört“ wird?72
Vor einer derartigen Darstellung der Hermeneutik ist dringend zu warnen. Der Her- 213
meneutik geht es keineswegs um die Selbstreflexion des Interpreten bei der Auslegung
von Rechtstexten oder um die Ersetzung von Erkenntnis durch Meinung. Die Herme-
neutik will nicht das subjektive Meinungswissen des Interpreten hinterfragen, sie ist
keine Richtersoziologie, sondern unterstellt sehr viel radikaler und grundsätzlicher die
Erschütterung der stabilen Wahrheitsvorstellungen, von denen noch der Rechtspositi-
vismus ausgegangen war. Weil Wahrheit, Erschlossenheit von Sein, in der Hermeneu-
tik von der Sprache und damit vor allem von Schrifttexten abhängig wird, existiert die
Erfahrung von Wahrheit überhaupt nur im Medium von Sprache und Schrift,73 als
sich in der Welt, in Gesprächen und Texten (und nicht nur im Bewusstsein oder im
Geist) artikulierendes Wissen. Die Hermeneutik hat daher weitreichende erkenntnis-
theoretische Konsequenzen. Sie ist kritisch gegen die abstrakten Vernunftskonstruk-
tionen der Aufklärung gerichtet, auf denen letztlich auch das rechtspositivistische Sys-
temdenken beruht, die Vorstellung einer Einheit der Vernunft, des Gesetzes und der
Rechtsordnung. Gadamer misstraut der (cartesianischen und idealistischen) Philoso-
phie des (transzendentalen) Subjekts, er misstraut vor allem der Unterstellung der
Möglichkeit einer Voraussetzungslosigkeit des Denkeinsatzes; er teilt, anders herum
gesagt, mit Hegel und Heidegger die Kritik am kantischen Subjektbegriff und die
Skepsis im Hinblick auf die Möglichkeit der Letztbegründung sicheren Wissens im
Selbstbewusstsein. „Das Subjekt ist nicht Träger des Kantischen Apriori, sondern
Erbe einer geschichtlich-endlichen Sprache, die seinen Zugang zu sich selbst und zur
ständnis des Allgemeinen selbst, das der gegebene Text für uns ist.“), vgl. auch 312; siehe auch Jestaedt
(Fn. 28), 143.
70 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode Bd. 2, 1993, 455; ders. (Fn. 3), 314 („Ein Gesetz will nicht
historisch verstanden werden, sondern soll sich in seiner Rechtsgeltung durch die Auslegung konkreti-
sieren ... Das schließt ... ein, dass der Text ... wenn er angemessen verstanden werden soll ... neu und
anders verstanden werden muss.“).
71 Gadamer, ebd., 335.
72 So U. Neumann, Rechtsanwendung, Methodik und Rechtstheorie, 2009, 87ff.
73
Vattimo (Fn. 63), 18 („Erfahrung von Wahrheit gibt es überhaupt nur als interpretativen Akt.“).
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§ 6. Interpretation
Welt erst ermöglicht und bedingt.“74 Die Hermeneutik insistiert also gerade auf dem
Ereignischarakter einer jeden Wahrheitserfahrung, auf der Abhängigkeit der Interpreta-
tion von einer historisch unabschließbaren Zirkelbewegung des Verstehens. Die Her-
meneutik beginnt nach der „endlos langen Schwächung des Seins“,75 sie ist ein Pro-
dukt postontologischen Denkens, und dadurch erfahren nicht nur der sachliche
Kontext des konkreten Einzelfalls, sondern auch und vor allem die Zeitgebundenheit
jeder Rechtsinterpretation eine weit über das rechtspositivistische Selbstverständnis
hinausgehende Bedeutung.
214 Folgt man diesen Ausgangsannahmen der hermeneutischen Philosophie ist jeder Re-
kurs auf ein Regelsystem mit stabilen Selbstanwendungsregeln jenseits eines sich in
der Geschichte laufend verschiebenden Sinnhorizonts versperrt. Einfacher gesagt:
Rechtsinterpretation als solche, als zeitenthobenes Faktum, gibt es für die Hermeneu-
tik nicht. Dennoch wird der Objektivitätsanspruch der rechtspositivistischen Interpre-
tationslehre in der Hermeneutik nicht einfach durch Meinungswissen oder Ge-
schmacksurteile ersetzt.76 An die Stelle systemintern konzipierter Auslegungsregeln
tritt in der Hermeneutik die Vorstellung der Kontinuität eines kulturellen Überliefe-
rungszusammenhangs, eines kontinuierlichen Traditionsstroms objektiv gewordener,
tatsächlich gesprochener oder geschriebener Worte und Sätze. Über seine Verstrickt-
heit in das Gewebe der Sprache und der mit ihr gekoppelten Medien ist der Interpret
immer schon Teil dieser historisch gewachsenen Sprachgemeinschaft, partizipiert das
Verstehen von Anbeginn an in einer in der Sprache lebenden Tradition und Kultur.
Zu dieser Gemeinschaft und Tradition gehören nicht zuletzt legitime Vorurteile, d. h.
anerkennungswürdige Autorität. Autorität ist keine Sache von Gesetzesbefehl und
Gehorsam, sondern in Praktiken, in Überlieferungen, im Herkommen, in Sitten und
Gewohnheiten verankert, und die Kontinuität dieses historisch gewachsenen Überlie-
ferungszusammenhangs, diese „namenlos gewordene Autorität“77, übersteigt schon
immer einzelne subjektive Erfahrungen.
215 Von hier aus bestimmt sich die Bedeutung des für die Hermeneutik zentralen Begriffs
des „Vorverständnisses“.78 Gadamers Begriff des Vorverständnisses, der an Martin
Heideggers Vorstellung von „Geworfenheit“ anknüpft, ist ein an Geschichtlichkeit ge-
bundenes, stets sozial situiertes und der Geschichte ausgeliefertes Vorverständnis. Das
Vorwissen, die Vorentschiedenheit, ohne die keine Interpretation auskommt, ist in
einer historischen Sinnerwartung bzw. einem Vorurteil zu suchen, die den gemeinsam
geteilten Sinn aller Gesprächsteilnehmer und Leser voraussetzt und sichert: „das wirk-
liche Verständnis des Allgemeinen selbst, das der gegebene Text für uns ist“.79 Auch in
der Hermeneutik bleibt die Interpretation also an objektive Wissensbestände, an be-
74 Vattimo, ebd., 24; Ladeur, (Fn. 34), 63; M. Hofer, Die „Abdämpfung der Subjektivität“, Zeitschrift für
philosophische Forschung 54 (2000), 593ff.
75
Vattimo (Fn. 63), 30.
76
Im Gegenteil: Dem Ästhetizismus und dem ästhetischen Bewusstsein – dessen Subjektivismus und des-
sen diskontinuierlichen und a-historischen Zügen – gilt Gadamers Kritik.
77 Gadamer (Fn. 3), 285. („... daß durch Überlieferung und Herkommen Geheiligte hat eine namenlos
gewordene Autorität und unser geschichtliches endliches Sein ist dadurch bestimmt, daß stets auch Au-
torität des Überkommenen und nicht nur das aus Gründen einsichtige über unser Handeln und Ver-
halten Gewalt hat ... Die Wirklichkeit der Sitten zum Beispiel ist und bleibt in weitem Umfang eine
Geltung aus Herkommen und Überlieferung.“).
78 Gadamer, ebd., 273ff.
79
Gadamer, ebd., 346.
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II. Modellbildungen
80
Wie sehr es Gadamer um eine objektive Fundierung der Hermeneutik in einem als historisch begriffe-
nen Vorverständnis geht, zeigt etwa auch seine Kritik an Schleiermachers „ästhetischer Metaphysik der
Individualität“. Bei Schleiermacher wird die Geschichte zum Schauspiel freier Schöpfung, göttlicher
(genialischer) Produktivität, und gerade dies ist mit einer vollen Entfaltung einer geschichtlichen Geis-
teswissenschaft, als die sich Gadamers Hermeneutik versteht, unvereinbar: Schleiermacher ordnet das
Allgemeine historischer Zusammenhänge einer bestimmten Auffassung von Texten, deren (heilige) Au-
torität feststeht, unter. Vgl. Gadamer, ebd., 188ff.
81 Gadamer, ebd., 335.
82 Gadamer, ebd., 281.
83
Vgl. Gadamer, ebd., 15ff.; vgl. auch Grondin (Fn. 62), 152ff.
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§ 6. Interpretation
3. Juristische Hermeneutik
217 Obwohl Karl Larenz (1903–1993) das Verstehen sprachlicher Äußerungen ausdrück-
lich in den Mittelpunkt seiner Methodenlehre rückt und sich dabei wiederholt auf Ga-
damer beruft,84 unterläuft er doch das durch die Hermeneutik explizierte Problemni-
veau: Der hermeneutische Zirkel und die darin angelegte Notwendigkeit der Reflexion
des Vorverständnisses, des „kulturellen Erbes“, wird auf den gemeinsamen Sozialis-
ationsprozess von Juristen projiziert.85 Zugleich wird die Ordnungsleistung des Geset-
zes als eine unabhängig von der Gesetzesanwendung existierende Repräsentation eines
stabilen normativen Willens insgesamt nicht in Frage gestellt.86 Letzteres hängt wohl
auch damit zusammen, dass Larenz den hermeneutischen Zirkel auf die Relation von
(einzelnem) Wort und (gesamtem) Sinnzusammenhang eines Textes einengt,87 nicht
aber, wie es konsequent und im Sinne der Hermeneutik einzig richtig wäre, auf die
Differenz von schriftbasiertem Textkörper und Interpretation. Ähnlich unbefriedi-
gend ist die Auflösung des hermeneutischen Zirkels in der Diskurstheorie von Robert
Alexy. Die Erschütterung eines festen Beobachterstandpunkts durch den hermeneuti-
schen Zirkel wird zwar akzeptiert,88 die dadurch auftretende Leerstelle aber sogleich
durch die Begründungsprozedur des juristischen Diskurses gefüllt. Danach lässt sich
der mit der Interpretation des Rechts grundsätzlich verbundene Anspruch auf Richtig-
keit durch „die intersubjektiv zugängliche und deshalb objektiv überprüfbare argumen-
tative Prozedur“ einlösen.89 An die Stelle des „positiv-rechtlichen Gesetzbuches“ tritt
hier lediglich „das ideale Gesetzbuch der praktischen Vernunft.“90 Der Objektivitäts-
anspruch des rechtspositivistischen Systems lässt sich aber nicht durch die Annahme
von anthropologisch tief sitzenden Regeln, durch die Vorstellung einer zwischen den
Subjekten angesiedelten Universalpragmatik wiederherstellen. Oder allgemeiner: Der
Systembegriff kann schwerlich durch einen Relationsbegriff (Intersubjektivität) ersetzt
werden.91
218 Dagegen schneidet Josef Esser die Probleme der Rechtsinterpretation sehr viel schärfer
auf das von der Hermeneutik in den Mittelpunkt gestellte Problem der Zeitlichkeit al-
len Verstehens zu: Die Informationen, die der Interpret zur Lösung eines Falles benö-
84
Vgl. nur Larenz (Fn. 5), 206ff.; vgl. auch Larenz/Canaris (Fn. 14), 63, 298.
85 Vgl. insbesondere Larenz (Fn. 5), 185 („Sein ‚Vorverständnis‘ ist das Ergebnis eines langwierigen Lern-
prozesses, in den sowohl die während seiner Ausbildung oder später erworbenen Kenntnisse, die man-
nigfache berufliche und außerberufliche Erfahrung, vor allem solche über soziale Tatsachen und Zu-
sammenhänge, eingegangen sind.“).
86
Kritisch auch Ladeur (Fn. 31), 69; M. Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007.
87 Larenz (Fn. 5), 206.
88 Vgl. R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, 75ff.
89
Alexy, ebd., 79 (Hervorhebung von mir, T. V.).
90
R. Christensen/K. D. Lerch, Performanz, 2005, 55ff., 61, vgl. auch 62 („Die Idee eines der Rechtser-
kenntnis vorgegebenen idealen Gesetzbuches wird damit nicht aufgegeben, sondern nur in die sprach-
liche Begründungsdynamik zurückgenommen.“).
91
Für eine ausführlichere Auseinandersetzung vgl. Ladeur (Fn. 31), 73ff.; Christensen/Lerch (Fn. 90), 61f.
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II. Modellbildungen
tigt, können weder abschließend dem verschrifteten Gesetz noch einem mehr oder
weniger abstrakten Kanon von Auslegungsregeln entnommen werden. Die Entschei-
dungsfindung ist immer von ihrem zeitlichen und sachlichen Kontext abhängig, vom
„Durchgriff auf die so genannte Sachlogik, die Natur der Sache und die unleugbaren
Lösungsbedingungen der jeweiligen Ordnungsaufgabe in ihrem Zusammenhang“.92
Rechtsinterpretation orientiert sich am Ergebnis, an der Lebensnähe und Konsensfä-
higkeit einer Lösung. Sie ist nicht Produkt der subsumierenden Rechtserkenntnis,
sondern einer fallgesteuerten Rechtsüberzeugung, des Durchgriffs auf „evidente“ Ver-
nünftigkeit; die subsumierende Rechtserkenntnis, die Logik der deduktiven Schluss-
möglichkeiten, dient also eher der Darstellung denn der Herstellung von Rechts-
entscheidungen. „Die Praxis ... geht nicht von doktrinären ‚Methoden‘ der
Rechtsfindung aus, sondern benutzt sie nur, um die nach ihrem Rechts- und Sachver-
ständnis angemessene Entscheidung lege artis zu begründen.“93 Der Rechtstext inte-
ressiert den Interpreten nicht als abstraktes Meinungszeugnis, „sondern als ein für die
Entscheidung sinnvolles Weisungsmuster“.94 Rechtsinterpretation kommt daher nicht
ohne die Einhaltung vernünftiger und sachlich einsichtiger Maßstäbe gerechter Ord-
nung aus. Sie operiert mit ihrerseits nicht im Recht verankerten Infrastrukturen, die
als zeit- und gesellschaftsabhängiger Erwartungs- und Verständnishorizont, als stets se-
lektives Vorverständnis, vorausgesetzt werden müssen. „Die Interpretation, die schon
in der Würdigung der Fakten selektiv vorgeht, arbeitet mit einem selektiven Vorver-
ständnis auch bei Befragen des Vorrats an Regelungsmustern und Normen. Die
Grundsätze, mit denen die Jurisprudenz eben diese selektive Arbeit leistet, sind Ge-
rechtigkeits- und Arbeitsprinzipien, die nicht ihrerseits wieder aus dem positiven
Recht entnommen werden können.“95
Etwas allgemeiner formuliert wird die Vollzugsform der Interpretation bei Esser an 219
den Vorgriff auf eine erst herzustellende und jeweils historisch situierte gemeinsame
Vorstellung von Gesellschaft und Gerechtigkeit gebunden.96 Damit wird das Problem
des hermeneutischen Zirkels sehr viel genauer als etwa bei Larenz reflektiert: Es sind
nicht die gemeinsamen professionellen Erfahrungen der Juristen und schon gar nicht
das Rechtsdenken einzelner Richter, auf die Essers Begriff des Vorverständnisses zielt.
Das Vorverständnis, das Grundlegende und Wegweisende, entnimmt Esser vielmehr
der Wirklichkeit selbst – und d. h. genauer: dem Gebrauch der Sprache und der damit
verknüpften praktischen Wissensbestände.97 Esser akzentuiert vor allem die Gebun-
denheit der Interpretation an praktische Erfahrungen und einen sich daraus speisen-
den Erwartungshorizont, aus dem der Rechtsanwender nicht heraustreten kann. Dies
gilt sowohl für seine Verständnis- als auch für seine Urteilsmöglichkeit. Rechtsinter-
pretation ist nur denkbar als „Abtasten und Vorwegnehmen möglicher Auslegungen
nach Gesichtspunkten der Überzeugungskraft“, als Suche nach einem immer erst her-
zustellenden Rechtsverständnis, das sich aus der Berücksichtigung der Werte und Ein-
92
Esser (Fn. 11), 26f.; zum Werk und zur Methodologie Josef Essers vgl. auch allg. J. Köndgen, Josef Es-
ser – Grenzgänger zwischen Dogmatik und Methodologie, 2007, 103ff., 110ff.
93 Esser (Fn. 11), 80, 7 (Zitat); vgl. auch Hoffmann-Riem (Fn. 29), 23f.
94 Esser (Fn. 11), 139. Dann muss dies auch theoretisch genauer als durch den Rekurs auf die dem Richter
eigene „Wertungsperspektive“, seine „provisorische(n) Vorbewertungen oder Vorurteile“, abgebildet
werden.
95 Esser, ebd., 134, vgl. auch 17 und 141.
96 Esser, ebd., 23.
97
Esser, ebd., 21; zur Bedeutung der Sprache bei Esser vgl. nur ebd., 134, 137.
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§ 6. Interpretation
98
Esser, ebd., 140.
99
Esser, ebd., 139.
100 Vgl. dazu insbesondere J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts
(1956), 1990, 141ff., 327ff.
101
Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 471; dazu auch F. Laudenklos, ‚Juristische Methodik‘ bei Friedrich
Müller, 2012, Rn. 1081ff., 1091ff.
102 Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 79.
103 Müller/Christensen, ebd., Rn. 214. Es wird also auch bei Müller/Christensen – ähnlich wie bei Larenz –
auf die Entscheiderebene abgestellt; vgl. nur ebd., Rn. 276.
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II. Modellbildungen
104
Müller (Fn. 7), 169, 168.
105
Esser (Fn. 11), 144 Fn. 5.
106
Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 471; Müller (Fn. 7), 241.
107 Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 210.
108 Müller/Christensen, ebd., Rn. 482 Fn. 8, vgl. auch Rn. 226 („‚Normativität‘ bezeichnet die dynamische
Eigenschaft einer Norm, also eines sachgeprägten und strukturierten rechtlichen Ordnungsmodells,
sowohl die diesem zugrunde liegende Wirklichkeit zu ordnen als auch selbst durch diese Wirklichkeit
bedingt zu werden.“); Hoffmann-Riem (Fn. 29), 36ff., 53f.
109 BVerfGE 74, 297, 350; 83, 238, 302; ausführlicher T. Vesting, Prozedurales Rundfunkrecht, 1997,
238ff.; Hoffmann-Riem (Fn. 29), 57.
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§ 6. Interpretation
relevante Sinngebung erfolgt nicht schon im Gesetzestext als Teil eines deduktiven, auf
Vollständigkeit aller möglichen Aussagen angelegten Systems, sondern wird erst durch
die rechtsschöpferische Arbeit der Gerichte hergestellt oder zumindest abgeschlossen:
Hat man die Illusion der Selbstentfaltung des Geistes im Recht einmal aufgegeben,
zeigt sich die Rolle der Rechtsprechung als Initiator von Systemverbesserungen und
Motor laufender Rechtsaktualisierung.110 So besteht ein gemeinsames Hauptanliegen
der juristischen Hermeneutik darin, die Autonomie des Richters gegenüber dem Ge-
setz zu akzentuieren und – ähnlich wie es bereits Kelsen gefordert hatte (Rn. 99) – die
politische Aufgabe und Verantwortung des Richters für das Recht und einer darauf ein-
gestellten Methodenlehre hervorzuheben.111 Es geht also nicht zuletzt darum, eine kri-
tische Methode zu entwickeln, welche das Bewusstsein für die Eigenleistung der
rechtsprechenden Gewalt schärft. In diesem Punkt hat sich die juristische Hermeneu-
tik auch in der Rechtstheorie weitgehend durchgesetzt. Das zeigen sowohl System-
theorie wie Diskurstheorie: Beide schreiben der Gerichtsentscheidung eine „Zentral-
stellung“ im Rechtssystem zu bzw. sehen in den Gerichten den „Fluchtpunkt für die
Analyse des Rechtssystems“.112
224 Die Methodendiskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinterlässt einen
ambivalenten Eindruck. Auf der einen Seite wird die Ordnungskraft des Gesetzes und
der Rechtsordnung zugunsten der Annahme einer produktiven Rechtsergänzung
durch die staatlichen Gerichte relativiert (judicial legislation), auf der anderen Seite
bleibt die hierarchische Konstruktion eines die Rechtsinterpretation dirigierenden
theoretischen Wissens intakt. Die juristische Hermeneutik hält an der Vorstellung
eines (objektiv) verbindlichen Vorverständnisses fest, wenn sie die rechtsfortbildende
Konkretisierungsleistung im Moment der Gesetzesanwendung betont: Juristischer
Professionalismus (Larenz), finale Ordnungs- und Entscheidungsvorstellungen (Es-
ser), sachbestimmte Normativität (Müller/Christensen) und argumentative Rationa-
lität (Alexy) sind nur verschiedene Varianten der Wiederkehr einer stabilen vertikalen
Autorität. Im Ergebnis wird in der juristischen Hermeneutik also lediglich die Unter-
stellung des Rechtspositivismus, dass im deduktiven System mit Hilfe eines Kanons
universaler Interpretationsregeln ein unbedingt gegebenes Wissen gespeichert und im
Anwendungsakt „erkannt“ werden könnte, durch die Annahme ersetzt, dass der
Rechtsinterpret ein solch unkonditioniertes, aus sich selbst heraus gültiges Wissen in
den Regel- und Wissensbeständen des (rechts-)kulturellen Überlieferungszusammen-
hangs vorfindet, zumindest aber – bei richtiger „Textarbeit“ – durch entsprechende
„Normbereichsanalysen“ herstellen kann.
225 Die juristische Hermeneutik versucht mit anderen Worten, die rechtspositivistische
Unterstellung der Korrespondenz von (objektiver) Rechtsnorm und (subjektiver)
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III. Paradoxie des Entscheidens
113
Ladeur (Fn. 34), 60ff. mit Bezug auf J. Grondin; A. Fischer-Lescano/R. Christensen, Auctoritatis Inter-
positio, Der Staat 2 (2005), 213ff.; vgl. allg. auch G. Teubner, Des Königs viele Leiber, Soziale Systeme
2 (1996), 229ff.
114 Savigny (Fn. 4), 206.
115 In den Worten Derridas: die Gerechtigkeit stets aufschieben zu müssen. Vgl. J. Derrida, Gesetzeskraft,
1991, 53ff., 56 („Die Gerechtigkeit bleibt im Kommen.“).
116
Insoweit zutreffend Schmitt (Fn. 54), 41. Dieses selbstständige Moment der Rechtsentscheidung hat
N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 310ff., 338, von anderen (kommunikationstheoreti-
schen) Voraussetzungen ausgehend als „Verbot der Justizverweigerung“ ausformuliert und dann auf die
strukturelle, durch Texte bedingte Kopplung Geltungsbewegung/juristische Argumentation bezogen.
117
So etwa Kelsen (Fn. 59), 1. Aufl. 1934, 98f., und 2. Aufl. 1960, 348 („das anzuwendende Recht ein
Rahmen, innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten der Anwendung“); ähnlich C. Schmitt, Der Hüter
der Verfassung (1931), 1969, 46.
118 Vgl. H. v. Foerster, Ethics and Second-Order Cybernetics, Cybernetics & Human Knowing 1/1
(1992), 1ff., 6 (web edition); für das Rechtssystem – mit Bezug auf den gerichtlichen Entscheidungs-
zwang – Luhmann (Fn. 56), 307ff.; ders., Die Paradoxie des Entscheidens, Verwaltungsarchiv 84
(1993), 287ff.; vgl. auch die Beiträge in C. Vismann/T. Weitin, Urteilen, Entscheiden, 2006.
119 Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 147, mit Verweis auf J.-L. Nancy („L’ordre du jugement se compose du mul-
tiple, de l’incertain.“).
137
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§ 6. Interpretation
wäre der Richter tatsächlich ein Subsumtionsautomat. Die Entscheidung ist auch nie-
mals vollständig durch Interpretation begründbar. Wäre das der Fall, brauchte eben-
falls nicht mehr entschieden zu werden. Normen und Gesetzestexte machen es zwar
möglich, eine (vorübergehend) verbindliche Lesart eines Textes zu fixieren und damit
aus einer unentscheidbaren Frage eine entscheidbare zu machen. Dennoch bleibt in
jeder Rechtsinterpretation das mysteriöse, rätselhafte Moment der Entscheidung in-
korporiert, „ein unformulierbares (soll man sagen: göttliches) Element“.120 Das erklärt
auch, warum das Rechtsgefühl, das geschulte Judiz, bis heute als „unentbehrlicher
Kompass“ für den guten Juristen angesehen wird.121
227 Mit dem Rekurs auf Momente wie „Unentscheidbarkeit“ und „Ungewissheit“ soll hier keinem Dezisionis-
mus das Wort geredet werden. Es wird hier also nicht unterstellt, dass die Entscheidung, normativ betrach-
tet, aus einem Nichts geboren sein könnte, wie Carl Schmitt in den zwanziger und dreißiger Jahren des
20. Jahrhunderts immer wieder propagiert hat.122 So sind etwa Gerichtsentscheidungen durch Texte und
Kontexte (und nicht, wie Schmitt meinte, durch Subjekte) konstituiert, d. h. in die richterliche Entschei-
dung ist der Zwang zur schriftlichen Begründung der (mündlich verkündeten) Entscheidung eingebaut.
Man kann diesen Zusammenhang auch mit Niklas Luhmann als eine durch Texte bedingte strukturelle
Kopplung von Geltungsbewegung und juristischer Argumentation konzipieren oder mit Gunther Teubner
von einer engen Verknüpfung von Entscheidungsnetzen und Argumentationsnetzen sprechen.123 Das
selbstständige Moment der Entscheidung hat also nichts mit einer creatio ex nihilo zu tun, denn die ein-
zelne Entscheidung ist immer durch die Anschlusszwänge innerhalb eines Netzwerks von Entscheidungs-
sequenzen gebunden; das Mysterium der Entscheidung liegt allein darin, dass der Augenblick der Ent-
scheidung selbst dunkel, uneinholbar, abwesend bleibt. Die Funktion der Interpretation ist daher nur
paradox zu fassen: Sie dient der provisorischen Bindung von Ungewissheit, d. h. dem Schutz in das Ver-
trauen der Stabilität der rechtlichen Normen- und Interpretationsbestände (Erwartungssicherheit), aber
zugleich, ja in einer dynamischen Gesellschaft vielleicht sogar primär, der Ermöglichung des Neuen (Varia-
tion). Diese Überlegungen haben also nichts mit Schmitts Option für eine begründungslose, „autoritäre
Beseitigung des Zweifels“ zu tun.124
Neben den Arbeiten von Heinz v. Foerster und Niklas Luhmann ist die Einsicht in die Paradoxie des Ent-
scheidens in neuerer Zeit vor allem in der Philosophie Jacques Derridas betont worden. Derrida hat die
Aporie der Unentscheidbarkeit auch selbst an der richterlichen Entscheidung exemplifiziert.125 Ausgangs-
punkt seiner Überlegungen ist das Argument, dass für eine richtige (oder gerechte) richterliche Entschei-
dung der freie Wille des Richters vorausgesetzt werden muss.126 Dieser notwendige Zusammenhang von
Freiheit und Entscheidung erscheint einleuchtend, zumal die richterliche Unabhängigkeit im modernen
Verfassungsstaat positiv-rechtlich garantiert ist (vgl. Art. 97 Abs. 1 GG). Die Zuschreibung einer Entschei-
dung als richtig, gerecht oder angemessen setzt ein Moment der Freiheit (oder Unbestimmbarkeit) voraus,
sonst würde der Richter lediglich wie eine Trivialmaschine ein vorgegebenes Programm (oder einen Algo-
rithmus) abarbeiten. Andererseits untersteht der Richter der Regel oder Rechtsnorm, er ist an das Gesetz
gebunden, ja ihm unterworfen; und nur unter dieser Voraussetzung kann die Entscheidung dem Recht
und nicht nur dem Richter als Person zugerechnet werden. Trotzdem muss der Richter im Moment der
Entscheidung – der Applikation im Sinne Gadamers – ohne Regel auskommen, sonst könnte er gar keine
138
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IV. „Postmoderne“ Methodenlehre
Entscheidung treffen; er muss zumindest seine Unterworfenheit unter das Gesetz im konkreten Fall, seinen
„denkenden Gehorsam“, reflektieren. Die richterliche Entscheidung untersteht also einer Regel – und
doch nicht. Sie ist „gebundene Entscheidung“ und verlangt doch stets aufs Neue ein fresh judgement, eine
freie Entscheidung. Daher ist jede Recht-Sprechung an ein der Entscheidung immanentes Moment der
Unentscheidbarkeit gekoppelt; die richterliche Entscheidung ist, wie Derrida sagt, mit der „Heimsuchung
durch das Unentscheidbare“ kontaminiert.127 „Jeder Entscheidung, jeder sich ereignenden Entscheidung,
jedem Entscheidungs-Ereignis wohnt das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne, wie ein wesentliches
Gespenst.“128 Allerdings kommt es darauf an, dieses Moment der Unentscheidbarkeit, der Offenheit für
das Neue, im Moment der Entscheidung nicht zu verabsolutieren: Keine Entscheidung ereignet sich in
einem Raum völliger Indeterminiertheit, vielmehr verweist diese immer schon auf ein kulturelles Erbe,
das sie nicht vollends abstreifen kann, etwa der Sprache und der Regeln, in der und in denen sie sich arti-
kuliert.
139
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§ 6. Interpretation
131
Zustimmend: Fischer-Lescano/Christensen (Fn. 113), 213ff., 220ff.; Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 151
(„Juristische Methodenlehre und Dogmatik müssen ... als Versuche der Entparadoxierung verstanden
werden.“).
132
Teubner (Fn. 130), 29.
133
Skepsis über die Leistungsfähigkeit der Methodenlehre auch bei U. Neumann, Juristische Methoden-
lehre und Theorie der juristischen Argumentation, Rechtstheorie 32 (2001), 239ff., 242ff. (mit der
Analyse, dass die Methodenlehre an ihren Idealisierungen gestorben sei; dem will Neumann eine
Theorie der „Regelbegründung“ bzw. „juristischen Argumentation“ entgegensetzen).
140
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IV. „Postmoderne“ Methodenlehre
134 Vgl. dazu die Überlegungen bei G. Teubner/P. Zumbansen, Rechtsentfremdungen, Zeitschrift für
Rechtssoziologie 21 (2000), 189ff., 192f.; T. Vesting, Gegenstandsadäquate Rechtsgewinnungstheo-
rie – eine Alternative zum Abwägungspragmatismus des bundesdeutschen Verfassungsrechts?, Der
Staat 41 (2002), 73ff., 82f.; Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 173; vgl. auch Luhmann (Fn. 56), 52f., 76ff.
Die Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz, mit der Luhmann operiert, ist unauflöslich mit
der Differenz von normativen und kognitiven Dimensionen des Rechts verknüpft sowie der Reduk-
tion von Offenheit des Rechtssystems auf kognitive Offenheit. Das erscheint als zu eng, da die Inter-
pretation auch normativ „gesellschaftsadäquat“ auf Umweltanforderungen reagieren muss. G. Teubner,
Dreiers Luhmann, 2005, 199ff., 201f., sieht hier eine Einbruchstelle für eine das „Recht transzendie-
rende Gerechtigkeit“.
135
Esser (Fn. 11), 23.
141
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§ 6. Interpretation
lung“ oder „Hineinnahme von sachlichen Elementen in das Recht“ auf. An die Stelle eines in der Rechts-
interpretation selbst verankerten Objektivitätsanspruchs tritt eine – wie schon bei Kelsen – Aufwertung
des Richterrechts bzw. eine rechtspolitische Reflexion des produktiven Charakters der „Rechtsfindung“
bzw. der „Rechtsarbeit“ oder sogar eine Politisierung der Rechtsentscheidung.136 Das erscheint als Lösung
wenig befriedigend.
142
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IV. „Postmoderne“ Methodenlehre
kert. Es handelt sich nicht wirklich um ein „Vor-Verständnis“, wie Gadamer und mit
ihm die juristische Hermeneutik glauben,138 sondern um ein in der Kommunikation
mitlaufendes, mittransportiertes und immer nur aktuell abrufbares Wissen. Auf ein
derartig dynamisches, sich laufend selbst veränderndes gemeinsames Wissen nimmt
auch das Recht vielfach Bezug. Das zeigt sich in besonderer Klarheit in gesetzlichen
Generalklauseln wie „gute Sitten“, „Treu und Glauben“ und „Handelsbrauch“, in
Rechtsbegriffen wie „Fahrlässigkeit“, „Fehler“, „Gefahr“, „Geeignetheit“. Oder das
Recht zapft wie im Fall der technischen Standards (DIN-Normen, Grenzwerte etc.)
das kognitive Potential an, das in derartigen Regeln eingelassen ist, etwa um Schadens-
grenzen (Luftreinhaltung, Strahlungsbelastung etc.) zu ermitteln.
Wäre mit einem derartigen Konzept von gemeinsamem Wissen ein aussichtsreicher 236
Kandidat für die Entparadoxierung der Entscheidungsparadoxie in Sicht, für Struktu-
ren, die sich historisch vorübergehend bewähren könnten? Könnte insbesondere die
Abhängigkeit der Interpretation von den Sachstrukturen durch den Rekurs auf derar-
tige Formen gemeinsamen Wissens dirigiert werden? Diese Fragen sind insofern nicht
leicht zu beantworten, als ihre Bedeutung in auffälligem Gegensatz zur Häufigkeit ihrer
Behandlung in der Literatur steht. Soweit ersichtlich hat – neben frühen Ansätzen bei
Eugen Ehrlich – besonders Josef Esser die Funktion gemeinsamen Wissens für die
Rechtsinterpretation thematisiert. Aber wie wir bereits gezeigt haben, bleibt der Inter-
pretationsakt in Essers Vorverständnis und Methodenwahl auf eine vorgängige histori-
sche Kontinuität bezogen: Das gemeinsame Wissen wird einem schicksalhaften Zirkel
zugeschrieben, der dem Recht stabile geschichtliche und gesellschaftliche Prinzipien
vorordnet und vorgibt. Die vorpositive Gerechtigkeits- und Vernunftstruktur legt fest,
was in der Interpretation genutzt werden kann und unvermeidlicherweise in die
Rechtsentscheidung einfließt.139 Damit hält auch Esser die juristische Hermeneutik
letztlich an einem hierarchischen Modell, an der Vorordnung einer vertikalen Autorität
vor aller Interpretation, fest.
Eine Relationierung von Rechtsinterpretation und gemeinsamem Wissen, die jedwede 237
vertikale Autorität vermeidet, findet sich erst in jüngerer Zeit, prominent etwa in den
Arbeiten von Gunther Teubner. Teubners Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass
sich der Schwerpunkt der Prozesse der Rechtsbildung von ihren bisherigen national-
staatlichen Zentren, ihren Institutionen und Quellen (Parlamenten, Gerichten, völ-
kerrechtlichen Verträgen), auf eine davon unabhängige transnationale Peripherie ver-
lagert hat. In dieser Peripherie wird in unterschiedlichen Gesellschaftssektoren eine
paradoxe Selbstproduktion von Regeln und Rechtsnormen betrieben, an der global
players wie multinationale Unternehmen und internationale Organisationen beteiligt
sind (lex mercatoria, lex sportiva, lex electronica etc.).140 In einer jüngeren Arbeit über
globale Zivilverfassungen wird die These einer weltweiten Verrechtlichung von Gesell-
schaftssektoren mit dem Gedanken verbunden, dass diese neuen Formen der Selbstbe-
gründung des Rechts notwendigerweise immer auch Normen von konstitutioneller
138 Hier zeigt sich die ganze Problematik des hermeneutischen Begriffs des Vor-Verständnisses: Das „Vor-“
ist der ontologische Rest der Hermeneutik.
139
Vgl. nur Esser (Fn. 11), 23; deutlich auch ders. (Fn. 100), 182.
140
G. Teubner, Globale Bukowina, Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 255ff.; dazu näher
G.-P. Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, 2009, 71ff.; zum „globalen Recht“ und zur Theorie
Teubners weiterführend H. Lindahl, Fault Lines of Globalization, 2013, 44ff.; und L. Viellechner,
Transnationalisierung des Rechts, 2013.
143
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§ 6. Interpretation
141 G. Teubner, Globale Zivilverfassungen, ZaöRV 63 (2003), 1ff., 16; ausführlich ders., Verfassungsfrag-
mente, 2012.
142
Teubner, ebd., 21.
143
G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 123ff.; vgl. nur R. Wiethölter, Recht-Fertigungen
eines Gesellschafts-Rechts, 2003.
144 G. Teubner, Die anonyme Matrix, Der Staat 45 (2006), 161ff., 180; ders., Ein Fall von struktureller
Korruption?, KritV 83 (2000), 388ff., 399; vgl. auch ders. (Fn. 141 – Verfassungsfragmente), insb.
225ff.
145 Teubner (Fn. 141 – Zivilverfassungen), 22.
146 BVerfGE 89, 214ff.; ähnlich BVerfGE 81, 242ff. (Handelsvertreter).
147
Teuber (Fn. 144– strukturelle Korruption), 394, 396f.
144
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IV. „Postmoderne“ Methodenlehre
Familie muss als Limitierung in den wirtschaftsrechtlichen Kontext eingeführt werden. Weil es aber keinen
verallgemeinerungsfähigen Maßstab der Opfergrenze, kein gemeinsam geteiltes Wissen über den Einzelfall
hinaus gibt, muss die Verfassungsinterpretation hier eine stabile Grenze, einen Standard, vorgeben und rui-
nöse Familienbürgschaften per se verbieten.148
Akzentuiert Teubner eher die Autonomie der Rechtsinterpretation gegenüber den Ge- 240
fährdungen des Rechts durch autonome außerrechtliche Standardbildung, geht es
Karl-Heinz Ladeur und Ino Augsberg in einer jüngeren Publikation darum, „Ausle-
gung als ‚Management‘ der Kohärenz rechtlicher und außerrechtlicher Regelhaftig-
keit“ einzurichten.149 Das Recht ist in eine komplexe Infrastruktur von gesellschaft-
lichen Regeln und praktisch erprobten Konventionen eingebettet, und diese
Verhaltensmuster erzeugen eine Art „soziale Epistemologie“,150 eine in den „kogniti-
ven Komponenten des liberalen Rechts ... angelegte Lernfähigkeit“.151 Stärker jeden-
falls als Teubner betont Ladeur den „Eigenwert“ des gemeinsamen Wissens, das als
Selektionskriterium für sachbezogenes Interpretieren genutzt werden soll. „Interpreta-
tion setzt Unentscheidbarkeit voraus – und braucht doch Vorentschiedenes.“152 Vor
allem die in der „Privatrechtsgesellschaft“ zerstreuten praktischen Wissens- und Regel-
bestände erzeugen jedenfalls dann eine Selbstbindung der Rechtsinterpretation, wenn
diese Selbstbindung Fortentwicklungen zulässt.153 Das führt zur Vermutung und An-
erkennung eines grundsätzlichen Eigenwerts gesellschaftlicher Selbstorganisation. Die
heterarchische „relationale Rationalität der distribuierten Ordnungsbildung“ legt
insbesondere der politischen Gesetzgebung, „der deliberativen Rationalität der hierar-
chischen Normgebung“,154 eine Beweislast zur besseren Lösung der Probleme auf. Als
Beispiel nennen Ladeur/Augsberg die Rechtschreibreform: Wenn der Staat durch die
Einführung neuer orthographischer Regeln in ein funktionierendes Sprachspiel ein-
greift, muss erwogen werden, ob eine solche Initiative nicht schon an der Natur des
Gegenstands scheitert. Das erscheine jedenfalls dann plausibel, wenn prognostizierbar
sei, dass die selbsterzeugte Komplexität der deutschen Schriftsprache nicht auf wenige
einfache Regeln reduziert werden könne, ohne erhebliche Verluste an sprachlichem
Differenzierungsvermögen in Kauf nehmen zu müssen. Auch die (im Demokratie-
prinzip verankerte) Prärogative des Gesetzgebers sei dann kein Gegenargument:
„Caesar non supra grammaticos.“155
Im Unterschied zur juristischen Hermeneutik wird die Interpretation bei Teubner und 241
Ladeur nicht mehr an der Kontinuität eines historischen Vorverständnisses gemessen,
sondern auf die dynamische Stabilität der gemeinsamen Wissensbestände der moder-
nen bzw. postmodernen Gesellschaft eingestellt. Das gemeinsame Wissen wird nicht
länger einem schicksalhaften Zirkel zugeschrieben, der dem positiven Recht stabile ge-
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§ 6. Interpretation
schichtliche und gesellschaftliche Prinzipien vorordnet und vorgibt, sondern als ein dy-
namisches Wissen, das im gesellschaftlichen Wandel laufend neu erzeugt werden
muss – und zu dessen Produzenten (und nicht nur Konsumenten) gehört die Rechts-
ordnung selbst. Teubner hebt etwa die gestiegene Bedeutung der laufenden Produk-
tion privater Regelbildung in Form Allgemeiner Geschäftsbedingungen, Standardisie-
rungen und ähnlicher Normierungen z. B. in Wirtschaftsunternehmen, privaten
Verbänden, Krankenhäusern, Schulen oder Universitäten für das Recht und den inter-
pretativen Umgang mit ihm hervor. Und Ladeur/Augsberg betonen ausdrücklich die
Legitimität experimenteller Interpretationen in Fällen, in denen keine etablierten
Handlungsmuster existieren, auf die etwa Gerichte zurückgreifen können, so dass
diese selbst durch Interpretation einen Beitrag zur sozialen Regel- und Konventions-
bildung leisten müssen. Als gelungene Beispiele für eine derartige Mobilisierung des
gemeinsamen Wissens durch experimentelle Rechtsprechung werden etwa Entschei-
dungen des BGH zur Produkthaftung, des BVerfG zum Rundfunkrecht, die neuere
Entwicklung im Recht des Persönlichkeitsschutzes und im Technikrecht genannt.156
242 Die Konsequenzen dieser Vorschläge sind weitreichend. Insbesondere bei Ladeur/
Augsberg wird die Wissensproduktion selbst zu einem Aspekt der Rechtsbildung und
Rechtsinterpretation. Damit wird die etwa in der Systemtheorie noch vorausgesetzte
normative Geschlossenheit des Rechtssystems zumindest partiell gelockert. Ladeur/
Augsberg weisen zwar wiederholt darauf hin, dass die Berücksichtung des gemeinsa-
men Wissens nicht zu einer Einebnung der Unterscheidung von Rechtsinterpretation
und sozialer Konventionsbildung führen dürfe. Der Sache nach wird in der Rückver-
weisung des Rechts an die Standard- und Regelbildung der jeweils betroffenen Sach-
bereiche jedoch eine Ambivalenz sichtbar, die darauf hinweist, dass Recht und Rechts-
interpretation eng mit einem gemeinsamen Wissen verkoppelt sind, das die Grenze
zwischen Innen und Außen, zwischen Rechtsstrukturen und Sachstrukturen laufend
destabilisiert. Die Entscheidung über die Verwendung des Wissens wird in der juristi-
schen Interpretation gefällt, aber entgegen einer vordergründigen Beschwörung der
Einheit und Autonomie der Rechtsordnung, wird die Ausschließlichkeit und Eigen-
ständigkeit normorientierter Entscheidungen damit relativiert.
242 a Das ließe sich in medientheoretischer Perspektive als Reaktion auf die gestiegene Be-
deutung technischer Medien deuten, die das alte normative Regelmodell, das sich im-
mer an vorgegebenen Maßstäben orientiert hat, abschwächt. An die Stelle einer stabi-
len „vertikalen Autorität“, die es ermöglichte, das Einzelne unter ein Allgemeines zu
subsumieren (und damit in eine schon vorhandene normative Wirklichkeit einzurü-
cken), tritt eine fluide namenlose Autorität von zerstreuten horizontalen Bewegungen.
An die Stelle einer Normhierarchie mit einem „letzten Grund“ tritt ein „finding as
founding“ (Stanley Cavell), ein auf Offenheit angelegter Prozess des Suchens und Fin-
dens von Mustern, Normen und Gründen „zu einem Netz von Möglichkeiten, die in
einer experimentellen Form auf ihre Haltbarkeit als anschlussfähiges Muster für wei-
tere Möglichkeiten getestet, durchgespielt werden, ohne dass wieder die Herausbil-
dung einer verallgemeinerungsfähigen Regel, einer dauerhaften Form erwartet werden
könnte.“157 Für eine solche Lesart spräche besonders die neuartige Rolle des Codes in
der digitalen Kommunikation und das damit verbundene Übergreifen der Computer-
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§ 6. Interpretation
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§ 7. Evolution
I. Rechtsgeschichte
Unter Rechtsgeschichte versteht man die Beschreibung der Veränderung oder Ent- 245
wicklung des Rechts im Medium der historischen Zeit, den „Weg des Rechts“ von
den „Anfängen bis in die Gegenwart“.1 Zwar präsentiert die rechtshistorische Literatur
diesen Weg heute nicht mehr durchgängig als lineare und kontinuierliche Höherent-
wicklung, als Weg einer in Westeuropa zu sich selbst kommenden (Rechts-)Vernunft,
wie es für die Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts noch weitgehend selbstverständ-
lich war. Geblieben ist aber die chronologische Ordnung des historischen Materials
nach den großen Epochen der europäischen Geschichte, Antike, Mittelalter, Neuzeit/
Moderne, bisweilen ergänzt um Frühgeschichte und Zeitgeschichte. Das Schlüssel-
thema bleibt die Modifikation des Rechts in einem als „Weg“ – manchmal auch als
„Strom“ oder „Fluss“ – gedachten Erfahrungsraum der Geschichte. Das ist aber wohl
nur eine Verlegenheitsformel für die unhintergehbare Paradoxie der historischen Zeit,
der Identität von Kontinuität (Identität) und Entwicklung (Differenz).2 Diese Parado-
xie versucht die Rechtsgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert in einem Konzept
zu entfalten, das die Geschichte des Rechts in Europa ins Zentrum der Forschung
stellt, während eine über Europa hinausgreifende globalhistorische Perspektive erst all-
mählich an Relevanz gewinnt.3
Der neuzeitliche, moderne Geschichtsbegriff konnte erst entstehen, seitdem die Welt 246
nicht mehr in einer unverfügbaren (metaphysisch-religiösen) Transzendenz wurzelt,
sondern zum Gegenstand ihrer eigenen Entwicklung geworden ist. Das setzte die Auf-
lösung des stationären Weltbildes des Alten Europa und damit vor allem einen Umbau
der ontologischen Zeitsemantik voraus. Erst seitdem die flüchtige Zeit der Gegenwart
(tempus) nicht mehr auf eine ewig andauernde Vergangenheit (aeternitas) referiert,
erst seitdem die Zeit als Zeitpunkt eine radikale Verzeitlichung der Gegenwart einge-
leitet hat, wird eine abstrakte Vorstellung von geschichtlicher Zeit als Abfolge von
Ereignissen zwischen Vergangenheit und (unbekannter) Zukunft möglich. Folgt man
dem Historiker Reinhard Koselleck, setzt sich ein derartiges Geschichtsbild nicht vor
dem 18. Jahrhundert durch, dem Zeitalter, in dem auch der Kollektivsingular „Ge-
schichte“ erfunden wird.4 Erst Autoren wie Giambattista Vico oder Johann Gottfried
Herder entwickeln im 17. und 18. Jahrhundert die Idee einer säkularen Kulturtheorie
und damit verknüpft die Idee eines spezifisch historischen (nicht theologischen)
Sinns.5 Man wird den Auftritt eines intellektuellen Interesses an der Geschichte als
1 So die knappe Formel bei U. Wesel, Geschichte des Rechts, 2014, 605.
2
In Anlehnung an M. Th. Fögen, Rechtsgeschichte, RG 1 (2002), 14ff., die von dem in der Geschichts-
forschung vorherrschenden Erklärungsmuster für Veränderungen als „Paradoxie der Identität bei gleich-
zeitiger Veränderung“ spricht.
3 Vgl. dazu den umfassenden Literaturbericht von T. Duve, Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu
einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive, 2012, 18ff.
4
R. Koselleck, Vergangene Zukunft, 1979, 300ff., 321ff. (zur „Verzeitlichung“ der Zeit), 12, 130ff. (zum
Geschichtsbegriff ); ders., Geschichte, 2004, 647ff.
5 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, 44, 355f.; H.-G. Gadamer, Wahrheit und Me-
thode, 1990, 200, 207, weist darauf hin, dass sich etwa bei Schleiermacher der historische Sinn noch
über die Geschichte erhebt, im Gegensatz etwa zu Ranke, bei dem es – im Anschluss an Hegel – zu einer
149
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§ 7. Evolution
Kombination von „wahrhaft geschichtlichen Augenblicken“ und der „Freiheit des historischen Zusam-
menhangs“ kommt. Zu Herder vgl. auch Koselleck (Fn. 4 – Geschichte), 653.
6 Zur „Erinnerungskultur“ der Ägypter und zu den Anfängen der Geschichtsschreibung im frühen Juden-
tum, dem „deuteronomistischen Geschichtswerk“, vgl. nur J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis,
1992, 185, 216, 229; für die Adelsgenealogien in Athen vgl. R. Thomas, Oral Tradition and Written Re-
cord in Classical Athens, 1989, 95ff.; für die antike Geschichtsschreibung die Hinweise bei Koselleck
(Fn. 4 – Vergangene Zukunft), 135 (die Griechen haben den „Ereignissen innewohnende Ablaufzeiten“
herauspräpariert, ohne einen Begriff für Geschichte zu kennen).
7 Koselleck (Fn. 4 – Geschichte), 594.
8
Wieacker (Fn. 5), 419, („Geschichtswissenschaft konnte sie aber nicht werden, solange das römische
Recht im Dienst der Dogmatik des geltenden Rechts stand.“), 423 („Programm einer geschichtlichen
Rechtsdogmatik als positive Rechtswissenschaft“).
9 So die Einschätzung bei Wieacker, ebd., 420; und R. Ogorek, Rechtsgeschichte in der Bundesrepublik,
1994, 12ff., 17f.
150
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I. Rechtsgeschichte
Sie führte schon im 19. Jahrhundert zu einer am Begriff der Nation bzw. am „Volks-
geist“ orientierten Verengung der rechtshistorischen Forschung auf das römische
Recht.10 Andere antike Rechtskulturen spielten so gut wie überhaupt keine Rolle.
Eine das antike griechische Recht erforschende Gräzistik hat sich im deutschsprachi-
gen Raum erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablieren können (Otto Pringsheim,
Hans-Julius Wolff, Erik Wolf ), während die Gräzistik heute schwerpunktmäßig –
von wenigen Ausnahmen abgesehen (Gerhard Thür) – in den classical departments der
US-Universitäten (Michael Gagarin, David Cohen, Kevin Robb u. a.) angesiedelt ist.
Auch das Recht der vorderasiatischen Hochkulturen ist bis heute selten Gegenstand
rechtshistorischer Forschung,11 sondern wird eher in der Ägyptologie ( Jan Assmann),
Assyriologie, altorientalischen Philologie (Hans Neumann) oder Theologie gepflegt.12
Nur langsam scheinen andere Strömungen, wie etwa die Arbeiten von André Magde-
lain und Yan Thomas oder das bislang wenig beachtete Werk David Daubes, Wirkun-
gen zu entfalten. Bei Daube ist die Geschichte des römischen Rechts von Anfang an in
einen interkulturellen Vergleich eingebettet.13
Verfügte die romanistische Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts über ein relativ ein- 249
heitliches Forschungsprofil, hat sich die Disziplin im 20. Jahrhundert in divergierende
Strömungen aufgelöst. Einerseits werden bis heute Bemühungen um eine am gelten-
den Privatrecht orientierte Kanonisierung des römischen Rechts fortgesetzt (z. B. Max
Kaser/Rolf Knütel),14 andererseits entsteht schon im frühen 20. Jahrhundert eine sich
von allen dogmatischen Ansprüchen lossagende, ausschließlich am historischen Sinn
und an der historischen Wahrheit orientierte Rechtsgeschichte. Vor allem Franz Wiea-
cker hat die Rechtsgeschichte in diese Richtung gelenkt. Das mit seinem Namen ver-
bundene Programm einer rein historischen Auslegung der Quellen hat sich zunächst
als Ideengeschichte in der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1953/1967) und später,
mit eher sozialhistorischer Ausrichtung, in der Römische(n) Rechtsgeschichte (1988/
2006) niedergeschlagen.15 Darüber hinaus begann sich schon in Weimar ein Interesse
an der Semantik von Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft
zur modernen Politik zu artikulieren. Anknüpfend an Historiker wie Otto Hintze,
Otto Brunner und Fritz Hartung firmiert diese Forschungsrichtung heute unter der
Bezeichnung „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde,
Dieter Grimm, Dietmar Willoweit u. a.). Auch Michael Stolleis’ wissenschaftsge-
schichtliche Rekonstruktion der Staats- und Verwaltungsrechtslehre bewegt sich stark
in diesem Kontext.16
Diese grobe Skizze ließe sich leicht um weitere Hinweise erweitern, etwa auf die juris- 250
tische Zeitgeschichte ( Joachim Rückert, Diethelm Klippel), die neuere Methodenge-
10 Vgl. Ogorek (Fn. 9), 47 (mit Hinweis auf P. Koschaker, Europa und das römische Recht).
11
Siehe aber z. B. G. Pfeifer, Vom Wissen und Schaffen des Rechts im Alten Orient, Rechtsgeschichte 19
(2011), 263ff.; und ders., Juristische Domäne oder Hilfswissenschaft?, 2014, 409ff.
12
Vgl. dazu den Sammelband von U. Manthe (Hrsg.), Die Rechtskulturen der Antike, 2003. Ausnahme:
P. Koschaker, der um 1900 als Altorientalist angefangen hat.
13 Vgl. dazu den Nachruf auf Daube von M. Th. Fögen, David Daube, RJ 18 (1999), 195ff.
14
Auf der Grundlage von M. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1971.
15
Vgl. die Selbsteinschätzung zur Funktion der Rechtsgeschichte bei Wieacker (Fn. 5), 428f.
16 Zu Stolleis’ Projekt einer „Wissenschaftsgeschichte“ des öffentlichen Rechts vgl. nur M. Stolleis, Ge-
schichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Bd. 1, 1988, 43ff.; und ders., Öffentliches Recht in
Deutschland, 2014.
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§ 7. Evolution
schichte ( Jan Schröder) oder auf die jüngere Forschung zur Entstehung des Völker-
rechts aus dem Geist des Positivismus (Martti Koskenniemi). Wir verfolgen hier aber
nicht die Absicht einer repräsentativen oder gar umfassenden Darstellung der Ent-
wicklung der Rechtsgeschichte als akademischer Fachdisziplin. Die bisherigen Überle-
gungen dienen lediglich der Abstützung der Feststellung, dass sich die Rechtsge-
schichte heute in unterschiedliche Forschungsrichtungen pluralisiert und sich von der
Vorstellung einer einheitlichen Fragestellung und Methode verabschiedet hat. Die
Rechtsgeschichte oszilliert heute zwischen einer eher selbstgenügsamen Dogmenge-
schichte des römischen Zivilrechts (Typ: Kaser) und einer sozialhistorisch ausgerichte-
ten Rechtsgeschichte (Typ: Wieacker); in jüngerer Zeit hat die Rechtsgeschichte au-
ßerdem ihre eigene fachliche Zuordnung zur Rechtswissenschaft zugunsten einer
kulturhistorischen Öffnung gelockert.17 Damit hat sich die Rechtsgeschichte aber
wohl nur auf ein „Aussitzungskonzept“ geeinigt,18 das sicher nicht die letzte Antwort
auf die Frage nach der Zukunft des Fachs und seiner Einheit sein kann. Ein Ausweg
aus dieser Lage könnte darin liegen, die Rechtsgeschichte stärker für theoretisch abge-
sicherte Fragestellungen zu öffnen, wie sie die Entwicklungsgeschichte des Rechts
(Max Weber) und die neuere Evolutionstheorie (Niklas Luhmann) schon seit länge-
rem anbieten. So wie Rechtstheorie – entgegen Kelsen, Hart, Alexy u. a. – nicht sinn-
voll ohne Reflexion der historischen Genese ihrer Kategorien betrieben werden kann,
also nur in Verbindung mit Rechtsgeschichte, könnte umgekehrt die Rechtsgeschichte
von einer Öffnung in Richtung Rechtstheorie profitieren,19 insbesondere wenn diese
selbst stärker kultur- und medienhistorisch ausgerichtet wird.
251 Bereits im 19. Jahrhundert finden sich Versuche, Rechtsgeschichte stärker mit theore-
tisch abgesicherten Fragestellungen zu verknüpfen. Schon in der schottischen Aufklä-
rung, in der historischen Rechtsschule und im Rechtspositivismus kann man Ansätze
zu einer Entwicklungsgeschichte bzw. Evolutionstheorie des Rechts erkennen.20
Prominenz hat dieser Forschungstypus aber erst im 20. Jahrhundert und hier haupt-
sächlich durch Max Webers „Entwicklungsgeschichte“ des Rechts erlangt.21 Webers
Entwicklungsgeschichte fragt nach der Verkettung derjenigen inner- und außerjuris-
tischen Umstände, die zur Herausbildung des modernen Rechts geführt haben. Ihr
genaues Thema ist der „spezifisch geartete ‚Rationalismus‘ der okzidentalen Kul-
tur“,22 die Entfaltung der „inneren Eigengesetzlichkeiten“ unterschiedlichster Ord-
17
Dazu Duve (Fn. 3); vgl. auch ders., Rechtsgeschichte – Traditionen und Perspektiven, KritV 97 (2014),
96ff., 112ff.
18 Ogorek (Fn. 9), 99, 29.
19
Dafür plädieren z. B. D. Wyduckel, Schnittstellen von Rechtstheorie und Rechtsgeschichte, 2003,
109ff.; und Ogorek (Fn. 9), 31.
20
Vgl. nur P. Stein, Legal Evolution, 1980, 23ff. (Schottische Aufklärung); M. Amstutz, Evolutorisches
Wirtschaftsrecht, 2001, 141ff.
21 Den Begriff „Entwicklungsgeschichte“ übernimmt Weber offensichtlich von H. Rickert. Vgl. dazu
W. Schluchter, Religion und Lebensführung, 1988, Bd. 2, 269 Fn. 16; ders., Individualismus, Verant-
wortungsethik und Vielfalt, 2000, 169f.
22 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), 1986, 11. Zu dieser Ausgangsper-
spektive des Weberschen Gesamtwerks vgl. nur Schluchter (Fn. 21 – Individualismus), 153ff.;
S. Breuer, Max Webers tragische Soziologie, 2006, 288f.
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II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)
nungen,23 die nur der Okzident, der Westen hervorgebracht hat, wie etwa rationale
Herrschaft, kapitalistische Wirtschaft, autonome (Natur-)Wissenschaft und eben, so
Weber, modernes rationales Recht. Bei Webers Rechtsentwicklungsgeschichte
handelt es sich also weniger um Rechtssoziologie, wie die nachträglich angelegte
Überschrift von Marianne Weber und M. Palyi suggeriert, sondern eher um eine
„historisch-vergleichende Kultursoziologie des Rechts in universalhistorischer Per-
spektive“.24
Die universalhistorische Fragestellung führte in Webers Kultursoziologie des Rechts 252
zum Entwurf einer nicht ganz einfachen Typologie.25 Darin geht es im Kern um die
Evolution von Formalismus im Recht. Modernes (liberales) Recht nennt Weber „ratio-
nales Recht“ und definiert genauer: ein durch seinen „formalen Charakter“ bestimm-
tes Recht. Der erste Abschnitt der so genannten Rechtssoziologie – Die Differenzierung
der sachlichen Rechtsgebiete – bezeichnet Recht dann als formal (und rational), wenn
bei seinen Operationen „ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale
materiell-rechtlich und prozessual beachtet werden“.26 Der Gegenbegriff dazu ist
materiale Rationalität. Materiale Rationalität dirigiert ein Recht dann, wenn konkrete
Wertungen des Einzelfalls, „ethische Imperative oder utilitarische oder andere Zweck-
mäßigkeitsregeln oder politische Maximen“ Rechtsschöpfungs- und Rechtsfindungs-
probleme bestimmen.27 Webers Rechtsformalismus kennt wiederum zwei Ent-
wicklungsstufen. In Stufe 1 besitzen die rechtlich relevanten Merkmale sinnlich
anschaulichen Charakter (im Folgenden: empirischer Formalismus). In Stufe 2 wird
das Recht rein rational, denkend, durch „logische Sinndeutung“ erschlossen (im Fol-
genden: logischer Formalismus).28 Der empirische Formalismus setzt bereits eine
analytische „Zersetzung der plastischen Tatbestandskomplexe des Alltagslebens in lau-
ter juristisch eindeutig qualifizierte Elementarakte“,29 d. h. zumindest Ansätze einer
begrifflichen Analyse durch gedankliche Abstraktion (vom Gegebenen) voraus. Das
konstruktive, synthetische Moment ist im empirischen Formalismus aber nur schwach
oder gar nicht ausgebildet. Der empirische Formalismus haftet an äußerlichen Merk-
malen, er arbeitet mit bestimmten Spruchformeln und Ritualen und basiert beispiels-
weise darauf, „daß ein bestimmtes Wort gesprochen, eine Unterschrift gegeben, eine
bestimmte, ein für alle Mal in ihrer Bedeutung feststehende symbolische Handlung“
vollzogen wird.30 Entwicklungsgeschichtlich gesehen war mit dem empirischen For-
malismus zwar bereits ein relativ hoher Grad von Rationalität erreicht, aber wo dieser
Typus bestimmend blieb, blieb die Rechtsentwicklung in Kasuistik und Präjudizien-
23 Weber (Fn. 22), 541; S. Breuer, Bürokratie und Charisma, 1994, 40 (mit der Bemerkung, dass „Ratio-
nalisierung“ bei Weber als Ausdifferenzierung der inneren Eigengesetzlichkeiten von Ordnungen ver-
standen werden müsse, also als Ausdifferenzierung autonomer Sinnsysteme).
24 W. Gephart, Das Collagenwerk, RG 3 (2003), 111, 127; vgl. auch B. K. Quensel, Logik und Methode in
der „Rechtssoziologie“ Max Webers, Zeitschrift für Rechtssoziologie 18/2 (1997), 133, 134.
25
Für einen Überblick über die Gesamttypologie vgl. die schematischen Darstellungen bei Quensel
(Fn. 24), 133ff. 144ff., 148; ders./H. Treiber, Das „Ideal“ konstruktiver Jurisprudenz als Methode,
Rechtstheorie 33 (2002), 91ff., 112f.; W. Gephardt, Gesellschaftstheorie und Recht, 1993, 497ff.,
520ff.
26 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 397.
27
Weber, ebd., vgl. auch 396.
28
Weber, ebd., 396. Weber spricht auch von „logischer Rationalität“ (396), „rein logische(r) juristische(r)
Konstruktion“ (493) oder „abstrakter Rechtslogik“ (495).
29 Weber, ebd., 464.
30
Weber, ebd., 396.
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§ 7. Evolution
254 Der Rechtsformalismus gilt bei Weber als entwickelt, wenn „die einzelnen anerkann-
termaßen geltenden Rechtsregeln durch die Mittel der Logik zu einem in sich wider-
spruchslosen Zusammenhang von abstrakten Rechtssätzen“ zusammengefügt und „ra-
tionalisiert“ sind.37 Weber orientierte sich bei der begrifflichen Bestimmung dieser
Entwicklungsstufe ganz an der Rechtswissenschaft seiner Zeit, der „gemeinrechtlichen
Jurisprudenz“ des Rechtspositivismus, dessen Entwürfe für ihn – paradigmatisch im
Pandektenlehrbuch von Bernhard Windscheid – den „Höchstgrad methodisch-logi-
scher Rationalität“ erreicht hatten.38 Es geht dabei um Systemrationalität, und Sys-
temrationalität bedeutete nicht einfach „Zweckrationalität“ im Sinne der soziologi-
31 Weber, ebd.
32 Weber, ebd., 504.
33 Weber, ebd., 463; M. Weber, Wirtschaftsgeschichte (1923), 1991, 290ff.
34
Weber (Fn. 26), 463, ähnlich 446; ders. (Fn. 33), 290f. („streng formales Verfahren“). Zum Legisaktio-
nenverfahren vgl. nur M. Kaser/R. Knütel, Römisches Privatrecht, 2014, 428ff., und das berühmte Bei-
spiel von Gaius, Institutionen, 4 (Verwechselung der Worte Bäume (arbores) und Weinstöcke (vites))
z. B. bei M. Th. Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, 139.
35
Gaius, Institutionen, 1, 119; dazu etwa Kaser/Knütel (Fn. 34), 51f.; Wesel (Fn. 1), 186f.
36
In der romanistischen Forschung wird hier im Anschluss an die wegweisenden Untersuchungen von
R. v. Jhering (Geist des römischen Rechts), auf dem auch Webers Begriff des anschaulichen Formalis-
mus beruht, von „Spruchformen“, „Realformen“ oder „Wirkformen“ und neuerdings auch von „Perfor-
manz“ gesprochen. Vgl. nur Kaser/Knütel (Fn. 34), 49f.; F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte,
1988, 320; vgl. auch A. Magdelain, De la Royauté et du droit de Romulus à Sabinus, 1995, 17ff. (la
parole active).
37 Weber (Fn. 26), 397.
38 Weber, ebd., 397, 495 (zu Windscheid). Der Vater des logischen Geschlossenheitsideals war für Weber
freilich Jeremy Bentham.
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II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)
39 Die genaue Definition lautet: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Ne-
benfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Neben-
folgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also je-
denfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt.“, Weber
(Fn. 26), 13.
40 Weber, ebd., 396, vgl. z. B. auch 506 („die rein fachjuristische Logik, die juristische ‚Konstruktion‘ der
Tatbestände des Lebens an der Hand abstrakter ‚Rechtssätze‘...“) und 495.
41
Weber, ebd., 496.
42
Vgl. F. Moretti, The Bourgeois, 2013; vgl. auch K.-H. Ladeur, Die Textualität des Rechts, 2015i. E.,
Teil 4.
43 S. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, 1991, 207. Vgl. auch Weber (Fn. 33), 293 (mit der Be-
merkung, dass der Kapitalismus ein Recht brauche, „das sich ähnlich berechnen läßt wie eine Ma-
schine“).
44
Weber (Fn. 26), 397, vgl. auch 493; Quensel/Treiber (Fn. 25), 101, 116ff., die u. a. auf Jhering und des-
sen „Theorie der juristischen Technik“ mit ihren drei „Fundamentaloperationen“ („juristische Ana-
lyse“, „logische Construction“, „juristische Construction“) hinweisen.
45
Quensel/Treiber (Fn. 25), 91.
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§ 7. Evolution
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II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)
Rechtsexpertise, auf das römische Zivilrecht zurückführen. Nur insoweit bildet das rö-
mische Zivilrecht den Gegenstand, an dem sich das europäische Rechtsdenken ge-
schult und an dem sich das formal-rationale Recht entwickelt hat.
Diese Zentralstellung des römischen Zivilrechts führt Weber in einem weiteren Argu- 258
mentationsschritt zu der Frage, wodurch dessen Sonderstellung im Vergleich zu ande-
ren antiken Rechten bedingt ist. Das erklärt die webersche Entwicklungsgeschichte –
wie die romanistische Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts – rein endogen:
Sie attestiert dem römischen Recht einen bereits in seiner Frühphase in Erscheinung
getretenen eminent analytischen Charakter, der zusammen mit den Eigentümlichkei-
ten des römischen Prozessrechts den besonderen Formalismus des römischen Rechts
bewirkt habe. Hinter dieser These steht wiederum eine Argumentationskette, die
vom Recht zur Religion als dem vermeintlichen „Anfang“ des Rechts führt: Der For-
malismus des römischen Zivilrechts ist letztlich auf die Eigenheiten der „national-rö-
mischen Religion“ und der sakralen Rechtsfindung der römischen Priesterjuristen
(pontifices) zurückzuführen.53 Für Weber besteht die ausschlaggebende Eigentümlich-
keit der „national-römischen Religion“ in der begrifflichen und abstrakten (analyti-
schen) Scheidung der Kompetenzen der vielen Gottheiten (numina) und einer darauf
bezogenen „unausgesetzte(n) Pflege einer praktisch rationalen sakralrechtlichen Kasu-
istik, eine Art von sakraler Kautelarjurisprudenz und die Behandlung dieser Dinge ge-
wissermaßen als Advokatenprobleme“.54 Die römische Religionslehre kreist für Weber
daher schon früh um die Pflege juristischer Korrektheit und um Etikettenfragen, statt
um Sünde, Buße oder Rettung.55 „Das Sakralrecht“, verkündet Weber in der Reli-
gionssoziologie, „wurde so zur Mutter rationalen juristischen Denkens.“56
Während die Beschreibung des Bedingungszusammenhangs im Bereich der innerjuris- 259
tischen Faktoren relativ leicht fällt, ist die Rekonstruktion der außerjuristischen Ein-
flüsse, die die Durchsetzung des rationalen Formalrechts bewirkt haben sollen, weitaus
schwieriger. Weber verweist hier auf unterschiedliche Faktoren wie etwa auf das Verhält-
nis von theokratischer und profaner Gewalt, auf ökonomische Bedingungen wie z. B.
Abhängigkeit der Vertragsfreiheit bzw. subjektiver Rechte von ökonomischen Prozessen
(Markterweiterung), aber auch auf politische Machtverhältnisse. Die Evolution des For-
malrechts ist also durch eine Mehrzahl außerjuristischer Faktoren bedingt gewesen. Von
ihnen allen räumt Weber dem politischen Faktor jedoch eine Sonderstellung ein. Das
schlägt sich rechtssoziologisch hauptsächlich in einem ausgeprägten Voluntarismus nie-
der, d. h. in der Annahme einer auf den freien Willen rückführbaren Be-Gründung des
Rechts durch „Satzung“. Das Satzungsprinzip, die Setzung bzw. Positivierung des
Rechts, spielt in Webers Entwicklungsgeschichte eine außerordentliche Rolle. Für neue
Rechtsnormen und überhaupt für Variation im Sinne eines Abrückens von der Stabilität
der Tradition ist das Satzungsprinzip schon auf der ersten Stufe der Rechtsentwicklung,
auf der Stufe der charismatischen Rechtsoffenbarung, ausschlaggebend – und schon hier
ist Satzung auf das Engste mit dem Prinzip der „Oktroyierung“ verknüpft.57 Webers
53 Weber, ebd., 464, 251.
54 Weber, ebd., 251.
55
Weber, ebd., 464, vgl. auch 251.
56
Weber, ebd., 250f.
57 Weber, ebd., 441, 446. („Die Rechtsoffenbarung in diesen Formen [durch oktroyierte neue Regeln,
T. V.] ist das urwüchsige revolutionierende Element gegenüber der Stabilität der Tradition und die
Mutter aller ‚Satzung‘ von Recht.“). Ist die Oktroyierung demokratisch organisiert, wie im Athen des
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§ 7. Evolution
Entwicklungsgeschichte des Rechts kann insofern nicht von seiner Herrschafts- bzw.
Staatssoziologie getrennt werden, ja mehr noch, die vergleichende Kultursoziologie des
Rechts steht über weite Strecken in einer eher dienenden Rolle zu Webers Theorie des
(rationalen) Staates.58 Denn erst der Staat sorgt über Satzung und Kodifikation für die
Realisation des formal-rationalen Juristenrechts. Das geschieht ansatzweise schon in
den antiken Stadtstaaten Athen und Rom, sodann im kanonischen Recht, in den natur-
rechtlichen Kodifikationen des 18. Jahrhunderts und ausgeprägter schließlich in der
französischen Revolutionsverfassung, dem Code Civil und dem BGB.
260 Wie stark Weber seine rechtstheoretischen Forschungsinteressen denen der Herrschaftssoziologie unterord-
net, zeigt sich vielleicht noch deutlicher auf logisch-begrifflicher Ebene. Recht wird hier – im Unterschied
etwa zu Konvention und Sitte – durch das Moment des Rechtszwangs bestimmt.59 Das gilt auch und gerade
im Hinblick auf seine empirische Geltung (Wirksamkeit).60 Weber lehnt es zwar ab, für die Organisation
und Ausübung von gewaltsamem Rechtszwang ein staatliches Monopol als unerlässlich anzusehen; es ge-
nügt ihm eine Lage, „wo die Anwendung irgendwelcher, physischer oder psychischer, Zwangsmittel in Aus-
sicht steht, die von einem Zwangsapparat, d. h. von einer oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche
sich zu diesem Behuf für den Fall des Eintritts des betreffenden Tatbestandes bereithalten, wo also eine spe-
zifische Art der Vergesellschaftung zum Zweck des ‚Rechtszwanges‘ existiert“.61 Hier wird eine unauflösliche
Beziehung zwischen Recht und Gewalt unterstellt, und darin ist Weber ganz ein Sohn seiner Zeit: ein deut-
scher Herrschaftstheoretiker des Rechts, der den politischen und staatlichen Anteil an der Rechtsbildung
überschätzt. Diese verfehlte Staatsfixierung zeigt sich auch in Webers Einschätzung des englischen Com-
mon law. Die These von der minderen Rationalität des Common law, nach Weber Resultat seiner engen
Verbindung mit ökonomischen Interessen,62 ist schon theoretisch fragwürdig, geht es im Recht doch auch
um dessen Responsivität für gesellschaftliche Konventions- und Regelbildung. Webers These dürfte aber
auch historisch an den Realitäten vorbeigehen,63 jedenfalls mutet sie aus heutiger Sicht eher anachronistisch
an: Während in Deutschland und Kontinentaleuropa die Fixierung der Juristen auf den Staat diese auf einen
Entwicklungspfad festgelegt hat, innerhalb dessen die Lösung der Probleme eines beschleunigten gesell-
5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., entwickelt sich aus der Satzung durch charismatische Rechtsoffenba-
rung die „Auffassung des Rechts als einer rationalen Schöpfung“, ebd., 783; ähnlich Breuer (Fn. 22),
192f. (das demokratische Gesetz als die Geburtsstunde der polis).
58
Besonders deutlich: Weber (Fn. 26), 482ff., und ders. (Fn. 33), z. B. 290 („Das rationale Recht des mo-
dernen okzidentalen Staates, nach welchem das fachmännisch gebildete Beamtentum entscheidet,
stammt nach der formalen Seite, nicht nach dem Inhalt, aus dem römischen Recht.“); dazu Breuer
(Fn. 23), 5ff., 12ff.; ders. (Fn. 43), insb. 191ff.; W. Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationa-
lismus, 1998, 181ff.
59
Weber (Fn. 26), 182 („ ‚Recht‘ ist für uns eine ‚Ordnung‘ mit gewissen spezifischen Garantien für die
Chance ihrer empirischen Geltung.“); dazu Quensel (Fn. 24), 140f.
60 Weber (Fn. 26), 183 („... daß durchschnittlich eine Chance: die geltende Norm werde infolge jenes
Rechtszwanges Nachachtung finden, in praktisch relevantem Maße besteht“).
61 Weber, ebd., 185.
62
Vgl. nur Weber, ebd., 445 (Common law und laufende Abgleichung ökonomischer Interessen), 467
(römische Rechtslogik vs. Deliktsbegriff des trespass), 510f. (mindere Rationalität des Common law,
weil es bis Austin keine Jurisprudenz gab, weil es an umfassender Kodifikation mangelte und kein ratio-
nales Anwendungsparadigma herrschte), 564 (fehlender Rechtsschutz der ökonomisch Schwachen).
Zum Common law bei Weber vgl. nur Quensel (Fn. 24), 150; Breuer (Fn. 43), 204ff. Die Entgegenset-
zung von kontinentaler Jurisprudenz und Common law ist im Übrigen nicht ganz unproblematisch.
Weber weist selbst darauf hin (z. B. 151, 493), dass auch das Common law durch römische Denkfor-
men rationalisiert wurde.
63 Vgl. dazu nur J. Mokyr, The Institutional Origins of the Industrial Revolution, 2008, 64ff. (Mokyr
betont – im Kontrast zu Webers Sichtweise – die „informale“ Normativität (private-order contract-
enforcement institutions), die kulturelle Infrastruktur formaler Institutionen; eine Infrastruktur, die
den gentleman und damit Vertrauen zwischen Fremden – Marktbeziehungen, Entwicklung neuer Tech-
nologien durch Partnerschaften, Unternehmen etc. – möglich werden ließ); vgl. auch die Hinweise bei
Ladeur (Fn. 42).
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II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)
schaftlichen Wandels auf eine politische Option, nämlich Gesetzgebung, beschränkt ist, eröffnen das Com-
mon law und die an ihm geschulte Rechtstheorie einen sehr viel breiteren Optionenraum, innerhalb dessen
das Recht auf die gesteigerte Eigendynamik der modernen Gesellschaft und ihrer vielen unterschiedlichen
Praxisfelder reagieren kann (z. B. in Form einer ökonomischen Analyse des Rechts).
Auch auf methodologischer Ebene ist Webers Entwicklungsgeschichte nicht frei von Aporien. Die ganze
Problematik seines epigenetischen Erklärungsmodells,64 bei dem einzelne „Entwicklungsstufen“ oder „Ra-
tionalitätsstufen“ von der historischen Realität abgezogen, generalisiert und dann mit historischem Mate-
rial angereichert werden, ist bereits im Syntagma „Entwicklung-Geschichte“ angelegt. Auf der einen Seite
kann sich die Theorie nicht in „Geschichte“ erschöpfen, in der Aufzählung bloß individueller Ereignisse,
Dekalog, Solon, Zwölf-Tafel-Gesetz, Justinian, französische Revolutionsverfassung, Code civil, BGB etc.
Weber, der Bewunderer „großer Politik“, neigt zwar dazu, historische Veränderungen auf Machtkämpfe,
d. h. soziologisch: Selektionen auf Kontingenz zurückzuführen. Dazu passen eine Reihe von Äußerungen
des Methodologen Weber, in denen die operative Wirklichkeit der Geschichte zu einem (sinnlosen) un-
endlichen Strom „unermesslichen Geschehens“, der sich der Ewigkeit entgegenwälzt, verdünnt wird.65 An-
dererseits geht es Weber aber gerade um die Prozesse der formalen Rationalisierung des Rechts, und darin
ist die Theorie auf die Beobachtung von Steigerungsverhältnissen und historischen Tendenzen festgelegt.
Der darauf bezogene Entwicklungsbegriff ist zu Webers Zeiten jedoch mit allerlei Arten von Fortschritts-
konzepten belastet, z. B. in Form aufeinander folgender Gesellschaftsformationen (Marx), Stadien
(Comte) oder Stufen (Bücher), die Weber allesamt zutiefst verdächtig sind.66
Auf exakt diese Ausgangslage antwortet Webers Begriff der Entwicklungsgeschichte. Weber meint, sich der
Opposition Sinnlosigkeit der Geschichte vs. Entwicklung = Forschritt durch eine idealtypische Entwick-
lungskonstruktion entziehen zu können. Diese idealtypische Konstruktion reduziert Geschichte auf ein blo-
ßes Modell, auf ein rein theoretisches Konstrukt zur Beschreibung der (in ihrer operativen Realität unbe-
schreibbaren) historischen Realität. Diese idealtypische Modellbildung hat zwar den schwerlich zu
leugnenden Vorteil, die im 19. Jahrhundert übliche Fortschrittsmetaphysik hinter sich lassen zu können, da
weder eine sachliche Kongruenz von Theorie und historischer Realität noch eine lineare Abfolge der ver-
schiedenen Rationalitätsgrade im Verlauf der historischen Entwicklung unterstellt werden muss.67 Das aller-
dings konfrontiert Weber mit dem Problem des Übergangs von einer idealtypischen Entwicklungs- oder Ra-
tionalitätsstufe zur anderen, ein Problem, das innerhalb der Theoriearchitektur des „Idealtypus“ unlösbar
ist.68 Stefan Breuer hat deshalb – im Kontext der Herrschaftssoziologie – angeregt, Webers materiale Unter-
suchungen gewissermaßen gegen den neukantischen Methodologen Weber zu wenden und an der Entwick-
lungsgeschichte das zu akzentuieren, was sie mit neueren Evolutionstheorien, mit Theorien dynamischer
(vorübergehender) Stabilität, „mit der Annahme von Zyklen, Katastrophen und Sprüngen“ in der Ge-
schichte, kompatibel macht.69 Dieser Gedanke scheint auch im Kontext von Webers komparativer Kulturge-
schichte des Rechts produktiv zu sein, zumal Webers Entwicklungsgeschichte des Rechts solche Vorstellun-
gen keineswegs fremd sind.
64
Zum epigenetischen Erklärungstypus vgl. Webers eigene Reflexion in M. Weber, Gesammelte Aufsätze
zur Religionssoziologie III (1920), 1988, 2f.; weitere Hinweise bei Breuer (Fn. 22), 185; ders. (Fn. 43),
28ff. (dort zum Begriff der „Entwicklungsgeschichte“ in einem herrschaftssoziologischen Kontext);
Quensel/Treiber (Fn. 25), 106ff.
65 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922), 1985, 184 („Immer neu und anders
gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen, flüssig bleibt, damit der Um-
kreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für
uns erhält, ‚historisches Individuum‘ wird.“); vgl. auch Breuer (Fn. 43), 27.
66 Vgl. nur Schluchter (Fn. 21 – Religion, Bd. 1), 93ff. (für das Verhältnis Weber/Marx).
67
Weber (Fn. 26), 505 („Daß die hier theoretisch konstruierten Rationalitätsstufen in der historischen
Realität weder überall gerade in der Reihenfolge des Rationalitätsgrades aufeinander gefolgt, noch auch
nur überall, selbst im Okzident, alle vorhanden gewesen sind oder auch nur heute sind ... dies alles soll
hier ad hoc ignoriert werden, wo es nur auf die Feststellung der allgemeinsten Entwicklungszüge an-
kommen kann.“).
68
Breuer (Fn. 43), 28f. (mit Hinweis auf Adorno).
69
Breuer, ebd., 30, vgl. auch 100; ders. (Fn. 22); anders sieht das z. B. Schluchter (Fn. 21 – Individualis-
mus), 165f., der Webers Entwicklungsgeschichte als „evolutionstheoretisches Minimalprogramm“ cha-
rakterisiert und meint, dass Evolutionstheorien unabdingbar an eine Vorstellung von „Fortschritt“ ge-
koppelt sein müssten.
159
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§ 7. Evolution
III. Evolutionstheorie
70 Vgl. nur N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft,
1993, 239ff.; G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 61ff.; Amstutz (Fn. 20), 108ff. („Re-
tention“).
71 Vgl. nur Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 242; Teubner (Fn. 70), 74ff.; vgl. allg. auch
D. Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005, 237ff., der wie Amstutz von „Retention“
(statt von Restabilisierung) spricht.
160
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III. Evolutionstheorie
Der Akzent des dreigliedrigen Evolutionsbegriffs liegt auf der Unterscheidung von Va- 264
riation und Selektion, auf der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit plötzli-
cher Ordnungseinbrüche. Das alte teleologische Entwicklungsmodell wird hier durch
ein zirkuläres Modell abgelöst, das davon ausgeht, dass sich Ordnungen nur über eine
geraume Zeit stabilisieren können und Phasen der Stabilität durch Phasen der Instabi-
lität abgelöst werden. Gegenüber der herkömmlichen Vorstellung von Geschichte im
Sinne allmählicher Veränderung folgt aus dieser Begriffsanlage zunächst einmal,
Rechtsgeschichte nicht als Einheit, sondern als Differenz zu konstruieren. Die Evolu-
tionstheorie geht nicht von der Einheit und Kontinuität eines geschichtlichen Überlie-
ferungszusammenhangs aus, sondern von der Pluralität und Diskontinuität histori-
scher Überlieferungszusammenhänge. Entscheidend ist dann nicht mehr die Frage
nach dem inneren Zusammenhang etwa des römischen Zivilrechts vom Zwölf-Tafel-
Gesetz über die römische Spätzeit bis in die jüngste Vergangenheit, sondern die Ana-
lyse der „Bedingungen der Möglichkeit unplanmäßiger Strukturänderungen“.77
Diversifikation und Komplexitätssteigerung sind als Effekt „zirkulär produzierte(r)
Verstärkung einer Abweichung vom vorherigen Zustand“ zu begreifen („deviation
amplification“).78 Strukturänderung, Abweichung vom vorherigen Zustand, kann
durchaus das Produkt sprunghafter Umbrüche sein, Resultat von Katastrophen (von
72 Vgl. W. Hoffmann-Riem, Neuere Rechtsprechung des BVerfG zur Versammlungsfreiheit, NVwZ 2002,
257ff.
73
Noch emphatischer E. Mayr, Das ist Evolution, 2003, 26 („der größte geistige Umbruch in der
Menschheitsgeschichte“) bezogen auf das Erscheinen von Darwins „On the Origin of Species“ im Jahr
1859.
74 Dazu allg. L. E. Kay, Das Buch des Lebens, 2005 (insbesondere zum genetischen Code).
75 Vgl. nur P. J. Richerson/R. Boyd, Not by Genes Alone, 2005, 193.
76
Vgl. nur M. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 2002, 114ff.; sehr früh
schon findet man Vermutungen in diese Richtung bei dem Paläontologen A. Leroi-Gourhan (La geste
et la parole); vgl. auch die Bemerkungen bei H. Nowotny, Unersättliche Neugier, 2005, 41f.
77 Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 240.
78
Luhmann, ebd., 121 Fn. 157. Der Begriff „deviation amplification“ stammt von M. Maruyama.
161
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§ 7. Evolution
79
N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, 407 (im Zusammenhang mit der Evolution des politi-
schen Systems).
80 Vgl. etwa S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, 2004, 166; vgl. auch allg. V. Kahn, The Future of
Illusion, 2014.
81
Für den Fall Rom siehe Fögen (Fn. 34), 61ff., 78 („Anders als in Form der Erzählung kann der big bang
des Rechts gar nicht dargestellt werden. Und eben dafür, für den Urknall des Rechts, dienten den Rö-
mern die Zwölf Tafeln.“). Für Griechenland K. Robb, Literacy and Paideia in Ancient Greece, 1994,
125ff. (drakonische und solonische Gesetzgebung als Mythos althergebrachter Regeln); dazu allg.
N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 441.
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III. Evolutionstheorie
82
Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 240.
83
Wieacker (Fn. 5), 43f.
84 Fögen (Fn. 2), 14ff.; dies. (Fn. 34), 15ff.
85 Zu dieser Alternative kritisch etwa S. Lepsius, „Rechtsgeschichte und allgemeine Geschichtswissen-
schaft“, ZNR 27 (2005), 304ff.; vgl. auch Ogorek (Fn. 9), 31; und Wyduckel (Fn. 19), 109ff.
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§ 7. Evolution
86
Vgl. nur A. P. Dáhlen, Islamic Law, Epistemology and Modernity, 2003, 39ff., 46 („law always is con-
nected to commandment and embodies the will of God“), und die weitgehend noch immer gültigen
Bemerkungen bei Weber (Fn. 26), 474f.
87 Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 71.
88
Fögen (Fn. 34), 209, vgl. auch 196, 212; ähnlich sieht es A. Schiavone, The Invention of Law in the
West, 2012.
89
H. J. Berman, Recht und Revolution (1983), 1991, 81, 808; Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesell-
schaft), 62; vgl. auch ders. (Fn. 79), 388 Fn. 346.
90 Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 446ff.
91
Luhmann, ebd., 122, 281f.
92
Teubner (Fn. 70), 73, 78ff.; Amstutz (Fn. 20), 73ff.; ders., Rechtsgeschichte als Evolutionstheorie, RG 1
(2002), 26ff., 27 (mit der zutreffenden Bemerkung, dass Recht als ausdifferenziertes Funktionssystem
der Gesellschaft eine entsprechende Gesellschaftsformation, d. h. soziale Differenzierung, voraussetze,
die in antiken und vormodernen Kulturen nicht vorhanden war).
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III. Evolutionstheorie
93 Vgl. N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, 132ff., und die Diskussion bei Teubner (Fn. 70), 70 („Das
Recht wird an verschiedene Entwicklungsstadien gesellschaftlicher Differenzierung angepasst.“).
94
Zur Dominanz des mos maiorum vgl. nur K.-J. Hölkeskamp, Rekonstruktion einer Republik, 2004,
24f., 33f.; Wieacker (Fn. 36), 353; vgl. auch J. Kirov, Die soziale Logik des Rechts, 2005, insb. 59ff.
95 Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 45 („Autopoiesis wird mithin als ‚Invariante‘ eingeführt.
Sie ist bei allen Arten von Leben, bei allen Arten von Kommunikationen stets dieselbe.“).
96
Fögen (Fn. 2), 14ff., 15.
165
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§ 7. Evolution
272 Der Vorschlag eines historisch invarianten Systembegriffs hat zwar den Vorteil, die Re-
ferenz der Evolution, die beschrieben werden soll, exakt angeben zu können. Der Vor-
schlag bezahlt dafür jedoch den hohen Preis, am Ende nicht mehr zwischen sozialem
System und Funktionssystem unterscheiden zu können. Die Ausdifferenzierung einer
spezifisch juristischen Expertise aus dem Universum gesamtgesellschaftlicher Kommu-
nikation ermöglicht es sicherlich, im Fall des römischen Zivilrechts von einem autono-
men System zu sprechen, das auch institutionelle Konsequenzen wie Bedingungen
hatte. In diesem Sinn könnte man das römische Zivilrecht als erstes autonomes
Rechtssystem bezeichnen. Damit wird aus dem römischen Zivilrecht aber noch kein
gesellschaftlich ausdifferenziertes Funktionssystem. Dazu fehlte in Rom eben die dafür
notwendige funktional differenzierte Umwelt.97 Es müsste also in Zukunft zumindest
deutlich zwischen der Autonomie von Funktionssystemen und der Autonomie sozialer
Systeme unterschieden werden. Außerdem müsste geklärt und entschieden werden,
ob von Autopoiesis bei jedem operativ geschlossenen Kommunikationszusammen-
hang oder erst im Fall eines autonomen (modernen) Funktionssystems die Rede sein
soll. Entscheidet man sich für die zuletzt genannte Alternative, könnten in der römi-
schen Rechtskultur allenfalls Anlagen von Rechtsautonomie gesehen werden, nicht
aber schon autopoietische Autonomie selbst. Diese Vorstellung ist freilich mit Luh-
manns Autopoiesis-Konzept unvereinbar. Evolution setzt Autopoiesis voraus, kann
aber nicht selbst Gegenstand von Evolution sein. Evolution ist immer Evolution auto-
poietischer Systeme. So gesehen ist Autopoiesis der transzendentale Rest der System-
theorie.
273 Das Problem des Verhältnisses von begrifflich-konstruktiven und historisch geneti-
schen Komponenten der Rechtstheorie kann hier nicht abschließend behandelt wer-
den. Es soll aber erneut dafür plädiert werden, den Systembegriff nicht wie eine uni-
versalhistorische oder transzendentale Form zu handhaben. Ein solcher Ansatz würde
letztlich die Geschichtlichkeit des neueren systemtheoretischen Denkens selbst ver-
leugnen. Geschichte wäre dann nichts weiter als das Medium der Entfaltung einer
theoretisch gewonnenen Form. Dagegen wäre eine Position in Anschlag zu bringen,
die den Einsatz ihres Denkens und die Evolution von Formen selbst reflektiert: Das
dynamisch und rekursiv operierende System ist nur innerhalb bestimmter historischer
Gegebenheiten denkbar und kann nur hier seine volle Gültigkeit entfalten. Recht tritt
nicht sofort in Form eines autopoietischen Systems in Erscheinung; zumindest ist die
funktionale Autonomie des Rechtssystems ein relativ spätes Produkt der Rechtsevolu-
tion, das unauflöslich mit der Evolution der modernen (liberalen) – in Luhmanns Be-
grifflichkeit: funktional differenzierten – Gesellschaft verknüpft ist. Und weil funktio-
nale Differenzierung selbst eine Erscheinungsform von Gesellschaftlichkeit in der
Geschichte ist, kann ihre Kontinuität für die Zukunft keineswegs als gesichert unter-
stellt werden. Es sind durchaus neue Formen gesellschaftlicher Interdependenzen
denkbar, auch neuartige Mechanismen der Überlappung zwischen Systemen, eine Lo-
gik der Vernetzung und daraus hervorgehende Hybridbildungen und „Zwischenwel-
ten“ in einer neuartigen Computerkultur, die sich möglicherweise im differenztheore-
tischen Strang der Luhmannschen Systemtheorie nicht adäquat abbilden lassen.
Überhaupt bezieht sich die gesamte Anlage der systemtheoretischen Evolutionstheorie
möglicherweise zu sehr auf die Evolution des expliziten Rechts, während die Evolution
97 Das sieht Fögen (Fn. 34), 212 („Das römische Recht ... war selbst als System eine einsame, hochgezüch-
tete Pflanze inmitten einer systemisch schwach kultivierten Umwelt.“) nicht anders.
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IV. Medien als pre-adaptive advances
der instituierten Praktiken, der sozialen Konventionen, der Bräuche, Sitten und Ge-
wohnheiten, das private ordering, vernachlässigt werden.
98
Teubner (Fn. 70), 68, 78ff. („Ko-Evolution“); Luhmann (Fn. 79), 562 („Co-evolution“); Fögen (Fn. 2),
18 („Co-evolution“).
99 Fögen, ebd., 18f.; Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 243; vgl. allg. auch ders. (Fn. 79), 512f.
100
Vgl. allg. Luhmann (Fn. 79), 505ff., 506 (evolutionäre Errungenschaften = konsolidierte Gewinne, die
besser als andere mit komplexen Verhältnissen kompatibel sind); Fögen (Fn. 2), 18.
101 Luhmann (Fn. 79), 509 (mit der Bemerkung, dass es zielorientiertes Suchen nach Problemlösungen
gibt, dass aber gerade weitreichende evolutionäre Errungenschaften zumeist nicht auf diese Weise zu-
stande kommen).
167
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§ 7. Evolution
dass auf Sexualität basierende Liebe erfunden wurde, um die bürgerliche Ehe hervor-
zubringen, kann die Evolutionstheorie doch argumentieren, dass erst die bürgerliche
Ehe die evolutionäre Bedeutung leidenschaftlicher Liebe augenfällig gemacht hat.102
276 Der Ausdruck „pre-adaptive advances“ geht unmittelbar auf den amerikanischen Soziologen Talcott Par-
sons zurück. Ein vergleichbares Konzept von Entwicklungsbedingungen lässt sich allerdings schon in We-
bers komparativer Kulturgeschichte des Rechts nachweisen. So sieht Weber beispielsweise in der dialekti-
schen Methode der platonischen Philosophie eine Entwicklungsvoraussetzung dafür, dass sich die
eigentümliche Sonderform der Rechtslehre der Priesterschulen einer rational systematischen Jurisprudenz
annähern, aber letztlich nicht zu einer solchen fortbilden kann: der Fall etwa des jüdischen heiligen Rechts,
der rabbinischen Kommentarliteratur zur Tora (den fünf Büchern Moses), wie sie zunächst in der Mischna
und später in der Gemara kompiliert worden waren.103 Auch die Fortschrittstheorien des 19. Jahrhunderts
kannten pre-adaptive advances. Vor allem Hegel interessierte sich für time lags in der Weltgeschichte, in der
Rechtsphilosophie von 1821 etwa im Kontext der Beziehung von Freiheit und Eigentum. Die Freiheit des
Menschen war für Hegel eine Errungenschaft des Christentums, aber erst in der (abstrakten) Freiheit des
bürgerlichen Eigentums kam diese Errungenschaft zu ihrem Dasein. „Es ist wohl an die anderthalbtausend
Jahre, dass die Freiheit der Person durch das Christentum zu erblühen angefangen hat [...] Die Freiheit des
Eigentums aber ist seit gestern, kann man sagen, hier und da als Prinzip anerkannt worden. – Ein Beispiel
aus der Weltgeschichte über die Länge der Zeit, die der Geist braucht, in seinem Selbstbewußtsein fortzu-
schreiten ...“.104
277 All diese Konzepte – Co-Evolution, pre-adaptive advances und evolutionäre Errungen-
schaften – sind für eine Verknüpfung von Evolutionstheorie und Medientheorie von
großer Bedeutung. Sie ermöglichen, der Bedeutung der Kultur und der Medien für
die Rechtsevolution eine genauere begriffliche Fassung zu geben. Das gilt insbesondere
für das Konzept der pre-adaptive advances. Dieses Konzept lässt sich gleichermaßen
produktiv für moderne und vormoderne Bedingungen nutzen, im Unterschied zum
Konzept der Co-Evolution, das mir stärker auf die gesellschaftlichen Bedingungen
der funktionalen Differenzierung zugeschnitten zu sein scheint,105 dessen Übertra-
gung auf prämoderne Bedingungen jedenfalls eine Reihe begrifflicher Unklarheiten
aufwirft, die mit dem Problem der autopoietischen Autonomie zusammenhängen
(vgl. oben Rn. 268ff.). Die Ausgangsannahme eines solchen Forschungsansatzes hieße
dann: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Emergenz von (Verbreitungs-)Me-
dien wie Lautsprache, Schrift, Buchdruck und elektronischen Medien einerseits und
der Geschichte und Evolution des Rechts andererseits.106 Auch im Verhältnis von Me-
dienevolution und Rechtsevolution ginge es um den Nachweis eines Bedingungszu-
sammenhangs im Sinne von Möglichkeiten oder Possibilitäten, nicht aber um die Un-
terstellung eines notwendigen oder gar hinreichenden Bedingungszusammenhangs,
um Medien als „letzte Ursache“ der Rechtsgeschichte. Aber warum sollte die Evolution
des Rechts von einem Medium wie Schrift – in dem hier explizierten Sinn – „abhän-
gig“ sein?
102
Zu dieser Entwicklung näher N. Luhmann, Liebe als Passion, 1982, 139ff.
103
Weber (Fn. 26), 459, 478f. Beide Kompilationen, zwischen 200 und 600 n. Chr. entstanden, bilden
die Grundlage für den Talmud, der bis heute zentralen Schrift des Judentums.
104 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1970, § 62; J. Ritter, Metaphysik und
Politik, 1969, 266 Fn. 9, 267.
105
So zumindest explizit bei Teubner (Fn. 70), 68 („Ko-Evolution“ wird dort als „Herausbildung autono-
mer Evolutionsmechanismen in geschlossenen Systemen und deren wechselseitige strukturelle Kopp-
lung“ definiert).
106 Verbreitungsmedien im Unterschied zu Erfolgsmedien wie Macht, Geld, Wahrheit etc. Zu dieser Un-
terscheidung Luhmann (Fn. 79), 202ff.; vgl. auch Baecker (Fn. 71), 175ff.
168
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IV. Medien als pre-adaptive advances
Bezieht man die Frage zunächst auf Formen des expliziten positiven Rechts, kann man 278
plausibel behaupten, dass rechtliches Wissen, juristische Expertise, nur mit Hilfe von
Medien ausdifferenziert werden kann. Nur durch Schrift, Buchdruck oder andere Me-
dien kann spezialisiertes Rechtswissen, wie etwa zivilrechtliches, mit Referenz auf
Recht erarbeitet, erinnert und mitgeteilt werden. Medien haben deshalb für die
Rechtsordnung eine Doppelfunktion: Sie fungieren gleichzeitig als Mittel und Spei-
cher von Rechtskommunikation.107 Ein Medium wie Schrift kann zur Rechtskommu-
nikation eingesetzt werden, man denke nur an gesetzliche Schriftformerfordernisse wie
etwa beim öffentlich-rechtlichen Vertrag (§ 57 VwVfG). Schrift kann aber auch, etwa
in Kommentaren, zur Archivierung juristischer Wissensbestände genutzt werden.108
Dies legt die Vermutung nahe, dass Medien das Gedächtnis des Rechts strukturieren
und damit sowohl die Bedingungen der wiederholten Verwendbarkeit rechtlichen
Wissens konditionieren als auch den Grad der Neigung, von Traditionen und Gepflo-
genheiten abzuweichen und damit Innovation zu ermöglichen.109 Das gilt insbeson-
dere auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, und zwar sowohl für die
Rechtspraxis als auch für die Rechtstheorie. Für die Rechtspraxis sei hier nur auf die
Entwicklung des gerichtlichen Urteils in Europa seit dem 18. und 19. Jahrhundert
hingewiesen: Die schriftliche Urteilsbegründung führte zu einer Verfeinerung der ju-
ristischen Argumentation, die ihrerseits – jedenfalls bis vor kurzem – von der Möglich-
keit des Abspeicherns entscheidungsrelevanter Gedankengänge in Druckstücken (Ent-
scheidungssammlungen) abhängig war. Eine enge Verbindung von Rechtsevolution
und Medienevolution lässt sich auch für die meisten Typen juristischer Expertise
nachweisen. Anspruchsvolle Selbstbeschreibungen der Rechtspraxis, Unternehmen
wie Rechtsdogmatik und Rechtstheorie können – wie das Wort Selbstbeschreibung ja
bereits sagt – sich nur auf der Grundlage von Schriftgebrauch und Buchdruck entwi-
ckeln; denn was nicht gedruckt werden kann, hatte jedenfalls vor der Erfindung und
Ingebrauchnahme von Computern und Computernetzwerken keine Chance, „auf die
Selbstbeschreibung des Systems einzuwirken“.110 Rechtswissenschaft und Rechtstheo-
rie basieren auf geschriebenen Texten, auf der Absonderung einer Schriftsprache über
Recht; und ohne die Anlage eines reichen schriftbasierten Vorrats an Wissen und The-
men wäre das europäische Recht niemals in der Lage gewesen, seine interne Komple-
xität so außerordentlich zu steigern, wie es dies seit dem 16. Jahrhundert (Humanis-
mus) getan hat. Die europäische Rechtswissenschaft hätte sich ohne Buchdruck und
Bibliotheken vielleicht gar nicht, jedenfalls aber anders entwickelt.
107
Mit A. Hahn, Ist Kultur ein Medium?, 2004, 49, muss man die Reihenfolge möglicherweise sogar um-
drehen und gegen den (leicht a-historischen) Begriff des „Kommunikationsmediums“ darauf hinwei-
sen, dass Schrift zunächst als Speichermedium genutzt wurde, bevor sie zum Medium der kommuni-
kativen Wiederverwendung aufstieg. Vgl. auch Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 247
(„Lange bevor Schrift zur Kommunikation benutzt wird, dient sie zur Aufzeichnung von erinnerungs-
werten Informationen ...“); vgl. auch J. Kersten, Digitale Rechtsdogmatik, 2015, 481ff.
108 Medien können natürlich auch zu beidem gleichzeitig gebraucht werden, zur Kommunikation und
zur Wissensspeicherung, wie etwa das eigenhändig geschriebene und unterschriebene Testament zeigt
(§ 2247 BGB).
109
Fögen (Fn. 2), 18 („Der Radius möglicher Selektionen ist vermutlich durch das ‚Gedächtnis‘ des Sys-
tems gesteckt, welches ständig zwischen Vergessen und Erinnern unterscheidet und damit mögliche
Anschlüsse limitiert.“).
110
Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 500f.
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§ 7. Evolution
279 Mit „Gedächtnis“ ist hier nicht die Gedächtniskunst (gr. mnemosyne, lat. ars memoriae) bestimmter Perso-
nen oder Autoren gemeint. Der hier benutzte Gedächtnisbegriff bezieht sich auf Informationen und Wis-
sen, das sich in kommunikativen Beziehungsnetzwerken ablagert und vom Gedächtnis der Individuen
deutlich unterschieden werden muss. Darin schließen wir an Konzepte wie Erinnerungskultur bzw. an
den Begriff des kommunikativen bzw. sozialen Gedächtnisses an, wie sie die neuere Forschung entwickelt
hat. Unter „Erinnerungskultur“ versteht Jan Assmann das Wissen, das eine Gesellschaft nicht vergessen
darf, ohne ihre Identität zu verlieren.111 „Kulturelles Gedächtnis“ ist nach Assmann die institutionalisierte,
kommemorierte Erinnerung an symbolische Figuren des Anfangs einer Gemeinschaft, im Unterschied zur
gelebten, kommunizierten Erinnerung etwa an Eltern und Großeltern; letztere nennt Jan Assmann „kom-
munikatives Gedächtnis“.112
Im Unterschied zu Jan und Aleida Assmann, die sich als Kulturwissenschaftler in erster Linie für die unbe-
wohnten Archivbestände, die Bereiche des Abgelegenen, Ausgelagerten und Vergessenen, für die „Gräber
des Sinns“ interessieren,113 betont Niklas Luhmann möglicherweise stärker die Jetztzeitlichkeit aller sozia-
len Gedächtnisoperationen, d. h. die Konstruktion der Vergangenheit auf dem Boden der jeweiligen Ge-
genwart.114 Damit wird die für die moderne Gesellschaft wichtige Funktion des Neuen (neue Ideen, neue
Technologien, neue Werke in Kunst, Film und Musik etc.), also die Organisation des Vergessens, in der
Systemtheorie vielleicht stärker als in der Kulturtheorie von Jan und Aleida Assmann akzentuiert; das „so-
ziale Gedächtnis“ Luhmanns wird jedenfalls über die Doppelfunktion von Erinnern und Vergessen be-
stimmt.115 Trotz dieser Unterschiede sind sich Systemtheorie und Kulturtheorie aber darin einig, dass der
Gedächtnisbegriff die kommunikativen Eigenleistungen von sozialen Beziehungs- und Kommunikations-
netzwerken einfangen soll; und diese Form darf weder individualpsychologisch auf Erinnerungskunst noch
auf gleiche Bewusstseinszustände von Individuen („kollektives Gedächtnis“) reduziert werden.116 In die-
sem Sinn besitzt auch das Rechtssystem ein Gedächtnis, die Fähigkeit, durch Schrift, Buchdruck oder
Computertechnologie spezifisch juristische Wissensbestände erinnern und vergessen zu können.
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IV. Medien als pre-adaptive advances
117 Mit Hahn (Fn. 107), 51, ließe sich auch formulieren: „Medien sind das Material, aus dem sich Interpe-
netrationen formen.“ Eine ähnliche Umakzentuierung findet sich auch bei K.-H. Ladeur, Computer-
kultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, ARSP 74 (1988), 230f. (mit
der Bemerkung, dass die Grenze zwischen innen und außen, Selbst und Anderem, nicht so strikt gezo-
gen werden könne, weil die Sprache das Medium der intersystemaren ‚strukturellen‘ Kopplungen sei).
118 Vgl. nur Fögen (Fn. 34), 196ff., 198.
119
C. Vismann, Akten, 2000; vgl. auch R. M. Kiesow, Das Alphabet des Rechts, 2004.
120
I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009; R. K. Sherwin, When Law Goes Pop, 2000; K. F. Röhl,
Das Recht nach der visuellen Zeitenwende, JZ 58 (2003), 339ff.; R. Christensen/K. D. Lerch, Perfor-
manz – Die Kunst, Recht geschehen zu lassen, 2005, 55ff.; M. E. Katsh, Law in a Digital World, 1995;
V. Boehme-Neßler, Hypertext und Recht, ZfR 26 (2005), 161ff.; R. Collins/D. Skover, Paratexts, Stan-
ford Law Review 44 (1992), 509ff.; F. Steinhauer, Bildregeln, 2009.
121
Zum Begriff der „medialen Spur“ S. Krämer, Das Medium als Spur und als Apparat, 1998, 73ff.
122 Weber (Fn. 26), 459f.
123 R. v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. II/2,
1875, 334ff.
171
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§ 7. Evolution
Rechtsgeschäfte. Diese Reflexionen Jherings lesen sich heute wie eine Vorwegnahme auf die auf Perfor-
manz abstellenden Sprechakttheorien.124
124 Jhering, ebd., 420ff. (zum oralen Formalismus des altrömischen Rechts), vgl. auch 562 („Der Stoff, aus
dem das ältere Recht die formellen Geschäfte gebildet hat, sind Handlungen, Zeichen und Worte.
Unter ihnen nehmen letztere die erste Stelle ein.“).
125 W. J. Ong, Orality and Literacy (1982), 2002, 11.
126 J. Goody/I. Watt, Konsequenzen der Literalität, 1981, 45ff., 47. Diese, laufende Wiederholung ein-
schließende, Verbindung nennt J. Assmann (Fn. 6, 16f.) die „konnektive Struktur“ des gemeinsamen
Wissens.
127
Vgl. dazu M. Parry, The Making of Homeric Verse, 1987, 266ff., 325ff.; Ong (Fn. 125), 20ff.
128 J. Assmann (Fn. 6), 87ff., 97ff.
129 Vgl. den Überblick zur Frühgeschichte des Rechts bei Wesel (Fn. 1), 15, 19ff.; weitere Nachweise zum
Forschungsstand bei Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 259 Fn. 49. Die ethnologische und
anthropologische Forschung wirft u. a. methodologische Probleme auf: Da es nur wenige archäologi-
sche Daten über primitive Gesellschaften gibt, ist die Forschung hier letztlich auf ethnologisches Ma-
terial angewiesen und damit auf die Unwägbarkeiten einer unterstellten Vergleichbarkeit von Feldfor-
schungen in Gesellschaften, die sich auf kolonialisierten Territorien befanden oder auf andere Weise
durch Hochkulturen beeinflusst worden waren, und Gesellschaften der Frühgeschichte.
130
Segmentäre, auf Verwandtschaftsgruppen aufbauende Gesellschaften institutionalisierten Streit-
schlichtung etwa im Fall von Brautpreisschulden; teilweise lassen sich in archaischen Gesellschaften
(Protostaaten) sogar öffentliche Todes- und Verstümmelungsstrafen nachweisen, siehe Wesel (Fn. 1),
26f. (Der Inzest des Kelemoke), 40f. (Der Streit um die Brautpreisschulden der Roikine).
172
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IV. Medien als pre-adaptive advances
131
Goody/Watt (Fn. 126), 48 (beide Autoren sprechen auch von einem „homöostatischen Charakter“ ora-
ler Kultur); vgl. auch Ong (Fn. 125), 46f.; aus linguistischer Sicht mit vergleichbaren Ergebnissen
Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 29 („Orale Kommunikation ist konstitutiv daran gebunden,
dass Sprecher und Hörer sich in ihr zugleich mit dem Gesagten über die Geltungsbedingungen dieses
Handelns verständigen.“).
132
Fögen (Fn. 34), 84; ähnlich J. Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft,
1990, 229 („Dieser Prozess [der der Regeländerung, T. V.] ist unmerklich, weil Normen nur in münd-
licher Form existieren, so daß Regeln, die nicht mehr anwendbar sind, häufig dem Gedächtnis entglei-
ten.“).
133
Vgl. M. Gagarin, Writing Greek Law, 2008, 13ff.; Robb (Fn. 81), 74ff.; dazu bereits Weber (Fn. 26),
452, 767.
134 Vgl. Robb (Fn. 81), 78ff. („The Exemplum of Epic“); ähnlich R. Thomas, Writing, Law, and Written
Law, 2005, 41ff., 57; anders Gagarin (Fn. 133), 36 („Thus, before writing we can speak of oral law –
viz.judicial procedure without writing – but not oral laws.“).
135
Dazu vorzüglich J. Assmann, Herrschaft und Heil, 2002, 178ff.; zur Evolution der Alphabetschrift in
den vorderasiatischen Hochkulturen vgl. nur H. Haarmann, Universalgeschichte der Schrift, 1990,
267ff.
136
Vgl. dazu nur E. Otto, Recht im antiken Israel, 2003, 151, 160f.
173
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§ 7. Evolution
sopotamien noch vor dem Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. im Zusammenhang mit di-
vinatorischen Praktiken nachweisen.137 Auf diese, von einer Schreiberzunft getragene
Technik sattelte womöglich ein umfangreiches Verkehrsrecht auf, das unterschied-
lichste Schriftverträge wie Darlehen, Kauf, Pacht, Miete etc. kannte.138 In den griechi-
schen Städten (poleis) wurde die Buchstabenschrift schließlich in engem Zusammen-
hang mit dem Experiment der Demokratie folgenreich.139 Städte wie Dreros und
Gortyn nutzten seit 650 v. Chr. die Schriftkunst, um gemeinsame Konventions- und
Regelbestände in Mauern zu ritzen und den für Streitschlichtungen zuständigen Ma-
gistraten an eine für alle erkennbare gleiche Handlungsgrundlage zu binden.140
285 Auch wenn gesellschaftliche Regelbestände und Konventionen historisch gesehen zu-
nächst nur dann verschriftlicht wurden, wenn diese innerhalb der oralen Kultur unklar
oder strittig waren, die Verschriftlichung also Klarheit über den geltenden Regelbestand
schaffen sollte,141 kommt es evolutionstheoretisch gesehen doch darauf an, die eigen-
tümliche Paradoxie der Wirkung gegenüber dem Wollen in den Blick zu nehmen: Re-
sultat der Nutzung der Buchstabenschrift für rechtliche Zwecke ist gerade nicht die Eli-
minierung jeden Streits um Worte, sondern eine neue Differenz, nämlich die Differenz
zwischen dem geschriebenen Wort und seiner (authentischen) Interpretation, die spä-
ter – unter christlich-paulinischem Einfluss – so genannte Unterscheidung zwischen
dem „buchstäblichen Sinn“ und dem „Geist des Gesetzes“.142 Während mündliche
Kommunikation auf dem Gesetz der direkten semantischen Ratifizierung basiert, da-
rauf, dass sich Sprecher und Hörer gleichzeitig über das Gesagte und die Geltungsbe-
dingungen dieses Handelns verständigen, macht Schrift Abweichungen von der Tradi-
tion erkennbar – und damit denkbar.143 Die Transformation der flüchtigen Lautsprache
in das (vermeintlich) stabile Medium der Alphabetschrift mündet daher keineswegs in
eine Welt eindeutiger Worte und trennscharfer Zeichen, wie sie etwa die formalen Spra-
chen der Mathematik und Geometrie ausbilden. Schriftförmige Satz- und Textbildung
steigern vielmehr die semantische Dichte der Rechtssprache und potenzieren damit ihre
Unbestimmtheit. Erst durch die Einführung der Schrift entstehen „Zweifelsfälle und
unentschiedene Fälle der Frage ..., ob ein X zu Recht als Y zu kategorisieren ist“.144
137 J. Bottéro, Mesopotamia, 1992, 125ff („deductive divination“), 127f. (zur Bildung von Wenn/Dann-
Formen), vgl. auch 136 („divination became thus an a-priori knowledge ... That knowledge was de-
ductive, systematic, capable of foreseeing, and had a necessary, universal and, in its own way, abstract
object, and even its own ‚manual‘.“).
138 Vgl. dazu nur den Überblick bei H. Neumann, Recht im antiken Mesopotamien, 2003, 55f., 121f.;
vgl. aber auch Bottéro (Fn. 137), 181 („Mesopotamian law was essentially an unwritten law.“).
139
Robb (Fn. 81), 85ff., 99ff., 103; K.-J. Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im
archaischen Griechenland, 1999, 60ff., 262ff.; Thomas (Fn. 134), 41ff., 48.
140 Die Griechen nannten diese Regeln oft nach dem Medium, in dem sie realisiert wurden, z. B. to gra-
phos (das Geschriebene) oder einfach grammata (die Buchstaben). Dagegen handelt es sich beim Co-
dex Hammurabi (um 1750 v. Chr.) nicht um einen „Codex“, sondern um eine Kommemorativ-In-
schrift, um ein Dokument der Selbstpreisung des Königs und seiner „Gerechtigkeit“. Vgl. dazu
Bottéro (Fn. 137), 156ff.; J. Renger, Noch einmal: Was war der ‚Kodex‘ Hammurabi – ein erlassenes
Gesetz oder ein Rechtsbuch?, 1994, 27ff., 51.
141 So für den Fall Griechenland vielfach bezeugt. Vgl. nur Thomas (Fn. 134), 41ff., 42 (Euripides), 43,
46 (Solon), 52.
142
Vgl. dazu Goody (Fn. 132), 268ff.
143 Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 249, vgl. auch 340f.
144 So, in einem allgemeineren Zusammenhang, Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 28. Wie Stet-
ter anmerkt, fordert Frege für die (formale) Logik die scharfe Begrenztheit des Begriffs, aber er fordert
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IV. Medien als pre-adaptive advances
Vor diesem Hintergrund ermöglicht die Buchstabenschrift zwei verschiedene Ent- 286
wicklungspfade. Der erste Entwicklungspfad ermöglicht den Übergang von „ritueller
zu textueller Kohärenz“.145 Solange die Schrift nur supplementären Charakter hat,
bleiben die Abweichungsmöglichkeiten von der oral gesicherten Tradition gering. Der
Status der Schrift bleibt prekär, sie dient vor allem zur Kanonisierung des Wissens,
dessen Anwendung wiederum auf Interaktionskontexte angewiesen bleibt. Im Bereich
der Rechtspraxis zeigt sich das u. a. darin, dass das geschriebene Recht von der wörtli-
chen Auslegung beherrscht wird, d. h. Innovationen auf der Grundlage von Texten als
undenkbar angesehen werden. Das ist etwa im griechischen Stadtrecht und im frühen
römischen (Sakral-)Recht der Fall. Der Gortyn-Code kannte eine strikte Bindung des
Magistraten an den Wortlaut, und auch im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. ist eine
Formel nachweisbar, wonach der Magistrat kein ungeschriebenes Recht anwenden
darf. Wie das altjüdische Recht (Deut. 5.1), ist auch das frühe römische Recht an
buchstabengenauer Auslegung orientiert.146 Erst in späteren, schon unter dem Ein-
fluss griechischen dialektischen Denkens stehenden Traditionen des Judentums
kommt es zu der Erkenntnis, dass die (schriftlichen) Gesetze immer der ergänzenden
mündlichen Interpretation bedürfen, kommt es zu einer produktiven Auslegungstech-
nik, die wiederum Ähnlichkeiten mit der Interpretationslehre der römischen Jurispru-
denz seit der (späten) Republik aufweist.147
Die andere evolutionäre Möglichkeit, die die Buchstabenschrift eröffnet, kann man 287
mit Luhmann als Ermöglichung von „Ideenevolution“ bezeichnen.148 Die Buchsta-
benschrift stand den vorderasiatischen (nordsemitischen) Hochkulturen vermutlich
seit dem späten 2. Jahrtausend v. Ch. zur Verfügung, aber erst Platon benutzte sie zur
Produktion eines neuartigen Wissens, zur Herstellung von „Philosophie“. Aufgrund
dieser Ungleichzeitigkeit wird in der Literatur viel darüber diskutiert, ob und inwie-
weit die Emergenz der platonischen Dialektik (epistéme dialektiké) in Athen intrinsisch
mit den Besonderheiten der griechischen Alphabetschrift (im Unterschied zur phöni-
zischen Buchstabenschrift) verbunden ist oder durch diese sogar begünstigt wurde; die
schrifttheoretische Grundlage für diese Diskussion bildet Ignaz Gelbs A Study of
Writing.149 Folgt man in dieser sehr kontrovers und auf Grund ihrer politischen Impli-
kationen teilweise mit sehr viel Leidenschaft behandelten Frage Autoren wie Eric
A. Havelock, Kevin Robb, Elena Esposito, Christian Stetter u. a., gibt es gute Argu-
mente für die These, dass die Evolution philosophischen Wissens, Platons epistéme
sie eben deshalb, weil er weiß, dass es in der natürlichen Sprache anders ist. Vgl. dazu auch den Kom-
mentar von L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1945), 2003, § 71.
145
J. Assmann (Fn. 6), 87ff.
146
Vgl. nur Fögen (Fn. 34), 98; Wieacker (Fn. 36), 330 (formalistisches Haften am Wortlaut); Kaser
(Fn. 14), 213 („die interpretatio geht zu Anfang von dem Wortsinn aus, den der allgemeine Sprachge-
brauch ergibt“).
147
Fögen (Fn. 34), 138 Fn. 46, mit Hinweis auf D. Daube, Rabbinic Methods, 1949.
148
Luhmann (Fn. 70 – Die Gesellschaft der Gesellschaft), 536ff.; vgl. auch J. Assmann (Fn. 6), 96, 99,
259ff.
149 Gelbs Studie trug noch in der ersten überarbeiteten Auflage (Chicago 1963) den Untertitel „The
Foundations of Grammatology“. Der Begriff „Grammatologie“, der heute gemeinhin J. Derrida zuge-
schrieben wird, stammt also tatsächlich von I. Gelb. An Gelb schließen etwa an: E. A. Havelock, The
Muse Learns to Write, 1986, 59ff.; Robb (Fn. 81); J. Assmann (Fn. 6), 259f.; Esposito (Fn. 115),
101ff.; aus linguistischer Perspektive Stetter (Fn. 131), 273ff.; kritisch etwa H. Haarmann, Writing
technology and the abstract mind, Semiotica 122 (1998), 69ff., 86ff.; mit guten Argumenten gegen
die teleologischen Züge in Gelbs Evolutionstheorie F. Coulmas, Writing Systems, 2003, 197ff.
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§ 7. Evolution
dialektiké, eng mit der Evolution der Grammatik, der techné grammatiké, verwoben ist.
Grammatik im Sinne einer theoretischen Reflexion von Sprachformen aber gab es nur
in Griechenland; und nur das griechische Denken hat der Wahrheitsform des geschrie-
benen Satzes eine so große Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht nur zufällig und beiläu-
fig nennt Platon den Satz im Kratylos etwas Großes, Schönes und Ganzes.150
288 Die Konsequenzen dieses Entwicklungssprungs realisieren sich zum ersten Mal im anti-
ken römischen Zivilrecht. Während das theoretische Denken in Griechenland keinen
Eingang in die Rechtspraxis fand und noch das athenische Gerichtsverfahren klassi-
scher Zeit durch Rhetorik, d. h. – in Webers Worten – durch „Pathos, Tränen und Be-
schimpfungen des Gegners“, bestimmt wurde,151 nutzten die römischen Juristen der
(spät-)-republikanischen Zeit eben jene platonische Philosophie und Dialektik zur be-
grifflichen (von anschaulichen Tatbeständen unabhängigen) Erfassung des rechtlichen
Regel- und Entscheidungsmaterials;152 sie praktizierten Jurisprudenz vor allem als
Scheidekunst.153 Juristen wie Quintus Mucius Scaevola gebrauchten ferner den Kern-
bestand der platonischen Dialektik, das diairetische Erkenntnisverfahren, jenes tò katà
géne diareísthai,154 das eine Einteilung des Seienden nach Gattungen und Arten, nach
genera und species, möglich macht. Mit Hilfe dieser Methode wurde in Rom zum ersten
Mal eine sekundäre Beobachtungsebene, die der iuris prudentia, in das Rechtssystem
eingezogen, die in Form von Gutachten (responsa) und Lehrbuchliteratur – vermittelt
über den römischen Prätor155 – auf die Evolution des Rechts zurückzuwirken begann.
289 Daraus resultierte eine zirkuläre Verstärkung von prätorischer Amtsfunktion und juris-
tischer Expertise, die zu einer bis dahin gänzlich ungekannten Verfeinerung gesell-
schaftlicher Regelbestände und Konventionen im Medium einer zunehmend abstrak-
ten juristischen Satz- und Begriffsbildung (definitiones, regulae iuris) mündete. Mit der
Satz- und Begriffsbildung gingen erste Systematisierungen des zivilrechtlichen Fallma-
terials einher, Unterscheidungen wie Obligation und Strafe, Besitz und Eigentum.
Dieses Differenzierungsgeschehen machte nicht zuletzt den Konsensualvertrag mög-
lich, einen evolutionären Sprung ohnegleichen, den weder das griechische Recht noch
andere antike Rechte kannten.156 Seinen Abschluss erfuhr das dialektische Ordnungs-
denken im Institutionenlehrbuch von Gaius (2. Jahrhundert n. Chr.), in dem der
Rechtsstoff wohl zum ersten Mal nach dem Schema der Trichotomie sortiert wurde,
der Unterteilung nach Personen (lat. personae), Sachen (lat. res) und Klagen (lat. actio-
nes), ein Schema, das selbst im BGB noch Spuren hinterlassen hat. Die Erarbeitung
und Verwendung dichotomischer und trichotomischer Strukturen im antiken römi-
schen Recht bedeutete eine juristische Ordnungsleistung, an die die Justinianische Ge-
setzgebung und die mittelalterliche Jurisprudenz anschließen konnten.
150 Platon, Kratylos, 224b f.; dazu Stetter (Fn. 131), 299ff.
151
Weber (Fn. 26), 816. Zur Bedeutung der Rhetoren/Oratoren im athenischen Prozess, die in der jünge-
ren Literatur zu einem „rhetorical turn in scholarship on Athenian law“ stilisiert wird, vgl. nur
S. C. Todd, Law and Oratory at Athens, 2005, 97ff.
152 Vgl. dazu ausführlich Schiavone (Fn. 88), 185ff.
153 Vgl. F. Steinhauer, Vom Scheiden, 2015, insb. 68ff.; Schiavone (Fn. 88), 198ff. (Abstraktion als das
beherrschende Prinzip der römischen Ziviljurisprudenz).
154
Platon, Sophistes, 253d; dazu aus jüngerer Zeit Stetter (Fn. 131), 325.
155 Vgl. dazu Fögen (Fn. 34), 190ff.; zur aristokratischen Bestimmtheit des römischen Rechts Kirov
(Fn. 94), 59ff.
156
Vgl. dazu M. Th. Fögen, Zufälle, Fälle und Formeln, RG 6 (2005), 84ff., 88.
176
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IV. Medien als pre-adaptive advances
3. Buchdruck
Der nächste Bruch in der Geschichte und Evolution des westlichen Rechts, der 290
Sprung zum Rechtssystem, setzte den Buchdruck als pre-adaptive advance voraus. So-
lange Papyrus- und Pergamenthandschriften dominierten und Bücher nicht ohne wei-
teres zugänglich waren, blieben die Möglichkeiten einer systematischen Anordnung
des Rechtsstoffes begrenzt. Auch die Justinianische Gesetzessammlung des spätrömi-
schen Reichs, das Corpus iuris civilis, das bereits auf dem Pergamentkodex basierte,
entsprach mehr einer vergangenheitsorientierten Sammlung von Rechtstexten als
einem zukunftsorientierten Systementwurf im Sinne der neuzeitlichen Naturphiloso-
phie.157 Das ist auch weniger überraschend als viele Juristen glauben, zumal die Kar-
riere des Systembegriffs nicht vor 1600 begann, nach Luhmann zunächst als Buchtitel
und zur Ankündigung der Absicht, „ein Buch mit einer ordentliche(n) Stoffgliederung
zu verfassen.“158 Wie wir weiter oben bereits gesehen haben, bewirken das hoch stan-
dardisierte Kodierungsrepertoire der Druckschrift, die durchgehende diskrete Forma-
tierung des bedruckten Raums und die umfassende orthographische Regelbindung
eine digitale Aufbereitung des Sprachsystems, die wiederum erst die übersichtliche
Darstellung im Sinne Wittgensteins, den von einem „enzyklopädischen“ Einheitswil-
len getragenen Systementwurf, ermöglicht hat (Rn. 100ff.).159
Ansätze zu einer systematischen Darstellung lassen sich schon im italienischen Huma- 291
nismus nachweisen. Einen Bruch mit der rhetorischen Tradition in Richtung Einheit,
Konsistenz und Harmonie vollzog bereits die logisch-dialektische Methode von Petrus
Ramus (1515–1572), dessen Methodenideal der klaren und übersichtlichen topischen
Ordnung wiederum in enger Beziehung zu den neuen Möglichkeiten des Buchdrucks
(und umgekehrt) stand. „Clarity and logic of organization, the disposition of matter
on the printed page became ... a preoccupation of editors, almost an end in itself. It is
a phenomenon familiar to a student of encyclopaedic books in the late sixteenth cen-
tury, relating to the increased fascination with the technical possibilities of typesetting
and the great influence exerted by the methodology of Peter Ramus ... The Ramist
doctrine that every subject could be treated topically, that the best kind of exposition
was that which proceeded by analysis was enthusiastically adopted by publishers and
editors.“160 Erneuerung des vorgefundenen Stoffes, Systematisierung und Vereinfa-
chung des Wissens, das Sehen des Zusammenhangs, wurde schließlich auch zum Pro-
gramm der neuzeitlichen Naturphilosophie. Von „ersten“ Sätzen ausgehend, entfaltete
die Naturphilosophie ihre Themen vollständig deduktiv, d. h. alle Sätze innerhalb des
Systems wurden über Grund/Folge-Relationen miteinander verknüpft, und auch dies
geschah nicht zufällig im Medium des gedruckten Buchs. Schon für Galilei und Des-
cartes nahmen Universum und Welt selbst die Gestalt eines „großen Buches“ an.161
157
E. L. Eisenstein, The Printing Revolution in Early Modern Europe, 1993, 71 („The medieval teacher of
the Corpus Iuris was ‚not concerned to show how each component was related to the logic of the whole‘,
partly because very few teachers on law faculties had a chance to see the Corpus Iuris as a whole.“).
158 Luhmann (Fn. 81), 543.
159 Wittgenstein (Fn. 144), § 122 („Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches
eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge sehen‘.“).
160
Eisenstein (Fn. 157), 70f. (Zitat von N. Gilbert); zum Zusammenhang von Methode/Systemdenken
und Buchdruck bei Ramus vgl. W. J. Ong, Ramus, 1958, 304, 315.
161 Zur Abhängigkeit der modernen Naturwissenschaft vom Buchdruck vgl. nur P. Rossi, Die Geburt der
modernen Wissenschaft in Europa, 1997, 72ff.; Eisenstein (Fn. 157), 187ff.
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§ 7. Evolution
Wir haben schon darauf hingewiesen, dass Hans Blumenberg das Buch, und insbeson-
dere das Buch in der Tradition des Judentums und des Christentums, zu Recht als das
Medium bestimmt, im dem das Disparate und weit Auseinanderliegende, Widerstre-
bendes, Fremdes und Vertrautes am Ende als Einheit begriffen oder zumindest als ein-
heitlich begriffen vorgegeben werden könne.162
292 Erneut ist es eine zirkuläre Verstärkung von Medien- und Ideenevolution, die einen
Sprung in der Rechtsevolution ermöglicht: Im 19. Jahrhundert wurde das mit dem
Buchdruck verbundene Methodenideal der „Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse
unter einer Idee,“163 das System, auf dem europäischen Kontinent von der histori-
schen Rechtsschule adaptiert; wohingegen die kontinentalen Systembildungen im
englischen Common law fortan als benchmark fungierten, um die Abweichung von
diesem Methodenideal immer wieder positiv wie negativ zu kommentieren.164 Die tra-
genden Elemente des rechtspositivistischen Rechtssystems waren: Abkehr von allem
philosophischen und politischen Räsonnement, rein juristische „Construction“, Be-
herrschung des Rechtsstoffs von einem Punkt aus, innere Kohärenz und „Conse-
quenz“ des gesamten Rechtsstoff unter einer ihn durchherrschenden „Gesamtidee“.
Ihren Höhepunkt erreichte diese Semantik der „inneren Einheit“ der Rechtsordnung
vielleicht im Pandektenlehrbuch Bernhard Windscheids (seit 1862), dessen außeror-
dentliche Wirkung – nach einer treffenden Beobachtung Wieackers – auf eine ein-
malige mediale Alleinstellung zurückzuführen war; auf „eine Autorität, die heute auf
verschiedene Institutionen und Organisationen verteilt ist: das Gesetz, die höchstrich-
terliche Entscheidung, der große Kommentar und das Lehrbuch“.165 Vermittelt über
das systematische Gesetzbuch oder die auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit
angelegte Rechtsakte wanderte das rechtspositivistische Systemdenken auch in die
Rechtspraxis ein.
162
H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 1981, 17, 18; F. J. Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung,
2014, 124.
163 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1787), 1974, B 861. Zu den kommunikativen Voraussetzungen
der Idee eines Systems der Erkenntnisse J. Simon, Kant, 2003, 20ff. Zum Systembegriff bei Kant vgl.
auch M. Riedel, System, Struktur, in: Geschichtliche Grundbegriffe, 2004, 307ff.
164
Vgl. dazu nur Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 273f. Die von Kontinentaleuropa abwei-
chende Entwicklung des englischen (und skandinavischen) Rechts dürfte nicht zuletzt mit der Domi-
nanz lokaler mündlicher Rechtstraditionen zusammenhängen, die eine Einflussnahme der gelehrten
Buchkultur erschwerte, während das in Deutschland, Frankreich und Italien einflussreiche Römische
Recht des Mittelalters ein Recht der (klerikalen) Schriftkultur war und blieb und daher von Anfang an
stärker für Buchwissen durchlässig gewesen sein mag.
165 Wieacker (Fn. 5), 446; vgl. auch die entsprechenden Reflexionen Forsthoffs über die Bedeutung der
„monographischen Einzelarbeit“ für die Evolution der verwaltungsrechtlichen Systembildung:
E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1966, z. B. 42, 48.
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IV. Medien als pre-adaptive advances
166 Dazu – programmatisch – schon früh Ladeur (Fn. 117), 218ff. (mit der These des Verlustes der Ein-
heit des Rechtssystems); vgl. auch Christensen/Lerch (Fn. 120), 55ff.; Augsberg (Fn. 120), 133ff.; zum
Hypertext und seinen Konsequenzen für das Recht vgl. auch F. Müller/R. Christensen, Juristische Me-
thodik, Bd. 2, 2012, 235ff., 245ff.
167 K. Mainzer, Computerphilosophie zur Einführung, 2003, 161.
168
K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 296.
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§ 7. Evolution
295 Dagegen scheint die Diagnose von der „visuellen Zeitenwende“ zu kurz zu greifen. Sicherlich kann man
leicht eine Reihe von Phänomenen aufzeigen, die in die Richtung eines iconic turn weisen. Richard Sher-
win hat das Eindringen der visuellen Populärkultur in das US-amerikanische Recht etwa am Beispiel der
Übernahme filmischer Realitätskonstruktionen im Geschworenenprozess dargestellt, Cornelia Vismann
beobachtet in den Medien der Rechtsprechung eine neue Offenheit von (internationalen) Gerichten für au-
diovisuelle digitale Technologien, die sie als Durchlässigkeit für justizfremde Anforderungen und Einflüsse
interpretiert.169 Es ist außerdem absehbar, dass der Computer die Operationsweise von Gesetzgebung, Ver-
waltung und Rechtsprechung auf unterschiedlichste Weise erfassen und verändern wird, eine Entwick-
lung, die sich auf der Ebene der Verwaltung etwa in den neueren Entwicklungen des electronic government
und des „Informationsverwaltungsrechts“ erkennen lässt.170 Aber soweit mit dem Aufstieg von Bildmedien
und Computer schematische Szenarien vom Verfall begrifflicher Rechtskultur verbunden werden, Diagno-
sen einer Visualisierung des juristischen Denkens, einer „Bilderflut“, in der die „Schriftkultur“ des Rechts
zu ertrinken droht,171 ist die These von der visuellen Zeitenwende nicht überzeugend. Recht hat schon
immer über die Verknüpfung verschiedener Medien operiert, verwiesen sei hier noch einmal auf die förm-
lichen Rechtsgeschäfte des altrömischen Rechts wie mancipatio oder stipulatio, die Weber als Vorbild für
seinen Typus des empirischen Formalismus dienten. Und gerade der Buchdruck hat – wie man von Witt-
genstein lernen kann – eben auch eine Sehweise auf die Welt ermöglicht, die darin besteht, „dass wir die
‚Zusammenhänge sehen‘“.172
296 Eine neuartige Logik der Vernetzung bestimmt heute nicht zuletzt die unterschied-
lichen Formen juristischer Expertise. Dadurch gerät auch die Rechtstheorie in eine pa-
radoxe Situation. Sie bleibt einerseits auf die Wahrheitsform des Buches angewie-
sen,173 dessen Leistungen auch in Zukunft nicht durch den Zeitschriftenaufsatz, den
Beitrag in einem Sammelband, eine webpage oder einen Hollywood-Film ersetzt wer-
den können. Auf der anderen Seite ist die Rechtstheorie heute nicht mehr mit der glei-
chen Selbstverständlichkeit in einer bürgerlichen Kultur des Buches beheimatet wie
dies die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts möglicherweise war. Als Buchwissen
konkurriert die Rechtstheorie heute viel stärker mit anderen Medien, vor allem mit au-
diovisuellen Massenmedien und zunehmend auch mit Computer und Internet. Dieser
evolutionären Dynamik kann sich die Rechtstheorie nicht in einem „Kampf auf ver-
lorenem Posten“ entgegenstellen. Die Möglichkeit der linearen Form, die Exposition
rechtstheoretischen Wissens in einem von einer „Gesamtidee“ (Gerber) getragenen
Systementwurf, die Formung eines geschlossenen und einheitlichen Ganzen aus einer
zusammenhängenden Reihe rechtlicher Stoffe, liegt hinter uns. Dagegen wäre die
Buchform heute an die Computerkultur anzupassen. Die Rechtstheorie hätte sich
einer offenen, konnexionistischen Architektur anzuverwandeln und als „horizontaler
Hypertext“ von Themen und Unterscheidungen zu präsentieren, in dem das Testen
der Kombination von verschiedenen Differenzen die Fundierung aller Aussagen des
Systems in einer einzigen Anfangsoperation, dem Prinzip, ersetzt. Ob die Rechtstheo-
rie diese konnexionistische Architektur dann ausschließlich durch Druckschrift und
Texte (wie in diesem Buch) oder auch in Bildern darstellt, ist eine zweitrangige Frage.
169
Sherwin (Fn. 120), 24f., 41ff.; C. Vismann, Medien der Rechtsprechung, 2011, ins. 333ff., 341.
170
Vgl. M. Eifert, Electronic Government, 2006; zum Informationsverwaltungsrecht E. Schmidt-Aß-
mann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1982, 278ff.; Ladeur (Fn. 168), 331ff.
171 Röhl (Fn. 120), 339; ähnlich auch H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverwaltungsgericht als Impulsgeber
für die Fachliteratur, 2003, 1061ff.
172
Wittgenstein (Fn. 144), § 122.
173 Für die Philosophie vgl. J. Simon, Philosophie des Zeichens, 1989, 253 („Wir haben in der Wissen-
schaft keine Alternative zum Schema des Buches.“) Diese These bedarf angesichts gegenläufiger Ent-
wicklungen in den Naturwissenschaften allerdings einer genaueren Spezifizierung.
180
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IV. Medien als pre-adaptive advances
Die Logik der Vernetzung verändert schließlich auch die Kommunikationsbedingun- 297
gen im Rechtssystem selbst. Die im Lehrbuch des 19. Jahrhunderts noch zentral (re-)
präsentierte Rechtswissenschaft sieht sich heute mit einer Vielzahl von juristischen
(Teil-)Öffentlichkeiten konfrontiert. Garantierten das Pandektenlehrbuch oder ver-
gleichbare Lehrbücher des Öffentlichen Rechts (Paul Laband, Otto Mayer), dass In-
novationen nicht auf kleine Gemeinschaften von Rechtswissenschaftlern beschränkt
blieben (und auch die Gerichtspraxis im Durchschnitt erreicht werden konnte), kann
auch in dieser Hinsicht nicht mehr auf Kontinuität vertraut werden. In einem Netz-
werk überlappender Nachbarschaften dominieren zwangsläufig Prozesse der Selbstab-
schließung, während „Kommunikation“ im alten tradierten Sinn, d. h. im Sinn der
Herstellung von Gemeinschaft, nicht mehr als selbstverständlich unterstellt werden
darf. Neuerungen in der Rechtstheorie werden heute von der Rechtsdogmatik eher
gar nicht zur Kenntnis genommen oder sickern nur sehr langsam durch. Das gilt in
noch höherem Maße für die Rechtspraxis, etwa für Gerichte, die heute weitgehend
selbstreferentiell operieren. Auf diese schwierige Situation darf die Rechtstheorie aller-
dings nicht ihrerseits mit Selbstreferenz antworten. So unverzichtbar die Beobachtung
von Rechtstheorie durch Rechtstheorie im Einzelfall auch sein mag, die weitere
Rechtsevolution dürfte kaum durch Kommunikationen des Typs „Baiers Unterschei-
dung zwischen Regeln für Gründe und Regeln, die Rangordnungen zwischen solchen
Regeln festlegen, ist eine wichtige Ergänzung der Toulminschen Analyse des mora-
lischen Argumentierens“ gesichert sein.174 Gerade unter den Bedingungen eines be-
schleunigten gesellschaftlichen Wandels muss die Rechtstheorie der Rechtspraxis
einen Varietätspool an Ideen zur Verfügung stellen, alternative Entwicklungspfade,
die in der Theorie bereits soweit heruntergebrochen sind, dass sie praktisch und dog-
matisch anschlussfähig erscheinen. Ob die Botschaften der Rechtstheorie dann eine
bessere Chance haben, gehört zu werden, wird die weitere Evolution zeigen.
174
R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, 131.
181
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Sachregister
– Sinnerwartung (Gadamer) 211, 215f., 220 – Allgemeinheit des Gesetzes 45, 51, 55, 150
– Erwartungsstrukturen 42 – vs. Gesetzesanwendung 51, 53, 64, 207, 212,
– Erwartungssicherheit 43, 121, 227, 294 224
– Verhaltenserwartung 42, 166, 244 Gesetzespositivismus 84, 150, 174, 182
Ethik 33, 46f., 49, 163, 170 Gesetzgebung 46, 63, 68–70, 85, 146, 151–153,
– Diskursethik 166f. 170, 172f., 175f., 180, 184, 198, 209, 260,
– kantische 46f., 49 289, 292, 295
– Nikomachische 14, 161 – politische 84, 155, 164, 175, 182, 206, 240
Evolution 101, 161, 184, 245, 251f., 255, 257, Gewalt 27, 29, 50, 82, 88f., 91, 121, 133, 135,
259–267, 270–275, 277f., 280f., 283, 287f., 151, 154f., 172, 178, 202, 223, 259f., 269
290, 292, 294, 297 – sanktionierte (s. Zwang, Rechtszwang, Impera-
– evolutionärer Zufall 92 tiv) 42, 49f., 121, 149, 151f., 155, 184
– Ideenevolution 77, 280, 287, 292 Grammatik 59, 192, 234f., 287
evolutionäre Errungenschaften 277 griechischer Stadtstaat (polis, poleis) 15, 75, 80,
Evolutionstheorie 16, 250, 261–268, 271, 274f., 158ff., 169f., 198, 259, 284
277, 280f., 285 Grundnorm (s. secondary rule) 7, 97f., 108, 112,
Expertise 132, 139, 148, 177, 180, 184, 209
– juristische 10, 12–14, 19, 26, 30, 60, 95, 170,
191, 256f., 272, 278, 289, 293, 296 Hermeneutik
– technische 127 – juristische 23, 192, 194, 210–218, 223–226,
– theoretische 145 229, 231–233, 235f., 241, 243
– philosophische 54, 143, 192, 210–216a
Folgerichtigkeit 91f., 99 hermeneutischer Zirkel 210f., 217, 219, 221
Formalismus (im Recht) 94, 252–254, 257f. Herrschaft 72, 88, 91f., 154, 164, 251
– empirischer 252f., 295 – legale 152f., 164
– logischer 252, 257 – traditionale 152, 249
– Wort- 253 Heterarchie, heterarchisch 7, 106, 129, 131, 140,
Freiheit, freier Wille 24, 29, 38, 45, 48, 50, 72, 182–185, 240, 244, 294
88ff., 96f., 107, 111, 145, 151, 174, 227, 276 Hierarchie 67, 75, 92, 99, 129, 132, 140, 146f.,
Freirechtsschule 97, 207 155, 162, 169, 180, 185, 254
Fremdreferenz – schema 16, 67, 77
– vs. Selbstreferenz 126f. – Leges- 159, 165
Funktion (des Rechts) 8, 43f., 120f., 128, 145, historische Rechtsschule 22f., 84, 86–89, 247f.,
238, 254, 273 251, 292
Humanismus 73, 278, 291
Gedächtnis 278f.
Gegenwart 117f., 141f., 179, 183, 246, 265, 279 iconic turn 295
Gemeinwesen (commonwealth) 79f., 80a, 164, 169 Idee 25, 27, 83
Genealogie 89, 94 – Ideengeschichte 27, 77, 82, 249
Gerechtigkeit 9, 12, 25, 29, 66, 75, 156, 160 (Di- – Gesamtidee 92, 96, 137, 292, 296
gesten), 161–163, 170f., 183, 199, 218f., 228, – Ideenevolution 77, 280, 287, 292
233, 236, 281 Imperativ (s. Zwang, Rechtszwang, Gewalt) 35f.,
– kommende 135 57 (Wittgenstein), 82 (Hobbes), 197, 252
– Tausch- 160, 162 – kategorischer Imperativ 33, 46–49
– verteilende (austeilende) 160ff. Imperativentheorie 35f., 82
Geschlossenheit 7, 126, 128 Interessenjurisprudenz 97, 207
– operative 112f., 115, 127 Interpretation (s. Auslegung)
– normative 42, 127, 190, 242 – canones der 196, 228
Gesellschaftsvertrag 24, 80, 80a, 81, 111, 116, – Elemente der 23, 196, 199
173 – grammatische 196, 203, 205
Gesetz (s. lex, nomos, Regeln) 1, 28, 30, 36, 45, – historische 196, 201, 230, 235f.
47ff., 52, 57, 72, 74, 76, 82, 125, 127, 132, – legale (s. Gesetzesinterpretation) 204
150f., 155, 159, 168, 170–173, 180, 191, 194, – objektive vs. subjektive 60, 205, 212, 215, 225
197, 200, 202, 204f., 207ff., 227, 230, 284f., – systematische 23, 68, 105, 196
292 – teleologische 196, 198f., 207
– allgemeines 45f., 48–53, 72, 76, 118, 150f., – Vollzugsform der 211, 216, 219, 230, 232
174, 219, 222ff. Iterierbarkeit, itérabilité, Iterabilität 131, 208
188
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Sachregister
Juristenrecht 31, 60, 158, 206, 259 69, 71, 76, 97ff., 108, 112, 118, 125–127,
– römisches 20, 30f., 68 132, 146–149, 154, 159, 165, 168, 177f., 180,
183, 185–188, 209, 218, 220ff., 226, 230,
Kodifikationsrecht 68, 70ff., 106 235, 237, 239, 242a, 254
knowing how vs. knowing that 188 Normentheorie 1, 3, 34, 37f., 41, 64f., 112
Kommunikation 10, 56, 59, 115f., 119a, 120, Normenpyramide (s. Rechtsordnung, Stufenbau
122, 133f., 145, 178f., 181, 185, 211, 234f., der) 67, 140
238f., 242, 253, 272, 282, 285, 297 Notationssystem 103
Konstruktion 39, 46, 80a, 81, 84, 86, 90, 96, 148,
200f., 203, 260 Operation 6f., 53, 57, 80, 108, 110, 113, 117ff.,
– vs. Interpretation 200f., 210, 213, 224 120, 125, 128ff., 134, 144f., 177, 179ff., 252,
Konvention, Konventionen 9b, 27, 32f., 40, 47, 262, 294
59, 71, 94, 127, 145, 149, 159, 170, 172ff., Oralität, oral 9a, 170, 281f., 286f.
185–190, 203, 234, 239–242, 260f., 268, – primäre 282
270, 273, 282, 284f., 289 Orthographie 101, 104
Kondensierung (condensation) 131, 208
Konditionalprogramm 34f., 37, 43f., 64, 125,, Pandekten 85
284 – Pandektenrecht 85, 205
– vs. Zweckprogramm 44 – Pandektenwissenschaft (s. Rechtspositivismus,
Konfirmierung (confirmation) 130f., 208 rechtswissenschaftlicher Positivismus) 85–87,
149, 254, 292f., 297
langue vs. parole 55f., 235, 283 Paradoxie, paradox 12, 50a, 99, 110, 132ff., 138f.,
legis actio 253 148, 153, 156, 185, 229, 232, 237, 285, 296
Letztbegründung 9, 54, 135, 213 – des Entscheidens 133, 139, 224, 226–229
lex (s. Gesetz) 69, 76, 159, 168, 171f., 221, 237 – der historischen Zeit 245
Lückenlosigkeit 69, 91, 99, 106 – Entfaltung der 133f.
– Entparadoxierung der 133, 228f., 236
mancipatio 253, 295 – Gründungs- 88, 133, 138f.
Medium, Medien 9a, 13, 30, 60, 66, 74, 100– Performanz, performativ (s. Sprache, Gebrauch
102, 104f., 116, 138, 143ff., 149, 181, 189, der) 56, 82, 102, 158f., 161, 235, 253, 281,
201, 211–214, 232, 242a, 245, 265ff., 266, 294
273, 277f., 280ff., 285, 289, 291, 293–295f. Philosophie
– Materialität des/der 102 – Begriff der 15, 75
mediale Spur 102 – praktische (philosophia civilis) 36, 45–49, 51,
Maschine (trivial/nicht-trivial) 59, 179, 202, 227, 55, 61, 79f., 92, 118, 135, 173
255 precedent 82
Metaphysik 75, 77–79, 151, 260 Positivismus
Modell – rechtswissenschaftlicher (s. Rechtspositivismus)
– Konkretisierungs- 194 17, 51, 81, 84f., 88f., 94, 107, 149–151,
– Anwendungs- und Subsumtions- 53, 65, 194f., 153f., 174, 194, 200–202, 206, 208
202, 204 Prinzip (Principien) 6, 22, 24ff., 29, 46f., 49, 50a,
mos maiorum 270 55, 67, 71, 75, 78, 90, 94, 110, 138, 156, 159,
236, 241, 253f., 259, 276, 283, 296
Naturrecht 24, 72, 75f., 118, 156–159, 163, 165,
169, 171–174, 182, 186, 259 Rationalität 23, 25, 72, 82, 93, 167, 173, 216,
Naturphilosophie (philosophia naturalis) 45, 73f., 224, 228, 238f., 240, 243, 252, 254, 260
77–79, 81–83, 85, 87f., 98, 107, 133, 157f., – formale vs. materiale 252, 256, 260
173, 200, 280, 290f. Recht
Naturzustand 80, 265 – jüdisches, altjüdisches, altisraelisches 158, 198,
nomos, nomoi (s. Gesetz, lex, Regeln) 256, 276, 284, 286
– vs. physis 76, 158f., 168, 170 – göttliches 159, 171
Normativität 38–41, 43, 60, 118, 149, 158, 182, – griechisches 76, 158f., 160f., 170, 198, 248,
187, 190, 193, 221f., 224, 233, 242 a 268, 283, 286, 289
– sachbestimmte 224, 233 – natürliches (s. Naturrecht) 24, 72, 75, 118,
Normbereich 222, 224 156ff., 159, 163, 165, 171–174, 182, 186
Norm, Normen (s. Regel, Gesetz, lex, nomos) 1–4, – positives, Positivität des 91, 93, 139, 168f.,
9, 30–33, 38f., 42, 44f., 52, 57f., 60–62, 66, 173f., 186
189
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Sachregister
Subsumtionsautomat 202, 205, 226 Vernunft 9, 15, 47f., 50a, 54, 72, 83, 88, 96, 151,
– rechtspositivistischer 205 165, 167, 183, 213, 217, 228, 233, 236, 243,
Syllogismus 53, 211 245
– deduktiver 194, 202 – recht 165, 174
Symbol 55, 102, 181, 184f. Verstehen 23, 116, 178, 192, 204, 210, 213f.,
Symbolsysteme 102f. 217f., 247, 281
System – Geschichtlichkeit des Verstehens 210, 247
– begriff 22, 75f., 79, 85, 91, 96, 110, 140, 217, Volksgeist 95, 151, 182, 232, 248
271ff., 290 Voluntarismus 172, 259
– begriff, rechtspositivistischer 85, 88–91, 96, volonté genérale vs. volonté de tous 72
200f., 217, 254f., 292 Vorverständnis 23, 143, 215–220, 222, 224f.,
– bildung 83, 86, 90, 95, 100f., 107, 114, 131, 228, 236, 241
144, 200, 292
– denken 17, 68, 72, 83f., 90, 97, 99, 139, 173, Widerspruchsfreiheit 23, 69, 139
213, 292 Wiederholung 4, 7, 56, 58, 112, 118, 129–131,
– theorie 6–11, 42, 54, 66, 108–119, 126, 128– 208, 230, 282
133, 137f., 143ff., 179ff., 223, 242f., – erkennbare 130
261–273, 279 Willensfreiheit 89
– rationalität vs. Zweckrationalität 254 Wissen
– rekursives (s. dynamisches, nachbarschaftliches) – bewahrenswertes (s. Semantik) 20
7, 65, 120, 129, 131f., 137, 144, 179, 230, – sicheres (Gewissheit) 15, 63, 73, 76, 78, 107,
262, 273 208, 212133, 224
– dynamisches 7, 65, 98, 117, 119ff., 129–132, – implizites 186, 188f.
137, 140, 144, 179, 184, 262f., 273, 294 – praktisches (s. gemeinsames,
– nachbarschaftliches 7, 65, 120, 129, 180, 184, communities of practice) 13, 40, 186f., 189, 208
230 – gemeinsames (s. praktisches) 216, 234–237,
– polyzentrisches 231 240–244, 266, 282
191
https://doi.org/10.17104/9783406746154-187
Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:59:55.
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