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Juristische

Kurz-Lehrbücher

Thomas Vesting

Rechtstheorie
2. Auflage

C.H.BECK
https://doi.org/10.17104/9783406746154-I
Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:32.
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Das Lehrbuch richtet sich an Studierende der Rechtswissenschaft
und solcher Disziplinen, in denen Recht auf unterschiedliche
Weise Thema der jeweiligen Fachkulturen ist, wie zum Beispiel in
Philosophie, Soziologie, Ökonomie, Politik-, Literatur- oder Medien-
wissenschaft. Es wird ein Überblick über die Themen Rechtsnormen,
Rechtssystem, Rechtsgeltung, Rechtsgewalt, Rechtsinterpretation
und Rechtsgeschichte geboten. Dabei wird ein kulturwissen-
schaftlicher und medientheoretischer Ansatz erprobt, wie er sich
in unterschiedlichsten Fachrichtungen als neue Möglichkeit des
(interdisziplinären) Denkens durchgesetzt hat.

Besondere Vorteile:
■ Vermittlung von Grundlagenwissen
■ Einbeziehung aktueller (rechts-)theoretischer Debatten
■ knappe präzise Darstellungen

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Rechtstheorie
Ein Studienbuch

von
Dr. Thomas Vesting
o. Professor an der Universität Frankfurt am Main

2. Auflage, 2015

C. H. BECK

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www.beck.de
ISBN Print 978 3 406 68434 0
ISBN E-Book 978 3 406 74615~ ~ 4
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Vorwort zur 2. Auflage

Die hier in zweiter Auflage erscheinende Rechtstheorie ist als Lehrbuch für Unterrichts-
zwecke an Universitäten konzipiert. Sie richtet sich an interessierte Studenten der
Rechtswissenschaft und solcher Disziplinen, in denen, wie in der Philosophie, Sozio-
logie, Ökonomie, Politik- oder Literaturwissenschaft, Recht auf unterschiedliche
Weise Thema der jeweiligen Fachkulturen ist. Das Buch konzentriert sich darauf,
einen Überblick über einige der Themen zu geben, die von der Rechtstheorie des
20. Jahrhunderts immer wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt worden
sind: Rechtsnormen, Rechtssystem, Rechtsgeltung, Rechtsgewalt, Rechtsinterpreta-
tion und Rechtsgeschichte. Im Unterschied zur analytischen Rechtstheorie geht die
vorliegende Rechtstheorie allerdings davon aus, dass man diese Themen nicht losge-
löst von ihrem historischen Kontext behandeln kann und dass Kontextualität nicht
nur ein „Argument“ ist. Im Gegenteil: Die Geschichte und Evolution des Rechts ist
eng mit der Geschichte und Evolution von Formen gemeinsamen Wissens verklam-
mert, eines ständigen Flusses geteilter praktischer Bedeutungszusammenhänge wie
etwa Sprache, Sitten, Gebräuchen und Konventionen. Das gilt auch für die Rechts-
theorie. Oder, um Hegels allbekannte Formulierung aus der Vorrede zur Philosophie
des Rechts von 1821 aufzugreifen: Wie das Individuum ist die Rechtstheorie notwendi-
gerweise ein Kind ihrer Zeit, ihre Textualität ist „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“.1
Bei Hegel ist die Annahme der Geschichtlichkeit des Rechts eng mit der Idee eines zu
sich selbst findenden Geistes verknüpft, mit einer „Reproduktionslogik des Identi-
schen“,2 der Bewegung eines kollektiven Subjekts, das auf die mögliche Verwirkli-
chung von Vernunft und Freiheit angelegt ist. Bekanntlich war Hegel der Auffassung,
dass sich diese Möglichkeit im preußischen Staat von 1820 realisiert hätte.3 In der hier
vorliegenden Rechtstheorie geht es freilich weder um eine Neuauflage der Hegelschen
Geschichtsphilosophie, um eine dialektische Aufhebung aller Widersprüche und
Trennungen, noch um eine Theorie des Rechts, die sich primär über ihre In-Bezie-
hung-Setzung zum Staat oder zur Politik bestimmen würde. Vielmehr wird in der
Rechtstheorie ein kulturwissenschaftlicher und medientheoretischer Ansatz erprobt,
wie er sich heute in unterschiedlichsten Fachrichtungen als eine neue Möglichkeit des
(interdisziplinären) Denkens durchgesetzt hat. Darin ist zugleich eine epistemologi-
sche Unterstellung eingeschlossen, die besagt, dass die Theoriebildung ihrer eigenen
Geschichtlichkeit und Ereignishaftigkeit nicht entraten kann. Das hat wiederum zur
Folge, dass die herkömmliche Erkenntnistheorie einer historischen Epistemologie
weicht, die jede Möglichkeit, das Recht „transzendentalen Voraussetzungen oder
doch einer apriorischen Norm zu unterwerfen“ verschließt, um es von einem je spezi-
fischen kulturhistorischen Regime her zu fassen.4
Rechtstheorie ist dann nicht länger das Produkt eines einsamen Autorsubjekts, son-
dern immer schon in die Welt und ihre praktischen Bedeutungszusammenhänge ver-
strickt. Sie kann nicht allein Produkt von Gedankenarchitekturen sein, erst auf der

1
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1970, Vorrede, 26.
2 Den Begriff entnehme ich A. Koschorke, Hegel und wir, 2015, 11.
3 Vgl. dazu die klassische Studie von F. Rosenzweig, Hegel und der Staat (1920), 2010, 405, 438.
4
Vgl. H.-J. Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, 2007, 12.

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Vorwort zur 2. Auflage

Grundlage „einer Verkettung von Erschlossenheiten, von Metaphernsystemen, die un-


sere Welterfahrung ermöglichen und bestimmen,“5 kann Rechtstheorie gedacht und
geschrieben werden. Wenn die Rechtstheorie die Notwendigkeit des historischen Ein-
satzes ihres Denkens in diesem radikalen (hermeneutischen) Sinn anerkennt, dann
muss sie den Prozess des Aufstiegs einer globalen Kultur der Netzwerke als das Phäno-
men akzeptieren, das unsere Erschlossenheiten und Metaphernsysteme ermöglicht und
bestimmt – und sich darin, in der Antwort auf diese Botschaft, als legitimes Kind ihrer
Zeit erweisen. Noch einmal anders gesagt: Die Rechtstheorie wird heute in ihrer Iden-
tität und in ihrem Selbstverständnis durch ein Netzwerk offener technischer Objekte
herausgefordert, durch einen weltweiten Verbund aus digitalen Medien, der auf der
Universalmaschine des Computers und auf Netzwerken basiert, die spontan und de-
zentral erzeugt und dabei beständig umgeschrieben werden und alle bisher bekannten
Medien – Sprache, Schrift, Druck, Photographie, Radio, Film, Fernsehen etc. – in der
Allgegenwart digitaler Kommunikationsströme miteinander konvergieren lassen.
Die Allgegenwart der Computernetzwerke und digitalen Kommunikationsströme
hat – wie zuvor die Erfindung der Schrift und des Buchdrucks – einen Bruch in der
Geschichte der kulturellen Evolution ausgelöst, ja eine umfassende „sinnkulturelle Er-
schütterung“ eingeleitet.6 Eine neue Epistemologie ist im Begriff zu entstehen, eine
neuartige kollektive Wahrnehmung von faktischen wie normativen Bedeutungszu-
sammenhängen, von der aus die Themen der Rechtstheorie neu durchdacht werden
müssen. Das ist – sehr allgemein formuliert – der Hintergrund, vor dem die einzelnen
Abschnitte der Rechtstheorie komponiert wurden; am deutlichsten wird diese Perspek-
tive vielleicht im letzten Kapitel des Buches entfaltet. Dieses Kapitel enthält den Abriss
eines Forschungsprogramms, das ich in einer Reihe von neueren Publikationen, in den
Medien des Rechts, ausführlicher darzustellen versucht habe.7 Die neuartige Kultur der
Netzwerke, so lautet die methodologische Botschaft dieses Forschungsprogramms,
kann nur durch eine Öffnung der Rechtstheorie für Disziplinen wie Kulturtheorie,
Medientheorie, Kommunikationstheorie, Anthropologie, Literaturwissenschaft,
Film- und Fernsehtheorie, Bildwissenschaft usw. bewältigt werden.8 Es geht also im
Kern um eine Perspektivenänderung, mit deren Hilfe die Rechtstheorie besser auf die
rechtlichen Herausforderungen des Umbaus der modernen Gesellschaft durch den
Aufstieg der neuen Kultur der Netzwerke reagieren kann.
Die erste Auflage der Rechtstheorie ist von der JuS zu einem der juristischen Ausbil-
dungsbücher des Jahres 2007 gewählt worden.9 In diesem Jahr sind außerdem eine
brasilianische und eine japanische Ausgabe erschienen;10 eine Übersetzung ins Spani-
5
G. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 1997, 155.
6 Vgl. E. Hörl, Die technologische Bedingung, 2011, 7ff., 13 (Fn. 20).
7 Vgl. T. Vesting, Die Medien des Rechts, Bd. 1–2, 2011; Bd. 3, 2013; Bd. 4, 2015.
8
Näher T. Vesting, Medialität des Rechts, 2012, 149ff. Diese Einsicht gewinnt auch in anderen Diszipli-
nen an Gewicht. So hat etwa jüngst Y. Ezrahi, Imagined Democracies, 2012, 306, eine derartige Um-
stellung für die politikwissenschaftlichen Analyse der liberalen Demokratie und ihrer „contemporary
culture of fast moving images“ eingefordert.
9 Vgl. Tobias Gostomzyk/Georg Neureither/Ali B. Norouzi, Die juristischen Ausbildungsbücher des Jahres
2007 – Eine Leseempfehlung von JuS-Autoren an JuS-Leser, JuS 2007, 1158ff.; vgl. auch die Bespre-
chungen von D. Simon, An der Front, Myops 2010, S. 40ff.; und J. Gerberding, Bucerius Law Journal
2007, 148ff.
10 Teoria do Direito. Uma Introducao, Saraiva, Sao Paulo 2015; Rechtstheorie, Seibundo-Publishing, To-
kyo, 2015.

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Vorwort zur 2. Auflage

sche ist in Arbeit. Nicht zuletzt diese Resonanz hat mich dazu bewogen, eine 2. Auf-
lage in Angriff zu nehmen. Dazu wurde die Rechtstheorie umfassend durchgesehen
und dort, wo es mir sinnvoll erschien, auf den neuesten Stand gebracht.
Isa Weyhknecht-Diehl hat den gesamten Text in eine perfekte Form gebracht. Cara
Röhner und Andreas Engelmann haben Korrektur gelesen und viele gute Ergänzungs-
und Verbesserungsvorschläge gemacht. Dafür sei allen dreien herzlich gedankt.

Frankfurt/München, im Juni 2015 Thomas Vesting

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V


Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII

§ 1. Ort und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1


I. Auftritt einer Selbstbeschreibungsformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1. Frühe Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
2. Frühe Rechtssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
3. Neuere Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung . . . . . . . . . . . . . 7
1. Beobachtung zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2. Theorie als Lebensform (Aristoteles) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
3. Zur Funktion von Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
III. Abgrenzungen und Überlappungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1. Zur Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2. Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

§ 2. Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
1. Typen und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2. Konditionalschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
3. Abstrakt normatives Regelverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
II. Allgemeinheit des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
1. Kants praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2. Anwendung des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
IV. Pragmatisches Regelverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

§ 3. System I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
I. Einheit und Hierarchie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
II. Systembegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
1. In der Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
2. Praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
III. Systembildung im Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
1. Zur juristischen „Construction“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
2. Lückenlosigkeit, Folgerichtigkeit, Positivität des Rechts . . . . . . . 56
3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
4. Auflösungserscheinungen (Kelsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

§ 4. System II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
I. Unterscheidung von System und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
II. Operative Geschlossenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
1. Autopoiesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
2. Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

IX
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3. Funktionale Spezifikation und binäre Codierung . . . . . . . . . . . 74


4. Selbstreferenz und Fremdreferenz (re-entry) . . . . . . . . . . . . . . . 77
III. Dynamische, rekursive Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
1. Netzwerk statt Hierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
2. Paradoxie des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
IV. Systemtheorie und Computerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

§ 5. Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
I. Staatszentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
1. Zur tradierten Rechtsquellenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
2. Das Problem der (staatlich sanktionierten) Gewalt . . . . . . . . . . 92
II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . 97
1. Begriff und historischer Kontext des Naturrechts . . . . . . . . . . . 97
2. Gerechtigkeitsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
3. Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
III. Dynamisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
1. Positives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
2. Normative Geltungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
3. Geltung als zirkulierendes Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts . . . . . . . . . . . . 110
1. Heterarchie der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
2. Gesellschaftliche Konventionen und praktisches Wissen . . . . . . 113

§ 6. Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
I. Auslegung oder Konkretisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
1. Der Zugriff der neueren Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
2. Zum Methodenkanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
II. Modellbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
1. Im Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
2. Philosophische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
3. Juristische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
III. Paradoxie des Entscheidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
IV. „Postmoderne“ Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
1. Entparadoxierung der Entscheidungsparadoxie . . . . . . . . . . . . . 139
2. Rechtsstrukturen und Sachstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
3. Die Bedeutung des gemeinsames Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . 142
4. Abdämpfung von Rationalitätsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . 147

§ 7. Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
I. Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
III. Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
1. Evolutionstheorie und Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
2. Zur Autonomie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
IV. Medien als pre-adaptive advances . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
1. Zur Verknüpfung von Evolutionstheorie und Medientheorie . . . 167
2. Primäre Oralität und Schriftgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

X
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3. Buchdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
4. Elektronische Medien und Computer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

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§ 1. Ort und Funktion

I. Auftritt einer Selbstbeschreibungsformel

1. Frühe Rechtstheorie
Schon im 19. Jahrhundert sprach man gelegentlich von „Rechtstheorie“.1 Der Name 1
Rechtstheorie wurde von Autoren wie v. Savigny jedoch annähernd synonym mit
Rechtswissenschaft gebraucht. Erst im 20. Jahrhundert nimmt der Begriff schärfere
Konturen an. Vor allem im Umkreis der Internationalen Zeitschrift für Theorie des
Rechts wurde seit Mitte der 1920er Jahre die Pflege einer Rechtstheorie eingefordert,
die sich – zwar unabhängig von den Besonderheiten der einzelnen (nationalen)
Rechtsordnungen – aber doch auf die gemeinsamen Probleme des „positiven Rechts“
konzentrieren sollte.2 Rechtstheorie war insoweit als Gegenprogramm zur Rechtsphi-
losophie formuliert, als Alternativentwurf zu Theorien des natürlichen, richtigen oder
gerechten Rechts. Bestimmt wurde dieses Programm nicht zuletzt durch Hans Kelsen,
dem bedeutendsten Mitherausgeber der Internationalen Zeitschrift. Für Kelsen und
seine Reine Rechtslehre (1. Auflage 1934) war Rechtstheorie primär Normentheorie,
wobei unter Norm die expliziten ausformulierten geschriebenen oder gedruckten Nor-
men, wie etwa die Gesetze des bürgerlichen Privatrechts oder die Normen einer Staats-
verfassung, verstanden wurden. An diesen Typus von Normentheorie knüpft die
rechtstheoretische Diskussion noch heute vielfach an.3 Auch die analytische Rechts-
theorie des anglo-amerikanischen Rechtskreises ist weitgehend um Rechtsnormen
oder -regeln zentriert. Ein prominentes Beispiel dafür ist etwa Harts The Concept of
Law (1961) und die dort entwickelte Unterscheidung von „primary“ und „secondary
rules“, deren Zusammenspiel nach Hart jedes Rechtssystem charakterisiert.4
Das Sprungbrett für die Rechtstheorie Kelsens war die neukantische Unterscheidung von Sollen und Sein, 2
die hier in eine unüberbrückbare Differenz zwischen Rechtsnormen und außerrechtlicher Wirklichkeit
übersetzt wurde. Diese Unterscheidung und Separierung begründete Kelsen mit Hilfe einer eigentüm-
lichen Aussagenlogik, die nach seiner Auffassung im Bewusstsein (aller Menschen) verankert ist.5 Ihr Re-
sultat ist eine Art Zwei-Welten-Lehre: Welt 1 ist die Welt der Rechtsnormen, die Welt des reinen (norma-
tiven) Sollens, Welt 2 ist die Welt der Faktizität, der Seinstatsachen und Fälle. In Welt 1 heißt es: Du sollst
nicht stehlen (heute § 242 StGB), in Welt 2 wird aber dennoch gestohlen, etwa in Kaufhäusern, Tankstel-
lenshops, bei Flohmärkten etc. Die Wirklichkeit wird als eine norm- und sinnunabhängige Wirklichkeit
gedacht, während umgekehrt das wirkliche Geschehen niemals Einfluss auf die Geltung und Verbindlich-
keit von Normen hat, die für Kelsen eben in einer anderen Welt, in Welt 1 verankert sind. Aus einem Sein
könne niemals ein Sollen folgen, von Fakten könne und dürfe man nicht auf die Gültigkeit von Normen

1 Vgl. nur F. C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, XXII;
K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892, z. B. 480 mit Bezug auf die „historische
Rechtstheorie“ von Savigny und Puchta; R. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 1902, 12ff.
(„theoretische Rechtslehre“).
2
Vgl. Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 1 (1926/27), Vorwort, 1ff.
3 So z. B. M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein ..., 2006, 28 („Rechtstheorie ist ... normwissen-
schaftlich arbeitende Reflexionswissenschaft.“).
4
H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, 77ff.
5
H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 5 („Der Unterschied zwischen Sein und Sollen kann nicht
näher erklärt werden. Er ist unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben.“); dazu einführend H. Dreier,
Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, 27ff., 33 („Dualismus
von Sein und Sollen“).

1
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§ 1. Ort und Funktion

schließen et vice versa. „Niemand kann leugnen, daß die Aussage: etwas ist – das ist die Aussage, mit dem
eine Seins-Tatsache beschrieben wird – wesentlich verschieden ist von der Aussage: daß etwas sein soll –
das ist die Aussage, mit der eine Norm beschrieben wird; und daß daraus, daß etwas ist, nicht folgen
kann, daß etwas sein soll, so wie daraus, daß etwas sein soll, nicht folgen kann, daß etwas ist.“6 Wer den-
noch von einem Sein auf ein Sollen schließt, begeht einen „naturalistischen Fehlschlusß“.

2. Frühe Rechtssoziologie
3 Bevor die Rechtstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine unmittelbar an juris-
tischen Bedürfnissen orientierte Normentheorie umschwenkte, war sie Bestandteil
eines weiter angelegten Unternehmens, nämlich der sich herausbildenden Soziologie
des 19. Jahrhunderts. Rechtstheorie trat also zunächst in Form der (Rechts-)Soziologie
in Erscheinung, etwa als Kritik der Abstraktionen des bürgerlichen Rechts in der Deut-
schen Ideologie (1845/46) von Karl Marx oder in Émile Durkheims Analyse des Zu-
sammenhangs von sozialer Arbeitsteilung und Vertrag in De la division du travail social
von 1893.7 Bei Max Weber, einem weiteren Gründungsvater der Soziologie als eigen-
ständiger Fachdisziplin, manifestierte sich das Interesse am Recht in einem vermutlich
vor 1914 entstandenen Manuskript, das später von Marianne Weber und Melchior
Palyi unter dem Namen Rechtssoziologie als 7. Kapitel in Wirtschaft und Gesellschaft
eingefügt wurde – und deshalb heute meist als Webers Rechtssoziologie firmiert.8 We-
ber nutzte in diesem Manuskript ebenfalls die (neukantische) Unterscheidung von
Normen und Fakten, aber für einen – von Kelsen aus gesehen – genau entgegengesetz-
ten Zweck: Webers Rechtssoziologie wollte mit Hilfe der Unterscheidung von Sein und
Sollen die größtmögliche Distanz zum rechtswissenschaftlichen Betrieb aufbauen.9
Während die juristische Betrachtungsweise an der logischen Erschließung von Sinn-
problemen arbeite, interessiere sich die Rechtssoziologie für Recht als Ausdruck fak-
tischer Bestimmungsgründe menschlichen Handelns. Die Jurisprudenz fragt nach
Weber, was als Recht ideell gilt. „Das will sagen: Welche Bedeutung, und dies wiede-
rum heißt: Welcher normative Sinn einem als Rechtsnorm auftretenden sprachlichen
Gebilde logisch richtigerweise zukommen sollte“; die Soziologie dagegen frage, was
„innerhalb einer Gemeinschaft faktisch um deswillen geschieht, weil die Chance be-
steht, daß am Gemeinschaftshandeln beteiligte Menschen ... bestimmte Ordnungen
als geltend subjektiv ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln an
ihnen orientieren.“10
4 Aus der strikten Entgegensetzung von juristischem und soziologischem Sinn resultierte in Webers metho-
dologischen Schriften die Annahme einer Differenz von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise

6
Moralphilosophisch gewendet kann man dann formulieren, „that it is impossible to deduce an ethical
conclusion from entirely non-ethical premises“. So etwa A. N. Prior, Logic and the Basis of Ethics,
1944, 18, hier zitiert nach Kelsen (Fn. 5), 5.
7
Vgl. W. Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, 1993, 275ff. (Marx), 328f. (Durkheim); zu den
„klassischen Ansätzen“ der Rechtssoziologie vgl. auch N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, 10ff. (mit
der Reihung K. Marx, H. S. Maine, E. Durkheim, M. Weber, T. Parsons).
8 Vgl. den Bericht von W. Gephart, Das Collagenwerk, RG 3 (2003), 111ff., 113, 114 (mit dem Hin-
weis, dass das überlieferte Manuskript keinen Titel trägt).
9
Vgl. dazu K. Quensel/H. Treiber, Das „Ideal“ konstruktiver Jurisprudenz als Methode, Rechtstheorie 33
(2002), 91ff., 98, mit der die Sache komplizierenden Bemerkung, dass Weber die soziologische Be-
griffsbildung geradezu aus dem Geiste der Jurisprudenz konzipierte.
10 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 181; zur Methodologie der Weberschen Rechts-
soziologie näher Quensel/Treiber (Fn. 9).

2
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I. Auftritt einer Selbstbeschreibungsformel

des Rechts. Wie Kelsen schrieb auch Weber der Methode eine gegenstandskonstituierende Kraft zu, d. h.
die Methode erzeugt hier die Wirklichkeit, die sie beschreibt; deshalb leitete auch Weber die Heterogenität
juristischer und soziologischer Probleme aus der Unterschiedlichkeit ihrer „Erkenntnisobjekte“ ab. Damit
navigierte Weber die Rechtssoziologie zwar nah an das methodologische Fahrwasser des Neukantianismus
heran; dennoch darf man seine Position nicht mit dem soziologischen Naturalismus eines Kelsen ineins-
setzen. Für die reine Rechtslehre bestand ein unüberbrückbarer methodologischer Gegensatz zwischen ju-
ristischer und soziologischer Methode: Rechtssoziologie referierte auf das tatsächlich Gegebene, die Welt
des Seins, in der die Dinge in einem naturnotwendigen Kausalzusammenhang miteinander verknüpft
waren, während die Rechtswissenschaft als Analytik von Sollensordnungen etwas davon vollständig Ge-
trenntes behandelte.11 Dagegen ging es Weber gerade um die soziologische Analyse der Einheit der Diffe-
renz von Normen und Fakten, um die Erkundung der normativen Kraft faktischen Verhaltens und umge-
kehrt um Einblicke in die Formalisierungs- und Ordnungsleistungen, die das formal-rationale Recht für
die moderne (liberale) Gesellschaft erbrachte. Zwischen beiden Ebenen, zwischen ideellem Gelten-Sollen
und faktischen Bestimmungsgründen menschlichen Handelns, existierten daher für Weber – wiederum im
Gegensatz zu Kelsen – mannigfache Vermittlungen und Überlappungen. Solche Zusammenhänge akzen-
tuierte Weber etwa im Traditionsbegriff. Tradition hieß Orientierung am Gewohnten, an dauernden fakti-
schen Wiederholungen und Übungen, wie sie bis heute den religiösen Ritus auszeichnen, etwa den jüdi-
schen Sabbat, der immer am Freitagabend beginnt und immer bis zum Eintritt der Dunkelheit am darauf
folgenden Samstag dauert. Orientierung am Gewohnten hieß bei Weber also nicht einfach mechanische
Reaktion und passive Anpassung auf äußere Stimuli, kein „dumpfes Reagieren“, sondern Integration des
Handelnden in ein sinnhaftes Geschehen, das auf Selektionen aus anderen Möglichkeiten beruhte und in
dem kognitive (und normative) Strukturen laufend an tatsächliche Erfahrungen assimiliert wurden.12

Die Differenz zwischen juristischer und soziologischer Betrachtungsweise des Rechts 5


blieb bei Weber trotz der Anerkennung von Vermittlungen und Überlappungen zwi-
schen „Sein“ und „Sollen“ erhalten. Erst Eugen Ehrlichs Soziologie des Rechts von 1913
ebnete diese Unterscheidung ein, indem sie Rechtswissenschaft als Rechtssoziologie
und nur als solche zu begründen versuchte. Ehrlich begnügte sich nicht mit einer so-
ziologischen Aufspaltung des Rechts in seine ideelle Geltung einerseits und seinen
Einfluss auf faktisches (empirisches) Handeln andererseits (wie Max Weber). Ehrlich
setzte ganz anders an: Das Recht war in seiner Sicht ein Instrument für die faktische
Organisation des Verhaltens in gesellschaftlichen Verbänden. Recht entstand in sozia-
len Zusammenhängen und war davon nicht zu separieren: Es war „lebendes Recht“,
tatsächlich geübtes und praktiziertes Recht, und folgte der Entwicklung der gesell-
schaftlichen Erscheinungen und Einrichtungen.13 Das von Juristen auf Rechtssätze,
Rechtsbegriffe und Normensysteme gebrachte Recht, das Recht der Gerichte, das
(staatlich oder internationalrechtlich) kodifizierte Recht und das Recht der Rechtswis-
senschaft waren demgegenüber sekundäre, abgeleitete und stets notwendigerweise lü-
ckenhaft verbalisierte Erscheinungen dieses einen umfassenden Rechts. „Der Schwer-
punkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in
der Gesetzgebung noch in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst.“14

11 Vgl. nur H. Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode (1911), 1970, 5,
11 („Während die Kausalwissenschaften oder explikativen Disziplinen Naturgesetze zu gewinnen be-
strebt sind, nach denen die Vorgänge des realen Lebens tatsächlich geschehen und ausnahmslos natur-
notwendig geschehen müssen, sind Ziel und Gegenstand der normativen Disziplinen, die keineswegs
irgendein tatsächliches Geschehen erklären wollen, lediglich Normen, auf Grund deren etwas gesche-
hen soll, aber durchaus nicht geschehen muß, ja vielleicht tatsächlich nicht geschieht.“).
12
Vgl. nur S. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, 1991, 71ff., 75 (mit Rückgriff auf die Entwick-
lungspsychologie J. Piagets).
13 E. Ehrlich, Die Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), 382f.
14 Ehrlich, ebd., Vorrede; vgl. auch M. Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehr-
lich, 1967.

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§ 1. Ort und Funktion

3. Neuere Entwicklungen
6 Gegenüber diesen frühen rechtssoziologischen und rechtstheoretischen Ansätzen hat
die Rechtstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen enormen Entwick-
lungssprung gemacht. Dieser Entwicklungssprung hängt einerseits mit der Erfindung
und Entwicklung der Systemtheorie als soziologischer Rechtstheorie sowie ande-
rerseits mit der sich daran teils anschließenden, teils sich von ihr distanzierenden Kul-
tur- und Medientheorie des Rechts zusammen (dazu mehr unten, am Ende des Ab-
schnitts).
Die Systemtheorie wurde zunächst von Talcott Parsons als genuin normative Soziolo-
gie begründet und in ihren rechtstheoretischen Implikationen vor allem von Niklas
Luhmann ausbuchstabiert.15 Methodologisch gesehen macht die Systemtheorie eine
grundlegende Umschreibung des rechtstheoretischen Forschungsprogramms erforder-
lich. Startpunkt aller Operationen ist hier eine Unterscheidung, nicht, wie noch in der
frühen Rechtstheorie, „irgendeine vorauszusetzende Einheit, nicht irgendein Prinzip,
auch nicht das System als Träger (Subjekt) seiner eigenen Operationen.“16 Das Recht
wird in der Systemtheorie genauer als soziales System, als permanent laufendes Kom-
munikationssystem, gedacht und die Frage nach Grund und Wesen des Rechts durch
die Frage nach seiner Grenze ersetzt. Die zentrale Fragestellung lautet dann: Wie sieht
die Einheit des Rechts aus, wenn man diese mit systemtheoretisch-soziologischen Mit-
teln, d. h. als Unterscheidung von System (Recht) und Umwelt (Gesellschaft, d. h. an-
dere soziale Systeme) beschreibt und das Recht als ein sich selbst produzierendes und
reproduzierendes Kommunikationssystem?17
7 Der grundlegende Unterschied zur älteren Rechtstheorie und Rechtssoziologie muss
darin gesehen werden, dass die Systemtheorie (wie große Teile der Kultur- und Me-
dientheorie des Rechts) auf ein differenztheoretisches Denken in dynamischen Ver-
hältnissen umstellt. Für die Systemtheorie ist das Operieren des Rechtssystems keine
„Anwendung“ einer gegebenen Ordnung. Darin reagiert sie auf die heute weithin ge-
teilte Einsicht, derzufolge „Ordnung das Resultat von Praxis ist, nicht ihre Präsupposi-
tion.“18 Für die Systemtheorie bedeutet das: Das Recht arbeitet als informationsverar-
beitendes Entscheidungssystem, das nicht hierarchisch, sondern heterarchisch,
netzwerkartig, nachbarschaftlich und rekursiv prozessiert, d. h. das Operationen auf
Resultate von Operationen anwendet und durch hinreichend lange Wiederholung sol-
che Formen herausfiltert, die unter dynamischen Bedingungen stabil sein können.
Das System verknüpft Rechtskommunikationen „horizontal“, im Fluss der Zeit, etwa
dadurch, dass ein Gericht eine neue Entscheidung argumentativ auf vorangegangene
Entscheidungen und die Bindungen stützt, die sich aus der getroffenen Entscheidung
für weitere Entscheidungen ergeben. Diese Selbstreferentialität des Systems, seine re-
kursive Geschlossenheit, versucht die Systemtheorie seit Mitte der 1980er Jahre nicht

15
Vgl. dazu Luhmanns Selbsteinschätzung und frühe Distanzierung von Parsons in ders. (Fn. 7), 20f.
16 N. Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 17 (1986), 171ff., 176; vgl. auch
K.-H. Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft,
ARSP 1988, 218ff., 223 (an die Stelle der Einheit tritt das Prozessieren einer Unterscheidung bzw. Dif-
ferenzierung).
17 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 20; zur Bedeutung der Grenze für die Systembildung
vgl. auch D. Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005, 152ff., 156.
18
A. Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, 2006, 302.

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zuletzt im Begriff der „Autopoiesis“ (von gr. autos, selbst und gr. poiesis, herstellen, ma-
chen) abzubilden (näher Rn. 112ff., 129ff.). Im Zentrum der Systemtheorie steht
mithin die laufende Eigenstabilisierung des Rechtssystems durch die zirkuläre Verket-
tung stets flüchtiger Ereignisse (Rechtsentscheidungen, Operationen), nicht aber etwa
ein wissenschaftlich formulierter Anspruch auf normative Selbstabschließung des
Rechtssystems durch einen vermeintlich zeitstabilen „Anfang“, wie z. B. den der
Grundnorm in Kelsens Reiner Rechtslehre.
Der Sinn des rechtstheoretischen Programms der Systemtheorie liegt in der Herstel- 8
lung eines Zusammenhangs von Rechtstheorie und Gesellschaftstheorie. Es geht Luh-
mann um die Formulierung einer gesellschaftstheoretischen (soziologischen) Refle-
xion des Rechts.19 Selbstreflexion des Rechtssystems heißt hier genauer: Aufklärung
über Recht durch die Systemtheorie als universaler Gesellschaftstheorie. Die soziologi-
sche Rechtstheorie fragt nach der Einheit des Rechtssystems, nach dem Sinn des
Rechts, nach seiner sozialen Funktion etc.20 Ihre Leitfrage lautet: Warum und wozu
braucht die moderne Gesellschaft ein autonomes autopoietisches Rechtssystem? Im
Gegensatz zur rechtswissenschaftlichen Rechtstheorie will die Systemtheorie als
Rechtssoziologie weder Teil des Rechtssystems sein noch irgendwelche Botschaften
unmittelbar an dieses adressieren. Gerade Luhmanns Systemtheorie läuft nicht auf
ein rechtswissenschaftliches Forschungsprogramm hinaus. Sie legt – jedenfalls von
ihrem Selbstverständnis her – keine unmittelbar praxisrelevanten (normbildenden)
Folgerungen nahe. „Im Unterschied zu jurisprudentiellen, rechtsphilosophischen
oder sonstigen Rechtstheorien, die auf Gebrauch im Rechtssystem selbst abzielen
oder jedenfalls den dort einleuchtenden Sinn aufnehmen und verarbeiten wollen, ist
der Adressat der Rechtssoziologie die Wissenschaft selbst und nicht das Rechtssys-
tem.“21
Luhmann grenzt sein Unternehmen einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie des Rechts nach zwei 9
Seiten ab. Zum einen von den klassischen Formen der Rechtsphilosophie, die ihm zu sehr auf das Begrün-
dungsproblem des Rechts fixiert sind. Hier wird der Beitrag der Rechtstheorie ausschließlich in der Formu-
lierung einer philosophischen Außenabstützung der Rechtspraxis lokalisiert. Das läuft für Luhmann letzt-
lich auf die Suche nach Letztbegründungen hinaus, nach einer normativen Ersatzlösung für ehemals
operationsfähige Großformeln wie „Gerechtigkeit“, „Gott“ oder „Vernunft“. Andererseits will Luhmann
über die Beschränkungen einer rein für die Gerichtspraxis oder für Zwecke des praxisbezogenen Rechtsun-
terrichts betriebenen Rechtsdogmatik oder Methodenlehre hinausgehen. In beiden Disziplinen herrscht
nach Luhmann ein Vorrang methodischer vor theoretischen Fragen, da Rechtsdogmatik und Methoden-
lehre durch die praktische Notwendigkeit determiniert würden, zu tragfähigen und konsistenten (Ge-
richts-)Entscheidungen zu kommen. Demgegenüber siedelt Luhmann sein Unternehmen einer soziologi-
schen Rechtstheorie auf einer „Metaebene überdogmatischer Begrifflichkeit“ an.22
Aus dieser Theoriearchitektur folgt u. a., dass die für die neukantische und analytische Rechtstheorie (Kel-
sen, Hart u. a.) grundlegende Unterscheidung von Fakten und Normen in einer soziologischen Perspektive
entschärft wird. Für die Systemtheorie ist die Unterscheidung von Normen und Fakten eine rechtssystem-
interne Unterscheidung, mit der sich etwa Kelsens Rechtstheorie selbst dem Rechtssystem zuordnen
kann. Gerade die Unterscheidung von Sein und Sollen, die Kelsen irrigerweise einer allgemeinen im Sub-
jekt verankerten Aussagenlogik zugeschrieben hatte, kann daher in der soziologischen Rechtstheorie nicht

19 Luhmann (Fn. 17), 24; ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 419ff.
20
Diese Funktion besteht in der Bildung stabiler normativer Mechanismen (Erwartungen) zur Identifi-
zierung und Bewältigung von lokalen Konflikten.
21 Luhmann (Fn. 17), 31; vgl. aber auch die Ausführungen über strukturelle Kopplung von Rechtssozio-
logie und Rechtswissenschaft, ebd., 543f.
22
Luhmann (Fn. 19), 419.

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§ 1. Ort und Funktion

übernommen werden. Die Systemtheorie hat es – als Form der wissenschaftlichen Beobachtung des
Rechts – immer mit Tatsachen zu tun. „Es ist nur eine andere Version dieser Grenzziehung gegenüber
einer, sagen wir, ‚rechtsfreundlichen‘ Rechtstheorie, wenn wir festhalten, daß die Unterscheidung von Nor-
men und Fakten eine rechtssysteminterne Unterscheidung ist. Schon durch Ausarbeitung dieser Unter-
scheidung ordnet sich die Rechtstheorie dem Rechtssystem zu – und in es ein. Für die Wissenschaft ist
diese Unterscheidung – als Unterscheidung! – ohne Belang.“23

9a Einen Entwicklungssprung gegenüber der frühen Rechtssoziologie und Rechtstheorie haben auch die neu-
eren Kultur- und Medientheorien des Rechts gemacht. Einerseits kommen diese theoretischen Innovatio-
nen aus den Kulturwissenschaften und der Medientheorie selbst. Dafür stehen beispielsweise die Arbeiten
des Kulturwissenschaftlers und Ägyptologen Jan Assmann. Assmann hat am Beispiel von Analysen der
normativen Strukturen der antiken Welt – im Anschluss an Aleida Assmann – den Begriff des „kulturellen
Textes“ entwickelt, worunter er nicht nur das aufgeschriebene oder oral praktizierte Recht versteht, son-
dern auch solche „normativen“ und „formativen Texte“, die Äußerungen gesteigerter Verbindlichkeit ver-
breiten, wie etwa Weisheitsliteratur, Sprichwörter, Mythen und Ursprungssagen.24 Zur Kultur- und Me-
dientheorie des Rechts kann man ferner solche literaturwissenschaftlichen Unternehmen zählen, die, wie
etwa Viktoria Kahns Untersuchungen zur politischen Theologie und zur Legitimität der Neuzeit in The
Future of Illusion (2014), die mythopoetische (literarisch-imaginäre) Seite des modernen (Rechts-)Denkens
betonen.25 Andererseits hat die Kulturwissenschaft bereits explizit rechtstheoretische Reflexionen hervor-
gebracht; verwiesen sei hier nur auf Lawrence Rosen Law as Culture (2006) und auf Werner Gepharts
Recht als Kultur (2006). Ein stärker medientheoretisches Konzept hat etwa Cornelia Vismann in ihren Ar-
beiten verfolgt.26 Das sind nur ganz wenige Beispiele für eine in sich heterogene, aber doch recht breite
Strömung eines neuartigen – an Kultur, Medien und Sprache interessierten – rechtstheoretischen Den-
kens.27

9b Ein großer Unterschied zwischen Kultur- und Medientheorie einerseits und der Systemtheorie andererseits
kann darin gesehen werden, dass die Kultur- und Medientheorie das explizite geltende Recht und die mit
ihm eng verknüpften normativen und formativen Texte – im Sinne von Jan Assmann – Gewohnheiten,
Sitten, Konventionen, Ursprungsmythen etc. nicht so stark voneinander separiert, was nicht heißt, dass
sie beispielsweise den Unterschied zwischen Recht und Gewohnheit einfach ignorieren würde. Aber sie
würde immer die Einheit der Differenz betonen und auch mit Luhmanns Vorstellung einer „Autonomie“
des Rechts eher sparsam umgehen. Das Rechtssystem arbeitet nicht einfach auf der Basis einer Recht/Un-
recht-Unterscheidung, die ausschließlich über rechtsinterne (Konditional-)Programme – und nur über sol-
che – prozessiert wird. Ohne reiche kulturelle Vorleistungen kann das Recht keine effektive Handlungsko-
ordination erbringen und somit keine Ordnungsleistung. Das Recht ist also stets auf das „Andere der
Kultur“ verwiesen.28 Demgegenüber bleibt die theoretische Aufmerksamkeit in der Systemtheorie ganz
auf der Innenseite der Systemgrenze, auf der Seite der „Selbstaufrufung einer Prozedur innerhalb eines Pro-
gramms“.29 Luhmanns primäres Forschungsinteresse gilt dem „unaufhebbaren Fürsichsein“30 des Recht-
systems, nicht seiner Außenseite und seinen Außenkontakten: Es sind die Systeme selbst bzw. ihre Auto-
poiesis, die „den Geltungsrand der Bedingungen markieren, unter denen ein System wahrnimmt und
operiert“,31 während die Kultur- und Medientheorie demgegenüber gerade die Einbettung des Rechts in
einen weiteren kulturellen Rahmen und der sich in ihm abspielenden alltäglichen Erfahrungen akzentuie-
ren würde.

23
Luhmann (Fn. 17), 33.
24 Vgl. nur J. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 2000, 127.
25 Vgl. etwa auch S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, 2004; und die Aufsätze in I. Augsberg/
S.-C. Lenski (Hrsg.), Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt des Rechts, 2012.
26
Vgl. nur C. Vismann, Akten, 2000; dies., Medien der Rechtsprechung, 2011; dies., Das Recht und seine
Mittel, 2012.
27 In diesen Kontext gehören ferner: I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009; F. Steinhauer, Bildre-
geln, 2009; S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012; K. D. Lerch, Lesarten des Rechts,
2008.
28
Vgl. P. Stoellger, Über die Grenzen der Metaphorologie, 2009, 203ff.
29 N. Bolz, Ratten im Labyrinth, 2012, 46.
30 Luhmann (Fn. 19), 107; Bolz (Fn. 29), 85.
31
A. Koschorke, Wahrheit und Erfindung, 2012, 385.

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II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung

II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung

1. Beobachtung zweiter Ordnung


Seit einigen Jahrzehnten ist der Name „Rechtstheorie“ auch außerhalb der Kelsen- 10
Schule, der analytischen Rechtstheorie und der Systemtheorie gebräuchlich.32 Aller-
dings versammeln sich unter dem Titel „Rechtstheorie“ heute ganz unterschiedliche
Unternehmen, ein klares Profil ist – ähnlich wie in der zeitgenössischen Rechtssoziolo-
gie – kaum erkennbar.33 Will man über diesen Zustand hinauskommen, ist zunächst
eine genauere Lokalisierung der Rechtstheorie im Verhältnis zur Rechtspraxis unab-
dingbar. Auf dieser Grundlage lässt sich insbesondere der Eigenwert der Rechtstheorie
im Unterschied zu anderen Typen rechtsbezogener und juristischer Expertise wie etwa
anwaltlicher Beratung, Rechtsprechung (durch Gerichte), Rechtsdogmatik (an Univer-
sitäten), Rechtsvergleichung oder Rechtsgeschichte spezifizieren.34 Wenn der Begriff
„Rechtstheorie“ hier übernommen wird, dann also nicht, um unmittelbar an bereits
etablierte Konzepte wie Kelsens Reine Rechtslehre oder an Luhmanns soziologische
Systemtheorie anzuknüpfen. Vielmehr geht es darum, einen Ort im Kosmos der
Rechtswissenschaft und ihrer Institutionen zu lokalisieren und zu reservieren, an dem
sich Rechtsexpertise primär theoretischen Ansprüchen und Absicherungen verpflichtet
weiß. Ein solches Programm läuft heute eher auf eine Art Meta-Theorie hinaus, auf
eine Theorie der Theorie, vor allem auf rechtstheoretische Kommunikation über
rechtswissenschaftliche Kommunikation und die durch sie gefilterte Rechtspraxis.
Rechtstheorie ist auf einer sekundären Beobachtungsebene, einer Ebene der Beobach- 11
tung zweiter Ordnung, angesiedelt. Mit der Unterscheidung von Beobachtung erster
und zweiter Ordnung knüpfen wir an das Konzept der „Beobachtung der Beobach-
tung“ an, wie es heute etwa in der Systemtheorie und in Heinz v. Foersters second order
cybernetics gebräuchlich ist.35 „Beobachtung zweiter Ordnung“ soll dabei nichts ande-
32
Vgl. den Überblick, Eintrag „Rechtstheorie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8,
1992, 342ff.; B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 2015, 9ff.; S. Buckel/R. Christensen/
A. Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2009.
33 Seit den 70er Jahren gibt es eine Zeitschrift mit dem Namen „Rechtstheorie“. Die dort publizierten
Beiträge signalisieren, dass die Zeitschrift das Forum für ein locker geknüpftes Netzwerk verschiedener
Themen ist, eine Art Patchwork-Medium. Jedenfalls wird in der „Rechtstheorie“ zu sehr unterschied-
lichen Aspekten des Rechtsbetriebs publiziert: Juristische Methodenlehre, Rechtsinformatik und Kom-
munikationsforschung gehören ebenso zum Publikationsprogramm wie Normen- und Handlungs-
theorie oder Soziologie und Philosophie des Rechts. Ähnlich verhält es sich mit der zeitgenössischen
Rechtssoziologie. In den 70er Jahren hatte die Rechtssoziologie eher die Rolle einer Hilfswissenschaft,
sie konzentrierte sich stark auf die Beobachtung empirischer Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungs-
prozesse als Kriminalsoziologie, Richtersoziologie usw. Gegenwärtig hinterlässt die Rechtssoziologie
ein völlig unübersichtliches Bild. In der „Zeitschrift für Rechtssoziologie“ werden Themen wie „Vi-
suelle Rechtskommunikation“, „Das Ansehen von Anwälten bei Jurastudenten“ oder „Das Internet,
das Völkerrecht und die Internationalisierung des Rechts“ ebenso behandelt wie „Rechtsdogmatik als
Gegenstand der Rechtssoziologie“. Die Inhalte und die methodische Art ihrer Behandlung sind nahezu
beliebig geworden, ein disziplinärer Kanon ist nicht vorhanden.
34 Zur juristischen Expertise vgl. allg. A. Somek, Die Macht der juristischen Expertise, 2005, 399ff.
35
Luhmann (Fn. 17), 144 („Beobachtung des Beobachtens“); ausführlich zur Beobachtung (erster und
zweiter Ordnung) ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, 68ff., 85ff.; H. v. Foerster, Observing
Systems, 1981, insb. 258ff.; vgl. auch G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 28ff.;
K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 15; allg. auch
P. Fuchs, Der Sinn der Beobachtung, 2004, 11ff.; D. Baecker, Kybernetik zweiter Ordnung, 1993,

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§ 1. Ort und Funktion

res heißen, als die reflektierte Handhabung von Unterscheidungen, im Unterschied


zur Beobachtung erster Ordnung, die die alltägliche, oft auch unbewusste Handha-
bung von Unterscheidungen markiert. Im Rechtssystem ist also der professionelle
Umgang mit der Recht/Unrecht-Unterscheidung (Beobachtung zweiter Ordnung)
von der unreflektierten Rechts- oder Unrechtsbehauptung (Beobachtung erster Ord-
nung) abzugrenzen. Der Hollywood-Star, der betrunken am Steuer seines Wagen er-
wischt wird und dies durch antisemitische Äußerungen gegenüber der Polizei quittiert,
mag sich im Recht wissen (Beobachtung erster Ordnung), aber Anwälte und Gerichte
werden ihn später eines Besseren belehren (Beobachtung zweiter Ordnung). Ein sol-
cher Rechtsfall (Beleidigung eines Amtsträgers) kann freilich auch für andere, fremde
Beobachter – wie etwa für Presse und Fernsehen – von Interesse sein. Ein beliebiges
Ereignis in der Rechtspraxis kann also auf der Ebene zweiter Ordnung sowohl Gegen-
stand von rechtstheoretischen oder rechtswissenschaftlichen Beobachtungen als auch
Gegenstand von Beschreibungen ganz anderer Kommunikationszusammenhänge
werden. Das Beispiel zeigt aber bereits, dass sich der Schwerpunkt aller Rechtsopera-
tionen heute – nicht zuletzt in Form anwaltlicher Expertise – auf die sekundäre Be-
obachtungsebene verlagert hat.36
12 Das Konzept der Beobachtung zweiter Ordnung ist unauflöslich mit neueren Differenztheorien verbun-
den, mit denen so unterschiedliche Autoren wie Niklas Luhmann, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Julia
Kristeva, Jean-François Lyotard oder George Spencer Brown arbeiten. Ein benachbartes Konzept ist der
„Chiasmus“ der (französischen) Phänomenologie, in der sich Eigenes und Fremdes, Recht und Umwelt
überkreuzen, dieses Sichtreffen aber nur eine „Deckung in Differenz“, eine „partielle Koinzidenz“ erlaubt,
die sich nicht in eine Einheit überführen lässt.37 Differenz fungiert in dieser Diskussion als eine Art „Letzt-
oder Leitbegriff“ mit weitreichenden erkenntnistheoretischen Konsequenzen.38 Alle Typen rechtsbezoge-
ner Expertise setzen danach die Markierung einer Differenz voraus, d. h. Beschreibungen des Rechts sind
nicht einfach Repräsentationen von in der Welt vorhandenen Einteilungen des Seins (Ontologie), sondern
beruhen auf Unterscheidungen, etwa der Unterscheidung von Recht und Unrecht, die in einem dafür ge-
eigneten Kommunikationsmedium – z. B. dem weißen Blatt Papier, auf das man schreibt, oder der Benut-
zeroberfläche des Notebooks, mit dem man arbeitet – getroffen werden muss. Diese Art von Unterschei-
dung entzieht sich notwendigerweise der Selbstbeobachtung desjenigen, der solche Unterscheidungen
benutzt und aller anderen Beschreibungen, es sei denn, die Beobachtung wird an den Einsatz einer ande-
ren Unterscheidung gebunden, „für die dann dasselbe gilt“.39 Alles Recht und alles rechtstheoretische Den-
ken operiert auf der Grundlage eines „blinden Flecks“, einer „Paradoxie“, die die Beobachtung und Be-
schreibung des Rechts überhaupt erst ermöglicht; etwas Ähnliches hat Derrida im Begriff der différance
vor Augen, der Vorstellung einer Dauertransformation und Daueraufschiebung eines jeden (zeichenhaf-
ten) Sinns.40 Recht kann es nur im Unterschied zu Unrecht geben, aber die Frage der Richtigkeit, Begrün-
detheit oder Gerechtigkeit der Unterscheidung von Recht und Unrecht bleibt auch auf der Ebene einer

17ff. Zur historischen Genese dieses Beobachtungstypus vgl. Y. Elkana, Die Entstehung des Denkens
zweiter Ordnung im antiken Griechenland, 1987, 52ff.
36 Luhmann (Fn. 17), 403f.; Teubner (Fn. 35), 28, definiert Selbstbeobachtung gar als Fähigkeit eines Sys-
tems, „die Verknüpfung seiner Elemente nicht nur faktisch zu vollziehen, sondern die eigenen Opera-
tionen mit Hilfe der eigenen Operationen nachzuvollziehen“.
37
Vgl. dazu B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, 2002, 176ff.
38
Fuchs (Fn. 35), 11; zur Umstellung auf differenztheoretisches Denken allg. auch J. Clam, Was heißt,
sich an Differenz statt an Identität zu orientieren?, 2002; zum Hintergrund vgl. auch V. Descombes,
Das Selbe und das Andere, 1981, 161ff.
39
Vgl. auch Luhmann (Fn. 17), 215 (der den Begriff des Beobachters, desjenigen, der die Unterscheidung
trifft, sehr formal anlegt, wenn er darauf hinweist, dass der Beobachter kein Subjekt oder Mensch sei,
sondern eine „Systemstelle“.
40 Luhmann, ebd., 176; zu Derrida vgl. nur G. Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien, 2003, 25ff.,
37ff.; vgl. auch Ladeur (Fn. 35), 15f. Mit dem Begriff der „Paradoxie“ (A weil nicht-A) sollen hier Wi-

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II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung

Beobachtung zweiter Ordnung unentscheidbar: Der Hollywood-Star weiß sich im Recht, das Gericht
weiß ihn im Unrecht. Ein Gutachter erklärt das Gerichtsurteil für verfassungswidrig, das Verfassungsge-
richt hält es für angemessen. So gesehen setzt sich die Recht/Unrecht-Unterscheidung selbst voraus und
ist den Beobachtern der Rechtspraxis stets als Paradox gegeben, als etwas, das im Rechtsalltag dennoch stets
zum positiven Wert, zum Recht hin, entfaltet werden muss, weil es anders gar keine geordnete Rechtspra-
xis geben könnte (vgl. näher Rn. 132ff.).

Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung sind verschiedene Typen der rechts- 13
bezogenen Expertise auseinanderzuhalten.41 Zur sekundären Beobachtungsebene ge-
hören einerseits solche Texte, die selbst Effekte auf der operativen Ebene der Rechts-
praxis erzeugen oder erzeugen können (z. B. Gerichtsurteile, praktisches Wissen über
die sichere Honorarabrechnung, juristische Gutachten) und andererseits solche, die
eher an der Peripherie des Rechtsgeschehens angesiedelt sind (z. B. rechtstheoretische
Überlegungen über den Zerfall der Einheit des Textes). Das ist zugleich der Hinter-
grund und der rationale Kern der heute fest etablierten Unterscheidung von Rechts-
dogmatik und Rechtstheorie: In der Rechtsdogmatik werden Schrifttexte mit dem An-
spruch der direkten Einflussnahme auf den Entscheidungsbetrieb etwa der Gerichte
oder der politischen Gesetzgebung publiziert; das Recht wird Techniken der Beobach-
tung und Deutung unterworfen, in der es zu einer Art Kommentierung und Kanoni-
sierung, einer Sinnpflege des Rechts, kommt. Dazu stehen eine Mehrzahl von Medien
(Schrift, Buchdruck, Computer), literarischen Gattungen und Institutionen zur Ver-
fügung, wie z. B. der anwaltliche Schriftsatz, das Gutachten, die (wissenschaftliche)
Urteilsanmerkung, die rechtspolitische Empfehlung, der Juristentag oder – mit fließ-
endem Übergang zur Theorie – der Aufsatz in einer juristischen Zeitschrift. Von die-
sen unmittelbar praxisorientierten Typen der Rechtsexpertise sind die verschiedenen
Formen der theoretischen Behandlung des Rechts, etwa die schulförmig aufbereitete
Darstellung des Schuldrechts oder die lehrbuchartige Einführung in die Rechtstheorie,
zu unterscheiden.

2. Theorie als Lebensform (Aristoteles)


Rechtstheorie ist eine eigenständige Form von Rechtsexpertise, die sich primär theo- 14
retischen Ansprüchen verpflichtet weiß. Das Substantiv Theorie (gr. theória) leitet
sich vom griechischen Verb theórein ab. Wörtlich meint theória die Betrachtung/An-
schauung bzw. das Resultat derselben, das Wissen, das aus dem genauen Schauen
kommt. Als Label für wissenschaftliches Denken ist Theorie eine Schöpfung des grie-
chischen Philosophen Aristoteles. Dabei hatte Aristoteles nicht einfach die Tätigkeit
des unbedachten Schauens im Visier, als theória bezeichnete er vielmehr eine Lebens-
weise oder Lebensform, die sich dem genauen Schauen oder Sehen verpflichtet fühlte
und die bei genauerer Analyse etwas mit Lesen und Schreiben zu tun hatte, einem an-
spruchsvollen Umgang mit den Möglichkeiten der von den Griechen zwar nicht er-
fundenen, aber doch von ihnen perfektionierten Alphabetschrift.42 In der Nikomachi-
schen Ethik grenzte Aristoteles die theoretische Lebensweise (bios theóretikos) von der
politischen Lebensweise (bios politikos) und dem reinen Genussleben ab (bios apolaus-

dersprüche (auch Ambivalenzen) im weiten rhetorischen Sinn bezeichnet werden; vgl. dazu G. Teubner,
Netzwerk als Vertragsverbund, 2004, 80 (Fn. 47).
41 Vgl. M. Schulte, Begriff und Funktion des Rechts der Gesellschaft, 2003, 769.
42 E. A. Havelock, The Muse Learns to Write, 1986, 111; vgl. auch W. J. Ong, Orality and Literacy (1982),
2002, 27ff.

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§ 1. Ort und Funktion

tikos) und nannte diejenige Lebensform „theoretisch“, die sich ganz und gar der Be-
trachtung der Dinge verschrieb.43 Darin unterschied sich das theoretische Leben
sowohl vom politisch-praktischen Leben (bios politikos), dessen Zweck darin bestand,
nach öffentlicher Anerkennung, Ehre oder Aufmerksamkeit zu streben, als auch vom
bios apolaustikos, bei dem der reine Genuss – Essen, Trinken, Sexualität usw. – im
Zentrum stand.
15 Wenn Aristoteles Theorie und Praxis unterscheidet, heißt das also nicht, dass Theorie
für ihn etwas Unpraktisches oder gar Weltfremdes gewesen wäre und mit der sozialen
Realität nichts zu tun gehabt hätte. Im Gegenteil, für Aristoteles war das theoretische
Leben so aktiv oder passiv, so weltzugewandt wie jede andere Lebensweise auch. Der
bios theóretikos unterschied sich von den anderen Lebenspraxen aber durch eine höher-
wertige Zielsetzung, nämlich dadurch, dass sich das Leben hier der – an anderen Or-
ten der Gesellschaft (polis) nicht so ohne weiteres gegebenen – Möglichkeit der Erzeu-
gung gesicherter Erkenntnisse verschreiben und darin seine Vollendung und sein
Glück finden konnte.44 Die verschiedenen Zielsetzungen der drei von Aristoteles ge-
nannten Lebensformen waren für ihn also nicht gleichwertig. Das theoretische Leben
war gegenüber den Zielen anderer Lebensformen jedoch höher einzustufen, sowohl
gegenüber dem reinen Genussleben als auch gegenüber der politischen Praxis. Allein
im Theoretisieren erreichte der Mensch die höchste Stufe des Lebens, die Stufe der
Vernunft (logos). Damit artikulierte Aristoteles nur eine zu seiner Zeit zumindest unter
Philosophen allgemein verbreitete Ansicht. Schon bei Platon stand die Suche nach si-
cherem Wissen (epistéme) – im Gegensatz zu bloßem Meinungswissen (dóxa) – im
Zentrum allen Denkens und Schreibens.45 Auch für Platon stellte das theoretische Le-
ben nicht nur die vornehmste aller Lebensformen dar, sondern auch die Einzige, die
zum guten Leben führte; die Bedeutung des Strebens nach Weisheit nahm das Wort
Philosophie erst bei Platon an.46

3. Zur Funktion von Rechtstheorie


16 An der platonisch-aristotelischen Rangfolge der Lebensformen und insbesondere an
der Vorstellung der theória/philosophia als der vollkommensten aller Lebensweisen soll
hier keineswegs festgehalten werden. Rechtstheorie ist nicht vornehmer als Baurecht.
Sie ist auch keine „Grundlagendisziplin“ der Rechtswissenschaft, jedenfalls hat sie
keine prinzipielle Orientierungs- oder Kontrollfunktion für alle anderen juristischen
Fachdisziplinen. Ihre Besonderheit kann nicht im Hierarchieschema, sondern nur
funktional beschrieben werden. Die Rechtstheorie konkurriert mit anderen rechtswis-
senschaftlichen Disziplinen um adäquate Beschreibungen und Lösungen von Proble-
men, die letztlich durch die „Existenz“ einer „Rechtswirklichkeit“ aufgeworfen wer-
den. Der Sinn dieses intradisziplinären Wettbewerbs kann darin gesehen werden,
eingefahrene Kommunikationsroutinen etwa der Rechtsdogmatik aufzubrechen, sie
43
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095b 17, 1177a 12ff.
44 Vgl. nur Aristoteles, ebd., 1094b 19. Das setzt selbstverständlich Muße und damit Entlastung von den
Mühen täglicher Arbeit voraus, ist also ein aristokratisches Konzept.
45
Platon, Politeia 476 a–480a; ders., Theaitetos 187b.
46
Vgl. nur J. Brunschwig/G. R. Lloyd (Hrsg.), Das Wissen der Griechen, 2000, 39. Platons und Aristo-
teles’ Konzeption unterschieden sich allenfalls darin, dass Theorie und Praxis bei Platon enger als bei
Aristoteles miteinander verknüpft waren: Platon ging es eher um die Einheit der Unterscheidung von
Theorie und Praxis, Aristoteles um den Unterschied der Unterscheidung.

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durch Rechtstheorie zu irritieren und die Aporien bestimmter Kommunikationsrouti-


nen aufzuzeigen.47 Dabei verfügt die Rechtstheorie über einen hohen Freiheitsgrad. So
sind etwa „praktische Zwänge“ für die Rechtstheorie kein Grund, überkommene Prä-
missen nicht zu hinterfragen, wobei sich die Rechtstheorie bei dieser Arbeit nicht nur
in der Rechtsordnung etablierter Argumente bedient, sondern auch Erkenntnisse
anderer Disziplinen aufgreift und einbezieht, etwa solche der Sprachphilosophie,
Linguistik, Kulturtheorie, Medientheorie, Literaturtheorie, Kybernetik, Evolutions-
theorie, Soziologie, Psychologie oder Neurophysiologie. Über eine Art „Schnittstellen-
management“, als „Grenzgänger“, hält die Rechtstheorie Kontakt zu allgemeinen Ent-
wicklungen im Wissenschaftsbetrieb, reflektiert und prüft dessen Innovationen auf
Übertragbarkeit und bietet die dabei gewonnenen Ergebnisse Rechtsdogmatik, Me-
thodenlehre, Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsvergleichung und damit letzt-
lich auch der Rechtspraxis zur Weiterverarbeitung an.48 Damit bleibt die Rechtstheo-
rie – wenn auch vielleicht nicht so unmittelbar und direkt wie Rechtsdogmatik oder
Methodenlehre – an der Reflexion der Rechtspraxis beteiligt.
Damit widersetzen wir uns insbesondere dem Versuch, die theoretischen Komponen- 17
ten der Rechtswissenschaft außerhalb ihrer selbst zu lokalisieren. Im 19. Jahrhundert
hatte etwa Hegel in Auseinandersetzung mit Hugo (und Savigny) die wahre und echte
Rechtswissenschaft in der Philosophie ausfindig gemacht.49 Auch Luhmanns schema-
tische Differenzierung zwischen Rechtssoziologie, die für das Wissenschaftssystem ge-
schrieben wird, und juristischer Dogmatik, die an die Entscheidungspraxis der Ge-
richte und einen eher stupiden Ausbildungsbetrieb adressiert ist, läuft letztlich darauf
hinaus, Rechtstheorie ausschließlich der Philosophie oder Soziologie vorzubehalten.50
47
Ähnliche Bestimmungen etwa bei C. Vismann, Verfassung nach dem Computer, 2006/2007, 111 (mit
der zutreffenden Bemerkung, dass die Funktion der Rechtstheorie darin liege, sich an die Dogmatik zu
adressieren, Aporien aufzuzeigen, im Sinn der Systemtheorie Irritationen der Auslegungsroutinen zu
erzeugen); Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Fn. 32), Einleitung, IX („Theorie im Recht thront nicht
über der Rechtspraxis, sondern steckt mitten drin. Sie liefert nicht Versatzstücke für Sonntagsreden bei
Gerichtsjubiläen, sondern ist auf Praxis ausgerichtet. Wenn Theorie es ernst meint, beleuchtet sie die
blinden Flecke der Dogmatik und verweist auf konzeptionelle Kontingenzen.“). Zum Begriff der
„Kommunikationsroutine“ M. Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007.
48 Näher T. Vesting, Die Medien des Rechts, Bd. I, 2011, 38ff.; ähnlich I. Augsberg, Informationsverwal-
tungsrecht, 2014, 296ff. (dort für das Verhältnis von Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft);
ähnlich die Konzeption von R. Dreier, vgl. nur J. Sieckmann, Begriff und Gegenstand der Rechtsphilo-
sophie bei Ralf Dreier, 2005, 3ff., 5ff. („Grenzpostendisziplin“). Ein anderes Konzept bei Jestaedt
(Fn. 3), 69ff., von dem ich den Begriff des „Schnittstellenmanagements“ übernehme. Jestaedt spricht –
ähnlich wie hier – von Rechtstheorie als „Meta-Disziplin“. Er will die Rechtstheorie aber vornehmlich
negativ als „firewall“ oder „Virenschutz“ gegen eine „unkontrollierte interdisziplinäre Überwältigung
der Rechtswissenschaft“ einsetzen, um Rechtstheorie und Rechtsdogmatik auf dem Stand Hans Kelsens
(1881–1973) einzufrieren.
49 Vgl. nur G. W. F. Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in
der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Wissenschaften (1802/03), 1970,
510; ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I (1817), 1971, 173.
50
Nach Luhmanns Schematisierung – vgl. insbesondere ders. (Fn. 17), 499 – werden die „großen Sinn-
fragen“ des Rechts, Themen wie Einheit, Funktion und Autonomie des Rechtssystems, ausschließlich
in den Reflexionstheorien behandelt. Das sichert ihnen den Status der „Sonderaufgabe“ der Selbstbe-
schreibung des Rechtssystems. Entscheidungs- oder anwendungsbezogene Theorien, wie etwa Theo-
rien über die Irrelevanz von Motivirrtum beim Vertragsschluss, werden dagegen als „normale juristische
Theorien“ bezeichnet. Beide Ebenen seien weitgehend voneinander isoliert, Übergänge nur an relativ
wenigen Punkten zu beobachten, etwa im Fall des Konnexes von Freiheit/subjektivem Recht/Klagebe-
fugnis.

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Eine solche Position ist aber letztlich nicht haltbar, zumindest nicht für die kontinen-
taleuropäische Rechtstradition.51 Schon das römische Zivilrecht nutzte allgemeine
wissenschaftliche Entwicklungen. Dasselbe gilt für die humanistische Jurisprudenz im
Übergang zur Neuzeit, und auch die im 17. und 18. Jahrhundert aufkommende Idee
eines systematischen Rechts, wie sie sich in Deutschland im rechtswissenschaftlichen
Positivismus und im BGB manifestierte (und heute noch immer nachwirkt), wäre
ohne Anleihen beim naturphilosophischen Systemdenken nicht möglich gewesen. An
dieser laufenden Kontaktsuche zu Theorieentwicklungen außerhalb der Rechtswissen-
schaft im engeren Sinn wird hier festgehalten. Damit entzieht sich die Rechtstheorie
einer abschließenden disziplinären Festlegung und Zuordnung, sie bleibt ein „Grenz-
gänger“, aber ein solcher, der sein „Publikum“ nicht nur in fachübergreifenden theore-
tischen Auseinandersetzungen und Diskussionen, sondern auch in der Rechtspraxis
sucht.52
18 Rechtstheorie ist freilich nicht unmittelbar auf die Sichtung, Ordnung und Bearbeitung des gegebenen
Rechtsstoffs bezogen.53 Wer dieses Buch gelesen hat, wird hoffentlich mehr über Recht wissen als vorher
und Studienanfänger werden hoffentlich eine genauere Vorstellung davon haben, worauf sie sich einlassen,
wenn sie Jura studieren. Die Rechtstheorie transportiert für den Ausbildungsbetrieb durchaus einen Wert,
den keine andere rechtswissenschaftliche Disziplin ersetzen kann: die Erfahrung theoretischer Reflexion,
man könnte auch sagen, die „Erschließung eines Ganzen in der Gedankenarchitektur, deren Weite und
Subtilität“54 für Studienanfänger nicht nur eine Bereicherung, sondern auch ein Vorteil sein kann, weil
diese Weite und Subtilität dazu beitragen können, einen Überblick über einzelne Fallkonstellationen hin-
weg zu entwickeln, der schließlich auch bei der Lösung von Rechtsfällen helfen kann. Ein solches Projekt
mag heute eher Außenseiterstatus haben und an der Universität auf ein für Theorie im Allgemeinen und
Rechtstheorie im Besonderen wenig aufgeschlossenes „Lernmilieu“ treffen. Aber es gab schon immer und
gibt noch immer die andere Seite der Suchenden und Reflektieren-Wollenden, der Wißbegierigen und Bü-
cher-Lesenden, die Welt des jungen Jurastudenten und späteren Archäologen Ludwig Curtius etwa, der
1894, beim Anblick der Eingangshalle der Münchner Universität, eine Art „glücklichen Rausch“ empfand
oder – aktueller – die Welt der Charlotte Simmons, deren Selbstbehauptung gegen die ernüchternden Er-
fahrungen in einer US-amerikanischen Elite-Universität Thomas Wolfe in seinem Roman Charlotte Sim-

51
Auch für Luhmann (ebd.), 61, 80, setzt die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen Rechtssys-
tems voraus, dass es kontinuierlich (nicht nur gelegentlich) auf der Ebene zweiter Ordnung operieren
kann. Nur hier gewinne es „adäquate Komplexität“. Wenn aber das System erst durch eine sekundäre
Beobachtungsweise geschlossen wird, kann es sich – auch operativ – nicht vollständig von wissenschaft-
lichen Beobachtungen in der Weise abkoppeln, wie Luhmann Theorie und Praxis trennt. Andernfalls
hätte sich das westliche („okzidentale“) Recht niemals als autonome Ordnung ausdifferenzieren kön-
nen. Das zeigt auch die Problematik von Luhmanns funktionaler Differenzierungstheorie. Es ist doch
sehr fraglich, ob das Rechtssystem ohne Internalisierung des Wissenschaftscodes (wahr/falsch) aus-
schließlich auf der Grundlage der Differenz Recht/Unrecht erfolgreich in der Realität operieren kann
(vgl. auch § 4 III).
52
Vgl. auch G. Teubner, Coincidentia oppositorum, 2004, 18, der Rechtstheorie als Reflexion der Rechts-
praxis von Rechtssoziologie als wissenschaftlicher Beobachtung des Rechts unterscheidet, aber zugleich
für „strukturelle Kopplung“ von Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft, für „soziologische Juris-
prudenz“, plädiert. Das kommt dem hier verfolgten Anliegen nahe, nur halte ich daran fest, dass
Rechtstheorie nicht auf die Recht/Unrecht-Unterscheidung – mit Notwendigkeit zur Rechts- und
nicht zur Unrechtstheorie – verpflichtet werden kann. Das ist nur als Rechtsdogmatik möglich. Des-
halb ist mit dem Gebrauch des Wortes „Theorie“ der Horizont der binären Codierung des Rechtssys-
tems immer schon überschritten und die Rechtstheorie notwendigerweise genauso Teil des Wissen-
schaftsdiskurses wie die Rechtssoziologie. Unter dem Strich bleibt immer ein „notwendiges Ding der
Unmöglichkeit“.
53 So die Definition von Rechtsdogmatik bei H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, 661.
54 So eine auf die Philosophie gemünzte Formulierung von D. Henrich, Die Philosophie im Prozeß der
Kultur, 2006, 14.

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III. Abgrenzungen und Überlappungen

mons mit kaum zu überbietender Plastizität beschrieben hat: als Differenz zwischen Wissbegier auf der
einen und Dauerkonsum auf der anderen Seite, als Versuch, dem bios theoretikos auch heute einen Platz zu
lassen, im Unterschied zum Leben eines Frat-Boys wie Hoyt Thorpe, dessen Interesse an Universität und
Wissenschaft sich in Trinkgelagen und „Frischfleisch“ erschöpft.

III. Abgrenzungen und Überlappungen

1. Zur Rechtsdogmatik
„Rechtsdogmatik“ in einem sich von Rechtswissenschaft und Rechtstheorie abgren- 19
zenden Sinn ist eine relativ junge Erscheinung. Rechtsdogmatik ist wie Rechtstheorie
ein Effekt des Auseinanderziehens von Beobachterperspektiven, Resultat der Ausdiffe-
renzierung rechtsbezogener Expertisen auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ord-
nung. Während sich mit der Rechtstheorie seit den 1920er Jahren das Bedürfnis nach
einer Reflexion des Rechts unabhängig von der Lösung konkreter Fälle und Rechts-
probleme (in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen) zu artikulieren begann, ist
in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts im Gegenzug das Bedürfnis nach einer dis-
ziplinären Selbstvergewisserung von Aussagen über praktiziertes Recht entstanden.
Die Karriere von Rechtsdogmatik ist nicht zuletzt durch die Bedürfnisse eines an der
Gerichtspraxis orientierten Universitätsunterrichts ausgelöst worden,55 vor allem im
Privatrecht, wohingegen das öffentliche Recht bis heute stärker interdisziplinär orien-
tiert ist. Jedenfalls hat das öffentliche Recht auf Grund seiner anhaltenden staatswis-
senschaftlichen Orientierung, seiner Nähe auch zum politischen Betrieb und zur öf-
fentlichen Verwaltung, nie einen ähnlich einheitlich dogmatischen Kanon entwickelt
wie das Privatrecht.
Während lange Zeit die Meinung vorherrschte, dass Juristen das Konzept einer Dogmatik – vermittelt 20
über Christian Wolff – von den Theologen übernommen hätten, wird seit einer Arbeit von Herberger die
Nähe der juristischen Dogmatik zur „medizinischen Wissenschaftstheorie“ und den darin angelegten refle-
xiven Aspekten herausgestellt.56 Dieser Streit mag in einer Einführung zur Rechtstheorie auf sich beruhen.
Festzuhalten aber bleibt: Selbst wenn sich das griechisch-lateinische Wort dogma (Glaubens- oder Lehrsatz)
oder sein Plural dogmata in der einen oder anderen Quelle der römisch-rechtlichen Jurisprudenz nachwei-
sen ließe, so werden Bezeichnungen wie „Rechtsdogmatik“ oder „juristische Dogmatik“ dort doch nir-
gends in einer von Jurisprudenz unterschiedenen Bedeutung gebraucht. Das römische Juristenrecht
nannte sich selbst iuris prudentia, Cicero spricht manchmal von praeceptae (Regeln, Voeschriften). Das rö-
mische Recht des Mittelalters kennt ebenfalls keine gepflegte dogmatische Semantik, kein ausdrücklich
unter dem Namen „Rechtsdogmatik“ gesammeltes und als bewahrenswert angesehenes Wissen.57 Auch
das 19. Jahrhundert machte keinen nennenswerten Unterschied im Gebrauch solcher Formeln wie Rechts-
wissenschaft (im Sinne praktischer Jurisprudenz) und Rechtsdogmatik. In einem solchen eher weiten und
unspezifischen Sinn verwendet beispielsweise Rudolf v. Jhering den Begriff Dogmatik in dem von ihm
1857 gegründeten Unternehmen der Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Pri-
vatrechts. Und wenn etwa Carl-Friedrich v. Gerber in der Vorrede zu seinen Grundzügen eines Systems des
deutschen Staatsrechts von 1865 das „Bedürfniss einer schärferen und correcteren Präcisirung der dogmati-

55
Wichtige Beiträge dazu sind u. a. F. Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, 1970,
311ff.; W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung,
VVDStRL 30 (1972), 245ff.; N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974.
56
Vgl. dazu den Eintrag „Rechtsdogmatik“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992.
57
Deshalb spricht beispielsweise F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1996, 49, von einem
Geist der Dogmatik, der in einer „Verknüpfung von Autoritätsglauben und intellektuellem Formalis-
mus“ (54), in einem „Erkenntnisverfahren, dessen Bedingungen und Fundamentalsätze durch eine Au-
torität vorwegbestimmt sind“, fundiert gewesen sein soll.

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§ 1. Ort und Funktion

schen Grundbegriffe“ einforderte,58 hätte er auch von rechtswissenschaftlichen oder juristischen Grundbe-
griffen sprechen können, ohne dass dies an der Sache irgendetwas geändert hätte. Auch für Paul Laband
war Rechtsdogmatik ein Synonym für (positivistische) Rechtswissenschaft.59 Noch 1932 ordnete Gustav
Radbruch die Rechtsdogmatik in eine übergreifende „Logik der Rechtswissenschaft“ ein.60

21 Es lassen sich grob zwei Bedeutungsschichten von Rechtsdogmatik unterscheiden, auch


wenn das Selbstbild der Rechtsdogmatik gegenwärtig alles andere als klar ist.61 Rechtsdog-
matik kann einerseits an der Lösung von Fallproblemen orientiert sein und von hier ausge-
hend an der schriftlichen Formulierung, Präzisierung und Verfeinerung von Rechtsregeln
und Rechtsbegriffen arbeiten, wie etwa an der gegenseitigen Abgrenzung und Bestim-
mung von Begriffen wie Eigentum und Besitz, Vertrag und unerlaubte Handlung, Ver-
waltungsakt und Realakt, Ermessen und Beurteilungsspielraum; dabei kommt der
Rechtsdogmatik nicht zuletzt die in der römisch-rechtlichen Tradition ausgebildete Fähig-
keit eines unterscheidungsgeleiteten (diairetischen) Denkens zu Hilfe. Ziel der Dogmatik
ist es dann, die Bedeutung von an Fällen gewonnenen Regeln und Begriffen sprachlich so
zu fixieren, dass sie bei ihrer Wiederverwendung in anderen Fällen (und Kontexten) so we-
nig wie möglich problematisiert werden müssen. Erweist sich die Bewertung der Prü-
fungsleistung der Kandidatin Stegner im juristischen Staatsexamen am 13. Oktober 2015
als gerichtlich nur beschränkt überprüfbar, gilt dies auch für die Leistungen aller anderen
Kandidaten in diesem Termin und die am nächsten Tag folgende juristische Staatsprü-
fung. Rechtsdogmatik erzeugt aus als richtig erkannten Problemlösungen wiederholt
handhabbare Begriffe und Regeln und sichert diese über möglichst stabile Auslegungsrou-
tinen gegen grenzenloses Hinterfragen ab. Sie verkürzt wie eine mathematische Funktion
oder ein mathematisches Integral Erfahrungen, „so daß sie nicht immer neu durchgerech-
net werden müssen“.62 Mit Josef Esser könnte man auch formulieren, dass die Rechtsdog-
matik Stoppregeln für Begründungen suchendes Räsonieren aufbaut.63 Geht man von
diesem Typus aus, kann man Rechtsdogmatik als Gesamtausdruck für die Notwendigkeit
eines entscheidungsgeleiteten begrifflichen Argumentierens im Recht bezeichnen, und ge-
nau so wird Dogmatik heute auch meistens verstanden.
22 Ursprünglich war der Begriff der Rechtsdogmatik allerdings weitaus anspruchsvoller
konfiguriert. Rechtsdogmatik erstreckte sich nicht nur auf fallorientiertes Lernen und
auf einen Beitrag zur praktischen Bewältigung von Fallproblemen durch Gerichte, wie
es auch im antiken römischen Recht der Fall war und bis heute im Common law im
Vordergrund steht. Rechtsdogmatik ist seit der historischen Rechtsschule des 19. Jahr-
hunderts unauflöslich mit dem Systembegriff des neuzeitlichen Weltbildes verknüpft,
d. h. der Vorstellung, dass sich der gesamte Rechtsstoff hierarchisch abschichten, nach
logischen Gesichtspunkten systematisieren und auf einen Anfangsgrund, ein Prinzip,
zurückführen lässt. Bezugspunkt ist hier eine „rationalistische Sinnreferenz“,64 die

58 C. F. v. Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865, VII.


59
P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 1 (1911), 1964, Vorwort, IX; ders., Das Staats-
recht des Deutschen Reiches Bd. 2 (1911), 1964, 178.
60
G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, 106.
61 Vgl. aber die neueren Bestandsaufnahmen bei C. Bumke, Rechtsdogmatik, 2014, 641ff. (m.w.N.);
M. Jestaedt, Wissenschaft im Recht, 2014, 1ff.; Pöcker (Fn. 47), 153ff.; Schulte (Fn. 41), 767ff., 770f.
62
F. Wieacker, Diskussionsbeitrag, 1989, 83, 84; an anderer Stelle spricht Wieacker auch von einer
„Kunstlehre juristischer Problemlösungen“.
63 J. Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts,
1979, 20ff.
64
Pöcker (Fn. 47), 51ff. („rationalistische Regel-Anwendungs-Vorstellung des Rechts“).

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III. Abgrenzungen und Überlappungen

Vorstellung der Erzeugung rechtlicher Verbindlichkeit durch Rechtsanwendung und


Subsumtion innerhalb einer geschlossenen Ordnung von Rechtsätzen. Dazu wird zu-
nächst ein (lückenloser) Ordnungszusammenhang für das Auslegen einzelner Rechts-
sätze „construiert“, um sodann Falllösungen über bestimmte Auslegungsmethoden
(Verfahren) wie z. B. den Analogieschluss aus dem System deduzieren zu können.
Hier geht es eher um die Notwendigkeit systematischen Argumentierens im Recht.
Beide Aspekte der Rechtsdogmatik, sowohl begriffliches als auch systematisches Argu-
mentieren, machen den Kern der westlichen (europäischen) Rechtskultur aus; deren
Speicherkapazitäten müssen im Alltagsbetrieb etwa der staatlichen Gerichte vorausge-
setzt werden, nicht aber könnte der Informationsreichtum der Rechtsdogmatik durch
die viel abstrakter ansetzende Rechtstheorie ersetzt werden. Auch diese Überlegung
zeigt noch einmal, warum Rechtstheorie nicht über der Rechtsdogmatik thront, son-
dern mit ihr auf einer horizontalen Ebene kommuniziert und konkurriert.
Die Regelbildung entlang der Fluktuanz der Fälle und der durch sie gespeisten Erfahrungen ist der eigent- 23
liche Kern der Rechtsdogmatik. Darin unterscheidet sich Rechtsdogmatik auch von juristischer Metho-
denlehre, in der es um die Suche nach abstrakten und allgemeinen Verfahren, um den richtigen Weg (gr.
hodos) zum geltenden Recht – wiederum mit einer Konzentration auf die gerichtliche Fallpraxis – geht. Die
Rechtsdogmatik betont den lokalen Charakter juridischer Rationalität, das Lernen von Fall zu Fall und
agiert im Hinblick auf abstrakte Regelbildungen, z. B. im Sinn allgemeiner Verfahren der Auslegung von
Texten, eher zurückhaltend. Non ex regula ius sumatur, sed ex iure, quod est, regula fiat. Nicht aus einer Regel
heraus soll das Recht genommen werden, sondern aus dem Recht, wie es ist, soll die Regel gemacht wer-
den – so lautet eine markante Spruchformel des römischen Rechts.65 Erst die historische Rechtsschule
transformierte das römische Fallrechtsdenken in ein allgemeines, systematisches Verfahren zur Interpreta-
tion von Rechtstexten, wie sie Savigny unter anderem im Rahmen der Rechtsquellenlehre als „Elemente
der Auslegung“ vorgestellt hat.66 Eine allgemeine Absicherung der (authentischen) Interpretation von
Rechtstexten verfolgt noch die Hermeneutik, zwar nicht mehr im Sinne eines auf Einheit und Wider-
spruchsfreiheit angelegten Verstehens eines zuvor logisch konstruierten Systems, aber doch durch Bezug-
nahme eines jeden Interpretationsaktes auf ein „gemeinsames Vorverständnis“, das wie das System des
Rechtspositivismus als selbsttragend vorausgesetzt wird.
Der kontinentaleuropäische Typus systematisierender Rechtsdogmatik funktioniert problemlos, so lange
die Dogmatik sich ihrer eigenen rechtsschöpferischen Kraft bewusst ist. Das war bis in das späte 19. Jahr-
hundert sicherlich der Fall. Da die Veränderungen im und außerhalb des Rechtssystems, etwa die im Ver-
hältnis zum 19. Jahrhundert enorm gewachsene Gerichts- und Gesetzgebungstätigkeit, in der heutigen
Rechtsdogmatik aber nicht immer hinreichend reflektiert werden, läuft diese Gefahr, die Rechtswissen-
schaft auf ein totes Gleis umzuleiten. Zumindest mehren sich in jüngerer Zeit die Zeichen, dass es der tra-
dierten Rechtsdogmatik schwerfällt, die gewachsene Außensteuerung des Rechts durch die staatliche Ge-
richtsbarkeit und das politische System hinreichend zu reflektieren; bisweilen vermittelt die Dogmatik
sogar den Eindruck, als wolle sie die Eigenleistungen begrifflichen und systematischen Argumentierens
einfach an die Rechtsprechung oder den Gesetzgeber zurückspielen. Die Unzulänglichkeiten der aus einer
solchen Haltung resultierenden Expertise werden heute beispielsweise im öffentlichen Recht im Umgang
mit der kasuistischen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs
sichtbar. Der Grundrechtsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die die Grundrechte zu sehr aus
einer vermeintlich liberalen, aber in Wirklichkeit staatszentrierten Perspektive beobachtet, an deren Ende
eine häufig unstrukturierte Abwägung steht, begegnet die Grundrechtsdogmatik häufig mit scharfer Kri-
tik, aber selten mit eigenen methodologischen Überlegungen.67 Und im Europarecht lässt sich ein
„EuGH-Glossatorentum“ beobachten,68 dessen Eigenständigkeit sich darin erschöpft, Urteile des Europä-
ischen Gerichtshofs wiederzugeben und abzuwarten, ob anstehende Probleme in der nächsten Entschei-
65
Digesten 50. 17. 1 (Übersetzung von S. Lepsius); dazu P. Stein, Regulae iuris, 1966.
66
Savigny (Fn. 1), 213.
67 Vgl. dazu die Beiträge in T. Vesting/S. Korioth/I. Augsberg (Hrsg.), Grundrechte als Phänomene kol-
lektiver Ordnung, 2014; K.-H. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004, 80f.
68
R. Wahl, Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, JZ 19 (2005), 916, 917.

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§ 1. Ort und Funktion

dung gelöst werden. Auch in solchen Zusammenhängen kann die Rechtstheorie keineswegs alle Probleme
lösen. Sie kann aber helfen, die Dogmatik auf Distanz zu bringen und die grundlegenden Verschiebungen
in der Architektonik des Rechtssystems deutlich zu machen, d. h. die Rechtsdogmatik an die stillschwei-
genden Prämissen ihrer Kommunikationsroutinen, an die sozialen und historischen Bedingtheiten ihrer
Begriffe und Vorstellungen, zu erinnern.

2. Rechtsphilosophie
24 Rechtsphilosophie etablierte sich in Deutschland als Fachdisziplin aus einer Konkur-
renz mit der ungefähr gleichzeitig entstehenden Rechtswissenschaft. Während der Ge-
brauch des Wortes „Rechtswissenschaft“ bereits im späten 18. Jahrhundert in Mode
kam, wurde das Wort „Rechtsphilosophie“ erst um die Jahrhundertwende, ja eigent-
lich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, verwendet.69 Kant sprach um
1800 noch von „Rechtslehre“, Hegel etwa 20 Jahre später von der „Philosophie des
Rechts“ bzw. – gegen Hugo (und Savigny) gerichtet – von „philosophischer Rechtswis-
senschaft“.70 Kantische Rechtslehre und hegelsche Rechtsphilosophie waren ihrerseits
Teil der aus dem neuzeitlichen (formalen) Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts
hervorgegangenen Diskursformation, die mit der Theorie des Gesellschaftsvertrages
und Namen wie Hobbes, Locke, Smith, Rousseau u. a. verbunden ist. Rechtsphiloso-
phie kann daher nicht von der aus dem Naturrecht übernommenen Frage nach der
richtigen Staats- oder Gesellschaftsordnung getrennt werden. Auch die deutsche idea-
listische Rechtsphilosophie von Kant bis Hegel ist ein intellektuelles Unternehmen im
Prozess der Durchsetzung liberaler Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Freiheit,
Gleichheit vor dem Gesetz etc., die gegen die traditionale (altständische) Adelsgesell-
schaft mit ihren Privilegien und Ausnahmen gerichtet werden. Das unterscheidet die
Rechtsphilosophie von der Rechtstheorie, die erst in den 1920er Jahren, nach einer
ersten Konsolidierung der modernen (liberalen) Gesellschaft als „Massengesellschaft“
entstanden ist und die ihren Gegenstand, das Recht, von Anfang an als liberales Sys-
tem mit Eigentums- und Vertragsfreiheit, Grundrechten, Gesetzesvorbehalt, Verfas-
sung etc. voraussetzen konnte.
25 Aufgrund ihrer historischen Entstehungsbedingungen ist die Rechtsphilosophie bis
heute stark an der umfassenden Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft orien-
tiert, zu der das Recht beitragen soll. Das unterscheidet sie etwa von den auf weniger
Emphase angelegten Formen, wie sie in Anwaltspraxen, Gerichten, Rechtsabteilungen
von Unternehmen, in der öffentlichen Verwaltung und in Gesetzgebungsorganen ge-
pflegt werden. Zwar war die Rechtsphilosophie in ihrer Gründungsphase durchaus
auch am kodifizierten Recht oder einzelnen Rechtsinstituten wie Eigentum, Vertrag,
Eherecht, Rechtspflege etc. interessiert. Autoren wie Kant und Hegel entwickelten
ihre Rechtsphilosophien aber nicht aus in der Erfahrung vorkommenden Fällen, son-
dern abstrakt aus allgemeinen Prinzipien, aus „metaphysischen Anfangsgründen“
(Kant) bzw. aus einer sich über die Stufen des abstrakten Rechts, der Moralität und
der Sittlichkeit realisierenden „Idee“ (Hegel). Recht und Moral waren hier keineswegs
immer klar voneinander getrennt, und noch heute geht es der Rechtsphilosophie sehr
oft um eine staatsphilosophische bzw. moralphilosophische Fundierung des geltenden
expliziten Rechts, um dieses dann seinerseits – mit Hilfe der Rechtsphilosophie – auf
69 Vgl. Eintrag „Rechtsphilosophie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992.
70 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Werkausgabe Bd. 7, 1970, § 1; zum
Verhältnis Hegel/Hugo vgl. die Bemerkungen von J. Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, 262 Fn. 6.

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III. Abgrenzungen und Überlappungen

eine Stufe substantieller Rationalität heben zu können. Der Fluchtpunkt der Rechts-
philosophie ist letztlich eine Gerechtigkeit realisierende Gesellschaft. Dieser Flucht-
punkt mag auch für eine Rechtstheorie, wie sie hier gepflegt wird, nicht hintergehbar
sein. Im Unterschied zu einer Rechtsphilosophie, die ihr Wissen ausschließlich aus
Gedankenarchitekturen gewinnt, käme es aber darauf an, den Ort, den Kontext und
den Sprecher dieser „kommenden“ Gerechtigkeit genauer zu adressieren und darüber
hinaus die epistemologischen wie medialen Möglichkeiten und Beschränkungen ge-
nauer zu analysieren, die den Anruf eines anderen Rechts, einer anderen Gerechtigkeit
oder eines anderen Systems der Rechte rahmen.
Der ständig wiederholte Rekurs der Rechtsphilosophie auf Kant, Hegel, Radbruch 26
und all die anderen 5-Sterne-Helden der eigenen Fachtradition hat nicht zuletzt Aus-
wirkungen auf das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur Rechtswissenschaft. Die
Rechtsphilosophie sieht sich selbst als Teil der Philosophie. Noch Radbruch, der die
letzte klassische Rechtsphilosophie vorgelegt hat, geht ganz selbstverständlich davon
aus, dass „Rechtsphilosophie ein Teil der Philosophie ist“.71 Das ist auch nur folgerich-
tig, denn gerade in der deutschen idealistischen Philosophie war die Philosophie für
die Formulierung der Einheit und Absolutheit des Wissens und der sie tragenden Prin-
zipien verantwortlich. Darin liegt insofern ein wichtiger Unterschied zur Rechtstheo-
rie, als diese zur Selbstbeschreibung (nicht aber: Fremdbeschreibung) des Rechtssys-
tems beitragen will und daher – institutionell gesehen – auch an die juristischen und
nicht an die philosophischen Fakultäten gehört. Jedenfalls würden wir die Rechtstheo-
rie institutionell der Rechtswissenschaft zuordnen. Der Bezugspunkt der Rechtstheo-
rie ist das praktizierte Recht und seine kulturellen Verweisungszusammenhänge, auch
wenn die Rechtstheorie als wissenschaftlich hoch angereicherte Form rechtsbezogener
Expertise enger mit geistes- und naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen kommu-
niziert als etwa die Rechtsdogmatik; als Metatheorie agiert die Rechtstheorie immer in
einem „polykontexturalen“ Milieu, zwischen Rechts- und Nachbarwissenschaften.
Rechtsphilosophie wird heute primär in zwei Varianten praktiziert. Zum einen ver- 27
steht sich Rechtsphilosophie als „Rechts- und Staatsphilosophie“. Hinter diesem
Selbstverständnis steht letztlich die aus dem 19. Jahrhundert stammende Vorstellung
des „Rechts-Staats“, demzufolge Recht und Nationalstaat eng in einem politisch-recht-
lichen System gekoppelt sind, das im Konstitutionalismus des modernen Staates, im
Verfassungsstaat, seine Einheit findet. Während die Einheit und Bindungsfähigkeit
des Rechts für die Rechtstheorie die Leistung der Rechtspraxis ist, der ständigen An-
wendung und Wiederanwendung des expliziten positiven Rechts und der dieses stütz-
enden gesellschaftlichen Konventionsbildung (vgl. Rn. 182ff.), basiert das Recht der
Rechts- und Staatsphilosophie auf einer primär politischen Abstützung. Diese Abstüt-
zung liegt in der Form der Gewalt, gedacht als politische Macht oder legitimes staat-
liches Zwangsmittel, also beispielsweise in der Existenz eines staatlichen Vollstre-
ckungsapparats, der die Durchsetzung eines streitigen Zahlungsanspruchs zwischen
zwei Privatparteien garantiert. Diese Verknüpfung von Gewalt und Recht ist durch
den Einfluss von Thomas Hobbes und John Austin auch in der anglo-amerikanischen
Rechtstheorie bekannt,72 aber nur in der deutschen Tradition ist daraus – unter dem
Einfluss der hegelschen Vergöttlichung des preußischen Staates (Staat als „Wirklich-

71 Radbruch (Fn. 60), 8.


72
Vgl. nur Hart (Fn. 4), 20ff. (Law as coercive orders).

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§ 1. Ort und Funktion

keit der sittlichen Idee“73) – eine eigene Rechts- und Staatsphilosophie geworden.
Heute wird die Rechts- und Staatsphilosophie prominent etwa von Ernst-Wolfgang
Böckenförde, Hasso Hofmann und Horst Dreier vertreten.74 Die Reflexion des Rechts
steht hier im Kontext der politischen Ideengeschichte und die interdisziplinären Kon-
takte der Rechtsphilosophie werden im Wesentlichen auf solche mit der politischen
Philosophie beschränkt,75 während kulturwissenschaftliche, medientheoretische oder
literaturwissenschaftliche Anleihen nur selten gemacht werden.
28 In der zweiten Variante von Rechtsphilosophie, der Diskurstheorie des Rechts, steht
die Abhängigkeit des Rechts von deliberativen (von lat. deliberatio, Beratschlagung,
Überlegung) Verfahren im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Hier wird die
Rechtsphilosophie tendenziell in eine Rechtsbegründungswissenschaft verwandelt,
die die bereits in Max Webers Herrschaftssoziologie aufgeworfene Frage nach der „Le-
gitimität“ des „gesatzten Rechts“ zu einem verständigungsorientierten Dauerdiskurs
zuspitzt. Recht wird hier nahezu auf Legitimation bzw. auf die demokratischen Verfah-
ren seiner Erzeugung reduziert, aus Recht und Gesetz wird Gesetzgebung, und darin
bleibt die Diskurstheorie des Rechts, obwohl sie sich selbst als eine eher institutionen-
kritische Theorie sieht, antithetisch auf Staat und Politik fixiert. Anstatt jede an einer
letzten substantiellen Einheit orientierte Begründung des Rechts abzuschneiden, geht
die Diskurstheorie des Rechts davon aus, dass das verständigungsorientierte Sprach-
handeln eine empirische Grundlage hergibt, um abschließende wissenschaftliche Aus-
sagen über die Gültigkeit oder Legitimität von Prozeduren der Erzeugung von Recht
treffen und diese als Praxis empfehlen zu können. Das läuft letztlich auf ein Lob der
„Zivilgesellschaft“ hinaus, womit nicht so sehr die Institutionen der repräsentativen
Demokratie gemeint sind, der Parteien- und Verbändestaat, sondern eher soziale Be-
wegungen aller Art (Anti-Atom-Bewegung, Frauenbewegung, Globalisierungsgegner
etc.), die als notwendiges Korrektiv zu den herkömmlichen repräsentativen Institutio-
nen angesehen werden.
29 Der intellektuelle Ziehvater der Diskurstheorie des Rechts ist Jürgen Habermas. Habermas hat vor dem
Hintergrund der von ihm in den 1980er Jahren ausgearbeiteten Theorie des kommunikativen (verstän-
digungsorientierten) Handelns eine Rechtsphilosophie entworfen, die in Faktizität und Geltung (1992)
ihre vielleicht bündigste Formulierung gefunden hat. Habermas geht es um nicht weniger als einen um-
fassenden Ansatz sowohl zur Grundlegung des Eigensinns des modernen Rechts als auch des demokrati-
schen Verfassungsstaates in einem prozeduralen Gerechtigkeitskonzept bzw. im öffentlichen Diskurs.
Auch bei Habermas wird eine enge Verknüpfung von Recht und Politik vorausgesetzt, der Unterschied
zur Staats- und Rechtsphilosophie besteht lediglich darin, dass der Einheitsanspruch nicht mehr direkt
an den Staat adressiert wird, sondern über die Idee einer Sprachgemeinschaft, die sich als „freiwillige
Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen“ verstehen kann,76 umgelenkt wird: Das Begründungs-
paradox des modernen Rechts landet letztlich zur Daueraufbereitung in der „demokratischen Öffent-
lichkeit“, während beispielsweise die Wirtschaft und die spontanen Handlungsmuster der „Privatrechts-
gesellschaft“ (Böhm) auch und gerade in ihren globalen Erscheinungsformen (Großkonzerne,
internationale Finanzindustrie, Medienkonglomerate etc.) eher als Bedrohungsszenario für die demo-

73
Hegel (Fn. 70), § 257, Staat = „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“, die „substantielle Einheit“ (§ 260),
in der das Recht seine höchste Stufe erreicht und – subjektive und objektive Momente des modernen
Rechts ineinander aufhebend – sich als Ausdruck konkreter Vernunftsbestimmtheit, als „das an und für
sich Vernünftige“ (§ 258), manifestiert.
74
E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002; H. Hofmann, Einführung in
die Rechts- und Staatsphilosophie, 2011; H. Dreier, Hans Kelsen (1881–1973), 2015, 219ff.
75 Vgl. Wahl (Fn. 68), 916, 917 (in einer Würdigung des Werks von H. Hofmann).
76
J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 143.

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III. Abgrenzungen und Überlappungen

kratische Legitimität empfunden werden.77 In der philosophischen Rechtsphilosophie knüpfen heute


vor allem Axel Honneth und Rainer Forst an Habermas an. Honneth versucht, die Diskurstheorie des
Rechts stärker mit hegelianischen Gedanken im Sinne einer sozialen Freiheit und den mit ihr verknüpf-
ten kollektiven Praktiken, den bereits im Alltag herrschenden Gebräuchen, Gewohnheiten und ein-
gegangenen Handlungsverpflichtungen, zu verknüpfen.78 Bei Forst geht es primär um ein auf das freie
Individuum zugeschnittenes „Recht auf Rechtfertigung“ als Zentrum einer konstruktivistischen Gerech-
tigkeitstheorie.79
An die rechtsphilosophischen Vorarbeiten von Habermas knüpfen in der stärker juristisch ausgeprägten
Rechtsphilosophie etwa die Arbeiten von Robert Alexy an. Alexy schreibt das rechtsphilosophische Erbe
einer substantiellen Richtigkeitsgewähr des Rechts in einem metaphysischen Anfangsgrund mit Hilfe einer
Theorie des rationalen (praktischen) Diskurses fort und münzt diese in eine Theorie der juristischen Be-
gründung um. Über die – u. a. an Ronald Dworkin anknüpfende – Unterscheidung von Prinzipien („prin-
ciples“) und Regeln („rules“) hinaus hat Alexy die Vorstellung von Rechtsprinzipien als wechselseitig ab-
wägungsfähigen Optimierungsgeboten entwickelt und die Theorie des rationalen (praktischen) Diskurses
auf die Abwägungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angewandt.80 Andere Autoren, wie z. B.
Klaus Günther, nutzen die Diskurstheorie des Rechts für eine Re-Modellierung kollidierender Normen im
Moment der richterlichen Rechtsfindung (Sinn für Angemessenheit).81 Einen sich davon abhebenden und
beispielsweise auch die politische Philosophie Claude Leforts einbeziehenden Ansatz hat Günter Franken-
berg entwickelt. Hier werden einzelne Theoreme der Diskurstheorie mit der französischen politischen Phi-
losophie kombiniert und auf Probleme des Verfassungsstaates, wie etwa der Rekonstruktion seiner Selbst-
Setzung durch eine verfassungsgebende Gewalt oder der Selbstdarstellung seiner Einheit, angewandt.82

77
Zur Kritik vgl. nur Ladeur (Fn. 35), 137ff.; ders., Discursive Ethics as Constitutional Theory, Ratio
Juris 13 (2000), 95ff.
78 A. Honneth, Das Recht der Freiheit, 2011, 221ff.; kritisch dazu etwa R. Pippin, Hegel’s Practical Philo-
sophy, New York 2008, 257.
79
R. Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 2010.
80
R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, 75ff., 498ff.; kritisch dazu M. Jestaedt, Grund-
rechtsentfaltung im Gesetz, 1999, 206ff.
81 K. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, 1988, insb. 335ff.
82
Etwa G. Frankenberg, Autorität und Integration, 2003; ders., Staatstechnik, 2010.

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§ 2. Normen

I. Grundlagen

1. Typen und Begriffe


30 Rechtsnormen setzen, soweit wir darunter explizite Normen verstehen, das Medium
der Schrift und dessen Formbildungen, insbesondere den (geschriebenen) Satz voraus.
Deshalb spricht man statt von „Rechtsnormen“ oder „Rechtsregeln“ auch von
„Rechtssätzen“;1 im 19. Jahrhundert war dieser Begriffsgebrauch (Rechtssätze) sogar
dominierend. Alle drei Begriffe werden hier synonym gebraucht, und man kann viel-
leicht (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) vier wichtige Typen von Rechtssätzen un-
terscheiden: Vertragsklauseln, juristische Regeln, richterliche Entscheidungsnormen
und Gesetze. Als „Vertragsklauseln“ werden rechtsgeschäftliche Normen, wie etwa
über den Zahlungsmodus in einem Mietvertrag, bezeichnet. „Juristische Regeln“
(regulae iuris) nennen wir solche Rechtsnormen, deren Entstehung sich unmittelbar
auf rechtswissenschaftliche Expertise zurückführen lässt, wie z. B. die Konstruktion
des formlosen Vertrags auf das römische Juristenrecht.2 „Richterliche Entscheidungs-
normen“ (case law) sind die durch eine ständige Rechtsprechung getragenen Rechts-
sätze, wie z. B. das durch den Bundesgerichtshof entwickelte Haftungsinstitut des
enteignungsgleichen Eingriffs.3 Gesetze (statutory bzw. regulatory law) heißen solche
Rechtsnormen, die auf Handlungen politischer Gesetzgebung zurückzuführen sind
oder deren Geltung auf Gesetzgebungstätigkeiten beruht, wie z. B. die Kodifikation
des strafrechtlichen Verbots des Diebstahls in § 242 Abs. 1 StGB.
31 Rechtssätze lassen sich nur im Grenzfall dem einen oder anderen Typus zuordnen. Im
rechtlichen Alltagsbetrieb gehen vertragsgestaltende, rechtsprechende, gesetzgeberi-
sche und rechtswissenschaftliche Normproduktion fließend ineinander über. So
kommt es nicht selten vor, dass der politische Gesetzgeber richterliche Entscheidungs-
normen, die ihrerseits auf Vorentwicklungen in der rechtswissenschaftlichen Dogma-
tik aufbauen, adaptiert oder Normen direkt aus dem Juristenrecht übernimmt. Aus
einer Kombination von Rechtsdogmatik und Richterrecht sind z. B. die erst in jünge-
rer Zeit in das BGB aufgenommenen Vorschriften zur positiven Vertragsverletzung
hervorgegangen (§§ 280ff. BGB). Für die Regeln des Kaufvertragsrechts (§§ 433ff.
BGB) bildet der ursprünglich im römischen Juristenrecht entwickelte formlose Ver-
trag eine wichtige Vorentwicklung. Es sind weitere Kombinationen denkbar, doch ist
allen Typen von expliziten Rechtsnormen gemein, dass sie stets durch die Eigenarten
der juristischen Schriftsprache angereichert oder bestimmt sind. Es geht also nicht um
praktisches Rechtswissen, wie es auch im Alltag (oft unbewusst) vorhanden ist, son-
dern um Normen, wie sie auf der Ebene einer die eigene Wahrnehmung reflektieren-
den Beobachtung, einer Beobachtung zweiter Ordnung, in Erscheinung treten. Diese
ist heute ihrerseits auf unterschiedliche Träger – auf Anwaltspraxen, Rechtsabteilun-
gen in Unternehmen, Gerichte, Gesetzgebungsorgane, Verwaltungsbehörden, regula-
tory agencies und Rechtswissenschaft – zerstreut.

1 Vgl. nur K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 250ff. (Lehre vom Rechtssatz).
2 Digesten 2. 14. 7; 50. 16. 19; dazu M. Th. Fögen, Zufälle, Fälle und Formeln, RG 6 (2005), 84ff.
3
BGHZ 136, 182, 186.

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I. Grundlagen

In ihrer sprachlichen Form als explizite (schriftliche) Sätze unterscheiden sich Rechts- 32
normen normalerweise von anderen gesellschaftlichen Regelbeständen wie etwa von
religiösen oder moralischen Geboten, von Konventionen, Sitten, Brauch, Takt, Mode
etc., die oft ungeschrieben und unartikuliert sind.4 Soziologisch und kulturtheoretisch
gesehen geht es bei Normen und Regeln immer um Ordnungsmuster, um Regel-
mäßigkeiten und Gepflogenheiten innerhalb sozialer (Verkehrs-)Beziehungen; das
gilt sowohl für juristische Regeln über die Abgabe von Willenserklärungen als auch
für einfache Benimmregeln am Esstisch. Die Ordnung ist also keineswegs mit der
Rechtsordnung identisch. Jedoch müssen gewisse Regelbestände, auf denen Rechts-
normen gleichsam aufruhen können, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit stets vo-
rausgesetzt werden; ansonsten müsste zu viel Unbestimmtheit, Unstrukturiertheit
und Chaos bewältigt werden, die jedes Recht überfordern würden. Diese gesellschaft-
lichen Regelbestände, Gepflogenheiten und Konventionen sind an implizites (prak-
tisches) Wissen gebunden, das häufig unbewusst „mitläuft“, nicht eigens reflektiert
wird und deshalb auch als Wissen von Beobachtungen erster Ordnung qualifiziert
werden kann (vgl. Rn. 186ff.). Das bevorzugte Kommunikationsmedium dieser
Normbestände ist eher die mündliche Rede und weniger die Schrift, wenngleich etwa
religiöse Normen in den großen Buchreligionen wie dem Christentum durchaus in
Schriftform vorkommen. Jedenfalls aber sind gesellschaftliche Regeln und Normen
oft vorreflexiv als eingefleischte Handlungsweisen in der Umgangssprache und den
vielen lebensweltlichen „communities of practice“5 verankert. Was Höflichkeit und
Takt in einer Ehe verlangen, weiß jeder Ehepartner intuitiv. Dafür bedarf es keines ex-
pliziten Regelwerks, und wenn doch, dann ist es meistens schon zu spät. Dagegen hat
der historisch schon früh zu beobachtende Schriftgebrauch im Recht die semantische
Dichte des Normenmaterials potenziert; jeder Versuch der scharfen Begrenzung eines
Begriffs setzt eine sich im Schreiben vollziehende Reflexion voraus, etwa in Form der
Transformation von alltagssprachlichen Formeln wie „gehört mir“ oder „ist meins“ zu
einem juristischen Begriff des Eigentums und seinen dogmatischen Daumenregeln.6
Ist ein solcher Klassifikationsbetrieb einmal angelaufen, sind definierte Begriffe und
Regeln ihrerseits einer laufenden Konfrontation zustimmender oder dissentierender
Meinungen ausgesetzt. Man kann deshalb den Grund für die hohe Reflexivität und
Spezifizität rechtlicher Normen gerade in dieser Dynamik einer Beobachtung zweiter
Ordnung sehen.7
Während Rechtsnormen meist genaue und recht konkrete Kriterien anzugeben suchen, um eine Hand- 33
lung als rechtswidrig qualifizieren zu können (Diebstahl wird beispielsweise auf die Wegnahme fremder
beweglicher Sachen beschränkt) oder wenigstens intendieren, begrifflich (und damit eindeutig) zu sein,

4 Ein einführender Überblick über außerrechtliche Normen findet sich bei B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk,
Rechtstheorie, 2015, Rn. 97ff.
5
Dieser Begriff geht (wohl) zurück auf E. Wenger, Communities of Practice, 2005.
6
Vgl. dazu in einem allgemeineren (linguistischen) Zusammenhang Ch. Stetter, System und Performanz,
2005, 28; vgl. auch L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1945), 2003, § 71.
7 Vgl. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 211 („Es gibt keine andere Normordnung, die eine
solche, über Verfahren laufende Reflexivität entwickelt hat. Man findet sie nur im Recht und nicht zum
Beispiel in der Moral ... Nur das Recht ... kann sich rechtmäßig selbst bezweifeln, nur das Recht verfügt
in seinen Verfahren über Formen, die es ermöglichen, jemandem rechtmäßig sein Unrecht zu bescheini-
gen, und nur das Recht kennt jenen weder eingeschlossenen noch ausgeschlossenen Grenzwert der tem-
porären Unentschiedenheit einer Rechtsfrage.“) und 118ff., 212 (zur Spezifikation des Rechts durch
Schrift).

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§ 2. Normen

bleiben gesellschaftliche Regeln demgegenüber oft durchgängig kontextabhängig und erscheinen dadurch
unbestimmter und vager. Moralnormen, die auf die Unterscheidung von gut und schlecht bzw. gut und
böse ausgerichtet sind, lassen sich oft nur schwer aus ihren kulturellen Zusammenhängen lösen oder sind
eng an bestimmte lokale Berufs- und Alltagsethiken gebunden. Moralnormen überlappen sich daher häu-
fig mit anderen sozialen Normen und Konventionen, etwa mit religiösen Geboten, man denke nur „Liebe
Deinen Nächsten“. Im Unterschied zum Recht fehlt es bei moralischen und religiösen Normen außerdem
nicht selten an Reflexionen darüber, was aus einem Gebot wie „Liebe Deinen Nächsten“ konkret in einem
Konfliktfall folgt, wenn etwa Nachbar A die Frau des Nachbarn B verführt und bei seinen nächtlichen Be-
suchen wiederholt über das frisch angepflanzte Rosenbeet des B läuft. Hat B hier irgendwelche Ansprüche
gegen A? Auf Wiedergutmachung oder Schadensersatz? Die praktische Handhabung von Moralnormen
bleibt also unsicher. Zwar verfügt die Moral in der Ethik über eine Reflexionstheorie, wie etwa über Kants
kategorischen Imperativ, mit dessen Hilfe die Allgemeingültigkeit von moralischen Normen begründet
werden soll.8 Aber gerade Kants kategorischer Imperativ ist ein Beispiel für die Spezialisierung der Ethik
auf normative Begründungs- und nicht auf praktische Anwendungsfragen.

2. Konditionalschema
34 Schriftlich verfasste Rechtsnormen folgen häufig einem konditionalen Schema und
werden deshalb von der Normentheorie auch als „Bestimmungssätze“ bezeichnet.9 In
einem auf Niklas Luhmann zurückgehenden Sprachgebrauch werden solche Sätze
auch – mit einem aus der Computerkultur entlehnten Begriff – als „Konditionalpro-
gramme“ bezeichnet.10 Von Bestimmungssätzen oder Konditionalprogrammen wird
in der Literatur dann gesprochen, wenn Rechtsnormen eine tatsächliche Bedingung A
konditional mit einer rechtlichen Wirkung B verknüpfen, während Zweckprogramme
das Handeln oder Verhalten von Rechtssubjekten an einem Zweck, wie etwa der
„wirksamen Umweltvorsorge“ in § 1 UVP-Gesetz, orientieren. Die tatsächliche Be-
dingung eines solchen Rechtssatzes wird in der Normentheorie normalerweise „Tatbe-
stand“, die rechtliche Wirkung „Rechtsfolge“ genannt. So legt § 823 Abs. 1 BGB als
Tatbestand das Verbot der vorsätzlichen oder fahrlässigen widerrechtlichen Verletzung
subjektiver Rechtsgüter wie Leben, Eigentum oder Gesundheit fest. Wird dieses Ver-
bot missachtet, spricht § 823 Abs. 1 BGB als Rechtsfolge die Verpflichtung zum Scha-
densersatz aus. Nicht anders ist es im öffentlichen Recht, z. B. im Medienrecht: Nach
§ 20a Rundfunkstaatsvertrag darf eine rundfunkrechtliche Zulassung nicht an juristi-
sche Personen des öffentlichen Rechts erteilt werden, es sei denn, es handelt sich um
eine Kirche oder Hochschule, weil diese nach dem Grundsatz der Staatsferne mit einer
besonderen Autonomie versehen sind. Das konditionale Schema besagt also, dass im-
mer dann, wenn ein gleicher Sachverhalt einen Tatbestand verwirklicht, die gleiche
Rechtsfolge ausgelöst wird.11
35 Die Theorie des Konditionalprogramms konkurriert mit der so genannten „Imperati-
ventheorie“.12 In der Imperativentheorie wird die in einem Rechtssatz entweder aus-

8
I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werkausgabe Bd. 7, 1974, A 54 („Handle so, daß die Maxime
deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“).
9 Vgl. Larenz (Fn. 1), 253ff.; vgl. auch Rüthers/Fischer/Birk (Fn. 4), Rn. 148b.
10 Luhmann (Fn. 7), 195.
11
Larenz (Fn. 1), 256 („Immer dann, wenn ein konkreter Sachverhalt S den Tatbestand T verwirklicht,
gilt für diesen Sachverhalt die Rechtsfolge R.“).
12 Programmtisch etwa bei Larenz, ebd., 253ff. Als Kronzeuge dieser Auffassung wird im deutschen
Sprachraum oft Th. Hobbes herangezogen, in der englischsprachigen Literatur gilt J. Austin als ihr Be-
gründer.

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I. Grundlagen

drücklich oder implizit ausgesprochene Rechtsfolge als „Imperativ“ (lat. befehlend,


bindend, zwingend) gedeutet.13 Die Imperativentheorie knüpft an Verbote des Typs
„Du sollst nicht töten“ bzw. an Gebote des Typs § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG („Der Be-
triebsrat ist vor jeder Kündigung zu hören“) an. Der Imperativentheorie wird jedoch
zu Recht entgegengehalten, dass die heute üblichen Rechtsnormen keine konkreten
Befehle artikulierten, sondern abstrakte, über den jeweiligen Einzelfall hinausgehende
Festlegungen seien, deren Stabilität als normative „Geltungsanordnungen“ (Larenz)
unabhängig von ihrer tatsächlichen Wirksamkeit existiere. Auch wenn im Fall der Ent-
lassung des Kollegen Vettel der Betriebsrat nicht gehört wurde, ist dem Betriebsrat
doch grundsätzlich rechtliches Gehör zu gewähren; – und auch wenn jemand wegen
Überschuldung seine Miete nicht mehr bezahlen kann, bleibt er doch generell zur
Entrichtung des Mietzinses verpflichtet (§ 535 BGB). Andere bestreiten ganz generell
die Sinnhaftigkeit einer Theorie, die die Anerkennung von Gesetzen ausschließlich in
den militärischen Kategorien von Befehl und Gehorsam verhandeln will,14 zumal mit
einer solchen Engführung selbst die Wirklichkeit von autokratischen Rechtsordnun-
gen (Monarchie, Diktatur, Militärdiktatur etc.) kaum zu erfassen sein dürfte.
Die Imperativentheorie ist eng mit dem Aufstieg des europäisch-monarchischen Staates seit dem 16. und 36
17. Jahrhundert verbunden. Schon Hobbes hatte im Leviathan von 1651, im Abschnitt über die bürgerli-
chen Gesetze (Of Civil Lawes), das Gesetz als Befehl (Command) und nicht als Rat (Counsell) definiert und
den Gesetzesbefehl mit einer unbedingten Gehorsamspflicht gegenüber nur einer Macht, dem souveränen
und im Monarchen repräsentierten Staat (Commonwealth), verbunden.15 Zwar erschöpft sich die hobbes-
sche Vertragskonstruktion keineswegs in der Konzeption des Gesetzesbefehls. Dennoch gewann die
Vorstellung des Gesetzesbefehls – vermittelt über Kants praktische Philosophie – im positivistischen deut-
schen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts in dem Maße an Boden, in dem der Staat zum ersten Normenpro-
duzenten, zum Gesetzgebungsstaat, aufstieg. In der Rechtssoziologie Max Webers wurde aus dem Geset-
zesbefehl dann eine generelle Gehorsamserzwingungschance.16 Als Ausdruck von Zwangsmitteln oder
Erzwingungschancen ist die Imperativentheorie noch heute stark präsent, nicht nur im Strafrecht, sondern
auch im öffentlichen Recht, etwa in der Formulierung der „spezifisch staatlichen Mittel von Befehl und
Zwang“.17 In der jüngeren verwaltungsrechtlichen Literatur wird in diesem Sinne auch von „staatlich-im-
perative(r) Regulierung“ als einem Grundtyp von Regulierung gesprochen.18

Die Normentheorie weist Konditionalprogrammen häufig eine Exklusivstellung zu. 37


Das konditionale Schema wird dann als die einzig praktikable Formbildung im
Rechtssystem qualifiziert. Auch nicht explizit als Konditionalprogramm formulierte
Rechtssätze müssten insbesondere im Kontext gerichtlicher Urteilsfindung in eine
praktikable Wenn/Dann-Form übersetzt werden.19 Diese Reduktion der Vielfalt
13 Zur Darstellung vgl. nur H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, 18ff., 20ff. („coercive orders“);
Rüthers/Fischer/Birk (Fn. 4), Rn. 148ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 230ff.; R. Alexy, Be-
griff und Geltung des Rechts, 2002, 32ff. (mit weiteren Beispielen).
14 Etwa Hart (Fn. 13), 77ff.
15 T. Hobbes, Leviathan (1651), 1997, Ch. 26, 183 („Law in general, is not Counsell, but Command; nor
a Command of any man to any man; but only of him, whose Command is addressed to one formerly
obliged to obey him.“).
16
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 17 („Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist
durch die Chance [des] (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehal-
tung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von
Menschen.“).
17
D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, 65.
18 M. Eifert, Regulierungsstrategien, 2012, Rn. 14.
19 Vgl. nur Larenz (Fn. 1), 256 (jeder Rechtssatz enthält eine „Geltungsanordnung“); Rüthers/Fischer/Birk
(Fn. 4), 148ff.; ähnlich Luhmann (Fn. 7), 195, 200ff.

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§ 2. Normen

rechtlicher Artikulationsmöglichkeiten auf eine einzige Satzform, einen einzigen Satz-


typus, ist aber alles andere als unproblematisch und daher mit großer Vorsicht zu be-
handeln. Schon das römische Recht unterschied gebietende, verbietende, erlaubende
oder bestrafende Rechtsregeln,20 und zumindest auf einer phänomenologischen Ebene
müsste man heute mit Hart eher von einer „variety of laws“ sprechen.21 So lockert
etwa das Verwaltungsrecht die Konditionalstruktur durch Ermessen und unbestimmte
Rechtsbegriffe auf,22 das Verfassungsrecht verfügt über eine Fülle von Ermächtigungs-
und Kompetenznormen,23 wie z. B. Art. 65 Satz 1 GG („Der Bundeskanzler bestimmt
die Richtlinien der Politik“) oder Bestimmungen, deren Rechtsfolgen alles andere als
normativ bestimmt sind, wie z. B. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG („Die Würde des Menschen
ist unantastbar.“). Solche Vorschriften koppeln nicht eine bestimmte und stets gleich-
bleibende Rechtsfolge an einen stabilen Tatbestand, sondern eröffnen auf Tatbestands-
und/oder Rechtsfolgenseite einen Rahmen, dessen Bestimmung der Interpretation
und Konkretisierung bedarf. Mit der Engführung des Rechts auf einen einzigen Satz-
typus läuft die Normentheorie darüber hinaus Gefahr, jene Rechtsformen zu vernach-
lässigen, die sich dem konditionalen Schema entziehen, wie etwa der Begriff der Insti-
tution (als Komplex verknüpfter Regeln) oder die für das moderne (liberale) Recht so
bedeutende Rechtsfigur des subjektiven Rechts (Freiheit und Eigentum). Schließlich
versperrt ein solcher Reduktionismus auch den Blick auf neuere prozedurale Rechts-
entwicklungen etwa im Verwaltungsrecht (vgl. Rn. 60ff.).

3. Abstrakt normatives Regelverständnis


38 Mit dem Begriff der Rechtsnorm ist in der Normentheorie traditionellerweise ein abs-
trakt normatives Regelverständnis verbunden. Die Normentheorie spricht nicht nur
von Normen oder Regeln des Privatrechts, des öffentlichen Rechts oder des Straf-
rechts, vielmehr wird der Raum rechtlicher Normativität auf explizite Normenbe-
stände begrenzt und die Gesamtheit der expliziten Rechtssätze in einer von allen nicht
explizit konstituierten Regelmäßigkeiten und Gepflogenheiten getrennten Welt ange-
siedelt. Eine solche Trennung wird etwa in der Methodenlehre von Larenz vorausge-
setzt, wenn dort Begriffe wie Norm, Regel oder Rechtssatz als doppeldeutig qualifiziert
werden: Norm und Regel verweisen hier auf eine „Regel des Verhaltens“, und damit
könne– so Larenz – einerseits ein regelmäßiges Verhalten gemeint sein, eine immer
wieder gezeigte gleichförmige faktische Verhaltensweise, andererseits auch „eine Norm
im Sinne eines verbindlichen Richtmaßes, einer Verhaltensanforderung“. Im ersten Fall
würden wir Normen und Regeln eine gewisse tatsächliche Effizienz, im zweiten Fall
den Anspruch auf normative Maßgeblichkeit oder Verbindlichkeit zuschreiben. In
dieser letzten Perspektive, der „Blickrichtung des normativen Sinnes“, zeige sich die
Regel der Rechtswissenschaft. Diese befasse sich mit dem Recht „vornehmlich als
einem Phänomen, das der normativen Sphäre angehört“.24
39 Diese Opposition von tatsächlichem Verhalten und normativem Sinn wird in der rei-
nen Rechtslehre von Kelsen weiter zugespitzt. Kelsen konstruiert über die Unterschei-

20
Digesten 1. 3. 7; dazu M. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1971, 211.
21
Hart (Fn. 13), 26ff., 237 (mit Hinweis auf D. Daubes „Forms of Roman Legislation“).
22 Vgl. dazu nur H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, 141ff.
23 Rules conferring powers im Sinne von Hart (Fn. 13), 35f.
24
Larenz (Fn. 1), 190.

24
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I. Grundlagen

dung von Sein und Sollen eine unüberwindbare Sperre zwischen der Welt der Fakten,
wozu auch das tatsächliche (menschliche) Verhalten gezählt wird, und der Normativi-
tät oder Geltung von Rechtsnormen. Demnach ist es Aufgabe der Rechtswissenschaft,
Verhaltensereignisse in der Wirklichkeit unter eine Rechtsnorm zu fassen, um dem tat-
sächlichen Verhalten dadurch einen spezifisch positiv-rechtlichen und nicht etwa mo-
ralischen, ökonomischen oder ästhetischen Sinn zu verleihen: Wird eine Autotür von
einem jugendlichen Rowdy eingetreten, liegen eine Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1
StGB) und zugleich eine unerlaubte Handlung (§ 823 BGB) vor, aber – aus der Sicht
des Rechts – kein ökonomischer Wertverlust und kein Kunstwerk. Dieser Deutungs-
und Zuschreibungsakt setzt jeweils einen entsprechenden Willensakt voraus, der sich
in einschlägigen Rechtssätzen artikuliert, die allerdings nicht mit der Rechtsnorm
selbst verwechselt werden dürfen.25 Damit wird zwar die Notwendigkeit der juristi-
schen Deutung eines tatsächlichen Geschehensablaufs als grundsätzlich konstitutiv
für die Konstruktion von Rechtsnormen qualifiziert,26 d. h. die Abhängigkeit aller ju-
ristischen Regelbildung von einer reflektierenden Wahrnehmung oder Beobachtung
zweiter Ordnung. Aber letztlich ist Kelsens strikter Normativismus nicht viel überzeu-
gender als die Larenz’sche Blickrichtung eines normativen Sinns.
Beide Auffassungen sind insofern problematisch, als sie die Normativität von Rechts- 40
normen im Unterschied zu tatsächlichem Verhalten bestimmen, nicht aber – wie es rich-
tig wäre – über die Unterscheidung von (rekursiver) Rechtspraxis und der ihr korrespon-
dierenden vorrechtlichen Infrastruktur aus gesellschaftlichen Regelbeständen und
praktisch erprobten Konventionen. Das Recht operiert nicht einfach auf der Grundlage
sinnhaft zu deutender Willensakte, die unvermittelt – „gleichsam von außen her“27 –
durch die hypothetischen (schriftlichen) Urteile bzw. die Rechtssätze der Rechtswissen-
schaft erkannt werden. Rechtsnormen können nicht auf sinnhaft zu deutende Willens-
akte zurückgeführt werden, weil Willensakte stets ein abgeleitetes Phänomen sind und
ihrerseits etwa entsprechende umgangssprachliche Gepflogenheiten und ein daran ge-
bundenes praktisches Wissen voraussetzen. Mit dem französischen Philosophen Corne-
lius Castoriadis kann man an dieser Stelle auch von einer institutionsgebenden Macht
sprechen, die jeder rechtskonstituierenden (gesetzgebenden oder verfassungsgebenden)
Macht vorausgeht und sich ihr entzieht, wie beispielsweise die Sprache, die Familie, die
Sitten und Gebräuche, vom Stillen der Säuglinge bis zu den gemeinsamen Trachten und
Festen, die jede Kultur immer schon kennt.28 „Die Gesetzgebung kann die Sprache
nicht schaffen, in der sie abgefasst sein wird, so wenig sie die Sitten schaffen kann, dank
deren sie kein toter Buchstabe bleiben wird.“29 Diese kulturellen Voraussetzungen des
Wissens werden manchmal auch als „soziale Epistemologie“ bezeichnet.30 Die implizite

25 H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 5 („‚Norm‘ ist der Sinn eines Aktes, mit dem ein Verhalten
geboten oder erlaubt, insbesondere ermächtigt wird. Dabei ist zu beachten, daß die Norm als der spezifi-
sche Sinn eines intentional auf das Verhalten anderer gerichteten Aktes etwas anderes ist als der Willens-
akt, dessen Sinn sie ist. Denn die Norm ist ein Sollen, der Willensakt, dessen Sinn sie ist, ein Sein.“).
26
Klar und deutlich W. Kersting, Politik und Recht, 2000, 288, 384 (Rechtsnormen sind für Kelsen „In-
terpretationsprodukte, Deutungskonstrukte“).
27 Kelsen (Fn. 25), 74.
28
V. Descombes, Die Rätsel der Identität, 2013, 226ff., mit Hinweis auf C. Castoriadis, Le monde mor-
celé, 1990, 134.
29 Descombes, ebd., 2013, 231.
30 K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 72ff., 110ff.;
ders., Strategien des Nichtwissens im Bereich staatlicher Aufgabenwahrnehmung – insbesondere am

25
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§ 2. Normen

institutionsgebende Macht oder soziale Epistemologie ist für das Recht jedenfalls von
allergrößter Bedeutung: Wo das kaufmännische Bestätigungsschreiben nicht als Han-
delsbrauch bekannt ist, kann es keine Rechtsregel werden und damit auch niemals recht-
liche Bindungswirkung (oder Geltung) entfalten. Was Kelsen als Willensakte und Deu-
tungsschemata formalisiert, setzt in Wahrheit eine lebendige „Infrastruktur aus
selbstorganisierten Konventionen, Erfahrungen und Handlungsmustern“ voraus (vgl.
Rn. 182ff.).31
41 Die Isolierung explizit-rechtlicher Normativität im hier als abstrakt normativ bezeich-
neten Regelverständnis hängt eng mit dessen Sinnpurismus, in dem der Sinn zur zen-
tralen Kategorie der Normentheorie aufsteigt, zusammen. Die reine Rechtslehre ba-
siert nicht zufällig auf der strengen Unterscheidung von Rechtssatz und Rechtsnorm.
Sie stellt dementsprechend ganz auf die semantische Dimension der Rechtsnorm ab,
auf die „eigentümliche rechtliche Bedeutung“, die den faktischen Ereignissen durch
die „Norm als Deutungsschema“ verliehen wird.32 Damit wird die normative Deutung
als Kategorie der Beschreibung (oder Erkenntnis) der Rechtsnorm dem Rechtssatz in
seiner sprachlichen (medialen) Verfasstheit geradezu entgegengesetzt.33 Nicht auf die
sprachliche und mediale Existenz von Rechtsnormen in Worten und Sätzen kommt
es dann an (und damit letztlich auf den Gebrauch der Rechtssprache), sondern allein
auf den Sinn des normsetzenden Aktes! Ähnlich argumentiert noch heute Robert
Alexy. Alexy vertritt – im Anschluss an normentheoretische Arbeiten von v. Wright –
einen „semantischen Normbegriff“, der in der Sache wiederum den Sinn von Normen
privilegiert.34 Es muss dann beispielsweise zwischen der Grundrechtsnorm des Art. 5
Abs. 1 Satz 1 GG und der als Textkörper vorliegenden Grundrechtsbestimmung un-
terschieden werden. Das hat u. a. zur Konsequenz, dass derselbe normative Aussagege-
halt durch unterschiedliche schriftliche Formulierungen zum Ausdruck gebracht wer-
den kann. Umgekehrt wird Rechtsnormen hier – wie bei Kelsen – eine von Sprache,
Schrift und Buchdruck unabhängige, rein sinnhafte Existenz zugesprochen, „Sprache
als bloß ‚äußere‘ Bezeichnung ‚derselben‘ Gedanken verstanden“.35
42 Im Unterschied zur Normentheorie Kelsens geht es der soziologischen Systemtheorie
Luhmanns gerade darum, die wechselseitige Entfremdung von normativen und sozio-
logischen Wissenschaften abzubauen. Rechtsnormen werden bei Luhmann ausdrück-
lich auf Sinn- bzw. Erwartungsstrukturen der sozialen Realität und damit auf fakti-
sches Erleben und Kommunizieren in kulturellen Zusammenhängen bezogen.36 In
der Vorstellung eines normativen Erwartungsstils, der nur Wissen, nicht aber andere
Normen in sich aufnehmen kann, verbleibt der systemtheoretische Normbegriff aber
dennoch in einem mit Kelsens reiner Rechtslehre vergleichbaren neukantischen Fahr-
Beispiel von Bildung und Sozialarbeit, 2014, 103ff.; vgl. auch I. Augsberg, Informationsverwaltungs-
recht, 2014, insb. 80ff.
31
K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 27f.; vgl. auch T. Vesting, Das moderne Recht
und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015 (i. E.) m.w.N.
32
Kelsen (Fn. 25), 5.
33 Kelsen, ebd., 73ff., 83f.
34 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 43, 54.
35
J. Simon, Philosophie des Zeichens, 1989, 105.
36
Vgl. dazu Luhmann (Fn. 7), 133 Fn. 18 („als Soziologe wird man nicht auf die Meinung verzichten wol-
len, daß Normen als Sinnstrukturen der sozialen Realität faktisch vorkommen. Die Alternative wäre zu
sagen: Es gibt gar keine Normen, es handelt sich um einen Irrtum. So weit werden weder Soziologen
noch Juristen gehen wollen.“).

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I. Grundlagen

wasser. Luhmann definiert den Begriff der Rechtsnorm funktional als „kontrafaktisch
stabilisierte Verhaltenserwartung“, die bestimmt sei durch die Entschlossenheit, aus
Enttäuschungen nicht zu lernen.37 Rechtsnormen sind danach „enttäuschungsfeste“,
„bockige“ Erwartungen, die – gegebenenfalls mit Hilfe sanktionierter (politischer) Ge-
walt – die normative Geschlossenheit des Rechtssystems gewährleisten, im Unter-
schied zu kognitiven Erwartungen, die Lernen und Offenheit für faktische Umwelt-
veränderungen ermöglichen.38 Die Erwartung, in einem Speiselokal als Bedienung
nicht verprügelt zu werden, wird auch im Enttäuschungsfall stabil gehalten (normative
Erwartung), während sich die (männliche) Kundschaft normalerweise darauf einstellt,
dass die neue Bedienung nicht blond, sondern brünett ist (kognitive Erwartung).
Der Begriff der normativen Erwartung, die enttäuschungsfeste, „bockige“ Erwartung, 43
ist eng mit Luhmanns These verknüpft, dass das Recht ausschließlich durch Konditio-
nalprogramme Normativität generieren und damit letztlich auch nur durch Konditio-
nalprogramme seine soziale Funktion der Erwartungssicherung realisieren kann. Aus-
schlaggebend für das Konditionalprogramm ist, dass es Bedingungen statuiert, die sich
auf „vergangene, gegenwärtig feststellbare Tatsachen“ beziehen.39 Ob der Kaufmann A
morgen wieder ein Angebot schriftlich bestätigen wird oder ob es ein anderer Kauf-
mann B tun wird, ist ungewiss. Aber wenn ein solches Bestätigungsschreiben von ir-
gendeinem Kaufmann verfasst würde, hätte ein solches Schreiben die gleiche Bin-
dungswirkung wie jedes andere auch. Und diese Wirkung, Erzeugung einer Bindung
zwischen Kaufleuten, wird durch eine im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung fest-
stellbare Tatsache ausgelöst, dem Zugang des Bestätigungsschreibens beim Empfän-
ger, so ungefähr fasst Luhmann, etwas verkürzt, sein Argument.
In dieser Art Vergangenheitsorientierung unterscheidet sich das Konditionalprogramm von seinem Gegen- 44
modell, dem „Zweckprogramm“.40 Das Zweckprogramm berücksichtigt auch künftige, im Zeitpunkt der
Rechtsentscheidung noch nicht feststehende Tatsachen. Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren
macht die Sicherheit der Atomanlage, d. h. ihre Genehmigungsfähigkeit, davon abhängig, dass die nach
dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden getroffen ist (§ 7 Abs. 2
Nr. 3 AtomG). Hier wird mit dem Verweis auf den „Stand von Wissenschaft und Technik“ eine zeitbezo-
gene Offenheit in die Rechtsnorm eingebaut, die nach Luhmann Sinn und Funktion des Rechts sprengt.
Das technische Sicherheitsrecht betreibt im Atomrecht eine zweckorientierte Zukunftsvorsorge, die auf
ständiges Lernen angelegt ist. Die Norm ist nicht nur kognitiv offen; kognitive und normative Offenheit
gehen vielmehr ineinander über und heben die Unterscheidung von normativem und kognitivem Erwar-
tungsstil letztlich auf. Luhmann bezweifelt natürlich nicht, dass solche Rechtsnormen dem Recht von der
Politik als Sinnangebote zur Verfügung gestellt werden, aber er ist der Auffassung, dass sie nicht in eine
justiziable Form gebracht werden können bzw. dass solche Normangebote die Gerichte zu einer Form des
technical engineering zwingt, für das sie nicht gerüstet sind.

37
Luhmann, ebd., 134, 80 („Normen gegenüber Enttäuschungen stabil gehalten werden müssen“); vgl.
auch 61 („Intention des obstinaten, kontrafaktischen Festhaltens von Erwartungen“); ähnlich ders.,
Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 17, 115, 210ff., 212 (Norm befindet sich auf der Ebene des „Er-
wartens von Erwartungen“).
38 Zur „strukturellen Kopplung“ von Recht und Politik vgl. nur Luhmann (Fn. 7), 150 („Das Recht ist zu
seiner Durchsetzung auf Politik angewiesen, und ohne Aussicht auf Durchsetzung gibt es keine allseits
überzeugende (unterstellbare) Normstabilität.“); zu der an J. Galtung anschließenden Unterscheidung
von normativen und kognitiven Erwartungen vgl. Luhmann, ebd., 77ff., 84f.
39 Luhmann, ebd., 197.
40
Luhmann, ebd., 195f.

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§ 2. Normen

II. Allgemeinheit des Gesetzes

1. Kants praktische Philosophie


45 Mit dem Siegeszug der neuzeitlichen Naturphilosophie seit dem 17. Jahrhundert
setzte sich allmählich die Vorstellung einer die Welt der natürlichen Erscheinungen
durchwaltenden kausalen Gesetzmäßigkeit durch, die auch als deterministisches Welt-
bild bezeichnet wird: Autoren wie Galilei, Gassendi, Descartes, Hobbes, Spinoza und
Newton favorisierten den Gedanken einer regelhaften und systematischen Ordnung
der Natur der Dinge, einer Neuordnung mit dem Zentrum einer universalen Gesetz-
mäßigkeit. Von diesen Autoren war es nicht zuletzt Thomas Hobbes, der die Axiome
des neuen naturwissenschaftlichen Denkens erstmalig auf das Feld des praktischen
Wissens, auf Politik, Staat und Recht, übertrug.41 Hobbes fundierte die Staats- und
Rechtsordnung in einem Vertrag, dessen Zweck die Errichtung einer umfassenden
monarchischen Souveränität und Subjektivität war. Damit konstruierte Hobbes aber
kein Einfallstor für eine absolute Herrscherwillkür, sondern machte den Monarchen
und seine Willensäußerungen von einem neuen artifiziellen (Sprach-)System abhän-
gig, das auf der Vorstellung eines von allen Herrschaftsunterworfenen zu schließenden
Vertrages beruhte: Die künstlich durch Vertrag gestiftete Souveränität des Monarchen
unterbrach die Kontinuität der Tradition und ermöglichte Freiheit unter der Bedin-
gung des Mangels an gemeinsamen Zwecken.42
In Kants praktischer Philosophie ist es das allgemeine Gesetz, das die Einbindung in
eine den empirischen Einzelwillen übersteigende Regelmäßigkeit, in die Idee einer
Ordnung nach universalen Regeln und Normen, leistet. Das allgemeine Gesetz, die
Gesetzmäßigkeit der Gesetze, avancierte bei Kant gewissermaßen zum transzendenta-
len Feld, „innerhalb dessen sich der Wille selbst konstituiert“,43 innerhalb dessen Ein-
zelgesetze überhaupt gemacht werden konnten. Der freie Wille existierte bei Kant
anders gesagt von vornherein als an das Medium der Allgemeinheit gebundener Wille,
eben als Gesetz. Das kantische allgemeine Gesetz ist daher am besten als Ergebnis
einer Selbst-Gabe („l’auto-donation“) zu charakterisieren bzw. als Ausdruck einer
„Selbstgesetzlichkeit, als ein Gesetz, das sich als Gesetz selbst gibt.44 Das kantische all-
gemeine Gesetz tritt als Geschenk vor das moderne Subjekt – und lässt ihm, einmal
aus der Tradition entlassen, keine andere Wahl, als die Gabe des Gesetzes anzuneh-
men.45

41
Dazu ausführlich Q. Skinner, Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, 1996, 294ff., 334 (für
den Leviathan).
42 Vgl. Ladeur (Fn. 31), 10 (mit Hinweis auf M. Oakeshott).
43 R. Esposito, Communitas, 2004, 100.
44
B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, 2006, 25; vgl. auch ebd. 11 (Kants Versuch einer Grundlegung
der Moral läuft zwangsläufig auf eine Selbstbegründung des praktischen Gesetzes hinaus); J. Rogozinski,
Le don de la Loi, 1999, 91 („Si l’autonomie se définit comme le pouvoir de se donner la Loi, il faut alors
admettre que l’autonomie originaire n’est pas celle de la volonté se soumettant librement à la Loi, mais
l’autonomie du Nomos lui-même, l’auto-donation de la Loi.“); Esposito (Fn. 43), 101; vgl. auch Ladeur
(Fn. 31), 9 („Die – von der Tradition entbundenen – freien Subjekte haben keine andere Wahl als die
Unterwerfung unter ein Gesetz so zu akzeptieren, als ob es ihnen von einem anderen gegeben worden
wäre ... Deshalb ist es auch eher das Gesetz, das sich selbst gibt.“).
45 Ausführlicher T. Vesting, Die innere Seite des Gesetzes, 2009; vgl. auch B. Waldenfels, Sozialität und
Alterität, 2015, 194, 195 (der das Gesetz als Antwort auf einen fremden Anspruch verhandelt); ähnlich

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II. Allgemeinheit des Gesetzes

Was damit gemeint ist, wird sofort verständlich, wenn man sich die Grundzüge der 46
kantischen praktischen Philosophie klar macht. Im Mittelpunkt von Kants praktischer
Philosophie oder Ethik stand die Konstruktion allgemeiner moralischer Gesetze. Der
kategorische Imperativ, das Zentrum der kantischen praktischen Philosophie, gebietet
Ego so zu handeln, dass die Maxime seines Willens „jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“.46 „Maximen“ waren für Kant subjektiv gül-
tige Regeln oder Grundsätze, die ihre situative Berechtigung haben mochten, dem
Charakter des moralischen Gesetzes als objektiv und allgemeingültig aber oft entge-
gengesetzt waren. Jemand, der es sich beispielsweise zur Maxime gemacht hatte, sein
Vermögen mit allen Erfolg versprechenden Mitteln zu mehren, eignete sich das Depo-
situm eines verstorbenen Eigentümers an, über das es keine schriftliche Niederle-
gungsurkunde gab. Damit handelte er zwar der eigenen Maxime entsprechend, als all-
gemeines Gesetz taugte diese Maxime aber keineswegs. Würde man die Maxime zum
allgemeinen Gesetz erheben – mehre Dein Vermögen mit allen Erfolg versprechenden
Mitteln und behalte das verwahrte Gut, das Dir jemand anvertraut hat, immer dann,
wenn niemand beweisen kann, dass es nicht Dir gehört –, würde die Maxime gerade
das negieren, was vorausgesetzt bleiben muss, nämlich die Existenz und Integrität der
Institution des Depositums.47
Während die aristotelisch-mittelalterliche (Schul-)Ethik noch gemeinsame Zwecke 47
aus natürlichen Gegebenheiten wie etwa dem Stand oder dem Geschlecht abgeleitet
hatte, machte der kategorische Imperativ keine inhaltlichen (materialen) Vorgaben
über Gut und Böse mehr. Damit reagierte Kants praktische Philosophie ersichtlich
auf die Erfahrung des Zerfalls der traditionalen (Adels-)Gesellschaft und ihrer objektiv
fundierten moralischen Gewissheiten, dem Schwinden einer „Gesamtordnung“ und
dem Rückzug der praktischen Philosophie auf die Begründung einer „Grundord-
nung“.48 Dieser Unterschied zwischen Kant und der traditionellen (Schul-)Ethik
wurde insbesondere in Hegels Kant-Kritik deutlich, denn Hegel wies zu Recht darauf
hin, dass kein Widerspruch in der Ansicht liege, dass es kein Depositum gäbe.49 Damit
traf Hegel zwar insofern einen wunden Punkt der kantischen Ethik, als diese auf
einem unbestimmten Willensbegriff aufbaute, der sich seiner Abhängigkeit von vor-
findlichen gesellschaftlichen Regelbeständen und praktisch erprobten Konventionen
nicht immer bewusst war: Kant musste mit anderen Worten von vorfindlichen sozia-
len Institutionen ausgehen, die Vertrauen zwischen den Subjekten schaffen, er musste
die praktische Existenz unstreitiger Regeln – Sitten, Konventionen und Gewohnhei-
ten voraussetzen, d. h. eine Form vorreflexiver Regelbindung, die das Subjekt verin-
nerlicht, bevor es sich an abstrakten Regeln orientiert. Auch Kants Argument einer

H. Lindahl, Fault Lines of Globalization, 2013, 222ff., 249 (auf der Ebene des kollektiven Handelns
und seiner notwenigen Selbstbeschränkungen – „self-restraint“).
46
Kant (Fn. 8), A 54; zum Verhältnis der späteren Formulierung des kategorischen Imperativs in der Kri-
tik der praktischen Vernunft zu seinen früheren „Verdeutlichungen“ in der Grundlegung der Metaphy-
sik der Sitten, BA 52ff. und die dort behandelten Beispiele (Selbstmord, Selbstliebe, Genussleben,
Hilfsbereitschaft) vgl. nur J. Simon, Kant, 2003, 185ff.
47 Kant (Fn. 8), A 50 („Ich werde sofort gewahr, daß ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten
würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe.“).
48
Vgl. dazu Waldenfels (Fn. 44), 15ff.; Ladeur (Fn. 30 – Negative Freiheitsrechte), 13ff., 42f.
49 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), Werkausgabe Bd. 3, 1986, 322 („Nicht darum
also, weil ich etwas sich nicht widersprechend finde, ist es Recht; sondern weil es das Rechte ist, ist es
Recht.“).

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§ 2. Normen

Undenkbarkeit des Despositums ergab sich allein daraus, dass es das Depositum als
Institution schon lange Zeit gab und ein daran gebundenes Vertrauen der Subjekte in
diese Institution.50 Gleichwohl kann man sich dem Urteil von Josef Simon anschlie-
ßen, dass Hegels Einwand die kantische Intention eher verdeutlicht, „als dass er ihr
widerspricht“.51 Kant versuchte gerade, die Ethik universalistisch, über ein rein for-
males Prinzip, einen Verallgemeinerungsschluss, auf die neuen Gegebenheiten einer
(moralischen) Grundordnung nach dem Zusammenbruch einer übergreifenden (sitt-
lichen) Gesamtordnung einzustellen. Er formulierte den obersten Imperativ der Ethik
als Gesetz und deduzierte Letzteres aus reinen Vernunftprinzipien bzw. aus dem sei-
nerseits für Kant bedingungslosen Faktum der Vernunft.
48 Kants Konstruktion des kategorischen Imperativs als Ausdruck einer abstrakten und reinen Vernunft hatte
sein Vorbild in der neuzeitlichen, modernen Naturwissenschaft, wie sie vielleicht bei Newton ihren ersten
Höhepunkt erreichte. Diesem Vorbild folgte Kant nicht nur in der Kritik der reinen Vernunft, sondern auch
in seiner praktischen Philosophie. War jene um die Vorstellung einer objektiven Gesetzmäßigkeit der Ele-
mente der Natur, d. h. durchgehender notwendiger Ursache-Wirkungszusammenhänge zentriert, ging es
der praktischen Philosophie um die Sicherstellung allgemeiner moralischer Verbindlichkeit. Und so wie das
klassische Gesetz der newtonschen Mechanik, das Inertialgesetz der Bewegung, nicht aus der Erfahrung
stammte, sondern ihr gerade zuwiderlief und dennoch als universell-gültiges Gesetz nachgewiesen werden
konnte, fundierte Kant die Allgemeinheit des moralischen Gesetzes in reiner praktischer Vernunft.52 Diese
wurzelte in der (transzendentalen) Idee der Freiheit, die als Eigenschaft des Willens vorausgesetzt werden
musste, „wenn Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff sein soll“.53 Die praktische
Vernunft konnte damit nicht länger unabhängig vom Akt des Erkennens (oder Beobachtens) gedacht wer-
den und auch nicht unabhängig von der „tätigen Auswahl gesetzestauglicher Maximen“.54 Darin brachte
Kants praktische Vernunft das neuzeitliche Subjekt zur Geltung. Kants Subjekt, der Träger seines Systems,
blieb allerdings in jedem Erkenntnisakt, in jeder Situation, in der Maximen von Handlungen zu allgemeinen
Gesetzen generalisiert wurden, mit sich selbst identisch. Kant fundierte das allgemeine praktische Gesetz
mit anderen Worten konstruktiv im Denken und Handeln eines mit allgemeinen Normen arbeitenden Sub-
jekts, in einer „Einheit der Synthesis“,55 die auf die gleiche Weise die Einheit des moralischen Kosmos garan-
tierte wie Newtons Bewegungsgesetz die der natürlichen Ordnung der Dinge.

49 Die kantische Rechtslehre ergänzte den kategorischen Imperativ der praktischen Phi-
losophie um das Rechtsgesetz. Das Rechtsgesetz war ebenfalls durch das formale Prin-
zip der Allgemeinheit bestimmt, und nicht etwa Produkt einer bloß statistischen, aus
praktischen Erfahrungen abgeleiteten Regelmäßigkeit. „Eine bloß empirische Rechts-
lehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur
schade! daß er kein Gehirn hat.“56 Praktische Philosophie und Rechtslehre hatten bei
Kant allerdings verschiedene Anwendungsfelder, auch wenn die Differenz zwischen
Moral und Recht nicht immer durchsichtig und in der Kant-Interpretation dement-
sprechend umstritten ist.57 Das allgemeine Gesetz der Rechtslehre legte die Kompati-

50 Vgl. Waldenfels (Fn. 44), 59 Fn. 22; Ladeur (Fn. 31), 12 Fn. 37, 95 Fn. 644.
51 Simon (Fn. 46), 167.
52
H. Krämer, Integrative Ethik, 1992, 95, unterscheidet Kants universale Regelmäßigkeit strikt nomolo-
gischer, deterministischer Art von einer generell-typologischen, stochastisch-probalistischen Regelmä-
ßigkeit statistischer Geltung, wie sie die ältere Strebens- und Klugheitsethik bis hin zu Vico etwa in
Konzepten der phronesis und prudentia gekannt habe.
53 Simon (Fn. 46), 165f.
54
Simon, ebd., 165.
55
Simon (Fn. 35), 281; Ladeur (Fn. 30 – Negative Freiheitsrechte), 43.
56 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. 8, 1977, AB 31, 32.
57 Die Unterschiede betonend Simon (Fn. 46), 171, 176 Fn. 28, 194ff., 380ff.; eher den Zusammenhang
von praktischer Philosophie und Rechtslehre betonend z. B. R. Dreier, Recht-Moral-Ideologie, 1981,

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II. Allgemeinheit des Gesetzes

bilität verschiedener Handlungsarten apodiktisch mit Hilfe „äußeren“ Zwanges fest,


während das moralische Gesetz der Ethik an den „innerlichen“ Imperativ des eigenen
(„deines“) Willens appellierte.58 Damit verschärfte Kant die sich schon bei Hobbes
und Christian Thomasius anbahnende Differenzierung von Recht und Moral nach
dem Kriterium unterschiedlich ausgeformter Aussichten auf Normdurchsetzung.
Einerseits koppelte er den Imperativ der Rechtsnorm an die „äußere“, staatlich sank-
tionierte Gewalt.59 Andererseits konnten verbindliche „innerliche“ moralische Regeln
für Kant nur über Verallgemeinerungsfähigkeit erreicht werden, und diese abstrakte
Regelhaftigkeit galt für Kant – zumindest indirekt – auch als Maßstab für das auf die
Bindung des „äußeren“ Verhaltens zielende Recht.
Kants Verknüpfung von Gesetz und Zwangsgewalt ist nicht nur im Hinblick auf die darin zum Ausdruck 50
kommende Staatsfixierung problematisch, sondern auch mit Kants eigenem Freiheitsbegriff nur schwer
vereinbar. Der Widerspruch wurde bei Kant allerdings dadurch entschärft, dass ein „allgemeines Gesetz
der Freiheit“ zumindest als Voraussetzung und Richtschnur aller Rechtsgesetze auch für die Rechtslehre
als „Inbegriff der Bedingungen“ erhalten blieb, „unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des
anderen ... vereinigt werden kann“.60 Der kantische Freiheitsbegriff machte sich mit anderen Worten
über das allgemeine Gesetz, d. h. über die Form des Gesetzes geltend, an die auch der Souverän, das hieß
zu Kants Zeiten: der König, gebunden war. Das machte nicht zuletzt den Charakter des Gesetzes als
„Gabe“ aus, der sich das Subjekt auch als souveränes nicht entziehen konnte.

Hegel kritisierte in der Rechtsphilosophie von 1821 erneut den bloß formalen Charakter dieser kantischen 50 a
Konstruktion. Aber damit wollte Hegel nicht hinter das (Vernunft-)Prinzip der Allgemeinheit zurück-
gehen, zumal etwas als Allgemeinheit zu setzen, für Hegel mit dem Begriff des Denkens deckungsgleich
war.61 Eher sollte die formale Allgemeinheit des kantischen Gesetzes mit den konkreten Formen und
Strukturen des „sittlichen Lebens“ vermittelt werden.62 Bei Hegel mutierte das allgemeine Gesetz deshalb
zu einem objektiven Geist der „bestimmten Allgemeinheit“, der sein (paradoxes) Ziel in „konkreter Frei-
heit“ hatte, einem sittlichen Leben unter Einschluss „der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohl-
ergehen der Individuen“.63 Diese „wahrhafte Bestimmtheit“ der Gesetzesform, die das Abstrakte und Leere
des kantischen Gesetzes hinter sich lassen wollte, musste nach Hegel in einem systematischen (nationalen)
Gesetzbuch zum Ausdruck gebracht werden, das sich damit zugleich von bloßen Rechtssammlungen ab-
heben sollte, insbesondere von der „ungeheure(n) Verwirrung“ des Common law und der bloßen „Samm-
lung von Dezisionen“ im römischen Corpus iuris.64 Hegel war also Anhänger einer umfassenden systema-
tischen Kodifikation mit einer Verfassung als höchstem Punkt der Rechtsordnung, wie es die Amerikaner
und Franzosen in ihren jeweiligen Revolutionen bereits im späten 18. Jahrhundert vorgemacht hatten, wie
sie aber in Deutschland noch lange umstritten blieb.

286ff.; W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1996, 183ff.; I. Maus, Zur
Aufklärung der Demokratietheorie, 1992, 271ff.
58
Vgl. Simon (Fn. 46), 380.
59
Darin manifestierte sich schon bei Kant eine – später etwa auch bei H. Kelsen sichtbar werdende –
Staatsfixierung der Rechtslehre. Vgl. nur Kelsen (Fn. 25), 31ff., 34 (Das Recht: Eine Zwangsordnung),
60ff., 64 (Moral als positive Ordnung ohne Zwangscharakter).
60 Kant (Fn. 56), A 33.
61
Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Werkausgabe Bd. 7, 1970, §§ 13,
21.
62 Dazu einflussreich J. Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, insb. 281ff.
63 Hegel (Fn. 61), § 260 Zusatz.
64
Hegel, ebd., § 211.

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§ 2. Normen

2. Anwendung des Gesetzes


51 Für die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts kam der Allgemeinheit des Gesetzes
eine Bedeutung zu, die derjenigen in der praktischen Philosophie und Rechtslehre
Kants durchaus vergleichbar war. Auch wenn Autoren wie Savigny, Puchta, Gerber,
Windscheid und Laband Recht und Moral scharf voneinander trennten, so stimmten
sie mit der praktischen Philosophie Kants doch darin überein, dass das moderne
Recht eine die individuelle Willkür übersteigende Form der Regelhaftigkeit zum Aus-
druck bringen musste, eine Bestimmtheit und Abstraktheit, die es der Rechtsnorm
ermöglichte, sich in eine zu ihrem laufenden praktischen Gebrauch unterscheidbare
Position zu bringen. Das ging weit über die spätere rechtstechnische Unterscheidung
von allgemeinem Gesetz vs. Einzelfallanordnung (Maßnahmegesetz) hinaus (vgl.
Rn. 149ff.). Nur mit Hilfe der Idee einer zeitunabhängigen Allgemeinheit des Geset-
zes konnte der Gebrauch des Gesetzes von der Existenz des Gesetzes unterschieden
werden, nur dann war Rechtspflege, in Hegels Worten, „Anwendung auf das Beson-
dere“ bzw. „Anwendbarkeit auf den einzelnen Fall“.65 Erst die Allgemeinheit des Ge-
setzes sicherte die Überordnung des Gesetzes über den Fall, und der staatsrechtliche
Positivismus sprach deshalb später zu Recht von der „Subsumtion eines gegebenen
Tatbestandes unter das geltende Recht“.66 Anwendung und Subsumtion veränderten
nicht den Informationsgehalt des allgemeinen Gesetzes, so wenig wie das Experiment
in der Mechanik das allgemeine Gesetz beeinflussen oder gar verändern konnte. Im
Gegenteil: Die zeitabstrakte Allgemeinheit des Rechtsgesetzes war der Garant dafür,
dass eine einzige Rechtswahrheit in jedem neuen Fall erneut zur Geltung gebracht
werden konnte.
52 Die Annahme, dass sich Rechtsnormen, sofern sie nur allgemein genug formuliert
sind, gegenüber den Fällen ihres Gebrauchs mehr oder weniger vollständig isolieren
lassen, bestimmte die Rechtstheorie bis in die jüngste Zeit. Noch Kelsen zog eine aus-
drückliche Parallele zwischen dem Verhältnis von naturwissenschaftlichem Gesetz und
konkretem Experiment auf der einen Seite und der Beziehung von allgemeinem
Rechtsgesetz und Einzelfall auf der anderen Seite und übersetzte diese Unterscheidung
in die Unterscheidung von „generellen“ und „individuellen Rechtsnormen“.67 Indivi-
duelle Normen gingen nach Kelsen aus Rechtsgeschäften, administrativen Anordnun-
gen oder richterlichen Einzelfallentscheidungen hervor. Sie waren am unteren Ende
eines als hierarchisch zu denkenden Systemzusammenhangs, dem von Kelsen später
so genannten „Stufenbau der Rechtsordnung“,68 angeordnet. Zwar kommunizierten
die verschiedenen Normstufen innerhalb des nach Kelsen dynamisch zu denkenden
Rechtserzeugungsprozesses miteinander. Trotz der Zurückweisung aller allzu simplen
Modelle logischer Deduktion69 rührte Kelsen aber ebensowenig an der Vorstellung
einer Steuerung der rangniederen durch die ranghöhere Ebene wie an dem Gedanken
65
Hegel, ebd., § 214. Die gleiche Logik der Rechtsanwendung hatte vor Hegel bereits Kant (Fn. 56, A
166), zum Ausdruck gebracht, wenn er im Staatsrecht die Gewaltenteilung mit den drei Sätzen in
einem „praktischen Vernunftschluß“ verglich: Danach enthielt das Gesetz einen Obersatz, nach dessen
Willen die Verwaltung subsumierend im Modus des Untersatzes verfuhr, während die rechtsprechende
Gewalt den „Schlußsatz“ artikulierte.
66
P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 2 (1911), 1964, 178.
67 Vgl. nur Kelsen (Fn. 25), 85, vgl. auch 20, 121 u. ö. in jeweils unterschiedlichen Zusammenhängen.
68 Kelsen, ebd., 228ff.
69
Kelsen, ebd., 346ff., 350f.

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III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn)

eines logisch-genealogischen Vorrangs der generellen gegenüber der individuellen


Norm. Die generelle Rechtsnorm definierte zwar nicht vollständig, aber doch rahmen-
förmig den Prozess der Erzeugung individueller Normen. Auch bei Kelsen sicherte
letztlich die generelle Rechtsnorm die zeitstabile Einheit des Systems, so wie die Allge-
meinheit des moralischen Gesetzes und seine Verankerung in einer Einheit der Syn-
thesis die Einheit der praktischen Philosophie Kants gewährleistet hatte.
Soweit die juristische Methodenlehre noch heute dem Anwendungs- und Subsumtions- 53
modell folgt (vgl. Rn. 194), teilt sie ebenfalls die Vorstellung, dass der generelle Rechtssatz
unabhängig von seinem je konkreten Gebrauch bestimmt werden kann. Die Methoden-
lehre hat zwar schon immer anerkannt, dass jeder Fall anders ist, aber diese Andersheit
wird hier eher wie eine kaum erkennbare, kaum sichtbare Mikrovariation einer an sich
stabilen Regel gedacht. Regel und Regelgebrauch sind jedenfalls auf zwei strikt voneinan-
der zu trennenden Ebenen angesiedelt. Damit verbindet sich in der juristischen Metho-
denlehre vielfach die Vorstellung, dass Sachverhalte dem allgemeinen Gesetz lediglich un-
tergeordnet werden, wobei diese Operation wie der Programmablauf eines Automaten
kontextunabhängig in der immer gleichen Weise vollzogen werden kann. Hat jemand
die teure Haut Couture des vor ihm sitzenden Models mit Johannisbeersaft bespritzt, ist
er zum Schadensersatz verpflichtet (§ 823 Abs. 1 BGB). Das Gleiche gilt, wenn jemand
einen Ferrari 250 GT Berlinetta mit seinem Honda Civic beschädigt. Diese logische
Konsequenz der Subsumtion als Verfahren der Normerzeugung, die maschinenmäßige
Anwendung allgemeiner Regeln auf den einzelnen Fall, wird etwa auch bei Karl Larenz
akzentuiert. Larenz spricht von einem „Schema der Gesetzesanwendung“, einem logi-
schen Gerüst, in dem sich die Rechtsfolge aus einem „Syllogismus“ ergebe, der sich aus
den Komponenten von Obersatz (Rechtsnorm), Untersatz (Sachverhalt/Fall) und
Schlussfolgerung zusammensetze.70 Es gibt dann grundsätzlich nur eine richtige Lösung,
nur eine, wenn oft auch nur schwer zu ermittelnde Rechtswahrheit.71

III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn)

Die Vorstellung, dass Rechtsnormen einem Kosmos zeitentrückter Allgemeinheit an- 54


gehören und deshalb unabhängig von der Praxis ihres Gebrauchs und der sich daraus
ergebenden Anwendungsgeschichte gedacht werden könnten, wird im 20. Jahrhun-
dert durch Erkenntnisse der Sprachphilosophie und Linguistik herausgefordert. Das
Sprachdenken des 20. Jahrhunderts, und insbesondere die pragmatische Wende des
linguistic turn, lösen die konstitutiven Leistungen des neuzeitlichen Subjekts, wie es
bei Hobbes als Souverän oder bei Kant als Vernunftgesetz gedacht wurde, ab und set-
zen an dessen Stelle die welterschließende Funktion der Sprache.72 Das Sprachdenken
übernimmt jetzt eine Art „Letztbegründungsfunktion“, es mutiert zu einer neuen
Form von „prima philosophia“ (erster Philosophie), etwa in Wittgensteins Begriff des

70 Larenz (Fn. 1), 271ff.; vgl. auch H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 125, 126.
71 Formulierung in Anlehnung an J. Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskon-
zepts unseres Jahrhunderts, 1979, 7.
72
Vgl. dazu allg. R. Rorty, Der Spiegel der Natur, 1981, 152f. Fn. 4, 288ff. mit der Bemerkung, dass ge-
rade für das kantische Projekt einer Transzendentalphilosophie der Unterschied „mentaler Vorstellun-
gen“ und „sprachlicher Darstellungen“ relativ unwichtig gewesen sei. Zu Kants Vernachlässigung der
Sprachbezogenheit allen Denkens vgl. auch Simon (Fn. 46), 559.

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§ 2. Normen

„Sprachspiels“ oder in Gadamers Hermeneutik der Sprache als dialogischem Prozess.73


Diese Sprachfundierung, die außerordentliche Rolle, die die Sprache für das Denken
spielt, kennzeichnet auch Habermas’ kommunikative Vernunft, Luhmanns System-
theorie, Derridas Schriftkritik oder die verschiedenen Varianten der amerikanischen
und europäischen Medientheorie (Ong, Havelock, Kittler, Goodman, Krämer, Stetter
etc.), die die Einsichten des neueren Sprachdenkens um eine genauere Analyse der me-
dialen Verfasstheit des Sprachgebrauchs zu ergänzen versuchen.
55 Die Sprachwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts startete zunächst auf der Grund-
lage einer Zwei-Welten-Lehre, die in mancher Hinsicht durchaus noch Ähnlichkeiten
mit der Architektur der praktischen Philosophie Kants aufwies. Vor allem die Linguis-
tik Ferdinand de Saussures unterschied strikt zwischen Sprache (langue) und Sprechen
(parole). Saussure löste die Sprache außerdem von ihren natürlichen Bedingungen wie
Laut, Stimme oder Handschrift und erklärte sie als reines Zeichensystem zum eigent-
lichen Gebiet der linguistischen Analyse.74 Dadurch konnte die langue – wie Kants
Allgemeinheit des Gesetzes – als Form gedacht und im Unterschied zur parole, der je
konkreten Rede, in einer Sphäre zeitstabiler Idealität angesiedelt werden. Schon bei
Saussure wurde das Sprachsystem aber nicht mehr in einem letzten Prinzip verankert,
sondern in einer Differenz, der radikalen Arbitrarität des Zeichens.75 Hatte die aristo-
telisch-platonische Tradition den Halt der Sprache immer in der natürlichen Ordnung
der Dinge gesucht, in einer Ordnung, die das Zeichen dem Gedanken des Seins unter-
geordnet hatte,76 ersetzt Saussure die alte verba/res-Unterscheidung, die Vorstellung
von Sprache als Repräsentation der Dinge, durch eine rein sprachinterne Unterschei-
dung, in der das sprachliche Zeichen (signe linguistique) als Einheit einer rein zeichen-
internen Unterscheidung fungiert, der Unterscheidung von Bezeichnendem (signifi-
ant) und Bezeichnetem (signifié). Bezeichnungen, Namen, sind das, was sie bedeuten,
nicht von Natur aus, sondern auf Grund willkürlicher (arbiträrer) Festsetzungen. Spra-
che ist kein Abbild der Realität, sie repräsentiert nicht die Wirklichkeit als solche, son-
dern ist selbst eine eigenständige „differentielle Ordnung des Symbolischen“.77
56 Die Einsicht in die Eigenständigkeit der Sprache wird in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts fortgeschrieben, aber zugleich wird Saussures hierarchische Ab-
schichtung von langue und parole aufgegeben. Linguistik und Sprachphilosophie rü-
cken umso mehr vom hierarchischen Modell der saussureschen Linguistik ab, je mehr
die Bedeutung der Handlungsdimension der Sprache erschlossen wird. Die Zwei-Wel-
ten-Lehre Saussures verschiebt sich zugunsten einer performativen und pragmatischen
Ausrichtung des Sprachdenkens, von der schon die Sprachlehre Wilhelm v. Hum-
boldts getragen war. Die Theorie der Sprache wird durch eine Theorie des Sprechaktes
bzw. der Kommunikation ergänzt und ersetzt. In diesem Übergang zu pragmatischen,

73
Wittgenstein (Fn. 6), 7 („Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie ver-
woben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen.“).
74
Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 119; S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 2001, 20
(mit dem Saussure-Zitat: „Die Sprache bildet ein System von Zeichen.“).
75 Vgl. dazu Stetter (Fn. 74), 145ff. (mit dem Saussure-Zitat: „Le signe linguistique est arbitraire.“).
76
Simon (Fn. 35), 9; vgl. auch die abweichende Interpretation von Aristoteles, Peri hermeneias, 16a, bei
Stetter (Fn. 74), 300ff.
77 Ausdruck bei K.-H. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 1992, 30. Symbolisch hier verstanden als Zei-
chen, Bedeutung, Sinn, nicht im Sinne des traditionellen, religiös-sakralen Sprachgebrauchs, in dem
das Symbol mit dem Symbolisierten identisch ist, wie z. B. im Fall von Jesus Christus/Gott.

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III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn)

performativen und kommunikationstheoretischen Sprachkonzepten wird der Akzent


von der Beschreibung der Sprache als einem von seinem Gebrauch unabhängigen Zei-
chen- und Regelsystem auf die Beschreibung der Möglichkeit der Wiederholung und
des Stabilhaltens von grammatischen und syntaktischen Regeln in der historischen
Sprachpraxis verrückt. Damit entfällt sowohl die Annahme einer ontologischen oder
erkenntnistheoretisch begründeten Verschiedenheit von Sprache als Zeichen- und Re-
gelsystem einerseits und Sprechen als Regelanwendung andererseits als auch die An-
nahme eines logisch-genealogischen Vorrangs der langue gegenüber der parole, zuerst
bei Wittgenstein, später bei Austin, Derrida, Davidson und Luhmann, um nur einige
Autoren zu nennen.78 An die Stelle des reinen Sprachsystems tritt jetzt die Vorstellung
der Einbettung der Sprache und ihrer Regelhaftigkeiten in die laufende Wiederholung
und Selbsterneuerung von Regeln durch die Sprachpraxis bzw. durch das, was Hum-
boldt die „verbundene Rede“ genannt hat.79
Dieser Eintritt der Sprache in die Irreversibilität der Zeit eröffnet dem Sprachdenken 57
des 20. Jahrhunderts einen schärferen Blick auf das Phänomen sprachlicher Formen
und Regeln. Das lässt sich besonders gut an Wittgensteins Phänomenologie des Regel-
begriffs belegen, die als solche eng mit dem so genannten Privatsprachenargument ver-
bunden ist.80 Die Phänomenologie des Regelbegriffs folgt in ihrem Ansatz dem tradi-
tionellen Verständnis dessen, was eine Regel oder Norm auch für Juristen ausmacht.
Eine Regel setzt ihre mehrfache Anwendung voraus, denn es „kann nicht ein einziges
Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein.“81 Das einzige Mal wäre gerade der Fall,
das Ereignis, die zeitpunktbezogene Operation, also genau das Gegenteil dessen, was
man eine Regel nennt. Wittgensteins Regelbegriff ist darüber hinaus auch insofern
recht konventionell angelegt, als er den Gebrauch einer Regel im Sinne eines „Folgens“
interpretiert und das Der-Regel-Folgen insbesondere mit der Befolgung eines „Be-
fehls“ gleichsetzt. „Einer Regel folgen, das ist analog dem: einen Befehl befolgen.“82
Ähnlich wie Hobbes, der Rechtsgesetze als Command definiert hatte, und nicht anders
als Kant, für den das moralische Gesetz ebenfalls in Form eines Imperativs gebaut war,
erschließt sich das Phänomen der Regel auch für Wittgenstein über die Satzform des
Befehls bzw. dem Befolgen einer Regel. Dies hängt bei Wittgenstein aber nicht mit
einer Fixierung auf den Staat zusammen, sondern mit einer vorreflexiven Sprachauf-
fassung.83 Diese verankert die Sprache in quasi-habituellen Praktiken, im „Beneh-
men“, in eingeübten und eingeschliffenen Handlungsweisen, nicht aber in der Re-
flexion oder Intention, im Denken oder Willen. „So denken wir. So handeln wir. So
reden wir.“84 Dieses „So“ bringt Wittgensteins Bestreben, die Sprache und ihr Regel-
system als das Hinzunehmende und Gegebene der jeweiligen Sprachpraxis oder
„Lebensform“ hervortreten zu lassen, vielleicht am besten zum Ausdruck.85

78 Vgl. den Überblick bei Krämer (Fn. 74), 96, 109ff.; M. Sandbothe, Pragmatische Medienphilosophie,
2001, 63ff.
79
Stetter (Fn. 74), 417ff.
80
Wittgenstein (Fn. 6), §§ 197ff.; dazu Stetter (Fn. 74), 571ff.; ders. (Fn. 6), 172ff.; siehe auch Krämer
(Fn. 74), 109ff.
81 Wittgenstein (Fn. 6), § 201.
82
Wittgenstein, ebd., § 206.
83
Krämer (Fn. 74), 133, spricht von einem „naturalistischen Kulturalismus“, vgl. auch 119f.
84 Wittgenstein, Zettel, § 309, hier zitiert nach Krämer (Fn. 74), 134.
85 In teilweise wörtlicher Anlehnung an Krämer, ebd.; zu diesem Komplex auch instruktiv B. van Roer-
mund, Legal Thought and Philosophy, 2013, 241ff.

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§ 2. Normen

58 Wittgenstein ergänzt diese beiden eher konventionellen Ausgangsannahmen um


zwei weitere Beobachtungen, die alles andere als konventionell sind. Einmal zeigt
Wittgenstein, dass jede sprachliche Regel unhintergehbar praxisgebunden ist. Denn
einer Regel zu folgen erschöpft sich gerade nicht in einem „Deuten“ der Regel, also
etwa in der passenden Interpretation des Wortes „Sache“ in § 242 StGB, wenn der
Täter nicht Brötchen, sondern Erdgas entwendet hat. Eine Norm zu deuten, heißt
für Wittgenstein, „daß wir in einem Gedankengang Deutung hinter Deutung set-
zen“, d. h. „einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen“,86 uns also auf
den Modus einer unabschließbar selbstreferentiellen Handlungsweise des Deutens
einlassen. Der-Regel-Folgen ist aber nicht einfach Ersetzung einer Regelbeschrei-
bung durch eine andere Regelbeschreibung, sondern gerade ein anderer Typus von
Handlung als Beschreibung, eine andere Auffassung von Regel, „die nicht eine Deu-
tung ist“.87 Diese andere Auffassung nennt Wittgenstein „Handeln nach der Regel“,
die sich „in dem äußert, was wir ‚der Regel folgen‘, und was wir ‚ihr entgegenhan-
deln‘ nennen.“88 Darum ist Der-Regel-Folgen für Wittgenstein eine „Praxis“.89 Es
ist also kein transzendentallogisches oder sonstiges Subjekt, das die Einheit eines
Zeichen- und Regelsystem tragen und gewährleisten könnte, sondern nur die Praxis
selbst, die praktische Wiederholung von Regeln, durch die eine Übereinstimmung
in der Anwendung von Fall zu Fall, also ein Gleichklang im Gebrauch von Regeln
erzielt werden kann. Regelmäßigkeit ist das Produkt von Praxis, nicht aber umge-
kehrt ist Praxis ein Derivat von Regeln.90
59 Der Begriff der „Praxis“ leitet zu der anderen Beobachtung über, die Wittgenstein in
seiner Phänomenologie des Regelbegriffs macht. Die Praxis der Regelbefolgung kann
nur als soziale Praxis begriffen werden. Nur eine Kommunikationsgemeinschaft, die
den Gebrauch einer Sprache pflegt, nur eine öffentliche Sprache, kann überhaupt
eine Gleichheit des Regelgebrauchs (und der Bedeutungen der Worte und Namen)
hervorbringen. Das Der-Regel-Folgen kann zwar mit der Wirkungsweise bzw. dem
Programm einer Maschine verglichen werden, doch ist die sprachliche Regel gerade
kein Programm, das „abgearbeitet“ oder „durchlaufen“ werden könnte. Die Zeichen
der Sprache, denen wir folgen, sind auch für Wittgenstein arbiträre Zeichen, die in
Worten und Sätzen organisiert werden. Dass man den grammatikalischen Regeln der
Sprache folgt, ist – entgegen einer durch Noam Chomsky populär gewordenen
Ansicht, der so genannten Universalgrammatik – nicht Teil angeborenen Verhaltens,
sondern in Lernprozessen, durch „Abrichtung“ in einer Gemeinschaft erworbenes
Können. Daher nennt Wittgenstein es eine „Gepflogenheit“,91 wenn man der Regel
folgt, und bringt Gepflogenheiten in einen engen Zusammenhang mit Gebräuchen
und Institutionen. Die Verknüpfung von Regelgebrauch und gesellschaftlichen Kon-
ventionen wird dann im Privatsprachenargument weiter vertieft: Der-Regel-Folgen
86
Wittgenstein (Fn. 6), § 201.
87
Wittgenstein, ebd.
88
Wittgenstein, ebd.
89 Wittgenstein, ebd., § 202; vgl. dazu auch H. Kerger, Zum Verhältnis von Norm und Regel bei Nietzsche,
Wittgenstein und Ihering, 2003, 189ff., 205, 209f.
90
Vgl. auch K.-H. Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung in kognitivis-
tischer Perspektive, ARSP 77 (1991), 176ff., 188f. („Wittgenstein betont eher die Notwendigkeit, den
Gebrauch zu beobachten, gerade weil die ‚Sprachspiele‘ unendliche, zeitabhängig sich konkretisierende
und ändernde Möglichkeiten präsentieren, die sich der sicheren Beherrschung entziehen.“).
91
Wittgenstein (Fn. 6), § 199.

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IV. Pragmatisches Regelverständnis

kann nicht auf subjektiver (privater) Ebene entschieden werden. Denn es ist möglich
und kommt häufig vor, dass jemand in seinem Handeln gegen Gepflogenheiten ver-
stößt und zugleich doch subjektiv der Meinung ist, sich regelkonform verhalten zu
haben. Der-Regel-Folgen setzt eine gesellschaftliche Praxis voraus, die entsprechende
Vorbereitungen für die private Aneignung von Regeln bereitstellt. Man kann nicht
nur als Einzelner „privatim“ einer Regel folgen, „weil sonst der Regel zu folgen glauben
dasselbe wäre, wie der Regel folgen.“92

IV. Pragmatisches Regelverständnis

Akzeptiert man die Einsichten des neueren Sprachdenkens und insbesondere die prag- 60
matische Wende des linguistic turn, muss die Rechtstheorie ihre Festlegung auf ein
normatives Regelverständnis überdenken, d. h. die Festlegung auf ein Regelverständ-
nis, in dem dem Sinn einer Regel unabhängig von ihrem praktischen Gebrauch und
den sie ermöglichenden Medien Normativität und Bindunskraft zugeschrieben wird.
Nicht nur als Alltagsnormen, auch als explizite Rechtssätze sind Regeln Teil einer
Sprachpraxis. Die normative Qualität von expliziten Rechtsnormen ist heute nicht zu-
letzt in den Praxisformen juristischer Expertisen und ihren kognitiven und medialen
Infrastrukturen verankert (der wissenschaftlichen Publikation, dem Schriftsatz vor Ge-
richt, den Gutachten usw.), und als explizite Rechtssätze weisen Rechtsnormen schon
auf Grund ihrer Sprachlichkeit keine andere Substanz und Qualität als andere explizite
Regeln auf.93 Dass Rechtsnormen, wie es bei Kelsen heißt, objektiven und nicht nur
subjektiven Sinn zur Geltung bringen und dass alle „Rechtserkenntnis“ schon eine
„rechtliche Selbstdeutung des Materials“ vorfindet,94 ist völlig zutreffend. Die recht-
liche Selbstdeutung des Materials ist jedoch stets das Ergebnis operativen Sprach- und
Mediengebrauchs, empirisch zu beobachtender Kommunikation, nicht aber ist die
Normativität von Rechtsnormen in einer „unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben
(en)“ Unterscheidung von Sein und Sollen verankert.95 Normen sind emergente Phä-
nomene, ihre Explikation und Verfeinerung durch Juristenrecht ist nur auf der Grund-
lage ihrer (vorreflexiven) Verankerung in der Umgangssprache und ihren communities
of practice möglich.
Es wäre also zu erwägen, den juristischen Normbegriff aus der Tradition des abstrakt 61
normativen Regelverständnisses herauszulösen und in einem post-normativen, „pra-
xeologische(n) Regelverständnis“ neu zu verankern.96 Das abstrakt normative Regel-
verständnis ist zu sehr auf statische Vorstellungen von Regelmäßigkeit fixiert, wie sie
in der alteuropäischen Tradition von norma, regula und kanon bis heute tradiert wer-
den und in der Vergangenheit etwa die deterministische Art der universalen Gesetz-
mäßigkeit der praktischen Philosophie Kants und ihrer neukantischen Nachfolger
bestimmt hat. Diese Tradition legt es nahe, Recht auf Normen im Sinne vor-schrei-
bender, zeitstabiler, den Anspruch auf „Maßgeblichkeit“ im Sinne eines Richtmaßes

92 Wittgenstein, ebd., § 202, vgl. auch § 258; zu beiden Paragraphen Stetter (Fn. 6), 174f.
93
Luhmann (Fn. 7), 49 („Eine Beschreibung des Rechtssystems kann deshalb nicht davon ausgehen, daß
Normen ... von anderer Substanz und Qualität sind als Kommunikationen.“).
94 Kelsen (Fn. 25), 3.
95 Kelsen, ebd., 5 Fn. 1 [Hervorhebung von mir, T. V.].
96
Begriff bei Krämer (Fn. 74), 130.

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§ 2. Normen

in sich tragender Formen zu reduzieren.97 Dominant bleibt hier die auch von Kant so
geschätzte gerade/krumm-Metaphorik, Worte wie „Maßstab“, „Richtlinie“ und
„Richtschnur“, der Rekurs auf Instrumente der Baukunst, von dem das griechische
Wort kanon und sein semitisches Lehnwort qaneh letztlich abgeleitet sind; bezeichnete
das Wort qanu doch bereits in der babylonisch/assyrischen Sprache eine Rohrart
(arundo donax), die zur Herstellung gerader Stangen und Stäbe geeignet war.98 Rechts-
normen bilden sich in der modernen (liberalen) Gesellschaft, die auf dauernden Wan-
del angelegt ist, aber erst im Vollzug eines „Sprachspiels“, also erst durch eine erfolg-
reiche Rechtspraxis, „in der Handlungen und Urteile erprobt und in ihrem
Zusammenhang beobachtet werden“.99
62 Regel und Regelgebrauch fallen auch in einem praxeologischen oder pragmatischen
Regelverständnis nicht zusammen. Sie sind jedoch netzwerkartig miteinander ver-
knüpft und werden durch ihre vorherige und spätere Praxis getragen. Sie bilden zwei
Seiten einer Form, in der die Rechtsnorm sowohl Produkt wie Voraussetzung ihres Ge-
brauchs ist. Kybernetisch formuliert: Der Normgebrauch, das Benutzen und Zitieren
einer Norm, generiert eine Rückkopplungsschleife, die eine Pfadabhängigkeit zur
Folge hat (herrschende Meinung), bis zu dem Punkt, an dem die herrschende Mei-
nung neue Anschlussmöglichkeiten eröffnet und damit Variationen vom bisherigen
Ordnungsmuster möglich werden. Regeln ändern sich im Vollzug ihrer Praxis laufend
selbst, ohne einfach Unordnung zu erzeugen. Damit wird vor allem der Primat der
Rechtsnorm gegenüber ihrem Gebrauch aufgegeben, die Vorstellung voneinander zu
trennender Stufen oder Ebenen des Rechts, in der die Anwendung und Interpretation
von Rechtsnormen stets nachrangige oder mit innerer Notwendigkeit folgende syllo-
gistische Schlusshandlungen sind (vgl. Rn. 194).
63 Halt könnte das pragmatische Regelverständnis u. a. am Auftreten neuer Formen der
Prozeduralisierung und rekursiven Vernetzung des Rechts finden. Die Probleme, auf
die beispielsweise die neuen Schichten des Verwaltungsrechts reagieren, sind in hohem
Maße Probleme des Umgangs mit Phänomenen der Ungewissheit.100 Diese Probleme
versucht das Verwaltungsrecht aber nicht durch eine an zeitstabilen Maßstäben orien-
tierte Gesetzgebung zu bewältigen, sondern gerade durch Flexibilisierung solcher
Maßstäbe. Gemeint sind vor allem neue experimentelle Formen eines Lernprozesse ar-
rangierenden Rechts, Formen der laufenden kybernetischen „Nachsteuerung“, rück-
koppelnde Verfahren der Lektüre der Praxistauglichkeit von Recht, wie man sie etwa
im Technikrecht oder in der Risikoregulierung findet. Dazu treten horizontale Orga-
nisations- und Verfahrensarrangements, in denen Prozesse wechselseitiger Fremd- und
Selbstbeobachtung institutionalisiert werden, wie z. B. im Fall der Preisregulierung in
der Telekommunikation (§§ 10ff. TKG – europäischer Regulierungsverbund). Dieser
Entwicklungssprung führt gerade im Bereich der politischen Gesetzgebung weg „von
juristischer Deduktion anhand relativ statischer Normprogramme hin zu einem Ge-

97
So z. B. Larenz (Fn. 1), 190 („Maßstab“); ähnlich G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, 45
(„... Rechtsnormen in ihrer Urgestalt die Natur von Maßstäben haben, an denen das Zusammenleben
der Einzelnen gemessen wird“).
98
J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1992, 107; zur Begriffgeschichte von kanon, regula, norma vgl.
auch H. Oppel, KANWN, Philologus 4 (1937).
99 Ladeur (Fn. 31), 2.
100 Vgl. etwa W. Hoffmann-Riem, Eigenständigkeit der Verwaltung, 2012, Rn. 113; und die Beiträge in
I. Augsberg (Hrsg.), Ungewißheit als Chance, 2009.

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IV. Pragmatisches Regelverständnis

setzestyp, der auf die Verarbeitung von Ungewissheit angelegt ist und Selbstbeobach-
tung und -evaluation eines offenen Normprogramms institutionalisiert. Die ursprüng-
liche, auf Gewissheit im Entscheidungszeitpunkt angelegte Gesetzeskonzeption, ent-
wickelt sich zunehmend zur flexiblen rechtlichen Plattform.“101
Anstatt die Produktivität der Rechtstheorie durch einen Sollens-Normativismus zu 64
blockieren, der sich stets nur historisch, bei Kant oder Kelsen, zu vergewissern weiß,
muss sich die Rechtstheorie darauf einstellen, dass das moderne Recht nur in einge-
schränktem Umfang mit Befehlen und Konditionalprogrammen operiert. Eine aus-
schließliche Verknüpfung von Rechtsnorm, Rechtsbefehl und Konditionalschema hat
es vermutlich nie gegeben, jedenfalls ist sie längst zugunsten flexiblerer Formen der
Gesetzgebung und Regulierung relativiert worden, in denen nicht mehr Befehl und
Zwang, sondern andere Ressourcen der „Verhaltensregulierung“ in den Vordergrund
gerückt sind. Hier kann man auch an die neuere – im Staats- und Verwaltungsrecht
geführte – steuerungstheoretische Diskussion anschließen. Diese bleibt zwar einer
allzu engen Steuerungsperspektive verhaftet, die sich bis heute nur punktuell von der
tradierten Vorstellung der Gesetzesanwendung gelöst hat,102 sie hat aber gezeigt, dass
neben die vertrauten Formen des verwaltungsförmigen Gesetzesvollzugs beispielsweise
Verfahren regulierter Selbstregulierung getreten sind, „‚indirekte‘ Steuerungsformen,
wie etwa das Setzen ökonomischer Anreize oder die Beeinflussung von Handlungs-
kontexten durch Rahmenvorgaben und Spielregeln“.103 Um diese Veränderungen an-
gemessen verarbeiten zu können, ist es nicht zuletzt notwendig, die Gerichtszentrie-
rung der Normentheorie zu relativieren, d. h. ihre ausschließliche Ausrichtung auf das
Tätigkeitsfeld der Richterin oder des Richters.
Diese Entwicklung legt es darüber hinaus nahe, nach Möglichkeiten einer stärkeren 65
Verknüpfung des Regelbegriffs mit „kognitiven Mechanismen der Wissenserzeugung“
zu suchen.104 Es wäre also zu erwägen, Rechtsnormen als einen Handlungstypus regel-
hafter Informationsverarbeitung unter Ungewissheitsbedingungen zu konzipieren. Im
Begriff der Rechtsnorm wird Regelmäßigkeit (Redundanz) zunächst in Form eines
hierarchisch abgeschichteten Wissens verankert, mit der Möglichkeit des wiederholten
Abrufens/Anwendens einmal gespeicherter Informationen (Regelanwendungsmodell).
Dagegen treten heute zunehmend konnexionistische Muster der Wissenserzeugung an
die Stelle des alten Regelanwendungsmodells. Was auch im neuen kybernetischen
Rückkopplungsmodell bleibt, ist die „Notwendigkeit der Bindung von Ungewissheit
jenseits der Möglichkeit der Reproduktion einer Tradition“.105 Die Normentheorie
muss aber in Zukunft auch darauf reagieren, dass diese Bindung nicht über zeitstabile
Maßstäbe erreicht werden kann und das Normative der Rechtsnorm möglicherweise
schon immer ein Effekt praktischen (impliziten) Wissens war, auch wenn erst die

101
K.-H. Ladeur/T. Gostomzyk, Der Gesetzesvorbehalt im Gewährleistungsstaat, Die Verwaltung 36
(2003), 141ff., 166.
102
Vgl. dazu etwa C. Franzius, Funktionen des Verwaltungsrechts im Steuerungsparadigma der Neuen
Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 39 (2006), 335ff., 343 („Jedoch sollten Setzung und
Anwendung von Recht nicht im Sinne strikter Funktionsdifferenz verstanden werden.“).
103
W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, 2012,
Vorwort zur ersten Auflage, IX; vgl. auch A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, 2012, § 1
Rn. 10ff. („Krise“ des Ordnungsrechts).
104 Ladeur (Fn. 30 – Negative Freiheitsrechte), 12, vgl. auch 56ff.
105
Ladeur (Fn. 31), Vorwort.

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§ 2. Normen

neuen Formen der Prozeduralisierung und „Recht-Fertigung“ (Wiethölter) des


Rechts, die dynamische und nachbarschaftliche (rekursive) Vernetzung des Rechts-
systems, diese kognitive Komponente in ihrer ganzen Bedeutung sichtbar gemacht
haben.
66 Um auf die Herausforderungen der jüngeren Rechtsentwicklung (im Verwaltungsrecht, im Staatsrecht, im
Europarecht, in Teilen des Zivilrechts etc.) adäquat reagieren zu können, wird es nicht genügen, auf einen
funktionalen Normbegriff im Stil der Systemtheorie umzustellen. Luhmanns Unterscheidung von norma-
tiven und kognitiven Erwartungen kann man zwar insofern akzeptieren, als der Begriff der Rechtsnorm
nicht über immanente Normqualitäten bestimmt werden kann, etwa über einen allgemeinen Wertbezug
des Rechts zur Rechtsidee bzw. Gerechtigkeit, wie in der Rechtsphilosophie von Radbruch.106 Das Pro-
blem des funktionalen Normbegriffs der Systemtheorie bleibt aber sein Status als Gegenbegriff zur lernbe-
reiten Kognition. Die Unterstellung, dass Recht nur und ausschließlich im Medium der „kontrafaktischen
Enttäuschungsfestigkeit“ Ordnung erzeugen kann, ist wenig plausibel, wie schon der von Luhmann ver-
wendete Begriff der „Erwartung“ selbst zeigt. Im Begriff der Erwartung schwingt eine Unbestimmbarkeit
mit, die die Verknüpfung der Begriffe „Norm“ und „Erwartung“ zu „normativer Erwartung“ nicht als wirk-
lich gelungene Formelbildung erscheinen lässt. Erwartungen, auch Erwartungen normativer Art, hat man
letztlich gegenüber nahezu allem und jedem: dem Leben, der Qualität des Espresso, den man im Gilli (in
Florenz) bestellt, der Formensprache eines Aston Martin, der neuen CD von Pat Metheny, den schulischen
Leistungen der eigenen Kinder usw. Warum soll demgegenüber nur das Recht durch „kontrafaktische Ent-
täuschungsfestigkeit“ charakterisiert sein?

106
Radbruch (Fn. 97), 34.

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§ 3. System I

I. Einheit und Hierarchie des Rechts

Rechtssystem nennt man im 19. Jahrhundert und teilweise noch heute eine nach Prinzi- 67
pien geordnete Ganzheit des Rechts, die zu „innere[r] Einheit“ gefügte, aus Rechtsnor-
men und Institutionen bestehenden Rechtsordnung.1 „Innere Einheit“meint dabei eine
ganz spezifische Anordnung des Rechtsstoffes, nämlich die Relationierung aller Rechts-
normen und Institutionen nach höheren und niederen Rängen, mit einem höchsten
Rang als Abschluss oder Spitze. Dieses hierarchische Modell hat sich gegenwärtig im Be-
griff der „Normenpyramide“ durchgesetzt; manchmal wird – in Anknüpfung an Kel-
sen – auch von „Stufen“ oder von einem „Stufenbau der Rechtsordnung“ gesprochen.2
Danach steht z. B. in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland „die Verfas-
sung an der Spitze, ihr folgen das Gesetz, die Rechtsverordnung und die Satzung“.3 Die-
ses Schema ist als operative Prämisse auch in der Rechtspraxis präsent.4 Vor allem die
Gerichte arbeiten bei ihren Entscheidungen mit einer hierarchischen Abschichtung
von Rechtsnormen (Normenhierarchie) auch wenn das Hierarchieschema inzwischen
an Leistungsgrenzen zu stoßen scheint, wie beispielsweise das nicht abschließend
geklärte Verhältnis der Grundrechte des Grundgesetzes zu den Grundfreiheiten der
Europäischen Union bzw. zu den Menschenrechten der EMRK zeigt.5
Woher kommt der Gedanke, dass das Recht ein nach Rängen oder Stufen geordnetes 68
Ganzes sei, ein hierarchisch gegliedertes „inneres“ System? Das juristische System-
denken lässt sich am besten über den Kodifikationsgedanken bzw. das Kodifikations-
recht des 19. Jahrhunderts erschließen. Das Kodifikationsrecht des 19. Jahrhunderts
strebte – vor dem Hintergrund der sich auf dem europäischen Kontinent bildenden
Nationalstaaten – eine umfassende Neuordnung des „gesamten Rechts“ an. Dieser
Prozess hatte in den modernen Verfassungsurkunden im Amerika und Frankreich des
späten 18. Jahrhunderts einen ersten Vorläufer und realisierte sich erstmals in den gro-
ßen Gesetzbüchern in der Folge der französischen Revolution von 1789,6 im Code civil
(1804), Code de commerce (1806), Code de procédure civile (1807) und Code pénal
(1810). Nach Ansicht Max Webers brachte Kontinentaleuropa damit ein drittes gro-
ßes Weltrecht hervor, das Recht der „rationalen Gesetzgebung“.7 Vom Common law,
1 Vgl. nur F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, 433ff. (Dort heißt es mit Bezug auf die
Pandektenwissenschaft: „Eine gegebene Rechtsordnung ist stets ein geschlossenes System von Institutio-
nen und Rechtssätzen.“); für die heutige Sichtweise C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in
der Jurisprudenz (1969), 1983, 11ff., 13ff. („innere Einheit der Rechtsordnung als Grundlage des juris-
tischen Systems“).
2 H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 228ff.
3
H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, 70f.; vgl. auch H. Dreier, Hierarchische Verwaltung
im demokratischen Staat, 1991, 2ff., 141ff.
4
Vgl. G. Teubner, Des Königs viele Leiber, Soziale Systeme 2 (1996), 229ff., 234 Fn. 4.
5 Vgl. dazu nur W. Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte,
EuGRZ 2002, 473ff.
6
Zum Systemanspruch des modernen Verfassungsrechts vgl. nur D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung,
1991, 31ff., 34f., 60 (Verfassungen erheben im Unterschied zu älteren vertraglichen Bindungen den
Anspruch, „die Herrschaftsausübung umfassend zu normieren“).
7 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 496 (Im Code civil und den anderen Kodifikatio-
nen realisierte sich die Tatkraft einer „spezifischen Art von Rationalismus: des souveränen Bewußtseins“,

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§ 3. System I

das inkrementell aus der juristischen Praxis hervorgegangen war, und vom römischen
Juristenrecht unterschied sich das Kodifikationsrecht nach Weber durch die in ihm zur
Vollstufe gesteigerten „formalen Qualitäten“.8 Darunter verstand Weber eine systema-
tische Bearbeitung des Rechtsstoffes: die Relationierung aller Rechtsbegriffe und
Rechtsnormen derart, „daß sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch wider-
spruchsloses und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden“.9
69 Der Anspruch auf Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit, der den französischen
Code civil seit dem frühen 19. Jahrhundert für ganz Europa zum Vorbild gemacht
hatte,10 bestimmte auch die gesamtdeutsche Gesetzgebung seit der Reichsgründung
von 1871, vor allem das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 (BGB).11 Ja, noch deut-
licher und reiner als der Code civil ist das BGB von der Idee einer abschließenden
und erschöpfenden Aufzeichnung aller privatrechtlichen Normen und Institutionen
geprägt. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das BGB gemeinsame begriffliche
Merkmale der Rechtsverhältnisse konsequent vor die Klammer zieht (so vor allem im
1. und 2. Buch) und diese gemeinsamen Merkmale der Rechtsverhältnisse als allge-
meinen Teil den besonderen Regeln des Privatrechts vorordnet. Diese hierarchische
Abschichtung von Allgemeinem und Besonderem wird im BGB zwar mit dem Nach-
teil erkauft, dass die Kohärenz der verschiedenen Bücher untereinander nicht immer
klar ist; man denke nur an den Ausschluss der Irrtumsanfechtung nach § 119 Abs. 2
BGB durch die lex specialis des Kaufmängelrechts der §§ 434ff. BGB. Sehr viel kon-
sequenter als andere Kodifikationen erreicht das BGB dadurch aber eine hohe begriff-
liche Disziplin und systematische Durchbildung des gesamten (privatrechtlichen)
Rechtsstoffs.
70 Die begriffliche Disziplinierung und systematische Durchbildung des Rechtsstoffs
entsprach dem Anspruch des Kodifikationsrechts, Gesetzgebung aus einem Guss zu
sein, eben Gesetzbuch und nicht Loseblattsammlung oder Onlinepublikation mit lau-
fenden updates. Das BGB stellt vielleicht keine abschließende Antwort auf alle juristi-
schen Fragen in Aussicht, aber die Form des systematischen Gesetzbuches ermöglichte
der Rechtspraxis davon auszugehen, dass eine solche Antwort prinzipiell im Gesetz-
buch gefunden werden konnte; noch heute schlagen deshalb Examenskandidaten
nach der Frage des Prüfers in der Regel als erstes das Gesetzbuch auf. Webers Charak-
terisierung des juristischen Systems als widerspruchsfrei und prinzipiell lückenlos fängt
daher eine der wesentlichen Intentionen der Kodifikationsidee des 19. Jahrhunderts
ein, auch wenn die „innere Einheit“ des Privatrechts bei genauerer historischer Be-
trachtung weder in Frankreich noch in Deutschland jemals tatsächlich realisiert
wurde. In Deutschland waren wesentliche Teile des Privatrechts wie etwa das Handels-

ein „rein rational ... von allen historischen ‚Vorurteilen‘ freies Gesetz, Benthams Ideal entsprechend“);
vgl. auch Wieacker (Fn. 1), 339ff., der den Code civil allerdings zu unspezifisch unter die „Naturgesetz-
bücher“ subsumiert; anders z. B. K. Zweigert/H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1996,
84ff., die die Unterschiede zwischen Code civil und preußischem Allgemeinem Landrecht stärker beto-
nen.
8 Weber (Fn. 7), 496; vgl. auch 503ff.
9
Weber, ebd., 396. Weber sprach – in Übereinstimmung mit dem juristischen Sprachgebrauch seiner
Zeit – auch von einer spezifisch systematischen Aufgabe des Rechtsdenkens.
10 Dazu Zweigert/Kötz (Fn. 7), 97ff.
11 Vgl. nur Weber (Fn. 7), 494f. (dort wird das BGB allerdings nur indirekt angesprochen); Wieacker
(Fn. 1), 468ff.

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I. Einheit und Hierarchie des Rechts

recht und der gewerbliche Rechtsschutz von vornherein in besondere Gesetze ausge-
gliedert; und gerade die inhaltlich strittigen Materien, die aus dem Aufstieg der indus-
triellen Massengesellschaft mit ihrer Spaltung in Arbeit und Kapital herrührten, So-
zialrecht und Arbeitsrecht, wurden, wenn überhaupt, erst sehr viel später kodifiziert.
Die kodifikationsrechtliche Idee einer rationalen Systematik des „gesamten Rechts“ 71
diente zugleich der Begründung der Autonomie des bürgerlichen Rechts. Nur wenn
man Prinzipien, Grundsätze oder sogar eine einzige, die Einheit des Systems tragende
Rechtsidee von rangniedrigeren einfachen Rechtssätzen unterscheiden kann, ist eine
Rang-, Ebenen- oder Stufenordnung innerhalb eines Systems mit einer Spitze oder
Abschlussformel möglich. Der Begriff des Systems wiederum ist nicht ohne die Unter-
scheidung von innen (System) und außen (Umwelt) zu haben, folglich setzt jede Vor-
stellung eines autonomen Rechtssystems, einer „inneren Einheit“ des Rechts, Unab-
hängigkeit gegenüber allen rechtsfremden Normen voraus, insbesondere Autonomie
gegenüber historisch gewachsenen gesellschaftlichen Regelbeständen und praktisch er-
probten Konventionen. Was das heißt, lässt sich gut an einem bekannten Rechtsfall
der preußischen Geschichte verdeutlichen: Dem Müller Arnold, dessen in Erbpacht
betriebene Mühle ohne Rechtsgrund zwangsversteigert worden war, wurde der An-
spruch auf Schadensersatz verweigert, weil die Zwangsversteigerung auf Betreiben des
Grafen Gottfried Heinrich Leopold von Schmettau erfolgte, in dessen Eigentum die
Mühle stand. Eine Gleichbehandlung von Müller und Graf hätte u. a. eine von ständi-
schen Interessen und Einflussmöglichkeiten unabhängige Justiz anstelle der in Preu-
ßen um 1780 noch üblichen Patrimonialgerichtsbarkeit erforderlich gemacht. Das sys-
tematische Kodifikationsrecht musste sich von diesen (und anderen) vorgegebenen
Traditionen der Adelsgesellschaft befreien, wenn es sich als autonom, als selbst gesetz-
gebend beschreiben wollte. Nur dann war eine Gleichbehandlung von Graf und Mül-
ler, von Personen ganz unterschiedlichen Standes, in prozessualer wie materiell-recht-
licher Hinsicht überhaupt denkbar.
Die Sicherung der Autonomie des Systems erfolgte in der Rechtswissenschaft des 72
19. Jahrhunderts maßgeblich durch den Freiheitsbegriff bzw. den Begriff des freien
Willens. Als Gründungsfigur hatte der Freiheitsbegriff vor allem die Aufgabe, das Sys-
tem von der Kontinuität der Tradition abzulösen. Aber sobald ein System auf der
obersten Stufe Freiheit, Unabhängigkeit von der Tradition und ihren Autoritäten, zu-
lässt, kommt ein „Punkt höchster Unsicherheit und letzter Unentscheidbarkeit“ zum
Vorschein:12 die hierarchische Systemarchitektur korreliert mit Kontingenz an ihrer
Spitze. Dieses Problem tauchte im Systemdenken und im Kodifikationsrecht des
19. Jahrhunderts allein deshalb nicht auf, weil der freie Wille stets als vernunftgeleite-
ter Wille vorausgesetzt wurde. Schon seit der frühen Neuzeit war der Wille, den man
zunächst Gott zugeschrieben hatte, auf den Fürsten umgeleitet worden, später – im
Zuge der Bildung von größeren Flächenstaaten wie etwa Frankreich – auf den König;
der König war aber per se gerecht, ansonsten galt er als Tyrann, gegen den Widerstand
rechtmäßig war. An diese Rationalitätsunterstellung knüpfte noch das moderne Na-
turrecht an. Rousseau etwa versuchte die Willkür an der Spitze des Systems durch die
(ambivalente) Überordnung der volonté générale über die volonté de tous zu binden,
durch einen auf das Volk als Totalität projizierten Gemeinwillen, der auf Grund der
ihm immanenten Allgemeinheit nicht irren und sich selbst kein Unrecht zufügen
12
N. Luhmann, Die Rückgabe des 12. Kamels, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), 3ff., 60.

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§ 3. System I

konnte. Eine andere Lösung favorisierte Kant. Kant lenkte die mögliche Willkür an
der Spitze des Systems auf ein „transzendentales Feld ..., innerhalb dessen sich der
Wille selbst konstituiert“,13 als allgemeingültiges Gesetz aus Grundsätzen a priori, die
ihrerseits aus dem Faktum der Vernunft folgten. Infolgedessen blieben Freiheit und
Autonomie im juristischen Systemdenken des 19. Jahrhunderts immer an eine
„fremde“ Vernunft gebunden, die hier – wie bei Kant – durch das System als Subjekt
der Vernunft bzw. Träger allgemeiner Gesetze repräsentiert wurde. Das zeigt sich z. B.
in der engen Verschränkung von subjektivem und objektivem Recht bei Friedrich Carl
v. Savigny. Das Recht einer Person wird bei Savigny als die ihr zustehende Macht in
einem Gebiet, „worin ihr Wille herrscht“, definiert, aber diese Befugnis zur Herrschaft
des Willens ist keine beliebige, sondern wiederum von einer allgemeinen Regel, vom
„Recht schlechthin“, abhängig.14

II. Systembegriff

1. In der Naturphilosophie
73 Mit dem Aufkommen der Naturphilosophie (philosophia naturalis) im 17. Jahrhundert
gingen wissenschaftliches Denken und Erfahrung eine neue Beziehung ein, mit der sich
Charakter und Stellenwert von Wissenschaft und damit auch der Charakter wissen-
schaftlicher Methoden grundlegend in Richtung einer systematischen Beweisführung
veränderten. Nachdem sich erste Ansätze zu einer stärker systematischen Ordnung des
wissenschaftlich relevanten Materials schon im Humanismus angekündigt hatten, ins-
besondere in der logisch-dialektischen Methode von Petrus Ramus (1515–1572), stieg
das wissenschaftliche Verfahren in der Naturphilosophie – etwa bei Autoren wie Galilei,
Gassendi, Descartes, Hobbes und Spinoza – in den Rang einer (unhintergehbaren) Vor-
aussetzung für die Erkenntnis der Wahrheit der Dinge auf. So heißt es etwa in einer
1701, nach dem Tode Descartes’ erschienenen Frühschrift: Necessaria est methodus ad
rerum veritatem investigandam. Notwendig ist das Verfahren, um der Wahrheit der
Dinge auf die Spur zu kommen.15 Das wissenschaftliche Vorgehen oder Verfahren, die
certitudo modi procedendi, bestimmte von nun an, wie die Natur der Dinge zu sehen war,
nicht mehr die certitudo obiecti, die nur in bestimmten, unveränderlichen (meist meta-
physischen) Gegenstandsbereichen eine Repräsentation des Seins im Denken und
damit sicheres („apodiktisches“) Wissen zugelassen hatte. Wegen der damit einher-
gehenden Ausdehnung mathematischer (konstruktiver) Erkenntnisverfahren auf das
Studium der Naturphänomene ist die philosophia naturalis später auch als „exakte
Wissenschaft“ oder „mathematische Naturwissenschaft“ bezeichnet worden.16

13 R. Esposito, Communitas, 2004, 100. Die neuere politische Philosophie – wie J. Rogozinski, Le don de
la Loi, 1999, 91 – sieht daher das kantische Gesetz am Ursprung der Gemeinschaft, als Urform, Urgabe
(archidonazione) oder als Selbst-Gebung des Gesetzes (l’auto-donation de la Loi). Das ist auch die Auf-
fassung der Phänomenologie in Bernhard Waldenfels‘ Schattenrisse der Moral (2006).
14 F. C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, 7, 9; in der Pandektenvorlesung
von 1824/25, 1993, 15, heißt es ähnlich: „Recht im subjectiven Sinne ist das was durch allg: Regel als
dem Willen des einzelnen unterworfen, anerkannt und geschützt wird.“
15
Hier zitiert nach M. Heidegger, Die Frage nach dem Ding (1935/36), 1987, 79. Zu Ramus’ dialekti-
scher Methode vgl. W. J. Ong, Ramus, 1958, 171ff., 225ff.
16 Etwa bei P. Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik, 1990, 149 („mathematische Naturwissen-
schaft“); E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit

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II. Systembegriff

Zirkulär mit der neuen Methode verknüpft war in der frühneuzeitlichen Naturphilo- 74
sophie die Auffassung, dass die Welt in ihrer Gesamtheit sie determinierender univer-
saler Gesetzmäßigkeiten unterworfen sei. Dazu wurde der Gesetzesbegriff erstmals mit
Kriterien wie Unveränderlichkeit und Notwendigkeit angereichert und auf das Stu-
dium der Bewegung materieller Körper im Raum angewandt; und damit wurde die
Bewegung zum Studienobjekt von Veränderung (gr. metabolé) überhaupt. Das ge-
schah zunächst im Bereich der Bewegung von Himmelskörpern, später wurde der Ge-
setzesbegriff auf alle Körperbewegungen im Raum ausgedehnt. Schon Kepler hatte
Himmel und Erde ein „System“ gleicher Bewegungsgesetze genannt, und Galilei ver-
teidigte die von ihm durchgeführte Vereinheitlichung aller Arten von Körperbewegun-
gen zu einer einzigen kinematischen Theorie mit dem Argument, dass das Buch der
Natur überall in der gleichen mathematischen Sprache, den Buchstaben der Kreise,
Dreiecke und anderer geometrischer Figuren geschrieben sei.17 Newtons Philosophia
naturalis principia mathematica von 1687 bildet dann den vorläufigen Abschluss des
neuen, um die Bewegung von Körpern zentrierten Denkens. Newton definiert zu-
nächst physikalische Grundbegriffe wie Materie (quantitas materiae), Bewegung (mo-
tus) und Kraft (vis), dann Grundsätze oder Gesetze von Bewegungen (axiomata sive le-
ges motus). Daraus leitet er Lehrsätze über verschiedene Bewegungsarten (de motu
corporum) ab, die in drei Bewegungsgesetzen verdichtet werden, zu denen u. a. das
Trägheitsprinzip gehört, demzufolge ein Körper in einem Zustand der Ruhe oder der
gleichförmig geradlinigen Bewegung verharrt, solange keine äußere Kraft auf ihn ein-
wirkt. Dies alles wird im dritten und letzten Buch der Principia, im „Newtonschen
System“ des Universums, zusammengeführt; das Universum wird jetzt als Ganzes von
der Gravitation durchherrscht, einer universalen Gesetzmäßigkeit, die ebenso für den
fallenden Apfel an einem beliebigen Ort in England wie für die Bahnen der Gestirne
noch in der letzten Galaxie gilt.18 Die Naturphilosophie führte mit anderen Worten zu
einem System mit Absolutheitsanspruch, zu einem System, das in seinem Medium,
dem gedruckten Buch, eine universelle Gültigkeit der von ihr entdeckten Gesetzmä-
ßigkeiten (Bewegungsgesetze) einforderte.
Der Name „System“ stammt aus dem Altgriechischen (tò systema) und bedeutete dort wörtlich der Zusam- 75
menstand, das Zusammengestellte, auch das Zusammengesetzte.19 Mit dem zugrundeliegenden Verb be-
zeichnete man Tätigkeiten wie aufstellen, hinstellen oder etwas errichten. Verb wie Substantiv verwiesen
anfänglich auf elementare Praktiken der Baukunst, wie etwa der Anordnung von Säulen in einem Tempel.
Später bezog sich der Systembegriff hauptsächlich auf Beziehungen zwischen dem Ganzen und seinen Tei-
len und wurde dementsprechend auf zusammengesetzte Gebilde aller Art angewandt, nicht nur auf Tem-
pel, die aus Säulen bestanden, sondern auch auf Menschen, Tiere, Pflanzen, Wasser, aber auch auf die Stadt

(1922), 1991, 314ff. („exakte Wissenschaft“). Zur Entstehung der Naturphilosophie aus wissenschafts-
historischer Sicht P. Rossi, Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, 1997, insb. 94ff.;
I. B. Cohen, Revolution in der Naturwissenschaft, 1994, 167ff.
17
Im Saggiatore von 1637 heißt es: „Die Philosophie ist in jenem großen Buch geschrieben, das ständig
offen vor unseren Augen liegt (ich meine das Universum); dieses Buch kann man aber nur verstehen,
wenn man vorher die Sprache und die Buchstaben gelernt hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in ma-
thematischer Sprache geschrieben, und die Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische
Figuren, und ohne diese Hilfsmittel ist es Menschen unmöglich, auch nur ein Wort davon zu begrei-
fen.“ Hier zitiert nach Cohen (Fn. 16), 214. Dazu instruktiv H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt,
1981, 71ff.
18 M. Riedel, System, Struktur, in: Geschichtliche Grundbegriffe, 2004, 285ff., 295; vgl. auch Cohen
(Fn. 16), 242ff., 245f.; Rossi (Fn. 16), 309ff.
19
Dazu und zum Folgenden ausführlich Riedel (Fn. 18), 285ff.

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§ 3. System I

(polis), den Zusammenschluss mehrerer Städte, eine Herde von Tieren, ein Heer von Soldaten oder Pries-
terkollegien. Als Indikator eines Unterschieds, eines Mehr des Ganzen gegenüber seinen Teilen, war der
Systembegriff in der griechischen Philosophie aber nicht oder allenfalls schwach ausgebildet. Der System-
begriff verwies vorwiegend auf Ganzheiten bzw. Gesamtheiten, die sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in
ihren Teilen als natürlich gegeben galten. So war beispielsweise das Leben in der Stadt eine Einrichtung der
Natur; aber auch die Rangunterschiede zwischen Bürgern und Sklaven, Männern und Frauen, Vätern und
Kindern, wurden als von der Natur gegeben angesehen. Das System war kein Begriff, der etwa die polis als
abstrakte, von ihren Einwohnern abgelöste Einheit bezeichnet hätte, wie heute der Begriff der juristischen
Person eine künstliche oder fiktive Einheit oder Zuschreibungsadresse denominiert. Die Beschreibung von
Objekten wurde durch den Systembegriff lediglich in das Ganze und seine Teile verdoppelt, während die
Frage, wie denn ein Ganzes seine Einheit herstellt und reproduziert, durch die Unterstellung natürlicher
(„ontologischer“) Hierarchien beantwortet wurde. Aristoteles beispielsweise verglich die Stadt mit dem
Menschen und argumentierte, dass nicht nur der menschliche Körper von seinem beherrschenden Teil be-
stimmt werde, sondern auch die polis selbst.20
Mit der Unterstellung natürlicher Hierarchien korrespondierte in der griechischen Philosophie eine Vor-
rangstellung der Metaphysik gegenüber allen anderen Arten von Wissenschaft. Namentlich für Aristoteles
war Metaphysik, nicht aber etwa Physik und Mathematik, erste Philosophie (gr. ton metà tà physicá, lat.
prima philosophia).21 Diese Rangordnung gründete in der Überzeugung, dass es jenseits der veränderlichen
empirischen Natur, der natürlich bestehenden Dinge, eine unveränderliche, nicht-empirische Substanz
gab, eine Sphäre der Transzendenz, des Metaphysischen. So musste z. B. die Bewegung eine stabile unver-
änderliche Anfangsursache haben, und dies hatte sie nach Aristoteles in der Existenz eines ewigen, unbe-
weglichen Bewegers. Erst hier, in der Erkundung der ersten unveränderlichen bzw. notwendigen und
gleich bleibenden Prinzipien, erreichte die Philosophie – als Metaphysik – ihre höchste und würdigste
Form. Das Transzendente war einer streng demonstrativen Erfassung durch Theorie besonders zugänglich,
während die Welt der empirischen Erscheinungen, etwa das Leben in der Stadt, als veränderlich und flüch-
tig galten und sich daher nicht in gleichem Maße in der Form sicheren („apodiktischen“) Wissens erfassen
ließen.
Mit zunehmendem Einfluss des Christentums wurde die aristotelische Metaphysik in Richtung einer All-
macht der Seele Gottes umgebaut. Das führte zu der für das christliche Mittelalter zentralen Vorstellung,
dass die Welt wie eine Pyramide über unterschiedliche Seinsebenen hierarchisch gegliedert sei, über eine
stationäre Verteilung von Positionen verfüge und in der Autorität Gottes ihr Zentrum und ihren Stifter
habe.22 Diese Weltbeschreibung bestimmte auch das mittelalterliche Naturrecht, dessen Grundlage eine
von der Natur gestiftete Gerechtigkeit war. Die Natur teilte die Aufgaben und die Plätze in der Gesellschaft
selbst zu, und die Gerechtigkeit bzw. das Recht waren daran zu messen, dass sie diese natürliche Ordnung
beachteten (iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi).23 Damit erstreckte sich die
Natur als Ordnung gleichsam in das gesellschaftliche Leben hinein. Eine besondere Rolle des Systembe-
griffs zur Beschreibung von Gesellschaft und Recht war auch im frühen und hohen Mittelalter nirgends
in Sicht. Der christliche Glaube, im Alten und Neuen Testament aufgeschrieben, kannte kein System. Er
ließ lediglich die Darstellungsform der „Summa“, des „Corpus“, des „Compendium“ oder der „Synopsis“
zu. Auch beim Corpus iuris civilis handelte es sich um einen „Corpus“ von Rechtsregeln und nicht um ein

20
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1168b 31–33. Das Argument taucht später bei Thomas von Aquin
wieder auf; vgl. auch den Kommentar von O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3
(1873), 1954, 555 („... gelangt so zu dem Satze, daß jeder gesellschaftliche Körper eines herrschenden
Theiles (pars principans) bedarf ...“).
21
Aristoteles, Metaphysik, 1026a.
22
Vgl. nur E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen Bd. 1 (1912), 1994, 320
(„Und so erhebt sich über dem Ganzen mit dem religiösen Zentralzweck die religiöse Autorität als die
eigentliche Seele der ganzen menschlichen Gesellschaft in all ihren Stufen und Gruppen, die ... das
Ganze selber in seinen Grundverhältnissen leitet und bedingt, um jeden auf seine Weise und an seinem
Ort an dem ewigen Zwecke seinen entsprechenden Anteil finden zu lassen.“); ähnlich v. Gierke
(Fn. 20), 555.
23 So wird der Satz aus den Digesten 1.1.10. jedenfalls im Mittelalter interpretiert. Vgl. G. Post, Studies in
Medieval Legal Thought, 1964, 494ff., 540; vgl. auch N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993,
518.

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II. Systembegriff

System im neuzeitlich-modernen Sinn.24 Allerdings dürfte der Monotheismus des Christentums – über die
Bibel als kanonisches Buch – durchaus zum Aufstieg von Einheitsvorstellungen in den verschiedensten
Sinnfeldern der europäischen Gemeinschaft und damit auch im Recht beigetragen haben.

Dem griechischen Denken war neben dem Systembegriff auch der Begriff des Gesetzes als nomos vertraut. 76
In der Bedeutung von oraler Tradition, Gewohnheit, Sitte, Brauch lässt sich das Wort nomos bereits in ar-
chaischer Zeit – bei Hesiod – nachweisen;25 die Sophisten, z. B. Antiphon, setzten nomos dann stärker in
Differenz zu physis (Natur, von Natur aus).26 Alle Menschen greifen mit den Händen (physis). Benutzt aber
jemand seine Hände, um ein Schaf zu stehlen, widerspricht das zwar nicht der Natur, verletzt aber mög-
licherweise ein schriftlich erlassenes Gesetz (nomos). Die Bedeutung von nomos als schriftlich erlassener
und verbindlicher Norm stabilisiert sich vermutlich um 500 (im Umfeld der Kleisthenischen Reformen),
auch im klassischen Athen wurde nomos im Sinn von Schriftgesetz gebraucht.27 Für Aristoteles waren no-
moi jene Regeln oder Gesetze einer Stadt, die entweder auf bloßer Anordnung beruhten, nur für einzelne
Fälle getroffen wurden oder das Resultat örtlicher Beschlussfassung (Plebiszite) waren.28 Die nomoi ergänz-
ten das tradierte Naturrecht, ja sie standen in einem Gegensatz zur Natur und zur natürlichen Perfektion.29
Der Gesetzesbegriff war damit aber von vornherein in einem Bereich angesiedelt, in dem auf Grund der
Unvorhersehbarkeit der Ereignisse kein wirklich sicheres Wissen möglich war. Der Zugang zu allgemein-
gültiger Gesetzmäßigkeit war im Bereich des politisch-praktischen Lebens gerade dadurch versperrt, dass
hier – im Unterschied zur Natur – immer auch alles anders sein konnte.30
Der römische Gesetzesbegriff hatte wie der griechische nichts mit der modernen Vorstellung eines allge-
meinen Gesetzes zu tun. Das römische Gesetz (lex) der frühen Zeit war situatives Recht, im Unterschied
zum alten, seit unvordenklichen Zeiten geübten Stadtrecht (ius civile).31 Auch die Gesetze der Republik
waren in hohem Maße Maßnahmegesetze oder leges ad personam, politische Ad-hoc-Entscheidungen wie
etwa Kriegserklärungen, Friedensschlüsse, Koloniegründungen, Weihungen eines Tempels, Exilierungen
bzw. Rückrufe aus dem Exil, Ernennungen außerordentlicher Beamter etc.; es herrschte eine „enge Ver-
flechtung von Gesetzgebung und Tagespolitik“, das „Volksgesetz war Tagesaktion, nicht nachhaltige Rege-
lung auf lange Sicht“.32 Wie groß die Differenz zwischen dem modernen und dem römischen Gesetzes-
begriff ist, erkennt man auch daran, dass das römische Recht keinerlei Schwierigkeiten hatte, im Fall von
Vertragsklauseln von lex contractus zu sprechen.33 In beiden Fällen, sowohl im antiken griechischen wie im
antiken römischen Recht, werden Rechtsregeln und Gesetze eher lokal und situationsabhängig gedacht,
nicht aber, wie in den Rechtssystemen des 19. Jahrhunderts, als allgemeine Normenbestände, die in die
Zukunft wirken und eine unbestimmte Zahl künftiger Anwendungen vorwegnehmen.

24 Vgl. Riedel (Fn. 18), 290 u. a. mit Hinweis auf Th. v. Aquin, Summa Theologica; anders für das Corpus
iuris aber H. J. Berman, Recht und Revolution, 1991, 199.
25
Hesiod, Werke und Tage, 275–280; zur Bandbreite der frühen Verwendungen von nomos vgl.
M. Ostwald, Nomos and the Beginnings of the Athenian Democracy, 1969, 21 („order of living, way
of life“); E. A. Havelock, Preface to Plato, 1963, 62f. („custom-laws“, „usage“, „custom“).
26 M. Gagarin, Antiphon the Athenian, 2002, 65ff., 68f., 184; Ostwald (Fn. 25), 37.
27 K. Robb, Literacy and Paideia in Ancient Greece, 1994, 125ff., 147f.; Ostwald (Fn. 25), 36f. (nomos
= „statutory enactment“ bei Aristophanes), 137ff. (zum Übergang von thesmos zu nomos im Zuge der
Kleisthenischen Reformen).
28 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134b, 18–24; vgl. dazu auch den Kommentar zu dieser Stelle in
N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 120 Fn. 16.
29
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134b, 18–1135a 5.
30
Aristoteles, ebd., 1140a 35.
31
F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, 1988, 277ff., 278 („Im Begriff der Lex ist somit das Element
einer allgemeinen, auf eine unbestimmte Zahl künftiger Anwendungen zielende Regelung und vollends
das einer allgemeinen Normierung rechtlichen Sollens von Haus aus nicht enthalten“); ähnlich
M. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1971, 30f.
32
Wieacker (Fn. 31), 411ff., 414, 421; vgl. auch J. Bleicken, Die Verfassung der Römischen Republik,
1995, 127ff.
33 D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 1998, 237 („Verba contractus sunt lex con-
tractus. Die Worte eines Vertrags sind das Gesetz des Vertrags.“).

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§ 3. System I

77 Stellt man die Leistungen der neuzeitlichen Naturphilosophie in einen historisch wei-
ter ausgreifenden Kontext von Ideengeschichte oder „Ideenevolution“,34 transfor-
mierte die neue Naturphilsosophie den alten theologischen Gedanken von einem ein-
zigen Stifter und Gesetzgeber der Natur in ein einheitliches Bewegungsgesetz, das
seinerseits die Form eines „ersten“ Satzes in einem auf Absolutheit programmierten
System annahm. Aus der antiken und christlichen Semantik übernahm die Naturphi-
losophie den Gedanken einer durch Rangverschiedenheit gekennzeichneten Ordnung
und machte sie zum Bestandteil des Systems. Auch die Einverleibung des Hierarchie-
schemas in das System verweist auf eine theologisch schon aufbereitete Erschlossen-
heit – und weniger auf einen voraussetzungslosen Entwurf, einen Inbegriff des Den-
kens, aus dem das System hervorgeht. Aber wie immer man die Beziehung zwischen
der Naturphilosophie und der theologischen Tradition des Alten Europa genauer be-
stimmt: Die Erzeugung wissenschaftlicher Sätze und Erkenntnisse konnte damit je-
denfalls auf eine vermeintlich selbsttragende, von Metaphysik und Gott unabhängige
Basis gestellt werden. Schon bei Hobbes gründete die Bewegung in sich selbst und be-
durfte – im Unterschied zur aristotelischen Philosophie – keines unbeweglichen Bewe-
gers mehr.35
78 Mit Hilfe dieser Konstruktionstechnik konnte sich das System der Naturphilosophie
zu der Form entfalten, in der allein gesichertes Wissen (Gewissheit) produziert werden
konnte. Das System erzeugte selbst einen Vorrang gegenüber allen empirischen Er-
scheinungen, ohne diese einfach zu negieren. Wissen konnte jetzt nicht mehr ohne
Sinnesdaten aus reiner Kontemplation gewonnen werden, sondern musste sich immer
wieder in der Realität bewähren. Insofern verfuhr die Naturphilosophie – im Unter-
schied zur aristotelischen-christlichen (Schul-)Metaphysik – induktiv. Allerdings
nahm die erfahrungsgestützte Induktion jetzt einen konstruktivistischen Zug an.
Sicheres Wissen setzte stets eine Abstraktion, die alles Sinnliche auf Distanz brachte,
voraus. Anders formuliert: Die Bedingungen der empirischen Beobachtung wurden
in der Naturphilosophie erstmalig von den Bedingungen des Systems her definiert,
der sinnliche Beweis in einem erweiterten und veränderten Verständnis von Empirie,
auf der Basis artifizieller Beobachtungsweisen mit Hilfe von Instrumenten erbracht,
z. B. mittels Fernrohr oder mit Hilfe des künstlichen Fallexperiments. Das System
stellt ex ante einen gesetzmäßigen notwendigen Zusammenhang her, eine systemati-
sche Einheit, die anschließend – ex post – durch Experimente bewiesen wird. Die all-
gemeinen Gesetzmäßigkeiten der Natur wurden also weder empirisch vorgefunden
noch auf analytische Aussagen reduziert. Die universalen Gesetzmäßigkeiten wurden
im Systementwurf nach dem Selbstverständnis der Naturphilosophie selbst erzeugt
und zu „ersten“ Sätzen, Axiomen oder Prinzipien kondensiert, um von diesem höchs-
ten Punkt aus alle anderen wahren Sätze mit innerer Notwendigkeit und Konsequenz
ableiten zu können.

34 Zu diesem Begriff N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 536ff.; vgl. auch J. Assmann,
Das kulturelle Gedächtnis, 1996, 99, 259ff. „Ideenevolution“ wird erst auf der Grundlage von (Alpha-
bet-)Schrift möglich. Sie setzt höherstufig generalisierten Sinn, „preserved communication“ (Havelock)
bzw. „gepflegte Semantik“ (Luhmann) voraus; preserved communication bzw. gepflegte Semantik im Ge-
gensatz zur Alltagskommunikation, in der bekanntlich jeder Fluch der Ruderer in den Galeeren zählt.
35 Kondylis (Fn. 16), 190 (Ursache der Bewegung ist nicht mehr der ewige unbewegliche Beweger, son-
dern die ewige universale Bewegung).

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II. Systembegriff

2. Praktische Philosophie
Eine Loslösung von der aristotelischen Metaphysik und ihre Ersetzung durch die neue 79
naturphilosophische Methode lässt sich seit dem 17. Jahrhundert auch in der prakti-
schen Philosophie nachweisen, klar und deutlich etwa in De Cive (1642) und im Le-
viathan (1651) von Thomas Hobbes. Hobbes war der erste Theoretiker von Rang, der
die von Galilei, Descartes u. a. begründete Naturphilosophie um das Projekt einer
praktischen Philosophie oder, wie Hobbes sie nannte, Sozialphilosophie (philosophia
civilis), ergänzte.36 Die geometrische Methode wurde damit wohl zum ersten Mal kon-
sequent auf das Studium künstlicher Körper angewandt.37 Zwar steht der Systembe-
griff selbst bei Hobbes nicht im Zentrum der praktischen Philosophie wie später bei
Kant oder Hegel. Hobbes gebraucht „System“ eher als Synonym für Körperschaft. Im
Leviathan wird der Begriff primär auf die untergeordneten Körperschaften des
Gemeinwesens (Commonwealth) bezogen, z. B. auf die sich in Abhängigkeit von der
englischen Krone befindlichen Provinzen, während das Commonwealth eher beiläufig
ein „reguläres“, d. h. absolutes und unabhängiges System genannt wird.38 Hinter der
hobbesschen Konstruktion des Gemeinwesens als artifiziellem Körper lässt sich jedoch
unschwer eine auf den Monarchen als großen Menschen zulaufende hierarchische Sys-
tematisierung von Politik und Recht im Zuge der Auflösung der traditionellen Adels-
gesellschaft (societas civilis) erkennen, die eng mit einer System- und Einheitsvorstel-
lung verwandt ist.
Hobbes’ genuiner Beitrag für die Geschichte der praktischen Philosophie oder Sozial- 80
philosophie besteht darin, die natürliche Legitimation der traditionalen (Rechts-)Ord-
nung endgültig zerschnitten und auf ein davon unabhängiges Subjekt, den souveränen
Monarchen als neuem Zentrum der Rechtsordnung, umgelenkt zu haben. Denn
anders als etwa später Rousseau lässt Hobbes aus dem Gesellschaftsvertrag „kein corpus
myticum des sozialen Ganzen hervorgehen, und anders als in den organologischen Ge-
sellschaftsmodellen ist für ihn der Staat keine unvordenkliche soziale Substanz, son-
dern erklärtermaßen Effekt symbolischer (juridischer, mathematischer) Operatio-
nen.“39 Für Hobbes ist das Gemeinwesen, das er Leviathan nennt, also ein durch und
durch künstliches, von Menschen gemachtes Konstrukt, dessen Existenzweise auf
einer Ebene der Artifizialität, des Mythos und der Poesie angesiedelt, dadurch aber
nicht weniger wirklich als die aristotelische Polis ist.
Dabei kappte Hobbes auch die traditionelle Anbindung der politischen an die gött- 80 a
liche Macht. Der göttlich-weltliche Systemverbund, das divine right der Könige,
36
Das Begriffspaar philosophia naturalis/philosophia civilis benutzte Hobbes allerdings noch nicht im Le-
viathan, sondern erst ein paar Jahre später in De Corpore I, 9 (1655). Philosophia civilis wird in den
deutschen Hobbes-Ausgaben meistens mit „Staatsphilosophie“ übersetzt!
37
Auch Q. Skinner, Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, 1996, 334, der die rhetorischen
Anteile im Leviathan im Unterschied zu De Cive akzentuiert, lässt keinen Zweifel daran, dass der Le-
viathan ein Werk der neuzeitlichen exakten Wissenschaft (civil science) ist. Zur Gründungsfunktion der
Naturphilosophie als neuer prima philosophia bei Hobbes vgl. auch Y. Ch. Zarka, Philosophie et poli-
tique à l’âge classique, 1998, 7ff. (der die Inkonsistenzen und theologischen Reste im Hobbesschen
Werk akzentuiert und von einer „fondation aporétique“ spricht); zur Methode bei Hobbes vgl. auch
J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2012, 171f.
38 Hobbes, Leviathan, Ch. 22, 155; vgl. auch Riedel (Fn. 18), 299.
39 A. Koschorke, Der fiktive Staat, 2007, 112. Die Künstlichkeit der Hobbesschen Staats- und Personen-
konstruktion betont auch V. A. Kahn, The Future of Illusion, 2014, 35ff.

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§ 3. System I

wurde durch eine rein gesellschaftsimmanente Konstruktion abgelöst. Hobbes’ Com-


monwealth entspringt nicht mehr dem Sinn der Natur bzw. der natürlichen Gesellig-
keit des Menschen, wie die politisch-sozialen Gebilde von Aristoteles bis Pufendorf.
Im Gegenteil: Für Hobbes herrscht im Naturzustand ein potentieller Krieg aller gegen
alle. Dies wird u. a. mit dem Argument begründet, dass die Fähigkeit zu töten zwi-
schen den Menschen gleich verteilt sei; noch der Schwächste könne den Stärksten
heimtückisch ermorden. Daher ist der Naturzustand für Hobbes ein Zustand wechsel-
seitiger Furcht und Angst, in dem kein zivilisiertes Leben möglich ist.40 Erst durch
eine vertragliche Übereinkunft, erst durch einen formlosen Gesellschaftsvertrag (cove-
nant) eines jeden mit jedem, kann ein Frieden stiftendes Gemeinwesen, eine politisch-
rechtliche Einheit, eine Staatspersönlichkeit, konstituiert werden.41 Dazu aber bedarf
es einer Autorisierung des Souveräns durch den Willen der sich ihm Unterwerfenden.
Und exakt diese Autorisierung transformiert das Gemeinwesen zu einer künstlichen
Ordnung, zu einem artifiziellen Körper bzw. zu einer Staatsperson, deren Eigenschaf-
ten vollständig von der Kontinuität der Tradition gelöst sind.42
81 Indem Hobbes die am Studium der Bewegung von natürlichen Körpern entwickelte
Methode der Naturphilosophie auf Politik und Recht übertrug, konnte der Leviathan
die vereinzelt Einzelnen ebenso einem einzigen Körper einverleiben, wie zuvor Galilei
die Mannigfaltigkeit gegebener Körper im Raum unter nur ein Bewegungsgesetz sub-
sumiert hatte. Und so wie das Bewegungsgesetz bei Galilei nur eines einzigen Anstoßes
bedurfte, um sich in ewige Bewegung zu versetzen,43 bedurfte auch der hobbessche
Leviathan nur eines einmaligen (hypothetischen) Anfangsaktes, des Gesellschaftsvert-
rages, um sich zu gründen und verewigen zu können. Einmal errichtet, ruhte der arti-
fiziell (durch Vertrag errichtete) politische Körper in sich selbst. Der politische Körper
fungierte jetzt als Einheits- und Ordnungsgarant der Gesellschaft, mit dem Monar-
chen als Zentrum und Platzhalter, der die Souveränität der künstlichen Staatspersön-
lichkeit eher präsentiert als repräsentiert; wird der politische Körper, der Staatskörper,
den es zu repräsentieren gilt, doch erst durch einen Gründungsakt, die Autorisierung
des Souveräns, einer Herrscherpersönlichkeit, geschaffen. Diese Konstruktion war so
kühn und so abstrakt, dass Hobbes sich sogar veranlasst sah, sie in einem Titelblatt
piktural zu veranschaulichen. Dafür wählte Hobbes nicht zufällig ein Frontispiz, das
auf die gleiche Weise der Geometrisierung der Welt verpflichtet war wie die geschrie-
bene Konstruktion selbst,44 freilich mit einem großen Menschen (makros anthropos,
homo magnus) als (Re-)Präsentanten des durch und durch artifiziellen (und im Prinzip
undarstellbaren) Systems. Diese bildliche Personifikation der Souveränität deutet zu-
gleich darauf hin, dass Staatsperson und Herrscherpersönlichkeit bei Hobbes, anders

40 Hobbes, Leviathan, Ch. 13, 89 („And the life of man, solitary, poore, nasty, brutish, and short.“).
41 Hobbes, ebd., Ch. 17, 120.
42
Hobbes, ebd., Ch. 16, 111f.; dazu Zarka (Fn. 37), 128f.; L. Jaume, Hobbes et l’Etat représentatif mo-
derne, 1986, 95 („Chez Hobbes, la personne a un statut de désignation nominaliste et non de propriété
ontologique.“). Mit einem artifiziellen, abstrakten Personenbegriff wurde schon im kanonischen Kör-
perschaftsrecht experimentiert (persona ficta), erst Hobbes sprach jedoch explizit von einem Common-
wealth als einer Person. Das ist im Einzelnen strittig. Viele Rechtshistoriker glauben, dass bereits die
katholische Kirche als abstrakte Person gedacht wurde. In der Sache gab es sicher Vorläufer, dazu dürfte
auch das englische Gemeinderecht des späten Mittelalters zählen.
43 Kondylis (Fn. 16), 189.
44 Vgl. dazu H. Bredekamp, Thomas Hobbes, 2003, 41; vgl. auch R. Brandt, Philosophie in Bildern,
2001, 312ff.; L. Marin, Das Portrait des Königs, 2005.

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II. Systembegriff

als später bei Kant und im staatsrechtlichen Positivismus, noch nicht vollständig von-
einander geschieden sind.45
Insgesamt weist die hobbessche Konstruktion eine Reihe von Ambivalenzen auf, die ihre Zuordnung in die 82
Kategorien der politischen Ideengeschichte, insbesondere ihre Zuordnung als liberale oder absolutisch-au-
toritäre Theorie schwierig macht. Einerseits handelte der Monarch als weltlicher Souverän, als derjenige,
der als beherrschender Teil weiterhin das Leben des Gesamtkörpers bestimmte. Der Monarch konnte die
ihm sich unterwerfenden Personen kraft seiner Souveränität an eine gemeinsame öffentliche Sprache und
ein darin eingelassenes Wissen binden, ein Wissen, das die Untertanen verinnerlichen mussten, schon weil
sie dem Monarchen und seinen Befehlen uneingeschränkten Gehorsam schuldeten. Da die hierarchische
Position des Monarchen aber eine Position innerhalb eines politischen Körpers war, erzeugte das System
einen Rückkopplungseffekt, der die Absolutheitsstellung des Souveräns relativierte: Der Souverän war das
Produkt einer künstlichen (nominalistischen) Sprache, eines öffentlichen Sprechens, das mit der natürli-
chen Repräsentation der Dinge gebrochen hatte und die Souveränität von einem performativen Akt der
Namensgebung, einer Autorisierung, abhängig machte.46 Damit war politisches Handeln auch ohne die
Voraussetzung tradierter gemeinsamer Zwecke möglich, und darin, in dieser Mobilisierung und Freiset-
zung des politischen Körpers aus der Enge und den Zwängen der herkömmlichen Feudalordnung, kann
man den eigentlichen politischen Sinn der hobbesschen Konstruktion sehen.47
Im Bereich des Rechts zeigen sich ähnliche Ambivalenzen wie im Feld der Politik und des Staates. Lange
bevor das Common law im 19. Jahrhundert, im Übergang vom traditionellen precedent zur modernen
Doktrin von stare decisis, eine tiefe Transformation auf der methodischen Grundlage der Naturphilosophie
erlebte,48 versuchte Hobbes dem Common law seine Eigenständigkeit zu nehmen und es in ein einheitli-
ches, „rationales“, durch den Monarchen bestimmtes System zu integrieren. Auf der einen Seite konnte das
Recht dadurch von der Tradition gelöst und vom Monarchen für unterschiedlichste (in der Zukunft lie-
gende) Zwecke mobilisiert werden. Auf der anderen Seite war die Artikulation des monarchischen Willens
aber jetzt den Formen einer gemeinsamen Rechtssprache unterworfen, in dem Sender (König) und Emp-
fänger (Untertanen) die gleiche Sprache sprachen. Auch deshalb ist die hobbessche Rechtstheorie als Impe-
rativentheorie, als Theorie, die das Recht auf die Anwendung von Befehlsgewalt und Sanktionsmacht zu-
rückführt, höchst unzureichend charakterisiert.49 Das Rechtsgesetz bleibt bei Hobbes in eine öffentliche
Sprache eingebunden und zudem eng mit der naturphilosophischen Rationalität des allgemeinen (Bewe-
gungs-)Gesetzes verknüpft. Rechtsgesetze sind nicht einfach situative Befehle, sondern durch Befehl in all-
gemein verständlicher (Schrift-)Sprache in Kraft gesetzte Regeln (rules), anhand derer jeder Untertan zwi-
schen Recht und Unrecht unterscheiden (lernen) kann.50

45 Koschorke (Fn. 39), 112.


46
Die viel diskutierte Frage, warum Hobbes sein Gemeinwesen „Leviathan“ genannt habe, ist falsch ge-
stellt: Dass er ihm einen Namen gegeben hat, ist der Punkt, auf den es ankommt.
47 Vgl. nur K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 10 (mit Hinweis auf M. Oakeshott).
48 Vgl. nur H. J. Berman, Law and Revolution II, 2003, 275.
49
So z. B. W. Kersting, Politik und Recht, 2000, 295 (mit der Bemerkung, Hobbes habe natürlich eine
Imperativentheorie des Rechts vertreten).
50
Hobbes, Leviathan, Ch. 26, 183 („Civil Law, Is to every Subject, those Rules, which the Common-
wealth hath Commanded him, by Word, Writing, or other sufficient Sign of The Will, to make use of,
for the Distinction of Right, and Wrong; that is to say, of what is contrary, and what is not contrary to
the Rule.“). Hobbes geht es um die Konstruktion eines Rechtsverhältnisses zwischen Monarch und Un-
tertan (Bürger/Staat-Verhältnis), dessen Inhalt zwar vom Monarchen bestimmt wird, aber die Form/
Gestalt der Bestimmung des Befehls ist die universale Regel, das allgemeingültige Gesetz, nicht die kon-
krete Maßnahme. Darin liegt die proto-rechtsstaatliche Pointe der hobbesschen Konstruktion, die in
Deutschland noch immer durch Carl Schmitts Hobbes-Buch von 1938 zugeschüttet ist.

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§ 3. System I

III. Systembildung im Rechtspositivismus

1. Zur juristischen „Construction“


83 Die Naturphilosophie hatte das System seit dem 17. Jahrhundert zu einem neuen Mit-
tel der Erzeugung wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht. Während in England schon
Hobbes das Common law auf naturphilosophischer Grundlage herausgefordert hatte,
erreichte das Systemdenken im deutschen Sprachraum erst um 1800 – vermittelt ins-
besondere durch Kant und Hegel – die sich neu formierende Rechtswissenschaft. Für
Kant waren Philosophie und Systembildung deckungsgleich, Wahrheit und Vernunft
nur noch in der Form eines systematischen Entwurfs denkbar. Zwar kam auch der
kantische Entwurf nicht ohne Erfahrungswissen aus, von der empirischen Erfahrungs-
wissenschaft und ihrer Einheitsform, dem bloßen „Aggregat“,51 war das kantische Sys-
tem aber gerade durch die rationale Verknüpfungsform der Kategorien unterschieden,
einer reinen Verstandeseinheit, die allem Empirischen a priori vorherging. „Unter Sys-
tem“, lautete eine dafür knappe Formulierung Kants, „verstehe ich die Einheit der
mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“.52 Noch Hegels eher organisches Sys-
temdenken akzeptierte diese Gleichsetzung von Erkenntnis und wissenschaftlicher
Systembildung und folgte Kants architektonischem Systemgedanken darin, „daß das
Wissen nur als Wissenschaft oder als System ... dargestellt werden kann“.53
84 Die Übertragung des naturphilosophischen Systemdenkens auf die Arbeitsformen der
Jurisprudenz begann in der historischen Rechtsschule, bei Autoren wie Friedrich Carl
Savigny und Georg Friedrich Puchta – und wurde im rechtswissenschaftlichen Positi-
vismus vollendet.54 Die Rechtsgeschichte unterscheidet historische Rechtsschule,
rechtswissenschaftlichen Positivismus und Gesetzespositivismus und bezeichnet als
„rechtswissenschaftlichen Positivismus“ jene tonangebende Bewegung einer konstruk-
tiv-systematischen Rechtswissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die mit Na-
men wie Rudolf v. Jhering, Bernhard Windscheid, Carl Friedrich v. Gerber und Paul
Laband verbunden ist. Die juristische Systembildung stand im 19. Jahrhundert von
Anfang an in engem Kontakt zu der politischen Forderung nach einem einheitlichen
nationalen Recht.55 Im Unterschied zum nachrevolutionären Frankreich herrschte je-
doch in der deutschen Rechtswissenschaft lange Zeit großes Misstrauen gegen die po-
litische Gesetzgebung der landesfürstlichen und königlichen Regierungen. Auch auf
Grund des fehlenden einheitlichen Nationalstaats (die Revolution von 1848 schei-
51 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft Bd. 2 (1787), Werkausgabe Bd. 4, 1974, B 859, 860.
52
Kant, ebd., B 861. Zu den kommunikativen Voraussetzungen der Idee eines Systems der Erkenntnisse
J. Simon, Kant, 2003, 20ff. Zum Systembegriff bei Kant vgl. auch Riedel (Fn. 18), 307ff.
53 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 1970, 27. Bei Hegel wurde das System allerdings
zu einer „Figur der Zeit“ (Riedel), zu einer sich selbst gleich bleibenden Idee, die erst in einem Entwick-
lungsgang, erst innerhalb einer als Einheit zu verstehenden geschichtlichen Zeit, zur vollen („absolu-
ten“) Entfaltung und Bestimmung ihrer selbst kam. Zum Wechsel vom architektonischen zum organi-
schen Systemgedanken vgl. Ch. Strub, Gebäude, organisch, verkettet, 2009, 108ff.
54 Wieacker (Fn. 1), 430, spricht von einer Übertragung der „System- und Begriffsbildung des jüngeren
Vernunftrechts auf den gemeinrechtlichen Stoff“. Vgl. auch Schröder (Fn. 37), 186f., 247ff.; ders., Wis-
senschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende
zum 19. Jahrhundert, 1979, 115ff.; J. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl
von Savigny, 1984, insb. 303ff. (zu Savignys objektiv-idealistischem Denken).
55 Zu diesem Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung und seiner „Verspätung“ gegenüber dem Common
law und dem französischen Kodifikationsrecht vgl. Zweigert/Kötz (Fn. 7), 180f.

52
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III. Systembildung im Rechtspositivismus

terte) wurde der Auftrag zur Realisierung des neuen systematischen Rechtsdenkens
deshalb bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein nicht als Forderung
nach einer einheitlichen Kodifikation an die Politik adressiert, sondern als Auftrag zur
Konstruktion von Systementwürfen an die Rechtswissenschaft selbst.56
Der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts teilte die Ausgangsannahme der Natur- 85
philosophie, dass wissenschaftliche Erkenntnis nur in der Form der Systembildung zu
erreichen war. Schon Savigny hatte in seiner Kollegschrift von 1802/03 gefordert, dass
die „Gesetzgebungswissenschaft“ – und damit meinte Savigny die gesamte Rechtswis-
senschaft – „eine historische Wissenschaft“ und „auch eine philosophische“ zu sein
hätte.57 Philosophisch hieß bei Savigny – nicht anders als bei Kant oder Hegel – syste-
matisch,58 und diesen Weg setzte Savigny dann 1840 im System des heutigen Römischen
Rechts um, einem Werk, das den Systembegriff bereits im Titel trug. Damit forcierte
Savigny zugleich eine für die deutsche Rechtswissenschaft bis in das 20. Jahrhundert
hinein einflussreiche Tradition: Die Systembildung wurde primär am römischen
Recht entwickelt, das jetzt in ein systematisches Recht umgewandelt wurde, was es in
seiner antiken und mittelalterlichen Erscheinungsform nicht war.59 Sein Material ent-
nahm der Rechtspositivismus dem Corpus iuris civilis, vor allem den Digesten (von
lat. digesta, Geordnetes), die seit der unter Justinian verfassten Constitutio Dedoken
von 533 auch Pandekten genannt wurden (von gr. pandaectae, allumfassend, das
Ganze zu Einem versammelnd). Noch Windscheid publizierte sein Hauptwerk – seit
1862 – unter dem Titel Pandektenrecht. Darunter verstand Windscheid – in der Sa-
che nicht anders als Savigny – „das gemeine deutsche Recht römischen Ursprungs“.60
Deshalb ist es auch üblich geworden, von „Pandektenwissenschaft“ statt von rechts-
wissenschaftlichem Positivismus zu sprechen.
Systembildung heißt in der Pandektenwissenschaft und bereits in der historischen 86
Rechtsschule: Konstruktion einer „inneren Einheit“ des „gesamten Rechts“. So wie
bei Kant das System die „vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis“ war, „nicht
bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhän-
gendes“ Ganzes,61 unterschied Savigny 1802/03 ebenfalls in einer architektonischen
Systemsprache und Metaphorik „eine Einheit“ des Rechts aus „innerem Zusammen-
56
Das ist der Hintergrund für den „Kodifikationsstreit“ zwischen Savigny und Thibaut. Darstellungen
dazu finden sich z. B. bei Wieacker (Fn. 1), 390ff.; H. Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsge-
schichte, 2001, 142ff.
57 F. C. v. Savigny, Juristische Methodenlehre (1802/03), 1951, 14. Savigny betonte sogar die Einheit des
Unterschieds von historischer und philosophischer Wissenschaft, wenn er verlangte, dass die Rechts-
wissenschaft „historisch und philosophisch“ zugleich sein müsse; der „vollständige Charakter der Juris-
prudenz“, so Savigny, beruhe auf dieser Verbindung. Vgl. dazu die Darstellungen bei Wieacker (Fn. 1),
370f., 386; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 11ff.; Schröder (Fn. 54), 121ff.
58 Vgl. nur Savigny (Fn. 57), 15f., 48. Man kann auch mit Wieacker (Fn. 1), 367, formulieren, dass die
historische Schule eher eine systematische Schule war, in der es um die Neubegründung einer metho-
denbewussten systematischen Rechtswissenschaft ging. „Ihr Kern ist vielmehr ein innerer Wandlungs-
prozeß der Rechtswissenschaft selbst, die um 1800 das neue Ideal einer zugleich positiven, d. h. auto-
nomen, und philosophischen, d. h. systematisch-methodischen Rechtswissenschaft ins Auge faßt.“,
D. Wielsch, Freiheit und Funktion, 2001, 114.
59
Vgl. dazu nur den Hinweis bei Weber (Fn. 7), 492f., und Zweigert/Kötz (Fn. 7), 183f., die zu Recht da-
rauf aufmerksam machen, dass das antike römische Recht eher dem Common law als dem Pandekten-
recht ähnelte.
60 B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1862, 1.
61
Kant (Fn. 51), A 646.

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§ 3. System I

hang“ auf der einen Seite vom „bequemen Aggregat der Materien“, dem „bloßen Fach-
werk“, auf der anderen Seite.62 Im System des heutigen römischen Rechts von 1840
wurde daraus die methodische Forderung nach einer Erkenntnis und Darstellung des
„inneren Zusammenhangs“ des Rechtsstoffs, „wodurch die einzelnen Rechtsbegriffe
und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verbunden werden“.63 Auch bei Puchta war
es die „systematische Erkenntniß“, die Erkenntnis des „inneren Zusammenhangs“,
welche „die Theile des Rechts“ verband.64 Eine systematische Anordnung des Stoffes
im Sinne einer „großen Einheit“ verfolgte auch Gerber. Gerber, der die juristische
Konstruktionstechnik und Systembildung in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf das
deutsche Privatrecht und später auch auf das Staatsrecht übertrug, forderte ebenfalls
die „Aufstellung“ eines wissenschaftlichen Systems, „in welchem sich die einzelnen
Gestaltungen als die Entwicklungen eines einheitlichen Grundgedanken darstellen“.65
Gerbers staatsrechtlicher Konstruktivismus wurde nach der Reichsgründung von 1871
von Laband aufgegriffen und weiterentwickelt. Bei Otto Mayer fand die rechtswissen-
schaftliche Systembildung dann ihre überzeugendste Realisierung auf dem Feld des
Verwaltungsrechts.66
87 Die Systeme der historischen Rechtsschule und der Pandektenwissenschaft verfügten
wie die Systeme der Naturphilosophie über eine hierarchische Abschichtung von All-
gemeinem und Besonderem. Puchtas Lehrbuch für Institutionen von 1829 trennte bei-
spielsweise einen „Allgemeinen Theil“ von einem „Besonderen Theil“, wobei ersterer
später – im ersten Band des Cursus der Institutionen von 1841/42 – mit dem Titel „En-
zyklopädie“ überschrieben wurde.67 Im allgemeinen Teil des Institutionenlehrbuchs
behandelte Puchta Themen wie „Das Recht“, „Das Subject des rechtlichen Willens“,
„Die Rechte“, „Der Proceß“ usw., bevor im besonderen Teil Sachenrecht, Eigentum,
Besitz, Rechte an Handlungen und Rechte an Personen erörtert wurden.68 Im System
des Deutschen Privatrechts von Gerber (erste Auflage 1848/9) stößt man auf eine ver-
gleichbare Theorietechnik: In einem „Ersten Theil“ werden die allgemeinen Grundla-
gen des Privatrechts dargestellt wie u. a. die Entstehung des Rechts, Anwendungsge-
biete, Rechtsverhältnisse, Rechtsgegenstände; in einem „Zweiten Theil“ die einzelnen
Privatrechte wie Eigentum, Rechte an fremden Sachen (Lehnrecht), Rechte an Hand-
lungen (Forderungen, Verträge), Personenrechte (Ehe, Erziehung) und Erbrecht.
Auch Windscheid beschrieb in seinem Lehrbuch des Pandektenrechts von 1862 zu-
nächst allgemeine Grundlagen des Rechts wie Rechtsquellen, Auslegung und wissen-
schaftliche Behandlung des Rechts, Gegensätze im Recht, Begriff des Rechts, Rechts-
subjektivität, juristische Person usw., bevor in weiteren „Büchern“ die einzelnen
besonderen Privatrechte wie Sachenrecht, Besitz, Eigentum, Dienstbarkeiten, Pfand-
recht usw. thematisiert wurden. Mayer schaltete dem besonderen Teil seines Verwal-

62 Savigny (Fn. 57), 15f.; Wielsch (Fn. 58), 114, zu Kant.


63
Savigny (Fn. 14), XXXVI (Vorrede); vgl. auch Schröder (Fn. 54), 121.
64
G. F. Puchta, Cursus der Institutionen I, 1853, 100. Auch Puchta grenzte dabei das System vom „bloße(n)
Aggregat von Rechtssätzen“ ab.
65 C. F. v. Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865, S. VIII; weitere Hinweise
und Analysen bei C. Kremer, Die Willensmacht des Staates, 2008.
66
Dazu näher M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, 1992, 331ff., 341ff. (Laband),
403ff. (O. Mayer).
67 Zur Bedeutung der Enzyklopädie für die Systematisierung des Rechts R. M. Kiesow, Das Alphabet des
Rechts, 2004, 76ff.
68
Dazu näher H.-P. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, 2004, 267ff.

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III. Systembildung im Rechtspositivismus

tungsrechts ebenfalls einen allgemeinen Teil vor. Dieser behandelte die Geschichte des
Verwaltungsrechts, die Grundzüge der Verwaltungsrechtsordnung und den Recht-
schutz in Verwaltungssachen.
Wie die Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts operierte auch der Rechtspositivis- 88
mus des 19. Jahrhunderts mit „ersten“ Sätzen, Axiomen oder „Principien“ an der
Spitze seiner Systementwürfe. Diesen Platz nahm hier – wie wir im ersten Abschnitt
dieses Kapitels bereits gesehen haben – der Begriff der Freiheit ein, durch den der
Rechtsbegriff letztlich auf willensgesteuerte Selektionsmöglichkeiten eines Rechtssub-
jekts zurückgeführt wurde. Puchta definierte Freiheit als „Möglichkeit einer Wahl,
oder eines Willens“.69 Jedes Recht war die Beziehung des freien Willens eines Sub-
jekts auf einen „Gegenstand“, wobei die Beziehung zwischen Wille und Gegenstand
wiederum hierarchisch gefasst wurde, als „Herrschaft“ oder Macht“, die „der Person
über einen Gegenstand gegeben ist“.70 Das deckte sich weitgehend mit Savignys Vor-
stellung von Willensherrschaft. Darin zeigt sich noch einmal die ebenfalls bereits
angesprochene paradoxe Be-Gründung des rechtspositivistischen Systems: Die unbe-
dingte Freiheit des subjektiven Willens war in eine durch das System selbst getragene
Regelhaftigkeit eingebunden und im Grenzfall mit dieser identisch; nach einer zutref-
fenden Beobachtung Labands war die Objektivität des Rechts im rechtspositivisti-
schen System vom subjektiven Willen des einzelnen Rechtsanwenders vollkommen
unabhängig, sofern der einzelne Rechtsanwender sich der Selbstverpflichtung be-
wusst wurde, das objektive Recht „als von einer über ihm stehenden Macht gegeben“
hinzunehmen.71 Der freie Wille gründete in einem Allgemeinen, in einem Anderen
der Vernunft, für dessen fremde Ansprüche sich das Individuum und sein Wille
öffnen mussten; keineswegs aber ging es im Rechtspositivismus um inhaltsleere sub-
jektive Willkür, um beliebige Freiheit, wie später etwa in Carl Schmitts verfassungs-
gebender Gewalt, dem pouvoir constituant.72 Historisch gesehen akzentuierten his-
torische Rechtsschule und rechtswissenschaftlicher Positivismus vor allem die
Ordnungsleistung dezentraler subjektiver Entscheidungsrechte, insbesondere in
Form der Eigentums- und Vertragsfreiheit. Aber auch der Staat war hier als juristische
Persönlichkeit in die Form einer allgemeinen, aus einer „Willensmacht“ hervorgehen-
den Gesetzmäßigkeit eingebunden.73
Mit Hilfe eines in subjektiver Willensfreiheit gründenden Systems lösten historische 89
Rechtsschule und rechtswissenschaftlicher Positivismus den gesamten Rechtsstoff von
seinen lokalen Traditionen, um ihn allein durch begrifflich-logisches Denken von
oben nach unten nach Maßgabe niederer und höherer Wertigkeit neu abzuschichten.
Bei Puchta hieß die Methode der hierarchischen Ordnungsbildung „Genealogie“. De-
ren Aufgabe sah Puchta darin, die positiven Rechtssätze „in ihrem systematischen Zu-
sammenhang, als einander bedingende und voneinander abstammende, zu erkennen,
um die Genealogie der Einzelnen bis zu ihrem Princip hinauf verfolgen, und ebenso
von ihren Principien bis zu ihren äußersten Sprossen herabsteigen zu können“.74 Die
69 Puchta (Fn. 64), 7, vgl. auch 9 („Vermöge der Freiheit ist der Mensch Subject des Rechts.“).
70 Puchta, ebd., 12; Haferkamp (Fn. 68), 266.
71
P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 2 (1911), 1964, 178.
72
C. Schmitt, Die Diktatur (1928), 1978, 142.
73 Vgl. nur v. Gerber (Fn. 65), 3; näher dazu Kremer (Fn. 65); W. Pauly, Der Methodenwandel im deut-
schen Spätkonstitutionalismus, 1993, 140ff.; vgl. auch Koschorke (Fn. 39), 319ff.
74
Puchta (Fn. 64), 37.

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§ 3. System I

Ehe, so erläuterte Puchta dieses Verfahren beispielhaft,75 gehöre in die Lehre vom Ei-
gentum, von den Servituten, vom Pfandrecht, von den Obligationen, von der Ver-
wandtschaft, von der väterlichen Gewalt, vom Erbrecht usw. In all diesen Rechtsver-
hältnissen spiele die Ehe in der Praxis eine Rolle und müsse daher in der Darstellung
dieser Rechtsverhältnisse vorkommen. Die Aufgabe der Systembildung bestand für
Puchta aber gerade darin, alle (Privat-)Rechte durchgehend zu klassifizieren, also auch
die Ehe selbst zum Gegenstand eines eigenen, selbstständigen Rechtsverhältnisses zu
machen, eine Aufgabe, die Puchta dadurch löste, dass er die Trichotomie von Rechten
an Sachen, Handlungen und Personen neu arrangierte und das Eherecht den subjekti-
ven Rechten „an Personen außer uns“ zuordnete.76
90 Synonym mit Systembildung wurde im Rechtspositivismus auch der Begriff der „juristischen Construc-
tion“ benutzt.77 Der Begriff der juristischen „Construction“ bezog sich unmittelbar auf das System als Ge-
samtentwurf, auf die Konstruktion aller Elemente und Strukturen des Systems. Bei Savigny und Puchta
umfasste das etwa die Konstruktion eines inneren Zusammenhangs von Person, Freiheit, Wille, Rechtsre-
geln, Rechtsinstituten und Rechtsverhältnissen, im Staatsrecht bei Gerber etwa die Konstruktion eines in-
neren staatsrechtlichen Systems, seiner Begriffe, Verbindungen, Prinzipien, Rechtsinstitute und Rechte.
„Construction“ machte die Rechtswissenschaft mit anderen Worten zu einer „producierenden Wissen-
schaft“, die – im Unterschied etwa zur aristotelischen Moralphilosophie – ausschließlich nach selbstgesetz-
ten Regeln operierte, die sich als berufen ansah, „allgemeine ... Principien in voller Freiheit nach ihren Ge-
sichtspunkten und den Regeln ihrer Kunst zu entwickeln“.78 In diesem Anspruch, alle Bestimmungen aus
sich selbst zu schöpfen, partizipierte die Rechtswissenschaft an einem konstruktivistischen Systemdenken,
das im Deutschland des 19. Jahrhunderts auch andere gesellschaftliche und kulturelle Felder – wie etwa die
Malerei Caspar David Friedrichs – beherrschte. Damit sollte die Tradition der Theologie, die den höchsten
Willen in einem Anderen, nämlich in Gott, verankert hatte, überwunden werden.

2. Lückenlosigkeit, Folgerichtigkeit, Positivität des Rechts


91 Schon Christian Wolff war in der Mitte des 18. Jahrhunderts – im Kontext der Moral-
philosophie – die durchgängige Verknüpfung aller im System enthaltenen wahren
Aussagen aufgefallen.79 Eine solche Lückenlosigkeit versuchte der Rechtspositivismus
des 19. Jahrhunderts durch eine vollständige logische „Herrschaft“ über den Stoff zu
erreichen. Ein System, hieß es dazu bei Gerber, sei stets bemüht, „die Gegenstände sei-
nes Gebiets der Fügung seiner logischen Gewalt zu beugen.“80 Alle vorgefundenen
Rechtssätze und Institutionen sollten so angeordnet werden, dass sie untereinander
ein logisch klares und in sich logisch widerspruchsloses System von Regeln und Insti-
tutionen bildeten. Dabei wurde nicht der Stoff als lückenlos vorausgesetzt, sondern
75
Vgl. dazu H.-P. Haferkamp, Recht als System bei Georg Friedrich Puchta, forum historiae iuris 2003,
Rn. 10ff. m.w.N.
76 Nachweise bei Haferkamp (Fn. 68), 267.
77 Vgl. nur K. Quensel/H. Treiber, Das „Ideal“ konstruktiver Jurisprudenz als Methode, Rechtstheorie 33
(2002), 91ff., 101, 116ff., die u. a. auf Jhering und dessen „Theorie der juristischen Technik“ mit ihren
drei „Fundamentaloperationen“ („juristische Analyse“, „logische Construction“, „juristische Construc-
tion“) hinweisen.
78 Gerber (Fn. 65), 231f. (mit Bezug auf das Staatsrecht). Gerber beanspruchte hier also eine Freiheit für
die Rechtswissenschaft, die man noch im 18. Jahrhundert ausschließlich dem König zugestanden hatte.
79
Ch. Wolff, Philosophia moralis sive ethica (1750), 1, 3 § 285 (in systema vero veritates omnes, quae in
eodem continentur, inter se connectuntur: im System werden alle wahren Sätze, die in ihm enthalten
sind, miteinander verknüpft), hier zitiert nach Riedel (Fn. 19), 296.
80 C. F. v. Gerber, Ueber den Begriff der Autonomie (1854), 1878, 45; hier zitiert nach Kremer (Fn. 65),
200.

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III. Systembildung im Rechtspositivismus

das System als lückenlos gedacht. Entsprechend ergänzte sich das System bei Savigny
oder Puchta im Moment seines Gebrauchs selbst, etwa durch Analogiebildung.81
Auch Labands Bemerkungen über die logische Behandlungsart des Staatsrechts, die
Konstruktion der Rechtsinstitute durch „Zurückführung der einzelnen Rechtssätze
auf allgemeinere Begriffe“ einerseits und die „Herleitung der aus diesen Begriffen sich
ergebenden Folgerungen“ andererseits,82 sind nur vor dem Hintergrund des konstruk-
tiven Systembegriffs verständlich. Das juristische System konnte so wenig Leerstellen
haben wie die Natur von allgemeingültigen Naturgesetzen abweichen konnte.
War der Stoff einmal in einen lückenlosen Zusammenhang gebracht, konnten mit in- 92
nerer Folgerichtigkeit „Consequenzen“ aus dem System deduziert werden. Die Rechts-
wissenschaft konnte jetzt von organischer auf logische Orientierung im Sinne einer
Umstellung von evolutionärem Zufall oder historischem Gewachsensein auf strikte
Grund- und Folgehierarchien umstellen, auf ein konsequentes Denken von „ersten“
Sätzen aus; so wie es Hobbes bereits im 17. Jahrhundert für die praktische Philosophie
gefordert hatte.83 War der Rechtsbegriff einmal im Personenwillen, im Subjekt, veran-
kert, war es beispielsweise leicht zu erklären, dass auch das Wegerecht eine partielle
Willensmacht über einen fremden Gegenstand enthielt und daher vom Nutzenden
und nicht einfach vom fremden Eigentum her zu konstruieren war: Auch das Nut-
zungsrecht enthielt ein subjektives Moment und war so an den obersten Grundsatz
des Rechtssystems, die Willensherrschaft, angebunden. Eine Prüfung der rechtlichen
Natur der einzelnen Institute und ihres Zusammenhangs „mit den stufenweise bis
zum letzten Sammelpunkte aufsteigenden Gesammtideen“ forderte ganz ähnlich Ger-
ber.84 Im Staatsrecht konnte Gerber dann etwa aus der staatsrechtlichen Natur des
Monarchenrechts folgern, dass der Thronfolger zur Übernahme des Monarchenberufs
befähigt sein musste.85
Der Begriff des „positiven Rechts“, der dem Rechtspositivismus seinen Namen gege- 93
ben hat, bedeutete hier: Orientierung an selbst gesetzten Regeln, Autonomie der
Rechtsordnung gegenüber anderen Normordnungen, nicht einfach Rechtsetzung
durch ein wie auch immer legitimiertes Subjekt. Die Positivität des Rechts ruhte im
Rechtspositivismus in einer „Zucht des Auffassens“ (Hegel), die an eine allgemeine
Rationalität gebunden war und insbesondere für das einzelne Individuum nicht zur
Disposition stand. Deshalb wird der Begriff des positiven Rechts verfehlt, wenn man
ihn – wie es seit Weber, Schmitt und Kelsen weithin üblich geworden ist – als beliebi-
ges Recht kraft Satzung oder Entscheidung definiert.86 Im Rechtspositivismus des
19. Jahrhunderts ging es nicht um die politische Setzung von Recht je nach situativen
Erfordernissen. Vielmehr stand der Gedanke im Mittelpunkt, Recht als autonomes
81 Savigny (Fn. 14), 290f.; G. F. Puchta, Lehrbuch der Pandekten, 9. Aufl., 1863, § 16, 29 („diese Lücken
zeigt zugleich das System auf und füllt sie aus“); vgl. auch Schröder (Fn. 37), 249f.
82
P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 1 (1911), 1964, S. IX (Vorwort).
83
Vgl. nur Hobbes, Leviathan, Ch. 5, 33 („The Use and End of Reason, is not the finding of the summe,
and truth of one, or a few consequences, remote from the first definitions, and settled significations of
names; but to begin at these; and proceed from one consequence to another.“).
84 C. F. Gerber, System des Deutschen Privatrechts, 5. Aufl., 1855, VI (Vorrede).
85
Kremer (Fn. 65), 200.
86
Vgl. nur Weber (Fn. 7), 124f. (beliebiges Recht durch gesatzte Ordnung); C. Schmitt, Politische Theo-
logie (1922), 1985, 16 (Rechtsordnung beruht auf Entscheidung, nicht auf einer Norm); Kelsen
(Fn. 2), 201 (positive Normen = gesetzte Normen); ähnlich, in frühen Arbeiten, Luhmann (Fn. 28),
122, 124 (positives Recht = gesetztes Recht, Geltung kraft Entscheidung).

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§ 3. System I

System zu begründen; wissenschaftlich zu demonstrieren, dass das positive Recht als


(lückenloser) hierarchischer Zusammenhang von Rechtssätzen dargestellt und einmal
dargestellt künftig auch praktisch realisiert werden konnte (vgl. Rn. 168ff.). Dabei
wurden Rechtssätze und Rechtserkenntnisse nicht strikt voneinander geschieden und
das System in seiner Produktivität selbst zur Quelle positiven Rechts.

3. Zwischenbilanz
94 Die Rechtswissenschaft nach 1800 nutzte das naturphilosophische System, um sich zu
einer „autonomen Wissenschaft des positiven Rechts“, „zu einer erkenntnistheoretisch
fundierten, die Totalität des positiven Rechtsstoffs zum inneren System organisieren-
den Wissenschaft“ umzuwandeln.87 Autoren wie Savigny, Puchta, Gerber, Jhering,
Windscheid, Laband u. a. hinterfragten die Mannigfaltigkeit und Zufälligkeit orga-
nisch gewachsener Institutionen und versuchten diese in einem homogenen Raum
universaler (und zeitlich reversibler) Gesetzmäßigkeiten zum Verschwinden zu brin-
gen; damit waren sie Teil einer Bewegung zur Abstraktion, zur Objektivierung des
Rechts jenseits persönlicher „subjektiver“ Urteile, wie sie für die (bildungs-)bürgerli-
che Kultur und ihre literarischen Manifestationen insgesamt typisch war.88 Daran
kann und muss man heute vieles kritisieren, aber dieser Leistung des Rechtspositivis-
mus wird man nicht gerecht, wenn man z. B. Puchtas Methode der Genealogie, die
Rückführung aller Rechtssätze in ein Prinzip, in pejorativem Tonfall als „Begriffsjuris-
prudenz“ abtut89 oder dem Rechtspositivismus insgesamt „leeren Formalismus“ be-
scheinigt.90 Der rechtswissenschaftliche Positivismus hatte nichts mit „Blindheit“ ge-
genüber „dem Leben“ zu tun. Niemand im 19. Jahrhundert war so naiv, das Recht in
seiner operativen Wirklichkeit mit seiner Darstellung in einem rechtswissenschaftli-
chen Lehrbuch zu verwechseln. Es ging darum, das vorgefundene gemeine Recht wis-
senschaftlich-systematisch zu ordnen und diesen Ordnungsanspruch an die (künftige)
Realität zu adressieren, um so „die Enge der Verknüpfung zwischen Recht und lokalen
Gewohnheiten“ aufzubrechen.91 Wenn ein Bürger in München wohnte und im Ham-
burger Hafen brasilianische Fichte kaufte, sollten in Hamburg eben dieselben Rechts-
regeln gelten wie in München. Keineswegs aber wurde bestritten, dass explizite
Rechtssätze eine lebendige protorechtliche Praxis aus Erfahrungen, praktischem Wis-
sen und gesellschaftlichen Konventionen voraussetzen.
95 Schon beim jungen Savigny stand das Aufzeigen der inneren Vernünftigkeit des posi-
tiven Rechts durch eine systematisch verfahrende Rechtswissenschaft im Vordergrund,

87
Wieacker (Fn. 1), 352f., 368 (Zitat); zur Autonomie der Rechtswissenschaft vgl. auch J. Rückert, Auto-
nomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, 1988, insb. 56ff.
88 Vgl. F. Moretti, The Bourgeois, 2013, 89, 90 (es geht um „objective impersonality ...: the more perfect,
the more ... dehumanized“).
89
Wie es seit dem späten Jhering bzw. den frühen 1920er Jahren üblich geworden ist. Manchmal wird die
Begriffsjurisprudenz auch als „blutleer“ bezeichnet, was immer das im Hinblick auf Texte heißen soll.
Dazu und zur Geschichte dieser pejorativen Begriffe kritisch Haferkamp (Fn. 68), 94ff. (Begriffspyra-
mide), 26ff. (Begriffsjurisprudenz).
90
Der Formalismusvorwurf findet sich stellenweise auch bei Wieacker (Fn. 1), z. B. 401f.; nietzeanisch in
diese Richtung argumentiert bisweilen Kiesow (Fn. 67), z. B. 19, 157ff.; kritisch zum Formalismusvor-
wurf etwa J. Rückert, Das BGB und seine Prinzipien, 2003, 34ff., 100.
91 So K.-H. Ladeur, Der „Eigenwert“ des Rechts, 1999, 31ff., 42f. (mit Blick auf die Funktion des franzö-
sischen Code civil).

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III. Systembildung im Rechtspositivismus

deren Vorgegebenheiten Savigny durch einen Rekurs auf den „Volksgeist“, also durch
eine vom Körper des Herrschers gelöste, rein „geistige“ Figur, zu fassen suchte.92
Puchta entfernte sich nicht von diesem Standpunkt, wenn er beispielsweise im Cursus
der Institutionen von 1841/42 darauf hinwies, dass die Systembildung „Rechtssätze
zum Bewußtsein“ bringe, die „weder in der unmittelbaren Überzeugung der Volksglie-
der und ihren Handlungen noch in den Aussprüchen des Gesetzgebers zur Erschei-
nung gekommen sind“, die aber im „Geist des nationalen Rechts verborgen“ seien
und „erst als Produkt einer wissenschaftlichen Deduktion sichtbar entstehen“.93
Wenn es später bei Windscheid hieß, dass ethische, politische oder volkswirtschaftli-
che Erwägungen „nicht Sache des Juristen als solchen“ seien,94 dann stand auch hier
die Intention der wissenschaftlichen Systembildung im Vordergrund. Die Autonomie
des Rechtssystems konnte ja nicht einfach ethisch, politisch oder volkswirtschaftlich
begründet werden, sondern eben nur durch eine eigenständige rechtswissenschaftliche
Expertise, die man als „logisch“ oder „juristisch“ bezeichnete.
In der Konstruktion einer „inneren Einheit“ des Rechts fand das juristische System des 96
19. Jahrhunderts seine Vollendung – und zugleich seine Grenze. Vor allem die hierar-
chieförmige Rückkopplung aller Rechtssätze und Institutionen an eine „Gesamtidee“
blieb einer Semantik verpflichtet, die die Mannigfaltigkeit des Gegebenen auf eine
Einheit zurückführte und darin an ältere (theologische) Traditionen anknüpfte. Das
juristische System des 19. Jahrhunderts wurde durch ein beherrschendes Allgemeines
bestimmt, durch die subjektive Willensmacht; diese wurzelte ihrerseits in einem Un-
bedingten, der Freiheit oder Vernunft, so wie das antike oder mittelalterliche System
durch einen beherrschenden Teil bestimmt wurde, der aller Notwendigkeiten entho-
ben war, wie der Adel, die Philosophen oder Gott. Zwar wurde das Moment der Be-
herrschung im Systembegriff des 19. Jahrhunderts von Natur auf Kunst, auf artifizielle
Personen und konstruierte Zusammenhänge und von Partikularität auf Allgemeinheit,
auf Freiheit und Gleichheit verschoben. Die Plausibilität der hierarchischen Systemar-
chitektur wurde aber nirgends hinterfragt. Am höchsten Punkt, an der Spitze des Sys-
tems, fielen Eins und Alles zusammen, von dort aus ließen sich alle Ereignisse im Sys-
tem überblicken, ordnen und kontrollieren. So wie man früher Gott Allmacht und
Allwissenheit zugeschrieben hatte, kannte auch das positivistische System keine blin-
den Flecken, jedenfalls keine, die es nicht selbst hätte sichtbar machen können.

4. Auflösungserscheinungen (Kelsen)
Der rechtspositivistische Systementwurf geriet spätestens um 1900, mit dem Aufstieg 97
der industriellen Massengesellschaft, in die Krise. Der späte Jhering, der jetzt den
Zweck im Recht entdeckte, die Interessenjurisprudenz und Freirechtsschule, sie alle
suchten unter dem Eindruck großer gesellschaftlicher und kultureller Umwälzungen
nach Alternativen zum Systemdenken (vgl. Rn. 207). Anzeichen einer Krise des

92 Dazu etwa Wieacker (Fn. 1), 385 (Volksgeist zielt auf „kulturelle Tradition“, nicht auf einen biologi-
schen Befund oder eine soziale Realität); vgl. auch E.-W. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit,
1991, 9ff., 15ff.
93
Puchta (Fn. 64), 36 (Hervorhebung von mir).
94 B. Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, 1904, hier zitiert nach Wieacker (Fn. 1), 431
Fn. 3a. Zur Kritik am begriffsjuristischen Windscheid-Bild vgl. allg. U. Falk, Ein Gelehrter wie Wind-
scheid, 1989.

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§ 3. System I

Rechtspositivismus lassen sich auch an Kelsens reiner Rechtslehre von 1934 studieren.
Es war zwar keineswegs irreführend, wenn Kelsen die Reine Rechtslehre als „Fortent-
wicklung von Ansätzen“ der „positivistischen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhun-
derts“ etikettierte.95 Um das rechtspositivistische Systemdenken auf veränderte gesell-
schaftliche, kulturelle und politische Verhältnisse einzustellen, wurde Kelsen jedoch zu
erheblichen Modifikationen gezwungen, und der größte Unterschied zum rechtsposi-
tivistischen System des 19. Jahrhunderts lag sicher darin, dass das Rechtssystem jetzt
nicht mehr in der Freiheit eines Personenwillens – als Ausdruck eines mit dem Selbst-
bild der liberalen Gesellschaft vermittelten Anfangs – gründete, sondern aus einer abs-
trakt-wissenschaftlichen „Grundnorm“ als „Ein-Setzung des Grundtatbestandes der
Rechtserzeugung“ hervorging.96 Damit schnitt Kelsen die Rechtstheorie zugleich auf
eine Normen- und Geltungstheorie zu, nicht ohne weiterhin selbst mit einer Einheits-
vorstellung zu operieren, nämlich mit der Möglichkeit, eine Vielheit von Normen
über „eine einzige Norm“ auf einen „letzten Grund“ ihrer Geltung zurückzuführen.97
98 Mit der Grundnorm verfügte das Normensystem der reinen Rechtslehre wie alle Sys-
teme in der Tradition der Naturphilosophie über einen „ersten“ Satz. Diese Rückfüh-
rung erfolgte hier ebenfalls in einem hierarchisch angelegten Normenerzeugungszu-
sammenhang, dem „Stufenbau“ der Rechtsordnung.98 Im Vergleich zum klassischen
Rechtspositivismus rückte das Rechtssystem bei Kelsen aber viel näher an das politi-
sche System heran. Das System arbeitete jetzt als dynamischer Normenerzeugungszu-
sammenhang, der auch an seiner Spitze offen für jeden beliebigen Inhalt war:99 Wurde
eine monarchische durch eine republikanische Regierung ersetzt und verhielten sich
die Menschen im Großen und Ganzen nach den Regeln der neuen republikanischen
Ordnung, bedeutete dies die „Ein-Setzung“ eines neuen Grundtatbestandes der
Rechtserzeugung.100 Diese Offenheit setzte freilich eine Kontingenz am wichtigsten
Punkt des Systems frei, die die Reine Rechtslehre für jede Art von Politik öffnete und
das Recht als instituierte Ordnung völlig aus dem Auge verlor.101 Kelsen versuchte
zwar später – in der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre von 1960 – den Haltepunkt
des Systems durch Rekurs auf die (neukantische) Tranzendentallogik zu externalisie-
ren.102 Damit verstärkte sie aber nur das von Anfang an in der Grundnorm angelegte
Moment, die Einheit des Rechtssystems nur noch von außen, wissenschaftlich, als
notwendigerweise anzunehmende Bedingung der Möglichkeit von Rechtsgeltung,
fundieren zu können. Der im Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts stets vorausge-
95 H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), 1994, X (Vorwort).
96 Kelsen, ebd., 64.
97
Kelsen, ebd., 62.
98
Kelsen, ebd., 73ff.; dazu erläuternd O. Lepsius, Hans Kelsen und die Pfadabhängigkeit in der deutschen
Staatsrechtslehre, 2013, 241ff., 257ff.
99 Kelsen (Fn. 95), 63.
100
Kelsen, ebd., 67f.
101
Noch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erbrachten K. Gödel und A. Turing den Beweis der
prinzipiellen Unvollständigkeit axiomatischer (mathematischer) Systeme. Dadurch wurden Entwürfe
unmöglich, die, wie derjenige Kelsens, in einem System widerspruchsfrei eine Regel zu begründen ver-
suchten, die die Geltung und Anwendbarkeit aller anderen Regeln regelte. Vgl. dazu K. Mainzer,
Computerphilosophie zur Einführung, 2003, 44ff.
102
Vgl. Kelsen (Fn. 2), 205 (Die Grundnorm wurde hier zu einem für jeden Inhalt offenen, rein formalen,
lediglich den infiniten Regress vermeidenden „Geltungsgrund“ des Rechts); vgl. zur Grundnorm
H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, 42ff., 83ff.,
88 (Grundnorm = „Platzhalter der Idee der Normativität“).

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IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung

setzte Anspruch auf praxisrelevante Aussagen über die Einheit des Rechts in einer libe-
ralen Gesellschaft geriet dabei weitgehend aus dem Blickfeld.
Widersprüche und Unbestimmtheiten zeigten sich auch im inneren Aufbau der reinen 99
Rechtslehre. Kelsen relativierte vor allem die Striktheit der Grund- und Folgehierar-
chien. An die Stelle des zwingenden Schlusses vom Allgemeinen auf das Besondere,
an die Stelle von „Consequenz“ und logischer Folgerichtigkeit, traten Unbestimmt-
heitsstellen etwa im Verhältnis von höherer und niederer Rechtsstufe. Rechtssicherheit
galt nunmehr als „Illusion“,103 Lückenlosigkeit des Systems als „Schein“ und „Fik-
tion“.104 Auch am Ende des Stufenbaus herrschte Ungewissheit. Kelsen wagte zwar
einen Schritt in die richtige Richtung, wenn er die im Rechtspositivismus vorausge-
setzte Hierarchie von Rechtsnorm und Anwendung durch ein Modell ersetzte, in der
Rechtsanwendung nicht mehr prinzipiell von „Rechtserzeugung“ unterschieden war.
Das Recht bildete sich jetzt stärker fallabhängig als individuelle Norm im Rahmen
mehrerer, durch eine generelle Norm vorgegebener Möglichkeiten fort. Aber auch an
dieser Stelle ließ die Reine Rechtslehre den Leser auf halber Strecke zurück. Kelsen fielen
für die von ihm selbst aufgedeckten Unbestimmtheitsstellen nur kompetenzielle und/
oder rechtspolitische Lösungen ein. So erklärte er etwa die Rechtsinterpretation zur
„Willensfunktion“, zu einem Vorgang von rechtspolitischem Charakter,105 der sich
nicht ausschließlich am positiven Recht, sondern darüber hinaus auch je nach Situa-
tion an sozialen Zielen wie Volkswohl, Staatsinteresse, Fortschritt usw. orientiere.106
Im Großen und Ganzen steigerte die Reine Rechtslehre also eher den Grad an Unbe-
stimmtheiten und Paradoxien innerhalb des Systemdenkens, ohne dafür plausible Lö-
sungen anbieten zu können.

IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung

Die juristische Systembildung des frühen 19. Jahrhunderts setzt das gedruckte Buch 100
als Medium voraus. Das Buch mit seinem durchgängig formatierten Raum, mit Zeile,
Absatz und Seite, mit Titelblatt, Überschriften, Inhaltsverzeichnis, Seitenzahlen und
Register, das Buch mit seinen starren Buchstabenfiguren, seiner strikten orthographi-
schen Regelmäßigkeit, mit seiner Fähigkeit schließlich, der Summe der gesammelten
Informationen durch zwei Buchdeckel den Charakter eines abgeschlossenen Ganzen,
einer „natürliche(n) Totalität“,107 zu verleihen: All diese medialen Eigenschaften des
Buchs verändern die kognitiven Verhältnisse – die soziale Epistemologie108 – grundle-
gend und eröffnen ganz neuartige Chancen zu einer systematisch angelegten Anord-
nung und Durchbildung des Rechtsstoffes, die vorher, auf der Grundlage von Einzel-

103 Kelsen (Fn. 95), 101 („Es ist die Illusion der Rechtssicherheit, die die traditionelle Rechtstheorie – be-
wußt oder unbewußt – aufrechtzuerhalten strebt.“); kritisch dazu M. Jestaedt, Das mag in der Theorie
richtig sein ..., 2006, 48 Fn. 137.
104
Kelsen (Fn. 95), ebd., 102.
105 Kelsen, ebd., 98.
106 Kelsen, ebd., 99.
107
J. Derrida, Grammatologie, 1974, 35; zum technologischen Hintergrund des Buchdrucks M. Giesecke,
Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, 1998, 63ff.
108 Vgl. nur K.-H. Ladeur, Strategien des Nichtwissens im Bereich staatlicher Aufgabenwahrnehmung,
2014, 103ff.; und I. Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, 2014, insb. 80ff.; vgl. auch T. Vesting,
Das moderne Recht und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015i. E.

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§ 3. System I

blatt, Papyrusrolle oder Pergamentkodex, so nicht gegeben waren. Hans Blumenberg


hat das Buch in Die Lesbarkeit der Welt (1981) deshalb zu Recht als das Medium be-
stimmt, das die Herstellung von Totalität leiste, das die Kraft habe, „Disparate, weit
Auseinanderliegendes, Widerstrebendes, Fremdes und Vertrautes am Ende als Einheit
zu begreifen oder zumindest als einheitlich begriffen vorzugeben“.109 Es spricht infol-
gedessen auch viel für die These Niklas Luhmanns, dass die Darstellung der Einheit
und Autonomie des Rechtssystems vom Buchdruck abhängig ist.110 Aber worin genau
besteht dieser Zusammenhang? Und wie ließe er sich erklären?
101 Die Beziehung zwischen Buchdruck und rechtspositivistischer Systembildung lässt
sich vielleicht erhellen, wenn man ihr in einer linguistischen, schrift- und medienäs-
thetischen Perspektive auf den Grund geht, wie sie etwa Christian Stetter entwickelt
hat. Danach liegt die herausragende Bedeutung des Buchdrucks als Medium darin,
die „Digitalisierung der geschriebenen Information“ definitiv ermöglicht zu haben,
die Kodierung von Information derart, „daß diese vollständig, ohne Verlust also an In-
formation, wieder dekodiert werden kann“.111 Damit wird zugleich eine unhintergeh-
bare Relationalität des Medienbegriffs sichtbar: Einerseits bilden alle neuen Medien
ihre eigene Medialität zunächst in den kognitiven und epistemologischen Verhältnis-
sen aus, die vom älteren Medium bestimmt sind, so wie beispielsweise das Radio zu-
nächst als gelesene Zeitung verstanden wurde. Andererseits wirft das neue Medium
mit zunehmender Verselbständigung von seinem Vorgängermedium ein neues Licht
auf dieses. Die Besonderheit des Buchdrucks zeigt sich dann im Medium des Compu-
ters als „Anfang“ einer neuen Schrift, der digitalen Codeschrift. „Mit der am Alphabet
hängenden syntaktischen Diskretheit unserer schriftlichen Texte, die sich im Zuge der
Evolution der Orthographie herausgebildet hat – welche ja nichts ist als die Kehrseite
der Evolution der Alphabetschrift –, wurde der Grund für die Digitalisierung jeder Art
verbaler Information gelegt. Das hat das Buch als Medium ebenso ermöglicht wie das
Programm, das als Medium elektronisch kodierter Information genutzt wird und nun
auch die Digitalisierung pikturaler Information möglich macht.“112
102 Diese Erklärung würde also davon ausgehen, dass erst beim Schreiben und Lesen von
Büchern die Druckschrift als „dingliches Substrat“ zur Verfügung steht.113 Sie würde
weiter unterstellen, dass genau in diesem Operieren mit der Druckschrift die „mediale
Spur“114 der Kulturtechnik des Buchdrucks, die „Materialität“ des Mediums Buch, in
die Botschaft selbst hineingetragen wird. Aber was genau ist mit „Digitalisierung“ im
oben wiedergegebenen Zitat von Christian Stetter gemeint? Ein Ausgangspunkt für
Stetters Überlegungen ist Nelson Goodmans Unterscheidung von „analogen“ und „di-

109 Blumenberg (Fn. 17), 17, 18; vgl. auch F.-J. Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, 2014, 124.
110 Luhmann (Fn. 23), 500.
111
Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 67 Fn. 36.
112
Stetter, ebd., 11f.
113
Diesen Begriff benutzt Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 11. Luhmann (Fn. 34), 195, ver-
wendet dagegen einen medienneutralen Medienbegriff, in dem Medium als „Differenz von medialem
Substrat und Form“ definiert wird. Die Materialität des Mediums wird damit zu einer für das System
letztlich indifferenten Masse verdünnt. Dann hilft nur noch „strukturelle Kopplung“! Es fragt sich
also, ob der Medienbegriff durch Differenz oder durch eine Differenz in sich selbst bestimmt werden
muss.
114 Den Begriff der „medialen Spur“ übernehme ich von S. Krämer, Das Medium als Spur und als Appa-
rat, 1998, 73ff. Dazu weitere Überlegungen bei Stetter (Fn. 111), 10f., 79ff., 91ff.

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IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung

gitalen Symbolsystemen“.115 Goodmans Symboltheorie ist um die These zentriert,


dass „Symbole“ – eine Geste, ein Bild, eine Partitur, ein sprachlicher Ausdruck – keine
an sich gegebenen Zeichen oder Repräsentationen sind, dass vielmehr die Bedeutung
eines Symbols, der Status einer Repräsentation, abhängig ist von einem „Symbolsys-
tem“.116 Unter „Symbolsystem“ versteht Goodman ein „Symbolschema“, das mit
einem „Bezugnahmegebiet korreliert wird“.117 Das Symbol ist damit unauflöslich auf
die raumzeitliche Erfüllung bestimmter Eigenschaften seines Bezugnahmegebiets an-
gewiesen; das Symbol kann sich immer nur performativ, durch reinen Gebrauch, und
damit medial, etwa als gesprochenes Wort, gemaltes Bild, gespielte Partitur oder ge-
schriebene Schrift, als Symbolschema, realisieren. Goodman unternimmt hier letztlich
den Versuch, den Symbolbegriff an seinen praktischen Gebrauch zu koppeln, ohne
andererseits den systemischen Charakter des Alphabets als Symbolsystem leugnen zu
müssen. Damit ließe sich u. a. Luhmanns nicht unproblematische These relativieren,
dass die Sprache kein System sei, eine These, die eben wohl nur für die gesprochene
Lautsprache, die Rede, nicht aber für die auf dem Alphabet aufbauende Druckschrift
richtig sein dürfte.
Innerhalb der Bandbreite möglicher Realisationen von Symbolsystemen unterscheidet 103
Goodman zwei Grenzfälle. Ein Symbolsystem ist analog, wenn es syntaktisch und se-
mantisch dicht oder in extremer Weise undifferenziert ist, wie z. B. ein Bild; es ist di-
gital, wenn es durchgängig differenziert und eindeutig ist, wie z. B. die Alphabet-
schrift.118 Den letzten Fall bezeichnet Goodman als „Notationssystem“, das im
Unterschied zu analogen Symbolsystemen durch Eindeutigkeit charakterisiert ist, das
den Vorzug der Bestimmtheit und Wiederholbarkeit des Ablesens hat.119 Vor dem
Hintergrund dieser Überlegungen kann Stetter zeigen, dass erst der Buchdruck die Al-
phabetschrift in ein Notationssystem im Sinne Goodmans transformiert hat. Der
Buchdruck kondensiert die lokal und situativ divergenten Traditionen des Schreibens,
die höchst unterschiedlichen Kodierungssysteme der spätmittelalterlichen Hand-
schriften mit ihren je eigenen Abkürzungen und Ligaturen,120 zu einem „in höchstem
Maß standardisierten Kodierungsrepertoire“.121 Die je nach Scriptorium variierenden
Handschriften weichen jetzt Buchstabenfiguren des Setzkastens mit genau fixierter
Gestalt, wie etwa der über Jahrhunderte kaum veränderten Gestalt der lateinischen
Antiqua Schrifttypen.122
Damit es zu der für wiederholtes Lesen notwendigen Eindeutigkeit schriftlicher Texte 104
kommt, bedarf es schließlich der Orthographie. Die heute selbstverständliche Nor-
mierung der Druckschrift, die Unterscheidung von richtigem und falschem Buchsta-
bengebrauch, von grammatisch korrekten und falschen Sätzen usw., setzt nicht nur die
technische Reproduzierbarkeit genau fixierter Zeichengestalten voraus, sondern auch

115
N. Goodman, Sprachen der Kunst (1976), 1995, 154ff.
116
Goodman, ebd., 210.
117
Goodman, ebd., 139.
118 Das ist eine nur grobe Wiedergabe der Definitionen. Vgl. genauer Goodman, ebd., 154f.; Stetter
(Fn. 111), 117ff. (mit Bezug auf den digitalen Charakter der Alphabetschrift).
119
Goodman (Fn. 115), 155.
120
Dazu näher Giesecke (Fn. 107), 489ff.
121 Stetter (Fn. 113), 66.
122 Stetter, ebd., 66; vgl. auch ders. (Fn. 111), 58ff., 60 (zur Starrheit des dinglichen Substrats der Druck-
schrift); Giesecke (Fn. 107), 90ff. (zum Setzen).

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§ 3. System I

eine an diese Errungenschaft anschließende Orthographie. Erst über umfangreiche


Wortlisten, wie sie z. B. dann der Duden formuliert, gelingt die heute übliche durch-
gehende Normierung der Schreibung von Wörtern und Sätzen. Diese Normierung er-
fordert ihrerseits mehrbändige Buchausgaben, die auf das Buch als Medium der Text-
herstellung zurückwirken und eine rekursive Struktur in Gang setzen, in der sich
schließlich die Form des Schreibens von Büchern an bereits geschriebenen Büchern
orientiert. „Der Begriff der Orthographie ist verfehlt, faßt man sie lediglich als ‚graphi-
sche‘, konventionelle Gestaltung des signifiant auf. Sie ist nicht weniger, freilich auch
nicht mehr als die Normierung der Worte und Satzformen einer Literatursprache, und
als solche nicht erdacht oder kodifiziert von Grammatikern wie Schottel, Adelung oder
Duden, sondern ‚ausgeschwitzt‘ von der Gemeinschaft der Schreibenden beim Schrei-
ben und, im Fall des Deutschen und vergleichbarer europäischer Sprachen, kodifiziert
im Wechselprozeß mit diesen von den Druckern des 16. bis 18. Jahrhunderts.“123
105 Das standardisierte Kodierungsrepertoire der Druckschrift und die umfassende ortho-
graphische Regelbindung des Schreibens bewirken eine digitale Aufbereitung der
Sprache, die durchgehende diskrete Formatierung des Schriftraums. Die Schreibva-
rianten und Dialekte verschiedenster (lokaler oder regionaler) Sprachgemeinschaften
werden ausgemerzt und durch eine gemeinsame (nationale) Schriftsprache abgelöst,
die das Sprachsystem „a priori als über die Schrift individualisiertes Allgemeines zu-
richtet“.124 Gerade weil die letzten handwerklichen Elemente der Figuren- und Bild-
haftigkeit der Schrift mit dem Buchdruck ebenso getilgt werden wie die lokalen Eigen-
heiten und Abweichungen in der Wort- und Satzbildung, d. h. alle materiellen
Voraussetzungen von Inskriptionen, auch die materielle Zeichenhaftigkeit der Druck-
schrift selbst, zum Verschwinden gebracht ist, kann die Druckschrift die Ökonomie
einer standardisierten und regulierten Schrift „mit der Anästhesie des Denkens als sei-
ner eigenen Übersehbarkeit“ verknüpfen.125 Übrig bleibt ein „espace blanc“, ein reines
Medium möglicher Markierungen für unendliche Wort- und Satzbildungen in einem
formatierten Raum, die zunächst leeren und dann bedruckten Buchseiten. Das ist die
mediale und epistemologische Voraussetzung für das, was Wittgenstein eine übersicht-
liche Darstellung genannt hat: „Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Ver-
ständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge sehen‘.“126
106 Damit lässt sich erklären, warum die Möglichkeit, ein Rechtssystem zu entwerfen, das
von einem „enzyklopädischen“ Einheitswillen getragen wird, solange unrealisiert blei-
ben musste, wie es keinen Buchdruck gab. Erst als juristische Monographien in größe-
rer Auflage als Lesestoff zirkulieren und in der Produktion immer neuer Bücher vo-
rausgesetzt werden konnten, konnte aus dem bloßen „Aggregat“ unendlicher
Rechtsnormen und Gesetze eine Einheit des Rechts aus „innerem Zusammenhang“
werden,127 eine „systematische Erkenntniß“, welche „die Theile des Rechts“ verbin-

123
Stetter (Fn. 113), 67.
124
Ebd. Stetter kann im Übrigen auch plausibel machen, dass der Buchdruck nicht zufällig auf der
Grundlage der Alphabetschrift entstanden ist. Die Alphabetschrift ist der evolutionär einmalige Fall
einer Schrift, in der die „Digitalisierung bereits im Grundprinzip dieses Graphismus angelegt“ ist.
Vgl. Stetter (Fn. 111), 100, 140 (Zitat).
125
F. Steinhauer, Bildregeln, 2009.
126 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1945), 2003, § 122; dazu S. Krämer, Sprache,
Sprechakt, Kommunikation, 2001, 9, 113, 121 (Denkweisen sind für Wittgenstein Sehweisen).
127
Savigny (Fn. 57), 15f.

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IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung

det.128 Die „innere Einheit“ des Rechts wird eben erst jetzt, unter Buchdruckbedin-
gungen, darstellbar. Erst wenn der hierarchische Aufbau des Systems durch innere
Gliederung immer wieder anschaulich gemacht werden kann, gewinnt auch die Rede
von der Vollständigkeit und Lückenlosigkeit des Rechts ihre Evidenz. Erst dann kann
das Recht sein, was es werden soll: ein System. Auch das systematische Kodifikations-
recht des 19. Jahrhunderts ist daher intrinsisch mit dem Buchdruck verknüpft. Es setzt
die digitale Aufbereitung der Sprache im Buchdruck voraus, die Transformation der
vielen lokalen juristischen Sprachgemeinschaften zu einer nationalen Gemeinschaft
schreibender und druckender Juristen. Demgegenüber muss man kein Prophet sein,
um zu sehen, dass das Zeitalter des Buchdrucks und mit ihm das Zeitalter der systema-
tischen Kodifikationen heute hinter uns liegen. Wenn auch noch immer juristische
Bücher gedruckt und Gesetze gemacht werden, werden beide Formen doch heute
durch das Medium des Computers und seine heterarchischen, konnexionistischen
und netzwerkartigen Informationsstrukturen bestimmt, nicht aber länger durch die
hierarchische Architektur des Buchwissens der „Gutenberg-Galaxis“.
Mit den hier angestellten (recht knappen) Überlegungen zum Buchdruck als medialer 107
Voraussetzung der rechtswissenschaftlichen Systembildung öffnet sich zugleich ein
Forschungshorizont, in dem die rechtstheoretischen Überlegungen bei Hobbes, Kant,
Hegel und im staatsrechtlichen Positivismus stärker in ihrer metaphorisch konstrukti-
ven (oder imaginären) Bedeutung wahrgenommen werden könnten, ähnlich wie
schon Hans Blumenberg Kants Staatsbegriff, der den monarchischen Staat ganz vom
beseelten Körper des Monarchen abzieht, als absolute Metapher interpretiert hat.129
Das würde bedeuten, den Sinn des Buchdrucks und der in ihm entfalteten Begrifflich-
keiten, Metaphern und Systemvorstellungen in einem „Aufschließen von Total-
horizonten“ zu sehen.130 Insbesondere absolute Metaphern wie Geschichte, Leben,
Mensch, Sein, Freiheit, Gott oder System geben, wie Hans Blumenberg immer wieder
zu Recht betont hat, „einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie über-
sehbare Ganze der Realität“.131 Sie liefern oder erzeugen anschauliche Bilder für Phä-
nomene, die sich strenggenommen nicht abbilden lassen, um so das „als Gegenständ-
lichkeit unerreichbare Ganze ‚vertretend‘ vorstellig“ zu machen.132 Die moderne
Rechtslehre, auch der rechtswissenschaftliche Positivismus, würden sich dann immer
schon in einem Feld mythopoetischer Bedeutungsproduktion bewegen, all diese Un-
ternehmen wären immer schon an der Erzeugung „fiktiver“ Totalhorizonte – der
Leviathan, die Verfassung, das Rechtssystem, das Gesetzbuch etc. – durch gedruckte
Bücher beteiligt. Ob man an dieser Stelle mit der amerikanischen Literaturwissen-
schaftlerin Viktoria Kahn von einer rein säkularen Konzeption von poiesis sprechen
kann, derzufolge Menschen nur das wissen können, was sie selbst gemacht haben, das
Historische, das Soziale und das Säkulare,133 wäre im Hinblick auf die Kategorie der
Säkularisierung sicher zu diskutieren. Aber in dieser Perspektive kann die moderne
Rechtstheorie seit Hobbes zweifellos als ein begriffliche Wissenschaft und unbegriffli-

128 Puchta (Fn. 64), 100.


129 Vgl. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 2010, 58.
130
Wetz (Fn. 109), 20; D. Mende, Vorwort: Begriffsgeschichte, Metaphorologie, Unbegrifflichkeit,
2009, 9.
131 H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), 2013, 29; Wetz (Fn. 109), 20.
132 Blumenberg (Fn. 131), 29; S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, 2004, 11, 25.
133
Kahn (Fn. 39), 7 („purely secular conception of poieses“).

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§ 3. System I

che Imagination zusammenführendes artifizielles Unternehmen begriffen werden, das


wie viele andere literarische Verfahren auch an der Füllung der Leerstellen gearbeitet
hat (und immer noch arbeitet), die das Brüchigwerden der metaphysischen und reli-
giösen Gewissheiten der jüdisch-christlichen Tradition seit der frühen Neuzeit hinter-
lassen hat. Auch der Aufstieg der Naturphilosophie wäre entgegen ihrem eigenen
Selbstverständnis in diesem mythopoetischen Feld angesiedelt.

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§ 4. System II

I. Unterscheidung von System und Umwelt

Die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die verschiedenen Interpretationen, die sie 108
in der Rechtstheorie erfahren hat,1 können als Versuche interpretiert werden, auf die
Krise des Rechtspositivismus zu reagieren, ohne den Begriff des Rechtssystems zur Be-
zeichnung der Einheit der Rechtsordnung aufzugeben. In der Systemtheorie bekommt
der Begriff des Systems allerdings einen völlig anderen Gehalt. Im Unterschied zum
Rechtspositivismus wird das System der Systemtheorie nicht mehr über eine „innere
Einheit“ aufeinander abgestimmter Rechtsnormen und Institutionen konstituiert.
Auch die Annahme der reinen Rechtslehre Hans Kelsens, dass das Rechtssystem eine
„Grundnorm“ voraussetzen muss, um erfolgreich operieren zu können, wird aufgege-
ben. An die Stelle einer wissenschaftlich vorauszusetzenden Grundnorm tritt die lau-
fende Grenzziehung des Rechtssystems selbst, seine unablässige Abgrenzung gegen-
über allem, was nicht Recht ist. Statt an Einheit orientiert sich die Systemtheorie
deshalb an Differenz,2 an einem Denken, dass das Rechtssystem von einer System/
Umwelt-Unterscheidung her konzipiert. „Unter ‚System‘ verstehen wir ... einen Zu-
sammenhang von faktisch vollzogenen Operationen, die als soziale Operationen Kom-
munikationen sein müssen, was immer sie dann noch zusätzlich als Rechtskommuni-
kationen auszeichnet. Das aber heißt: die Ausgangsunterscheidung [der Rechtstheorie,
T. V.] nicht in einer Normen- oder Wertetypologie zu suchen, sondern in der Unter-
scheidung von System und Umwelt.“3
Die Definition des Rechtssystems als Unterscheidung von System (alles, was Recht ist) 109
und Umwelt (alles andere) will der erkenntnistheoretischen Einsicht Rechnung tragen,
dass jede Beobachtung (oder Beschreibung) mit einer Unterscheidung oder Differenz
beginnen muss.4 Luhmann knüpft hier zunächst an die platonische Tradition der be-
griffsbezogenen Unterscheidungskunst an, derzufolge jeder zu bezeichnende Gegen-
stand nur in Differenz zu einem anderen Gegenstand bezeichnet werden kann; insbe-
sondere das in den platonischen Spätdialogen entwickelte Verfahren der diairesis (von
gr. hairéo, greifen, fassen) diente dem begrifflichen Unterscheiden, der Einteilung von
Gattungen (gr. géne).5 Heute ist das differenztheoretische Denken in verschiedenen
akademischen Disziplinen verbreitet, prominent etwa in der Philosophie von Jacques
Derrida und seinem Kunstbegriff der „différance“ oder in der Soziologie von Pierre
Bourdieu und den von ihm analysierten „Distinktionspraktiken“. Erinnert sei an dieser

1 Einen Überblick geben u. a. G.-P. Callies, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, 2009, 53ff.; T. Vesting/
I. Augsberg, Das Recht der Netzwerkgesellschaft, 2013, 1ff.; vgl. allg. auch A. Korschorke/C. Vismann,
Widerstände der Systemtheorie, 1999.
2
Zum Differenzbegriff vgl. J. Clam, Was heißt, sich an Differenz statt an Identität zu orientieren?, 2002,
15ff.; vgl. auch V. Descombes, Das Selbe und das Andere, 1981, 161ff. Dies hat zur Folge, dass
„Grenze“ – wie D. Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005, 156 – bemerkt, der mög-
licherweise wichtigste Begriff zur Beschreibung der Merkmale eines Systems ist.
3
N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 40f.
4
Luhmann, ebd., 26.
5 Vgl. Platon, Sophistes, 253d. Die Diairetik zielte nicht zuletzt auf die Vermeidung von Paradoxien; vor
allem sollte vermieden werden, „daß man nicht ein und denselben Begriff für einen anderen hält und
den, der ein anderer ist, für denselben“.

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§ 4. System II

Stelle außerdem noch einmal an die grundlegende, mit dem Namen Ferdinand de Saus-
sure verbundene Erkenntnis von der Willkür der Zeichenfestlegung (l’arbitraire du
signe) in den natürlichen Sprachen. Nach Saussure bestimmt sich der Wert eines sprach-
lichen Zeichens nur in Differenz zu einem anderen Zeichen, nicht aber aus der Einheit
des Zeichenwerts mit einem durch das Zeichen repräsentierten Sein. Die Bezeichnung
Apfel funktioniert in der Alltagskommunikation, weil „Apfel“ leicht von „Birne“ unter-
schieden werden kann, nicht aber, weil das Wort Apfel eine ontologisch stabile Bezie-
hung zu dem von ihm bezeichneten Obststück unterhielte (vgl. Rn. 54ff.).
110 Im zweiten Schritt wird das Unterscheidungsdenken in der Systemtheorie allerdings ra-
dikalisiert. Während sich die platonische Unterscheidung von Begriff und Gegenbegriff
immer innerhalb einer vorausgesetzten Einheit bewegte, in der letztlich alle Differenzen
im Sein des Seienden aufgehoben wurden, transformiert die Systemtheorie das Unter-
scheidungsdenken in eine – aus traditionell philosophischer Sicht – „postontologische“
Theorie.6 Für Luhmann ist der Systembegriff ein Anwendungsfall des Formbegriffs des
englischen Mathematikers George Spencer Brown. Dessen Werk Laws of Form (1969)
entwirft eine präidentitäre (Ur-)Logik oder Protologik, „welche die Differenz und die
Paradoxie als die Anfangsvollzüge alles Denkens ansetzt.“7 Formen sind für Spencer
Brown nicht das, was eine Gestalt ausmacht, so wie etwa die Formensprache des franzö-
sischen Bildhauer Auguste Rodins (1840–1917) die Gestalt seiner Skulpturen, son-
dern – entgegen dem normalen und philosophischen Sprachgebrauch – sind Formen
für Spencer Brown Grenzlinien, Markierungen einer Differenz, die zwei Seiten tren-
nen.8 Der Vollzug der Trennung, die Markierung, basiert wiederum auf einer Anwei-
sung, nämlich auf der Anweisung, eine Unterscheidung zu treffen („Draw a distinc-
tion!“). Damit soll u. a. zum Ausdruck gebracht werden, dass allen „ersten“ Sätzen,
Axiomen oder Prinzipien, wie sie für das naturphilosophische und rechtspositivistische
System konstitutiv waren (vgl. Rn. 73ff., 83ff.), eine Differenzsetzung vorausgeht; dass
nur dann, wenn – an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit – eine Unter-
scheidung getroffen und etwas als etwas bezeichnet wird, überhaupt eine beobachtbare
Operation anlaufen und eine Theorie einen Anfang des Denkens setzen kann.
111 In diesem Sinne fungiert der Formbegriff Spencer Browns als Startpunkt der System-
theorie. Der „erste“ Satz, der Anfang oder Grund des Systems schrumpft von theore-
tisch anspruchvollen Konzepten wie der Konstitution eines Souveräns durch einen
(hypothetischen) Gesellschaftsvertrag (Hobbes), einem transzendentalen Subjekt
(Kant), einem sich in der Geschichte realisierenden Geist (Hegel) oder einem freien
Willen (Rechtspositivismus) auf den Vollzug einer Markierung/Unterscheidung zu-
sammen: Der Anfang des Systems der Systemtheorie besteht in der Transformation
einer Hintergrundsunbestimmtheit in die Bestimmtheit zweier Seiten, von der jede
Seite der Form die andere Seite der anderen Seite ist.9 Zeichnet man z. B. einen Kreis

6
Vgl. Clam (Fn. 2), 28ff., 48ff.
7
Clam, ebd., 19, 27 („eine Art nicht-philosophischer Apriorik“) und 107 („Urlogik der Beobachtung und
ihrer Reflexivität“); vgl. auch N. Luhmann, Die Paradoxie der Form, 1993, 197ff.
8 Vgl. G. Spencer Brown, Laws of Form, 1977 („We take as given the idea of distinction and the idea of
indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction. We take, therefore,
the form of distinction for the form.“); vgl. auch Clam (Fn. 2), 32 (der auf die Selbstgenügsamkeit/
Selbstenthaltsamkeit der Formen Spencer Browns hinweist).
9 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 60; eine gute Einführung in die Problematik
findet sich bei N. Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, 2006, 70ff.

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II. Operative Geschlossenheit

auf ein weißes Blatt Papier, erzeugt man zugleich eine Differenz („distinction“) und
eine Markierung („indication“), nämlich die Innenseite und die Außenseite des Krei-
ses, die sich jeweils über die andere Seite bestimmt. Das System der Systemtheorie ver-
steht sich als Anwendungsfall einer solchen Zwei-Seiten-Form im Sinne Spencer
Browns. Es basiert auf einer Form, die das System von seiner Umwelt unterscheidet
und bezeichnet. Dabei wird die Einheit des Systems sozusagen zwischen die Unter-
scheidung von System und Umwelt geschoben, also auf jede ontologische Einheitslö-
sung verzichtet. Einheit, auch die dialektische Identität von Differenz und Identität,
wird durch Differenz ersetzt bzw. durch die „Differenz von Identität und Differenz“.10

II. Operative Geschlossenheit

1. Autopoiesis
Soweit sich die Rechtstheorie als Normentheorie versteht, interessiert sie sich primär, 112
wenn nicht ausschließlich, für vermeintlich stabile Strukturen, für Rechtstexte wie Ge-
setzbücher oder einzelne Rechtsnormen wie z. B. § 823 BGB, nicht aber für deren je-
weilige Anwendung. Die Systemtheorie denkt in gewisser Weise umgekehrt: Für sie
steht der Akt rechtsrelevanten Sprachhandelns, die Rechtskommunikation, im Vor-
dergrund. Sie beobachtet nicht die (geschriebene) Norm des § 823 BGB als solche
oder als Bestandteil eines umfangreicheren (gedruckten) Gesetzestextes, sondern ihren
jeweiligen Gebrauch in einer kommunikativen Episode, im Alltagsgeschehen und im
Rechtsbetrieb. Das rechtsrelevante Handeln kann unterschiedliche Erscheinungsfor-
men annehmen, eine kommunikative Episode kann auch das sein, was man juristisch
einen Fall nennt: Nach Abschluss der Verhandlung billigt das Zivilgericht dem Kläger
mit Urteil vom 7.12.2014 Schadensersatz für seinen 6 Monate zuvor widerrechtlich –
von einem Porsche 911 Turbo – angefahrenen Zuchtbullen zu. Schon Kelsen hatte
diese dynamische Seite des Rechts von aller „Rechtsstatik“ abgesondert,11 die Dyna-
mik der laufenden Rechtserzeugung von Fall zu Fall aber letztlich doch wieder an eine
zeitstabile Idealität, an eine den Stufenbau der Rechtsordnung abschließende Grund-
norm rückgebunden. Luhmann kappt noch diesen Anker und folgt den pragmatischen
Strömungen der (Sprach-)Philosophie seit Wittgenstein (vgl. Rn. 54ff., 60ff.). Damit
verliert die Rechtsnorm ihren Status als ontologisches Objekt. Die Rechtstheorie
beobachtet nicht vermeintlich stabile Normen, sondern flüchtige Rechtsereignisse –
Schadensfälle,Vertragsschlüsse, Gerichtsurteile, Verwaltungsakte, Gesetzgebungspro-
zesse usw. –, kommunikative Episoden, in denen Normen als Anknüpfungspunkte für
rechtsrelevantes Handeln und damit als Strukturen für Wiederholungen, für Wieder-
verwendungen in jeweils anderen Situationen fungieren.
Verknüpft man die Vorstellung eines sich aus einzelnen rechtsrelevanten Handlungen 113
und Kommunikationen zusammensetzenden Rechtsgeschehens mit der Differenz-
theorie, dann lautet die Ausgangsfrage: Wie kann das Rechtssystem seine Grenzzie-
hung laufend operativ wiederholen und sich im Laufe der Zeit so stabilisieren, dass es
10
N. Luhmann, Soziale Systeme, 1984, 26. Vgl. dazu auch den treffenden Kommentar von Clam (Fn. 2),
26 („Die differentialistische Systemtheorie ... kennt keine in sich zentrierte Identität, sondern nur ein
Ineinander von Identität und Differenz, daß an sich nichts ist, sondern nur im operativen Vollzug der
Grenzziehung und Unterscheidung etwas wird.“).
11
H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 114ff., 196ff.

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§ 4. System II

sich selbst von anderen Systemen in seiner Umwelt unterscheiden kann? Die Antwort
der Systemtheorie auf diese Frage lautet: durch operative autopoietische Geschlossen-
heit. Als operativ geschlossene Systeme bezeichnet die Systemtheorie solche Systeme,
„die zur Herstellung eigener Operationen auf das Netzwerk eigener Operationen an-
gewiesen sind und in diesem Sinn sich selber reproduzieren“.12 Das System der Sys-
themtheorie setzt sich also selbst voraus und betreibt mit weiteren Operationen seine
eigene Reproduktion. Im Unterschied zu älteren Theorien der Selbstorganisation be-
zieht sich die fortwährende Reproduktion des Systems aber nicht nur auf die system-
eigenen Strukturen, sondern auch auf die elementaren, für das System selbst nicht
weiter auflösbaren Operationen, die rechtsrelevanten Ereignisse und Handlungen,
„und damit auf alles, was im System für das System als Einheit fungiert“.13 Die
laufende Herstellung der Strukturen und Elemente des Systems im Netzwerk des
Systems, wird – im Anschluss an den chilenischen Biologen Humberto Maturana –
als „Autopoiesis“ bezeichnet und von Luhmann als „Invariante“ in die Rechtstheorie
eingeführt.14
114 Autopoiesis des Systems meint Selbst-Herstellung (von gr. autos, selbst und gr. poiesis, herstellen, machen)
der systemeigenen Strukturen und Elemente durch das System, nicht vollständige ursächliche Produktion
oder Kreation des Systems durch das System. Der Prozess der netzwerkartigen Selbstproduktion schließt
niemals die Kontrolle über sämtliche Ursachen ein, die die Systembildung ermöglichen. Hier geht es der
Systemtheorie wie der Fotographie. Die Fotographie bildet normalerweise Dinge, körperliche Gegen-
stände, ab, aber diese sind kein Bestandteil der Fotographie selbst. Auch ein Modefoto von Cara Dele-
vingne schließt nicht ihren Körper ein, und dies obwohl der Körper von Cara Delevingne zweifellos die
wichtigste Ursache für das Schießen von Modefotos mit ihr als Model sein dürfte.

115 Mit der Konzeption eines autopoietischen Systems richtet die Systemtheorie das Au-
genmerk ganz auf die interne Konditionierung der Systemelemente und -strukturen.
Das System praktiziert eine selektive Verknüpfung, eine systeminterne Auswahl von
Informationen, und nur wenn das der Fall ist, ist es sinnvoll, „von systemeigenen Ele-
menten, von Systemgrenzen oder von Ausdifferenzierung zu sprechen“.15 Die Auto-
nomie des Systems im Sinne der traditionellen Fassung des Begriffs – Selbstgesetz-
gebung, Selbstlimitierung (gr. autonomia)16 – erscheint dann als Konsequenz der
operativen Geschlossenheit des autopoietischen Systems.17 Das System selektiert und
verknüpft sinnhafte kommunikative Ereignisse, die sich dem Rechtssystem zuordnen
und seine Strukturen benutzen, nicht aber gehört z. B. die Körperlichkeit des Hand-
schlags, mit dem zwei Parteien einen Vertrag abschließen, zum System. Damit wird
nicht bestritten, dass ein Vertrag durch Handschlag und wechselseitigen Körperkon-
takt „besiegelt“ werden kann; es wird lediglich unterstellt, dass der Handschlag für das

12 Luhmann (Fn. 3), 44.


13 Luhmann, ebd. 45. Vgl. auch Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 65 („Autopoietische Systeme sind Sys-
teme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk
eben dieser Elemente selbst erzeugen.“).
14
Luhmann (Fn. 3), 45 („Sie ist bei allen Arten von Leben, bei allen Arten von Kommunikation stets die-
selbe.“). Vgl. H. Maturana/F. J. Varela, Autopoiesis and Cognition, 1980, insb. 77ff., vgl. auch XVII
(Introduction).
15
Luhmann (Fn. 3), 43.
16
Zur Genese von autonomia im antiken Griechenland vgl. M. Ostwald, Autonomia: Its Genesis and
Early History, 1982 (mit der These, „that autonomia came into being as part of an attempt to find sanc-
tions against the arbitrary use of force by a major state against minor states moving in its orbit“).
17
Luhmann (Fn. 3), 63.

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II. Operative Geschlossenheit

Rechtssystem erst relevant wird, wenn er zum Gegenstand rechtlicher Kommunika-


tion geworden ist, wenn z. B. ein Zeuge vor Gericht über den Handschlag berichtet.
Alles andere ist Umwelt des Rechtssystems. Die operative autopoietische Geschlossen-
heit des Rechtssystems basiert also auf informationeller (semantischer, sinnförmiger)
Geschlossenheit, nicht auf kausaler Abgeschlossenheit (Autarkie). Operative Geschlos-
senheit bezeichnet das Stabilhalten einer Bedeutungsgrenze, die Verknüpfung von
Recht mit Recht auf der Innenseite des Systems, während alle anderen Kommunikatio-
nen und alle anderen Ereignisse unbeachtlich bleiben. Rechtskommunikation gibt es
nur im Rechtssystem – und nirgends sonst.
Das nicht weiter auflösbare Element, das alle sozialen Systeme – auch das Rechtssystem – aus seiner natür- 116
lichen Umwelt ausgrenzt, ist Sprache oder besser Sprachgebrauch bzw. „Kommunikation“. Sprachge-
brauch oder Kommunikation werden in der Systemtheorie aber nicht nach dem Sender/Empfänger-Mo-
dell als Übertragung von Nachrichten vom Sender zum Empfänger konzipiert, sondern bestehen aus drei
Selektionen, aus Information, Mitteilung und Verstehen, wobei das Verstehen für die Einheit oder den Ab-
schluss einer kommunikativen Episode entscheidend ist.18 An das Verstehen werden allerdings keine ho-
hen Anforderungen gestellt. Es geht nicht um verständigungsorientiertes Handeln, um „Idealisierungen“,
die mit „dem Medium der Sprache“ verknüpft sind, wie in der Diskurs- und Rechtstheorie von Jürgen Ha-
bermas,19 sondern – ganz schlicht – um die Erreichbarkeit der Kommunikation für weitere Kommunika-
tion. Soweit Rechtskommunikation auf Rechtskommunikation reagiert, und sei es ablehnend, wird das
endlos geflochtene Band rechtlich relevanter Sprachereignisse, das Sprachgeschehen des Rechtssystems,
weitergeknüpft. Auch an dieser Stelle orientiert sich Luhmann an Spencer Brown. Das System der System-
theorie besteht aus nur einem Typus von Elementen, aus Kommunikationen, so wie der operative Kalkül
von Spencer Brown nur einen Operator hat. Das Rechtssystem vernetzt ausschließlich sprachliche Aussa-
gen (wenn sie erfolgreich sind, also verstanden werden), nicht aber ist es als „Und-System“ konzipiert wie
z. B. der Staat bei Georg Jellinek, demzufolge drei Elemente – Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt –
den Staat als Begriff konstituieren.20
Während alle rechtsrelevanten Handlungen und Sprachäußerungen zum Rechtssystem gehören, gehören
alle nicht kommunikativen Ereignisse zur Umwelt des Rechtssystems. Damit sind nicht nur Gebäude wie
Anwaltskanzleien, Gerichte und Verwaltungsbehörden aus dem Rechtssystem ausgeschlossen, sondern
auch Menschen als körperliche Wesen, selbst wenn sie wie z. B. Anwälte, Richter oder Hochschullehrer
einen Beruf ausüben, der unmittelbar rechtsrelevant ist. Der Mensch ist aber über sein Bewusstsein – die
Systemtheorie spricht in diesem Zusammenhang zumeist von „psychischen Systemen“ oder „Bewusstseins-
systemen“ – über den Sinn, der in Rechtskommunikationen und Rechtstexten, wie etwa Schriftsätzen vor
Gericht mitgeteilt wird, über die Bedeutung von rechtsrelevanten Redewendungen, am Rechtssystem be-
teiligt. Der Anwalt, Richter oder Hochschullehrer als Körper, als ganzer Mensch, ist aber nie Bestandteil
des Systems.21 Ja, selbst die Stimme bleibt nach systemtheoretischer Vorstellung im Rechtssystem unge-
hört, sie bildet nur ein dingliches Substrat für die Informationen, die im sprachlichen Sinn, in der Bedeu-
tung einer Kommunikation als Rechtskommunikation mitgeteilt werden.22
Mit dieser theoretischen Ausgangsdisposition werden kommunikative Systeme und menschliche Umwelt
keineswegs als voneinander unabhängig begriffen. Kommunikation ist – in der Sprache von Spencer
Brown – die Innenseite der Form, die immer eine Außenseite hat. Wie die Gesellschaft setzt auch das
Rechtssystem dauerhaft psychische Systeme, menschliches Bewusstsein, in seiner Umwelt voraus und ist
insofern strukturell-dauerhaft (nicht nur augenblicklich-operativ) über Sprache an Bewusstseinssysteme
gekoppelt;23 in gesellschaftstheoretischen Zusammenhängen spricht Luhmann auch von „Interpenetra-

18
Vgl. Luhmann (Fn. 10), 193ff.; zum Versuch, Kommunikation zugleich abhängig und unabhängig von
Psyche und Bewusstsein zu denken, vgl. D. Baecker, Kommunikation, 2005, 17ff.
19 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 33.
20
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1913), 1976, 394ff., 406ff., 427ff.
21
Zum Verhältnis System/Mensch vgl. G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 59f.
22 Zur Kritik und zu den Inkonsistenzen dieser Auffassung vgl. T. Vesting, Die Medien des Rechts, Bd. 1:
Sprache, 2011, 47ff., 67ff.
23
Luhmann (Fn. 3), 441; zur „strukturellen Kopplung“ vgl. auch Calliess (Fn. 1), 65.

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§ 4. System II

tion“ als dauerhafter Verknüpfung von Bewusstsein und Gesellschaft.24 Aber auch strukturelle Kopplung
und Interpenetration ändern nichts an der systemtheoretischen Vorstellung einer Autopoiesis aller sozialen
Systeme; kein Gedanke, so die ganz grundlegende Annahme, kann unmittelbar aus dem Rechtssystem in
das Bewusstsein des Einzelmenschen eindringen (sofern er als „Gedanke“ ernst genommen wird), und um-
gekehrt kann das einzelne Bewusstsein nie direkt in die Autopoiesis des Rechtssystems intervenieren. Das
Bewusstsein kann im Rechtssystem lediglich Irritationen, Überraschungen oder Störungen auslösen, wo-
hingegen Gehirn, Blutkreislauf, Muskulatur und andere körperliche Elemente ohnehin nicht Gegenstand
der Rechtskommunikation als sinnhafter Kommunikation werden können. Es ist die Einheit einer Unter-
scheidung, die an die Stelle der (unmittelbaren) Identität von Mensch und Recht oder Mensch und Gesell-
schaft tritt. Rechtspolitisch gesehen liegt darin eine Fortsetzung der liberalen Tradition des Gesellschafts-
vertrages (Hobbes, Locke, Schottische Aufklärung etc.).25 Auch in der Systemtheorie bleibt eine
Spannung zwischen Individuum und sozialem System erhalten, eine Fremdheit der anderen Seite, ein An-
deres der Kultur (wie man vielleicht auch sagen könnte), ein Bruch, der eine „Aufhebung“ dieser Spannung
in einer den Menschen ganz und gar einschließenden Rechtsidee oder Rechtsgemeinschaft nicht zulässt.

2. Zeit
117 Das System der Systemtheorie ist ein dynamisches System. Es besteht nicht aus festen
Partikeln, sondern aus Sprechakten oder Kommunikationen. Von „Element“ kann mit
Bezug auf autopoietische Systeme daher nur im Sinne von temporalisierten Elemen-
ten, von zeitpunktgebundenen Ereignissen oder Operationen, die Rede sein; Opera-
tion ist dementsprechend als „Reproduktion der ereignishaften Elemente“ eines Sys-
tems definiert.26 Auch für das Rechtssystem ist Zeit nur ereignishaft, als Zeitpunkt,
gegeben, als Differenz zwischen einem Vorher und einem Nachher der Zeit. Der Zeit-
punkt markiert aber nicht so sehr eine bestimmte Stelle in der gleichmäßig dahin fließ-
enden chronometrischen Zeit, der Zeit der Minuten, Stunden, Tage und Wochen etc.,
obwohl auch diese – z. B. bei Verjährungsfristen – eine wichtige Rolle im Recht spielt.
Zeit ist für das System der Systemtheorie zuallererst eine Dimension der Bestimmung
von Sinn; sie besteht aus „Aktualisierungen sinnhafter Möglichkeiten, die im Augen-
blick ihrer Realisation schon wieder verschwinden“.27 Der Richter verkündet den Be-
weisbeschluss, und schon im nächsten Augenblick kann daran nur noch – mit Hilfe
des Protokolls – erinnert werden. Setzt man so an, operiert das Recht stets in einer
punktualisierten Gegenwart: Alles, was geschieht, geschieht gleichzeitig, d. h. jetzt, in
diesem Augenblick – oder im nächsten. „Auch Vergangenheit und Zukunft sind stets,
und nur, gleichzeitig relevant, sind Zeithorizonte jeweils gegenwärtiger Operationen
und können als solche nur in der Gegenwart unterschieden werden. Ihre rekursive
Verknüpfung wird in jeweils aktuellen Operationen hergestellt.“28
118 Für autopoietische Systeme ist diese zeitpunktgebundene Zeit, die Zeit des Augen-
blicks, konstitutiv. Autopoietische Systeme existieren nur im Moment ihres Vollzugs,
im Moment der Operation, nicht aber zeitüberdauernd über ein Ereignis hinaus.

24
Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 108; ders. (Fn. 10), 286ff.
25
K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 21ff.
26 Luhmann (Fn. 10), 79; ders., Temporalisierung von Komplexität, 1980, 241 („Temporalisierte Systeme
können also nur als temporalisierte Elemente, das heißt aus Ereignissen bestehen.“).
27
Luhmann (Fn. 3), 50; in ders., Die Politik der Gesellschaft, 2000, 150 verschärft Luhmann diesen Ge-
danken dahingehend, dass im Moment der Operation des (politischen) Systems, der Entscheidung,
sich dieses selbst mit Hilfe der Zeit erzeugt, indem das System die Zeit noch einmal – in Form des re-
entry – in der Zeit thematisiert. Ähnlich Clam (Fn. 2), 59ff.
28
Luhmann (Fn. 3), 45.

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II. Operative Geschlossenheit

Identitäten (Elemente) sind nicht der Zeit vorgegeben, vielmehr steht das System mit-
ten in der Zeit und konstruiert und reproduziert je gegenwärtig für eine gewisse Zeit
Formbildungen, die Zeitbindungen erzeugen.29 Auch das Rechtssystem produziert
und reproduziert ein ständiges Kommen und Gehen, die Elemente, die rechtsrelevan-
ten Handlungen, verschwinden, weil sie sich in der Zeit nicht halten können und lau-
fend erneuert werden müssen. „Normativität“ ist daher für das Rechtssystem der Sys-
temtheorie nicht als zeitstabile Normativität oder gar als „ewiges Naturrecht“
gegeben.30 Das Rechtssystem ist zwar wie alle sozialen Systeme auf Selbstproduktion
und damit wie ein Computer auf dynamische Stabilität angelegt, aber die punktuali-
sierte Zeit der Systemtheorie ist wie die Zeit der modernen Physik irreversibel, so dass
ein Sich-Selbst-Gleichbleiben der Systemstrukturen, der binären Recht/Unrecht-Co-
dierung und der darauf bezogenen Normen (Programme), nur durch einen beständi-
gen Austausch der Elemente, durch einen unaufhörlichen Betrieb, erzeugt werden
kann. Das Rechtssystem vollzieht die Reproduktion normativen Sinns auf der Grund-
lage stets aktueller und kontextabhängiger Verwendung von Rechtsnormen. Damit
wird die Möglichkeit der Wiederverwendung derselben Regeln in anderen Situationen
nicht ausgeschlossen. Aber die Wiederverwendung wird nicht mehr – wie nach antiker
oder noch mittelalterlicher Auffassung – als Synonym für eine Gegenwart und Zu-
kunft beherrschende Vergangenheit oder Tradition gefasst. Und Wiederverwendung
meint auch nicht mehr: Anwendung eines zeitstabilen allgemeinen Gesetzes, das
sich – wie in Kants praktischer Philosophie und im Rechtspositivismus des 19. Jahr-
hunderts – in eine homogene Zukunft hinein erstreckt, die aus der Wiederholung
ein- und derselben Gegenwart hervorgeht.
Vor allem in dieser Hinsicht – in Bezug auf die Punktualisierung der Zeit – ist die Sys- 119
temtheorie eine strikt postontologische Theorie. Für Luhmann gibt es nicht dinghafte
Identität der Elemente einerseits und Zeitlichkeit der Operationen andererseits. Die
Vorstellung ist vielmehr, dass es Identität, seien es Objekte (Dinge) oder Subjekte
(Menschen), nur in der Zeit gibt. Die Sprache ist vielleicht das Paradigma für eine sol-
che Art von (Objekt-)Identität, wie sie sich die Systemtheorie vorstellt: für nicht sei-
ende, sondern werdende und insofern sich kontinuierlich verändernde Substanz.
Diese Eigenschaft der Sprache, ihre ständige Fluktuanz, hat Ferdinand de Saussure in
ein unvergessliches Bild gekleidet: Boguslawski – Bewohner einer russischen Klein-
stadt – lässt zweimal im Monat eine Portraitaufnahme von sich anfertigen. Als man
diese Fotos nach zwanzig Jahren in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung
nebeneinander legt, zeigen die jeweiligen benachbarten Portraits stets den gleichen Bo-
guslawski, das erste und das letzte Bild jedoch zwei ganz verschiedene Männer.31 In
ähnlicher Weise kann man sagen, dass das Deutsch Immanuel Kants ein anderes ist
als dasjenige Luhmanns, aber es ist kaum möglich, einen Punkt in der Geschichte der
deutschen Sprachen zu bestimmen, an dem das Deutsch Kants aufhört und das
Deutsch Luhmanns beginnt.
Zeit ist für die Systemtheorie mit anderen Worten ein der Kommunikation immanen- 119 a
tes Ereignis, das auch nicht durch die Fiktion einer der Zeit vorgegebenen „logischen“
29
Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 998, 1015.
30
Luhmann (Fn. 3), 211f. („Codes und Programme (Normen) findet man daher nicht vor als Sachver-
halte eigener Qualität, als ob sie wie Ideen oberhalb der Kommunikation eine eigene Existenz führ-
ten.“). Vgl. auch ders. (Fn. 9 – Gesellschaft), 45 (hier im Zusammenhang mit dem Sinnbegriff ).
31
Vgl. dazu Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 129.

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§ 4. System II

Sphäre, auf der die berühmte juristische Sekunde beruht, übersprungen werden kann.
Die Vorstellung einer punktualisierten Zeit bricht – wie auch andere Denkfiguren der
Systemtheorie – mehr oder weniger vollständig mit dem Alltagsbewusstsein und der
philosophischen Tradition und gehört damit zu den großen Zumutungen, die von
der Systemtheorie für das (traditionelle) Denken und die Rechtstheorie ausgehen.
Denn die klassische Philosophie von Aristoteles bis Hegel ist immer – wie der
„gesunde Menschenverstand“ – von einer ontologischen Einbettung der Zeit ausge-
gangen: Während Zeit hier also wie ein Seinsfaktum, wie eine Bewegung im Raum,
behandelt wurde,32 sprengt Luhmanns Zeitauffassung die herkömmliche Unterschei-
dung von Statik und Dynamik, Ruhe und Bewegung, Festem und Fließendem. Wäh-
rend das Feste in der Tradition immer als die obere Seite galt, wird bei Luhmann alles
Feste auf das Fließende gegründet bzw. Ruhe und Bewegung, Statik und Dynamik in
einen zirkulären Zusammenhang gebracht. Daraus geht die Vorstellung dynamischer
Systemstabilität hervor, einer – in den Worten Gunther Teubners – „dynamischen
Ordnung der Dauerveränderung“.33

3. Funktionale Spezifikation und binäre Codierung


120 Autopoietische Systeme operieren immer als und in einem Netzwerk von Kommuni-
kationen. Kommunikationen greifen auf frühere Kommunikationen zurück, um
darauf – in der Zukunft – weitere Kommunikationen anzuschließen. Auch Rechts-
kommunikationen sind immer Verknüpfungen (links) in einem Netzwerk von Rechts-
kommunikationen, die sich auf frühere Rechtskommunikationen beziehen und wei-
tere Rechtskommunikationen auslösen.34 Diese dynamische, nachbarschaftliche
Vernetzung des Systems wird in Anlehnung an einen Sprachgebrauch in der Mathe-
matik auch als „Rekursion“ oder „rekursive Vernetzung“ bezeichnet.35 Hinsichtlich
der Art der verwendeten Elemente unterscheidet sich das Rechtssystem dabei nicht
von anderen sozialen Systemen: Immer ist es die rekursive Vernetzung zeitpunktab-
hängiger Kommunikationen, die die Autopoiesis des Systems betreibt. Will man das
Rechtssystem gleichwohl als ein in der Gesellschaft ausdifferenziertes (autonomes)
System beschreiben, muss man zeigen können, was Rechtskommunikation gegenüber
sonstiger Kommunikation auszeichnet und etwa von Wirtschaftskommunikation un-
terscheidet. Den Nachweis der Autonomie der Rechtskommunikation versucht Luh-
mann insbesondere unter den Stichworten „funktionale Spezifikation des Rechts“ und
„binäre Codierung“ zu führen. „Nur beide Errungenschaften, Funktion und Code zu-
sammengenommen, bewirken, daß die rechtsspezifischen Operationen sich deutlich

32 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse II (1830), 1986,


§ 258; Aristoteles, Buch der Physik IV, 10, 217b. Die These behauptet nur eine Übereinstimmung im
Hinblick auf die ontologische Einbettung der Zeit, d. h. der Wahrnehmung der Zeit durch das Schema
Sein/Nicht-Sein, nicht etwa eine Identität der Zeitvorstellungen bei Aristoteles und Hegel.
33
G. Teubner, Der Wahnsinn der Rechtsenzyklopädien, ARSP 91 (2005), 587ff., 592; Clam (Fn. 2), 60
(spricht von einer „Nur-Vollzug-Struktur“).
34 G. Teubner/D. Schiff/R. Nobles, The Autonomy of Law, 2003, Ch. 19 („A legal communication is a link
in a system of communications. It refers back to earlier legal communications, and it can in turn trigger
further legal communications.“).
35 Für das Rechtssystem vgl. nur Luhmann (Fn. 3), 80. Der mathematische Begriff der rekursiven Funk-
tionen liegt der modernen Mathematik des Unerwartbaren und der Kompensation von Unausrechen-
barkeit durch systemische Produktion von Eigenwerten zugrunde.

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II. Operative Geschlossenheit

von anderen Kommunikationen unterscheiden lassen und dadurch, mit nur margina-
len Randunschärfen, sich aus sich selbst heraus reproduzieren können.“36
Die frühe Rechtssoziologie Luhmanns (1. Aufl. 1972) entwickelt den Begriff der Rechts- 121
autonomie im Kontext einer gesellschaftstheoretischen Funktionsanalyse.37 Daran hält
Luhmann auch später fest, insofern er noch im Recht der Gesellschaft unter „funktionaler
Spezifikation“ die Ausrichtung des Rechtssystems auf ein spezifisch gesellschaftliches
Problem versteht, dessen erfolgreiche Lösung durch kein anderes soziales Funktionssys-
tem ersetzt werden kann und deshalb in die Gesamtgesellschaft hinein verallgemeinert
werden muss. Diese spezifisch soziale Funktion des Rechtssystems besteht in der Siche-
rung normativer Erwartungen, die für den Fall, dass sie nicht erfüllt werden, kontrafak-
tisch – gegebenenfalls mit Hilfe sanktionierter (politischer) Gewalt – gegen Enttäu-
schungen abgesichert sind (vgl. Rn. 42ff.). Der Zeitaspekt, die Erwartungssicherheit,
bezieht sich dabei immer auf die Rechtsnorm als der besonderen Kommunikationsform
des Rechts, nicht auf die individuelle Erwartung einzelner Personen;38 das Prozessieren
normativer Erwartungen wird dementsprechend als Versuch der modernen Gesell-
schaft gewertet, „sich wenigstens auf der Ebene der Erwartungen auf eine noch unbe-
kannte, genuin unsichere Zukunft einzustellen“.39 Damit wird erneut die dynamische
Stabilität autopoietischer Systeme betont. Das Rechtssystem hat unter der Bedingung
eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels und einer prinzipiellen Zukunftsunge-
wissheit die Aufgabe, ein Netzwerk von stabilen Zeitbindungen aufzubauen und zu er-
halten, normative Erwartungen stets mit normativen Erwartungen zu verknüpfen, und
die Gesellschaft damit insgesamt dynamisch zu stabilisieren.
Im Recht der Gesellschaft wird allerdings deutlicher als noch in der frühen Rechtssoziolo- 122
gie herausgestellt, dass das Rechtssystem zu seiner autopoietischen Schließung eine ei-
gene Codierung benötigt.40 Der Begriff der „Codierung“ steht für eine nicht weiter auf-
lösbare Unterscheidung, die wiederum nur in einem (und in keinem anderen) System
der Gesellschaft benutzt wird. „Codierung“ ist für strikt binäre Strukturen im kyberne-
tischen Sinn reserviert,41 d. h. für einen zweiwertigen Schematismus, der nur einen po-
sitiven (Recht) und einen negativen Wert (Unrecht) kennt und andere „dritte“ Werte
ausschließt. Immer wenn Rechtsbehauptungen aufgestellt werden, seien es explizite
oder implizite Rechtsbehauptungen, immer wenn erkennbar Rechtsgeltung in An-
spruch genommen wird, ordnet sich die Kommunikation dem Rechtssystem zu.42 Das

36 Luhmann, ebd., 60f., vgl. auch 71f., 163f.


37 Vgl. vor allem N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, insb. 217ff.; vgl. auch N. Luhmann, Kontingenz
im Recht, 2013, 11, 218 (dort mit Bezug auf das Kontingenzproblem).
38
Luhmann (Fn. 3), 125. Dann ginge es um einen individualistischen oder utilitaristischen Begriff von
„Erwartungssicherheit“, wie man ihn etwa bei Jeremy Bentham findet.
39 Luhmann, ebd., 130; ähnlich K.-H. Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventions-
bildung in kognitivistischer Perspektive, ARSP 77 (1991), 176 („Die Funktion des Rechts besteht mit
anderen Worten in der Ermöglichung der Bildung von Erwartungen in einer sich mehr und mehr selbst
zum Problem werdenden Gesellschaft.“). Zur Zeitbindung als Funktion des Rechts vgl. auch
K. Günther, Vom Zeitkern des Rechts, RJ 14 (1995), 13ff.
40 Vgl. Luhmann (Fn. 3), 60f., siehe auch 71f., 163f., 165ff.
41
Kybernetisch im Gegensatz etwa zum linguistischen Begriff des Codes, der „Code“ synonym mit Zei-
chen oder Symbol gebraucht. Dazu näher Luhmann, ebd., 176f.
42 Vgl. z. B. Luhmann, ebd., 67 („Ins Rechtssystem selbst gehört nur ... eine Kommunikation, die eine
Zuordnung der Werte ‚Recht‘ und ‚Unrecht‘ behauptet; denn nur eine solche Kommunikation sucht
und behauptet eine rekurrente Vernetzung im Rechtssystem ...“).

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ist nicht nur vor Gericht z. B. bei einem Antrag auf Klageabweisung der Fall, sondern
kann auch außerhalb von Rechtsorganisationen, wie Gerichten, Verwaltungen oder
Parlamenten, geschehen. Am häufigsten dürften Rechtsbehauptungen im Kontext von
Verträgen auftreten. Aber auch andere Fälle sind denkbar. Wenn beispielsweise in Paris
Studierende demonstrieren, um ihre Ablehnung gegenüber einer mit parlamentarischer
Mehrheit zustande gekommenen Arbeitsgesetzgebung zum Ausdruck zu bringen und
den status quo ante einfordern, fordern sie – gegen einen parlamentarischen Mehrheits-
beschluss und damit zu Unrecht – die Wiederherstellung alten Rechts. Auch die Er-
widerung des Premierministers, an der Flexibilisierung des Kündigungsschutzes für
Berufsanfänger festhalten zu wollen, ist eine Rechtskommunikation: Das neue Kündi-
gungsrecht wird – zu Recht – als das neue, jetzt geltende Recht qualifiziert.
123 Der binäre Code des Rechtssystems ist demnach nichts anderes als die Struktur eines
Zuordnungsverfahrens, die das Oszillieren zwischen Recht als positivem Wert und
Unrecht als negativem Wert reguliert.43 Das Beispiel der demonstrierenden französi-
schen Studierenden macht allerdings deutlich, dass die Codierung des Rechtssystems
auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung mit großen Unsicherheiten behaftet
ist. Es wäre ja durchaus denkbar, vielleicht sogar naheliegend, dass die Studierenden
in ihrem eigenen Selbstverständnis politisch agieren wollten und auch Dritte, z. B.
der Auslandskorrespondent der FAZ, den Protest der Studierenden als Reaktion auf
eine verfehlte Bildungspolitik und nicht als Rechtsargument verstanden hat, zumal
wenn an der formalen Korrektheit des Zustandekommens des Gesetzes im parlamen-
tarischen Verfahren keine Zweifel aufkommen konnten. Eine stabile Handhabung des
Codes Recht/Unrecht kann daher wohl erst auf der Ebene der Beobachtung zweiter
Ordnung eingerichtet werden, auf der Ebene professioneller Expertise, auf der etwa
Anwälte, Gerichte oder Hochschullehrer den Protest der Studierenden dem Rechtssys-
tem zuordnen (oder nicht zuordnen).
124 Die formale Definition von Beobachtung zweiter Ordnung heißt, wie wir weiter oben schon gesehen
haben: Beobachtung von Beobachtern (vgl. Rn. 11ff.). Inhaltlich gesehen ist Beobachtung zweiter Ord-
nung mit einem reflexiven Umgang von Unterscheidungen verbunden, im Rechtssystem damit, die
Recht/Unrecht-Unterscheidung professionell-juristisch zu handhaben, nicht aber religiös, ethisch oder po-
litisch. Erst wenn Rechtsnormen an bereits vorliegende Rechtsnormen anschließen und der binäre Schema-
tismus von Recht/Unrecht auf der Ebene zweiter Ordnung kontinuierlich gehandhabt wird, wird das
Rechtssystem nach Luhmann operativ geschlossen.44 Die französischen Studierenden appellieren an die
„Gerechtigkeit“, aber der Premierminister weist auf die Einhaltung aller Rechtsvorschriften im Gesetzge-
bungsverfahren hin. Für den reflektierenden Beobachter ist der Fall damit klar: Soweit es sich bei dem Pro-
test der Studierenden um Rechtskommunikation handelt, nimmt sie zu Unrecht für sich in Anspruch,
Recht zu haben.

125 Zur Ausdifferenzierung des Rechtssystems tragen über den binären Code hinaus be-
sondere Programme, d. h. in unserer Terminologie Rechtsnormen oder Rechtsregeln
bei. Erst die Programme, erst Rechtsnormen, steuern die Zuordnung zur einen oder

43 Luhmann, ebd., 70 („Das Recht der Gesellschaft realisiert sich über die Codereferenz – und nicht über
eine (wie immer hypothetische oder kategorische, vernünftige oder faktische) Erzeugungsregel.“), vgl.
auch 178 („Dank des binären Codes gibt es einen positiven Wert, wir nennen ihn Recht, und einen
negativen Wert, wir nennen ihn Unrecht.“).
44 Luhmann, ebd., 70 (für den Code), vgl. auch 61 („Die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen
Rechtssystems setzt voraus, daß das System auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung operieren
kann, und zwar nicht nur gelegentlich, sondern kontinuierlich.“).

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II. Operative Geschlossenheit

anderen Seite des Codes. Diese Zuordnung erfolgt im Rechtssystem ausschließlich


durch die Wenn/Dann-Form des Konditionalprogramms, nicht durch Zweckpro-
gramme oder neuartige Formen der Prozeduralisierung des Rechts (vgl. Rn. 34ff.). In-
dem das Rechtssystem Konditionalprogramme für eigene Zwecke spezifiziert (etwa in
Form von Schadensersatzansprüchen bei unerlaubten Handlungen), treibt es zugleich
die operative Schließung des Rechtssystems durch die Disziplinierung und Verfeine-
rung der rechtsinternen Argumentation voran. Mit Hilfe der Schrift bildet das Recht
außerdem ein vom individuellen Bewusstsein unabhängiges Systemgedächtnis ein-
schließlich eines Kanons juristischer Argumente aus. Das System kann nun stets auf
die Resultate der eigenen Operationen und auf Konsequenzen solcher Operationen
für künftige Operationen Bezug nehmen, sich also beständig mit Hilfe von Texten er-
innern und das wieder und wieder angeeignete Wissen immer wieder an neue Situatio-
nen anpassen. Die Rezeption der Vergangenheit, der stets gegenwärtige Rückgriff auf
eigene Archive, gedruckte Gerichtsentscheidungen, Statute, Gesetze, Verträge oder
wissenschaftliche Publikationen, wird so für das Rechtssystem zur Stütze, um vor
dem Horizont einer genuin ungewissen Zukunft Orientierung zu finden.

4. Selbstreferenz und Fremdreferenz (re-entry)


Im Unterschied zur älteren Theorie umweltoffener Systeme ist das System der System- 126
theorie ein operativ geschlossenes System, in dem Offenheit „nur auf Grund von Ge-
schlossenheit möglich“ ist.45 Die Umwelt kann in autopoietischen Systemen nur auf
Grund von Eigenleistungen des Systems, d. h. ausschließlich nach Maßgabe der eige-
nen systeminternen Informationsmöglichkeiten für beachtlich gehalten werden. Um
derartige Prozesse theoriekonsistent erfassen zu können, benutzt Luhmann erneut eine
von Spencer Brown entwickelte Denkfigur: das re-entry. Danach verfügt das autopoieti-
sche System über die Möglichkeit, die Umwelt nach Maßgabe seiner eigenen Kommu-
nikationsmöglichkeiten in sich hineinspiegeln oder hineinkopieren zu können, die Fä-
higkeit, die Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene wieder eintreten zu
lassen.46 Das Recht unterscheidet sich von technischen Normen, aber es kann techni-
sche Normen zum Inhalt des Rechts machen und damit die Unterscheidung von tech-
nischen Normen und Recht wieder in sich hineintreten lassen, weil es sich zuvor von
technischen Normen unterschieden hat. Diese systeminterne Fähigkeit zum re-entry
wird auch durch das Begriffspaar von Selbstreferenz und Fremdreferenz bezeichnet.
Damit ist die Eignung des Systems gemeint, die Differenz von System (Selbstreferenz)
und Umwelt (Fremdreferenz) in sich selbst aufzunehmen und sich mit Hilfe dieser Un-
terscheidung auf der Ebene zweiter Ordnung beobachten zu können.47
Im Rechtssystem wird diese Unterscheidung in doppelter Weise wirksam. Einmal, in- 127
dem die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz mit Bezug auf den
normativen Erwartungsstil durch die weitere Unterscheidung von normativer Ge-
schlossenheit und kognitiver Offenheit auseinander gezogen wird.48 Das meint haupt-
sächlich, dass das Rechtssystem wie kein anderes System lernt, Normen (Selbstrefe-

45
Luhmann, ebd., 76. Bei Edgar Morin lautet die Formel: „L’ouvert s’appuye sur le fermé.“
46
Luhmann (Fn. 3), 76; Spencer Brown (Fn. 8), 56f., 69ff.; G. Teubner, Coincidentia oppositorum, 2004,
187; kritisch Clam (Fn. 2), 107.
47 Vgl. nur Luhmann (Fn. 3), 52f.
48
Luhmann, ebd., 77.

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§ 4. System II

renz) und Fakten (Fremdreferenz) auseinander zu halten und dabei jeden Ansatz zur
Verwischung dieser Unterscheidung zu vermeiden sucht, einschließlich aller Versuche,
von Fakten auf Normen zu schließen.49 Mit Bezug auf die binäre Codierung folgt aus
der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz außerdem, dass der Ver-
weis auf externes Wissen nur über die Ebene der Programmierung des Codes, nur
über Gesetze, Rechtsnormen oder Präjudizien, wirken kann.50 Nur weil im Zivilrecht
ausdrücklich nach der Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gefragt wird
(z. B. § 276 BGB), kann das Haftungsrecht sich wandelnde gesellschaftliche Konven-
tionen rezipieren. Nur weil das öffentliche Recht vielfach Generalklauseln in seine
Normstrukturen integriert, kann etwa das Polizeirecht auf gesellschaftliche Konventio-
nen zurückgreifen, um in der Gefahrenabwehr an Wahrscheinlichkeiten und Erfah-
rungen des täglichen Lebens anzuknüpfen. Ähnlich ist es im Technikrecht: Weil die
aus technischer Expertise hervorgehenden Grenzwerte zu einer rechtlich relevanten
Information erklärt werden, kann das Immissionsschutzrecht die Beeinträchtigung
der Lebensqualität durch Lärmeinwirkungen im Inneren eines Wohnraums anhand
der Richtlinie 2058 des Vereins Deutscher Ingenieure über die Beurteilung von Ar-
beitslärm in der Nachbarschaft regulieren. Gerade in solchen Fällen verfügen Normen
über eine sehr weitreichende Aufgeschlossenheit gegenüber vorweg nicht festlegbaren
Umweltbedingungen. Damit wird die normative (operative) Geschlossenheit des
Rechtssystems nach Luhmanns Ansicht aber so lange nicht tangiert, wie sich aus-
schließlich das Recht am Schematismus von Recht oder Unrecht orientiert.51
128 Ladeur hat die Operationsweise operativ geschlossener (autopoietischer) Systeme mit der Situation eines
Blinden verglichen.52 Der Blinde benutzt einen Stock, um die Stabilität der ihn umgebenden Umwelt da-
raufhin zu überprüfen, ob sie hinreichende Festigkeit für die eigene Fortbewegung bietet. Mit Hilfe der
binären Codierung stabil/instabil konstruiert der Blinde ein operativ geschlossenes Orientierungssystem,
indem er einzelne Wahrnehmungen, die er über das Abtasten seiner Umwelt macht, miteinander verkettet.
Dies erlaubt ihm – bei entsprechender Übung – sich relativ sicher fortzubewegen, obwohl ihm der Stock
keineswegs eine auch nur annähernd vollständige Umweltbeschreibung liefert. Der Blinde kann sich nur
Vorstellungen über das machen, was der von ihm benutzte stabil/instabil-Code an Informationen liefert.
Gerade deshalb hat der differenztheoretische Ausgangspunkt der Systemtheorie weitreichende erkenntnis-
theoretische Implikationen: Das, was das System als Realität beobachtet, ist nicht die Realität als solche,
sondern immer nur das, was sich nach Maßgabe der systemeigenen Codierung als Realität darstellt. Damit
ist vor allem die Vorstellung unvereinbar, dass ein soziales System die „gesamte“ Wirklichkeit erkennen
könnte. Alles, was etwa das Rechtssystem über seine Umwelt lernt, ist kein Einblick in die Fülle des Seins,
49 Luhmann, ebd., 86f.
50 Luhmann, ebd., 93.
51 Luhmanns Argumentation in diesem Zusammenhang ist nicht immer unproblematisch. Sie tendiert
dazu, die komplexen Voraussetzungen des impliziten (praktischen) Wissens gegenüber der expliziten (öf-
fentlichen) Regelbildung zu vernachlässigen und die demokratische und verfassungsrechtlich gehegte
politische Regelbildung – zumindest gelegentlich – zum „vorherrschenden Variationsanlaß“ (ebd.,
278f.) der Rechtsevolution zu stilisieren. An diesem Punkt wäre mit K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die
Gesellschaft, 2006, 86, darauf hinzuweisen, „dass das Recht nicht ohne einen Bestand an in der Gesell-
schaft selbsterzeugtem Wissen operieren könnte, der nicht durch die öffentliche Vernunft der Regeln ge-
filtert werden kann. Es gibt keine Rechtsregel ohne gesellschaftliche Konventionen!“. Vgl. dazu auch
T. Vesting, Das moderne Recht und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015i. E.; zur Problematik der
rigiden Grenzziehung in Luhmanns Systemtheorie vgl. auch A. Koschorke, Die Grenzen des Systems und
die Rhetorik der Systemtheorie, 1999, 49ff.; und U. Stäheli, Sinnzusammenbrüche, 2000.
52
K.-H. Ladeur, The Theory of Autopoiesis as an Approach to a Better Understanding of Postmodern
Law, 1999 12; vgl. auch Baecker (Fn. 2), 154ff., der das Beispiel von Touristen wählt, die sich in einer
fremden Umgebung anhand von Merkmalen wie schlechten Betten, ungenießbarem Essen, ver-
schmutzten Stränden, schlechtem Personal usw. orientieren.

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III. Dynamische, rekursive Vernetzung

sondern eben in seine Umwelt. Anders gesagt: Der „Blick auf das Ganze“ wird durch einen höchst selekti-
ven und von vornherein beschränkten Blick auf die Welt ersetzt.
Die beschränkte Sicht auf die Welt hat freilich erhebliche Vorteile. Der Blinde realisiert, dass der Stock bei
geschickter Handhabung eine gute Orientierung ermöglicht, also hohe Umweltsensibilität garantiert. Der
Blinde kann gerade auf Grund der Geschlossenheit des Systems und der Benutzung nur einer Differenz
(stabil/instabil) wiederkehrende Muster schnell erkennen und dadurch eine relativ komplexe „Landkarte“
seiner Umgebung entwerfen. Darin liegt der Vorteil des binären Codes: Nur weil soziale Systeme irgend-
wann in ihrer Geschichte beginnen, die eigenen Operationen zu spezifizieren und nur noch nach Maßgabe
des eigenen binären Codes (und der dazu gehörigen Programme) zu prozessieren, finden sie einen eigenen
Zugang zur Umwelt, eine eigene Form der Verarbeitung unstrukturierter Komplexität.
Dieses Beispiel zeigt zugleich, dass autopoietische Systeme nur im Plural existieren können. Das Rechts-
system grenzt sich nicht nur von seiner natürlichen, sondern auch von seiner sozialen Umwelt ab, heute
insbesondere von anderen Funktionssystemen. Wirtschaft, Politik, Wissenschaft oder Massenmedien ar-
beiten ebenfalls nach eigenen Codierungen (und Funktionen), aber die Vielzahl autonomer (Funktions-)
Systeme erlaubt dem Rechtssystem, die durch andere Systeme strukturierte Komplexität für sich als Um-
welt zu benutzen. So ist es gerade für das Rechtssystem unerlässlich, dass andere Funktionssysteme wie
etwa das Wirtschaftssystem eine eigene Autonomie entwickeln und entsprechend strukturierte Komplexi-
tät bereitstellen. Es ist z. B. nicht vorstellbar, dass ein autonomes Rechtssystem ohne professionelle Juristen
existieren könnte. Rechtsprofessionalismus setzt jedoch spezialisierte Organisationen wie z. B. Anwalts-
kanzleien, Gerichte, Unternehmen, staatliche Verwaltung, Hochschulen oder Kirchenämter voraus. An-
wälte, Richter und Justitiare müssen wiederum Geld verdienen (können). Das geht freilich nur in einer
geldbasierten Wirtschaft, die global konkurrenzfähig ist, usw.
Ladeurs Beispiel des blinden Mannes ist auch im Hinblick auf die funktionale Differenzierung der moder-
nen Gesellschaft lehrreich. Auch der blinde Mann muss unterstellen, dass es eine vorstrukturierte Ord-
nung in seiner Umwelt gibt. Er muss etwa davon ausgehen können, dass Gehwege und Straßen nicht das-
selbe sind, dass Leute freundlich zu anderen Menschen sind (und nicht rüpelhaft) und dass die Wege, die
er beschreitet, ihn an Orte bringen, an denen er die Bedürfnisse des täglichen Lebens, wie etwa die Be-
schaffung von Nahrungsmitteln, befriedigen kann. Wäre all das nicht gegeben, wäre die binäre Codierung
weitgehend nutzlos. Der Blindenstock funktioniert also nur und nur so lange, wie die Umwelt eine für sei-
nen Code zugängliche Komplexität bereitstellt.

III. Dynamische, rekursive Vernetzung

1. Netzwerk statt Hierarchie


Das autopoietische Rechtssystem ist nicht pyramiden- oder stufenförmig aufgebaut, es 129
wird nicht hierarchisch von oben nach unten determiniert, „sondern jeweils heterar-
chisch, also kollateral, also in nachbarschaftlichen Vernetzungen“.53 Es schwingt sich
von Ereignis zu Ereignis und wird ausschließlich durch seine eigene rekursive Opera-
tionsweise gehalten. Es wendet Operationen auf Resultate von Operationen an und
filtert durch hinreichend lange Wiederholung solche Formen heraus, die unter dyna-
mischen Bedingungen stabil sein können, z. B. durch wiederholten Rückgriff auf be-
reits bewährte Vertragsformulare, um damit auch bislang unbekannte Fallkonstellatio-
nen bewältigen zu können. Damit vollzieht die Systemtheorie den Übergang „von
einem hierarchisch-deduktiven Problemhorizont zu einem heterarchischen Prozeß
(‚von Fall zu Fall‘) der Rechtsbildung“.54 An die Stelle der vertikalen Induktions- und

53 Luhmann (Fn. 3), 144 (hier in Zusammenhang mit der Funktion des Rechts).
54 K.-H. Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft,
ARSP 74 (1988), 218ff., 222.

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§ 4. System II

Deduktionsschritte des rechtspositivistischen Systems, in dem Entscheidungen aus


dem System deduziert werden, tritt eine dynamische, rekursive, horizontale Vernet-
zung von Operationen, eine laufende „Recht-Fertigung“ des Rechts.55
130 Die dynamische Vernetzung des autopoietischen Systems verändert vor allem die Be-
ziehung von System und Operation, Regel und Entscheidung, Rechtsnorm und Ur-
teilsfindung. Rechtsgebrauch ist für die Systemtheorie keine logisch mehr oder weni-
ger zwingende „Anwendung“ eines lückenlos vorauszusetzenden Regelbestands, der
durch die Einheit des Rechtssystems vorab gewährleistet wird; Rechtsnormen sind
nicht länger auf einer kategorial anderen, ihrem Gebrauch gegenüber höheren Ebene
angesiedelt wie noch im Rechtspositivismus und seinen Systemen. Vielmehr benutzen
Rechtskommunikationen Systemstrukturen und transformieren dabei ihren Sinn, um
bei der nächsten Operation die zuvor transformierte Struktur erneut zu benutzen und
erneut zu transformieren. Das System ist ständig in Bewegung, und wenn es arbeitet,
dann immer auf der Grundlage einer Doppelbewegung: Es blendet nicht wiederhol-
bare Momente vergangener Situationen aus („condensation“) und behält Strukturen
(Codes, Programme, Rechtsnormen) soweit bei, wie sie im Augenblick der Operation
bewahrenswert erscheinen („confirmation“).56 Die Aufmerksamkeit der Theorie der
Autopoiesis liegt deshalb ganz auf der Frage, wie im laufenden Betrieb des Rechtssys-
tems erkennbare Wiederholung eingerichtet werden kann.57
131 Das netzwerkförmige Rechtssystem Luhmanns wird hier so ausführlich vorgestellt, weil es uns dazu dienen
soll, den hierarchisch angelegten Systemkonstruktivismus des 19. Jahrhunderts abzulösen und zu ersetzen.
Dieser Schritt liegt aus mindestens zwei Gründen nahe: Zum einen kann der Rechtspositivismus nicht ein-
fach durch methodische Beliebigkeit ersetzt werden, von der etwa das heute weit verbreitete „Abwägungs-
denken“ beherrscht wird;58 und zum anderen hat nicht nur die Systemtheorie einen Wechsel zu heter-
archischen Ordnungsmodellen vollzogen. Auch andere avancierte Theorien, etwa Eric A. Havelocks
Untersuchungen zur Genese der griechischen (Schrift-)Kultur, die Phänomenologie von Bernhard Wal-
denfels oder Jacques Derridas postmoderne Philosophie (der Schrift), laufen auf eine mit der Systemtheo-
rie vergleichbare dynamische und horizontale Reformulierung von Ordnungsbildung hinaus;59 bei Derrida
vor allem unter den Stichworten „différance“ und „itérabilité“.60 So wie das System der Systemtheorie eine
beständige Doppelbewegung von Kondensierung und Konfirmierung vollzieht, verbindet auch Derridas

55 So die Formel von R. Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschaftsrechts, 2003, 13ff.


56
Zu der von G. Spencer Brown übernommenen Doppelbegrifflichkeit von „condensation“ und „confir-
mation“ vgl. Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 75.
57 Wichtig ist festzuhalten, dass es sich trotz Sinnverschiebung um Wiederholung handelt. Nur wenn
Sinn hinreichend generalisiert ist, können in neuen Situationen Verwendungserfahrungen greifen und
die Wiederholung als Wiederholung erkannt und beobachtet werden.
58
Luhmann (Fn. 3), 268 (spricht im Hinblick auf die Interessenabwägung von dem trojanischen Pferd
jeder juristischen Dogmatik); kritisch zur (Werte-)Abwägung der Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts J. Rückert, Abwägung – die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs oder:
Normstrenge und Abwägung im Funktionswandel, 2011, 913ff.; K.-H. Ladeur, Kritik der Abwägung
in der Grundrechtsdogmatik, 2004; M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, insb. 42ff.
59
Vgl. nur E. A. Havelock, Preface to Plato, 1963, insb. 215ff., 224 (dort wird insbesondere die Verände-
rung der Wissensformen durch Schriftgebrauch analysiert); ders., The Muse Learns to Write, 1984, 55,
bestimmt die Grundfunktion der Schrift – im Rückblick – als „accumulation of information and its
storage for re-use in human language“; und B. Waldenfels, Sozialität und Alterität, 2015.
60
J. Derrida, Grammatologie, 1974, 113f.; vgl. auch ders., Randgänge der Philosophie, 1988, 333.
(„Diese Iterierbarkeit – iter, ‚von neuem‘, kommt von itara, anders im Sanskrit, und alles folgende
kann hier als die Ausbeutung jener Logik gelesen werden, welche die Wiederholung mit der Andersheit
verbindet, strukturiert das Zeichen der Schrift selbst, welcher Typ von Schrift es im übrigen auch im-
mer sein mag ...“).

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III. Dynamische, rekursive Vernetzung

Schrift jede Wiederholung mit Andersheit (Iterabilität, Iterierbarkeit), mit einer dauernden Sinnverschie-
bung und Sinnaufschiebung, den jeder Akt der Wiederaneignung eines Textes unweigerlich produziert.
Diese Vorstellung dynamischer, rekursiver Systembildung wäre in einer rechtswissenschaftlichen Rechts-
theorie zu adaptieren und – anknüpfend etwa an die (hier vielfach zitierten) Arbeiten von Gunther Teub-
ner und Karl-Heinz Ladeur – in ihren Konsequenzen weiter auszuarbeiten.

2. Paradoxie des Anfangs


Mit dem Verzicht auf das Hierarchieprinzip wird in der Systemtheorie auch die im 132
Rechtspositivismus noch übliche Vorstellung einer das System tragenden Spitze aufge-
geben. Das Rechtssystem ist bei Luhmann nicht länger „durch eine referenzfähige
oberste Norm (Grundnorm), ein oberstes Gesetz (Verfassung) oder eine oberste In-
stanz“ garantiert.61 Das dynamische, sich rekursiv vernetzende Rechtssystem gründet
vielmehr in einer Paradoxie, nämlich in der Unmöglichkeit der Anwendung des
Rechtscodes auf sich selbst. Die Frage, ob die Unterscheidung von Recht und Unrecht
zu Recht oder zu Unrecht als letzte, nicht weiter auflösbare Unterscheidung im
Rechtssystem benutzt wird, ist eine im Rechtssystem unentscheidbare Frage, ganz un-
abhängig davon, über welche Rechtsnormen der binäre Code seinerseits reguliert wird:
Erst die Unterscheidung von Recht und Unrecht – der „blinde Fleck“, der unsichtbar
bleiben muss – ermöglicht überhaupt rechtsspezifische Beobachtungen.62 Hier treffen
wir erneut auf das im Kontext von Kelsens reiner Rechtslehre bereits angesprochene
Problem, dass sich autonome Systeme offensichtlich nicht selbst (widerspruchsfrei)
begründen können, eine Einsicht, die im 20. Jahrhundert insbesondere mit den Na-
men Kurt Gödel und Alan Turing verbunden worden ist.
Luhmann transformiert das aus sich selbst heraus einsichtige und sichere Wissen der 133
Naturphilosophie, den „ersten“ Satz, in die Form der Paradoxie, die als einzige noch
mögliche Form unbedingten Wissens übrig bleibt.63 Damit wird die Frage nach dem
Anfang des Systems, auch die Frage nach der „Gewalt der ersten Unterscheidung von
Recht und Unrecht“,64 mehr oder weniger abgeschnitten und in das Postulat einer
„Pflege der Rechtsparadoxie“ umgeleitet.65 Die Systemtheorie sieht nur solche Kom-
munikation als zum Rechtssystem zugehörig an, die jeweils eine Zuordnung zu den
Werten „Recht“ und „Unrecht“ behaupten und verstrickt sich nicht weiter in die
Frage, ob es gerecht ist, wenn das Recht nach dem Recht/Unrecht-Code prozessiert.

61 Luhmann (Fn. 3), 73.


62 Luhmann, ebd., 176 („Die Paradoxie des Systems ist ... der blinde Fleck des Systems, der die Operation
des Beobachtens überhaupt erst ermöglicht ... Sie ist der Grund, der invisibilisiert bleiben muß mit der
Folge, daß alles Begründen dogmatischen Charakter hat – einschließlich der These, daß die Unterschei-
dung von Recht und Unrecht selbstverständlich zu Recht eingeführt wird, weil es anders gar keine ge-
ordnete Rechtspflege geben könnte.“).
63
So etwa im Kontext von Religion N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2000, 132 („Paradoxien
sind ... die einzige Form, in der Wissen unbedingt gegeben ist. Sie treten an die Stelle des transzenden-
talen Subjekts, dem Kant und seine Nachfolger einen Direktzugang zu unkonditioniertem, a priori gül-
tigem, aus sich selbst heraus einsichtigem Wissen zugemutet hatten.“); vgl. auch N. Luhmann, Die
Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, 174 (wo betont wird, dass es darauf ankomme, „die Invisibilisie-
rung der Paradoxie so durchsichtig wie möglich zu vollziehen und wenigstens deutlich zu machen, wel-
chen blinden Fleck man benutzt“).
64 G. Teubner, Ökonomie der Gabe – Positivität der Gerechtigkeit, 1999, 199ff., 201.
65 Das volle Zitat von Wiethölter (Fn. 55), 13ff., 19, lautet: „‚Rechtspflege‘ als Pflege der Rechtsparadoxie
selbst, ihrer Erhaltung und Behandlung zugleich“.

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§ 4. System II

Vielmehr dreht Luhmann den Spieß um: Rechtsbildung ist gerade deshalb erforder-
lich, weil es bei der Paradoxie nicht bleiben kann. Recht und eine geordnete Rechts-
pflege kann es nur dann geben, wenn das Rechtssystem Mechanismen der laufenden
Entparadoxierung oder „Entfaltung“ der Gründungsparadoxie institutionalisiert.
Dazu wird die Gründungsparadoxie des Systems im laufenden Betrieb in eine Ent-
scheidungsparadoxie transformiert,66 derzufolge Rechtsfragen gerade deshalb entschie-
den werden müssen, weil sie unentscheidbar sind.67 Die laufende Entfaltung der Ent-
scheidungsparadoxie wird wiederum durch die Institution des Entscheidungszwangs
innerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit gesichert, dem Rechtsverweigerungsverbot
(vgl. z. B. § 300 ZPO), das seinerseits durch eine Form der juristischen Interpretation
(Argumentation) abgestützt wird, die ganz auf die Belange der gerichtlichen Entschei-
dung zugeschnitten ist.68
134 In diesem Kontext erweist sich die Theorie der Autopoiesis als Angebot, sich erst gar
nicht in (Be-)Gründungsfragen zu verstricken. Da autopoietische Systeme die Struk-
turen und Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst
erzeugen, läuft die Paradoxieentfaltung des autopoietischen Systems bereits in dem
Moment an, in dem das System – mit der „ersten“ Kommunikation – in den „Fluss
der Zeit“ eintritt und all seine „Unschuld“ für immer verliert. In dem Augenblick, in
dem die zeitpunktbezogenen Operationen des Systems beobachtet werden können,
hat das System schon angefangen zu prozessieren; und nur unter dieser Voraussetzung
kann die Frage nach dem Anfang des Systems gestellt und die Entdeckung gemacht
werden, dass der Anfang stets ein im System gefertigter Mythos ist.69 Auch das Rechts-
system hat immer schon angefangen zu prozessieren, denn nur wenn es praktisch ar-
beitet, kann es sinnvoll zum Gegenstand systembezogener Reflexion werden. „Die
Rechtspraxis operiert stets in einer Situation mit historisch gegebenem Recht, denn
anders könnte sie gar nicht auf die Idee kommen, sich selbst als Rechtspraxis zu unter-
scheiden. Entsprechend gibt es, historisch gesehen, keinen Anfang des Rechts, son-
dern nur Situationen, in denen es hinreichend plausibel war, davon auszugehen, daß
auch schon früher nach Rechtsnormen verfahren worden ist.“70

66
Vgl. G. Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien, 2003, 33 („Nach Luhmann kommt das Recht
dadurch überhaupt erst zur autopoietischen Systembildung, dass es das Paradox in eine Differenz ver-
wandelt, indem es das unendliche Oszillieren zwischen Recht und Unrecht als einen konditionierbaren
Widerspruch missversteht, ja in einen programmierbaren binären Code technisiert.“); vgl. auch
R. Christensen/A. Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts, 2007, 224ff.
67
Im Anschluss an H. v. Foerster, Ethics and Second-Order Cybernetics, 1992, 1ff., 6 („Only those ques-
tions that are in principle undecidable, we can decide.“). Vgl. Luhmann (Fn. 3), 307ff.; ders., Die Para-
doxie des Entscheidens, Verwaltungsarchiv 84 (1993), 287ff. Dazu näher Rn. 224ff.
68 Vgl. nur Luhmann (Fn. 3), 297ff., 338ff., vgl. auch 520f. (für den Fall des Common law), und 527 (für
den Fall des kontinentaleuropäischen Rechtspositivismus); zum Rechtsverweigerungsverbot
M. T. Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, 2006, 37ff.; und kritisch K.-H. Ladeur, Das subjektive Recht
als Medium der Selbsttransformation der Gesellschaft und Gerechtigkeit als deren Parasit, ZfR 29
(2008), 109ff., 111ff. (spricht vom Mythos des „Justizverweigerungsverbots“).
69 Dazu allg. Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 441 („Nur wenn das System operiert und wenn es hinrei-
chende Komplexität aufgebaut hat, um sich selbst in der Zeitdimension beschreiben zu können, kann
es einen Anfang ‚postizipieren‘. Die Bestimmung eines Anfangs, eines Ursprungs, einer ‚Quelle‘ und
eines (oder keines) ‚Davor‘ ist ein im System selbst gefertigter Mythos – oder die Erzählung eines ande-
ren Beobachters.“).
70
Luhmann (Fn. 3), 57.

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IV. Systemtheorie und Computerkultur

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Suche nach Letztbegründungen im frühen 135
20. Jahrhundert auch die Geisteswissenschaften (und nicht nur die mathematische Grundlagenforschung)
erfasste. Sie stand hier allerdings vielfach unter dem zweifelhaften Vorzeichen einer geradezu fieberhaften
Suche nach Bruchstellen und Rissen in den Institutionen der liberalen Gesellschaft; Apokalypse, Mensch-
heitsdämmerung oder Untergang des Abendlands lauten die hierfür einschlägigen Stichworte.71 Im Kon-
text einer philosophischen Kritik der Gewalt sprach etwa Walter Benjamin schon 1921 von der „entmuti-
gende(n) Erfahrung der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme“.72 Benjamin entwickelte
daraus eine scharfe Kritik am angeblich gewaltfundierten und gewaltförmigen modernen Recht – und legte
die Sorge um Recht und Gerechtigkeit ganz in die Hand eines kommenden Gottes.73 Andere, wie etwa
Carl Schmitt, interessierten sich weniger für Geschichtsphilosophie und Theologie als für die konkreten
politischen Kräfte, die in einer von anonymen Instanzen beherrschten Welt noch in der Lage waren, den
Direktkontakt mit einer echten Form „seinsmäßiger Ursprünglichkeit“ qua Dezision herzustellen.74 Noch
Derridas frühe Arbeiten weisen Berührungspunkte mit dieser Tradition des Ursprungsdenkens auf. Insbe-
sondere die Grammatologie setzt die différance gerade auf jenen elementaren Vorgang an, „mit dem die
erste Spur gesetzt wird, auf dem jedes Unterscheiden und Identifizieren aufruht“,75 um dieses Unterschei-
den und Identifizieren dann seinerseits „dekonstruieren“ zu können. In späteren Publikationen, insbeson-
dere nach der Paul-de-Man-Affäre von 1987, tritt Derridas Interesse an der Dekonstruktion von Letztbe-
gründungen jedoch gegenüber dem Anliegen zurück, eine eo ipso vorhandene Verknüpfung des Rechts
mit einer „kommenden“ Gerechtigkeit („justice à venir“) nachzuweisen. Diese „Wende zur praktischen
Philosophie“ mündet schließlich in einer Konzeption der Gerechtigkeit als Erfahrung des Unmöglichen
im Recht bzw. als Möglichkeit der Dekonstruktion des Rechts.76

IV. Systemtheorie und Computerkultur

Karl-Heinz Ladeur hat bereits 1988 in einem Beitrag zur Methodendiskussion in der 136
Rechtswissenschaft die Frage aufgeworfen, ob der sich in nahezu alle Lebensbereiche
ausdehnende Einsatz des Computers dem herkömmlichen (rechtspositivistischen)
System nicht die Grundlagen entzogen hat und deshalb die Suche nach einer begriff-
lich angemessenen Alternative zu dieser „Rahmenerzählung“ (méta récit) der Moderne
und des modernen Rechts nahelegt.77 Diese Frage ist – mit Ladeur – unbedingt zu be-
jahen. Die Einheitsform des systematischen Buchwissens, auf der sowohl die norma-
tive „Rahmenerzählung“ der Moderne, die Natur- und Sozialphilosophie, als auch das
rechtspositivistische System beruhten, wird in einer vom Computer dominierten Kul-
tur – insbesondere durch die neuartige Hypertextstruktur des Internets78 – zuneh-

71 Zum Kontext und zum Hintergrund vgl. nur H. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, 1994; K. Vondung,
Die Apokalypse in Deutschland, 1988; N. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, 1991; S. Breuer,
Ästhetischer Fundamentalismus, 1995.
72
W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1921), 1965, 54.
73
Benjamin, ebd., vgl. auch 63f.; T. Hitz, Jacques Derridas praktische Philosophie, 2005, 71 (mit der tref-
fenden Bemerkung, Benjamin verlege die Gerechtigkeit in die Fernflucht der Göttlichkeit); dazu
Ch. Menke, Recht und Gewalt, 2011, insb. 49ff., 59ff.
74
C. Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), 1963, 33; vgl. dazu Hitz (Fn. 73), 63; zur Beziehung
Schmitt/Benjamin vgl. nur Menke (Fn. 73), 59ff.; Hitz (Fn. 73), 63ff.; Bolz (Fn. 71), 85ff.
75
Die Formulierung stammt von Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 91, vgl. auch 98f. (mit Be-
zug auf Derrida (Fn. 60), 113f.), beides in einem medientheoretischen Zusammenhang.
76 J. Derrida, Gesetzeskraft, 1991, 30, 45f.; vgl. auch Teubner (Fn. 66), 25ff., 37ff., der die theologischen
Bezüge akzentuiert, und – aus philosophischer Sicht – Hitz (Fn. 73), 73ff.
77
Ladeur (Fn. 54), 218ff.
78 Vgl. dazu nur I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, 131ff.; R. Christensen/K. D. Lerch, Perfor-
manz, 2005, 55ff.; und die Analyse der Rechtsprechung des EuGH bei F. Müller/R. Christensen, Juris-
tische Methodik Bd. 2, 2012, 235ff., 245ff.

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§ 4. System II

mend anachronistisch. Die Rechtstheorie muss daher auf die sich etablierende Com-
puterkultur reagieren und, soweit sie am System als „Ordnungsidee“ festhalten will,79
ihre Modellbildung den neuen kognitiven Verhältnissen, d. h. der Computerkultur
und ihrer Epistemologie anpassen. Diese Kultur und Epistemologie dürften vor allem
dadurch bestimmt sein, dass das Internet – das mit Hilfe eigener plattformunabhängi-
ger Sprachen selbst wie ein „gigantischer Computer“ operiert – ein „komplexes sich
selbst organisierendes Informationssystem“ ist, in dem „keine zentrale Leistungsver-
mittlung“ mehr stattfindet.80
136a Die neue Computerkultur leitet den Übergang in eine neuartige postontologische,
post-metaphysische und postmoderne epistemologische Situation ein, „in der man
sich die Wirklichkeit nicht mehr als eine fest in einem einzigen Fundament verankerte
Struktur denken kann“.81 In der Computerkultur tritt eine „Konnektivität von Wis-
sensfragmenten“ an die Stelle der alten, mit der Buchdruckkultur zusammenhängen-
den Vorstellung der Einheit des Wissens. Damit zerfällt auch die Illusion eines unmit-
telbaren Zugriffs „auf die eine Realität aus einer Zentralperspektive“.82 Auch unter den
neuen epistemologischen Bedingungen zerfällt das Wissen über die Welt nicht einfach
in Stücke, die völlig unabhängig voneinander existieren und keinerlei Berührungs-
punkte untereinander aufweisen würden. Die alte Einheit des Wissens ist aber inso-
fern verloren gegangen, als das Wissen heute flüssiger und polykontexturaler geworden
ist und nur noch in Form vorübergehender Verknüpfungen von Wissenssegmenten zu
Geweben, Geflechten und ähnlichen Konfigurationen als „Einheit“ in Erscheinung
tritt. Etwas anders formuliert: An die Stelle einer relativ zeitstabilen vertikalen (baum-
förmigen) Organisation des Wissens mit Vollständigkeitsanspruch und Abschlussfor-
mel ist eine Dynamik der netzwerkartigen Wissensgenerierung getreten, eine fließ-
ende Kombinatorik der Erzeugung von Wissen aus schon vorhandenem Wissen. Der
„stabile Datenspeicher“ aus gedruckten Büchern und Bibliotheken wird durch eine
„Schrift elektronischer Impulse“ abgelöst, „einem flüssigen System der Selbstorganisa-
tion von Daten“.83
137 Zweifellos antwortet Luhmanns autopoietisches System durchaus auf die Emergenz
der Computerkultur und die mit ihr einhergehenden neuen epistemologischen Bedin-
gungen.84 Luhmann entwirft ein Rechtssystem, das wie der Computer mit Differen-
zen und einem binären Code operiert, statt mit irgendeiner vorauszusetzenden Ein-
heit.85 Es arbeitet zudem ohne zentrale Leistungsvermittlung oder „Gesamtidee“
(Gerber). Es ist netzwerkartig angelegt (wie das Internet), statt hierarchisch und pyra-
midenförmig. Es reflektiert Phänomene wie Unbeobachtbarkeit („blinde Flecken“)
und weist dem Nicht-Wissen eine konstitutive Funktion zu, statt das Operieren des

79 E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee und System, 1982, 7.


80
K. Mainzer, Computerphilosophie zur Einführung, 2003, 161.
81
G. Vattimo, Jenseits des Christentums, 2004, 11; ders., Weltverstehen – Weltverändern, 2001, 50ff., 60
(„die Welt tatsächlich und immer umfassender in ein Spiel von Interpretationen auflöst“).
82 K.-H. Ladeur, Soziale Epistemologie der Demokratie, 2009, 143.
83 A. Assmann, Erinnerungsräume, 1999, 358; Ladeur (Fn. 82), 135ff., 149 („Logik des Flusses“); Augs-
berg (Fn. 78), 132f.
84
Dazu auch D. Baecker, Wozu Soziologie?, 2004, 125ff.
85 N. Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 17 (1986), 171ff., 176; vgl. auch La-
deur (Fn. 54), 218ff., 223 (an die Stelle der Einheit tritt das Prozessieren einer Unterscheidung bzw.
Differenzierung).

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IV. Systemtheorie und Computerkultur

Systems wie der Rechtspositivismus als erkenntnisförmige Anwendung einer durch-


gängig transparenten und lückenlosen Ordnung zu konstruieren. Das alles sichert
Luhmanns Systementwurf bis heute eine wichtige Position auf dem Theoriemarkt.
Und dennoch ist fraglich, ob Luhmanns autopoietisches System hinreichend auf jenen
medialen Hintergrund abgestimmt ist, der die epistemologischen Voraussetzungen für
die Möglichkeit der Formulierung einer Theorie dynamisch und rekursiv arbeitender
Systeme bildet, nämlich die neue Computerkultur. Das erscheint durchaus zweifel-
haft, und damit läuft die Systemtheorie Gefahr, den historischen „Einsatz“ des eigenen
Denkens zu vernachlässigen.86
Dass das System der Systemtheorie zu wenig auf die Funktionslogik von Medien und 138
vor allem zu wenig auf das Medium des Computers und seine epistemologischen Kon-
sequenzen zurückbezogen wird, lässt sich etwa am Paradoxiebegriff demonstrieren.
Luhmann schwankt hier zwischen einem historischen Einsatz des Begriffs und „eine
(r) Art nicht-philosophische(r) Apriorik“,87 insofern nicht wirklich klar wird, ob die
Paradoxie in der Systemtheorie als Orthodoxie „unserer Zeit“88 fungiert oder ob der
Paradoxiebegriff im Sinne einer zeitlosen Urlogik der Beobachtung benutzt wird, „wel-
che die Differenz und die Paradoxie als die Anfangsvollzüge alles Denkens ansetzt“.89
Richtigerweise kann sich das Operieren mit einer Gründungsparadoxie nur auf die
heute nicht zu leugnende Notwendigkeit beziehen, in der Rechtstheorie zwangsweise
mit Unterscheidungen operieren zu müssen, denen selbst keine Identität, kein fester
Boden, keine „Welt des Geistes“ im Sinne Hegels mehr vorausliegt.90 Aber das macht
die Paradoxie zu einer Orthodoxie unserer Zeit. Das Auftreten von Differenz und Para-
doxie in der Rechtstheorie wäre also – wie hier – historisch in der Bewegung der
Selbstbeschreibung des Rechtssystems seit den frühen Tagen des Rechtspositivismus,
seit Savigny, Puchta, Gerber u. a., zu verorten, nicht aber als Ersatz für die alte Erklä-
rung des Rechtssystems aus einem Prinzip heranzuziehen.91
Dieser Schluss erscheint umso zwingender, als sich zeigen lässt, dass die Karriere der 139
Paradoxie innerhalb des Systemdenkens eng mit dem Aufkommen der Computerkul-
tur verbunden ist. Kelsens reine Rechtslehre, in der jeder beliebige Inhalt positives
Recht werden konnte, sofern er nur mit der Grundnorm vermittelt war, hatte noch in
der an Leibniz anknüpfenden Tradition der mathesis universalis ihre Entsprechung.
86
Vgl. dazu die (noch immer) lesenswerte Stelle bei M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschafts-
lehre (1922), 1985, 214 („Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert ver-
werteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in der Dämmerung. Das Licht der großen
Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren
Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu bli-
cken. Sie zieht jenen Gestirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermö-
gen.“).
87 Clam (Fn. 2), 27, vgl. auch 107.
88
Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 1144, Fn. 429, mit Hinweis auf „The Education of Henry Adams“
(1907), 423f. („but paradox had become the only orthodoxy in politics as in science“). Im Übrigen,
wohl nicht nur zufällig, eine Aussage im Kapitel über Selbstbeschreibungen des Systems.
89 Clam (Fn. 2), 19, 107.
90 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 4 („der Boden des Rechts ist überhaupt das
Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine
Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die
Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als seine zweite Natur, ist“).
91 Ähnlich Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 63, in einem gesellschaftstheoretischen Zusammenhang mit
Blick auf den Formenkalkül von Spencer Brown.

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§ 4. System II

Die Reine Rechtslehre war, wie Klaus Mainzer bemerkt hat, in manchem der Mathema-
tik von David Hilbert ähnlich, derzufolge man sich „unter formalen Axiomen und Ge-
setzen der Mathematik Beliebiges“ vorstellen konnte, „sofern sie logisch konsistent“
waren; wobei Hilbert – wie Leibniz – keine Zweifel hatte, dass „mathematisches Den-
ken mit endlichen (finiten) Mitteln widerspruchsfrei formalisierbar“ sei.92 Seit den lo-
gischen und informationstheoretischen Forschungen der 1930er Jahre – seit Gödels
beiden Unvollständigkeitssätzen und Turings Nachweis der Nicht-Entscheidbarkeit
des Stopp-Problems von Computern – ist jedoch geklärt, „dass die Widerspruchsfrei-
heit eines formalen Systems nicht mit den finiten Mitteln bewiesen werden kann, die
in diesem System selbst verwendet werden.“93 Was das für die Rechtstheorie bedeutet,
lässt sich leicht zeigen: Wenn alles Recht positives Recht ist, ist nicht-positives Recht
kein Recht. Dann aber kann die Anweisung oder Regel, die das positive Recht erkenn-
bar macht, nicht eine dem positiven Recht selbst angehörige Regel sein. Das ist der
Hintergrund, der schon Kelsen zur Quasi-Externalisierung der Grundnorm durch
ihre Einbettung in einen transzendental-logischen Kontext zwang. Dieser logische
und informationstheoretische Kontext aus der Anfangsphase der Computerkultur ist
es aber auch, der Luhmann dazu veranlasst hat, die (Be-)Gründung des rechtspositivis-
tischen Systems durch einen „ersten Satz“ in eine Gründungs- und Entscheidungspa-
radoxie autopoietischer Systeme umzuformulieren, nicht aber ein allgemeiner (kon-
textfreier) Fortschritt logischer Denkmöglichkeiten.
140 Ein vergleichbares Schwanken zwischen gegenwartsbezogenem Denken und Apriorik
lässt sich auch in Luhmanns Theorie der Autopoiesis nachweisen. Einerseits dient der
Begriff der Autopoiesis dazu, eine neuartige dynamische Selbststabilisierung von Sys-
temen auf den Begriff zu bringen. Vor dem Hintergrund eines beschleunigten gesell-
schaftlichen Wandels, bei dem „Ordnung das Resultat von Praxis ist, nicht ihre Prä-
supposition,“94 wird der autopoietische Systembegriff von Vorläuferkonzepten
abgegrenzt, wie etwa von dem der „Selbstorganisation“, bei dem die systemeigene
Ordnungsbildung auf Strukturaufbau begrenzt wurde (Selbstregulation).95 Zugleich
wird Autopoiesis als „Invariante“ eingeführt, die „bei allen Arten von Kommunikatio-
nen stets dieselbe“ sein soll.96 Beide Thesen sind nur schwer miteinander zu vereinba-
ren. Letztere ist darüber hinaus für das Rechtssystem auch nur schwer zu akzeptieren.
Recht wird ja nicht seit jeher dynamisch, rekursiv und heterarchisch determiniert.
„Normenpyramide“ und „Stufenbau“ der Rechtsordnung sind keine lediglich modell-
haften Selbstbeschreibungen einer schon immer anderen Geschichte des Rechts, viel-
mehr gehört die Hierarchie des Rechts noch heute zur Rechtspraxis (vgl. Rn. 67). Erst
in jüngerer Zeit hat das Rechtssystem begonnen, seine hierarchischen Strukturen ab-
zubauen, und das hängt mit einem historischen Wandel der medialen und epistemolo-
gischen Bedingungen der Gesellschaft zusammen, der – allgemein – beschrieben wer-
den kann als „eine Umstellung der Gesellschaft von der Orientierung an der Erfahrung
und relativ stabilen Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft auf prospektive Mo-
92
Mainzer (Fn. 80), 179, 53; vgl. auch S. Krämer, Symbolische Maschinen, 1989, 138ff., 145.
93 Mainzer (Fn. 80), 53; Krämer (Fn. 92), 146; vgl. auch Luhmann (Fn. 3), 102 („Überhaupt kann es im
System keine Regel geben, die die Anwendbarkeit/Nichtanwendbarkeit aller Regeln regelt.“) Zu Tu-
rings Papiermaschinen vgl. B. Heintz, Die Herrschaft der Regel, 1993, 63ff.
94
A. Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, 2006, 302.
95 Luhmann (Fn. 3), 45; vgl. auch ders. (Fn. 9 – Gesellschaft), 64f.
96 Luhmann (Fn. 3) („Autopoiesis wird mithin als ‚Invariante‘ eingeführt. Sie ist bei allen Arten von Le-
ben, bei allen Arten von Kommunikation stets dieselbe.“).

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IV. Systemtheorie und Computerkultur

delle eines Wissens, das nicht mehr durch stabile hierarchische Trennungen von Allge-
meinem und Besonderem, sondern von heterarchischen hybriden Verschleifungen
und Relationierungen von Suchprozessen in Netzwerken bestimmt wird“.97 Das gilt
sowohl für den innerstaatlichen als auch für den außerstaatlichen Kontext. So wird
das staatszentrierte Völkerrecht herkömmlicher Prägung seit einiger Zeit durch ein
funktional ausgerichtetes, „fragmentiertes Weltrecht“ unterlaufen,98 das die Hierarchie
des Völkerrechts dekomponiert und durch neue netzwerkartige, heterarchische Ord-
nungsmuster ablöst.99
Die Schwierigkeiten, die sich Luhmann einhandelt, zeigen sich schließlich auch in der 141
Zeitdimension. Die historische Invarianz des autopoietischen Systems hängt ja vor al-
lem mit seiner zeitpunktabhängigen Arbeitsweise zusammen. Solange es Autopoiesis
und damit Elemente und Strukturen des Rechtssystems gibt – so muss man Luhmann
wohl verstehen – weist jede gelungene Fortsetzung des Systems dieselbe zeitpunktbezo-
gene Gegenwärtigkeit auf. Es ist jedoch evident, dass die Vorstellung einer „zeitpunk-
tabhängigen Gegenwärtigkeit“ eine Zeitstruktur voraussetzt, die frühestens die mo-
derne Gesellschaft ausgebildet hat, nämlich die Abkoppelung einer operativen oder
linearen Zeit von jedweden anthropomorphen oder kosmomorphen periodischen Vor-
gängen („zyklische Zeit“).100 So sieht es im Übrigen auch Luhmann selbst, zumindest
soweit es um die Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft in der Zeitdimension
geht.101 Für Luhmann hat im Übergang zur Neuzeit eine Verschiebung in der Zeitse-
mantik stattgefunden, in der Zeit (tempus) nicht mehr in der zeitlosen Zeit, der Ewig-
keit (aeternitas), zustande kommt; vielmehr diene der Zeitpunkt gerade der Verzeitli-
chung der Gegenwart, die dadurch zum historisch einmaligen Ereignis und als solches
zum einzig Unvergänglichen werde. Die Akzentuierung des Ereignisses, des Augen-
blicks, der nicht mehr durch die Vergangenheit determiniert sei, erfahre schon im spä-
ten 17. Jahrhundert – schon vor der deutschen Romantik – bei Autoren wie Alain-René
Le Sage und Luc de Clapier Marquis de Vauvenargues erste Formulierungen.102
Diese Umstellung der Zeitsemantik interpretiert Luhmann dahingehend, dass sich die 142
autopoietischen Systeme der modernen Gesellschaft – entgegen der räumlichen Meta-
phorik der Zeit – nicht in Richtung auf andere, schon bekannte Stellen im Raum be-
wegen, sondern in Richtung auf einen Weltzustand, „den es noch gar nicht gibt. Man
bewegt sich ins Bodenlose“.103 Das Alte wird nicht im Neuen bewahrt und aufgeho-

97 Ladeur (Fn. 51), 296.


98 A. Fischer-Lescano/G. Teubner, Regimekollisionen, 2006, 57.
99
Aus der Fülle der neueren Literatur vgl. nur G. Teubner, Verfassungsfragmente, 2012; M. Amstutz,
Zwischenwelten, 2003, 213ff.; Ch. Joerges, Freier Handel mit riskanten Produkten?, 2006, 151ff.
(beide aus privatrechtlicher Sicht); A. Peters, Privatisierung, Globalisierung und die Resistenz des Ver-
fassungsstaates, ARSP Beiheft 105 (2006), 100ff. (aus völkerrechtlicher Sicht); E. Schmidt-Aßmann,
Aufgaben und Perspektiven verwaltungsrechtlicher Forschung, 2006, 466ff. (aus verwaltungsrechtli-
cher Sicht); T. Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, VVDStRL 63
(2004), 41ff., 47ff., 64f. (aus staatsrechtlicher Sicht); S. Leibfried/M. Zürn, Von der nationalen zur
post-nationalen Konstellation, 2006, 19ff. (aus politikwissenschaftlicher Sicht).
100 Instruktiv dazu aus soziologischer Perspektive S. Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens, 1992,
131ff.; vgl. auch H. Rosa, Beschleunigung, 2005, insb. 161ff.
101
U. a. Luhmann (Fn. 26), 235ff.; ders. (Fn. 9 – Gesellschaft), 997ff.
102 Luhmann (Fn. 26), 271ff., 275 (le Sage), 278 (de Vauvenargues).
103 Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 998. Die Schwierigkeit der angemessenen Abbildung der operativen
Zeit und die Notwendigkeit ihrer räumlichen Metaphorisierung ist schon Kant in der Kritik der reinen

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§ 4. System II

ben, das System kombiniert nicht Kontinuität und Wandel, sondern arbeitet – im
Grenzfall – mit reiner Diskontinuität. Das Operieren unter Ungewissheitsbedingun-
gen, unter der Bedingung auch, dass die Geschichte selbst keine Kontinuität mehr si-
chert, weil die fortlaufende Punktualisierung der Gegenwart die Kontinuität mit der
Vergangenheit unwiderruflich entwertet hat, setzt aber wiederum den Primat der Zu-
kunft, eine Wertschätzung des Neuen, voraus; und auch das sind nach Luhmann ge-
nuin moderne Errungenschaften. Sie werden seit dem 17. Jahrhundert in positiv be-
setzten Begriffen wie Genie, Kreativität, Innovation, Erfinden usw. vorbereitet und
schließlich auf ein „progressistisches“ Selbstverständnis der Gesellschaft übertragen,
die sich etwa in der Geschichtsschreibung in einer „neuen Zeit“ lokalisiert und sich
als „modern“ interpretiert.104
143 Gerade wenn man der Zeittheorie der Systemtheorie ihren „Realismus“ nicht abspre-
chen will, stellt sich die Frage, ob diese darin nicht auf eine Erfahrung rekurriert, die
erst im 20. Jahrhundert auftreten konnte. Immerhin kombiniert die Philosophische Se-
mantik den modernen Zeitbegriff noch lange mit der Vorstellung einer sich zur Vollen-
dung hin bewegenden Geschichte, man denke nur an Hegel und seine Vorstellung eines
zu sich selbst – in seiner Absolutheit – kommenden Geistes. Noch mehr als ein Jahr-
hundert später liegen in der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers alle Akzente auf der
historisch gestifteten Kontinuität, die das Vorverständnis einer jeden Epoche ausma-
chen, gegen den Ästhetizismus und das ästhetische Bewusstsein, als dessen Hauptzug
Gadamer die reine Diskontinuität, die Punktualisierung der Zeit, ansieht.105 Ja noch
in der kritischen Theorie Theodor W. Adornos produziert die abstrakte Zeit eine Ahis-
torizität des Bewusstseins, das Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung.106 Für
Adorno ist die Realisation dieser abstrakten punktuellen Zeitlichkeit insbesondere in
den nachklassischen Formen der Musik, im Jazz und den frühen Formen der Popmusik
(Schlager) verankert, auch im Film, also allgemein in dem, was in der Dialektik der Auf-
klärung von 1944 als „Kulturindustrie“ und „Massenbetrug“ bezeichnet wird.107 Na-
türlich teilt Luhmann diese kulturkritische Geste Adornos nicht, aber auch Luhmann
hat gerade in seinen späten Veröffentlichungen wiederholt betont, dass die operative
Zeit außer in der Wirtschaft vor allem in den Massenmedien präsent sei.108 Die elektro-
nischen Medien bilden also ganz offensichtlich einen impliziten Hintergrund, vor dem
die Beobachtung einer diskontinuierlichen Zeit des sich laufend wiederholenden Au-
genblicks überhaupt erst möglich geworden ist.

Vernunft aufgefallen. R. Koselleck, Vergangene Zukunft, 1979, 356, hat dazu treffend bemerkt, dass
sich die Zeit bekanntlich sowieso nur in spatialen Metaphern ausdrücken lasse.
104
Vgl. Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 1000f. Diese Wertschätzung des Neuen erfasst selbst das noch
heute gern als „konservativ“ beschriebene Rechtssystem. Das Recht wird nicht mehr durch Traditions-
bindungen (und Erfahrung) gehalten, sondern durch Verfassungsgesetze, die ihre eigene Selbstände-
rung regeln bis hin zur Paradoxie der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, einer Vorschrift, die
ein absolutes Änderungsverbot in einem historischen, d. h. vergänglichen Dokument verankert.
105
G. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 1997, 62 (weitere Nachweise oben Rn. 210ff.).
106
Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 8, 1980, 217ff., 230. Für Adorno verweist die abstrakte
Zeit auf die mathematisch naturwissenschaftliche Rationalität und d. h. auf die Durchsetzung des
Tauschprinzips.
107
Dazu ausführlich S. Breuer, Aspekte totaler Vergesellschaftung, 1985, 34ff., 46ff.
108
N. Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 1996, 44 („Hinter den viel diskutierten Eigenarten mo-
derner Zeitstrukturen wie Dominanz des Vergangenheit/Zukunft-Schemas, Uniformisierung der
Weltzeit, Beschleunigung, Ausdehnung der Gleichzeitigkeit auf Ungleichzeitiges stecken also vermut-
lich neben der Geldwirtschaft die Massenmedien.“).

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IV. Systemtheorie und Computerkultur

Deshalb wäre – gegen Luhmann – darauf zu insistieren, dass alle Kategorien der 144
Rechtstheorie, auch die des autopoietischen Systems, ihre volle Gültigkeit nur in einer
bestimmten historischen Epoche und nur in einem bestimmten medialen environment
entfalten. Luhmanns Konzeption eines stets augenblicklich operierenden Rechtssys-
tems wäre also historisch genauer zu situieren und als Reaktion auf eine neuartige,
„postmoderne“ Konstellation zu begreifen, in die der gesellschaftliche Wandel sichtbar
erst im späten 20. Jahrhundert geführt hat. Dieser Wandel ist eng mit dem Aufkom-
men der elektronischen Medien und dem Computer verknüpft, enger jedenfalls als es
die Theorie des autopoietischen Systems expliziert, vielleicht auch explizieren kann.
Denn anders als im Fall lebender Zellen ist die an Sprache und Medien gebundene Be-
schreibung des Rechts als Einheit und System zugleich eine Intervention in das Recht
als instituierte Ordnung. Dagegen überzieht Luhmann vermutlich die Möglichkeiten
der Systemtheorie, wenn er die dynamische und rekursive Vernetzung des Rechtssys-
tems mit einem Import aus der Kognitionsbiologie von Humberto Maturana – als
„Autopoiesis“ – auf der operativen Ebene als Invariante zu fassen sucht. Einmal davon
abgesehen, dass die Kognitionsbiologie Maturanas selbst ein Produkt der Computer-
kultur ist,109 ist die ausschlaggebende Neuerung der autopoietischen Systembildung
gegenüber dem rechtspositivistischen System die netzwerkförmige, zeitpunktgebun-
dene Operationsweise. Diese ist aber keine historisch invariante Operationsweise, son-
dern auf die neuen medialen und epistemologischen Verhältnisse der Computerkultur
zurückzuführen, insbesondere auf den Aufstieg einer Welt, in der sich die „letzten
Orientierungspunkte der Gewißheit“ aufgelöst haben und eine neue „Empfänglichkeit
für das Unbekannte der Geschichte“ entsteht.110 Diese Vor-Bedingung wird auch
sprachlich in dem dem Altgriechischen entlehnten Begriff „Autopoiesis“ kaum abge-
bildet.
Die hier angesprochenen Probleme hängen neben einem vielleicht nicht so glücklichen Begriffsimport vor 145
allem mit Luhmanns Neigung zusammen, Selbstbeschreibung und Operation des autopoietischen Sys-
tems voneinander zu isolieren. Luhmann reißt vor allem im Fall des Rechtssystems zwischen der laufenden
Selbstherstellung der operativen Einheit des Systems und den Formen seiner theoretischen Expertise einen
Graben auf, der kaum überbrückbar erscheint; zumindest wird der Übergang zwischen theoretischer und
praxisorientierter Expertise an nur relativ wenigen Schnittstellen für möglich gehalten, etwa im Zusam-
menhang von Freiheit, subjektivem Recht und Klagebefugnis.111 Eine Trennung zwischen theoretischer
Expertise, die sich der „Sonderaufgabe“ der „Darstellung von Einheit, Funktion, Autonomie und auch In-
differenz des Rechtssystems“ widmet, und „normalen juristischen Theorien“,112 die primär an den Ent-
scheidungsbetrieb der Gerichte adressiert sind, ist heute sicherlich weit verbreitet und eine der Ursachen
für die Anpassungsprobleme des Rechtssystems an den beschleunigten gesellschaftlichen Wandel. Aber in
der von Luhmann vorausgesetzten Art ist die wechselseitige Abschottung etwa von Rechtsdogmatik und
Rechtstheorie erst ein Resultat des Auseinanderziehens von Beobachterperspektiven, in denen über Recht
nachgedacht wird. Dieses Auseinanderziehen von Beobachterperspektiven ist aber wiederum ein Produkt
der aktuellen medialen Reproduktionsbedingungen rechtswissenschaftlicher Kommunikation und kann
beispielsweise nicht auf die Situation des 19. Jahrhunderts zurückprojiziert werden. Bei Savigny etwa fin-
det man keine Trennung von Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, zumal dort schon das Wort „Rechtsdog-
matik“ keine tragende Rolle spielt, sofern es überhaupt vorkommt.

109
Vgl. dazu allg. L. E. Kay, Das Buch des Lebens, 2005.
110
C. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen, 1999, 54; vgl. auch C. Pornschlegel, Nach dem Post-
strukturalismus, 2014, 139.
111 Luhmann (Fn. 3), 499.
112
Luhmann, ebd.

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§ 4. System II

Darüber hinaus gerät die Trennung von operativer und reflexiver Systemebene mit Luhmanns eigenen Prä-
missen in Konflikt. Nach Luhmann wird das Rechtssystem als autopoietisches System erst auf der Ebene
der Beobachtung zweiter Ordnung geschlossen.113 Dann kann aber auch die operative Systemzeit keine
von der Zeitsemantik unabhängige Form sein. Sicher kann man nicht zweimal über denselben Fluss gehen
(Heraklit), das mag invariant sein, aber es gibt doch keine zeitüberdauernde Notwendigkeit zeitlicher Se-
quenzierung von Rechtsoperationen einerseits und eine davon strikt zu trennende, historisch variierende
Beschreibung der vom System benutzten Systemzeit (Zeitsemantik) andererseits. Wenn Luhmann wieder-
holt betont, dass die Umstellung auf ein Primat der Zeitdimension nicht nur thematisch, sondern viel
tiefer greifend auch operativ in die Selbstbeschreibung der Gesellschaft und ihrer Welt eingebaut sei, dann
kommt es eben gerade auf die Medien an, die operativ Zeitbindungen erzeugen. Dafür aber ist in
Luhmanns Systemtheorie wenig Platz, vor allem weil der Begriff des Mediums als lose Kopplung von
Elementen definiert und damit die spezifische Medialität des Mediums, der Schrift, des Buchdrucks, des
Computers etc., kaum Rechnung getragen wird (vgl. Rn. 100ff.).

113 Luhmann, ebd., 18, 61, 80 (jeweils zur Funktion der Beobachtung zweiter Ordnung als Voraussetzung
operativer Schließung).

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§ 5. Geltung

I. Staatszentrierung

1. Zur tradierten Rechtsquellenlehre


Als „Rechtsquellen“ bezeichnet Friedrich-Carl Savigny die „Entstehungsgründe“ des 146
geltenden Rechts.1 An dieser Vorstellung hat sich bis heute insofern wenig geändert,
als Rechtsnormen – im Unterschied zu sonstigen gesellschaftlichen Regelbeständen
und Konventionen – nach herkömmlicher Auffassung nicht schon dann „gelten“,
wenn sie praktisch so und nicht anders gehandhabt werden, sondern erst dann als „gel-
tend“ qualifiziert werden, wenn sie auf juristisch anerkannte Entstehungsgründe zu-
rückzuführen sind. Danach beruht beispielsweise die Geltung des § 17 BImSchG auf
einem Akt der parlamentarischen Gesetzgebung und damit auf einer allgemein an-
erkannten Rechtsquelle. Die „innere Einheit“ der Rechtsquellen liegt in ihrer Hier-
archie, die die verschiedenen Normtypen – Verfassungsgesetze, Parlamentsgesetze,
Rechtsverordnungen, Satzungen – nach höheren und niederen Rängen abschichtet
und mit starren Vor- und Nachrangregeln versieht, wie etwa der Regel, dass die höhere
Norm untergeordneten Normen vorgeht.2 Die Hierarchisierung der Rechtsquellen hat
einerseits die Funktion, Kollisionen zwischen den verschiedenen Rangebenen zu lösen
und andererseits die Frage abzuschneiden, was sich „vor“ der höchsten Quelle befin-
det.
In eigentümlichem Kontrast zu dieser ersten Bestandsaufnahme steht die heute – in 147
der Rechtstheorie und auch in der rechtsdogmatischen Literatur – kaum noch bestrit-
tene Tatsache, dass die Rechtsquellenlehre unter Druck geraten ist.3 Dies wird in der
Regel darauf zurückgeführt, dass die herkömmliche Rechtsquellenhierarchie im „offe-
nen Staat“ sowohl um neue außerstaatliche als auch innerstaatliche Regelbestände er-
weitert worden sei,4 deren Einpassung in das bisherige System Schwierigkeiten bereite.
Im außerstaatlichen Feld wird etwa auf die transnationale (technische) Standardset-
zung und hier z. B. die Selbstverwaltung der Namen und Adressen des Internets durch
die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) hingewiesen,5
auf das wachsende internationale Vertragsrecht (z. B. der Welthandelsorganisation
WTO), die neuartigen Völkergewohnheitsrechte (z. B. Folterverbot), die Standards
internationaler Gremien (z. B. Luftverkehrssicherheit, Codex-Alimentarius) oder die
aus dem Ausschusswesen der Europäischen Union hervorgehenden Regelwerke (Ko-
1
Vgl. nur F. C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, 11 („Wir nennen Rechts-
quellen die Entstehungsgründe des ... Rechts“); vgl. dazu A. Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929,
133ff. (an Puchta anknüpfend).
2
Vgl. etwa H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, 70f.; B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechts-
theorie, 2015, Rn. 223ff.; zum Parlamentsgesetz als Mittelpunkt der Rechtsquellenlehre vgl. K. F. Röhl/
H. Ch. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 519ff.; vgl. auch die umfangreiche Bestandsaufnahme,
ebd., 522ff., 532ff.
3 Vgl. nur M. Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, 2012, § 17 Rn. 8ff.
(spricht von einer Notwendigkeit der Neukonzeption der Rechtsquellenlehre).
4
Zum Konzept des „offenen Staates“ vgl. allg. U. di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998.
5 Zur transnationalen Standardsetzung T. Vesting, The Autonomy of Law and the Formation of Network
Standards, 5 German Law Journal No. 6, 2004; zur ICANN J. v. Bernstorff, „Internet ‚Law‘: Legitimacy
and Legal Structures of ICANN“, 2004, 257ff.

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§ 5. Geltung

mitologie).6 Im innerstaatlichen Bereich wird etwa diskutiert, ob und inwieweit priva-


tes Vertragsrecht, kollektiv-rechtliche Normabsprachen (z. B. Tarifverträge), verband-
liche Standardsetzung (z. B. DIN-Normen), Verwaltungsvorschriften oder Satzungen
autonomer Körperschaften – z. B. Satzungen im Sozialrecht oder Werberichtlinien
von Landesmedienanstalten – als eigenständige Rechtsquellen anzuerkennen seien.7
148 Ein noch größeres Problem für die Überzeugungskraft der traditionellen Rechtsquel-
lenlehre sind aber vielleicht ihre inzwischen vielfach herausgearbeiteten Paradoxien.
Schon Alf Ross hat die Rechtsquelle nur noch als „Erkenntnisgrund“ und nicht mehr
als Entstehungsgrund „für etwas als Recht“ behandelt.8 Hans Kelsen hat in der Reinen
Rechtslehre dann die Frage nach dem Grund der Geltung der ranghöchsten Rechts-
quelle selbst gestellt und sie durch die Konstruktion einer Grundnorm zu lösen ver-
sucht (vgl. Rn. 176ff.). Eine vergleichbare Lösung repräsentiert Herbert L. Harts „se-
condary rule of recognition“, die im Unterschied zu den „primary rules“ allein auf das
Geltungsproblem angesetzt ist.9 Auch in diesem Fall soll der ansonsten logisch infinite
(unendliche) Regress der Geltungsbegründung, die Frage nach dem „letzten Grund“
der Rechtsordnung, durch das Einziehen einer Meta-Ebene (secondary rule) vermieden
werden (vgl. auch Rn. 98). Heute sind auch diese Lösungen problematisch geworden.
Jacques Derrida hat in seinen Randgängen der Philosophie – in einem Essay über Paul
Valéry (Qual Quelle) – dargelegt, wie jeder Gebrauch der Quellenmetapher unweiger-
lich in die Paradoxie führt, die Differenz von Ursprung und Wirkung der Quelle un-
unterscheidbar zu machen;10 die Quellenmetapher, so hat Luhmann diesen Gedanken
artikuliert, erzeuge selbst die Differenz zwischen Vor-der-Quelle und Nach-der-
Quelle.11 Damit dürfte die normative Schließung der Rechtsordnung über die rechts-
ordnungsinterne Konstruktion von „letzten Normen“ (Grundnorm, secondary rule
usw.) eher auf einer fiktional-metaphorischen Ebene zu lokalisieren sein. Dennoch
wird die Neukonzeption der Geltungstheorie und die Überprüfung ihres Verhältnisses
zur Rechtsquellenlehre erst allmählich in Angriff genommen. Worin liegt der Grund
für diese scheinbare Alternativlosigkeit der tradierten Rechtsquellenlehre?

2. Das Problem der (staatlich sanktionierten) Gewalt


149 Der Grund für die anscheinende Alternativlosigkeit der tradierten Rechtsquellenlehre
liegt in der Staatszentrierung der herkömmlichen Rechtsgeltungstheorie. Durch diese
Staatszentrierung wird die Geltung des Rechts, die spezifische Normativität von Nor-
men, als primär von staatlich sanktionierter Gewalt abhängig qualifiziert. Mit der
Konsolidierung von Nationalstaat und Industriegesellschaft im letzten Drittel des

6 Zur Internationalisierung des Verwaltungsrechts vgl. etwa E. Schmidt-Aßmann, Aufgaben und Perspek-
tiven des Verwaltungsrechts, 2006, 486ff.; zur Komitologie vgl. nur Ch. Joerges, Comitology and the
European model?, 2003, 501ff.; dazu auch G. Teubner, Verfassungsfragmente, 2012, 237ff.
7
Zur Satzung als „Rechtsquelle“ vgl. nur T. Vesting, Satzungsbefugnis von Landesmedienanstalten und
die Umstellung der verwaltungsrechtlichen Systembildung auf ein „Informationsverwaltungsrecht“,
Die Verwaltung 35 (2002), 433ff.
8 Ross (Fn. 1), 291f.
9
H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, 92f., 97ff.
10
J. Derrida, Randgänge der Philosophie, 1988, 297 („Die Quelle selbst ist die Wirkung von dem, (als)
dessen Ursprung (man) sie angibt.“).
11 Vgl. – Derrida kommentierend – N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 524, vgl. auch ebd.,
546.

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I. Staatszentrierung

19. Jahrhunderts ging in vielen kontinentaleuropäischen Ländern eine umfangreiche


Verrechtlichung und Kodifikation des bürgerlichen Rechts nach französischem Vor-
bild einher (vgl. Rn. 68). Auch in Deutschland kam es zum Erlass einer Reihe von –
teilweise noch heute geltenden – Gesetzbüchern: Allgemeines Deutsches Handels-
gesetzbuch (1861), Reichsstrafgesetzbuch (1871), Gerichtsverfassungsgesetz (1879),
Reichs-Concursordnung (1879), Handelsgesetzbuch (1897) und das Deutsche Bür-
gerliche Gesetzbuch (1900) sind nur einige Beispiele. Obwohl diese Gesetzbücher
ihrem Inhalt nach das Produkt des rechtswissenschaftlichen Positivismus waren, festig-
ten sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Eindruck, dass sich die Rechts-
bildung in eine Domäne des Staates und seiner Machtposition sowie des von ihm für
diese Zwecke bevorzugten Mediums, der Willensäußerung im Gesetzbuch, verwan-
delt hatte. Jedenfalls gewann vor diesem Hintergrund die Vorstellung an Relevanz,
dass die staatliche Gesetzgebung die dem „Range“ nach „erste“ Rechtsquelle war, nicht
aber, wie etwa noch Windscheid im Pandektenrechtslehrbuch von 1862 angenommen
hatte, das Gewohnheitsrecht und die damit eng verbundene gesellschaftliche Konven-
tionsbildung.12 In das Umfeld des Gewohnheitsrechts gehört im Übrigen auch die
Entstehung der Rechtsquellenlehre selbst: Gerade weil große Teile des Rechtskorpus
lange ungeschrieben waren, wie etwa noch im mittelalterlichen Recht, stellte sich die
Frage, nach welchen Kriterien lokale Rechte in politisch größere Territorien integriert
werden konnten und damit, wie über die Geltung von lokalen Rechtsgewohnheiten zu
entscheiden war.
Aufgrund seiner Staatszentrierung bezeichnet man die Spätphase des Rechtspositivis- 150
mus auch treffend als „Gesetzespositivismus“ bzw. „staatsrechtlichen Positivismus“.13
Der Gesetzespositivismus adaptierte die in Deutschland insbesondere durch Kant ge-
prägte Vorstellung der Allgemeinheit des Gesetzes (vgl. oben Rn. 45ff.) und verwan-
delte diese Gesetzesvorstellung samt der in ihr inkorporierten absoluten Befehlsmacht
noch im (späten) 19. Jahrhundert in einen eher formal-technischen Gesetzesbegriff,
der dem gerichts- oder verwaltungsförmigen Einzelakt entgegengesetzt wurde. Im
Staatsrecht lässt sich die Formalisierung des Gesetzesbegriffs, der Übergang vom
rechtswissenschaftlichen zum staatsrechtlichen Positivismus, etwa in der Bewegung
von Carl-Friedrich Gerber zu Paul Laband belegen.14 Auch das Verwaltungsrecht
wurde spätestens mit Otto Mayers Verwaltungsrecht (erste Auflage 1895) um das all-
gemeine Gesetz als die „oberste Art“ des „Staatswillens“ zentriert,15 das dann zugleich
in einen hierarchischen Gegensatz zum Verwaltungsakt gebracht wurde. Sogar die Ver-
fassung, ursprünglich eine Herrschaftsvereinbarung bzw. ein Staatsvertrag,16 galt im

12
B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts Bd. 1, 1862, 38. Für Windscheid war die „Rechtsver-
nunft“ die höchste Quelle allen Rechts, die sich zunächst im Gewohnheitsrecht artikulierte. Anders
sah es Windscheid allerdings in späteren Auflagen, in denen er einen allgemeinen Bedeutungsverlust
des Gewohnheitsrechts im Verhältnis zur Gesetzgebung konstatierte.
13
Zum „Gesetzespositivismus“ vgl. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1996, 458ff.;
M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, 330f., zum „staatsrechtli-
chen Positivismus“ vgl. 276ff.; W. Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus,
1993, 92ff.
14
Vgl. einerseits C. F. v. Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865, 137ff. („Als Ge-
setzgeber offenbart der Staat seinen Willen in der Form abstracter Normen.“); und – bereits weitaus tech-
nischer – andererseits P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches (1911), 1964, Bd. 2, 4ff., 62.
15 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht (1924), 1969, 64 („Herrschaft des Gesetzes“).
16
Vgl. Eintrag Verfassung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 2001.

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§ 5. Geltung

staatsrechtlichen Positivismus als eine „Art“ des Gesetzes.17 Der bürgerliche Rechts-
staat, wie ihn schon Kant gefordert hatte, mutierte zum Gesetzgebungsstaat.18
151 Damit wurden der Staat und seine überlegene Befehlsgewalt zugleich zum obersten Ga-
ranten des von ihm – in Gesetzesform – geschaffenen Rechts. Der gesamte Rechtsbil-
dungsprozess wurde jetzt auf den Staat als Souverän zugeschnitten, der als ein von allen
anderen Rechtsquellen zu unterscheidendes abstraktes Subjekt galt, als die artifizielle
Person (jenseits der natürlichen Personen und ihrer Beziehungen zueinander), die über-
haupt erst über Autorität und Geltung des Rechts entschied. Dieser Entwicklung hatte
bereits Kants Metaphysik der Sitten von 1791 Tür und Tor geöffnet: Das allgemeine Ge-
setz der Freiheit blieb hier zwar als Voraussetzung und Richtschnur aller Rechtsgesetze
erhalten (vgl. Rn. 50), gleichwohl koppelte schon Kant den Begriff des Rechts – im Un-
terschied zur „innerlich“ verpflichtenden Moral – an die Verknüpfung von allgemeiner
Freiheit und „äußerlich“ wirkendem Zwang.19 Die Geltung des Rechts war damit von
politisch sanktionierter Gewalt abhängig, und diese Vorstellung gewann im späten
19. Jahrhundert einen immer größeren Stellenwert. Für Laband beispielsweise manifes-
tierte sich das spezifische Wirken der Staatsgewalt in der Versorgung des Gesetzes mit
„verbindlicher Kraft“ und „äußerer Autorität“.20 Auch wenn Laband dabei noch deut-
lich zwischen der Herstellung der Rechtsinhalte und der Geltungsebene trennte, blickte
doch bereits in seinem formellen Gesetzesbegriff ein Konzept durch,21 dass das auto-
nome, sich selbst begründende Recht des rechtswissenschaftlichen Positivismus in
Richtung auf ein für äußere (politische) Einflüsse offenes Staatsrecht zu transformieren
begann. Führte Savigny Rechtsgeltung auf einen „Volksgeist“ zurück, also auf eine rein
abstrakte – nicht-körperliche, nicht-personale – Souveränität, und war noch bei Wind-
scheid die „Rechtsvernunft der Völker“ die letzte Quelle allen Rechts,22 wurde jetzt der
über Polizei und Militär verfügende Nationalstaat und sein „beliebiger Wille“ zur
höchsten Quelle aller Rechtsgeltung/Gesetzgebung.
152 In voller Konsequenz wurde diese Vorstellung einer unauflöslichen Verknüpfung von
Rechtsgeltung und sanktionierter Staatsgewalt wohl erstmals in der Herrschaftssozio-
logie Max Webers entfaltet. Weber verknüpfte das Recht insbesondere im Idealtypus
der „legalen Herrschaft“ unauflöslich mit dem modernen Anstaltsstaat als der für We-
ber typisch zeitgenössischen Form der legitimen Herrschaft.23 Legitime Herrschaft be-
17
Der Ausdruck „Art des Gesetzes“ stammt von Bernatzik. Im 20. Jahrhundert ist diese Ansicht vor allem
von E. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, 1976, 130, popularisiert worden.
18 Zur Genese des Rechtsstaats bei Kant vgl. I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1992, 70ff.
(der Monarch ist als Regent „an die Gesetze gebunden, die er als rechtlich ungebundener Souverän
gibt“); zur Entwicklung vgl. nur E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, 143ff.
19
I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797/98), Werkausgabe Bd. 8, 1977, A 36. Dass Kant damit die Bin-
dung des Rechts an eine „oberste Gewalt“ meint, wird insbesondere im Kantischen Strafrecht, B 225ff.,
deutlich. Zum Rechtszwang bei Kant J. Simon, Kant, 2003, 387, 399.
20
Laband (Fn. 14), 4 („das spezifische Wirken der Staatsgewalt, das Herrschen, kommt nicht in der Her-
stellung des Gesetzesinhalts, sondern nur in der Sanktion des Gesetzes zur Geltung, in der Ausstattung
eines Rechtssatzes mit verbindlicher Kraft, mit äußerer Autorität“).
21 Laband, ebd., 62 („Form, in welcher der staatliche Wille erklärt wird, gleichviel, was der Inhalt des Wil-
lens ist“); E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1981, 226ff., 230. Zur heutigen Hete-
rogenität der Gesetzestypen vgl. F. Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontroll-
maßstab 2012, § 9 Rn. 15.
22 Windscheid (Fn. 12), 37.
23 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 124ff.; dazu S. Breuer, Max Webers Herrschafts-
soziologie, 1991, 191ff.; ders., Max Webers tragische Soziologie, 2006, 63ff.

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I. Staatszentrierung

ruhte jetzt nicht mehr, wie noch die traditionale Herrschaft, auf dem „Alltagsglauben
an die Heiligkeit von jeher geltenden Traditionen“,24 sondern war das Resultat ab-
sichtsvoller Entscheidungen, dem Durchbrechen einer vorgegebenen Ordnung durch
einen Akt der Ordnungsstiftung. Ja, Recht galt in Webers Typus der legalen Herr-
schaft ausschließlich kraft Selektion, womit zugleich die jederzeitige Änderbarkeit des
(momentan) geltenden Rechts impliziert war; legale Herrschaft hieß Setzung „beliebi-
gen“ Rechts.25 Die damit unterstellte Kontingenz jeder Ordnungsstiftung durch Ge-
setzgebung rief umso mehr die Notwendigkeit der Absicherung des jeweils geltenden
Rechts auf den Plan. Legale Herrschaft galt Weber daher als von „gewaltsamem
Rechtszwang“ abhängig, der wiederum ein „Monopol der Staatsanstalt“ war.26 (Dahin-
ter steht möglicherweise der Einfluss Jherings, der bereits den Ursprung der römischen
Rechtsordnung in der Speerspitze lokalisiert hatte.27) Der Staat und sein Gewaltmono-
pol bildeten jedenfalls für Weber die zentrale Voraussetzung dafür, dass das Recht
nicht nur auf bedrucktem Papier in Gesetzbüchern geschrieben stand, sondern im
Konfliktfall auch wirksam, und das hieß gegebenenfalls durch den Einsatz legitimer
staatlicher Gewaltmittel, durchgesetzt werden konnte.
Legale Herrschaft bedeutete Herrschaft einer unpersönlichen Ordnung, hieß Herrschaft nicht von Men- 153
schen und Personen, sondern Herrschaft der Bürokratie, Herrschaft abstrakter Rechtsregeln, an die die Re-
gierenden und Vorgesetzten ebenso gebunden waren wie die Regierten und Anordnungsempfänger,28 im
Gegensatz etwa zum patrimonialen Herrscher, der unmittelbare (nicht regelgebundene) Macht von Men-
schen über Menschen ausübte, im Unterschied auch zur charismatischen Herrschaft, die sich ohne jede
Vermittlung durch Regeln aus der irrationalen Verehrung von Helden speiste, dem spontanen „Anhim-
meln“ von „Politstars“ Ausschlaggebend für Webers Typus der legalen Herrschaft war ihr „rationaler Cha-
rakter“, der „Glaube an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur
Ausübung der Herrschaft Berufenen“.29 Der Glaube an die legale Herrschaft bedeutete Orientierung an
durchschnittlich rationalen Zwecken und Werten und setzte einen Kosmos „gesatzter Ordnungen“, also
abstrakte Rechtsregeln sowie ein Rechtssystem im Sinne des rechtwissenschaftlichen Positivismus noch vo-
raus. Aber weil es sich auch nur noch um einen Glauben an die Legalität handelte, und nicht mehr, wie
etwa noch bei Kant, um die Selbstvergewisserung der moralischen Überlegenheit einer allgemeinen Ge-
setzgebung, führte schon Webers Herrschaftssoziologie zu dem eher paradoxen Konzept einer an faktischen
Durchschnittsgegebenheiten orientierten Rechtsgeltung.

Waren es im staatsrechtlichen Positivismus und bei Weber noch der Staat und sein Ge- 154
waltmonopol, die für die Geltung des Rechts sorgten, radikalisierte nicht zuletzt Carl
Schmitt in der Weimarer Republik den Gedanken einer Gewaltfundierung des Rechts.
Schmitt erklärte das Recht zum Erzeugnis letzter, ihrerseits nicht weiter ableitbarer
Entscheidungen: Die Rechtsordnung beruhe nicht auf Normen, sondern, wie jede
Ordnung, auf einer Entscheidung (Dezision).30 Das bezog sich vor allem auf die
Verfassung und die sie gebende Gewalt, die verfassungsgebende Gewalt (pouvoir consti-
tuant). Für Schmitt war die verfassungsgebende Gewalt nicht etwa der höchste Entste-
hungsgrund der Rechtsordnung, sondern Ausdrucksform einer „Gesamt-Entschei-
dung über Art und Form der politischen Einheit“,31 einer Souveränität, die zugleich
24
Weber (Fn. 23) 124.
25 Weber, ebd., 125.
26 Weber, ebd., 185.
27
Vgl. R. Esposito, Immunitas, 2004, 41, 43.
28
Weber (Fn. 23), 125.
29 Weber (Fn. 23), 124 (Hervorhebung von mir).
30 Vgl. nur C. Schmitt, Politische Theologie (1922), 1985, 16.
31
C. Schmitt, Verfassungslehre (1928), 2003, 20.

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§ 5. Geltung

innerhalb und außerhalb des Rechts stand32 und die bei Schmitt letztlich auf eine per-
sonale (körperliche) Form von Souveränität hinauslief, auf die Herrschaft von Men-
schen und Personen. Wie Schmitt bereits in der Diktaturschrift von 1921 ausgeführt
hatte, war die die Verfassung tragende „Gesamt-Entscheidung“ Manifestation einer
prinzipiell unbegrenzten, schlechthin alles vermögenden „Urkraft“, eines Willens, der
beliebig wollen konnte und immer denselben rechtlichen Wert hatte; die verfassungs-
gebende Gewalt war verfassungsbegründende, konstituierende Gewalt, die jenseits al-
ler rechtlichen Selbstbindungen und Formen überhaupt erst die extralegalen Bedin-
gungen aller Legalität schuf.33 Mit dieser Diagnose stand Schmitt um 1920
keineswegs allein. Auch ein politisch ganz anders zu verortender Denker wie Walter
Benjamin äußerte im Rahmen einer Kritik des Rechts die Ansicht, dass Recht letztlich
durch eine juristisch nicht ableitbare Gewalt garantiert werde, „Rechtsetzung ...
Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation von Gewalt“
sei.34 Weil, so Benjamins Argument, etwa im Fall polizeilichen Handelns laufend
Rechtsentscheidungen getroffen werden, die ihrerseits nicht vollständig durch das
Recht determiniert sind,35 sabotiert jede Rechtsentscheidung das, was vorausgesetzt
werden muss: die Differenz von Rechtserhaltung und Rechtsentscheidung als Bedin-
gung von Rechtsgeltung.36
155 Je mehr die Geltung des Rechts an Gewalt gebunden wurde, desto deutlicher stellte sich im Gegenzug die
Frage, was denn Recht von bloßer Macht (und Souveränität) unterschied. Wenn das Recht nichts weiter
als das Produkt eines prinzipiell unbegrenzten, schlechthin alles vermögenden Willens war, der beliebig
wollen konnte und immer denselben rechtlichen Wert hatte (um noch einmal Schmitt zu paraphrasieren),
dann fielen Recht und Gewalt am höchsten Punkt der Rechtsquellenhierarchie offensichtlich zusammen,
dann war Rechtsgeltung nichts anderes als Ausdruck politischer Entscheidungsmacht. Aber wenn Recht
nur Faktum politischer Macht und (staatlich sanktionierter) Gewalt war, wie konnte dann überhaupt
noch in gehaltvoller Weise von Recht (und von Rechtstheorie) gesprochen werden? War Rechtsgeltung
dann nicht in Wahrheit ein unmöglicher Begriff, eine contradictio in adjecto?
Es ist exakt dieser Hintergrund, vor dem einerseits Kelsen den Normbegriff als Absprungbasis für eine nor-
mativistische Lösung des Geltungsproblems benutzte (dazu oben Rn. 176ff.). Andererseits ist dieser Hin-
tergrund auch für die noch heute verbreitete Doktrin verantwortlich, derzufolge das geltende Recht aus-
schließlich in den der Verfassung gemäßen demokratischen Verfahren und Bestimmungen erzeugt werde.
Ausgetauscht wird lediglich das Subjekt der Gewalt als letztem Grund aller Rechtsgeltung. An die Stelle des
Staates und seiner „vor-rechtlichen“, „souveränen“ Gewalt tritt die demokratisch legitimierte „Gewalt“ des
Volkes. Für diese demokratietheoretische Geltungstheorie des Rechts hat Ernst-Wolfgang Böckenförde
unter Rückgriff auf das alte – insbesondere in monotheistischen Religionen verbreitete – Bild der Kette

32 Daran knüpft heute G. Agamben an. Vgl. nur ders., Ausnahmezustand, 2004, 45 („Außerhalb der
Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören: das ist die topologische Struktur des Ausnahme-
zustands, und insofern der Souverän ... in seinem Sein über diese Struktur logisch bestimmt ist, kann er
auch durch das Oxymoron einer Ekstase-Zugehörigkeit charakterisiert werden.“). Vgl. zu Agamben,
E. Geulen, Giorgio Agamben zur Einführung, 2009, 56ff.
33
C. Schmitt, Die Diktatur (1928), 1978, 140, 142; ders. (Fn. 31); zu den Differenzen zwischen Schmitt
und Sieyès S. Breuer, Aspekte totaler Vergesellschaftung, 1985, 176ff., 191f.
34
W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze (1921), 1965, 57.
35 Benjamin, ebd., 43 („Diese [die Polizei, T. V.] ist zwar eine Gewalt zu Rechtszwecken (mit Verfügungs-
recht), aber mit der gleichzeitigen Befugnis, diese in weiten Grenzen selbst zu setzen (mit Verordnungs-
recht).“).
36
Vgl. N. Luhmann, Die Rückgabe des 12. Kamels, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), 3ff., 16.
Für eine genauere Analyse der Beziehung Schmitt/Benjamin vgl. nur Ch. Menke, Recht und Gewalt,
2011, 59ff.; Agamben (Fn. 32), 64ff.; T. Hitz, Jacques Derridas praktische Philosophie, 2005, 63ff.;
N. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, 1991, 85ff.; vgl. auch Esposito (Fn. 27), 45f.

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II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie

(aurea catena)37 die Bezeichnung „Legitimationskette“ gefunden.38 Aber die auf das Volk zurückführende
Legitimationskette ist offenkundig ein ebenso politisches Rechtsgeltungskonzept wie dasjenige Schmitts,
das insofern nicht akzeptabel ist, als die Vielfalt der Umwelten der Rechtsordnung, die die Geltung und
Bindungskraft von Rechtsnormen beeinflussen und absichern, nicht auf Akte politischer Gesetzgebung re-
duziert werden kann.

II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie

1. Begriff und historischer Kontext des Naturrechts


Als „Naturrecht“ wird in rechtstheoretischen Zusammenhängen herkömmlicherweise 156
eine Art „höheres“ Recht bezeichnet, das das geltende Recht an bestimmte inhaltliche
Prinzipien bindet, vor allem an Gerechtigkeit und Gleichheit. Naturrechtstheorien
ziehen eine zweite Ebene in das Rechtssystem ein. Sie kreieren ein paradoxes Meta-
Recht, ein „Recht des Rechts“, das kraft seiner überlegenen immanenten Qualitäten
überhaupt erst über die Gültigkeit des (geltenden) Rechts befindet. So ist das Natur-
recht insbesondere im Zuge seiner Wiederentdeckung nach den Verbrechen des Drit-
ten Reiches gesehen worden. Wird das Eigentum von Juden durch gesetzliche Anord-
nung als an den Staat verfallend deklariert, so mag das – während der NS-Zeit –
geltendes Recht gewesen sein; ein solches Gesetz und seine praktische Umsetzung
können aber niemals im Einklang mit der Gerechtigkeit und/oder dem Naturrecht
stehen. Insbesondere Gustav Radbruch hat 1945 in Abkehr von seinem ursprünglich
staatszentrierten Rechtsverständnis in einem knappen, einflussreichen Text – Fünf Mi-
nuten Rechtsphilosophie – die These entwickelt, dass es Gesetze mit einem solchen
Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben könne, „dass ihnen die
Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß“.39
Eine naturrechtliche Geltungsbegründung des Rechts steht heute – wie schon 1945 – vor 157
der Schwierigkeit, auf eine „Natur“ referieren zu müssen, deren Entstehungskontext und
Horizont im Übergang zur modernen (liberalen) Gesellschaft untergegangen ist. Nur im
Kontext der stationären Adelsgesellschaft des Alten Europa war es möglich und konsis-
tent, die Grundlagen der Rechtsgeltung in der Natur zu lokalisieren: Naturrecht setzt die
Vorstellung der Natur als sinnvolles, verpflichtendes und als solches für die Gesellschaft
nicht verfügbares Ordnungsgefüge voraus. Davon unterscheidet sich die moderne Natur-
auffassung grundlegend. Theoretisch wird die Natur schon in der Naturphilosophie zum
Produkt eines theoretischen Entwurfs (vgl. Rn. 73ff.), und praktisch wird die Natur seit
dem take-off der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur „Umwelt“, in die
Wissenschaft und Technik seitdem immer tiefer intervenieren, man denke nur an Gen-
technologie, Stammzellenforschung oder Schönheitschirurgie. Niemand käme heute
mehr auf die Idee, bei Natur an Perfektion zu denken, an einen Naturbegriff, in der der
Stoff (gr. hyle) – wie bei Aristoteles – in einer teleologischen Bewegung nach seinem Ziel-
bild (gr. eidos) strebt, um seinen vorgegebenen Zweck zu erfüllen.40
37 Vgl. nur M. Idel, Ascensions on High in Jewish Mysticism: Pillars, Lines, Ladders, 2005, 188.
38
E.-W. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, 289ff., 302.
39
Vgl. nur G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, 210. Zum Geltungsbegriff 78ff., 167 („Der
Befehlston des Rechtes kennt keine Gnade.“); dazu etwa R. Dreier, Recht, Moral, Ideologie, 1981,
180ff., 186ff.; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, 41ff.
40
Vgl. J. Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, 106ff., 133ff.

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§ 5. Geltung

158 Schon auf Grund der Vielzahl an Autoren und Bewegungen – Sophisten, Stoiker, Ci-
cero, Thomas v. Aquin usw. – ist es nur schwer möglich, über die Geschichte des euro-
päischen Naturrechts seit der Antike verallgemeinerbare Aussagen zu machen.41 Man
kann aber sicherlich die These wagen, dass die Vorstellung eines Naturrechts erst entste-
hen kann, wenn ein von der Perfektion der Natur abweichendes, artifizielles, „positives“
Recht an Kontur gewinnt und die Normativität des Rechts von einer performativen
Schriftlichkeit abhängig wird, die das Recht in präskriptiver, verbindlicher Weise publi-
ziert. Das ist – im Kontext einer Theologisierung des Rechts – wohl erstmals in Alt-Is-
rael und – in einem stärker politischen Kontext – im antiken Griechenland der Fall.42 In
den griechischen Stadtstaaten kommt es um 600 v. Chr. zu einer starken Verschriftli-
chung des Rechts, zu Gesetzesinschriften unterschiedlichster Art, und zu einem ver-
gleichenden Rechtsdenken, das die Dinge, die von Natur sind, von denen zu unter-
scheiden lernt, die auf (künstlicher) Vereinbarung oder (bloßer) Gewohnheit beruhen.
Dabei wird das Naturrecht (gr. physei dikaion) teilweise kritisch gegen das (demokrati-
sche) Stadtrecht in Anschlag gebracht. Das ändert aber nichts an der Vorstellung einer
hierarchischen Abschichtung von physis und nomos, derzufolge Abweichungen von der
Tradition nur im Rahmen einer insgesamt als unverfügbar und invariant geltenden Na-
tur vorstellbar sind. Die Natur wächst hier gewissermaßen als ewig geltendes Recht in
das von Menschen gemachte Recht hinein. Nur das römische Zivilrecht bildet davon
in gewisser Weise eine Ausnahme, als es in (spät-)republikanischer Zeit ein besonderes
Recht hervorbringt, das früh Gegenstand eines juristischen Expertenwissens wird und
bis in das 19. Jahrhundert hinein Gegenstand von Rezeptionen ist, an denen sich das
europäische Juristenrecht immer wieder schult (dazu unten Rn. 261ff., 288ff.).
159 Das frühe griechische Recht der entstehenden Stadtstaaten war ein im Sinne der neueren pragmatischen
Sprachphilosophie (vgl. Rn. 54ff.) handlungsbezogenes, performatives Recht. Es bildete seit früher Zeit ein
relativ striktes Verfahrensrecht aus,43 artikulierte sich im rechten Spruch weiser Männer (oder eines Richter-
königs – basileus) und war von dem Grundgedanken getragen, dass es seit alters her galt und daher auch in
Zukunft weiter gelten würde.44 Recht nahm um 700 v. Chr. bei Homer die Form von epischen Exempeln
an, die in Heldengeschichten verwoben wurden; noch bei Hesiod hat das Recht den Charakter eines implizi-
ten – von Musen eingehauchten – Wissens um das Rechte (und Gute), nicht aber einen explizit regelhaften
Charakter. Erst bei den Vorsokratikern kam es z. B. im homo-mensura-Satz (der Mensch ist das Maß aller
Dinge) zu einer Explikation von Rechtsvorstellungen, aber auch nach der Ausbildung der Unterscheidung
von physis und nomos bei den Sophisten, etwa bei Antiphon,45 in der das Naturrecht kritisch gegen das positive
Recht als Recht des Stärkeren gewendet wurde, blieb die Geltung der Gesetze (nomoi) von einer einheitlichen
Vergangenheit und Überlieferung abhängig. Auch das römische Zivilrecht sattelte auf tradierte (ewig gültige)
Konventionen des Adels auf; als fides bildeten sie im spätrepublikanischen Recht den Kontext, in dem sich das
auf die „guten Sitten“ (bona fides) gegründete Zivilrecht aus der Ursuppe von moralischen, religiösen und
rechtlichen Normen herauslöste, ohne den Bezug zu diesen Kontexten jedoch je zu verlieren.46 Noch im Mit-

41 Bei Luther heißt es dazu: De iure naturae multa fabulamur. Für einen Überblick vgl. etwa E.-
W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002; vgl. auch – in sozialhistorischer
Absicht – S. Breuer, Sozialgeschichte des Naturrechts, 1983.
42
Vgl. dazu J. Assmann, Exodus, 2015, 249ff.; ders., Herrschaft und Heil, 2002, 178ff.; zur Performanz
des Rechts vgl. auch allg. S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012.
43 M. Gagarin, Writing Greek Law, 2008, 13ff., 39ff.
44 E. A. Havelock, Preface to Plato, 1963, 105 („speaking the things that are and those to be and those that
were before“); K. Robb, Literacy and Paideia in Ancient Greece, 1994, 74ff.
45
M. Gagarin, Antiphon the Athenian, 2002, 62ff., 64, 184.
46 Vgl. M.-Th. Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, 167ff., 199ff.; A. Schiavone, The Invention of
Law in the West, 2012; skeptischer im Hinblick auf die Autonomie des römischen Rechts T. Vesting,
Die Medien des Rechts, Bd. 2: Schrift, 2011, 137ff., 158ff.

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II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie

telalter stand das positive Recht (lex positiva) im Schatten der Legeshierarchie, die das Naturrecht und das gött-
liche Recht (lex naturalis, lex divina) oberhalb des praktizierten Rechts ansiedelte.47 Die Natur blieb auch hier
den Prinzipien der Invarianz und Unverfügbarkeit verpflichtet, bei Thomas v. Aquin etwa repräsentiert durch
die Anbindung des Rechtsbegriffs an einen wesenhaft gerechten Gott.

2. Gerechtigkeitsphilosophie
Gerechtigkeit wird in den Digesten als der unwandelbare und dauerhafte Wille defi- 160
niert, jedem sein Recht zu gewähren.48 Diese Definition hat eindeutig griechische
Wurzeln und entspricht etwa der stoischen – Chrysipp zugeschriebenen – Vorstellung,
jedem das zu geben, was ihm gebührt. Gerechtigkeit meint proportionale Gleichheit,
eine harmonische Verbindung der Teile, im Unterschied zur arithmetischen (abstrak-
ten) Gleichheit. Sie ist ganz auf die gerechte Verteilung der Dinge zugeschnitten, auf
die gebührende „Verteilung“ oder „Austeilung“ von (ehrenvollen) Ämtern, Geld oder
anderen Gütern unter der Führungsschicht (Adeligen) eines Stadtstaates (polis). Sie
setzt voraus, dass die Dinge ihrem Wesen nach verschieden sind und es natürliche Dif-
ferenzen gibt, wie z. B. die Differenz zwischen Bürger und Sklaven, Griechen und Bar-
baren oder Männern und Frauen. Für Aristoteles ist die verteilende Gerechtigkeit
(gr. to dianemetikon dikaion, lat. iustitia distributiva) daher ganz selbstverständlich der
Tauschgerechtigkeit (gr. to en tois synallagmasi dikaion, lat. iustitia commutativa) vor-
geordnet.49 Noch Irnerius, der Begründer der Glossatorenschule im Bologna des
12. Jahrhunderts, interpretierte die in römischen Rechtstexten, in den Digesten, tra-
dierte Definition der (verteilenden) Gerechtigkeit auf exakt diese Voraussetzungen
hin: Die Natur teile die Aufgaben und die Plätze in der Gesellschaft zu, und Gerech-
tigkeit sei daran zu messen, dass sie dies beachte.50
Meistens wird im Anschluss an den mittelalterlichen Begriff der iustitia distributiva von „austeilender Ge- 161
rechtigkeit“ gesprochen. Diese Übersetzung ist freilich ungenau, zumal Aristoteles in der entscheidenden
Passage der Nikomachischen Ethik nicht das von Platon in die Philosophie eingeführte Substantiv Gerech-
tigkeit (gr. dikaiosyne) benutzt, sondern in Form des versubstantivierten Adjektivs to dikaion vom „Rech-
ten“ spricht.51 Das ist möglicherweise ein weiterer Hinweis darauf, dass sich – im Unterschied zu der ein-
gangs zitierten Definition aus den Digesten – Recht nicht auf das Substantiv Gerechtigkeit zurückführen
lässt, vielmehr die Entwicklung historisch und systematisch genau umgekehrt verlief. Der substantivische
Gebrauch von Recht als das Gerechte und dessen Überführung in das Kunstwort Gerechtigkeit (dikaio-
syne) ist das Resultat einer evolutionären (historischen) Unwahrscheinlichkeit, die eng mit der Ingebrauch-
nahme der Alphabetschrift in Athen zusammenhängt,52 während Recht in oralen Kulturen – und in Grie-
chenland noch zu Zeiten Homers – ausschließlich an Performanzen geknüpft ist. In der ethnologischen

47
Th. v. Aquin, Summa Theologiae, II, I qu. 91ff.; vgl. Bockenförde (Fn. 38), 225ff.
48
Digesten 1. 1. 10. (Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens).
49 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b, 30ff. Dabei knüpft Aristoteles möglicherweise direkt an Vor-
stellungen Platons an. Jedenfalls grenzt Platon die Gerechtigkeit in Nomoi, 757, als wahrhafte Gleich-
heit, deren nähere Struktur nur die Götter kennen, ausdrücklich von einer bloß (arithmetischen)
Gleichheit nach Maß, Gewicht und Zahl ab.
50
Vgl. G. Post, Studies in Medieval Legal Thought, 1964, 494ff., 540; vgl. auch Luhmann (Fn. 11), 518;
zum mittelalterlichen Recht vgl. auch G. Dilcher, Normen zwischen Oralität und Schriftlichkeit, 2008,
insb. 123ff.
51
Das altgriechische Wort dianemetikon, das Aristoteles zur Kennzeichnung dieser Art von „Gerechtig-
keit“ benutzt, ist von dianemein abgeleitet, was sich wohl am besten mit „verteilen“ übersetzen lässt.
Dianemetikos meint also verteilungsbezogen. Die „austeilende Gerechtigkeit“ wäre deshalb vielleicht
angemessener als „das Rechte verteilend“ zu übersetzen.
52
E. A. Havelock, The Greek Concept of Justice, 1978, insb. 308ff.

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§ 5. Geltung

Forschung ist verschiedentlich gezeigt worden, dass Vorstellungen von Recht oft mit dem Finden des gera-
den oder richtigen Wegs durch den dichten Wald verknüpft sind. Ähnlich existiert auch im frühen griechi-
schen Recht zunächst nur die adjektivische Verwendung von Recht als rechtens, gerade, richtig, fair usw.

162 Mit ihrer Bezugnahme auf eine von Natur vorgegebene Ordnung von Differenzen
steht die verteilende Gerechtigkeit im Gegensatz zur Tauschgerechtigkeit, die bei Aris-
toteles – wie schon bei Platon – eine arithmetische Gleichheit nach Maß, Gewicht und
Zahl meint.53 Für Aristoteles beherrscht die Tauschgerechtigkeit einerseits vertragliche
(„freiwillige“) Beziehungen wie Kauf, Darlehen, Bürgschaft, Nießbrauch, Hinterle-
gung oder Miete, andererseits benutzt Aristoteles diesen Begriff auch für straf- und
schuldrechtliche („unfreiwillige“) Beziehungen wie Diebstahl, Ehebruch, Giftmische-
rei, Kuppelei etc. Als arithmetische Gerechtigkeit, als Gleichheit, ist die Tauschgerech-
tigkeit beispielsweise durch Geld vermittelbar, so wie schon bei Homer – im berühm-
ten Schild des Achilles – der Totschlag durch Geldzahlung gesühnt werden konnte.54
Erst allmählich wird die aristotelische Hierarchie dann umgestülpt. Vermittelt über
Stoizismus, Christentum, Protestantismus und Aufklärung kommt es im westlichen
Kulturkreis allmählich – und nur hier – zu einer Umkehrung der Gewichtung und
schließlich zu einem Vorrang der arithmetischen Gleichheit, der Tauschgerechtigkeit
vor der verteilenden Gerechtigkeit.55 Aus dem (aristotelischen) Grundsatz, Gleiches
gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, wird zunächst – etwa bei Kant – eine
universale formale Gleichheit und schließlich wird daraus – im 19. und 20. Jahrhun-
dert, im Zuge des Aufstiegs der industriellen Massengesellschaft – die Forderung nach
einer materialen Gleichheit zwischen den Menschen, die gerechte Verteilung der Gü-
ter und des materiellen Reichtums in einer Gesellschaft.

3. Moralphilosophie
163 Obwohl die moderne (liberale) Gesellschaft der Tradition des alteuropäischen Natur-
rechts und der mit ihr korrespondierenden Gerechtigkeitsphilosophie sämtliche gesell-
schaftsstrukturellen Grundlagen entzogen hat, übt die Unterscheidung von Natur-
recht und positivem Recht noch immer eine große Anziehungskraft insbesondere auf
die Rechtsphilosophie aus. Noch immer wirkt sie dort als Auslöser, Rechtsgeltung in
der Ethik bzw. in einem moralphilosophischen Gerechtigkeitsdiskurs zu suchen und
zu fragen, ob das geltende Recht einer normativen Begründung bedarf bzw. ob Ge-
rechtigkeit (im Sinne von arithmetischer Gleichheit) eine unabdingbare Komponente
positiver Rechtsgeltung sei. John Rawls hat dafür einen Gültigkeits- oder Legitimitäts-
test entworfen, den „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance),56 der das Treffen
von grundlegenden Gerechtigkeitsentscheidungen auf einen hypothetischen Urzu-
stand der Gleichheit rückbezieht und Gerechtigkeit als Verfahrensgerechtigkeit ausge-
staltet. Ronald Dworkin konstruiert die Bindung des Geltungsbegriffs an substantielle
(Gerechtigkeits-)Vorgaben über eine zielorientierte Theorie der individuellen Frei-
heitsrechte, in der diese als (konkrete) politische Ziele behandelt werden.57 Die wohl
53 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b, 30ff.
54 Vgl. dazu E. Cantarella, Dispute settlement in Homer once again on the shield of Achilles, 2002,
147ff.; Gagarin (Fn. 43), 13ff.
55
H. Krämer, Integrative Ethik, 1992, 60, 63.
56 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, 159ff.; vgl. dazu einführend R. Dreier, Recht – Staat –
Vernunft, 1991, 8ff., 29.
57
R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1984, 93.

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II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie

prominenteste Theorie, die am Erfordernis einer egalitären (Be-)Gründung des Rechts


festhält, ist aber wohl die Diskurstheorie des Rechts, wie sie von Jürgen Habermas ent-
wickelt worden ist und von anderen, wie Klaus Günther und Rainer Forst als Theorie
der Angemessenheit oder als Theorie der Rechtfertigung im Sinne einer Mobilisierung
von Rechtsgründen weitergeführt wird (vgl. Rn. 28ff.).
Den Ausgangspunkt der Diskurstheorie des Rechts bildet die schon von Max Weber 164
aufgeworfene Frage nach der Legitimität „legaler Herrschaft“. Diese wird bei Haber-
mas zur Frage nach den (stillschweigenden) Voraussetzungen, „von denen die Mitglie-
der einer modernen Rechtsgemeinschaft ausgehen müssen, wenn sie ihre Rechtsord-
nung, ohne sich dabei auf Gründe religiöser oder metaphysischer Art stützen zu
dürfen, sollen für legitim halten können“.58 Rechtsordnung und politische Ordnung
sind in der Diskurstheorie des Rechts eng miteinander verknüpft. Die nach Habermas
u. a. unausweichliche Frage nach der Legitimität des Rechts wird entschieden in
Richtung einer „normative(n) Begründung der rechtsförmigen Ausübung politischer
Herrschaft“ ausformuliert.59 Die gesamte Theorieanlage bleibt daher – wenn auch
spiegelverkehrt – auf die oben beschriebene staatszentrierte Tradition der Rechtsquel-
lenhierarchie fixiert: Das Zentrum der Diskurstheorie des Rechts ist das politische Pro-
jekt einer „Zivilgesellschaft“, die je nach Abstraktionsebene entweder auf eine „Repub-
lik von Weltbürgern“ oder auf das „politische Gemeinwesen“ projiziert wird.60 Es geht
in der Diskurstheorie also streng genommen nicht um eine Analyse der möglicher-
weise ganz unterschiedlichen Entstehungsgründe von Rechtsgeltung, der Analyse der
Diskurse und Dinge, die zum absolut bindenden Charakter von Recht beitragen,
sondern um eine Generalisierung der politischen Gesetzgebung zur universalen
Rechtsquelle, die auf eine Theorie der Rechts- und Staatserzeugung durch die „Selbst-
gesetzgebung von Bürgern“,61 auf Rechtskreation durch öffentliche Deliberation
hinausläuft. Peter Niesen und Oliver Eberl bringen diese Intention in einem neueren
Artikel zum „demokratischen Positivismus“ auf die Formel einer „demokratischen
Programmierung staatlicher Instanzen“.62
Um eine demokratische Programmierung des Rechts staatlicher Instanzen leisten zu 165
können, weist Habermas den unmittelbaren Rückgriff auf das Naturrecht und ältere
(mittelalterliche) Vorstellungen der Legeshierarchie zurück. Dem positiven Recht
bleibt zwar über die Legitimitätskomponente der Rechtsgeltung ein Bezug zur Moral
eingeschrieben,63 damit soll die Unterscheidung von Recht und Moral aber nicht ein-
fach aufgehoben werden. Im Unterschied zu Autoren wie Ralf Dreier und Robert
Alexy, denen zufolge das Grundgesetz die Hauptformeln des Vernunftrechts u. a. in
Art. 1 bis 20 GG inkorporiert hat,64 geht Habermas davon aus, dass sich unter moder-
nen Bedingungen rechtliche und moralische Regeln gleichzeitig ausdifferenzieren und

58
J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1996, 166; vgl. auch M. Neves, Zwischen Themis und Leviathan,
2000, 88ff.
59
Habermas (Fn. 58), 12.
60 Habermas, ebd., 139; dazu kritisch K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 59f., 125f.
u. ö.
61
Habermas (Fn. 58), 153.
62
P. Niesen/O. Eberl, Demokratischer Positivismus: Habermas und Maus, 2009, 3ff., 4 (diese Idee dürfte
ihrerseits stark von Ingeborg Maus beeinflusst sein).
63 Habermas (Fn. 58), 137.
64
Dreier (Fn. 39), 124; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 16, 405.

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§ 5. Geltung

als unterschiedliche Arten von Handlungsnormen nebeneinander treten – eine Rela-


tion von positivem Recht und autonomer Vernunftmoral, die Habermas auch als „Er-
gänzungsverhältnis“ bezeichnet.65 Die genauere Natur dieses Ergänzungsverhältnisses
bleibt aber eher unbestimmt. Habermas tendiert jedenfalls dazu, die „postkonvention-
ellen“ Anforderungen der Vernunftmoral über das Recht zu stellen und das Feld der
Rechtsgeltung damit zugunsten der Geltung universaler moralischer Normen ein-
grenzen bzw. Rechtstheorie auf eine bestimmte Form universaler Moralphilosophie
festlegen zu wollen. Das ist jenseits der Frage nach der inneren Bewegkraft der Rechts-
verbindlichkeit auch insofern eine nicht unproblematische Lösung der Rechtsgel-
tungsthematik als – von Kant aus gesehen – der Vernunftwille hier die Gestalt eines
„Verständigungswillens“ annimmt; eines Verständigungswillens, der sich als „Gel-
tungsanspruch“ solange in das „faktische Kommunikationsgeschehen“ einfügt, solange
das Diskursverfahren „nicht abgebrochen“ wird und solange „keine Kommunikations-
verweigerer“ auftreten.66
166 Den Hintergrund für die Vorstellung von notwendigen Bedingungen einer moralge-
steuerten Verständigung über Rechtsgeltung bildet eine Diskursethik, die zunächst
auf der Ebene von Handlungsnormen (Verhaltenserwartungen) als Verfahrensregel
formuliert wird. Danach ist eben auch die Geltung von Rechtsnormen von einem
Konsens aller Vernünftigen bzw. aller Diskursteilnehmer abhängig. Es sind nur solche
Handlungsnormen gültig, „denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an
rationalen Diskursen zustimmen können“.67 Daran schließt Habermas weitere Kon-
kretisierungsstufen für das Rechtssystem und insbesondere für die Grundrechte an,
die im Ergebnis Rechtsgeltung – wie schon bei Rawls und Dworkin – an das größt-
mögliche Maß gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten binden.68 Im Prinzip re-
aktualisiert Habermas damit den alten römisch-rechtlichen Grundsatz, dass das, was
alle angeht, von allen gebilligt werden muss (quod omnis tangit, omnibus tractari et ap-
probari debet).69 Habermas liest dies offensichtlich als Hinweis auf die Möglichkeit
einer „demokratischen Behandlung“ sämtlicher praktischer Fragen und leitet daraus
ab, dass das Demokratieprinzip nicht nur ein Verfahren legitimer Rechtsetzung (unter
anderen) festlege, sondern die Erzeugung des Rechts in seiner Gesamtheit selbst
steuern müsse. „Deshalb muß mit dem System der Rechte zugleich die Sprache ge-
schaffen werden, in der sich eine Gemeinschaft als eine freiwillige Assoziation freier
und gleicher Rechtsgenossen verstehen kann.“70
167 Die Diskursethik baut ihrerseits auf eine universalpragmatische Kommunikationstheorie auf. In deren
Zentrum stehen die Ideen einer „idealen Sprechsituation“ und einer „idealen Kommunikationsgemein-
schaft“. Im Unterschied etwa zum naturalistischen Sprachkonzept Wittgensteins geht Habermas davon

65 Habermas (Fn. 58), 5, 137.


66 Zu dieser Kritik vgl. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, 2006, 152, 153.
67
Habermas (Fn. 58), 138.
68
Habermas, ebd., 155ff.
69
Diese Regel findet sich u. a. im Liber Sextus von Papst Gregor IX. Sie bezog sich anfänglich auf den Fall,
dass eine Mehrheit von Vormündern (tutores), die eine gemeinschaftliche Vormundschaft (tutela) inne-
hatten, nicht ohne Zustimmung aller aufgehoben werden konnte. Aber schon im 12. und 13. Jahrhun-
dert wurde dieser Grundsatz als Argument für das Repräsentationsprinzip in Körperschaften verwendet
und zur Begründung einer juristischen Theorie der Begrenzungen der Befugnisse der Bischöfe und
Fürsten im Verhältnis zu Mitgliedern ihrer Körperschaften, insbesondere zur Beschränkung ihrer
Handlungsvollmacht bei Geschäften oder Rechtsstreitigkeiten, herangezogen.
70
Habermas (Fn. 58), 142f.

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III. Dynamisierung

aus, dass Sprache ein immanentes Rationalitätspotential innewohnt, ja dass der Sprachgebrauch Rationa-
lität und Vernunft selbst hervorbringt. In das Sprechen-Können ist ein universelles Können, eine „Gat-
tungskompetenz“, eingelassen, von der man zu Recht bemerkt hat, dass sie eine latent juridische Struktur
insofern aufweise, als Sprechen-Können bei Habermas eng mit der Möglichkeit des Recht-Haben-Kön-
nens verknüpft sei.71

III. Dynamisierung

1. Positives Recht
Das, was die Rechtstheorie heute unter dem Stichwort der Rechtsgeltung behandelt, 168
wird seit dem 19. Jahrhundert und teilweise noch heute als „positives“ Recht bezeich-
net. Dieser Sprachgebrauch wird in Deutschland mit den rechtspositivistischen Syste-
mentwürfen üblich (vgl. Rn. 93),72 und der Begriff positives Recht hatte hier vor allem
die – eng mit der Rechtsquellenlehre verknüpfte – Funktion, das geltende (positive)
Recht von dem abzugrenzen, was nicht Recht ist, das geltende (positive) Recht also
insbesondere aus seinen Verknüpfungen mit sittlichen, religiösen oder sonstigen ver-
bindlichen Normen und Handlungsmustern herauszulösen.73 Das „positiv“ im Begriff
des positiven Rechts geht etymologisch auf das mittelalterlich-lateinische positivus, po-
situm und ponere (ponere, setzen, stellen, legen) zurück, das wiederum – jedenfalls in
der rechtshistorischen Literatur – von gr. legei dikaion abgeleitet wird.74 Während die
griechische Wurzel zweifelhaft sein dürfte (der Sinn von positivus dürfte eher im Um-
feld der physis/nomos-Unterscheidung zu finden sein), ist die Bedeutung von positivus
als gesetzt, erlassen, erfunden im Spätmittelalter (um 1200) auch in Verbindung mit
Recht (ius) und Gesetz (lex) nachweisbar.75 Jus positum lässt sich daher – mit dem
Rechtshistoriker Franz Wieacker – als „gesetztes Recht“, ius positivum als „die auf ‚Set-
zung‘ beruhende Rechtsordnung“ übersetzen.76
„Setzung“ meint im Zusammenhang mit dem Begriff des positiven Rechts die Vorstel- 169
lung, dass man Recht machen, d. h. künstlich entweder durch längere und allgemeine
Übung (consuetudo) herstellen oder durch ein zur Rechtsetzung befugtes Organ inner-
halb einer Gemeinschaft, eines Gemeinwesens, absichtsvoll schaffen kann. Vor allem
die letzte Möglichkeit, die Vorstellung der absichtsvollen Rechtsetzung innerhalb einer
Gemeinschaft (eines Dorfes, Marktfleckens, Stadtstaats, Fürstentums, Königreichs
etc.) verweist zwar unmittelbar auf das Feld der Politik und des Staates, aber – und
das wird häufig übersehen – dieser Verweis muss im Kontext und Horizont der Adels-
gesellschaft des Alten Europa gelesen werden: Der Setzungsbegriff ist genetisch an die
naturrechtliche Rechtsauffassung der alten Zivilgesellschaft (societas civilis) gekoppelt,
71 S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 2001, 91.
72
Der Begriff selbst wird allerdings schon bei G. Hugo, Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosophie
des positiven Rechts, 1798, verwendet. In England beschreibt sich das geltende Recht seit Jeremy Ben-
tham (1748–1832) als positiv.
73 Vgl. nur G. F. Puchta, Lehrbuch der Pandekten, 1863, 33 („Die rechtliche Beurtheilung der Verhält-
nisse ist selbstständig gegenüber den sittlichen und religiösen.“); vgl. dazu H.-P. Haferkamp, Methode
und Rechtslehre bei Georg Friedrich Puchta, 2012, Rn. 213ff., 256; D. Wielsch, Freiheit und Funktion,
2001, 114ff.
74 Wieacker (Fn. 13), 1996, 431 Fn. 5 m.w.N.
75 Eintrag Positiv, Positivität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989, 1110.
76
Wieacker (Fn. 13), 431 Fn. 5.

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§ 5. Geltung

die die „Natur“ stets als das Nicht-Gesetzte, Nicht-Änderbare und Nicht-Kontingente
vorausgesetzt hatte. Positives Recht bestimmt sich also zunächst allein durch den Ge-
gensatz von „Recht“ und „Natur“ in dem Sinn, dass das positive Recht dem entgegen-
gesetzt ist, was von Natur aus besteht, was die Natur gemacht hat, was überall gleich ist
und was der Mensch nicht verändern kann, wie etwa die schon von Aristoteles
beobachtete Tatsache oder Erfahrung, dass Feuer in Persien genauso brennt wie in
Athen. Und erneut ist die Unterscheidung als Hierarchie gebaut: Die Natur als das
Unveränderliche und Vorbildhafte ist die limitierende Voraussetzung, von der alle
Rechtsgeltung, alle „Positivität“ des Rechts, zehrt.
170 Der frühen griechischen „Gesetzgebung“ während der archaischen Zeit kann man nicht den Charakter
einer Kodifikation positiven Rechts unterlegen. „Gesetzgebung“ war hier zunächst Aufzeichnung, Einker-
bung oder Einschreibung oral tradierter Formeln und Sprüche in Stein.77 Erst mit dem Aufflackern des
Experiments der Demokratie kommt ein Moment der Setzung in die Festigkeit und Unveränderlichkeit
der oralen Rechtstradition hinein; und erst die Sophisten bringen die klare Differenz von gesetztem
Recht/Gesetz (nomos) und Natur (physis) als zweier entgegengesetzter Weisen von Regelhaftigkeit hervor.
Auch die sophistische physis/nomos-Unterscheidung lässt sich aber nicht als Ausdifferenzierung einer eigen-
ständigen Sphäre der Rechtsgeltung interpretieren. So wird die Unterscheidung von physis und nomos in
einem Antiphon-Fragment beispielsweise dahingehend benutzt, die Anforderungen der Gesetze (nomoi)
als ergänzend, die Anforderungen der Natur (physis) als notwendig zu beschreiben. Dominant bleibt also
der Bezug auf die Natur: Die Regeln der Natur werden mit Wahrheit (gr. alétheia, Unverborgenheit,
Nicht-Verdeckt-Sein) assoziiert, während die Gesetze der Stadtstaaten auf die Mehrheit der Meinungen
(doxa) bezogen sind, gegen die man jederzeit verstoßen kann, solange man nicht entdeckt wird.78
Rechtsgeltung blieb in Griechenland über seine Frühzeit hinaus eng mit den Normbeständen anderer so-
zialer Handlungskontexte (Riten, Sitten, Brauch, Konventionen) verknüpft. Noch im Athen der klassi-
schen Zeit existierte kein einheitlicher (objektiver) Rechtsbegriff wie das römische ius, und noch hier
sprach die griechische Rechtskultur dem althergebrachten ungeschriebenen Recht (agraphoi nomoi) eine
höhere Geltungskraft zu als dem geschriebenen („positiven“) Stadtrecht (gegrammenoi nomoi).79 Das hängt
vielleicht auch damit zusammen, dass die griechische Philosophie, obwohl Erfinder des „Denkens zweiter
Ordnung“,80 nie eine eigenständige Reflexionspraxis des Rechts, nie eine eigenständige Form der juristi-
schen Expertise, wie später die Römer, ausgebildet hat. Auch Platon entwarf keine Theorie „positiver“
Rechtsgeltung, sondern eine allgemeine Theorie der Gerechtigkeit (dikaiosyne), die nicht auf einen be-
stimmten Handlungsbereich beschränkt war, sondern eine – von verschiedenen – Tugenden in der polis
beschrieb und daher unauflöslich mit der Vorstellung einer gerechten politischen Seinsordnung verknüpft
war. Bei Aristoteles war das Rechte (gr. tò dikaion, von dikaion, gerecht, rechtens) Teil der Ethik und diese
Ausdruck einer allgemeinen Theorie menschlichen Handelns, die die Natur als sinnvoll geordnetes und
verpflichtendes Ordnungsgefüge voraussetzte, aber keine Geltungstheorie des „positiven Rechts“.

171 Das Mittelalter verwendete positivus ebenfalls im Unterschied zu natürlich. Das Spät-
lateinische (2.–6. Jahrhundert n. Chr.) kannte das Wort u. a. als dasjenige, was nicht
von Natur aus besteht, sondern durch Setzung oder Kunst erzeugt wird (non natura,
sed positione, arte constitutum). In rechtlichen Zusammenhängen wurden im 12. Jahr-
hundert positive und natürliche Gerechtigkeit – iustitia positivus und iustitia naturalis –

77
Die Griechen benannten die Gesetze oft nach dem Medium, in dem sie realisiert wurden, z. B. to gra-
phos (das Geschriebene) oder einfach grammata (die Buchstaben). Vgl. zu dieser Entwicklung Robb
(Fn. 44), 85ff., 99ff., 103; K.-J. Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archa-
ischen Griechenland, 1999, 60ff., 262ff.; vgl. auch R. Thomas, Writing, Law, and Written Law, 2005,
41ff., 48.
78
Zu dem Fragment vgl. Gagarin (Fn. 45), 184. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird da-
raus, dass „die Gebote der Gesetze willkürlich, die der Natur dagegen notwendig sind“.
79 Vgl. dazu Robb (Fn. 44), 147f.
80
Y. Elkana, Die Entstehung des Denkens zweiter Ordnung im antiken Griechenland, 1987, 52ff.

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III. Dynamisierung

unterschieden; Elternliebe galt als natürliche, das Hängen von Räubern als erfundene
(positive) Gerechtigkeit.81 Erneut scheint hier der Begriff der Natur als etwas Festes,
Unwandelbares und Vorbildhaftes durch: Die Geltung des Rechts ist weiterhin in
einer nicht-empirischen Seinsordnung verankert, deren Gesetze das menschliche Han-
deln nur verfehlen, gegen die es aber nicht dauerhaft verstoßen kann. Das Recht ruht
noch im Mittelalter auf einer festen ontologischen Verankerung; der Naturbegriff wird
jetzt allenfalls stärker als in der Antike mit der Existenz eines wesenhaft gerechten Got-
tes verbunden, so dass göttliches und natürliches Recht weitgehend zusammenfallen.
Diese Prädominanz des Naturbegriffs war auch im 16. Jahrhundert noch präsent. In
der frühen Neuzeit wurde die autoritative Verkündung des Rechts (ius) als Gesetz
(lex) zwar zum Merkmal des geltenden Rechts, aber die Geltungsgrundlage und
Grenze des Gesetzes blieb auch hier das Naturrecht im Sinne der Auffassung der socie-
tas civilis des Alten Europas.82
Die Verknüpfung von Gesetzesbegriff und Voluntarismus stand vor allem bei Jean Bodin in engem Zu- 172
sammenhang mit der Herausbildung des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffs und des modernen Territo-
rialstaates. Darauf reagierte Bodin in seinen Sechs Büchern über den Staat (ab 1576) mit der Unterschei-
dung von Recht (ius) und Gesetz (lex) und der Bindung des Gesetzesbegriffs an einen „commandement
du souverain“, der wiederum auf eine „pure e franche volonté“ zurückgeführt wurde,83 eine Umpolung
der Rechtsgeltung von Natur auf Willen (absichtsvolle Setzung), die an den theologischen Voluntarismus
des Spätmittelalters (Wilhelm v. Ockham) anknüpfte.84 Bodin ging es darum, den Gesetzesbegriff aus dem
Kontext eines als unveränderlich geltenden Naturrechts zu lösen, das Gesetz für den Fürsten fungibel zu
machen und es dadurch insgesamt zu dynamisieren; deshalb wurden die Gesetze jetzt über das Gewohn-
heitsrecht (coutume) gestellt. Damit sollte das Gesetz im Willen des Königs, aber nicht jenseits des Willens
Gottes, der Natur und der Konventionen der Adelsgesellschaft fundiert werden; es sollte im fürstlichen
Gesetzesrecht also keinesfalls beliebig oder gar willkürlich zugehen. „Somit erstreckt sich also die absolute
Gewalt der Fürsten und souveränen Herrschaften in keiner Weise auf die Gesetze Gottes und der Natur
und der beste Kenner der absoluten Gewalt [Papst Innozenz IV, T. V.]... hat gesagt, sie erlaube nur, vom
gewöhnlichen Recht, nicht aber von den Gesetzen Gottes und dem Naturrecht abzuweichen.“85 In Bodins
Neuformulierung des Konzepts der Souveränität stand mit anderen Worten die Kopplung des Gesetzes an
die Funktionsbedingungen der königlichen Monarchie im Vordergrund, die Bewahrung von Rechtssicher-
heit und die Sicherung von Vertrauen (fiance) in die gleichbleibende Gültigkeit der bestehenden Gesetze,
und nicht so sehr die Möglichkeit der Schaffung neuer Regeln durch die Gesetzgebung.86

Dieser historische Kontext darf nicht ausgeblendet werden, wenn man den Begriff des 173
positiven Rechts richtig verstehen will. Gerade weil der Begriff des positiven Rechts
seine Bestimmung und Bestimmtheit im Spiegel des Naturrechts erfährt, also auf
einen Bruch mit der traditionellen (ontologischen) Geltungsbegründung des Rechts
verweist, geht es hier nicht um eine Umpolung der Rechtsgeltung auf Willkür oder Be-
liebigkeit. Die Vorstellung, dass alles geltende Recht positives Recht ist, ist ein Erbe
der neuzeitlichen praktischen Philosophie, der philosophia socialis, und diese ist durch
das Systemdenken eines rationalen Subjekts bestimmt, wie es die Naturphilosophie
hervorgebracht hat (vgl. Rn. 73ff., 83ff.). Schon in der frühliberalen Tradition ist

81
Eintrag Positiv, Positivität (Fn. 75), 1110.
82 Luhmann (Fn. 11), 511f. m.w.N.; vgl. dazu aber auch P. Kondylis, Konservatismus, 1986, 72f., der den
Bruch stärker betont.
83
J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1583), 1981, F 133 – hier zitiert nach Kondylis (Fn. 82), 73.
84
Vgl. dazu Luhmann (Fn. 11), 519 m.w.N.
85 Bodin (Fn. 83), 1981, F 133.
86 Vgl. nur E. Hinrichs, Ancien Régime und Revolution, 1986, 9ff., 19; und T. Vesting, Die Medien des
Rechts, Bd. 3: Buchdruck, 2013, 81ff. m.w.N.

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§ 5. Geltung

Rechtsgeltung zwar mit Künstlichkeit und Kontingenz verknüpft, d. h. die Autorität


und Geltung des Rechts wird von einem (stillschweigenden) Gesellschaftsvertrag oder
allgemeiner: von den Konventionen einer modernen Lebenswelt abhängig, die ihrer-
seits nicht weiter begründet werden können. Rechtsgeltung bleibt aber auch und ge-
rade als Gesetzgebung – sowohl in England als auch auf dem Kontinent – zunächst
mit der naturphilosophisch (geometrisch-mathematisch) entwickelten Rationalität
des allgemeinen (Bewegungs-)Gesetzes verknüpft; schon Descartes vergleicht die Ge-
setzgebung durch den König mit der Konstitution der mathematischen Wahrheit
durch Gott. Darin ist zwar der Gedanke angelegt, dass so wie Gott eine andere Mathe-
matik auch ein anderes Recht hätte schaffen können.87 Das neuzeitliche Gesetz ver-
körpert aber dennoch eine universale Regelhaftigkeit der Dinge, die auf das Allge-
meine als das Andere des Subjekts verweist, das dieses Subjekt zu einem Teil seiner
selbst machen muss. Damit kommt mehr Artifizialität und Dynamik in das Recht als
es in den naturrechtlichen Systemen möglich war, aber keineswegs mehr Willkür.
„Though the rules of justice be artificial, they are not arbitrary.“88
174 In der rechtshistorischen Literatur hat sich für die Umstellung der naturrechtlichen
Geltungsbegründung auf positives Recht auch der Begriff des „Vernunftrechts“ einge-
bürgert.89 Damit wird – bei aller Problematik des Vernunftbegriffs – doch richtig zum
Ausdruck gebracht, dass Rechtsgeltung in der modernen (liberalen) Gesellschaft nicht
mehr durch den Rekurs auf eine prinzipiell fremde und unverfügbare Natur erfolgt,
sondern nur noch in gesellschaftlichen Konventionen (Hume) oder – idealistisch – im
allgemeinen Gesetz (Kant) bzw. im Geist (Hegel) verankert werden kann. „Der Boden
des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der
Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht
und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus
ihm selbst hervorgebracht, als seine zweite Natur ist.“90 Aber noch diese Gleichsetzung
von „Geistigem“ und „zweiter Natur“ in Hegels Rechtsphilosophie von 1821 zeigt,
wie sehr die Idee des positiven Rechts antithetisch auf die Natur und das Naturrecht
fixiert bleibt. Das positive Recht wendet sich – nicht nur auf dem Kontinent, sondern
auch im Common law – gegen die fiktiven Grundlagen der Rechtsgeltung kraft Her-
kommens. Es setzt der Annahme eines unvordenklichen Ursprungs des alten guten
Rechts einen rationalen Anfang entgegen, eine Rückführung aller Rechtsgeltung auf
einen vernünftigen (allgemeinen) Willen. Man könnte auch formulieren, dass der An-
nahme eines unvordenklichen Ursprungs im antiken Recht im modernen Recht ein
anderer und jetzt literarischer Mythos entgegengesetzt wird, der etwa bei Thomas
Hobbes die sprachliche Form der Vertragsmetapher annimmt, eines Als-ob, einer Fik-
tion, die aber gleichwohl weitreichende praktische Wirkungen zeitigt.91 Das gilt noch
für den rechtswissenschaftlichen Positivismus. Erst im Zuge der Konsolidierung des
(deutschen) Nationalstaats, erst im Gesetzespositivismus des späten 19. Jahrhunderts,
tritt dieser Zusammenhang, dieser Rekurs auf einen neuen Rechtsgründungsmythos,
so sehr in den Hintergrund, dass er schließlich ganz vergessen wird.

87 Waldenfels (Fn. 66), 125.


88
D. Hume, A Treatise of Human Nature (1739), Book III, Part II, Sec. I, 428.
89
Vgl. nur Wieacker (Fn. 13), 249ff; vgl. auch Weber (Fn. 23), 496 („formal-rational“).
90 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1970, § 4.
91 Vgl. nur V. A. Kahn, The Future of Illusion, 2014; S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, 2004,
153ff.; A. Koschorke, Der fiktive Staat, 2007, 108ff.

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III. Dynamisierung

An diesen Diskussionsstand des späten 19. Jahrhunderts knüpft dann die bis heute 175
verbreitete Vorstellung an, Rechtsgeltung auf einen willensförmigen Setzungsakt zu re-
duzieren bzw. auf das von den zuständigen Organen in vorgesehener Weise gesetzte
Recht.92 Noch die frühen rechtssoziologischen Arbeiten von Niklas Luhmann stehen
in dieser Linie: Positives Recht wird mit Gesetztheit, Entscheidungsabhängigkeit und
Änderbarkeit assoziiert, mit der Notwendigkeit einer Selektionsleistung aus einem
Überschuss von Möglichkeiten.93 Wäre diese Annahme richtig, wäre Recht in der
modernen (liberalen) Gesellschaft eine beliebige „Steuerungsmasse“ der zu seiner Set-
zung ermächtigten politischen Institutionen im Rahmen der verfassungsrechtlichen
„Verhältnismäßigkeit“. Dann wäre Rechtsgeltung im besten Fall deckungsgleich mit
der sich in Reaktion auf den beschleunigenden gesellschaftlichen Wandel seit dem
Ersten Weltkrieg herausbildenden Gesetzgebungstätigkeit des Wohlfahrtsstaates. Im
schlimmsten Fall wäre alles Recht jedoch Produkt der unbegrenzten Willkür politi-
scher Diktatoren (Stalin, Hitler, Mussolini etc.). Darin zeigt sich aber schon das ganze
Problem der staatszentrierten Umpolung der rechtspositivistischen Rechtsquellen-
lehre. Kann man Rechtsgeltung tatsächlich zum ausschließlichen Produkt politischer
Gesetzgebung erklären und alle anderen sozialen Zusammenhänge, in denen sich Pro-
zesse rechtlicher Normbildung vollziehen, einfach übergehen?

2. Normative Geltungsbegründung
Einen äußerst zwiespältigen Versuch, den Geltungsbegriff von allen machtpolitischen 176
Implikationen abzulösen, ihn aber gleichzeitig für einen Bedeutungszuwachs der poli-
tischen Rechtsetzung und Gesetzgebung zu öffnen, unternimmt Kelsen mit einer rein
„normativen Geltungsbegründung“ des Rechts.94 Ausgangspunkt dieses Unterneh-
mens ist eine – an den Neukantianismus angelehnte – Fundierung der Rechtstheorie
als Erkenntnistheorie. Danach konstituiert erst die rechtswissenschaftliche Beobach-
tung das Recht als System.95 Das mag als Prämisse noch akzeptabel sein, aber Kelsen
verknüpft diese Erkenntnistheorie mit einer Zwei-Welten-Lehre, der zufolge das
Rechtssystem als einheitlicher Sinnzusammenhang einem anderen Objektbereich an-
gehört als natürliche, in Raum und Zeit sinnlich wahrnehmbare Ereignisse wie z. B.
Kommunikationen bzw. Sprechakte oder andere soziale Handlungen. Im Unterschied
zum System der Natur, dessen Ereignishaftigkeit vollständig durch Kausalität determi-
niert ist, ist das Rechtssystem durch die einer (Sprach-)Handlung attribuierte recht-
liche Bedeutung bestimmt, die eine spezifisch juristische Zurechnung zur Geltung
bringt: Erst Rechtsnormen als Deutungsschemata verleihen dem tatsächlichen Gesche-
hen/Verhalten einen spezifisch rechtlichen Sinn. Neben die kausal-gesetzlich determi-

92 Vgl. nur H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 9, 201; R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts,
2002, 143 (so zum „juristischen“ Geltungsbegriff ).
93
N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, 210 („Wir können diesen Begriff der Positivität demnach auf die
Formel bringen, daß das Recht nicht nur durch Entscheidung gesetzt (das heißt ausgewählt) wird, son-
dern auch kraft Entscheidung (also kontingent und änderbar) gilt.“); ders., Ausdifferenzierung des
Rechts, 1981, 124 („als Auswahl aus anderen Möglichkeiten und damit als jederzeit änderbar erlebt
wird“); vgl. dazu Neves (Fn. 58), 69ff.
94
Kelsen (Fn. 92), 364.
95 Kelsen, ebd., 74; daran anknüpfend etwa M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein ..., 2006, 28
Fn. 83; Alexy (Fn. 92); vgl. auch O. Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentaris-
muskritik, 1999, 63ff.

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§ 5. Geltung

nierte Ordnung der Natur tritt damit eine normative Welt der wissenschaftlichen Er-
zeugung und Ordnung allen Rechts zu einem stufenförmigen System.
177 Der rechtliche, in Deutungsschemata gespeicherte Sinn des positiven Rechts wird genauer
als mentales, dem Bewusstsein unmittelbar gegebenes „Sollen“ im Unterschied zum
„Sein“ bestimmt.96 Darauf sattelt der Geltungsbegriff auf: Geltung bezeichnet die spezifi-
sche Existenzweise einer Rechtsnorm, die Bedeutung eines normsetzenden Aktes, mit
dem irgendein menschliches Verhalten befohlen, angeordnet, vorgeschrieben oder erlaubt
wird.97 Der Bedeutungsbegriff selbst bildet hier das Verknüpfungsglied, um den Gel-
tungsbegriff von allem empirischen Sprach- und Mediengebrauch abzulösen und auf eine
rein ideelle – mit Husserl könnte man sagen: noumenale – Ebene abschieben zu können:
Die Geltung der Soll-Norm ist weder mit dem Willensakt der Autorität zu verwechseln,
die die Norm in Geltung gesetzt hat, noch mit ihrer tatsächlichen Wirksamkeit (Befol-
gung). Geltung im Sinne objektiver Soll-Geltung ist vielmehr ein intrinsischer Wert des
unserem Bewusstsein gegebenen Sollens und damit des Rechtssystems, der an der Spitze
des Systems durch die Grundnorm gesetzt wird und von dort aus, bei jeder Operation,
auf alle Stufen des Systems durchgereicht werden kann. Die Grundnorm ist wiederum
kein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand der Rechtsordnung, sondern muss wie eine
Art Stoppregel vorausgesetzt werden, sonst ist der unendliche Regress der Ableitung der
Rechtsgeltung unvermeidlich und die Frage, warum geltendes Recht überhaupt befolgt
werden soll, unentscheidbar. Befehle der Vater dem Kind, zur Schule zu gehen, so erläutert
Kelsen, müsse ab einem bestimmten Punkt der Ableitung eine normsetzende Autorität
vorausgesetzt werden, „die in letzter Linie diese Weise der Normsetzung statuiert“.98
178 Dieses Stufenmodell ist mit dem schwerwiegenden Nachteil verbunden, Rechtsgel-
tung nur noch wissenschaftlich oder erkenntnistheoretisch begründen zu können. Da-
mit werden die epistemologischen und medialen Grundlagen von Rechtsgeltung mehr
oder weniger ausgeblendet. Kelsen bestreitet zwar nicht, dass ein „Minimum an soge-
nannter Wirksamkeit“ eine Bedingung von Normgeltung sei,99 zumal eine Rechtsord-
nung per definitionem eine „Zwangsordnung“ ist, die im Gegensatz zur Moral an
„normwidersprechendes Verhalten“ einen „gesellschaftlich organisierten Zwangsakt“
knüpft.100 Aber auch eine im Großen und Ganzen effektive Rechtsordnung, eine
durch staatliche Zwangsakte gesicherte Rechtswirksamkeit, ist „nicht die Geltung
selbst“.101 Rechtsgeltung ist eben das Ganz-Andere, das – ähnlich wie Walter Benja-
mins Sprache102 – den Kontrapunkt zur staatlichen Gewalt bildet und dieser vollstän-
dig unzugänglich sein soll. Aber die Antwort auf die Frage, warum das so ist, versperrt
sich Kelsen durch einen Sinnpurismus, für den Recht die Bewegung mentaler Deu-
tungsschemata ist. Sinn verweist jedoch unweigerlich auf Sprache und Kommunika-
tion, auf Verstehen und damit auf gemeinschaftliche „vorreflexive“ Praktiken im Sinne
Wittgensteins und kann daher nicht in einem „reinen Sollen“ lokalisiert werden.

96
Kelsen (Fn. 92), 4ff.; vgl. auch O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, 325.
97
Kelsen (Fn. 92), 15f., 33f., 43, 248 (positive und negative Regelung).
98 Kelsen, ebd., 199, vgl. auch 204ff. (die Grundnorm als transzendental-logische Voraussetzung); vgl.
dazu H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, 42ff.,
83ff., 88.
99
Kelsen (Fn. 92), 10, 215 u. ö.
100 Kelsen, ebd., 34ff., 64, 65.
101 Kelsen, ebd., 220; Dreier (Fn. 98), 122.
102
Benjamin (Fn. 34), 48.

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III. Dynamisierung

3. Geltung als zirkulierendes Symbol


Das System der Systemtheorie konstituiert sich über eine rekursive Vernetzung von 179
Operationen, die im Fall des Rechtssystems Rechtskommunikationen im oben be-
schriebenen weiten Sinne sind. Das Rechtssystem erzeugt eine dynamische Stabilität,
die sich in laufenden zeitpunktbezogenen Rückgriffen und Vorgriffen auf vergangene
und künftige Entscheidungen manifestiert. Im Unterschied zur traditionellen Auffas-
sung ist Zeit für die Systemtheorie nicht länger ontologisch eingebettet, sie ist keine
Bewegung im Raum, sondern genau umgekehrt ist alles Sein, alle Kommunikation,
eine Folge der Zeit bzw. genauer: Folge einer gleichzeitigen Zeit, die die Welt als Kette
von auf die Gegenwart bezogenen Momentaufnahmen zusammenhält. Autopoietische
Systeme sind daher stets historische Systeme, die alles, was sie tun, zum ersten und
zum letzten Mal tun.103 Im Anschluss an eine von Heinz v. Foerster entwickelte Ter-
minologie vergleicht Luhmann das System der Systemtheorie auch mit einer nichttri-
vialen (historischen) Maschine, die im Unterschied zu einer trivialen Maschine (oder
einem Automaten), nicht auf immer gleiche und wiederholbare Weise Inputs in Out-
puts transformiert, sondern seinen eigenen Zustand bei jeder Operation erneut ins
Spiel bringt und deshalb durch jede Operation eine neue Maschine entstehen lässt.
„Das Recht ist eine historische Maschine, die sich mit jeder Operation in eine andere
Maschine verwandelt.“104
Die Geltungstheorie der Systemtheorie stellt vor diesem Hintergrund in einem sehr 180
grundsätzlichen Sinn von „Hierarchie auf Zeit“ um.105 Das hat zur Folge, dass alle zeit-
stabilen Lösungsmodelle implodieren. Rechtsgeltung heißt für Luhmann weder
Normgeltung noch Geltung einer vorauszusetzenden Metanorm am Ende einer Hier-
archie (Kelsens Grundnorm; Harts rule of recognition), sondern meint eine rein imma-
nente, rein zirkulär, im nachbarschaftlich operierenden System selbst erzeugte Gel-
tungskraft. Der Begriff der Rechtsgeltung wird nicht auf einen Bestand bezogen, an
dem das faktische Rechtsgeschehen entlangfließt, sondern in den kommunikativen
Vollzug der Verknüpfung von Rechtsoperationen hineingelegt: Rechtsgeltung ist Vor-
aussetzung für das Finden von Anschlussoperationen. Rechtgeltung ist nicht mehr
(aber auch nicht weniger) als ein in allen Rechtskommunikationen mitfungierender,
partizipierender Sinngehalt, der sich rekursiv selbst validiert, indem bei einer Rechts-
operation auf bereits geltendes Recht zurückgegriffen wird. Wenn ein Gericht ent-
scheidet, dann immer durch Rekurs auf geltendes Recht. Wenn der Gesetzgeber ein
neues Gesetz verabschiedet, dann immer im Rahmen der Verfassung. Die Gegenprobe
lässt sich auf der anderen Seite der Geltung, auf der Seite der Nicht-Geltung machen:
Niemand würde sich auf ein Urteil berufen, das ungültig ist, niemand auf ein Gesetz,
das nicht in Kraft getreten ist.106

103
Luhmann (Fn. 11), 49; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 116f., mit der hegelianischen
Formulierung, dass das autopoietische System nichts anderes ist oder hat als die Geschichte seiner ei-
genen Bewegung.
104 Luhmann (Fn. 11), 107, 58; H. v. Foerster, Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebs-
wirtschaftlichen Bereich, 1993, 233ff., 245ff.
105
Luhmann (Fn. 11), 110.
106 Nicht-Geltung ist deshalb für Luhmann kein Bestandteil des Rechtssystems, sie spielt nur insofern
eine Rolle, als das System den Geltungsbegriff durch negative Abgrenzung (Nichtgeltung) reflektieren
und konturieren kann.

109
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§ 5. Geltung

181 Weil Rechtsgeltung mit jeder Verwendung einer Rechtsoperation weitergereicht bzw.
im System von Moment zu Moment neu erarbeitet werden muss, bezeichnet Luh-
mann Rechtsgeltung auch als „Verknüpfungssymbol“ bzw. – im Anschluss an eine Ter-
minologie von Talcott Parsons – als „zirkulierendes Symbol“.107 Symbol meint hier
nicht einfach „Zeichen“ im Sinne der (sausurreschen) Differenz von Bezeichnendem
(signifiant) und Bezeichnetem (signifié). Luhmann will mit dem Symbolbegriff viel-
mehr zum Ausdruck bringen, „daß das Getrennte zusammengehört, so daß man das
Bezeichnende als stellvertretend für das Bezeichnete (und nicht nur: als Hinweis auf
das Bezeichnete) benutzen kann“.108 Christus ist – jedenfalls nach verbreiteter An-
sicht – nicht nur Symbol/Repräsentant Gottes auf Erden, er ist der „in geschichtlicher
Wirklichkeit Mensch gewordene“ Gott.109 Ein 100-Euroschein symbolisiert nicht nur
den Wert von 100 Euro, er ist ein 100 Euroschein und verkörpert damit genau diesen
Wert. Und so wie das Geld, das nach Ansicht der Systemtheorie ein symbolisch gene-
ralisiertes Kommunikationsmedium darstellt, die Wahrscheinlichkeit steigert, zeitliche
Differenzen zu überbrücken und Kommunikation mit Annahmechancen auszustatten
(der Händler gibt das Auto gerne heraus, nachdem bezahlt worden ist), so ist Rechts-
geltung ein Symbol, das in der Verschiedenheit seiner Operationen die Einheit des
Rechtssystems wahrt und reproduziert.110 Geltung ist eine semantische Errungen-
schaft der Eigendynamik eines autopoietischen Rechtssystems, das den normativen
Erwartungen des Systems attachiert wird.111 Unter dem Strich wird hier also wie bei
Kelsen eine enge Verknüpfung zwischen Rechtsgeltung und dem staatlichen Gesetzge-
bungs- und Justizapparat unterstellt. Diese enge Verknüpfung ermöglicht dem Rechts-
system auch in der Systemtheorie letztlich, im laufenden Rechtsbetrieb bindende Ent-
scheidungen – geltendes Recht – zu erzeugen.

IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts

1. Heterarchie der Rechtsquellen


182 Der Rechtspositivismus sicherte die Geltung des Rechts durch den Rekurs auf Entste-
hungsgründe, die als „Quellen“ in der „großen Einheit“ des Rechts verankert waren
und somit allein durch das Rechtssystem bestimmt wurden. Das hatte im 19. Jahrhun-
dert den Zweck und das Verdienst, die Selbstbegründung des Rechts insbesondere ge-
genüber lokalen Traditionen, Sitte und Brauchtum zu festigen: Während das Natur-
recht mit dem Untergang der Adelsgesellschaft des alten Europas seine sozialen
Haftungspunkte verlor, löste sich das positive Recht aus dem Kontext einer als unver-
änderlich und ewig gedachten Natur, um sich schließlich – auch im Common law – als
selbstbezüglich verfahrendes, ja sich selbst setzendes (positives) Recht zu stabilisieren.
Auch wenn der Kontakt zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen der Rechtsbildung
dabei im Rechtspositivismus zunächst erhalten blieb, man denke nur an Savignys
„Volksgeist“ als letzter Rechtsquelle, führte dieses Unternehmen schon im Gesetzes-

107 Luhmann (Fn. 11), 106, 107.


108
Vgl. Luhmann (Fn. 103), 319.
109
C. Schmitt, Römischer Katholizismus (1925), 1984, 32. Schmitts Aussage im Text ist etwas komplexer
gebaut und bezieht sich auf die katholische Kirche, die Christus persönlich repräsentiere.
110 Luhmann (Fn. 11), 98.
111
Luhmann, ebd., 105.

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IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts

positivismus dazu, das Geltungsproblem auf politische Bezüge zu reduzieren. Heute


ist die Rechtsquellenlehre ganz auf die politische Gesetzgebung und die sie kontrollie-
rende Verfassungsgerichtsbarkeit zentriert, mit dem Ergebnis, dass Rechtsgeltung viel-
fach auf den Output legislativer policy-Strategien, einschließlich ihrer verfassungs-
rechtlichen „Verhältnismäßigkeitsprüfung“, verengt wird.
Die gleiche, wenn auch antithetische, Fixierung auf den Staat kennzeichnet die Moral- 183
philosophie, soweit sie sich als Diskurstheorie des Rechts versteht. Hier wird Recht
Prozessen öffentlicher Deliberation anheimgestellt. Der Unterschied zur herrschenden
dogmatischen Literatur besteht allein darin, dass die Leistungsfähigkeit der repräsenta-
tiven Instanzen (Parlament, Parteien, Verbände etc.) bei der Normproduktion eher als
beschränkt und daher als durch „zivilgesellschaftliches Engagement“ ergänzungsbe-
dürftig angesehen wird. Aber auch dadurch wird die Rechtstheorie auf ein falsches
Gleis gesetzt: Es wird auf der Grundlage von ausschließlich theoretischem Wissen,112
der Diskurstheorie des Rechts unterstellt, dass ein verfahrensgerecht (deliberativ-dis-
kursiv) hergestelltes Recht, aufgrund der ihm zugeschriebenen Qualitäten gerechtig-
keitsnäher als das geltende (praktizierte) Recht operieren könnte. Dabei wird aber
u. a. übersehen, dass Gerechtigkeit in der modernen (liberalen) Gesellschaft so gegen-
wärtig wie flüchtig ist: Die irreversible Trennung der Individuen von der Gemein-
schaft und ihre unwiederbringliche Trennung voneinander kann nicht im Vorgriff auf
eine faktische Gleichheit aufgehoben werden, gerade weil Einheit und Allgemeinheit
in der Gegenwart nur noch formal, als universelle Form, denkbar ist, d. h. Gerechtig-
keit ist unter modernen (liberalen) gesellschaftlichen Bedingungen eine bloße Idee der
Vernunft, „d. h. ein reines unerreichbares Ziel“.113 Was vielleicht erreicht werden
kann, ist eine Verständigung darüber, was unter der Bedingung von Differenz und kul-
tureller Vielfalt universale Normen und Werte sein könnten. Zu den Anwärtern sol-
cher universeller Normen könnte man etwa das Folterverbot zählen oder das Verbot
der Beschneidung von jungen (afrikanischen) Mädchen aus religiös-rituellen Grün-
den.
Gegen die staatsfixierte Verengung des Geltungsproblems ist daher die These in An- 184
schlag zu bringen, dass Rechtsgeltung nur in der Praxis einer Vielfalt operierender
Rechtsordnungen selbst erzeugt werden kann. Rechtsgeltung ist weder von einer dis-
kursiv einzulösenden Verfahrensgerechtigkeit abhängig noch durchstaatlich sanktio-
nierte Gewalt herstellbar, wie noch heute vielfach unterstellt wird. Damit sollen die
Bedeutung der staatlichen Gesetzgebung und die Rolle des Staates für die Evolution
und Geschichte des modernen (westlichen) Rechts weder unterschätzt noch geschmä-
lert werden. Es kommt aber für die Zukunft darauf an, die Rechtsquellenlehre auf die
neuartige Operationsweise eines dynamisch und nachbarschaftlich operierenden
Rechtssystems einzustellen. Dabei darf das Geltungsproblem auf der einen Seite nicht
von vornherein mit moralischen, religiösen, ökonomischen, politischen oder massen-
medialen Komponenten vermischt werden, d. h. Rechtsgeltung wäre – in der Tradi-
tion des Rechtspositivismus – weiterhin als etwas im Rechtssystem Herzustellendes zu
konzipieren. Auf der anderen Seite darf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen
der Rechtsproduktion und der Verankerung der Bindungskraft des Rechts in der In-
nenwelt der Individuen aber nicht einfach wie im Rechtspositivismus abgeschnitten

112 Und zwar auf einem Wissen „strikt nomologischer“ Art im Sinne von H. Krämer (Fn. 55), 95.
113
Die kantischen Formulierungen sind angelehnt an R. Esposito, Communitas, 2004, 110.

111
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§ 5. Geltung

oder auf eine Grundnorm, eine „rule of recognition“ oder ein Geltungssymbol redu-
ziert werden. Diese Überlegung muss auchfür die tradierte Rechtsquellenhierarchie
Konsequenzen haben, die künftig in ein heterarchisches, auf Gleichordnung der ver-
schiedenen Rechtsquellen angelegtes Modell umzuschreiben wäre.
185 Das Recht der Computerkultur durchbricht das Konzept einer Normenhierarchie, die eine klare Trennung
und Abstufung der Rechtsquellen nach ihrem jeweiligen Ursprung vorausgesetzt hatte.114 Deshalb wäre
die staatszentrierte Rechtsquellenhierarchie aufzugeben, zumindest aber doch erheblich zu modifizieren.
Fasst man Geltung – wie Luhmann – als Verknüpfungssymbol, das von Moment zu Moment im Rechts-
system immer wieder neu erarbeitet wird, wird Rechtsgeltung immer dann weitergereicht, wenn eine
Kommunikation rechtserheblich ist, d. h. Rechtsfolgen und nicht lediglich faktische Ereignisse zu be-
obachten sind, die solche Folgen nach sich ziehen können. Das wäre immer dann der Fall, wenn eine
Rechtshandlung rekursiv auf geltendes Recht Bezug nimmt, etwa ein Gerichtsurteil verkündet, ein Verwal-
tungsakt erlassen oder ein Gesetz verabschiedet wird, nicht aber schon dann, wenn z. B. ein Richter belei-
digt, der Polizeiwagen beschmiert oder ein verheirateter Parlamentsabgeordneter mit intimen Fotografien
seiner Freundin von einem Paparazzo unter Druck gesetzt würde.
Eine Verschiebung des Geltungssymbols durch rechtsfolgenrelevante Kommunikationen ist prinzipiell
auch bei privatrechtlichem und nicht nur bei staatlichen Rechtshandlungen möglich. Daher sind vor allem
der Vertrag und die private Norm- und Standardsetzung als eigene Rechtsquellen anzuerkennen. Das er-
öffnet nicht nur im innerstaatlichen Bereich einen neuen Blick auf die private Norm- und Standardset-
zung, z. B. im technischen Sicherheitsrecht oder im Vertragsrecht.115 Auch in transnationalen Zusammen-
hängen wäre die dezentrale, autonome Produktion von Konventionen, Regeln und Standards, etwa die
arbeitsrechtliche Bindung an interne codes of conduct eines transnational operierenden Unternehmens,116
grundsätzlich zu akzeptieren. Das staatliche Gesetzgebungsmonopol würde dann einem Gesetzgebungs-
wettbewerb ausgesetzt, für den die Idee eines flexiblen Netzwerks von Rechtsquellen an die Stelle starrer
Vor- und Nachrangrelationen treten könnte. Die (staatszentrierte) Rechtsquellenhierarchie könnte dann
zugunsten der Vorstellung einer Heterarchie von Rechtsquellen aufgegeben werden.
Erst unter dieser Voraussetzung kann dann die immer wichtiger werdende Frage gestellt werden, nach wel-
chen secondary rules insbesondere die private Regelproduktion zu akzeptieren ist und wie private Rechtsre-
geln auf existierende (öffentliche) Regelbestände, etwa die Grundrechte des nationalen Rechts, abgestimmt
werden können. Es geht dann um die Abstimmung zwischen privater und öffentlicher Regelsetzung, die
vermutlich auch neue Formen der Selbstkontrolle der Rechtsproduktion notwendig machen wird. Nach
Gunther Teubner stellt sich hier sogar die Verfassungsfrage: die Frage nach „konstitutionellen Sekundär-
normen“, die „das Geltungsparadox“ eines selbst gemachten Rechts „zu überwinden vermögen und über
die Rechtsnormqualität von sozialen Normen selektiv entscheiden“.117 Ob der Rekurs auf den Verfas-
sungsbegriff hier wirklich in jeder Hinsicht hilfreich ist, erscheint diskussionsbedürftig,118 richtig ist es
aber jedenfalls, derartige Abstimmungsprobleme – mit Teubner, Rudolf Wiethölter, Karl-Heinz Ladeur
u. a. – kollisionstheoretisch zu lösen. Denn das produktive Potential des kollisionsrechtlichen Denkens
liegt gerade jenseits der Hierarchie.119 Das spräche zugleich dafür, die Tradition des Verfassungsrechts nicht

114 Vgl. dazu H. Hill/M. Martini, Normsetzung und andere Formen exekutivischer Selbstprogrammie-
rung, 2012, § 34 Rn. 90 (für den Fall des Verwaltungsrechts); Ch. Tietje, Recht ohne Rechtsquellen?,
ZfR 24 (2003), 27ff. (für das Völkerrecht); vgl. allg. auch W. Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzes-
vorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), 5, 57ff.
115 Vgl. dazu nur Ruffert (Fn. 3), Rn. 19f. („Der Rechtsquellenlehre ist daher die Integration privater
Rechtsetzungsakte aufgegeben“); vgl. dazu P. Zumbansen, Ordnungsmuster im modernen Wohl-
fahrtsstaat, 2000, insb. 241ff.
116
Vgl. dazu etwa L. C. Backer, Economic Globalization and the Rise of Efficient Systems of Global Pri-
vate Lawmaking: Wal-Mart as Global Legislator, University of Connecticut Law Review 39/4 (2007),
1739ff.
117
G. Teubner, Globale Zivilverfassungen, ZaöRV 63 (2003), 21; vgl. auch ders. (Fn. 6).
118
Vgl. K.-H. Ladeur, Die Evolution des Rechts und die Möglichkeit eines „globalen Rechts“ jenseits des
Staates, 2012, 220ff.; Th. Vesting, Constitutionalism or Legal Theory, 2004, 29ff.
119 Zum kollisionsrechtlichen Denken vgl. allg. Teubner (Fn. 6), 225ff.; ders., Recht als autopoietisches
System, 1989, 123ff.; siehe auch R. Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts, 2003,

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IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts

als Entfaltung von Ebenen fortzuschreiben. Aus medientheoretischer Sicht legt dies auch der Übergang
vom Buch als Träger der deduktiven Hierarchien des rechtspositivistischen Systems zum Internet als Träger
dezentraler und konnexionistischer Formen des Rechts nahe (vgl. auch Rn. 237ff.).

2. Gesellschaftliche Konventionen und praktisches Wissen


Mit dem Verblassen der Distinktionskraft der herkömmlichen Geltungstheorien stellt 186
sich die Frage, welche Folgebegrifflichkeit die bisherige Leitunterscheidung der Gel-
tungstheorie – positives Recht vs. Naturrecht – ersetzen könnte. Das könnte, wie der
Text schon mehrfach angedeutet hat, die Unterscheidung von (teils impliziten) gesell-
schaftlichen Konventionen und expliziter Rechtspraxis leisten. Rechtsbildung in Form
von expliziten Regeln und Entscheidungen bleibt auch und gerade in der modernen
(liberalen) Gesellschaft von gesellschaftlichen Konventionen und einer daran gebun-
denen „sozialen Epistemologie“ abhängig.120 Als „Konventionen“ (von lat. conventio,
Übereinkunft, Abkommen, Vertrag) sollen dabei Normen und Erwartungen im wei-
testen Sinne bezeichnet werden. Entscheidend für den Begriff der Konvention ist, das
er nicht einfach auf Traditionen oder Tugenden im herkömmlichen Sinn verweist,
sondern auf Übereinkünfte zwischen an sich getrennten Individuen, auf artifizielle,
auch für Neues offene Beziehungsmuster,121 deren Auftritt und Reproduktion stets
an eine – sozial mehr oder weniger weit reichende – community of practice gebunden
ist.122 Konventionen sind stets gesellschaftliche Konventionen, Sozialität ist ihnen in-
härent, nicht bloße Zutat eines an sich ungesellschaftlichen „menschlichen“ Verhal-
tens, das erst nachträglich, durch explizite (staatliche) Rechtsregeln sozialisiert würde.
Man könnte auch etwas allgemeiner sagen: Der Mensch ist ein von Natur aus künst-
liches Wesen und zum menschlichen Zusammenleben gehören immer schon kulturell
verankerte Verkehrsregeln, kunstvolle äußere Umgangsformen, Riten, Diplomatie,
Takt, Geschick usw.
Es geht im Begriff der gesellschaftlichen Konventionen also keineswegs um Fakten, son- 187
dern um mit Recht vergleichbare Normen, um einen Fall von Normativität. Konven-
tionen umfassen etwa solche Regeln und Erwartungen, die Teubner „gesellschaftliche
Reflexionspraktiken“ bzw. „normativ aufgeladene(n) ‚Dogmatiken‘ des sozialen Han-
delns“ nennt.123 Damit ist gemeint, dass verschiedenste soziale Praktiken ihr eigenes
Selbstverständnis reflektieren und dadurch selbst praktisches Wissen im Sinne von nor-
mativen Orientierungen und Maßstäben erzeugen. An solche Reflexionspraktiken
muss das Recht kooperativ anknüpfen, wenn es seinerseits eine eigenständige Normati-
vität entwickeln will. So muss sich beispielsweise eine zivilrechtliche Dogmatik neuarti-

13ff., 18 („Kollisionsregeln“ als „Verklammerungen (alias Vernetzungen, Vermittlungen, ‚Aufhebun-


gen‘ usw.) von abhängigen Unabhängigkeiten“).
120
Zu dieser Begrifflichkeit näher K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorga-
nisation, 2000, 110ff., 153.
121
Näheres dazu – mit Betonung der (inner-)gesellschaftlichen Koordinations- und Kooperationsleistun-
gen von Konventionen – Ladeur (Fn. 60), 56 („Die Fähigkeit zur spontanen, nicht an tradierte For-
men gebundenen Kooperation und zur Übernahme des Neuen muss durch soziale Konventionen
und Ordnungsmuster erhalten werden.“); ders. (Fn. 120), 37, 88ff.; ders., Das Umweltrecht der Wis-
sensgesellschaft, 1995, 27ff.
122 Vgl. dazu allg. E. Wenger, Communities of Practice, 2005.
123 G. Teubner, Coincidentia oppositorum, 2004, 18; vgl. auch K.-H. Ladeur, Methodische Überlegungen
zur gesetzlichen „Ausgestaltung“ der Koalitionsfreiheit, AöR 131 (2006), 643, 646.

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§ 5. Geltung

ger Netzwerke in der Wirtschaft (virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-Time,


patent pools etc.) mit den in den Reflexionspraktiken solcher Netzwerke generierten ef-
fizienzorientierten Überlegungen auseinandersetzen. Eine verfassungsrechtliche Ana-
lyse von Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG ist auf Konventionen des Kunstbetriebs
angewiesen: Die Ausstellung einer Badewanne kann verfassungsrechtlich von der
Kunstfreiheit geschützt sein, weil und sofern der Kunstbetrieb Alltagsgegenstände aus-
stellt, die die „Grenzenlosigkeit“ der Kunst in ihren Archiven und Ausstellungsräumen
demonstrieren. Diese Abhängigkeit des Rechts von Prozessen gesellschaftlicher Kon-
ventionsbildung gilt selbst für das Feld der Verfassungsgebung: Der Dritte Stand
knüpfte beispielsweise an Konventionen der Adelsgesellschaft und die sie bestimmende
„institutionsgebende Macht“ an, als er sich im Sommer 1789 im Ballhaus zur National-
versammlung erklärte, nicht aber konstituierte sich mit ihm eine „Urkraft“, eine „ver-
fassungsgebende Macht“ ohne jede Vergangenheit und normative Selbstbindungen.124
188 Darüber hinaus sind Konventionen jedoch wissensabhängig, und dieses praktische
Wissen kann seinerseits nicht wiederum (vollständig) aus explizten Normen abgeleitet
werden. Das hängt damit zusammen, dass Konventionen mit je spezifischen kogniti-
ven und medialen Infrastrukturen verknüpft sind, in denen „implizites Wissen“ eine
tragende Rolle spielt.125 Deshalb haben Konventionen einen stets praktischen Charak-
ter, ihre Kenntnis gehört zum Bereich „eines ursprünglichen knowing how, nicht eines
knowing that“.126 Dieses ursprüngliche knowing how wird über eine zwischen den In-
dividuen und den Dingen sich von Fall zu Fall erneuernde „Urteilskraft“ produziert
und reproduziert, es ist situatives und lokales Wissen, „partisan“, nicht „generic know-
ledge“.127 Als die ersten Siedler nach Neuengland kamen, lernten sie von den amerika-
nischen Ureinwohnern, dass man Mais dann pflanzen muss, wenn Eichenblätter die
Größe der Ohren eines Eichhörnchens haben. Trotz ihres folkloristischen Tons, ver-
birgt sich hinter dieser Daumenregel ein genaues Wissen über die klimabedingte
Funktionsweise lokaler Ökosysteme im Frühjahr in Neuengland, das nur sehr be-
schränkt verallgemeinerbar ist und auch nicht als abstrakte Regel gefasst werden
kann, wie z. B. in der Regel: „Der Samen soll nach dem 5. Mai gesät werden“. Das im-
plizite Wissen hat aber gegenüber einer derartig abstrakten Regel den unschlagbaren
Vorteil, dass es ein Wissen ist, das sich den örtlichen und regionalen Verschiedenheiten
anpasst, dass es in Massachusetts und Vermont funktioniert, in Süd-, Ost- und West-
lagen und auch dann, wenn das Frühjahr einmal außerordentlich spät kommt.128
189 Mit anderen Worten: Implizites Wissen ist an praktische Erfahrungen, Kenntnisse
und Fertigkeiten aller Art gebunden, die nur durch praktisches Handeln, nicht aber
durch theoretische Anleitungen, durch Buchwissen, erlernt werden können. Und:
Praktisches Wissen kann erst in Regeln übersetzt werden, wenn genügend Erfahrun-

124
Dazu näher V. Descombes, Die Rätsel der Identität, 2013, 226ff., 230, 231.
125
Zum Begriff des „impliziten Wissens“ vgl. M. Polanyi, Personal Knowledge (1958), 1974; vgl. dazu aus
neuerer Zeit T. Vesting, Das moderne Recht und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015i. E.;
K.-H. Ladeur, Strategien des Nichtwissens im Bereich staatlicher Aufgabenwahrnehmung, 2014,
103ff.; I. Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, 2014, insb. 80ff.
126
B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 1985, 85 (in der Terminologie von G. Ryle).
127
J. C. Scott, Seeing like a State, 1998, 318 („partisan knowledge“ ist dadurch charakterisiert, dass „the
holder of such knowledge typically has a passionate interest in a particular outcome“); vgl. auch Ladeur
(Fn. 60), 45, 197.
128
Dieses Beispiel verwendet Scott (Fn. 127), 311f.

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IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts

gen gesammelt sind.129 Daraus resultiert gerade in der modernen (liberalen) Gesell-
schaft ein Vorrang des praktischen gegenüber dem theoretischen Wissen, d. h. die er-
folgreiche (orale) Praxis geht ihrer (schriftlichen) Explikation voraus.130 Diese Asym-
metrie ist auch für das Rechtssystem konstitutiv: Das Recht muss sich zu den
Wissensinfrastrukturen der Gesellschaft produktiv verhalten und sie so weit wie mög-
lich in seine eigenen Normstrukturen übernehmen. Das zivilrechtliche Haftungsrecht
kann den Begriff der Fahrlässigkeit nur dadurch bestimmen, dass es an die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt anknüpft, d. h. an einen Maßstab, den nur der (Wirtschafts-)
Verkehr selbst festlegen kann.131 Das Polizeirecht kann eine Gefahr nur dadurch fixie-
ren, indem es in der polizeilichen Generalklausel auf implizite gesellschaftliche Wis-
sensbestände verweist.132 Das Medienrecht kann nur dann etwas über „Fairness“,
„Sorgfalt“ oder die Trennung von „Nachricht und Kommentar“ in den Medien wissen,
wenn es die entsprechenden journalistischen Konventionen kennt.133 Ohne Rück-
griffe auf derartige Kenntnisse gibt es keine Rechtsgeltung. Die Geltung von Rechts-
normen ist also nicht – wie Kelsen meinte – von einem „Minimum“ an „Wirksamkeit“
abhängig.134 Im Gegenteil: Zur Rechtsbildung ist stets ein Maximum an praktisch er-
folgreicher Konventionsbildung notwendig!
Wenn man von hier aus den Bogen noch einmal zu unserem Ausgangspunkt zurück- 190
schlägt, dann zeigt sich, dass Rechtsgeltung ein höchst voraussetzungsvoller Begriff ist.
Die spezifische Geltung des Rechts kann heute nur noch in Differenz zu sonstigen ge-
sellschaftlichen Regelbeständen und praktisch erprobten Konventionen bestimmt wer-
den, was auch heißt, dass die Eigenständigkeit rechtlicher Bindungsfähigkeit von dieser
anderen Seite nicht getrennt werden kann. Das meint etwas anderes als Luhmanns kog-
nitive Offenheit bei normativer Geschlossenheit des Rechtssystems (vgl. Rn. 126ff.).
Die hier ins Auge gefasste Konzeption geht – ähnlich wie die jüngeren Arbeiten von La-
deur (vgl. auch Rn. 240ff.) – insofern über die systemtheoretische Differenz von kogni-
tiven und normativen Erwartungen hinaus, als ein produktives Spannungsverhältnis
zwischen gesellschaftlichen Konventionen einerseits und ihrer Explikation als sozialer
Reflexionspraktiken und sodann als expliziter Rechtsregeln andererseits unterstellt
wird; letztere müssen zwar im Rechtssystem selektiert und verfeinert werden, sie entfal-
ten dort aber keine grundsätzlich andere „Geltung“ oder „Normativität“ als außerhalb
des (staatlichen) Rechts. Die Frage zu beantworten, ob und wenn ja, auf welche Weise
es heute überhaupt noch Sinn macht und gegebenenfalls Sinn machen könnte, von
einer spezifischen „Geltung“ oder „Normativität“ des Rechts zu sprechen, ist sicherlich
eine der größten Herausforderungen der gegenwärtigen Rechtstheorie. Auch in diesem
Zusammenhang deutet aber alles darauf hin, dass das normativistische durch ein prag-
matisches Regelverständnis ersetzt werden muss (vgl. Rn. 60ff.).

129 Polanyi (Fn. 125), 54 („To become an expert wine-taster, to acquire a knowledge of innumerable diffe-
rent blends of tea or to be trained as a medical diagnostician, you must go through a long course of
experience under the guidance of a master.“).
130
Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 176 (in einem linguistischen Zusammenhang); zu den vor-
modernen Arten praktischen Wissens (metis, phronesis etc.) vgl. M. Detienne/J.-P. Vernant, Cunning
Intelligence in Greek Culture and Society, 1978.
131
Vgl. nur K. Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, 1987, 282ff.
132
K.-H. Ladeur, Privatisierung öffentlicher Aufgaben und die Notwendigkeit der Entwicklung eines
neuen Informationsverwaltungsrechts, 2000, 225ff.
133 Näher T. Vesting, Programmaufsicht im Fernsehen, 2002, 181ff.
134
Kelsen (Fn. 92), 10, 219.

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§ 6. Interpretation

I. Auslegung oder Konkretisierung?

1. Der Zugriff der neueren Methodenlehre


191 Die Kunst der Interpretation des Rechts, insbesondere die der Auslegung von geschrie-
benen Gesetzen und Gesetzestexten, steht heute im Zentrum der Methodenlehre, die
sich als eigenständiger Typus juristischer Expertise in unmittelbarer Nähe zur Rechts-
dogmatik etabliert hat (vgl. dazu näher Rn. 19ff.). Rechtsnormen können die Vielfalt
ihrer Gebrauchs- und Anwendungsmöglichkeiten nicht umfassend antizipieren, sie
bleiben unvollständig und interpretationsbedürftig. Die Methodenlehre beobachtet
daher, wie Rechtsnormen und Gesetzestexte immer wieder auf neue Fälle und Lebens-
sachverhalte abgestimmt werden, um diesen Vorgang ihrerseits nach verallgemeine-
rungsfähigen Mustern abzutasten oder Inkonsistenzen bei der Rechts- und Gesetzesin-
terpretation aufzudecken. Dabei rücken in der herkömmlichen Methodenlehre in
erster Linie die Gerichte in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit Auslegungsfragen
sind im Rechtssystem zwar nicht nur die Gerichte befasst, sondern u. a. auch Anwäl-
tinnen (z. B. bei der Vertragsgestaltung), Verwaltungsangestellte (z. B. bei der Bearbei-
tung von Bauanträgen), Professoren (z. B. bei der dogmatischen Vor- und Nachstruk-
turierung von Gerichtsentscheidungen) oder Studierende (z. B. bei der Lösung von
Fällen). Stellt man jedoch primär auf den staatlich organisierten Entscheidungsbetrieb
ab, darauf, dass Rechtsnormen immer lokal und situativ zur Geltung gebracht werden,
rückt unweigerlich die gerichtliche Interpretationspraxis in den Fokus der wissen-
schaftlichen Aufmerksamkeit. Es sind ja vor allem Gerichte, die öffentlich zugängli-
ches Fallmaterial – Gerichtsentscheidungen – produzieren.
192 Statt von „Methodenlehre“ wird auch von „hermeneutischer Wissenschaft“ und seit dem 19. Jahrhundert
von „juristischer Hermeneutik“ gesprochen. Als „Hermeneutik“ (von gr. hermeneuein) bezeichnete man
ursprünglich die traditionelle rhetorische Kunstlehre des Verkündens, Erklärens und Auslegens von Bot-
schaften. Hermeneia meint wörtlich die „Aussage von Gedanken“, und „Aussage“ kann hier neben Äuße-
rung auch den Sinn von Erklärung, Auslegung und Übersetzung haben.1 Seit der wissenschaftlichen Revo-
lution der Neuzeit und der Reformation entwickelte sich die Hermeneutik zunächst in theologischen
Kontexten, prominent etwa bei dem protestantischen Theologen und Philologen Friedrich Schleiermacher
(1786–1834), dessen Hermeneutik auf einer Reflexion des Vorgangs des Verstehens von Sprache und Tex-
ten beruhte. Sie war (und ist) hier Kunst der authentischen Interpretation einer nicht so ohne weiteres ge-
sicherten Textgrundlage, der Bibel, insbesondere Interpretation des höchst problematisch und in mehreren
Sprachen überlieferten Neuen Testaments.2 An die kritische und grammatikalische Methode der Schleier-
mach’schen Hermeneutik knüpfte die Interpretationslehre Savignys an. Im 20. Jahrhundert ist es vor allem
die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, der es im Vorgang der Interpretation um die Freilegung eines
Wissens geht, das anweist und Anerkennung verlangt; insbesondere die Kunst und das Kunstwerk fordern
für Gadamer eo ipso Anerkennung und damit Geltung ein.3 Die neuere juristische Hermeneutik (Karl La-
renz, Josef Esser u. a.) steht teilweise in der Tradition Gadamers, teilweise grenzt sie sich, wie etwa die ju-
ristische Methodik von Friedrich Müller und Ralf Christensen, als institutionelle „Rechtsarbeit“ bewusst
vom geisteswissenschaftlichen „Verstehen“ ab (dazu unten Rn. 217ff.).

1
Zur Begriffsgeschichte vgl. den Eintrag „Hermeneutik“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Bd. 3, 1974.
2 Dazu näher D. Weidner, Deutung und Undeutbarkeit, 2015i. E.
3
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), 1990, 87ff., 90.

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I. Auslegung oder Konkretisierung?

Für die laufende Anpassung der geltenden Rechtsnormen an immer neue Fälle hatte 193
Friedrich Carl v. Savigny ein „regelmäßiges Verfahren“ gefordert und die Reflexionen
darüber als Teil seines – die Methodenlehre selbst übergreifenden – „Systems des heu-
tigen römischen Rechts“ – im Abschnitt über die Rechtsquellen – behandelt.4 Seit
dem 19. Jahrhundert hat sich die Methodenlehre von anderen rechtswissenschaft-
lichen Fragestellungen weitgehend abgelöst. Heute läuft Methodenlehre praktisch
darauf hinaus, Fragen der Rechtsinterpretation eng mit Fragen des Dirigierens von
Gerichtsentscheidungen zu verknüpfen und im Grenzfall Rechtstheorie auf Metho-
denlehre zu reduzieren. Karl Larenz versteht unter Methodenlehre eine Reflexion der
„Arten des Vorgehens“ der Rechtswissenschaft, die ihrerseits auf die Bearbeitung des
positiven (geltenden) Rechts durch die Gerichte bezogen ist.5 Hans-Martin Pawlowski
assoziiert mit juristischer Methode zuallererst „sichere Regeln für die juristische Ar-
beit“; auch bei ihm hat die juristische Arbeit vor allem die methodische Verarbeitung
gerichtlicher Entscheidungen im Blick.6 Friedrich Müller versteht unter Methodik die
„Analyse der Struktur rechtlicher Normativität und der grundsätzlichen Bedingungen
juristischer Konkretisierung“,7 wobei juristische Konkretisierung auch hier Konkreti-
sierung des Rechts durch die staatlichen Gerichte meint.
Die Methodenlehre ist freilich keine homogene wissenschaftliche Bewegung, sondern 194
in unterschiedliche Lager und Schulen gespalten. Für einen ersten Zugriff können
dabei das herkömmlicherweise dem rechtswissenschaftlichen Positivismus zuge-
schriebene „Anwendungs- und Subsumtionsmodell“ auf der einen Seite und das im An-
schluss an die juristische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts formulierte „Konkretisie-
rungsmodell“ auf der anderen Seite unterschieden werden. Im Anwendungs- und
Subsumtionsmodell heißt Interpretation des Rechts: Anwendung des Gesetzes auf
einen gegebenen Fall. Oder umgekehrt: Subsumtion des Tatsachenmaterials eines
Rechtsfalls unter das Gesetz. Die Anwendung von Rechtsnormen und Gesetzestexten
erfolgt hier im Wege eines logisch zwingenden Verfahrens, welches nach dem Muster
des deduktiven Syllogismus (von gr. syllogizesthai, zusammenrechnen) als Schluss von
einem weiteren auf einen engeren Begriff angelegt ist. Auch in diesem Kontext kommt
die hierarchische Architektur des Weltbildes des Alten Europas zur Geltung: Der logi-
sche Schluss wird als Schluss von „oben“ nach „unten“ bzw. als Korrelation von „Ober-
satz“ und „Untersatz“ gefasst. Das berühmteste Beispiel für dieses Schlussverfahren lau-
tet: „Alle Menschen sind sterblich“ (Obersatz), „Sokrates ist ein Mensch“ (Untersatz),
„Sokrates ist sterblich“ (Schlussfolgerung). Das Anwendungs- und Subsumtionsmodell
geht also davon aus, dass die Interpretation einer Rechtsnorm ein Wissen zum Vor-
schein bringt, das vorher schon in ihr enthalten ist, bzw. als Wille des Gesetzes zu-
mindest unterschwellig im Gesetzestext artikuliert ist, nicht aber wird das Recht im In-
terpretationsakt durch neues, nicht schon im Gesetzestext vorhandenes Wissen
angereichert. Die Entscheidung des Richters ist Erkenntnis, Nachvollzug, Rekonstruk-
tion einer Weisung, quasi automatische Anwendung des Rechts oder des geschriebenen
Gesetzes und daher vom Willen oder von der Willkür des Interpreten unabhängig. Paul
Laband hat diese Bindung des Interpreten an das Gesetz um 1900 so beschrieben: „Die

4
F. C. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts Bd. 1, 1840, 206ff., 207.
5
K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 5, 195.
6 H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 2, 8, 9 (mit der Feststellung, es gehe in der
Methodenlehre um „wiederholbare Erkenntnisse“ für verschiedene Rechtsgebiete).
7
Vgl. nur F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1994, 241, vgl. auch 13 Fn. 2.

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§ 6. Interpretation

rechtliche Entscheidung besteht in der Subsumtion eines gegebenen Tatbestandes


unter das geltende Recht, sie ist wie jeder logische Schluss vom Willlen unabhängig; es
besteht keine Freiheit der Entscheidung, ob die Folgerung eintreten soll oder nicht; sie
ergibt sich – wie man sagt – von selbst, mit innerer Notwendigkeit.“8
195 Dagegen besteht bei den Anhängern des Konkretisierungsmodells Einigkeit darüber,
dass eine jenseits rein logischer Schlussverfahren angesiedelte juristische Argumentation
vor allem auf Grund der Unbestimmtheit der Rechtsnormen unumgänglich ist. Texte
sind immer inhomogen und auch Gesetzestexte können sich nie vollständig explizieren.
Diese Annahme erscheint insofern zwingend zu sein, als es tatsächlich keiner den Ausle-
gungsvorgang reflektierenden Methodenlehre bedürfte, wenn die Rechtsinterpretation
vollständig deduktiv operieren könnte, wenn sie nichts weiter als logisch zwingende Sub-
sumtion wäre. Jedenfalls geht die Methodenlehre heute mehrheitlich davon aus, dass die
Rechtsinterpretation selbst produktiv ist, dass diese sozusagen ihre eigene Rechtsschöp-
fung ist; nur vereinzelt wird heute noch an einer strikt deduktiven Vorstellung von
Rechtsanwendung festgehalten.9 Um diesen Unterschied zum rechtspositivistischen
Anwendungs- und Subsumtionsmodell auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen, ist
seit den 1960er Jahren statt von „Auslegung“ oder „Interpretation“ von „Rechtsgewin-
nung“, „Rechtsarbeit“, „juristischer Argumentation“ oder eben von „Rechtskonkretisie-
rung“ die Rede.10 Teilweise werden „Auslegung“ und „Rechtskonkretisierung“ sogar als
Antipoden gesetzt. Diese Entgegensetzung hat auch institutionelle Konsequenzen: Die
nachpositivistische Methodenlehre räumt besonders der Rechtsfortbildung durch den
Richter einen erheblich höheren Stellenwert ein und akzeptiert – zumindest in Maßen –
ein eigenständiges, Präjudizien einschließendes Richterrecht als eigenständige Rechts-
quelle.11 Zu den Anhängern des Richterrechts zählt auch das Bundesverfassungsgericht,
das in einer älteren Entscheidung ausdrücklich von einer Befugnis des Richters „zu
‚schöpferischer Rechtsfindung‘“ gesprochen hat und diese Rechtsschöpfung bis heute
selbst praktiziert, man denke nur an die „Erfindung“ von Grundrechten wie beispiels-
weise des „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“.12

2. Zum Methodenkanon
196 In der methodentheoretischen Literatur werden üblicherweise vier „Elemente“ oder
„canones“ unterschieden: Grammatische, systematische, historische und teleologische
Interpretation. Unter „grammatischer Interpretation“ – heute oft ungenau als am
8 P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 2 (1911), 1964, 178.
9
Etwa bei H.-J. Koch/H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 14ff., in Form von „Kettende-
duktionen“ und „Subsumtionsschritten“.
10 Vgl. neben den Arbeiten der juristischen Hermeneutik (K. Larenz, C.-W. Canaris, R. Alexy, J. Esser,
F. Müller u. a.) M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1976; A. Kaufmann, Das Verfahren der
Rechtsgewinnung, 1999; vgl. auch den Überblick bei U. Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland
seit 1945, 1994, 145ff., 158ff.
11
Vgl. nur W. Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, 2011,
251ff., 252f.; Kriele (Fn. 10), 243ff.; ambivalent J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der
Rechtsfindung, 1972, 187ff., der einer der Promotoren der „judicial legislation“ im deutschen Sprach-
raum ist, Präjudizien aber als „vorgedachte Wertungsrelationen“ ansieht und ihnen offensichtlich den
Verbindlichkeitsgehalt einer Rechtsquelle abspricht; bisweilen ablehnend Larenz (Fn. 5), 430 m.w.N.
in Fn. 150.
12 BVerfGE 34, 269, 286; weitere Nachweise zur Rechtsprechung des BVerfG bei F. Müller/
R. Christensen, Juristische Methodik Bd. 1, 2013, Rn. 23ff.

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I. Auslegung oder Konkretisierung?

Wortlaut orientierte Interpretation bezeichnet – ist die buchstäbliche Bedeutung eines


geschriebenen Wortes oder Rechtsatzes zu verstehen, der Wortsinn, der sich aus dem
allgemeinen Sprachgebrauch ergibt. Die systematische Auslegung meint die Erschlie-
ßung des Bedeutungszusammenhangs, das textuelle Umfeld, in dem eine einzelne
Rechtsnorm steht. Die historische Interpretation fragt nach der Regelungsabsicht des
historischen Gesetzgebers (Gesetzesmaterialien, Protokolle etc.), die teleologische
Interpretation zielt auf die Ermittlung des (objektiven) Zwecks eines Gesetzes.13 Es ist
allerdings nicht bei den vier Elementen geblieben, vielmehr ist es inzwischen zu einer
weit darüber hinausgehenden Ansammlung unterschiedlicher neuer canones gekom-
men. Im Zivilrecht hat etwa die verfassungskonforme oder rechtsvergleichende Ausle-
gung an Bedeutung gewonnen, im öffentlichen Recht sind beispielsweise die Abwä-
gung (praktische Konkordanz) oder die europarechtskonforme Auslegung zum
üblichen Methodenkanon hinzugetreten.14 Diese Entwicklung ist zunächst einmal zu
akzeptieren. „Unter Bedingungen höherer Komplexität der Rechtskonflikte“, heißt es
dazu bei Karl-Heinz Ladeur und Ino Augsberg zu Recht, „können die Canones der tra-
ditionellen Auslegungslehre ... allein nicht mehr als überzeugend angesehen werden.“15
Die einzelnen Interpretationsverfahren sollen nach allgemeiner Ansicht nicht isoliert 197
voneinander angewandt werden, sondern sich gegenseitig stützen und ergänzen. Aller-
dings wird der grammatischen Auslegung insofern eine Sonderstellung eingeräumt, als
die am Wortsinn orientierte Interpretation des geschriebenen Gesetzes von vielen als
äußerste Grenze möglicher Auslegungsvarianten angesehen wird. Der Wortsinn ist da-
bei sowohl „Ausgangspunkt“ für die richterliche Sinnermittlung als auch „Grenze“ sei-
ner Auslegungstätigkeit.16 Aber was heißen hier „Ausgangspunkt“ und „Grenze“?
Wenn ein Gesetz sagt, dass öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel spätes-
tens 48 Stunden vor ihrer Bekanntgabe bei der zuständigen Behörde anzumelden sind
(§ 14 Abs. 1 VersG), ist dann eine Anmeldefrist von 48 Stunden gemeint oder meint
das Gesetz nur die faktische Möglichkeit, sich 48 Stunden vorher anmelden zu können?
Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Zusammenhang mit der Problematik von
Spontan- und Eilversammlungen mehrfach für die zweite Variante entschieden und
sich dabei auf das Verfahren der verfassungskonformen Auslegung gestützt.17 Wie die-
ser Fall zeigt, kann mit dem Zusatzargument der verfassungskonformen Auslegung
selbst der Sinn einer semantisch klar bestimmten Zahlengrenze (48 Stunden) ge-
sprengt werden. Manche neuere Interpretationstheorie, wie etwa der neopragmatische
Ansatz von Stanley Fish, lehnt die Vorstellung einer verständlichen, vom Akt der Inter-
pretation unabhängigen buchstäblichen Bedeutung (literal meaning) sogar grundsätz-

13
Zu den Details vgl. die ausführliche Behandlung bei Larenz (Fn. 5), 320ff.; F. Bydlinski, Grundzüge der
juristischen Methodenlehre, 2005, 11ff.; Koch/Rüßmann (Fn. 9), 166ff.
14 Zur rechtsvergleichenden Auslegung vgl. nur Bydlinski (Fn. 13), 42ff.; zur allg. Entwicklung vgl. nur
Esser (Fn. 11), 125ff. („Methodenpluralismus“ – mit Beispielen aus der Rechtsprechung des BGH);
Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 31ff. und die dortige Analyse der Erweiterung des Methodenarsenals
in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Einheit der Verfassung, verfassungskonforme
Gesetzesauslegung, funktionell-rechtliche Richtigkeit, sachbestimmte Konkretisierungsaspekte z. B. bei
Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG etc.); K. Larenz/C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995,
163 (mit der Bemerkung, dass die heutigen Auslegungskriterien weit über Savigny hinausgingen).
15
K.-H. Ladeur/I. Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36 (2005), 143ff., 176.
16 Vgl. nur Larenz (Fn. 5), 322; Müller (Fn. 7), 155 (Unersetzlichkeit der klärenden und stabilisierenden
Funktion des Normwortlauts); ders./Christensen (Fn. 12), Rn. 308ff.
17
BVerfGE 85, 69, 74f.; 69, 315, 350f.

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§ 6. Interpretation

lich ab. Wenn es bei Randy Newman heißt: „Short people got no reason to live“,
könne man dies einerseits als Angriff auf kleine Leute verstehen, andererseits aber
auch als selbstironische Beschwerde über die Unzulänglichkeiten des Lebens eines
nach eigener Einschätzung zu klein geratenen Popsängers. Jedenfalls sei es der Akt der
Interpretation selbst (und ihr Kontext), der den „Wortlaut“ herstelle, nicht aber sei
dieser stabil im Textkörper vorgegeben.18 Ähnliche Überlegungen findet man bei Ino
Augsberg. In einer texttheoretischen Perspektive wird hier die „Unlesbarkeit“ der Ge-
setze mit dem Imperativ ihres „Lesens“ verknüpft. Damit soll eine produktive Dyna-
mik der gleichzeitigen Unlesbarkeit/Lesbarkeit der Rechtstexte freigestzt werden und
so „die Möglichkeit zur Varianz und damit zur Fortentwicklung des Systems“.19
198 Auch wenn sich in Gerichtspraxis und methodentheoretischer Literatur kein abschließender Konsens über
den Umgang mit dem Wortlautargument feststellen lässt, ist es in kulturwissenschaftlicher und medientheo-
retischer Perspektive nicht verwunderlich, dass der grammatischen Auslegung (von gr. gramma, Buchstabe)
unter den Auslegungskriterien noch heute eine Sonderstellung eingeräumt wird. Das Haften am Buchsta-
ben, der Versuch, den Text buchstäblich zu sichern, ist eine sehr alte Vorstellung, die eng mit der Erfindung
der Buchstabenschrift und ihrer Ingebrauchnahme für dokumentarische Zwecke zusammenhängt. In Meso-
potamien, wo die phonetische Schrift vermutlich ab dem späten 2. Jahrtausend v. Chr. verwendet wurde,
wird diese Vorstellung wohl zuerst in der sogenannten Wortlautformel, „nichts wegnehmen, nichts hinzufü-
gen“, konserviert; schon im 13. Jahrhundert v. Chr. heißt es in einem hethitischen Text, den Pestgebeten von
Mursilis, mit Bezug auf einen auf Ton geschriebenen Vertrag: „Dieser Tafel aber fügte ich kein Wort hinzu,
noch nahm ich irgendeines weg.“20 Auch die altisraelische Kultur pflegte die Bindung an den Wortlaut insbe-
sondere der mosaischen Gesetze. „Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts
davontun, auf dass ihr bewahrt die Gebote des Herrn, eures Gottes, die ich euch gebiete.“21 Ferner kannte die
Gesetzgebung der griechischen Stadtstaaten (poleis) seit frühester Zeit, etwa im Gortyn-Code, die strenge
Verpflichtung des Magistraten auf das buchstäblich Geschriebene.22 Auch das römische Recht ist zunächst
vermutlich an buchstabengenauer Auslegung orientiert.23 In einer dem römischen Juristen Marcellus
(2. Jahrhundert n. Chr.) zugeschriebenen Digestenstelle heißt es, dass vom Wortlaut des Gesetzes nicht ab-
gewichen werden dürfe.24 Außerdem sind weitere römische Rechtsregeln bzw. Rechtssprichwörter dieser Art
überliefert, wie etwa der Satz, dass derjenige, der von einer Silbe abgehe, vom ganzen Text abgehe.25 Aller-
dings kannte das (spätere) römische Recht auch eine Reihe von Regeln, die das Gegenteil besagen, wie z. B.
die Formel, dass die dem Wortlaut widersprechende Auslegung kein Unrecht schafft.26

199 Uneinig ist man sich in der Methodenlehre bis heute nicht nur über den (korrekten)
Umgang mit dem Wortlautargument, sondern auch darüber, in welcher Reihenfolge
und Kombination die Elemente der Auslegung zur Interpretation des Rechts herange-

18 Vgl. nur S. Fish, Doing What Comes Naturally, 1989, 184f.


19 I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, 189.
20 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1992, 236, 104 Fn. 23.
21
Deuteronomium 4.2., vgl. auch 12. 32; dazu Assmann (Fn. 20), 221, der von einer Kanonisierung des
Vertragstextes (Tora) als Grundlage „buchstäblicher“ Einhaltung spricht.
22 K. Robb, Literacy and Paideia in Ancient Greece, 1994, 103 („being bound strictly by the wording of
the law“); R. Thomas, Writing, Law, and Written Law, 2005, 41, 48.
23
M. Th. Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, 98, 138; F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte,
1988, 330 (formalistisches Haften am Wortlaut); M. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1971, 213
(„die interpretatio geht zu Anfang von dem Wortsinn aus, den der allgemeine Sprachgebrauch ergibt“).
24 Digesten 32.69 (A verbis legis non est recedendum).
25 D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 1998, 187 (qui cadit a syllaba, cadit a toto), vgl.
auch 129 (maledicta expositio, quae corrumpit textum: verwünschte Auslegung, die den Text verdreht),
238 (verbis legis tenaciter inhaerendum: an den Worten der Gesetze muss man hartnäckig haften).
26 Liebs, ebd., 120 (legis constructio non facit injuriam); vgl. auch Digesten 44.7.38 (Non figura littera-
rum sed oratione quam exprimunt litterae obligamur). Nach Kaser (Fn. 23), 213, setzt sich die klassi-
sche Zeit offen über den Gesetzeswortlaut hinweg.

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II. Modellbildungen

zogen werden sollen.27 Konstatieren lässt sich insoweit allenfalls ein Minimalkonsens:
So geht die ganz überwiegende Meinung davon aus, dass die Interpretation des Rechts
und der Gesetzestexte den objektiv gültigen Sinn eines Rechtssatzes oder Gesetzes er-
mitteln soll, nicht den subjektiven Standpunkt des Gesetzgebers.28 Dadurch wird die
Unbestimmtheit der Auslegung freilich noch weiter gesteigert. Die Erschließung des
objektiv gültigen Sinns eines Gesetzes ist gegenwärtig vor allem an die teleologische
Auslegung gekoppelt; das teleologische Verfahren ermöglicht es jedoch, dem Gesetz
rechtspolitische, ökonomische oder sonstige Zwecke argumentativ zu unterlegen, die
nicht in der Rechtsordnung selbst, sondern in den Strukturen des jeweiligen Praxis-
felds oder Sachbereichs liegen.29 Damit eröffnen Objektivismus und Teleologie Mög-
lichkeiten und Spielräume für einen nahezu ungefilterten Wirklichkeitszugriff. In wel-
chem Umfang kann und darf die Interpretation auf Strukturen des Sachbereichs, etwa
den etablierten Praktiken des Versandhandels, zurückgreifen? Darf der Zivilrichter
heute beispielsweise danach fragen, welche ökonomischen Folgen es für die Prozess-
parteien und die Allgemeinheit haben kann, dass eine Produkthaftungspflicht des Au-
tomobilherstellers in dem Fall bejaht würde, in dem jemand von seinem eigenen Auto
überfahren worden ist, weil sich die Automatik bei geöffneter Motorhaube und laufen-
dem Motor selbst von der neutral-position in die drive-position geschaltet hat? Oder gilt
hier: „Gerechtigkeit gibt’s im Jenseits, hier auf Erden gibt’s das Recht“ (William Gad-
dis). Die theoretische Erklärung und Einordnung derartiger Fragen und Unbestimmt-
heiten ist bis heute strittig. Das betrifft bereits die Frage, inwiefern die teleologische
Methode Folgenberücksichtigung überhaupt zulässt,30 insbesondere wenn es um die
Berücksichtigung ökonomischer Folgen geht.31

II. Modellbildungen

1. Im Rechtspositivismus
Der Rechtspositivismus teilte mit der neuzeitlichen Naturphilosophie die Annahme 200
der Produktivität einer deduktiven Systembildung, einer hierarchischen Abschichtung
von Allgemeinem und Besonderem (vgl. Rn. 73ff., 83ff.). Der rechtswissenschaftliche
Positivismus wollte die Gesamtheit des gegebenen Rechtsstoffs, der zerstreuten lokalen
Rechte, des römischen Gelehrtenrechts, des Fürstenrechts usw., durch „Construction“
27 Esser (Fn. 11), 124; Larenz (Fn. 5), 322; ähnlich bereits Savigny (Fn. 4), 215.
28 In der Rechtsphilosophie schon früh G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, 106ff.; Larenz
(Fn. 5), 318 (allerdings eher unklar mit Einschluss des Willens des Gesetzgebers); anders etwa
M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, 328ff.
29 Larenz/Canaris (Fn. 14), 154 (Teleologie ist bezogen auf „Strukturen des geregelten Sachbereichs“,
„Sachgemäßheit“ etc.); deutlicher noch Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 67e („Normbereichsanalyse“);
W. Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004,
11ff., 36ff.
30
Zur Folgenorientierung vgl. etwa D. Grimm, Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, 1995, 139ff.;
G. Hermes, Folgenberücksichtigung in der Verwaltungspraxis und in einer wirkungsorientierten Ver-
waltungsrechtswissenschaft, 2004, 359ff.
31
Zur ökonomischen Folgenorientierung der ökonomischen Analyse des Rechts vgl. den Überblick bei
F. Müller, Ökonomische Theorie des Rechts, 2009, 359ff., 351ff.; zur neueren Diskussion vgl. auch
Ch. Kirchner, Methodiken für die judikative Rechtsfortbildung im Zivilrecht, 2012, Rn. 1252ff.;
K.-H. Ladeur, Die rechtswissenschaftliche Methodendiskussion und die Bewältigung des gesellschaft-
lichen Wandels, RabelsZ 64 (2000), 60ff. m.w.N.

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§ 6. Interpretation

zu einer inneren „pyramidenförmigen“ Einheit „positiver“ Rechtssätze, einem homo-


genen System, umbilden und dabei insbesondere die unmittelbare Geltung von Moral
und Politik im Recht ausschließen. Deshalb ließen Autoren wie Savigny, Puchta, Ger-
ber, Windscheid oder Laband keinen Zweifel daran, dass die rechtswissenschaftliche
Arbeit primär Konstruktion des Rechts im Sinne der hierarchischen Systematisierung
des gegebenen Rechtsstoffes war – und erst im zweiten Schritt Interpretation, Anwen-
dung des positiven Rechts auf den Fall.32 Erst die Schaffung eines dichten Zusammen-
hangs spezifisch juristischer Regeln und Begriffe, erst die deduktive Systembildung
unter einer Idee oder einem obersten Grundsatz, d. h. die systematische Darstellung
des Rechts durch strenge bewusste Gedankenverbindung, die Puchta mit der bewuss-
ten Arbeit eines Künstlers verglich,33 ermöglichte die Unterstellung, dass sich in jedem
einzelnen Rechtsinstitut, etwa im Eigentum, ein freier (voraussetzungsloser) Wille ar-
tikuliere; und erst die Konstruktion des Rechtssystems, dass eine „Gabe“ als von einem
„Dritten“ kommend konstruiert wurde, machte es möglich, den Interpreten auf Infor-
mationen festzulegen, die dieser lediglich aus dem System herauszulesen hatte. Etwas
anders formuliert: Nur weil der Rechtspositivismus das Rechtssystem als Subjekt eines
in sich vernünftigen und logisch (gedanklich) geschlossenen Kosmos von Rechtsnor-
men mit objektivem Geltungsanspruch konzipiert hatte (und damit später auch in
der Praxis erfolgreich war), konnte er auch einen Interpreten konzipieren, der den
wahren Sinn eines Gesetzes im Interpretationsakt erkennen und, wenn notwendig,
den ganzen Inhalt seines Reichtums zu enthüllen vermochte.34
201 Man muss deshalb Konstruktion und Interpretation des Rechts deutlich voneinander
trennen. Die weit verbreitete Ansicht, dass der rechtswissenschaftliche Positivismus
eine von allen nichtjuristischen Elementen befreite „blinde“ Dogmatik gepflegt oder
allgemeiner die soziale und historische Dimension aus seinen „logischen“ und „be-
griffsjuristischen“ Konstruktionen ausgeschlossen habe,35 ist ein Mythos der Nach-
kriegszeit. Eine derartig verkürzte und verfälschende Sicht auf den Rechtspositivismus
kann nur dann entstehen, wenn manche Selbstkommentierungen des Rechtspositivis-
mus, wie etwa Labands Vorwort zum deutschen Reichsstaatsrecht,36 eins zu eins für
bare Münze, die konstruktiven Leistungen desselben Autors dagegen überhaupt nicht
zur Kenntnis genommen werden. Eine Rekonstruktion des rechtswissenschaftlichen
Positivismus ohne Berücksichtigung dessen, was er getan hat, nämlich im Medium
des Buchdrucks juristische Systeme zu entwerfen, ist heute jedenfalls völlig unzurei-
chend. Die Konstruktion des positiven Rechts als autonomes, in sich geschlossenes,
deduktives System war gerade die Antwort, die der Rechtspositivismus auf die soziale
Situation seiner Zeit formulierte. Das war klar auf den entstehenden Nationalstaat be-
zogen, dem der Rechtspositivismus ein einheitliches, an der Praxis orientiertes Recht
geben wollte, in dem die Rechtswissenschaft und der wissenschaftlich arbeitende
32
Für R. v. Jhering etwa war die Interpretation der Gesetze noch 1857 die „absolut niedrigste Stufe“ aller
wissenschaftlichen Tätigkeit. Ähnlich hat es auch C. F. v. Gerber gesehen.
33
Hier zitiert nach H.-P. Haferkamp, Methode und Rechtslehre bei Georg Friedrich Puchta, 2012,
Rn. 234.
34 Formulierung in Anlehnung an Savigny (Fn. 4), 319, 207 (Erkenntnis der Wahrheit); vgl. dazu auch
K.-H. Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft,
ARSP 74 (1988), 218ff., 220, der von einer Entsprechung des erlebenden und des reflektierenden Sub-
jekts spricht.
35 So z. B. Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 77ff.
36
P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 1 (1911), 1964, IX f.

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II. Modellbildungen

Richter selbst als Rechtsquelle angesehen wurden (und weniger der politische Gesetz-
geber). Das mag man heute, in einem demokratischen Verfassungsstaat, kritisieren
wollen, aber darin dachte der Rechtspositivismus durchaus politisch, nur eben inner-
halb einer eigenen juristischen Form.
Ebenso verfehlt wie der pauschale Vorwurf der „Realitätsblindheit“ ist die Ansicht, 202
dass der Rechtspositivismus die Interpretationslehre durchgängig nach dem Vorbild
des Anwendungs- und Subsumtionsmodells, gewissermaßen als „Subsumtionsauto-
maten“ entworfen habe.37 Versteht man unter Subsumtionsautomat eine triviale Ma-
schine, die Inputs (Gesetze) auf immer gleiche und wiederholbare Weise in Outputs
(Urteile) transformiert,38 wäre die rechtspositivistische Methodenlehre auf das Schluss-
schema des deduktiven Syllogismus festgelegt gewesen. In der Mitte des 18. Jahrhun-
derts, so die Legende, habe schon Montesquieu das Verhältnis von legislativer und
richterlicher Gewalt im 11. Buch von „De l’esprit des lois“ (1748) in einer derartigen
Weise bestimmt: Von den drei Gewalten habe Montesquieu die richterliche Gewalt
(puissance de juger) als in gewisser Weise gar nicht vorhanden erklärt (en quelque façon
nulle); der Richter sei nur der Mund, der den Wortlaut des Gesetzes spreche (la bouche
qui prononce les paroles de la loi), ein willenloses Wesen, das weder die Schärfe noch die
Strenge des Gesetzes zu mildern vermöge.39 Solche Gedanken waren im frühen
19. Jahrhundert sicherlich auch in Deutschland präsent (Feuerbach, Schoemann,
Grolmann u. a.), und zweifellos kannte auch der Rechtspositivismus einige dieser me-
chanistischen Ideen. Dazu gehörten etwa die Vorstellung von der Rechtsanwendung
als einem dem naturwissenschaftlichen Denken vergleichbaren „Erkenntnisakt“ oder
der ebenfalls weit verbreitete Gedanke vom „logischen Schließen“ als Ausdruck einer
Bindung der juristischen Interpretation an allgemeine, zwingende Denkgesetze (vgl.
dazu nur die oben zitierten Äußerungen Labands, Rn. 194). Dennoch lässt sich die In-
terpretationstheorie des rechtswissenschaftlichen Positivismus keineswegs auf das An-
wendungs- und Subsumtionsmodell und seine logisch-erkenntnisförmigen Beweis-
führungsschemata reduzieren.40
Seit Savigny konstruierte der Rechtspositivismus immerhin umfangreiche Auslegungs- 203
regeln als Teil der eigenen Systementwürfe. Der Methodenkanon fungierte hier als
Summe der Anweisungs- und Abstimmungsregeln, nach denen die Bedingungen der
Empfänglichkeit des Rechtssystems für seine Umweltgegebenheiten im System selbst
festgelegt wurden. Die Auslegung wurde also – ähnlich wie die Rechtsquelle – als
Komponente eines Handlungssystems verstanden, als Komponente einer etablierten
Rechtspraxis, nicht aber bildete der Methodenkanon einen quasi ontologischen Status
37
Das unterstellt z. B. M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein ..., 2006, 20f.; zum Begriff des
„Subsumtionsautomaten“ vgl. R. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986, 212 („me-
chanische Rechtsanwendungsvorstellung“) und allg. 292ff.
38
Zum Maschinenbegriff und zur Unterscheidung von trivialer/nicht-trivialer Maschine vgl. H. v. Foers-
ter, Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, 1993, 233ff.,
244ff.
39 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze 1 (1748), 1992, 220, 225; vgl. dazu R. Ogorek, Die erstaunliche
Karriere des ‚Subsumtionsmodells‘ oder wozu braucht der Jurist Geschichte?, 2002, und dies., De l’Es-
prit des légendes, 1983, 277ff. Auch der Rückgriff auf C. Beccaria, der im 4. Kap. seines Buches über
Verbrechen und Strafen die Interpretation gleichsam wegdefiniert haben soll (der Richter, so diese Le-
gende, habe bei jedem Urteil einen „vollkommenen Syllogismus“ zu vollziehen), ist nach Ogorek
(Fn. 37), 40f., problematisch.
40
Vgl. dazu nur Ogorek, ebd., 151ff.; J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2012, 211ff.

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§ 6. Interpretation

ab. Der Methodenkanon sorgte für die laufende Abstimmung und Mikrovariation des
geltenden positiven Rechts auf und durch neue Sachverhalte und Fälle. Auch ver-
knüpfte der Rechtspositivismus das positive Recht durchaus mit anderen gesellschaft-
lichen Regelbeständen und Konventionen einer arbeitsteiligen Kultur: Die grammati-
sche Auslegung war ja gerade an die Darlegung der auch vom Gesetzgeber lediglich
„angewendeten Sprachgesetze“ gebunden!41 Das Rechtssystem kannte also durchaus
Möglichkeiten für apokryphes (verborgenes) Lernen, vorausgesetzt, dass sich die Ge-
sellschaft und ihre detailreichen Praxisfelder nicht zu schnell und abrupt änderten.
Um denselben Gedanken leicht zu variieren: „Man darf die logische ‚Subsumtion‘
nicht einfach beim Wort nehmen, sondern muss diese Konstruktion als operative Regel
innerhalb des Rechtssystems konstruieren, die der Strukturierung der kognitiven Of-
fenheit des normativen Systems und seiner Selektivität für Umweltkontakte dient.“42
204 Wie wenig sich die Interpretationstheorie des Rechtspositivismus auf das Anwen-
dungs- und Subsumtionsmodell reduzieren lässt, zeigt auch das Feld der Gesetzesin-
terpretation. Die Gesetzesinterpretation hatte für den Rechtspositivismus bis in das
späte 19. Jahrhundert hinein eher Ausnahmecharakter. Savigny sprach in diesem Zu-
sammenhang von „legaler Interpretation“, im Unterschied zu der – für ihn im Zent-
rum stehenden – „doktrinellen“ oder „wissenschaftlichen Auslegung“, die sich auf das
gemeine Recht, d. h. das ohnehin konstruktiv-wissenschaftlich bearbeitete römische
Recht bezog.43 Aber selbst die Bindung des Interpreten an das Gesetz wurde keines-
wegs im Sinne der Bindung an einen politischen Befehl verstanden. Im Zentrum die-
ses Abschnitts stand vielmehr die „Reconstruktion des dem Gesetze innewohnenden
Gedankens“; und diese rekonstruktive Arbeit war für Savigny „freie Geistesthätig-
keit“,44 den Gedanken des Gesetzes im Denken von neuem Entstehenlassen. In dieser
freien Geistestätigkeit war für den Rechtspositivismus durchaus – nicht anders als bei
Schleiermacher – die Möglichkeit angelegt, einen Text besser zu verstehen, als sein Au-
tor ihn selbst verstanden hatte.45 Mit der Anweisung, den Gedanken des Gesetzes im
Anwendungsakt neu entstehen zu lassen, war das positive Recht also keineswegs auf
einem einmal erreichten status quo eingefroren, sondern offen für eine in die Zukunft
gerichtete Anwendungsgeschichte, die sogar den echten Lückenfall, den Auftritt eines
neuen, bisher unbekannten Rechtsverhältnisses einschloss. Das „Verstehen“ des Geset-
zes hatte seine Schranke allenfalls in dem nicht angemessenen Selbstbild als rekonst-
ruktiver Vollzug einer Produktion zu gelten.
205 Dass der rechtspositivistische Subsumtionsautomat, das „Rechnen mit Begriffen“, ein nachträglich ge-
schaffener Mythos der Methodenlehre des 20. Jahrhunderts ist, lässt sich auch am Beispiel des Lehrbuchs
zum Pandektenrecht von Bernhard Windscheid (1817–1892) verdeutlichen. Windscheid unterschied
grammatische, logische, objektive und Lücken bzw. Widersprüche aufhebende Interpretation. Auslegung
sei Darlegung des mehr oder minder gegebenen Inhalts des Rechts und sowohl für das Gesetzes- als auch

41
Savigny (Fn. 4), 214.
42
Vgl. K.-H. Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung in kognitivistischer
Perspektive, ARSP 77 (1991), 176ff., 177.
43 Savigny (Fn. 4), 206ff.
44
Savigny, ebd., 213, 207; dieser Gedanke wurde später u. a. von Thibaut aufgegriffen; Ogorek (Fn. 37),
143f.; dazu auch J. Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), 2012,
Rn. 148ff.
45 Zu Schleiermacher und der Geschichte dieses berühmten Satzes vgl. Gadamer (Fn. 3), 195; S. Meder,
Mißverstehen und Verstehen, 2004, 106ff., sowie 17ff. zur Hermeneutik Savignys.

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II. Modellbildungen

für das Gewohnheitsrecht notwendig.46 Die Gesetzesauslegung konnte grammatisch oder logisch erfolgen.
Die grammatische Auslegung zielte primär auf die Feststellung des Sinns, welchen der Gesetzgeber mit den
von ihm gebrauchten Worten verbunden hatte. Die Interpretation hatte sich hier, nicht anders als bei Sa-
vigny, unter Zuhilfenahme der Sprachgesetze möglichst vollständig in die „Seele des Gesetzgebers“ hinein-
zudenken; dabei, so Windscheid, sei sowohl der Zweck des Gesetzes als auch der Wert des Resultats zu
berücksichtigen (hier hatte bereits der späte Jhering seine Spuren hinterlassen).47 Ging die Auslegung
über die Anwendung der Sprachgesetze im Wege der „berichtigenden Auslegung“ hinaus, sprach Wind-
scheid von logischer Auslegung.48
Darüber hinaus sah es Windscheid noch in der letzten Auflage des Pandektenrechts als „edelste und
höchste Aufgabe“ der Auslegung an, den „eigentlichen Gedanken“, den der Gesetzgeber hatte ausdrücken
wollen, hervorzuziehen.49 Das galt sowohl für das Gewohnheitsrecht als auch für das Gesetzesrecht. Erneut
spielte ein rechtspositivistischer Autor damit ganz offensichtlich auf die Möglichkeit an, dass der Interpret
einen Text besser verstehen konnte, als sein Urheber ihn selbst verstanden hatte. Es kann also keine Rede
vom Interpreten als Subsumtionsautomaten sein. Windscheid führte vielmehr ein hohes Maß an Flexibili-
tät in die Interpretation ein, ohne das eigentliche Ziel der Interpretation, eine gleichbleibende Rechtssi-
cherheit, aus dem Auge zu verlieren. Larenz hat in diesem Zusammenhang bemerkt,50 dass Windscheids
Interpretationstheorie nicht ohne Anleihen bei der objektiven Theorie ausgekommen sei. Das ist völlig
richtig, aber weitaus weniger überraschend als Larenz selbst anzunehmen scheint: Entscheidend war für
Windscheid nicht der Gehorsam gegenüber dem Gesetz, sondern der Gehorsam des Interpreten gegen-
über seiner eigenen (juristisch geschulten) inneren Stimme. Auch für Windscheid war das positive Recht
zweifellos fähig, im Kontakt mit der Praxis eine eigene Anwendungsgeschichte zu erzeugen. Diese Flixibi-
lität der Rechtsinterpretation im Konkreten wurde gerade durch die im rechtspositivistischen System ver-
ankerte Interpretationstheorie möglich. Die subjektive Auslegungslehre, die der Rechtspositivismus angeb-
lich gepflegt habe, ist dagegen Teil der Mythologie des nachpositivistischen „Wertedenkens“ des
20. Jahrhunderts, zu deren Verbreitung nicht zuletzt Larenz selbst beigetragen hat.

Das entscheidende Problem, dass die Interpretationslehre des rechtswissenschaftlichen 206


Positivismus aufwirft, liegt nicht in einer vordergründigen Abschließung der Rechtsin-
terpretation gegenüber der sozialen und politischen Realität, schon gar nicht in einer
Abschließung gegenüber der Rechtspraxis. Keine Interpretationstheorie kann auf die
Unterscheidung von rechtlich relevanten und rechtlich nicht relevanten Informatio-
nen verzichten; und dass es neben dem Recht noch andere Realitäten gibt, hat kein
Rechtspositivist je bestritten. Das entscheidende Problem der rechtspositivistischen
Interpretationslehre liegt auf der Zeitachse des Systementwurfs. Der rechtswissen-
schaftliche Positivismus operierte mit der (schon zu seiner Zeit eher unplausiblen) An-
nahme, dass die sich verändernden Kontexte der Interpretation durch ein der Tem-
poralität enthobenes, wahre Erkenntnisse verbürgendes Interpretationsverfahren
diszipliniert werden könnten. Der sich im Akt der Interpretation, im „fresh judg-
ment“,51 zwangsläufig geltend machende Fluss der Dinge, der sich von Fall zu Fall ver-
ändernde Sachbereich, wurde als durch stabile Systemregeln selektierbar und damit als
vollständig im positivistischen System kontrollierbar dargestellt: Entweder ist die
quaestio juris eines Lebenssachverhalts bereits vom Juristenrecht bzw. von der politi-
schen Gesetzgebung vorweggenommen, oder, wenn das nicht der Fall ist, kann zumin-
dest der rechtskundige Anwender das Problem durch grammatische, logische, Lücken
46
B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts Bd. 1, 1906, 97ff.; zur Gesetzesauslegung bei Wind-
scheid vgl. J. Rückert, Methode und Zivilrecht bei Bernhard Windscheid, 2012, Rn. 323ff.; ausführlich
U. Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, 1989, 137ff.
47
Windscheid (Fn. 46), 99, 100.
48
Windscheid, ebd., 101, 102.
49 Windscheid, ebd., 102.
50 Larenz (Fn. 5), 317.
51
Fish (Fn. 18), 505.

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§ 6. Interpretation

füllende oder gegebenenfalls analoge Auslegung im Sinne des deduktiven Systems be-
wältigen. Das System hat die Antwort – jedenfalls idealiter – immer schon parat.
207 Auf das Problem einer sich rascher wandelnden Gesellschaft reagierte bereits die teleologische Methode,
prominent von Rudolf v. Jhering als „Zweck im Recht“ thematisiert. Die teleologische Methode gewann
erst im späten 19. Jahrhundert an Bedeutung. Bei den Begründern des Rechtspositivismus, wie etwa bei Sa-
vigny, kam die teleologische Interpretation noch nicht vor, zumindest bekommt sie einen eher beiläufigen
Platz zugewiesen.52 In teilweiser Übereinstimmung mit Jherings Terminologie rückte das teleologische
Denken vor allem in der Interessenjurisprudenz des späten Kaiserreichs (Philipp Heck, Max Rümelin u. a.)
ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dem Gesetz wurde jetzt eine unmittelbar materiale, an sozialen Zwecken
orientierte – heute würde man vielleicht sagen: steuerungstheoretische – Vorstellung unterlegt, die „Interes-
senkonflikte“ und ihre Bewertung in die Mitte der so bezeichneten „Rechtsfindungsmethode“ rückte. Das
ging schließlich in der Freirechtsschule (Erich Fuchs, Eugen Ehrlich, Hermann Kantorowicz) mit einer Lo-
ckerung oder Auflösung der Gesetzesbindung zugunsten eines social engineering-Ansatzes einher.53 Die
Krise der rechtspositivistischen Methodenlehre wurde nicht zuletzt in der staatsrechtlichen Diskussion der
Weimarer Republik folgenreich. Insbesondere Carl Schmitt richtete alle Aufmerksamkeit auf die Unbe-
stimmtheitsstellen des Rechtssystems, diagnostizierte eine zwischen dem Gesetz und seiner Anwendung lie-
gende „auctoritatis interpositio“ und schlussfolgerte daraus, dass es für die „Wirklichkeit des Rechtslebens“
darauf ankomme, „wer entscheidet“.54

208 Das große Vertrauen in die durch die eigenen Auslegungsmethoden versprochene Si-
cherheit und Gewissheit der Interpretationsergebnisse konnte der Rechtspositivis-
mus des 19. Jahrhunderts nur entwickeln, weil er dem Phänomen der Irreversibilität
der Zeit, der Frage nach der Möglichkeit der Wiederholung desselben Sinns in einer
anderen Situation, wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Jede Rechtsinterpretation
muss auf Informationen zurückgreifen, die nicht in Rechtstexten gespeichert sind,
sofern man den Textbegriff hier eng als expliziten Text, etwa als schriftliches Gesetz,
versteht. Die Rechtsinterpretation muss diese Texte aber stets aufs Neue in einer an-
deren praktischen Situation, einem anderen Fall, zur Geltung bringen. Interpreta-
tion ist also stets rekursive Wiederverwendung schriftförmiger Information. Aber
diese Wiederverwendung ist – entgegen dem ersten Anschein – nicht abschließend
im Rechtstext zu finden, sondern notwendigerweise auf kontextabhängige Verwen-
dungserfahrungen und praktisches Wissen angewiesen, das unterschwellig mitläuft
und nicht vollständig expliziert werden kann. Die Kontexte werden also niemals
eins zu eins wiederholt. Immer werden einzelne nicht wiederholbare Momente weg-
gelassen, wird bewährter Sinn von einem Fall zum nächsten verschoben und damit
verändert. Die Interpretation gehorcht mit den Worten Derridas, einer Logik der
Iterabilität, „welche die Wiederholung mit der Andersheit verbindet.“55 Sie vollzieht
stets – in Luhmanns Diktion – eine Doppelbewegung: Interpretation ist „Konden-
sierung“ von Sinn, d. h. Weglassen von nicht-wiederholbaren Momenten anderer Si-
tuationen, und zugleich dessen „Konfirmierung“, d. h. Generalisierung bewährten
Sinns, ohne dass dieser Vorgang auf einen seiner beiden Aspekte reduziert werden

52
Savigny (Fn. 4), 212ff., 228 (wo der „Grund“ des Gesetzes als Auslegungstopos in einer eher diffusen
Weise herangezogen wird); vgl. dazu insgesamt Rückert (Fn. 44), Rn. 135ff.
53 Vgl. dazu F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, 451f. ( Jhering), 574ff. (Interessenju-
risprudenz), 579ff. (Freirechtsschule); vgl. auch J. Rückert, Die Schlachtrufe im Methodenkampf – ein
historischer Überblick, 2012, Rn. 1402ff.
54
C. Schmitt, Politische Theologie (1922), 1985, 42, 46; zu diesem Motiv, das die Stimme gegenüber der
Schrift des Gesetzes privilegiert, vgl. die glänzende Interpretation von H. Lethen, Verhaltslehren der
Kälte, 222ff.
55
J. Derrida, Randgänge der Philosophie, 1988, 333.

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II. Modellbildungen

könnte.56 Dagegen setzte der rechtswissenschaftliche Positivismus auf eine Sprach-


auffassung, in der die Sprache „nur Zeichen für den Gedanken“ war.57 Die Rechts-
texte und ihre Körper waren im Selbstverständnis des Rechtspositivismus nicht
Komponenten von Handlungen, von Mediengebrauch in mit Informationen gefüll-
ten praktischen Situationen, sondern am Ende Oberfläche eines reinen (zeitentho-
benen) Sinns. Und weil die Abhängigkeit des Sinns der schriftlichen Rechtsnormen
von ihrem Gebrauch unreflektiert blieb, konnte sich die Interpretation – wie Kants
transzendentales Bewusstsein – über ihre Kontextabhängigkeit, über die „Notwen-
digkeit zeitlicher Sequenzierung“,58 hinwegsetzen.
Auch Kelsens dynamisches Modell eines stufenförmigen Rechtserzeugungszusammenhangs springt nicht 209
über diese Hürde. Kelsen unterscheidet zwischen „generellen“ und „individuellen Rechtsnormen“.59 Indi-
viduelle Normen werden innerhalb eines als hierarchisch gedachten Rechtserzeugungszusammenhangs,
dem „Stufenbau der Rechtsordnung“,60 aus generellen Normen gewonnen, so dass die strikte Entgegenset-
zung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung relativiert wird: Rechtsgeschäfte, administrative oder rich-
terliche Einzelfallentscheidungen werden als individuelle Normen bildlich am unteren Ende des System-
baus von „niederen“ und „höheren“ Stufen, diesseits von Verordnung, Gesetzgebung/Gewohnheit,
Verfassung und Grundnorm angesiedelt. Trotz Kelsens Zurückweisung aller allzu simplen Modelle logi-
scher „Deduktion“, seiner Kritik der „Fiktion“ einer einzig richtigen Auslegung,61 bleibt sowohl die Vor-
stellung einer „Steuerung“ der rangniederen durch die ranghöhere Ebene als auch der logische und genea-
logische Vorrang der generellen gegenüber der individuellen Entscheidungsnorm dominant. Die generelle
Rechtsnorm bestimmt zwar nicht vollständig, aber doch rahmenförmig den Prozess der Generierung indi-
vidueller Normen in einer unbestimmten Zahl von Fällen. Aber die Frage, wie diese Zukunftsbindung mög-
lich ist, wie die Regel von Fall zu Fall mit sich selbst identisch bleiben kann, wird von Kelsen nicht gestellt,
geschweige denn beantwortet. Dieses Absehen von der Regelpraxis aber ist ein Absehen von der prinzipiel-
len Irreversibilität der Zeit. Das teilt die generelle Norm Kelsens mit Kants Allgemeinheit des Gesetzes.

2. Philosophische Hermeneutik
Gegen die rechtspositivistische Interpretationstheorie, gegen die Vorstellung einer 210
Richtigkeitskontrolle der Rechtsanwendung durch einen systemintern konstruierten
Methodenkanon, setzt die hermeneutische Philosophie Hans-Georg Gadamers
(1900–2002) die Einsicht, dass Interpretation stets ein „Dolmetschen“ ist, die Über-
setzung eines Zeichens von einem Kontext in einen anderen. Interpretation ist zirkulär
angelegt, jedes Verstehen, jeder Interpretationsakt, setzt notwendigerweise einen be-
reits erschlossenen „Sinn des Ganzen“ voraus.62 Wer verstehen will, was die Verfassung
des Grundgesetzes heute meint, wenn sie Eigentum gewährleistet (Art. 14 Abs. 1
Satz 1 GG), muss schon wissen, was Eigentum ist oder zumindest eine Idee davon
haben, wie es zu dem geworden sein könnte, was es dann zu einem bestimmten histo-
rischen Zeitpunkt ist. Aus diesem hermeneutischen Zirkel gibt es kein Entrinnen,
auch nicht durch Kommentierungen von Gesetzestexten, denn diese müssen ihrerseits
interpretiert und verstanden werden: Jede Interpretation verweist auf einen Verständ-
56
N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 75.
57 Windscheid (Fn. 46), 101.
58 N. Luhmann (Fn. 56), 66, 75.
59
Vgl. nur H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), 1994, 85, vgl. auch 20, 121 u. ö. in jeweils unterschied-
lichen Zusammenhängen.
60 Kelsen, ebd., 228ff.
61 Kelsen, ebd., 346ff., 353; dagegen kritisch Jestaedt (Fn. 28), 49 Fn. 137.
62
Gadamer (Fn. 3), 271; dazu J. Grondin, Einführung zu Gadamer, 2000, 125ff.

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§ 6. Interpretation

nishorizont jenseits der Rechtstexte und geschriebenen Gesetze, auf die Kontinuität
einer „Geschichtlichkeit des Verstehens“,63 das akkumulierte Wissen einer historisch
gewachsenen Kultur. Interpretation ist immer schon historisch, sozial und sachlich si-
tuiert, und über diese konkrete Zeit-, Gesellschafts- und Sachabhängigkeit gewinnt
das hermeneutische Unternehmen Boden unter den Füßen. „Die hermeneutische
Aufgabe geht von selbst in eine sachliche Fragestellung über und ist von dieser immer
schon mitbestimmt.“64
211 Der hermeneutische Zirkel hat seinen Grund in der Natur der Sprache, die für die philo-
sophische Hermeneutik das primäre Medium der Kommunikation, des Gesprächs, und
aller Erfahrung ist. Während der Rechtspositivismus sprachphilosophisch gesehen in
den Prämissen der Bewusstseinsphilosophie stecken bleibt, schafft die Hermeneutik
den Sprung auf die Ebene des Mediengebrauchs: Sprache und Schrift sind die Mittel
der hermeneutischen Erfahrung.65 Und so wie Sprechen für die pragmatische Sprach-
philosophie seit Wittgenstein Handeln ist, ist auch die verstehende Auslegung für die
Hermeneutik ein Tun, eine „Vollzugsform“.66 Diese Vollzugsform operiert nicht einfach
rezeptiv, sondern produktiv. „Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Ent-
werfen.“67 Interpretation erschöpft sich nicht in der Rekonstruktion eines im Rechtstext
zum Ausdruck kommenden Gedankens, sondern bedeutet – notwendigerweise – Vor-
entwurf, sachbestimmte, erwartungsgeleitete Sinnanreicherung. Erst im Vollzug dieses
ständigen Neu-Entwerfens erfährt der Text seine eindeutige Bestimmung und Be-
stimmtheit. Ob die Tötung des Liebhabers der Schwester durch die von den Brüdern
geplante Verabreichung von Gift (während eines gemeinsamen Mittagessens) die Merk-
male der Mordqualifikation von § 211 StGB erfüllt, zeigt sich erst mit Blick auf den gan-
zen Fall: der Deutung des Geschehenen, nicht aber ist dessen juristische Einordnung als
Mord oder Totschlag (§ 212 StGB) bereits abschließend durch das Gesetz beantwortet,
wie etwa Cesare Beccaria im 18. Jahrhundert meinte, als er das strafrechtliche Urteil (zu-
mindest rechtspolitisch) auf einen „vollkommenen Syllogismus“ reduzierte.
212 Während der Rechtspositivismus auf einen stabilen Methodenkanon setzt, um die
auch von ihm nicht prinzipiell geleugnete Mehrdeutigkeit der (juristischen) Sprache
zu bewältigen, kommt es in der Hermeneutik zu der Vorstellung einer situativen und
sachbestimmten Anreicherung und ständigen Transformation des Sinngehalts von
Rechtsnormen. Auslegung heißt „Konkretisierung des Gesetzes“ im Kontext eines je-
weiligen Falles,68 Sinnproduktion im Akt der „Applikation“,69 Anwendung des zu ver-

63 Gadamer (Fn. 3), 270; dazu G. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 1997, 62 (mit der Bemerkung, dass
der Akzent bei Gadamer gerade auf der Kontinuität liege, d. h. in der Unterstellung eines geschichtlich
gewachsenen einheitlichen Sinnzusammenhangs).
64 Gadamer (Fn. 3), 273.
65 Gadamer, ebd., 383ff., 454, 478 („Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“); dazu Vattimo
(Fn. 63), 16 („Bei Heidegger wird die Interpretation trotz allen Nachdrucks, den er, besonders in der
Spätphase seines Denkens, auf die Sprache legt, vor allem unter dem Gesichtspunkt des Sinns von
Sein betrachtet; bei Gadamer wird die Interpretation trotz aller Betonung der Ontologie vom Gesichts-
punkt der Sprache aus gedacht.“). J. Habermas hat in diesem Zusammenhang treffend von einer „Ur-
banisierung der Heideggerschen Provinz“ gesprochen.
66
Gadamer (Fn. 3), 271.
67
Gadamer, ebd. Das heißt: Es gibt keine Fakten, es gibt nur Interpretationen.
68 Gadamer, ebd., 335.
69 Gadamer, ebd., 346 („Applikation ist nicht die nachträgliche Anwendung von etwas gegebenem Allge-
meinen, das zunächst in sich verstanden würde, auf einen konkreten Fall, sondern ist das wirkliche Ver-

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II. Modellbildungen

stehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten. Da jeder neue Fall
eine neue Applikation verlangt, verschiebt die Interpretation fortlaufend den Sinn
von Regeln und damit auch von Rechtsnormen. „Das Allgemeine, unter das man ein
Besonderes subsumiert, bestimmt sich eben dadurch selber fort.“70 Damit wird die im
Rechtspositivismus unterstellte Möglichkeit einer strikten Trennung von Gesetz und
Gesetzesanwendung, von Rechtsetzung und Rechtsauslegung, durch eine „tangled
hierarchy“ (Douglas Hofstadter) ersetzt, und die Unterscheidung von Regel und Re-
gelanwendung wird insofern relativiert bzw. aufgegeben, als die Unvermeidbarkeit
und Notwendigkeit „produktiver Rechtsergänzung“ im Akt der Interpretation aner-
kannt wird.71 Wenn aber die Methode die Sicherheit und Gewissheit der richtigen
Interpretation nicht gewährleisten kann, bleibt dann nur noch die jeweilige Ansicht
des Rechtsinterpreten, z. B. die Ansicht des einen konkreten Fall entscheidenden
Richters? Ist die Hermeneutik eine Theorie, die an die Stelle der objektiven Rechtser-
kenntnis subjektive Meinungen oder gar beliebige Wertungen einzelner zur Entschei-
dung befugter Personen setzt, insbesondere die Vorstellung der produktiven Rolle der
Rechtsanwendung? Kann man wirklich sagen, dass der „Schein der Objektivität der
Gesetzesauslegung ... von der philosophischen Hermeneutik endgültig und unwider-
ruflich zerstört“ wird?72
Vor einer derartigen Darstellung der Hermeneutik ist dringend zu warnen. Der Her- 213
meneutik geht es keineswegs um die Selbstreflexion des Interpreten bei der Auslegung
von Rechtstexten oder um die Ersetzung von Erkenntnis durch Meinung. Die Herme-
neutik will nicht das subjektive Meinungswissen des Interpreten hinterfragen, sie ist
keine Richtersoziologie, sondern unterstellt sehr viel radikaler und grundsätzlicher die
Erschütterung der stabilen Wahrheitsvorstellungen, von denen noch der Rechtspositi-
vismus ausgegangen war. Weil Wahrheit, Erschlossenheit von Sein, in der Hermeneu-
tik von der Sprache und damit vor allem von Schrifttexten abhängig wird, existiert die
Erfahrung von Wahrheit überhaupt nur im Medium von Sprache und Schrift,73 als
sich in der Welt, in Gesprächen und Texten (und nicht nur im Bewusstsein oder im
Geist) artikulierendes Wissen. Die Hermeneutik hat daher weitreichende erkenntnis-
theoretische Konsequenzen. Sie ist kritisch gegen die abstrakten Vernunftskonstruk-
tionen der Aufklärung gerichtet, auf denen letztlich auch das rechtspositivistische Sys-
temdenken beruht, die Vorstellung einer Einheit der Vernunft, des Gesetzes und der
Rechtsordnung. Gadamer misstraut der (cartesianischen und idealistischen) Philoso-
phie des (transzendentalen) Subjekts, er misstraut vor allem der Unterstellung der
Möglichkeit einer Voraussetzungslosigkeit des Denkeinsatzes; er teilt, anders herum
gesagt, mit Hegel und Heidegger die Kritik am kantischen Subjektbegriff und die
Skepsis im Hinblick auf die Möglichkeit der Letztbegründung sicheren Wissens im
Selbstbewusstsein. „Das Subjekt ist nicht Träger des Kantischen Apriori, sondern
Erbe einer geschichtlich-endlichen Sprache, die seinen Zugang zu sich selbst und zur
ständnis des Allgemeinen selbst, das der gegebene Text für uns ist.“), vgl. auch 312; siehe auch Jestaedt
(Fn. 28), 143.
70 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode Bd. 2, 1993, 455; ders. (Fn. 3), 314 („Ein Gesetz will nicht
historisch verstanden werden, sondern soll sich in seiner Rechtsgeltung durch die Auslegung konkreti-
sieren ... Das schließt ... ein, dass der Text ... wenn er angemessen verstanden werden soll ... neu und
anders verstanden werden muss.“).
71 Gadamer, ebd., 335.
72 So U. Neumann, Rechtsanwendung, Methodik und Rechtstheorie, 2009, 87ff.
73
Vattimo (Fn. 63), 18 („Erfahrung von Wahrheit gibt es überhaupt nur als interpretativen Akt.“).

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§ 6. Interpretation

Welt erst ermöglicht und bedingt.“74 Die Hermeneutik insistiert also gerade auf dem
Ereignischarakter einer jeden Wahrheitserfahrung, auf der Abhängigkeit der Interpreta-
tion von einer historisch unabschließbaren Zirkelbewegung des Verstehens. Die Her-
meneutik beginnt nach der „endlos langen Schwächung des Seins“,75 sie ist ein Pro-
dukt postontologischen Denkens, und dadurch erfahren nicht nur der sachliche
Kontext des konkreten Einzelfalls, sondern auch und vor allem die Zeitgebundenheit
jeder Rechtsinterpretation eine weit über das rechtspositivistische Selbstverständnis
hinausgehende Bedeutung.
214 Folgt man diesen Ausgangsannahmen der hermeneutischen Philosophie ist jeder Re-
kurs auf ein Regelsystem mit stabilen Selbstanwendungsregeln jenseits eines sich in
der Geschichte laufend verschiebenden Sinnhorizonts versperrt. Einfacher gesagt:
Rechtsinterpretation als solche, als zeitenthobenes Faktum, gibt es für die Hermeneu-
tik nicht. Dennoch wird der Objektivitätsanspruch der rechtspositivistischen Interpre-
tationslehre in der Hermeneutik nicht einfach durch Meinungswissen oder Ge-
schmacksurteile ersetzt.76 An die Stelle systemintern konzipierter Auslegungsregeln
tritt in der Hermeneutik die Vorstellung der Kontinuität eines kulturellen Überliefe-
rungszusammenhangs, eines kontinuierlichen Traditionsstroms objektiv gewordener,
tatsächlich gesprochener oder geschriebener Worte und Sätze. Über seine Verstrickt-
heit in das Gewebe der Sprache und der mit ihr gekoppelten Medien ist der Interpret
immer schon Teil dieser historisch gewachsenen Sprachgemeinschaft, partizipiert das
Verstehen von Anbeginn an in einer in der Sprache lebenden Tradition und Kultur.
Zu dieser Gemeinschaft und Tradition gehören nicht zuletzt legitime Vorurteile, d. h.
anerkennungswürdige Autorität. Autorität ist keine Sache von Gesetzesbefehl und
Gehorsam, sondern in Praktiken, in Überlieferungen, im Herkommen, in Sitten und
Gewohnheiten verankert, und die Kontinuität dieses historisch gewachsenen Überlie-
ferungszusammenhangs, diese „namenlos gewordene Autorität“77, übersteigt schon
immer einzelne subjektive Erfahrungen.
215 Von hier aus bestimmt sich die Bedeutung des für die Hermeneutik zentralen Begriffs
des „Vorverständnisses“.78 Gadamers Begriff des Vorverständnisses, der an Martin
Heideggers Vorstellung von „Geworfenheit“ anknüpft, ist ein an Geschichtlichkeit ge-
bundenes, stets sozial situiertes und der Geschichte ausgeliefertes Vorverständnis. Das
Vorwissen, die Vorentschiedenheit, ohne die keine Interpretation auskommt, ist in
einer historischen Sinnerwartung bzw. einem Vorurteil zu suchen, die den gemeinsam
geteilten Sinn aller Gesprächsteilnehmer und Leser voraussetzt und sichert: „das wirk-
liche Verständnis des Allgemeinen selbst, das der gegebene Text für uns ist“.79 Auch in
der Hermeneutik bleibt die Interpretation also an objektive Wissensbestände, an be-
74 Vattimo, ebd., 24; Ladeur, (Fn. 34), 63; M. Hofer, Die „Abdämpfung der Subjektivität“, Zeitschrift für
philosophische Forschung 54 (2000), 593ff.
75
Vattimo (Fn. 63), 30.
76
Im Gegenteil: Dem Ästhetizismus und dem ästhetischen Bewusstsein – dessen Subjektivismus und des-
sen diskontinuierlichen und a-historischen Zügen – gilt Gadamers Kritik.
77 Gadamer (Fn. 3), 285. („... daß durch Überlieferung und Herkommen Geheiligte hat eine namenlos
gewordene Autorität und unser geschichtliches endliches Sein ist dadurch bestimmt, daß stets auch Au-
torität des Überkommenen und nicht nur das aus Gründen einsichtige über unser Handeln und Ver-
halten Gewalt hat ... Die Wirklichkeit der Sitten zum Beispiel ist und bleibt in weitem Umfang eine
Geltung aus Herkommen und Überlieferung.“).
78 Gadamer, ebd., 273ff.
79
Gadamer, ebd., 346.

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währten Sinn, an Selbstverständlichkeiten, an eine gemeinsame Kultur gebunden.80


Rechtskonkretisierung ist auch für die Hermeneutik – bei aller Anerkennung ihrer
Produktivität – an einen Rechtstext (im weiten Sinne) gekoppelte Auslegung, nicht
Erfindung eines ganz anderen Textes, Freilegung eines hinter dem Text verborgenen
Sinns. Wenn Gadamer von einer „gerechten Erwägung des Ganzen“ spricht, zu der je-
der Richter oder Anwalt imstande sei, der sich in die „volle Konkretion der Sachlage“
vertieft habe,81 dann ist die Richtigkeit der verstehenden Auslegung gerade dadurch
gesichert, dass das Vorverständnis des Interpreten als interface zwischen dem interpre-
tierenden Subjekt und der Einheit und Kontinuität des kulturellen Überlieferungszu-
sammenhangs fungiert. „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir ge-
hören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir
uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir le-
ben. Der Focus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Indivi-
duums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens.
Darum sind die Vorurteile des Einzelnen weit mehr als seine Urteile, die geschichtliche
Wirklichkeit seines Seins.“82
Dass die Interpretation in einem gemeinsamen Vorverständnis verankert ist, heißt für 216
die Hermeneutik mit anderen Worten, dass die Kunst der Auslegung von Texten an
gemeinsame Wissensbestände gebunden ist, wie sie sich nach Gadamer z. B. in Begrif-
fen wie Bildung, sensus communis, Urteilskraft und Geschmack manifestieren, sofern
diese Begriffe richtig verstanden, d. h. nicht aufklärerisch intellektualisiert werden.83
Das sollte man nicht einfach als „Konservatismus“ interpretieren. Die Bindung der
Interpretation an ein Vorverständnis führt nicht zu einer leichtgläubigen Verteidigung
des Herkömmlichen, sondern – mit Hegel – zur Aufgabe einer bewussten (freien)
Fortgestaltung der Überlieferungszusammenhänge. Das Subjekt agiert im Schatten
eines „kulturellen Erbes“: Die eigenen Erfahrungen sind von vornherein in ein dichtes
Netz von Traditionen verwoben, der einzelne Interpret immer schon Teil der hier gel-
tenden Autoritäten: Diese Kontinuität gilt es in der Vollzugsform der Interpretation
fortzuführen, nicht aber geht es der Hermeneutik um die endgültige und unwiderruf-
liche Zerstörung des Scheins der Objektivität der Gesetzesauslegung.
Mit all diesen Überlegungen reagiert die Hermeneutik sehr viel konsequenter als der 216 a
Rechtspositivismus auf das Phänomen der Irreversibilität der Zeit und eine sich rasch
verändernde Gesellschaft. Aber ihr Problem bleibt ein doppeltes: Zum einen konfron-
tiert die Hermeneutik die notwendige Selektivität der Rechtsinterpretation, die Unter-
scheidung von rechtlich relevanten und rechtlich nicht relevanten Tatsachen, mit einer
unspezifischen Öffnung für den „Sinn des Ganzen“ im Interpretationsakt. Zum ande-
ren zwingt diese unspezifische Öffnung die Hermeneutik dazu, den sozialen Wandel

80
Wie sehr es Gadamer um eine objektive Fundierung der Hermeneutik in einem als historisch begriffe-
nen Vorverständnis geht, zeigt etwa auch seine Kritik an Schleiermachers „ästhetischer Metaphysik der
Individualität“. Bei Schleiermacher wird die Geschichte zum Schauspiel freier Schöpfung, göttlicher
(genialischer) Produktivität, und gerade dies ist mit einer vollen Entfaltung einer geschichtlichen Geis-
teswissenschaft, als die sich Gadamers Hermeneutik versteht, unvereinbar: Schleiermacher ordnet das
Allgemeine historischer Zusammenhänge einer bestimmten Auffassung von Texten, deren (heilige) Au-
torität feststeht, unter. Vgl. Gadamer, ebd., 188ff.
81 Gadamer, ebd., 335.
82 Gadamer, ebd., 281.
83
Vgl. Gadamer, ebd., 15ff.; vgl. auch Grondin (Fn. 62), 152ff.

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§ 6. Interpretation

im Rahmen einer Homogenitätserwartung zu verarbeiten, die mit der modernen (libe-


ralen) Gesellschaft, die ganz unterschiedlichen Funktionslogiken, Praxiszusammen-
hängen, technischen Dispositionen und Rationalitäten folgt, nicht so ohne weiteres
vereinbar sein dürfte.

3. Juristische Hermeneutik
217 Obwohl Karl Larenz (1903–1993) das Verstehen sprachlicher Äußerungen ausdrück-
lich in den Mittelpunkt seiner Methodenlehre rückt und sich dabei wiederholt auf Ga-
damer beruft,84 unterläuft er doch das durch die Hermeneutik explizierte Problemni-
veau: Der hermeneutische Zirkel und die darin angelegte Notwendigkeit der Reflexion
des Vorverständnisses, des „kulturellen Erbes“, wird auf den gemeinsamen Sozialis-
ationsprozess von Juristen projiziert.85 Zugleich wird die Ordnungsleistung des Geset-
zes als eine unabhängig von der Gesetzesanwendung existierende Repräsentation eines
stabilen normativen Willens insgesamt nicht in Frage gestellt.86 Letzteres hängt wohl
auch damit zusammen, dass Larenz den hermeneutischen Zirkel auf die Relation von
(einzelnem) Wort und (gesamtem) Sinnzusammenhang eines Textes einengt,87 nicht
aber, wie es konsequent und im Sinne der Hermeneutik einzig richtig wäre, auf die
Differenz von schriftbasiertem Textkörper und Interpretation. Ähnlich unbefriedi-
gend ist die Auflösung des hermeneutischen Zirkels in der Diskurstheorie von Robert
Alexy. Die Erschütterung eines festen Beobachterstandpunkts durch den hermeneuti-
schen Zirkel wird zwar akzeptiert,88 die dadurch auftretende Leerstelle aber sogleich
durch die Begründungsprozedur des juristischen Diskurses gefüllt. Danach lässt sich
der mit der Interpretation des Rechts grundsätzlich verbundene Anspruch auf Richtig-
keit durch „die intersubjektiv zugängliche und deshalb objektiv überprüfbare argumen-
tative Prozedur“ einlösen.89 An die Stelle des „positiv-rechtlichen Gesetzbuches“ tritt
hier lediglich „das ideale Gesetzbuch der praktischen Vernunft.“90 Der Objektivitäts-
anspruch des rechtspositivistischen Systems lässt sich aber nicht durch die Annahme
von anthropologisch tief sitzenden Regeln, durch die Vorstellung einer zwischen den
Subjekten angesiedelten Universalpragmatik wiederherstellen. Oder allgemeiner: Der
Systembegriff kann schwerlich durch einen Relationsbegriff (Intersubjektivität) ersetzt
werden.91
218 Dagegen schneidet Josef Esser die Probleme der Rechtsinterpretation sehr viel schärfer
auf das von der Hermeneutik in den Mittelpunkt gestellte Problem der Zeitlichkeit al-
len Verstehens zu: Die Informationen, die der Interpret zur Lösung eines Falles benö-

84
Vgl. nur Larenz (Fn. 5), 206ff.; vgl. auch Larenz/Canaris (Fn. 14), 63, 298.
85 Vgl. insbesondere Larenz (Fn. 5), 185 („Sein ‚Vorverständnis‘ ist das Ergebnis eines langwierigen Lern-
prozesses, in den sowohl die während seiner Ausbildung oder später erworbenen Kenntnisse, die man-
nigfache berufliche und außerberufliche Erfahrung, vor allem solche über soziale Tatsachen und Zu-
sammenhänge, eingegangen sind.“).
86
Kritisch auch Ladeur (Fn. 31), 69; M. Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007.
87 Larenz (Fn. 5), 206.
88 Vgl. R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, 75ff.
89
Alexy, ebd., 79 (Hervorhebung von mir, T. V.).
90
R. Christensen/K. D. Lerch, Performanz, 2005, 55ff., 61, vgl. auch 62 („Die Idee eines der Rechtser-
kenntnis vorgegebenen idealen Gesetzbuches wird damit nicht aufgegeben, sondern nur in die sprach-
liche Begründungsdynamik zurückgenommen.“).
91
Für eine ausführlichere Auseinandersetzung vgl. Ladeur (Fn. 31), 73ff.; Christensen/Lerch (Fn. 90), 61f.

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II. Modellbildungen

tigt, können weder abschließend dem verschrifteten Gesetz noch einem mehr oder
weniger abstrakten Kanon von Auslegungsregeln entnommen werden. Die Entschei-
dungsfindung ist immer von ihrem zeitlichen und sachlichen Kontext abhängig, vom
„Durchgriff auf die so genannte Sachlogik, die Natur der Sache und die unleugbaren
Lösungsbedingungen der jeweiligen Ordnungsaufgabe in ihrem Zusammenhang“.92
Rechtsinterpretation orientiert sich am Ergebnis, an der Lebensnähe und Konsensfä-
higkeit einer Lösung. Sie ist nicht Produkt der subsumierenden Rechtserkenntnis,
sondern einer fallgesteuerten Rechtsüberzeugung, des Durchgriffs auf „evidente“ Ver-
nünftigkeit; die subsumierende Rechtserkenntnis, die Logik der deduktiven Schluss-
möglichkeiten, dient also eher der Darstellung denn der Herstellung von Rechts-
entscheidungen. „Die Praxis ... geht nicht von doktrinären ‚Methoden‘ der
Rechtsfindung aus, sondern benutzt sie nur, um die nach ihrem Rechts- und Sachver-
ständnis angemessene Entscheidung lege artis zu begründen.“93 Der Rechtstext inte-
ressiert den Interpreten nicht als abstraktes Meinungszeugnis, „sondern als ein für die
Entscheidung sinnvolles Weisungsmuster“.94 Rechtsinterpretation kommt daher nicht
ohne die Einhaltung vernünftiger und sachlich einsichtiger Maßstäbe gerechter Ord-
nung aus. Sie operiert mit ihrerseits nicht im Recht verankerten Infrastrukturen, die
als zeit- und gesellschaftsabhängiger Erwartungs- und Verständnishorizont, als stets se-
lektives Vorverständnis, vorausgesetzt werden müssen. „Die Interpretation, die schon
in der Würdigung der Fakten selektiv vorgeht, arbeitet mit einem selektiven Vorver-
ständnis auch bei Befragen des Vorrats an Regelungsmustern und Normen. Die
Grundsätze, mit denen die Jurisprudenz eben diese selektive Arbeit leistet, sind Ge-
rechtigkeits- und Arbeitsprinzipien, die nicht ihrerseits wieder aus dem positiven
Recht entnommen werden können.“95
Etwas allgemeiner formuliert wird die Vollzugsform der Interpretation bei Esser an 219
den Vorgriff auf eine erst herzustellende und jeweils historisch situierte gemeinsame
Vorstellung von Gesellschaft und Gerechtigkeit gebunden.96 Damit wird das Problem
des hermeneutischen Zirkels sehr viel genauer als etwa bei Larenz reflektiert: Es sind
nicht die gemeinsamen professionellen Erfahrungen der Juristen und schon gar nicht
das Rechtsdenken einzelner Richter, auf die Essers Begriff des Vorverständnisses zielt.
Das Vorverständnis, das Grundlegende und Wegweisende, entnimmt Esser vielmehr
der Wirklichkeit selbst – und d. h. genauer: dem Gebrauch der Sprache und der damit
verknüpften praktischen Wissensbestände.97 Esser akzentuiert vor allem die Gebun-
denheit der Interpretation an praktische Erfahrungen und einen sich daraus speisen-
den Erwartungshorizont, aus dem der Rechtsanwender nicht heraustreten kann. Dies
gilt sowohl für seine Verständnis- als auch für seine Urteilsmöglichkeit. Rechtsinter-
pretation ist nur denkbar als „Abtasten und Vorwegnehmen möglicher Auslegungen
nach Gesichtspunkten der Überzeugungskraft“, als Suche nach einem immer erst her-
zustellenden Rechtsverständnis, das sich aus der Berücksichtigung der Werte und Ein-
92
Esser (Fn. 11), 26f.; zum Werk und zur Methodologie Josef Essers vgl. auch allg. J. Köndgen, Josef Es-
ser – Grenzgänger zwischen Dogmatik und Methodologie, 2007, 103ff., 110ff.
93 Esser (Fn. 11), 80, 7 (Zitat); vgl. auch Hoffmann-Riem (Fn. 29), 23f.
94 Esser (Fn. 11), 139. Dann muss dies auch theoretisch genauer als durch den Rekurs auf die dem Richter
eigene „Wertungsperspektive“, seine „provisorische(n) Vorbewertungen oder Vorurteile“, abgebildet
werden.
95 Esser, ebd., 134, vgl. auch 17 und 141.
96 Esser, ebd., 23.
97
Esser, ebd., 21; zur Bedeutung der Sprache bei Esser vgl. nur ebd., 134, 137.

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§ 6. Interpretation

stellungen der an der Rechtsfindung beteiligten „gesellschaftlichen Gruppen“ ablei-


tet98 – und nicht aus dem allgemeinen Gesetz.
220 Das Vorverständnis ist also in einer öffentlichen Einrichtung, der Sprache und ihrer kul-
turellen Verweisungszusammenhänge, fundiert und an einem überindividuellen Ord-
nungszweck, dem vorweg konzipierten Auslegungsziel des Gerechten und Vernünfti-
gen, orientiert. Interpretation, Vorverständnis und Entscheidung sind – wie bei
Gadamer – unauflöslich miteinander verknüpft. Es werden bestimmte Ordnungsfra-
gen an Rechtssätze und Rechtstexte herangetragen und die mögliche Weisungsbedeu-
tung des befragten Textes herauspräpariert, ohne die sich der Regelungssinn eines
Ausdrucks der Rechtssprache überhaupt nicht erschließen lässt; die Norm an und für
sich – außerhalb konkreter Verwendungskontexte – besagt alles und nichts, wie sich an
beliebigen Beispielen, etwa am Begriff der „Würde des Menschen“ in Art. 1 Abs. 1 GG
demonstrieren lässt: Manche Gerichte sehen die Würde des Menschen schon durch
Peep-Shows verletzt, andere erst in Guantanamo-Bay. Für die Rechtsinterpretation ist
also nicht die systeminterne Verankerung und Pflege von Auslegungsregeln ausschlag-
gebend (wie im Rechtspositivismus), sondern die konkrete Sinnerwartung, mit der die
Interpretation jeweils an zu interpretierende Fälle und Texte herantritt. Es geht bei Es-
ser also letztlich um die Akzentuierung des Einflusses finaler Entscheidungsvorstellun-
gen im Prozess der Rechtsfindung. „Es werden mögliche Ergebnisse vorweg ins Auge
gefaßt, und an ihnen wird die Verstehbarkeit des Textes ausgemacht.“99
221 Esser hat seine Überlegungen zur Rechtsfindung vor allem an Beispielen aus dem Zi-
vilrecht, der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und durch rechtsvergleichende
Studien u. a. aus dem Rechtskreis des Common law belegt.100 Eine damit vergleich-
bare, an der Problematik des hermeneutischen Zirkels geschulte Hinwendung zu einer
praxisorientierten Interpretationstheorie, die sich aber am öffentlichen Recht und hier
insbesondere an der Methodik und Praxis der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
gerichts orientiert, findet sich in der von Friedrich Müller entworfenen strukturieren-
den Rechtslehre. Die methodologischen Grundeinstellungen sind hier ähnlich wie bei
Esser. Unter Rekurs auf Gadamer, Wittgenstein und Derrida wird einerseits die Vor-
stellung der lex ante casum angegriffen, die Unterstellung, dass die Norm schon vor
der Konfrontation mit dem Fall gegeben sei.101 Zum anderen wird dem Rechtspositi-
vismus vorgeworfen, sich zu wenig auf Sachstrukturen einzulassen und die „sachhalti-
gen Implikationen der Rechtsnormen und ihrer Regelungsbereiche selbst“ aus dem In-
terpretationsvorgang auszuschließen.102 Beides ist für die strukturierende Rechtslehre
inakzeptabel. Der Grund der rechtlichen Bedeutungen liege im praktischen Regelge-
brauch, nicht in einer von der Wirklichkeit (Sein) abgelösten Regel (Sollen). Die prak-
tische Arbeit der Juristen – gemeint ist hier primär die Arbeit der Gerichte – sei „auf
eine in Regeldetermination nicht auflösbare Weise schöpferisch“.103 Dieses Moment

98
Esser, ebd., 140.
99
Esser, ebd., 139.
100 Vgl. dazu insbesondere J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts
(1956), 1990, 141ff., 327ff.
101
Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 471; dazu auch F. Laudenklos, ‚Juristische Methodik‘ bei Friedrich
Müller, 2012, Rn. 1081ff., 1091ff.
102 Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 79.
103 Müller/Christensen, ebd., Rn. 214. Es wird also auch bei Müller/Christensen – ähnlich wie bei Larenz –
auf die Entscheiderebene abgestellt; vgl. nur ebd., Rn. 276.

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II. Modellbildungen

der Eigendetermination der Rechtsinterpretation will die strukturierende Rechtslehre


durch ein Modell „sachbestimmter Normativität“ erhellen, in der die Norm als „sach-
bestimmtes Ordnungsmodell“ entworfen wird.104
Für Müllers nachpositivistische Rechtsnormtheorie ist zunächst wesentlich, dass sie 222
das Ordnungsmodell des allgemeinen Gesetzes nicht einfach zugunsten einer einzelfal-
lorientierten Rechtsnormkonkretisierung ersetzen will. So wie Essers Vorverständnis
und Methodenwahl nicht um freie Rechtsschöpfung im Sinne einer kasuistischen Bil-
ligkeitswillkür kreist, sondern um die Sicherung der Regelhaftigkeit und Wiederhol-
barkeit von Rechtsentscheidungen durch ihre Orientierung an einem praktischen
Ordnungsinteresse, an Sachgerechtigkeit und Konsensfähigkeit,105 sucht auch Müller
u. a. nach stabilen Verfahren der Rechtsinterpretation. In der strukturierenden Rechts-
lehre soll diese Stabilität eine „Rechtserzeugungsreflexion“ im Sinne einer „Analyse der
Struktur rechtlicher Normativität“ leisten.106 Träger dieser Rechtserzeugungsreflexion
ist ein nicht gerade übersichtliches Modell von Konkretisierungselementen, durch das
Normtext und Sache (Wirklichkeit) aufeinander bezogen werden: Der Rechtsinterpret
ist zu Beginn mit einer sprachlichen Aussage oder Zeichenkette konfrontiert, mit
„Textformularen“, die der Ausfüllung bedürfen.107 Daraus wird unter Beibehaltung
des bewährten Methodenkanons, wie z. B. der grammatischen Auslegung, ein „Norm-
programm“ erstellt. Aber erst im nächsten und entscheidenden Schritt, in dem der
Normtext auf die betreffende Realität des Falles bezogen wird (Sachbereich bzw. Fall-
bereich), wird der Normbereich erzeugt. (Dazu bedarf es spezifischer Normbereichsa-
nalysen, z. B. im Rundfunkrecht, Wissenschaftsrecht, kollektiven Arbeitsrecht etc.)
Mit „Normbereich“ ist dabei nicht einfach eine von der Normativität abgehobene
„Rechtsvoraussetzung“ gemeint, sondern ein Strukturbestandteil der Rechtsvorschrift
selbst, die Menge der die Entscheidungsnorm mittragenden Tatsachen. Es geht bei
Müller u. a. also gerade nicht um das „Hin- und Herwandern des Blicks“ zwischen
Norm und Sachverhalt; die Rechtsnorm/Entscheidungsnorm wird überhaupt erst
durch die Integration von Ausschnitten sozialer Wirklichkeit in den Interpretations-
prozess konstituiert!108 Dieses Modell der Normbereichsanalyse hat sich etwa in der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Rundfunkrecht durchgesetzt:
Danach kann und muss sich das Verständnis des Rundfunkbegriffs im Sinne des
Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verändern, wenn die Umwelt des Begriffs einem raschen tech-
nologischen Wandel unterworfen ist.109
Das letzte Beispiel macht sogleich die institutionelle Komponente der „Konkretisie- 223
rung“ bzw. der „Rechtsfindung“ in der strukturierenden Rechtslehre deutlich: Die
Vorstellung einer hierarchischen Überordnung des Gesetzgebers über den Richter
wird aufgegeben und die Verantwortung der Gerichte akzentuiert. Die entscheidungs-

104
Müller (Fn. 7), 169, 168.
105
Esser (Fn. 11), 144 Fn. 5.
106
Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 471; Müller (Fn. 7), 241.
107 Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 210.
108 Müller/Christensen, ebd., Rn. 482 Fn. 8, vgl. auch Rn. 226 („‚Normativität‘ bezeichnet die dynamische
Eigenschaft einer Norm, also eines sachgeprägten und strukturierten rechtlichen Ordnungsmodells,
sowohl die diesem zugrunde liegende Wirklichkeit zu ordnen als auch selbst durch diese Wirklichkeit
bedingt zu werden.“); Hoffmann-Riem (Fn. 29), 36ff., 53f.
109 BVerfGE 74, 297, 350; 83, 238, 302; ausführlicher T. Vesting, Prozedurales Rundfunkrecht, 1997,
238ff.; Hoffmann-Riem (Fn. 29), 57.

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§ 6. Interpretation

relevante Sinngebung erfolgt nicht schon im Gesetzestext als Teil eines deduktiven, auf
Vollständigkeit aller möglichen Aussagen angelegten Systems, sondern wird erst durch
die rechtsschöpferische Arbeit der Gerichte hergestellt oder zumindest abgeschlossen:
Hat man die Illusion der Selbstentfaltung des Geistes im Recht einmal aufgegeben,
zeigt sich die Rolle der Rechtsprechung als Initiator von Systemverbesserungen und
Motor laufender Rechtsaktualisierung.110 So besteht ein gemeinsames Hauptanliegen
der juristischen Hermeneutik darin, die Autonomie des Richters gegenüber dem Ge-
setz zu akzentuieren und – ähnlich wie es bereits Kelsen gefordert hatte (Rn. 99) – die
politische Aufgabe und Verantwortung des Richters für das Recht und einer darauf ein-
gestellten Methodenlehre hervorzuheben.111 Es geht also nicht zuletzt darum, eine kri-
tische Methode zu entwickeln, welche das Bewusstsein für die Eigenleistung der
rechtsprechenden Gewalt schärft. In diesem Punkt hat sich die juristische Hermeneu-
tik auch in der Rechtstheorie weitgehend durchgesetzt. Das zeigen sowohl System-
theorie wie Diskurstheorie: Beide schreiben der Gerichtsentscheidung eine „Zentral-
stellung“ im Rechtssystem zu bzw. sehen in den Gerichten den „Fluchtpunkt für die
Analyse des Rechtssystems“.112

III. Paradoxie des Entscheidens

224 Die Methodendiskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinterlässt einen
ambivalenten Eindruck. Auf der einen Seite wird die Ordnungskraft des Gesetzes und
der Rechtsordnung zugunsten der Annahme einer produktiven Rechtsergänzung
durch die staatlichen Gerichte relativiert (judicial legislation), auf der anderen Seite
bleibt die hierarchische Konstruktion eines die Rechtsinterpretation dirigierenden
theoretischen Wissens intakt. Die juristische Hermeneutik hält an der Vorstellung
eines (objektiv) verbindlichen Vorverständnisses fest, wenn sie die rechtsfortbildende
Konkretisierungsleistung im Moment der Gesetzesanwendung betont: Juristischer
Professionalismus (Larenz), finale Ordnungs- und Entscheidungsvorstellungen (Es-
ser), sachbestimmte Normativität (Müller/Christensen) und argumentative Rationa-
lität (Alexy) sind nur verschiedene Varianten der Wiederkehr einer stabilen vertikalen
Autorität. Im Ergebnis wird in der juristischen Hermeneutik also lediglich die Unter-
stellung des Rechtspositivismus, dass im deduktiven System mit Hilfe eines Kanons
universaler Interpretationsregeln ein unbedingt gegebenes Wissen gespeichert und im
Anwendungsakt „erkannt“ werden könnte, durch die Annahme ersetzt, dass der
Rechtsinterpret ein solch unkonditioniertes, aus sich selbst heraus gültiges Wissen in
den Regel- und Wissensbeständen des (rechts-)kulturellen Überlieferungszusammen-
hangs vorfindet, zumindest aber – bei richtiger „Textarbeit“ – durch entsprechende
„Normbereichsanalysen“ herstellen kann.
225 Die juristische Hermeneutik versucht mit anderen Worten, die rechtspositivistische
Unterstellung der Korrespondenz von (objektiver) Rechtsnorm und (subjektiver)

110 Esser (Fn. 11), 177.


111
Esser, ebd., 193; Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 496–98.
112
Luhmann (Fn. 56), 307, vgl. auch 323; J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 241. Um Missver-
ständnissen vorzubeugen: „Zentrum“ heißt für Luhmann nicht Umkehrung des hierarchischen Struk-
turmusters, sondern zeitgleiche Ermöglichung von Entgegengesetztem, nämlich von Entscheidungs-
zwang (Gerichte) und kein Entscheidungszwang (Gesetzgebung).

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III. Paradoxie des Entscheidens

Rechtserkenntnis durch den Rekurs auf ein gemeinsames historisches Vorverständnis


zu restabilisieren. Damit kann die Identität der Wiederverwendung derselben Zeichen
in einer anderen Situation, die zeitbedingte Offenheit des Rechts für unkontrollierte
und unkontrollierbare Einflüsse von außen, aber nicht gesichert werden. Entgegen
Gadamers Beschwörung eines einheitlichen kulturellen Überlieferungszusammen-
hangs ist Rechtsinterpretation heute nicht mehr als an „vertikale Autorität“ gebunden
vorstellbar.113 Die juristische Hermeneutik rückt zwar zu Recht das Moment der Ap-
plikation des (Gesetzes-)Textes in den Vordergrund, den Augenblick, in dem die Re-
gelhaftigkeit des Rechts – um mit Savigny zu sprechen – in das Leben übergeht.114
Die Konsequenzen dieser engen Verknüpfung von Interpretation und Entscheidungs-
produktion sind aber erst in jüngster Zeit deutlich geworden: Mit dem insbesondere
auf den Gerichten lastenden Zwang, unter Zeitdruck entscheiden zu müssen,115 wird
ein selbstständig determinierendes Moment, die Notwendigkeit der Entscheidung,116
in das Verfahren der Rechtsinterpretation hineingetragen, die weder durch die Selbst-
programmierung der Anwendungsregeln des Rechtssystems in Form einer Methoden-
lehre noch durch ein geschichtlich gewachsenes Vorverständnis diszipliniert werden
kann. Die Methodenlehre muss deshalb, statt nach hermeneutischen Ersatzlösungen
für das positivistische System zu suchen, die Leerstelle akzeptieren, die der Zusam-
menbruch des Rechtspositivismus hinterlassen hat: den dunklen Augenblick der Ent-
scheidung, den Moment der Unentscheidbarkeit.
Das aber bedeutet: Die juristische Methodenlehre muss mehr noch als die juristische 226
Hermeneutik mit der Paradoxie des Entscheidens umzugehen lernen. Die normative
Unbestimmtheit, mit der jede Rechtsinterpretation konfrontiert ist, lässt sich nicht
als Wahl zwischen mehreren vorgegebenen „vertretbaren Lösungen“ beschreiben,117
vielmehr wäre zu akzeptieren, dass prinzipiell nur solche Fragen entschieden werden
können, die unentscheidbar sind. „Only those questions that are in principle undeci-
dable, we can decide.“118 Rechtsinterpretation operiert daher immer unter „Ungewiss-
heitsbedingungen“.119 Der Gebrauch einer Rechtsnorm oder eines Gesetzestextes in
einer bestimmten Situation, einem Fall, ist nicht nur etwas anderes als die Erkenntnis
der richtigen Anwendung eines vorab eingegebenen Programms; wäre das der Fall,

113
Ladeur (Fn. 34), 60ff. mit Bezug auf J. Grondin; A. Fischer-Lescano/R. Christensen, Auctoritatis Inter-
positio, Der Staat 2 (2005), 213ff.; vgl. allg. auch G. Teubner, Des Königs viele Leiber, Soziale Systeme
2 (1996), 229ff.
114 Savigny (Fn. 4), 206.
115 In den Worten Derridas: die Gerechtigkeit stets aufschieben zu müssen. Vgl. J. Derrida, Gesetzeskraft,
1991, 53ff., 56 („Die Gerechtigkeit bleibt im Kommen.“).
116
Insoweit zutreffend Schmitt (Fn. 54), 41. Dieses selbstständige Moment der Rechtsentscheidung hat
N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 310ff., 338, von anderen (kommunikationstheoreti-
schen) Voraussetzungen ausgehend als „Verbot der Justizverweigerung“ ausformuliert und dann auf die
strukturelle, durch Texte bedingte Kopplung Geltungsbewegung/juristische Argumentation bezogen.
117
So etwa Kelsen (Fn. 59), 1. Aufl. 1934, 98f., und 2. Aufl. 1960, 348 („das anzuwendende Recht ein
Rahmen, innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten der Anwendung“); ähnlich C. Schmitt, Der Hüter
der Verfassung (1931), 1969, 46.
118 Vgl. H. v. Foerster, Ethics and Second-Order Cybernetics, Cybernetics & Human Knowing 1/1
(1992), 1ff., 6 (web edition); für das Rechtssystem – mit Bezug auf den gerichtlichen Entscheidungs-
zwang – Luhmann (Fn. 56), 307ff.; ders., Die Paradoxie des Entscheidens, Verwaltungsarchiv 84
(1993), 287ff.; vgl. auch die Beiträge in C. Vismann/T. Weitin, Urteilen, Entscheiden, 2006.
119 Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 147, mit Verweis auf J.-L. Nancy („L’ordre du jugement se compose du mul-
tiple, de l’incertain.“).

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§ 6. Interpretation

wäre der Richter tatsächlich ein Subsumtionsautomat. Die Entscheidung ist auch nie-
mals vollständig durch Interpretation begründbar. Wäre das der Fall, brauchte eben-
falls nicht mehr entschieden zu werden. Normen und Gesetzestexte machen es zwar
möglich, eine (vorübergehend) verbindliche Lesart eines Textes zu fixieren und damit
aus einer unentscheidbaren Frage eine entscheidbare zu machen. Dennoch bleibt in
jeder Rechtsinterpretation das mysteriöse, rätselhafte Moment der Entscheidung in-
korporiert, „ein unformulierbares (soll man sagen: göttliches) Element“.120 Das erklärt
auch, warum das Rechtsgefühl, das geschulte Judiz, bis heute als „unentbehrlicher
Kompass“ für den guten Juristen angesehen wird.121
227 Mit dem Rekurs auf Momente wie „Unentscheidbarkeit“ und „Ungewissheit“ soll hier keinem Dezisionis-
mus das Wort geredet werden. Es wird hier also nicht unterstellt, dass die Entscheidung, normativ betrach-
tet, aus einem Nichts geboren sein könnte, wie Carl Schmitt in den zwanziger und dreißiger Jahren des
20. Jahrhunderts immer wieder propagiert hat.122 So sind etwa Gerichtsentscheidungen durch Texte und
Kontexte (und nicht, wie Schmitt meinte, durch Subjekte) konstituiert, d. h. in die richterliche Entschei-
dung ist der Zwang zur schriftlichen Begründung der (mündlich verkündeten) Entscheidung eingebaut.
Man kann diesen Zusammenhang auch mit Niklas Luhmann als eine durch Texte bedingte strukturelle
Kopplung von Geltungsbewegung und juristischer Argumentation konzipieren oder mit Gunther Teubner
von einer engen Verknüpfung von Entscheidungsnetzen und Argumentationsnetzen sprechen.123 Das
selbstständige Moment der Entscheidung hat also nichts mit einer creatio ex nihilo zu tun, denn die ein-
zelne Entscheidung ist immer durch die Anschlusszwänge innerhalb eines Netzwerks von Entscheidungs-
sequenzen gebunden; das Mysterium der Entscheidung liegt allein darin, dass der Augenblick der Ent-
scheidung selbst dunkel, uneinholbar, abwesend bleibt. Die Funktion der Interpretation ist daher nur
paradox zu fassen: Sie dient der provisorischen Bindung von Ungewissheit, d. h. dem Schutz in das Ver-
trauen der Stabilität der rechtlichen Normen- und Interpretationsbestände (Erwartungssicherheit), aber
zugleich, ja in einer dynamischen Gesellschaft vielleicht sogar primär, der Ermöglichung des Neuen (Varia-
tion). Diese Überlegungen haben also nichts mit Schmitts Option für eine begründungslose, „autoritäre
Beseitigung des Zweifels“ zu tun.124
Neben den Arbeiten von Heinz v. Foerster und Niklas Luhmann ist die Einsicht in die Paradoxie des Ent-
scheidens in neuerer Zeit vor allem in der Philosophie Jacques Derridas betont worden. Derrida hat die
Aporie der Unentscheidbarkeit auch selbst an der richterlichen Entscheidung exemplifiziert.125 Ausgangs-
punkt seiner Überlegungen ist das Argument, dass für eine richtige (oder gerechte) richterliche Entschei-
dung der freie Wille des Richters vorausgesetzt werden muss.126 Dieser notwendige Zusammenhang von
Freiheit und Entscheidung erscheint einleuchtend, zumal die richterliche Unabhängigkeit im modernen
Verfassungsstaat positiv-rechtlich garantiert ist (vgl. Art. 97 Abs. 1 GG). Die Zuschreibung einer Entschei-
dung als richtig, gerecht oder angemessen setzt ein Moment der Freiheit (oder Unbestimmbarkeit) voraus,
sonst würde der Richter lediglich wie eine Trivialmaschine ein vorgegebenes Programm (oder einen Algo-
rithmus) abarbeiten. Andererseits untersteht der Richter der Regel oder Rechtsnorm, er ist an das Gesetz
gebunden, ja ihm unterworfen; und nur unter dieser Voraussetzung kann die Entscheidung dem Recht
und nicht nur dem Richter als Person zugerechnet werden. Trotzdem muss der Richter im Moment der
Entscheidung – der Applikation im Sinne Gadamers – ohne Regel auskommen, sonst könnte er gar keine

120 Luhmann (Fn. 118), 287ff., 288.


121 Aus jüngerer Zeit vgl. nur U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, 150.
122
Schmitt (Fn. 54), 42; zu Schmitts dezisionistischer und letztlich personalistischer, subjektivistischer
Lesart der Paradoxie der Interpretation Fischer-Lescano/Christensen (Fn. 113), 224ff.; vgl. auch La-
deur/Augsberg (Fn. 15), 176.
123 Luhmann (Fn. 56), 338; G. Teubner, Ökonomie der Gabe – Positivität der Gerechtigkeit, 1999,
199ff., 210.
124
Schmitt (Fn. 117), 46.
125
Derrida (Fn. 115), 46ff.; vgl. dazu näher Th.-M. Seibert, Dekonstruktion der Gerechtigkeit: Nietzsche
und Derrida, 2009, 27ff., 40ff.
126 Zum Zusammenhang von Freiheit und Entscheidung (in einem geschichtsphilosophischen Kontext)
vgl. auch Gadamer (Fn. 3), 208.

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IV. „Postmoderne“ Methodenlehre

Entscheidung treffen; er muss zumindest seine Unterworfenheit unter das Gesetz im konkreten Fall, seinen
„denkenden Gehorsam“, reflektieren. Die richterliche Entscheidung untersteht also einer Regel – und
doch nicht. Sie ist „gebundene Entscheidung“ und verlangt doch stets aufs Neue ein fresh judgement, eine
freie Entscheidung. Daher ist jede Recht-Sprechung an ein der Entscheidung immanentes Moment der
Unentscheidbarkeit gekoppelt; die richterliche Entscheidung ist, wie Derrida sagt, mit der „Heimsuchung
durch das Unentscheidbare“ kontaminiert.127 „Jeder Entscheidung, jeder sich ereignenden Entscheidung,
jedem Entscheidungs-Ereignis wohnt das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne, wie ein wesentliches
Gespenst.“128 Allerdings kommt es darauf an, dieses Moment der Unentscheidbarkeit, der Offenheit für
das Neue, im Moment der Entscheidung nicht zu verabsolutieren: Keine Entscheidung ereignet sich in
einem Raum völliger Indeterminiertheit, vielmehr verweist diese immer schon auf ein kulturelles Erbe,
das sie nicht vollends abstreifen kann, etwa der Sprache und der Regeln, in der und in denen sie sich arti-
kuliert.

IV. „Postmoderne“ Methodenlehre

1. Entparadoxierung der Entscheidungsparadoxie


Die Rechtsinterpretation heißt nicht rationale Entscheidung im Sinne vollständiger 228
(bewusster) Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit des Ergebnisses. Die Vorstellung
des Rechtspositivismus, dass Interpretation einem logischen Schlussverfahren gleicht
oder jedenfalls über den richtigen Einsatz von Interpretationsregeln (canones) zu stets
objektiv vorhersagbaren Ergebnissen führt, zu einer der naturwissenschaftlichen
Wahrheit analogen „Rechtserkenntnis“, ist sicher schon lange unhaltbar geworden.
Rechtsinterpretation wird aber auch nicht durch einen (rechts-)kulturellen Überliefe-
rungszusammenhang gesteuert, durch ein geschichtlich konditioniertes Vorverständ-
nis, das in die Sachstrukturen des jeweiligen Falles verankert wäre und eo ipso Maß-
stäbe konkreter Gerechtigkeit frei gibt. Die neuere Methodendiskussion zeigt etwas
ganz anderes: Am „Anfang“ stehen nicht Vernunft, Rationalität und Gerechtigkeit,
die vorausgesetzt oder gefunden werden können, sondern das Mysterium der Ent-
scheidung, die – um es mit W. Benjamin zu formulieren – „entmutigende Erfahrung
von der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme“.129
Diese von Walter Benjamin formulierte Erfahrung ist für die Methodenlehre allerdings 229
keine Katastrophe. Sie sollte auch kein Anlass zur Entmutigung sein. „Paradoxien sind
keine logischen Fehler, die man ausmerzen muss, wenn man weiterkommen will.“130
Sofern der Umgang mit Paradoxien nicht mit einem neuen, a-historischen Ursprungs-
denken verbunden wird (dazu näher Rn. 134), kann die Paradoxie des Entscheidens
durchaus als Ausgangspunkt für die weitere methodentheoretische Diskussion fungie-
ren. Es würde dann beispielsweise nicht darum gehen, die Abgründe und Unwägbarkei-
ten der Erfahrung von der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme auszu-
loten, um etwa Richtern in einem Entlarvungsgestus die Unbegründbarkeit ihres Tuns
vorzuhalten oder um Jurastudenten zu erschrecken. Im Gegenteil: Die Entscheidungs-
paradoxie wäre ein aussichtsreicher Kandidat für die Leerstelle, die der Zusammen-
bruch des rechtspositivistischen Systems und die Erschütterung der Objektivitätsunter-
stellungen der juristischen Hermeneutik hinterlassen haben. Methodenlehre wäre dann
127
Derrida (Fn. 115), 49.
128 Derrida, ebd., 50f.
129 W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1921), 1965, 54.
130
G. Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien, 2003, 25ff., 30.

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§ 6. Interpretation

auch der Versuch, die Entscheidungsparadoxie zu entparadoxieren.131 Das „eigentliche


Faszinosum [der Paradoxien, T. V.] liegt in den produktiven Möglichkeiten des Um-
gangs mit ihnen“,132 und die entscheidende Frage lautete dann, wie Theorie und Praxis
künftig produktiv mit dem Mysterium der Entscheidung umgehen könnten.
230 Dafür hätte sich die Methodenlehre in einem ersten Schritt für die neuere rechtstheore-
tische Diskussion zu öffnen. Sie müsste sich auf die hier – im Anschluss an Niklas Luh-
mann, Gunther Teubner, Karl-Heinz Ladeur u. a. – entwickelte Perspektive einer hori-
zontalen Verknüpfung von Rechtsakten zu einem rekursiv und nachbarschaftlich
operierenden System einlassen (Rn. 129ff.). Charakter und Funktion der Rechtsinter-
pretation wären also im Rahmen der Vorstellung einer netzwerkartigen Ordnungsbil-
dung neu zu fassen. Unter dieser Prämisse wird auch einsichtig, warum zwischen Regel
und Regelgebrauch, zwischen Norm und Normanwendung, keine linear-kausale, son-
dern nur eine zirkuläre (kreis-kausale) Beziehung bestehen kann: Innerhalb eines kon-
nexionistischen Musters von rekursiven Anschlussmöglichkeiten erzeugt die Vollzugs-
form der Interpretation eine historische Praxis provisorischer Sinnfixierungen, eine
laufende Wiederholung/Verschiebung des Sinns, eine Dauertransformation und
Daueraufschiebung des Rechts und seiner Texte. Erst das durch die Entscheidungsbe-
gründung gewonnene Ergebnis plausibilisiert die eigenen Voraussetzungen und wirkt
sowohl stabilisierend wie verändernd auf die Rechtsnorm und den schriftlichen Geset-
zestext zurück. Recht und Gesetz werden durch Interpretation laufend re-aktualisiert,
aber gerade wegen ihrer Zeitabhängigkeit bleibt die Interpretation stets offen für unbe-
rechenbare Einflüsse von außen und d. h. auch: stets offen für Variationen der bisheri-
gen Rechtsprechungspraxis staatlicher Gerichte.
231 Die damit angesprochene Notwendigkeit einer Verknüpfung von Methodenlehre und Rechtstheorie zeigt,
dass nicht alle Fragen des Umgangs mit Rechtstexten in der Methodenlehre geklärt werden können. Es
wäre völlig illusionär, die Orientierungsprobleme, mit denen die Rechtswissenschaft als Teil einer sich ra-
sant wandelnden Gesellschaft konfrontiert ist, in einer gerichtszentrierten Methodenperspektive bewälti-
gen zu wollen.133 Die nur geringe Verbreitung der Einsichten der juristischen Hermeneutik im praktischen
Rechts- und Ausbildungsbetrieb hängt sicher auch damit zusammen, dass sie die Methodenlehre mit Fra-
gen überlastet hat, die dort nicht hingehören. So verlangt beispielsweise die Reflexion des Verhältnisses von
einfachem Recht und Verfassungsrecht weit mehr als eine Einordnung der Zulässigkeit der „verfassungs-
konformen Auslegung“ in den bisherigen Methodenkanon, nämlich Überlegungen über die Beziehung
zwischen subjektiven Entscheidungsrechten (z. B. Eigentum und Vertrag) und dem politischen Bestandteil
der modernen Verfassung; und eine solche Analyse dürfte kaum ohne ein Hinterfragen der tradierten Vor-
stellung der Normenhierarchie bzw. des Stufenbaus der Rechtsordnung möglich sein. Dieser Rückbezug
methodologischer auf inhaltliche Fragen wird umso wichtiger, wenn Kollisionen zwischen „Rechtsebenen“
nicht länger eine pyramidiale Struktur voraussetzen können, etwa dort, wo Gerichte (und Verwaltung) mit
einem polyzentrischen System ohne eindeutige Entscheidungshierarchien, wie etwa im „Dreieck“ von Ver-
fassungsrecht, Europarecht und Völkerrecht, konfrontiert werden. Es ist also mit den Systementwürfen
des 19. Jahrhunderts daran festzuhalten, dass die Methodenlehre – die Entwicklung eines Verfahrens der
Auslegung der Gesetze (und anderer Rechtsquellen) – ein Aspekt von Rechtswissenschaft ist, Rechtswis-
senschaft aber nicht umgekehrt durch eine gerichtszentrierte Methodenlehre ersetzt werden kann.

131
Zustimmend: Fischer-Lescano/Christensen (Fn. 113), 213ff., 220ff.; Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 151
(„Juristische Methodenlehre und Dogmatik müssen ... als Versuche der Entparadoxierung verstanden
werden.“).
132
Teubner (Fn. 130), 29.
133
Skepsis über die Leistungsfähigkeit der Methodenlehre auch bei U. Neumann, Juristische Methoden-
lehre und Theorie der juristischen Argumentation, Rechtstheorie 32 (2001), 239ff., 242ff. (mit der
Analyse, dass die Methodenlehre an ihren Idealisierungen gestorben sei; dem will Neumann eine
Theorie der „Regelbegründung“ bzw. „juristischen Argumentation“ entgegensetzen).

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IV. „Postmoderne“ Methodenlehre

2. Rechtsstrukturen und Sachstrukturen


Die Rechtsinterpretation muss heute nach zwei Seiten hin spezifiziert werden. Einer- 232
seits muss an die Notwendigkeit der Kontinuitätsstiftung durch laufende Rechtsfin-
dung, die Notwendigkeit der Sicherung der Regelhaftigkeit und Wiederholbarkeit von
Entscheidungen, angeknüpft werden, an das Gebot der Rechtssicherheit. Die Interpre-
tation hätte also weiterhin die Anschlussfähigkeit von Regel- und Gesetzesanwendun-
gen zu gewährleisten, d. h. die Entscheidung und ihre Begründung müssen in Abstim-
mung mit bereits erfolgten Entscheidungen und zugleich als Aussicht auf künftige
Entscheidungen hin angelegt werden. Hier geht es um die Kohärenz der Auslegungen
untereinander, um die Gleichbehandlung gleicher Fälle, die immanenten (selbstrefe-
rentiellen) Konsistenzbedürfnisse der Rechtsordnung. Auf der anderen Seite kann die
Interpretation den jeweiligen Fallkontext und dessen oft sehr detailreiche Sachstruktu-
ren nicht aus ihrem Verfahren ausschließen. Die Sachstrukturen der verschiedenen so-
zialen Praxisfelder (Wirtschaft, Politik, Medien usw.) müssen vom Recht berücksichtigt
werden, ohne das Postulat der Selbstregulierung der Abhängigkeiten und Unabhängig-
keiten der Rechtsordnung aufzugeben: Interne und externe Informationen wären in ein
„überlappendes Netzwerk“ von Rechtsargumenten zu übersetzen.134 Die Auslegung
hätte weiterhin von spezifischen Eigenleistungen der Rechtsordnung auszugehen und
die Differenz von rechtlicher und nicht-rechtlicher Wirklichkeit in der Vollzugsform
der Interpretation zu akzeptieren. Systemtheoretisch formuliert würde die Differenz
von System und Umwelt als paradoxe Unabhängigkeitsabhängigkeit im System in einer
produktiven Spannung gehalten werden. Diese differenztheoretische Lösung hat ge-
genüber manchen Varianten der juristischen Hermeneutik zumindest den Vorteil, die
Beziehungen zwischen Recht und Rechtsinterpretation weiterhin als selektiven Infor-
mationsaustausch von Recht und sozialer Umwelt zu arrangieren und damit zentrale
Einsichten des Rechtspositivismus fortschreiben zu können. Auch der Rechtspositivis-
mus hatte beispielsweise in der grammatischen Auslegung, im Rückgriff auf den allge-
meinen Sprachgebrauch, eine Stelle für die selektive Rückbindung der Rechtssprache
an allgemeine Regeln des sozialen Handelns – die Emanationen und Manifestationen
des „Volksgeistes“ – in seinen Rechtssystemen vorgesehen.
Die juristische Hermeneutik fordert durchaus zu Recht eine stärkere Berücksichtigung der Sachkontexte 233
im Interpretationsvorgang. Essers Verweis auf die „Maßstäbe einer vorpositiven Gerechtigkeits- und Ver-
nunftstruktur des Rechts“135 als Auslegungsziel sowie die Vermittlung von rechtlichem Regelbestand und
sachbestimmter Ordnung in der Methodik von Müller/Christensen thematisieren das Problem der Grenze
des Rechts im Moment der (gerichtlichen) Entscheidung. Aber sowohl Essers finale Entscheidungsvorstel-
lungen als auch Müllers sachbestimmte Normativität heben die Unterscheidung von rechtlicher und
nicht-rechtlicher Wirklichkeit in hegelianisch-dialektischen Figuren wie „Mit-Bestimmung“, „Vermitt-

134 Vgl. dazu die Überlegungen bei G. Teubner/P. Zumbansen, Rechtsentfremdungen, Zeitschrift für
Rechtssoziologie 21 (2000), 189ff., 192f.; T. Vesting, Gegenstandsadäquate Rechtsgewinnungstheo-
rie – eine Alternative zum Abwägungspragmatismus des bundesdeutschen Verfassungsrechts?, Der
Staat 41 (2002), 73ff., 82f.; Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 173; vgl. auch Luhmann (Fn. 56), 52f., 76ff.
Die Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz, mit der Luhmann operiert, ist unauflöslich mit
der Differenz von normativen und kognitiven Dimensionen des Rechts verknüpft sowie der Reduk-
tion von Offenheit des Rechtssystems auf kognitive Offenheit. Das erscheint als zu eng, da die Inter-
pretation auch normativ „gesellschaftsadäquat“ auf Umweltanforderungen reagieren muss. G. Teubner,
Dreiers Luhmann, 2005, 199ff., 201f., sieht hier eine Einbruchstelle für eine das „Recht transzendie-
rende Gerechtigkeit“.
135
Esser (Fn. 11), 23.

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§ 6. Interpretation

lung“ oder „Hineinnahme von sachlichen Elementen in das Recht“ auf. An die Stelle eines in der Rechts-
interpretation selbst verankerten Objektivitätsanspruchs tritt eine – wie schon bei Kelsen – Aufwertung
des Richterrechts bzw. eine rechtspolitische Reflexion des produktiven Charakters der „Rechtsfindung“
bzw. der „Rechtsarbeit“ oder sogar eine Politisierung der Rechtsentscheidung.136 Das erscheint als Lösung
wenig befriedigend.

3. Die Bedeutung des gemeinsames Wissens


234 Vor diesem Hintergrund lautet die entscheidende Frage für die Methodenlehre: Wo
lassen sich Haltepunkte finden, aus denen sich relativ stabile, historisch sich be-
währende Formen gewinnen lassen? Wo trifft die Rechtsordnung auf Strukturen, die
Walter Benjamins Erfahrung der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme
Vorentschiedenheiten entgegensetzt, an die die Rechtsinterpretation andocken
könnte? Wo finden sich Bestimmtheiten, die eine völlige Unbestimmtheit als nicht
orientierungsrelevante Ausnahme erscheinen lassen? Wie wir bereits gesehen haben,
kann die moderne Gesellschaft keineswegs als dichotomisch in ein System von staat-
lich gesicherten Rechtsnormen (Sollen) einerseits und eine unstrukturierte Masse
chaosförmiger Ereignishaftigkeit (Sein) andererseits gespalten angesehen werden,
wovon z. B. die Reine Rechtslehre Hans Kelsens ausgeht. Die verschiedenen sozialen
Praxisfelder produzierten immer schon eigene Ordnungen, Regel- und Konventions-
bestände. Zu diesen zählen nicht nur die Ordnungsmuster der großen Funktionssys-
teme der modernen Gesellschaft wie z. B. Politik, Wirtschaft, Massenmedien und
Wissenschaft, sondern auch Institutionen wie die Sprache, Familie, Sitten, Konventio-
nen und andere übergreifende Gemeinsamkeiten, ein dynamischer Pool unterstellba-
rer gemeinsamer Wissensbestände (common knowledge). Das zeigt insbesondere die
Sprache. Ohne ein von einer Sprachgemeinschaft geteiltes grammatikalisches Wissen
kann keine sprachliche Kommunikation gelingen. Mit Niklas Luhmann ließe sich da-
her auch formulieren, dass gemeinsames „Wissen“ zu den konstitutiven Merkmalen
der Gesellschaft gehört. „Sprachliche Kommunikation setzt gemeinsames Wissen im-
mer schon voraus und käme mit ihrer Autopoiesis zum Stillstand, würde diese Voraus-
setzung scheitern. Ohne unterstellbares Wissen keine Kommunikation.“137
235 Erneut liefert die wissenschaftliche Reflexion über Sprache und Sprachkompetenz
wichtige Hinweise darauf, wie das Verhältnis von Rechtsordnung und gemeinsamem
Wissen zu rekonstruieren wäre. Die neuere sprachphilosophische und linguistische
Forschung zeigt allerdings auch, dass sich die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunika-
tion keinem vorgeordneten Meta-Wissen verdankt, keiner langue hinter der parole
(Saussure), keiner Universalgrammatik (Chomsky) oder Universalpragmatik (Haber-
mas), die den empirischen Sprechakten vorausginge. Sprechen-Können und Schrei-
ben-Können sind rein performative Kompetenzen. Das gemeinsame Wissen, das jeder
Sprach- und Mediengebrauch voraussetzt – die „Gepflogenheiten“ im Sinne Witt-
gensteins – werden in der Kommunikation, im Sprach- und Mediengebrauch, durch
dauernde Übung produziert und reproduziert; sie sind ein Moment der sich laufend
verändernden Netzwerke der Kommunikation. Das gemeinsame Wissen ist also ge-
rade nicht in einer der Entscheidung vorgeordneten historischen Kontinuität veran-
136 So der Akzent etwa bei Fischer-Lescano/Christensen (Fn. 113), 213ff., 232ff. („Die Entscheidung als
politische Dimension im Recht“).
137
N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, 122.

142
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IV. „Postmoderne“ Methodenlehre

kert. Es handelt sich nicht wirklich um ein „Vor-Verständnis“, wie Gadamer und mit
ihm die juristische Hermeneutik glauben,138 sondern um ein in der Kommunikation
mitlaufendes, mittransportiertes und immer nur aktuell abrufbares Wissen. Auf ein
derartig dynamisches, sich laufend selbst veränderndes gemeinsames Wissen nimmt
auch das Recht vielfach Bezug. Das zeigt sich in besonderer Klarheit in gesetzlichen
Generalklauseln wie „gute Sitten“, „Treu und Glauben“ und „Handelsbrauch“, in
Rechtsbegriffen wie „Fahrlässigkeit“, „Fehler“, „Gefahr“, „Geeignetheit“. Oder das
Recht zapft wie im Fall der technischen Standards (DIN-Normen, Grenzwerte etc.)
das kognitive Potential an, das in derartigen Regeln eingelassen ist, etwa um Schadens-
grenzen (Luftreinhaltung, Strahlungsbelastung etc.) zu ermitteln.
Wäre mit einem derartigen Konzept von gemeinsamem Wissen ein aussichtsreicher 236
Kandidat für die Entparadoxierung der Entscheidungsparadoxie in Sicht, für Struktu-
ren, die sich historisch vorübergehend bewähren könnten? Könnte insbesondere die
Abhängigkeit der Interpretation von den Sachstrukturen durch den Rekurs auf derar-
tige Formen gemeinsamen Wissens dirigiert werden? Diese Fragen sind insofern nicht
leicht zu beantworten, als ihre Bedeutung in auffälligem Gegensatz zur Häufigkeit ihrer
Behandlung in der Literatur steht. Soweit ersichtlich hat – neben frühen Ansätzen bei
Eugen Ehrlich – besonders Josef Esser die Funktion gemeinsamen Wissens für die
Rechtsinterpretation thematisiert. Aber wie wir bereits gezeigt haben, bleibt der Inter-
pretationsakt in Essers Vorverständnis und Methodenwahl auf eine vorgängige histori-
sche Kontinuität bezogen: Das gemeinsame Wissen wird einem schicksalhaften Zirkel
zugeschrieben, der dem Recht stabile geschichtliche und gesellschaftliche Prinzipien
vorordnet und vorgibt. Die vorpositive Gerechtigkeits- und Vernunftstruktur legt fest,
was in der Interpretation genutzt werden kann und unvermeidlicherweise in die
Rechtsentscheidung einfließt.139 Damit hält auch Esser die juristische Hermeneutik
letztlich an einem hierarchischen Modell, an der Vorordnung einer vertikalen Autorität
vor aller Interpretation, fest.
Eine Relationierung von Rechtsinterpretation und gemeinsamem Wissen, die jedwede 237
vertikale Autorität vermeidet, findet sich erst in jüngerer Zeit, prominent etwa in den
Arbeiten von Gunther Teubner. Teubners Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass
sich der Schwerpunkt der Prozesse der Rechtsbildung von ihren bisherigen national-
staatlichen Zentren, ihren Institutionen und Quellen (Parlamenten, Gerichten, völ-
kerrechtlichen Verträgen), auf eine davon unabhängige transnationale Peripherie ver-
lagert hat. In dieser Peripherie wird in unterschiedlichen Gesellschaftssektoren eine
paradoxe Selbstproduktion von Regeln und Rechtsnormen betrieben, an der global
players wie multinationale Unternehmen und internationale Organisationen beteiligt
sind (lex mercatoria, lex sportiva, lex electronica etc.).140 In einer jüngeren Arbeit über
globale Zivilverfassungen wird die These einer weltweiten Verrechtlichung von Gesell-
schaftssektoren mit dem Gedanken verbunden, dass diese neuen Formen der Selbstbe-
gründung des Rechts notwendigerweise immer auch Normen von konstitutioneller
138 Hier zeigt sich die ganze Problematik des hermeneutischen Begriffs des Vor-Verständnisses: Das „Vor-“
ist der ontologische Rest der Hermeneutik.
139
Vgl. nur Esser (Fn. 11), 23; deutlich auch ders. (Fn. 100), 182.
140
G. Teubner, Globale Bukowina, Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 255ff.; dazu näher
G.-P. Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, 2009, 71ff.; zum „globalen Recht“ und zur Theorie
Teubners weiterführend H. Lindahl, Fault Lines of Globalization, 2013, 44ff.; und L. Viellechner,
Transnationalisierung des Rechts, 2013.

143
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§ 6. Interpretation

Qualität erzeugen, „Eigenverfassungen der Zivilsektoren“,141 die jeder Rechtsbil-


dungsprozess voraussetze und zugleich in seinem Vollzug konstituiere. Im Bereich des
Internets zeige sich dies vor allem in dem bislang ungelösten Problem eines ungefilter-
ten Einflusses privater Akteure auf die autonome Regelbildung, in der Frage nach dem
Verhältnis einer inkrementell wachsenden lex electronica und einer notwendig werden-
den „Digitalverfassung“. Diese wird von Teubner als Selbstkontrolle des Rechts in An-
schlag gebracht, als reflexive zweite Schicht von „konstitutionellen Sekundärnormen“,
die „das Geltungsparadox eines selbst gemachten Digitalrechts zu überwinden vermö-
gen und über die Rechtsnormqualität von sozialen Normen selektiv entscheiden“.142
238 Den Maßstab für die konstitutionelle Selbstkontrolle des autonomen Digitalrechts
sollen die Menschenrechte bilden. Teubner hatte schon in älteren Publikationen den
Widerstreit systemspezifischer Funktionslogiken und Rationalitäten zum Thema ge-
macht und daraus die Vorstellung eines kollisionstheoretischen Verständnisses des
Rechts entwickelt, das an wichtige Arbeiten von Rudolf Wiethölter anschließt.143
Grund- und Menschenrechte werden als institutionelle Autonomiegarantien inter-
pretiert, als „Kollisionsnormen“ für die Abstimmung unverträglicher Handlungslogi-
ken.144 Auf den Bereich der digitalen Kommunikation übertragen heißt das, dass die
Abstimmung zwischen der Selbsterzeugung technischer Standards und den daraus re-
sultierenden Gefährdungen für andere Gesellschaftssektoren „nicht an der politi-
schen Verfassung, sondern an ihrer Eigenverfassung gemessen werden“ muss.145 Die
Rechtsnormqualität technischer Standards kann anerkannt werden, wenn deren Pro-
duktion zugleich an einen regimespezifischen Menschenrechtsstandard gekoppelt
wird, der adäquat auf die Risiken der digitalen Kommunikation reagiert. Die „Digi-
talverfassung“ dient dann primär als Maßstab zur Stabilisierung der institutionellen
Differenz und jeweiligen Eigenlogik von spontaner, allgemein zugänglicher Internet-
kommunikation einerseits und ihren hochorganisierten Spezialbereichen (Intranets)
andererseits.
239 Teubner richtet den Fokus seiner Forschungen zwar primär auf transnationale Norm- und Rechtsbildungs-
prozesse, seine Überlegungen lassen sich aber durchaus auch problemlos ins innerstaatliche Recht übertra-
gen. Auch hier lässt sich ein enges Zusammenspiel von gemeinsamem Wissen, der daran geknüpften Re-
gel- und Konventionsbestände und der Interpretation des positiven Rechts beobachten. Ein negatives
Beispiel dafür ist die Familienbürgschaft: Die Übernahme einer Bürgschaft für den Kredit des Vaters, den
die Tochter nie zurückzahlen kann, ist keine Störung der Vertragsparität zwischen der faktisch überlegenen
Bank und dem faktisch unterlegenen Familienbürgen.146 Vielmehr handelt es sich um einen Fall „struktu-
reller Korruption“: Die Integrität der grundrechtlich geschützten Autonomie innerfamiliärer Kommunika-
tion (Art. 6 GG) wird durch das Eindringen wirtschaftlicher Rationalität verletzt. Weil aber jede Intimbe-
ziehung ihre eigene Opfergrenze findet, verbietet es sich, „Normen der Familienmoral empirisch zu
ermitteln und diese zu einem Rechtsstandard der Opfergrenze zu generalisieren“.147 Die Autonomie der

141 G. Teubner, Globale Zivilverfassungen, ZaöRV 63 (2003), 1ff., 16; ausführlich ders., Verfassungsfrag-
mente, 2012.
142
Teubner, ebd., 21.
143
G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 123ff.; vgl. nur R. Wiethölter, Recht-Fertigungen
eines Gesellschafts-Rechts, 2003.
144 G. Teubner, Die anonyme Matrix, Der Staat 45 (2006), 161ff., 180; ders., Ein Fall von struktureller
Korruption?, KritV 83 (2000), 388ff., 399; vgl. auch ders. (Fn. 141 – Verfassungsfragmente), insb.
225ff.
145 Teubner (Fn. 141 – Zivilverfassungen), 22.
146 BVerfGE 89, 214ff.; ähnlich BVerfGE 81, 242ff. (Handelsvertreter).
147
Teuber (Fn. 144– strukturelle Korruption), 394, 396f.

144
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IV. „Postmoderne“ Methodenlehre

Familie muss als Limitierung in den wirtschaftsrechtlichen Kontext eingeführt werden. Weil es aber keinen
verallgemeinerungsfähigen Maßstab der Opfergrenze, kein gemeinsam geteiltes Wissen über den Einzelfall
hinaus gibt, muss die Verfassungsinterpretation hier eine stabile Grenze, einen Standard, vorgeben und rui-
nöse Familienbürgschaften per se verbieten.148

Akzentuiert Teubner eher die Autonomie der Rechtsinterpretation gegenüber den Ge- 240
fährdungen des Rechts durch autonome außerrechtliche Standardbildung, geht es
Karl-Heinz Ladeur und Ino Augsberg in einer jüngeren Publikation darum, „Ausle-
gung als ‚Management‘ der Kohärenz rechtlicher und außerrechtlicher Regelhaftig-
keit“ einzurichten.149 Das Recht ist in eine komplexe Infrastruktur von gesellschaft-
lichen Regeln und praktisch erprobten Konventionen eingebettet, und diese
Verhaltensmuster erzeugen eine Art „soziale Epistemologie“,150 eine in den „kogniti-
ven Komponenten des liberalen Rechts ... angelegte Lernfähigkeit“.151 Stärker jeden-
falls als Teubner betont Ladeur den „Eigenwert“ des gemeinsamen Wissens, das als
Selektionskriterium für sachbezogenes Interpretieren genutzt werden soll. „Interpreta-
tion setzt Unentscheidbarkeit voraus – und braucht doch Vorentschiedenes.“152 Vor
allem die in der „Privatrechtsgesellschaft“ zerstreuten praktischen Wissens- und Regel-
bestände erzeugen jedenfalls dann eine Selbstbindung der Rechtsinterpretation, wenn
diese Selbstbindung Fortentwicklungen zulässt.153 Das führt zur Vermutung und An-
erkennung eines grundsätzlichen Eigenwerts gesellschaftlicher Selbstorganisation. Die
heterarchische „relationale Rationalität der distribuierten Ordnungsbildung“ legt
insbesondere der politischen Gesetzgebung, „der deliberativen Rationalität der hierar-
chischen Normgebung“,154 eine Beweislast zur besseren Lösung der Probleme auf. Als
Beispiel nennen Ladeur/Augsberg die Rechtschreibreform: Wenn der Staat durch die
Einführung neuer orthographischer Regeln in ein funktionierendes Sprachspiel ein-
greift, muss erwogen werden, ob eine solche Initiative nicht schon an der Natur des
Gegenstands scheitert. Das erscheine jedenfalls dann plausibel, wenn prognostizierbar
sei, dass die selbsterzeugte Komplexität der deutschen Schriftsprache nicht auf wenige
einfache Regeln reduziert werden könne, ohne erhebliche Verluste an sprachlichem
Differenzierungsvermögen in Kauf nehmen zu müssen. Auch die (im Demokratie-
prinzip verankerte) Prärogative des Gesetzgebers sei dann kein Gegenargument:
„Caesar non supra grammaticos.“155
Im Unterschied zur juristischen Hermeneutik wird die Interpretation bei Teubner und 241
Ladeur nicht mehr an der Kontinuität eines historischen Vorverständnisses gemessen,
sondern auf die dynamische Stabilität der gemeinsamen Wissensbestände der moder-
nen bzw. postmodernen Gesellschaft eingestellt. Das gemeinsame Wissen wird nicht
länger einem schicksalhaften Zirkel zugeschrieben, der dem positiven Recht stabile ge-

148 Teubner, ebd., 396f.


149 Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 164ff.; Ladeur (Fn. 31), 78ff. (Verknüpfung des Rechts mit dem prakti-
schen gesellschaftlichen Wissen); vgl. auch I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009 (wo dieses Ko-
härenzmanagement in einem weiten Begriff der Textualität des Rechts abgebildet wird).
150
Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 165; vgl. auch I. Augsberg, Strategien des Nichtwissens im Bereich staatlicher
Aufgabenwahrnehmung, 2014, 103ff.; vgl. auch ders., Informationsverwaltungsrecht, 2014, insb.
80ff.
151
K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 12.
152
Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 164.
153 Ladeur/Augsberg, ebd., 170.
154 Ladeur/Augsberg, ebd., 168.
155
Ladeur/Augsberg, ebd., 169.

145
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§ 6. Interpretation

schichtliche und gesellschaftliche Prinzipien vorordnet und vorgibt, sondern als ein dy-
namisches Wissen, das im gesellschaftlichen Wandel laufend neu erzeugt werden
muss – und zu dessen Produzenten (und nicht nur Konsumenten) gehört die Rechts-
ordnung selbst. Teubner hebt etwa die gestiegene Bedeutung der laufenden Produk-
tion privater Regelbildung in Form Allgemeiner Geschäftsbedingungen, Standardisie-
rungen und ähnlicher Normierungen z. B. in Wirtschaftsunternehmen, privaten
Verbänden, Krankenhäusern, Schulen oder Universitäten für das Recht und den inter-
pretativen Umgang mit ihm hervor. Und Ladeur/Augsberg betonen ausdrücklich die
Legitimität experimenteller Interpretationen in Fällen, in denen keine etablierten
Handlungsmuster existieren, auf die etwa Gerichte zurückgreifen können, so dass
diese selbst durch Interpretation einen Beitrag zur sozialen Regel- und Konventions-
bildung leisten müssen. Als gelungene Beispiele für eine derartige Mobilisierung des
gemeinsamen Wissens durch experimentelle Rechtsprechung werden etwa Entschei-
dungen des BGH zur Produkthaftung, des BVerfG zum Rundfunkrecht, die neuere
Entwicklung im Recht des Persönlichkeitsschutzes und im Technikrecht genannt.156
242 Die Konsequenzen dieser Vorschläge sind weitreichend. Insbesondere bei Ladeur/
Augsberg wird die Wissensproduktion selbst zu einem Aspekt der Rechtsbildung und
Rechtsinterpretation. Damit wird die etwa in der Systemtheorie noch vorausgesetzte
normative Geschlossenheit des Rechtssystems zumindest partiell gelockert. Ladeur/
Augsberg weisen zwar wiederholt darauf hin, dass die Berücksichtung des gemeinsa-
men Wissens nicht zu einer Einebnung der Unterscheidung von Rechtsinterpretation
und sozialer Konventionsbildung führen dürfe. Der Sache nach wird in der Rückver-
weisung des Rechts an die Standard- und Regelbildung der jeweils betroffenen Sach-
bereiche jedoch eine Ambivalenz sichtbar, die darauf hinweist, dass Recht und Rechts-
interpretation eng mit einem gemeinsamen Wissen verkoppelt sind, das die Grenze
zwischen Innen und Außen, zwischen Rechtsstrukturen und Sachstrukturen laufend
destabilisiert. Die Entscheidung über die Verwendung des Wissens wird in der juristi-
schen Interpretation gefällt, aber entgegen einer vordergründigen Beschwörung der
Einheit und Autonomie der Rechtsordnung, wird die Ausschließlichkeit und Eigen-
ständigkeit normorientierter Entscheidungen damit relativiert.
242 a Das ließe sich in medientheoretischer Perspektive als Reaktion auf die gestiegene Be-
deutung technischer Medien deuten, die das alte normative Regelmodell, das sich im-
mer an vorgegebenen Maßstäben orientiert hat, abschwächt. An die Stelle einer stabi-
len „vertikalen Autorität“, die es ermöglichte, das Einzelne unter ein Allgemeines zu
subsumieren (und damit in eine schon vorhandene normative Wirklichkeit einzurü-
cken), tritt eine fluide namenlose Autorität von zerstreuten horizontalen Bewegungen.
An die Stelle einer Normhierarchie mit einem „letzten Grund“ tritt ein „finding as
founding“ (Stanley Cavell), ein auf Offenheit angelegter Prozess des Suchens und Fin-
dens von Mustern, Normen und Gründen „zu einem Netz von Möglichkeiten, die in
einer experimentellen Form auf ihre Haltbarkeit als anschlussfähiges Muster für wei-
tere Möglichkeiten getestet, durchgespielt werden, ohne dass wieder die Herausbil-
dung einer verallgemeinerungsfähigen Regel, einer dauerhaften Form erwartet werden
könnte.“157 Für eine solche Lesart spräche besonders die neuartige Rolle des Codes in
der digitalen Kommunikation und das damit verbundene Übergreifen der Computer-

156 Ladeur/Augsberg, ebd., 175ff.


157
K.-H. Ladeur, Die Textualität des Rechts, 2015i. E.

146
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IV. „Postmoderne“ Methodenlehre

technologie in die alte Welt des bewusstseinsförmig gedachten Sollens. Normativität


wird hier durch sich selbst exekutierende technische Standards ersetzt, die zumindest
partiell die Rolle des Rechts einnehmen und die binäre Logik der Computertechnolo-
gie auf diese Strukturenausdehnen. „Das schließt, soweit der Internet-Code reicht, jeg-
liche Interpretationsspielräume in den Programmen aus.“158

4. Abdämpfung von Rationalitätsansprüchen


Die vorstehenden Überlegungen wollen zeigen, dass die mit der Rechtsinterpretation 243
verbundenen Rationalitätsansprüche abgedämpft werden müssen. Es geht bei der
Rechtsinterpretation, insbesondere bei Gerichtsentscheidungen, um die Plausibilität
von Begründungen, um bounded rationality im Sinne von Herbert A. Simon, nicht
aber um „Erkenntnis“ des richtigen (gerechten) Rechts. Darin unterscheidet sich der
hier eingeschlagene Weg nicht nur vom Vernunftideal des Rechtspositivismus, son-
dern auch von der juristischen Hermeneutik, die mit dem Übergang zur Konkretisie-
rung noch die Aussicht auf eine Erhöhung von Rationalitätsansprüchen verbunden
hatte.159 Entscheidungsgründe können im Recht nicht freischwebend entwickelt wer-
den. Rechtsinterpretation ist eo ipso mit den Verwendungskontexten der auszulegen-
den Regeln verwoben, den praktischen Erfahrungen und Zwängen, dem Einfluss der
im Sachbereich agierenden Rechtssubjekte und ihren Handlungsstrategien. Diese
muss die Rechtsinterpretation thematisieren. Ob sie damit nur Wissen, nur Kogni-
tion, benutzt, und ansonsten den Geltungszirkel, die Selbstreferenz des Rechtssys-
tems, unberührt lässt, wie noch die Systemtheorie unterstellt hat, ist fraglich gewor-
den. Aber selbst wenn man im Hinblick auf die Möglichkeit einer autonomen
Rechtsinterpretation skeptisch ist, bleibt die Entscheidung über die Art und Weise
der Nutzung des gemeinsamen Wissens, weiterhin eine Sache der juristischen Inter-
pretation und ihrer Reflexionsformen.
Darüber hinaus sollte hier plausibel gemacht werden, dass Interpretationsfragen kei- 244
neswegs nur – oder gar primär – auf die Lösung lokaler Rechtskonflikte, den indivi-
duellen Interessenausgleich im Einzelfall, zugeschnitten werden dürfen. Je weniger
das Recht als halbwegs konsistentes System von Rechtsnormen vorausgesetzt werden
kann und je deutlicher wird, dass Rechtsentscheidungen außerrechtliche Regel- und
Wissensbestände irritieren oder stellenweise sogar experimentell solche Standards
(mit-)erzeugen müssen, leistet die Interpretation einen Beitrag zur Erhaltung gemein-
samer Wissensbestände. Die Rechtsinterpretation erzeugt einen weit über den Einzel-
fall und die Selbstbindung des Rechts hinausweisenden Effekt: Sie ermöglicht oder er-
leichtert die praktische Koordination von gesellschaftlichen Handlungsvollzügen. Das
wäre erneut ein Argument für die oben bereits geäußerte Vermutung, dass sich die
Funktion der Interpretation keineswegs in der normativen Stabilisierung von Verhal-
tenserwartungen erschöpft, sondern darüber hinaus zur Bildung neuer Wissens- und
158
Teubner (Fn. 141 – Zivilverfassungen), 24.
159 Die Vorstellung einer beschränkten Rationalität des juristischen Entscheidens ist außerdem gegen die
Intellektualisierung der Interpretation gerichtet, wie sie neben der Theorie der juristischen Argumen-
tation von Robert Alexy vor allem die Diskurstheorie von Jürgen Habermas kennzeichnet, auf die hier
nicht näher eingegangen werden konnte: Bei Habermas (Fn. 112), 598, wird die Anwendung von
Rechtsnormen mit dem Postulat einer angemessenen und vollständigen Erfassung aller relevanten
Kontexte verbunden. Damit wird jedoch die notwendige Umweltselektivität der Rechtsinterpretation
durch ein Argumentationsverfahren ersetzt, das keine Grenzen kennt.

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§ 6. Interpretation

Regelbestände beitragen muss – „weil durch Präzendenzfälle Vertrauen geschaffen


wird“.160 Auch darum ist die Gerichtszentrierung der traditionellen Methodenlehre
zu eng geworden. In einem kooperativen Netzwerk von Rechtskommunikationen, in
einer „heterarchische(n) relationale(n) Verknüpfungsordnung zwischen Situatio-
nen“,161 kann nicht länger der staatliche Richter oder das politisch erzeugte Recht ins
Zentrum des Methodenproblems gestellt werden. Vielmehr kommt es darauf an, das
gemeinsame Wissen – die „Eigenverfassungen der Zivilsektoren“162 – in den Mittel-
punkt zu rücken und zu testen, ob und wo man hier auf Strukturen trifft, die sich his-
torisch vorübergehend bewähren und an die die juristische Interpretation anknüpfen
kann.

160 Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 166.


161 Ladeur (Fn. 31), 65, 90.
162
Teubner (Fn. 141 – Zivilverfassungen), 16.

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§ 7. Evolution

I. Rechtsgeschichte

Unter Rechtsgeschichte versteht man die Beschreibung der Veränderung oder Ent- 245
wicklung des Rechts im Medium der historischen Zeit, den „Weg des Rechts“ von
den „Anfängen bis in die Gegenwart“.1 Zwar präsentiert die rechtshistorische Literatur
diesen Weg heute nicht mehr durchgängig als lineare und kontinuierliche Höherent-
wicklung, als Weg einer in Westeuropa zu sich selbst kommenden (Rechts-)Vernunft,
wie es für die Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts noch weitgehend selbstverständ-
lich war. Geblieben ist aber die chronologische Ordnung des historischen Materials
nach den großen Epochen der europäischen Geschichte, Antike, Mittelalter, Neuzeit/
Moderne, bisweilen ergänzt um Frühgeschichte und Zeitgeschichte. Das Schlüssel-
thema bleibt die Modifikation des Rechts in einem als „Weg“ – manchmal auch als
„Strom“ oder „Fluss“ – gedachten Erfahrungsraum der Geschichte. Das ist aber wohl
nur eine Verlegenheitsformel für die unhintergehbare Paradoxie der historischen Zeit,
der Identität von Kontinuität (Identität) und Entwicklung (Differenz).2 Diese Parado-
xie versucht die Rechtsgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert in einem Konzept
zu entfalten, das die Geschichte des Rechts in Europa ins Zentrum der Forschung
stellt, während eine über Europa hinausgreifende globalhistorische Perspektive erst all-
mählich an Relevanz gewinnt.3
Der neuzeitliche, moderne Geschichtsbegriff konnte erst entstehen, seitdem die Welt 246
nicht mehr in einer unverfügbaren (metaphysisch-religiösen) Transzendenz wurzelt,
sondern zum Gegenstand ihrer eigenen Entwicklung geworden ist. Das setzte die Auf-
lösung des stationären Weltbildes des Alten Europa und damit vor allem einen Umbau
der ontologischen Zeitsemantik voraus. Erst seitdem die flüchtige Zeit der Gegenwart
(tempus) nicht mehr auf eine ewig andauernde Vergangenheit (aeternitas) referiert,
erst seitdem die Zeit als Zeitpunkt eine radikale Verzeitlichung der Gegenwart einge-
leitet hat, wird eine abstrakte Vorstellung von geschichtlicher Zeit als Abfolge von
Ereignissen zwischen Vergangenheit und (unbekannter) Zukunft möglich. Folgt man
dem Historiker Reinhard Koselleck, setzt sich ein derartiges Geschichtsbild nicht vor
dem 18. Jahrhundert durch, dem Zeitalter, in dem auch der Kollektivsingular „Ge-
schichte“ erfunden wird.4 Erst Autoren wie Giambattista Vico oder Johann Gottfried
Herder entwickeln im 17. und 18. Jahrhundert die Idee einer säkularen Kulturtheorie
und damit verknüpft die Idee eines spezifisch historischen (nicht theologischen)
Sinns.5 Man wird den Auftritt eines intellektuellen Interesses an der Geschichte als
1 So die knappe Formel bei U. Wesel, Geschichte des Rechts, 2014, 605.
2
In Anlehnung an M. Th. Fögen, Rechtsgeschichte, RG 1 (2002), 14ff., die von dem in der Geschichts-
forschung vorherrschenden Erklärungsmuster für Veränderungen als „Paradoxie der Identität bei gleich-
zeitiger Veränderung“ spricht.
3 Vgl. dazu den umfassenden Literaturbericht von T. Duve, Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu
einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive, 2012, 18ff.
4
R. Koselleck, Vergangene Zukunft, 1979, 300ff., 321ff. (zur „Verzeitlichung“ der Zeit), 12, 130ff. (zum
Geschichtsbegriff ); ders., Geschichte, 2004, 647ff.
5 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, 44, 355f.; H.-G. Gadamer, Wahrheit und Me-
thode, 1990, 200, 207, weist darauf hin, dass sich etwa bei Schleiermacher der historische Sinn noch
über die Geschichte erhebt, im Gegensatz etwa zu Ranke, bei dem es – im Anschluss an Hegel – zu einer

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§ 7. Evolution

Geschichte daher kaum in die antiken Hochkulturen zurückverlegen können. Sicher


war Geschichte als „Erinnerungskultur“, als Kunde oder Erzählung (von gr. historia,
Erkundung), eine frühe Erscheinung, wie etwa die Bauwerke Altägyptens belegen,
die Theologie des frühen Judentums, die Adelsgenealogien des klassischen Athen, die
antike Geschichtsschreibung in Athen und Rom (z. B. Herodot, Thukydides, Livius
etc.) oder – außerhalb Europas – die Entstehung einer kritischen Annalistik (Sima
Qian) im 2. Jahrhundert v. Chr. in China.6 Aber dass „es in der Geschichte um die
‚Geschichte selber‘ geht und nicht um eine Geschichte von etwas, ist eine moderne,
eine neuzeitliche Formulierung“.7
247 Erst nachdem die Idee eines spezifisch historischen Sinns ausgebildet war, konnte sich
Rechtsgeschichte als wissenschaftliche Fachdisziplin im (späten) 19. Jahrhundert etab-
lieren. Zwar hatte schon die historische Rechtsschule das Geschichtliche zum tragen-
den Bestandteil des Rechts gemacht. Bei Gustav Hugo, Friedrich Carl v. Savigny oder
Georg Friedrich Puchta blieb das historisch-genetische Interesse am römischen Recht
aber immer konstruktiv-systematischen Interessen untergeordnet; das historische Ver-
stehen diente dem Programm einer geschichtlichen Rechtsdogmatik, d. h. der Abstüt-
zung des Geltungsanspruchs der eigenen rechtspositivistischen Systementwürfe.8 Sieht
man von den – in vielerlei Hinsicht Sonderstatus genießenden – (rechts-)geschichtli-
chen Arbeiten Theodor Mommsens (1817–1903) einmal ab, wird ein von System-
und Geltungsfragen abgelöstes historisches Interesse am römischen Recht erst in Ar-
beiten wie Otto Lenels Edictum perpetuum (1884) sichtbar. Das dürfte nicht zuletzt
politisch-historische Gründe gehabt haben. Erst die großen Reichskodifikationen am
Ende des 19. Jahrhunderts (HGB, BGB etc.) führten zu einem Bedeutungsverlust der
römischen Rechtsquellen und der daran gebundenen Rechtswissenschaft und ermög-
lichten damit ein rein historisches Interesse am römischen Recht.9
248 Die Entstehung der Rechtsgeschichte aus der historischen Rechtsschule hat in
Deutschland eine enge Verknüpfung von Rechtsgeschichte und römischem Zivilrecht
zur Folge gehabt. Diese ist in den deutschen Universitäten bis heute in Form einer re-
lativ starken Stellung der romanistischen Rechtsgeschichte und einer anhaltenden Zu-
ordnung der Rechtsgeschichte zu den zivilrechtlichen Fachbereichen präsent. Dagegen
spielte die sich Mitte des 19. Jahrhunderts als Gegenbewegung herausbildende „Ger-
manistik“ – zuerst in der Konzeption eines (positiven) gemeinen deutschen Privat-
rechts von Carl Friedrich von Gerber realisiert (1846) – bis heute nur eine Nebenrolle.
Die Dominanz der romanistischen Rechtsgeschichte war auch inhaltlich folgenreich:

Kombination von „wahrhaft geschichtlichen Augenblicken“ und der „Freiheit des historischen Zusam-
menhangs“ kommt. Zu Herder vgl. auch Koselleck (Fn. 4 – Geschichte), 653.
6 Zur „Erinnerungskultur“ der Ägypter und zu den Anfängen der Geschichtsschreibung im frühen Juden-
tum, dem „deuteronomistischen Geschichtswerk“, vgl. nur J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis,
1992, 185, 216, 229; für die Adelsgenealogien in Athen vgl. R. Thomas, Oral Tradition and Written Re-
cord in Classical Athens, 1989, 95ff.; für die antike Geschichtsschreibung die Hinweise bei Koselleck
(Fn. 4 – Vergangene Zukunft), 135 (die Griechen haben den „Ereignissen innewohnende Ablaufzeiten“
herauspräpariert, ohne einen Begriff für Geschichte zu kennen).
7 Koselleck (Fn. 4 – Geschichte), 594.
8
Wieacker (Fn. 5), 419, („Geschichtswissenschaft konnte sie aber nicht werden, solange das römische
Recht im Dienst der Dogmatik des geltenden Rechts stand.“), 423 („Programm einer geschichtlichen
Rechtsdogmatik als positive Rechtswissenschaft“).
9 So die Einschätzung bei Wieacker, ebd., 420; und R. Ogorek, Rechtsgeschichte in der Bundesrepublik,
1994, 12ff., 17f.

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I. Rechtsgeschichte

Sie führte schon im 19. Jahrhundert zu einer am Begriff der Nation bzw. am „Volks-
geist“ orientierten Verengung der rechtshistorischen Forschung auf das römische
Recht.10 Andere antike Rechtskulturen spielten so gut wie überhaupt keine Rolle.
Eine das antike griechische Recht erforschende Gräzistik hat sich im deutschsprachi-
gen Raum erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablieren können (Otto Pringsheim,
Hans-Julius Wolff, Erik Wolf ), während die Gräzistik heute schwerpunktmäßig –
von wenigen Ausnahmen abgesehen (Gerhard Thür) – in den classical departments der
US-Universitäten (Michael Gagarin, David Cohen, Kevin Robb u. a.) angesiedelt ist.
Auch das Recht der vorderasiatischen Hochkulturen ist bis heute selten Gegenstand
rechtshistorischer Forschung,11 sondern wird eher in der Ägyptologie ( Jan Assmann),
Assyriologie, altorientalischen Philologie (Hans Neumann) oder Theologie gepflegt.12
Nur langsam scheinen andere Strömungen, wie etwa die Arbeiten von André Magde-
lain und Yan Thomas oder das bislang wenig beachtete Werk David Daubes, Wirkun-
gen zu entfalten. Bei Daube ist die Geschichte des römischen Rechts von Anfang an in
einen interkulturellen Vergleich eingebettet.13
Verfügte die romanistische Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts über ein relativ ein- 249
heitliches Forschungsprofil, hat sich die Disziplin im 20. Jahrhundert in divergierende
Strömungen aufgelöst. Einerseits werden bis heute Bemühungen um eine am gelten-
den Privatrecht orientierte Kanonisierung des römischen Rechts fortgesetzt (z. B. Max
Kaser/Rolf Knütel),14 andererseits entsteht schon im frühen 20. Jahrhundert eine sich
von allen dogmatischen Ansprüchen lossagende, ausschließlich am historischen Sinn
und an der historischen Wahrheit orientierte Rechtsgeschichte. Vor allem Franz Wiea-
cker hat die Rechtsgeschichte in diese Richtung gelenkt. Das mit seinem Namen ver-
bundene Programm einer rein historischen Auslegung der Quellen hat sich zunächst
als Ideengeschichte in der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1953/1967) und später,
mit eher sozialhistorischer Ausrichtung, in der Römische(n) Rechtsgeschichte (1988/
2006) niedergeschlagen.15 Darüber hinaus begann sich schon in Weimar ein Interesse
an der Semantik von Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft
zur modernen Politik zu artikulieren. Anknüpfend an Historiker wie Otto Hintze,
Otto Brunner und Fritz Hartung firmiert diese Forschungsrichtung heute unter der
Bezeichnung „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde,
Dieter Grimm, Dietmar Willoweit u. a.). Auch Michael Stolleis’ wissenschaftsge-
schichtliche Rekonstruktion der Staats- und Verwaltungsrechtslehre bewegt sich stark
in diesem Kontext.16
Diese grobe Skizze ließe sich leicht um weitere Hinweise erweitern, etwa auf die juris- 250
tische Zeitgeschichte ( Joachim Rückert, Diethelm Klippel), die neuere Methodenge-

10 Vgl. Ogorek (Fn. 9), 47 (mit Hinweis auf P. Koschaker, Europa und das römische Recht).
11
Siehe aber z. B. G. Pfeifer, Vom Wissen und Schaffen des Rechts im Alten Orient, Rechtsgeschichte 19
(2011), 263ff.; und ders., Juristische Domäne oder Hilfswissenschaft?, 2014, 409ff.
12
Vgl. dazu den Sammelband von U. Manthe (Hrsg.), Die Rechtskulturen der Antike, 2003. Ausnahme:
P. Koschaker, der um 1900 als Altorientalist angefangen hat.
13 Vgl. dazu den Nachruf auf Daube von M. Th. Fögen, David Daube, RJ 18 (1999), 195ff.
14
Auf der Grundlage von M. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1971.
15
Vgl. die Selbsteinschätzung zur Funktion der Rechtsgeschichte bei Wieacker (Fn. 5), 428f.
16 Zu Stolleis’ Projekt einer „Wissenschaftsgeschichte“ des öffentlichen Rechts vgl. nur M. Stolleis, Ge-
schichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Bd. 1, 1988, 43ff.; und ders., Öffentliches Recht in
Deutschland, 2014.

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§ 7. Evolution

schichte ( Jan Schröder) oder auf die jüngere Forschung zur Entstehung des Völker-
rechts aus dem Geist des Positivismus (Martti Koskenniemi). Wir verfolgen hier aber
nicht die Absicht einer repräsentativen oder gar umfassenden Darstellung der Ent-
wicklung der Rechtsgeschichte als akademischer Fachdisziplin. Die bisherigen Überle-
gungen dienen lediglich der Abstützung der Feststellung, dass sich die Rechtsge-
schichte heute in unterschiedliche Forschungsrichtungen pluralisiert und sich von der
Vorstellung einer einheitlichen Fragestellung und Methode verabschiedet hat. Die
Rechtsgeschichte oszilliert heute zwischen einer eher selbstgenügsamen Dogmenge-
schichte des römischen Zivilrechts (Typ: Kaser) und einer sozialhistorisch ausgerichte-
ten Rechtsgeschichte (Typ: Wieacker); in jüngerer Zeit hat die Rechtsgeschichte au-
ßerdem ihre eigene fachliche Zuordnung zur Rechtswissenschaft zugunsten einer
kulturhistorischen Öffnung gelockert.17 Damit hat sich die Rechtsgeschichte aber
wohl nur auf ein „Aussitzungskonzept“ geeinigt,18 das sicher nicht die letzte Antwort
auf die Frage nach der Zukunft des Fachs und seiner Einheit sein kann. Ein Ausweg
aus dieser Lage könnte darin liegen, die Rechtsgeschichte stärker für theoretisch abge-
sicherte Fragestellungen zu öffnen, wie sie die Entwicklungsgeschichte des Rechts
(Max Weber) und die neuere Evolutionstheorie (Niklas Luhmann) schon seit länge-
rem anbieten. So wie Rechtstheorie – entgegen Kelsen, Hart, Alexy u. a. – nicht sinn-
voll ohne Reflexion der historischen Genese ihrer Kategorien betrieben werden kann,
also nur in Verbindung mit Rechtsgeschichte, könnte umgekehrt die Rechtsgeschichte
von einer Öffnung in Richtung Rechtstheorie profitieren,19 insbesondere wenn diese
selbst stärker kultur- und medienhistorisch ausgerichtet wird.

II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)

251 Bereits im 19. Jahrhundert finden sich Versuche, Rechtsgeschichte stärker mit theore-
tisch abgesicherten Fragestellungen zu verknüpfen. Schon in der schottischen Aufklä-
rung, in der historischen Rechtsschule und im Rechtspositivismus kann man Ansätze
zu einer Entwicklungsgeschichte bzw. Evolutionstheorie des Rechts erkennen.20
Prominenz hat dieser Forschungstypus aber erst im 20. Jahrhundert und hier haupt-
sächlich durch Max Webers „Entwicklungsgeschichte“ des Rechts erlangt.21 Webers
Entwicklungsgeschichte fragt nach der Verkettung derjenigen inner- und außerjuris-
tischen Umstände, die zur Herausbildung des modernen Rechts geführt haben. Ihr
genaues Thema ist der „spezifisch geartete ‚Rationalismus‘ der okzidentalen Kul-
tur“,22 die Entfaltung der „inneren Eigengesetzlichkeiten“ unterschiedlichster Ord-
17
Dazu Duve (Fn. 3); vgl. auch ders., Rechtsgeschichte – Traditionen und Perspektiven, KritV 97 (2014),
96ff., 112ff.
18 Ogorek (Fn. 9), 99, 29.
19
Dafür plädieren z. B. D. Wyduckel, Schnittstellen von Rechtstheorie und Rechtsgeschichte, 2003,
109ff.; und Ogorek (Fn. 9), 31.
20
Vgl. nur P. Stein, Legal Evolution, 1980, 23ff. (Schottische Aufklärung); M. Amstutz, Evolutorisches
Wirtschaftsrecht, 2001, 141ff.
21 Den Begriff „Entwicklungsgeschichte“ übernimmt Weber offensichtlich von H. Rickert. Vgl. dazu
W. Schluchter, Religion und Lebensführung, 1988, Bd. 2, 269 Fn. 16; ders., Individualismus, Verant-
wortungsethik und Vielfalt, 2000, 169f.
22 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), 1986, 11. Zu dieser Ausgangsper-
spektive des Weberschen Gesamtwerks vgl. nur Schluchter (Fn. 21 – Individualismus), 153ff.;
S. Breuer, Max Webers tragische Soziologie, 2006, 288f.

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II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)

nungen,23 die nur der Okzident, der Westen hervorgebracht hat, wie etwa rationale
Herrschaft, kapitalistische Wirtschaft, autonome (Natur-)Wissenschaft und eben, so
Weber, modernes rationales Recht. Bei Webers Rechtsentwicklungsgeschichte
handelt es sich also weniger um Rechtssoziologie, wie die nachträglich angelegte
Überschrift von Marianne Weber und M. Palyi suggeriert, sondern eher um eine
„historisch-vergleichende Kultursoziologie des Rechts in universalhistorischer Per-
spektive“.24
Die universalhistorische Fragestellung führte in Webers Kultursoziologie des Rechts 252
zum Entwurf einer nicht ganz einfachen Typologie.25 Darin geht es im Kern um die
Evolution von Formalismus im Recht. Modernes (liberales) Recht nennt Weber „ratio-
nales Recht“ und definiert genauer: ein durch seinen „formalen Charakter“ bestimm-
tes Recht. Der erste Abschnitt der so genannten Rechtssoziologie – Die Differenzierung
der sachlichen Rechtsgebiete – bezeichnet Recht dann als formal (und rational), wenn
bei seinen Operationen „ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale
materiell-rechtlich und prozessual beachtet werden“.26 Der Gegenbegriff dazu ist
materiale Rationalität. Materiale Rationalität dirigiert ein Recht dann, wenn konkrete
Wertungen des Einzelfalls, „ethische Imperative oder utilitarische oder andere Zweck-
mäßigkeitsregeln oder politische Maximen“ Rechtsschöpfungs- und Rechtsfindungs-
probleme bestimmen.27 Webers Rechtsformalismus kennt wiederum zwei Ent-
wicklungsstufen. In Stufe 1 besitzen die rechtlich relevanten Merkmale sinnlich
anschaulichen Charakter (im Folgenden: empirischer Formalismus). In Stufe 2 wird
das Recht rein rational, denkend, durch „logische Sinndeutung“ erschlossen (im Fol-
genden: logischer Formalismus).28 Der empirische Formalismus setzt bereits eine
analytische „Zersetzung der plastischen Tatbestandskomplexe des Alltagslebens in lau-
ter juristisch eindeutig qualifizierte Elementarakte“,29 d. h. zumindest Ansätze einer
begrifflichen Analyse durch gedankliche Abstraktion (vom Gegebenen) voraus. Das
konstruktive, synthetische Moment ist im empirischen Formalismus aber nur schwach
oder gar nicht ausgebildet. Der empirische Formalismus haftet an äußerlichen Merk-
malen, er arbeitet mit bestimmten Spruchformeln und Ritualen und basiert beispiels-
weise darauf, „daß ein bestimmtes Wort gesprochen, eine Unterschrift gegeben, eine
bestimmte, ein für alle Mal in ihrer Bedeutung feststehende symbolische Handlung“
vollzogen wird.30 Entwicklungsgeschichtlich gesehen war mit dem empirischen For-
malismus zwar bereits ein relativ hoher Grad von Rationalität erreicht, aber wo dieser
Typus bestimmend blieb, blieb die Rechtsentwicklung in Kasuistik und Präjudizien-
23 Weber (Fn. 22), 541; S. Breuer, Bürokratie und Charisma, 1994, 40 (mit der Bemerkung, dass „Ratio-
nalisierung“ bei Weber als Ausdifferenzierung der inneren Eigengesetzlichkeiten von Ordnungen ver-
standen werden müsse, also als Ausdifferenzierung autonomer Sinnsysteme).
24 W. Gephart, Das Collagenwerk, RG 3 (2003), 111, 127; vgl. auch B. K. Quensel, Logik und Methode in
der „Rechtssoziologie“ Max Webers, Zeitschrift für Rechtssoziologie 18/2 (1997), 133, 134.
25
Für einen Überblick über die Gesamttypologie vgl. die schematischen Darstellungen bei Quensel
(Fn. 24), 133ff. 144ff., 148; ders./H. Treiber, Das „Ideal“ konstruktiver Jurisprudenz als Methode,
Rechtstheorie 33 (2002), 91ff., 112f.; W. Gephardt, Gesellschaftstheorie und Recht, 1993, 497ff.,
520ff.
26 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 397.
27
Weber, ebd., vgl. auch 396.
28
Weber, ebd., 396. Weber spricht auch von „logischer Rationalität“ (396), „rein logische(r) juristische(r)
Konstruktion“ (493) oder „abstrakter Rechtslogik“ (495).
29 Weber, ebd., 464.
30
Weber, ebd., 396.

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§ 7. Evolution

rechtsprechung stecken. Erst der logische Rechtsformalismus führte zur Entwicklung


des typisch modernen, nach Weber formal-rationalen Rechts.
253 Der empirische Formalismus bildete nach Weber die „strengste Art des Rechtsformalismus“.31 Elemente
des empirischen Formalismus kannten bereits die frühesten religiösen Rechte in Form eines magisch be-
dingten Formalismus;32 eine „welthistorische“ Bedeutung erreichte der empirische Formalismus aber erst
im antiken römischen Recht.33 Weber nennt als Beispiel mehrfach das altrömische (zweiteilige) Legisaktio-
nenverfahren und die ihm immanente Eigentümlichkeit des strengen Wortformalismus. Das Legisaktio-
nenverfahren basierte auf der Verwendung standardisierter Spruchformeln (sog. legis actio von lat. lege
agere, mit Spruchformeln klagen). Schon die geringste Abweichung von einer Spruchformel, der kleinste
Sprechfehler, konnte hier zum Verlust des Rechtsmittels führen, „im Gegensatz zu unserem Prinzip der
‚Klagesubstantiierung‘, bei welcher der Vortrag von Tatsachen zur Begründung der Klage genügt, falls sie
unter irgendeinem, einerlei welchem, rechtlichen Gesichtspunkt den erhobenen Anspruch rechtferti-
gen“.34 Als empirisch formalistisch im Sinne Webers können ferner die altrömischen Rechtsgeschäfte, wie
etwa die mancipatio, qualifiziert werden. Bei der mancipatio (von lat. manus, Hand und capere, ergreifen)
war die Begründung einer neuen eigentumsähnlichen Gewalt z. B. über einen Sklaven von einem feier-
lichen Ritual zwischen einem auctor (von augere, vermehren, verstärken) und einem Erwerber abhängig.
Zu diesem Ritual gehörte u. a., dass der Erwerber den Sklaven fasst und eine standardisierte Spruchformel
(meum esse aio) vor mindestens fünf römischen Bürgern sprach.35 Was Weber unter empirischem Rechts-
formalismus verstanden wissen wollte, lässt sich aber auch am geltenden Recht, z. B. an den Vorschriften
der §§ 1310ff. BGB, demonstrieren. Diese machen die Gültigkeit der Eheschließung von der persönlichen
Erklärung der gleichzeitig anwesenden Eheschließenden vor dem Standesbeamten mit fakultativer Hinzu-
ziehung von Zeugen abhängig (zu den jeweiligen Spruchformeln vgl. insbesondere § 1312 BGB). In all
diesen Fällen – legis actio, mancipatio und Eheschließung – handelt es sich um „Rechtsgeschäfte“, die auf
performativen Sprechakten (im Sinne John Austins) beruhen,36 d. h. der Geltungstransfer des Rechts, die
Gültigkeit der Rechtshandlung, wird durch den Sprechakt, die synästhetische, sicht- und hörbare Form
der Aussprache, also durch die Kommunikation und die dazugehörigen Handlungen selbst bewirkt.

254 Der Rechtsformalismus gilt bei Weber als entwickelt, wenn „die einzelnen anerkann-
termaßen geltenden Rechtsregeln durch die Mittel der Logik zu einem in sich wider-
spruchslosen Zusammenhang von abstrakten Rechtssätzen“ zusammengefügt und „ra-
tionalisiert“ sind.37 Weber orientierte sich bei der begrifflichen Bestimmung dieser
Entwicklungsstufe ganz an der Rechtswissenschaft seiner Zeit, der „gemeinrechtlichen
Jurisprudenz“ des Rechtspositivismus, dessen Entwürfe für ihn – paradigmatisch im
Pandektenlehrbuch von Bernhard Windscheid – den „Höchstgrad methodisch-logi-
scher Rationalität“ erreicht hatten.38 Es geht dabei um Systemrationalität, und Sys-
temrationalität bedeutete nicht einfach „Zweckrationalität“ im Sinne der soziologi-
31 Weber, ebd.
32 Weber, ebd., 504.
33 Weber, ebd., 463; M. Weber, Wirtschaftsgeschichte (1923), 1991, 290ff.
34
Weber (Fn. 26), 463, ähnlich 446; ders. (Fn. 33), 290f. („streng formales Verfahren“). Zum Legisaktio-
nenverfahren vgl. nur M. Kaser/R. Knütel, Römisches Privatrecht, 2014, 428ff., und das berühmte Bei-
spiel von Gaius, Institutionen, 4 (Verwechselung der Worte Bäume (arbores) und Weinstöcke (vites))
z. B. bei M. Th. Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, 139.
35
Gaius, Institutionen, 1, 119; dazu etwa Kaser/Knütel (Fn. 34), 51f.; Wesel (Fn. 1), 186f.
36
In der romanistischen Forschung wird hier im Anschluss an die wegweisenden Untersuchungen von
R. v. Jhering (Geist des römischen Rechts), auf dem auch Webers Begriff des anschaulichen Formalis-
mus beruht, von „Spruchformen“, „Realformen“ oder „Wirkformen“ und neuerdings auch von „Perfor-
manz“ gesprochen. Vgl. nur Kaser/Knütel (Fn. 34), 49f.; F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte,
1988, 320; vgl. auch A. Magdelain, De la Royauté et du droit de Romulus à Sabinus, 1995, 17ff. (la
parole active).
37 Weber (Fn. 26), 397.
38 Weber, ebd., 397, 495 (zu Windscheid). Der Vater des logischen Geschlossenheitsideals war für Weber
freilich Jeremy Bentham.

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II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)

schen Grundbegriffe, also (interessenbedingte) Abwägung von Mittel und Zweck im


Hinblick auf Erwartungen anderer.39 Systemrationalität im Sinne Webers verknüpfte
vielmehr zwei Komponenten: Sie basierte zum einen auf juristisch konstruktiver Ar-
beit, der Synthese von Rechtsnormen zu Rechtsinstituten und andererseits auf der „lo-
gischen Neusystematisierung“ solcher Normen und Institute.40 Logische Rationalität
heißt mit anderen Worten, abstrakte Regeln und Institute zu konstruieren und diese
über Rangverhältnisse (Hierarchien) auf letzte und allgemeinste Prinzipien zu reduzie-
ren, um das Recht von diesem höchsten Punkt aus zu einem in sich widerspruchs-
freien „lückenlosen“ System zu formen. Wie für Rousseau, Kant, Savigny, Puchta
oder Windscheid bildet auch für Weber der freie (allgemeine) Wille bzw. das „souve-
räne Bewusstsein“ die Primärform oder Spitze dieses Systems;41 mit Franco Moretti
könnte man auch sagen, dass der Bürger (oder genauer: der Bildungsbürger) und seine
Integrationsleistungen das empirische Substrat, der Träger, dieses Weber’schen souve-
ränen Bewusstseins sind.42 Zugleich betont Weber die mechanistische Komponente
des rechtspositivistischen Systems, seine von persönlichen (klientelistischen) Bezie-
hungen unabhängige (dehumanisierte) Funktionsweise. Weber rekonstruierte das
Rechtssystem mit anderen Worten „in enger Anlehnung an das Vorbild der Mechanik
als ein durchgängig determiniertes rationales System“,43 als eine Einheit, von der aus
sich jede Rechtsentscheidung als kalkulierbare „Anwendung“ eines abstrakten Rechts-
satzes auf einen konkreten Tatbestand – jenseits des spontanen Charakters des täg-
lichen Lebens – begreifen lässt.44
Webers Begriff der Entwicklungsgeschichte lässt sich jetzt genauer bestimmen. Im 255
Vordergrund steht die Rekonstruktion der inner- und außerjuristischen Bedingungen
der Geschichte und Evolution eines systemisch rationalisierten Rechts, eines Rechts,
das sich wie eine triviale Maschine kalkulierbar und vorhersehbar programmieren lässt.
Weber entwirft eine Typologie der „formal-rationalen Rechtsentfaltung“,45 die sich im
welthistorischen Maßstab gesehen nur in Kontinentaleuropa, nur im Westen, nur im
rechtspositivistischen Systembegriff zu ihrer Vollstufe entwickelt hatte. Aber welche
innerjuristischen Bedingungen sind dafür verantwortlich?
Diese Frage beantwortet die Unterscheidung von Rechtspraxis und Rechtspflege, wo- 256
bei sich Weber vor allem für die Trägerschichten der Rechtspflege, die „Rechtshonora-

39 Die genaue Definition lautet: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Ne-
benfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Neben-
folgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also je-
denfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt.“, Weber
(Fn. 26), 13.
40 Weber, ebd., 396, vgl. z. B. auch 506 („die rein fachjuristische Logik, die juristische ‚Konstruktion‘ der
Tatbestände des Lebens an der Hand abstrakter ‚Rechtssätze‘...“) und 495.
41
Weber, ebd., 496.
42
Vgl. F. Moretti, The Bourgeois, 2013; vgl. auch K.-H. Ladeur, Die Textualität des Rechts, 2015i. E.,
Teil 4.
43 S. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, 1991, 207. Vgl. auch Weber (Fn. 33), 293 (mit der Be-
merkung, dass der Kapitalismus ein Recht brauche, „das sich ähnlich berechnen läßt wie eine Ma-
schine“).
44
Weber (Fn. 26), 397, vgl. auch 493; Quensel/Treiber (Fn. 25), 101, 116ff., die u. a. auf Jhering und des-
sen „Theorie der juristischen Technik“ mit ihren drei „Fundamentaloperationen“ („juristische Ana-
lyse“, „logische Construction“, „juristische Construction“) hinweisen.
45
Quensel/Treiber (Fn. 25), 91.

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§ 7. Evolution

tioren“, interessiert.46 Erst die Einrichtung einer kontinuierlichen Rechtspflege ließ


überhaupt eine spezifisch juristische Expertise, „Rechtsdenken“, entstehen, die ihrer-
seits die mit der Rechtspraxis befasste Honoratiorenschicht beeinflusste. Dabei unter-
scheidet Weber drei Entwicklungspfade: Das Rechtsdenken entsteht (1) entweder aus
„handwerklicher“ Erfahrung, als „empirische Lehre des Rechts durch Praktiker“; oder
es geht (2) aus theoretischer Lehre in besonderen Rechtsschulen, „in Gestalt rational
systematischer Bearbeitung“ hervor;47 oder (3) die Rechtslehre erfolgt an Priesterschu-
len. Diese letzte Möglichkeit gilt als „eigentümliche Sonderform“ mit Drift zur mate-
rialen Rationalisierung und ist Weber zufolge etwa für die hinduistische, islamische
und jüdische Rechtskultur bestimmend. Idealtypisch für das empirische Rechtsden-
ken ist die englische zunftmäßige Rechtslehre durch Anwälte. Den reinsten Typus des
theoretisch-wissenschaftlichen Rechtsdenkens stellt dagegen die „moderne rationale
juristische Universitätsschulung“ dar,48 wie sie sich in Kontinentaleuropa zuerst an
der juristischen Fakultät von Bologna etabliert hat. Die Schulung der Rechtspraktiker
erfolgte in diesem Fall an relativ unabhängigen Einrichtungen, in Universitäten freier
Städte. Damit gewinnt das Universitätsrecht im Vergleich insbesondere zum eng-
lischen Anwaltsrecht eine viel größere Distanz zu den Alltagsbedürfnissen der Rechts-
interessenten und den (ökonomischen) Eigeninteressen der Rechtspraktiker. Es kann
sich daher auch stärker entlang der rechtsinternen Denkbedürfnisse, der Eigengesetz-
lichkeiten der Juristenlogik, entfalten.49
257 Mit Hilfe dieser Unterscheidungen ist ein entwicklungsgeschichtlicher Zusammen-
hang hergestellt, durch den die Evolution der innerjuristischen Voraussetzungen des
rationalen Rechts erklärt werden kann. Der logische Formalismus ist das Werk theore-
tisch und historisch gebildeter Juristen, das Werk von Professorenbeamten wie Wind-
scheid, Goldschmidt oder Jhering und beruht auf der gedanklich systematischen Neu-
bearbeitung des Iustinianischen Rechts und insbesondere der Digesten. Das setzt
wiederum die Tradierung dieses Rechts seit dem späten 11. Jahrhundert voraus, also
jenem Zeitpunkt, zu dem das in einem alten Manuskript aufgezeichnete römische
Recht in einer italienischen Bibliothek „wiederentdeckt“ worden war. Für dessen Re-
zeption bilden die italienischen Notare, die Universitäten und die Kanonistik, d. h. die
Rechtslehre der römisch-katholischen Kirche, die zentralen Verbindungsglieder.50 Im
Zentrum der Weberschen Entwicklungsgeschichte steht also letztlich das römische Zi-
vilrecht, und zwar nicht so sehr seinem Inhalt nach, sondern vor allem im Hinblick auf
seine „streng juristischen Schemata und Denkformen“.51 Weber weist wiederholt da-
rauf hin, dass sämtliche charakteristischen Institute des modernen (kapitalistischen)
Wirtschaftsrechts wie etwa Privateigentum, Rentenbrief, Schuldverschreibung, Aktie,
Wechsel, Handelsgesellschaft oder Hypothek mit Grundbuchsicherung nicht römi-
schen Ursprungs sind.52 Das moderne Privatrecht, Strafrecht und öffentliche Recht
lässt sich also nur nach der formalen Seite, nur im Hinblick auf die streng formale
46
Weber (Fn. 26), 456, vgl. auch ebd., 171 (mit dem Hinweis, dass Honoratioren in ihrer primären Be-
deutung solche Personen sind, die von ihrer Tätigkeit leben können, ohne von ihr leben zu müssen).
47 Weber, ebd., 456. Zu Webers Analyse des englischen Rechts vgl. auch K. Zweigert/H. Kötz, Einführung
in die Rechtsvergleichung, 1996, 190f.
48
Weber (Fn. 26), 458.
49
Weber, ebd., 493.
50 Weber, ebd., 480 (zum kanonischen Recht), 491 (zur Rezeption des römischen Rechts).
51 Weber (Fn. 22), 2.
52
Weber (Fn. 33), 292; zum Eigentum vgl. etwa Weber (Fn. 26), 467.

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II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)

Rechtsexpertise, auf das römische Zivilrecht zurückführen. Nur insoweit bildet das rö-
mische Zivilrecht den Gegenstand, an dem sich das europäische Rechtsdenken ge-
schult und an dem sich das formal-rationale Recht entwickelt hat.
Diese Zentralstellung des römischen Zivilrechts führt Weber in einem weiteren Argu- 258
mentationsschritt zu der Frage, wodurch dessen Sonderstellung im Vergleich zu ande-
ren antiken Rechten bedingt ist. Das erklärt die webersche Entwicklungsgeschichte –
wie die romanistische Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts – rein endogen:
Sie attestiert dem römischen Recht einen bereits in seiner Frühphase in Erscheinung
getretenen eminent analytischen Charakter, der zusammen mit den Eigentümlichkei-
ten des römischen Prozessrechts den besonderen Formalismus des römischen Rechts
bewirkt habe. Hinter dieser These steht wiederum eine Argumentationskette, die
vom Recht zur Religion als dem vermeintlichen „Anfang“ des Rechts führt: Der For-
malismus des römischen Zivilrechts ist letztlich auf die Eigenheiten der „national-rö-
mischen Religion“ und der sakralen Rechtsfindung der römischen Priesterjuristen
(pontifices) zurückzuführen.53 Für Weber besteht die ausschlaggebende Eigentümlich-
keit der „national-römischen Religion“ in der begrifflichen und abstrakten (analyti-
schen) Scheidung der Kompetenzen der vielen Gottheiten (numina) und einer darauf
bezogenen „unausgesetzte(n) Pflege einer praktisch rationalen sakralrechtlichen Kasu-
istik, eine Art von sakraler Kautelarjurisprudenz und die Behandlung dieser Dinge ge-
wissermaßen als Advokatenprobleme“.54 Die römische Religionslehre kreist für Weber
daher schon früh um die Pflege juristischer Korrektheit und um Etikettenfragen, statt
um Sünde, Buße oder Rettung.55 „Das Sakralrecht“, verkündet Weber in der Reli-
gionssoziologie, „wurde so zur Mutter rationalen juristischen Denkens.“56
Während die Beschreibung des Bedingungszusammenhangs im Bereich der innerjuris- 259
tischen Faktoren relativ leicht fällt, ist die Rekonstruktion der außerjuristischen Ein-
flüsse, die die Durchsetzung des rationalen Formalrechts bewirkt haben sollen, weitaus
schwieriger. Weber verweist hier auf unterschiedliche Faktoren wie etwa auf das Verhält-
nis von theokratischer und profaner Gewalt, auf ökonomische Bedingungen wie z. B.
Abhängigkeit der Vertragsfreiheit bzw. subjektiver Rechte von ökonomischen Prozessen
(Markterweiterung), aber auch auf politische Machtverhältnisse. Die Evolution des For-
malrechts ist also durch eine Mehrzahl außerjuristischer Faktoren bedingt gewesen. Von
ihnen allen räumt Weber dem politischen Faktor jedoch eine Sonderstellung ein. Das
schlägt sich rechtssoziologisch hauptsächlich in einem ausgeprägten Voluntarismus nie-
der, d. h. in der Annahme einer auf den freien Willen rückführbaren Be-Gründung des
Rechts durch „Satzung“. Das Satzungsprinzip, die Setzung bzw. Positivierung des
Rechts, spielt in Webers Entwicklungsgeschichte eine außerordentliche Rolle. Für neue
Rechtsnormen und überhaupt für Variation im Sinne eines Abrückens von der Stabilität
der Tradition ist das Satzungsprinzip schon auf der ersten Stufe der Rechtsentwicklung,
auf der Stufe der charismatischen Rechtsoffenbarung, ausschlaggebend – und schon hier
ist Satzung auf das Engste mit dem Prinzip der „Oktroyierung“ verknüpft.57 Webers
53 Weber, ebd., 464, 251.
54 Weber, ebd., 251.
55
Weber, ebd., 464, vgl. auch 251.
56
Weber, ebd., 250f.
57 Weber, ebd., 441, 446. („Die Rechtsoffenbarung in diesen Formen [durch oktroyierte neue Regeln,
T. V.] ist das urwüchsige revolutionierende Element gegenüber der Stabilität der Tradition und die
Mutter aller ‚Satzung‘ von Recht.“). Ist die Oktroyierung demokratisch organisiert, wie im Athen des

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§ 7. Evolution

Entwicklungsgeschichte des Rechts kann insofern nicht von seiner Herrschafts- bzw.
Staatssoziologie getrennt werden, ja mehr noch, die vergleichende Kultursoziologie des
Rechts steht über weite Strecken in einer eher dienenden Rolle zu Webers Theorie des
(rationalen) Staates.58 Denn erst der Staat sorgt über Satzung und Kodifikation für die
Realisation des formal-rationalen Juristenrechts. Das geschieht ansatzweise schon in
den antiken Stadtstaaten Athen und Rom, sodann im kanonischen Recht, in den natur-
rechtlichen Kodifikationen des 18. Jahrhunderts und ausgeprägter schließlich in der
französischen Revolutionsverfassung, dem Code Civil und dem BGB.
260 Wie stark Weber seine rechtstheoretischen Forschungsinteressen denen der Herrschaftssoziologie unterord-
net, zeigt sich vielleicht noch deutlicher auf logisch-begrifflicher Ebene. Recht wird hier – im Unterschied
etwa zu Konvention und Sitte – durch das Moment des Rechtszwangs bestimmt.59 Das gilt auch und gerade
im Hinblick auf seine empirische Geltung (Wirksamkeit).60 Weber lehnt es zwar ab, für die Organisation
und Ausübung von gewaltsamem Rechtszwang ein staatliches Monopol als unerlässlich anzusehen; es ge-
nügt ihm eine Lage, „wo die Anwendung irgendwelcher, physischer oder psychischer, Zwangsmittel in Aus-
sicht steht, die von einem Zwangsapparat, d. h. von einer oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche
sich zu diesem Behuf für den Fall des Eintritts des betreffenden Tatbestandes bereithalten, wo also eine spe-
zifische Art der Vergesellschaftung zum Zweck des ‚Rechtszwanges‘ existiert“.61 Hier wird eine unauflösliche
Beziehung zwischen Recht und Gewalt unterstellt, und darin ist Weber ganz ein Sohn seiner Zeit: ein deut-
scher Herrschaftstheoretiker des Rechts, der den politischen und staatlichen Anteil an der Rechtsbildung
überschätzt. Diese verfehlte Staatsfixierung zeigt sich auch in Webers Einschätzung des englischen Com-
mon law. Die These von der minderen Rationalität des Common law, nach Weber Resultat seiner engen
Verbindung mit ökonomischen Interessen,62 ist schon theoretisch fragwürdig, geht es im Recht doch auch
um dessen Responsivität für gesellschaftliche Konventions- und Regelbildung. Webers These dürfte aber
auch historisch an den Realitäten vorbeigehen,63 jedenfalls mutet sie aus heutiger Sicht eher anachronistisch
an: Während in Deutschland und Kontinentaleuropa die Fixierung der Juristen auf den Staat diese auf einen
Entwicklungspfad festgelegt hat, innerhalb dessen die Lösung der Probleme eines beschleunigten gesell-

5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., entwickelt sich aus der Satzung durch charismatische Rechtsoffenba-
rung die „Auffassung des Rechts als einer rationalen Schöpfung“, ebd., 783; ähnlich Breuer (Fn. 22),
192f. (das demokratische Gesetz als die Geburtsstunde der polis).
58
Besonders deutlich: Weber (Fn. 26), 482ff., und ders. (Fn. 33), z. B. 290 („Das rationale Recht des mo-
dernen okzidentalen Staates, nach welchem das fachmännisch gebildete Beamtentum entscheidet,
stammt nach der formalen Seite, nicht nach dem Inhalt, aus dem römischen Recht.“); dazu Breuer
(Fn. 23), 5ff., 12ff.; ders. (Fn. 43), insb. 191ff.; W. Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationa-
lismus, 1998, 181ff.
59
Weber (Fn. 26), 182 („ ‚Recht‘ ist für uns eine ‚Ordnung‘ mit gewissen spezifischen Garantien für die
Chance ihrer empirischen Geltung.“); dazu Quensel (Fn. 24), 140f.
60 Weber (Fn. 26), 183 („... daß durchschnittlich eine Chance: die geltende Norm werde infolge jenes
Rechtszwanges Nachachtung finden, in praktisch relevantem Maße besteht“).
61 Weber, ebd., 185.
62
Vgl. nur Weber, ebd., 445 (Common law und laufende Abgleichung ökonomischer Interessen), 467
(römische Rechtslogik vs. Deliktsbegriff des trespass), 510f. (mindere Rationalität des Common law,
weil es bis Austin keine Jurisprudenz gab, weil es an umfassender Kodifikation mangelte und kein ratio-
nales Anwendungsparadigma herrschte), 564 (fehlender Rechtsschutz der ökonomisch Schwachen).
Zum Common law bei Weber vgl. nur Quensel (Fn. 24), 150; Breuer (Fn. 43), 204ff. Die Entgegenset-
zung von kontinentaler Jurisprudenz und Common law ist im Übrigen nicht ganz unproblematisch.
Weber weist selbst darauf hin (z. B. 151, 493), dass auch das Common law durch römische Denkfor-
men rationalisiert wurde.
63 Vgl. dazu nur J. Mokyr, The Institutional Origins of the Industrial Revolution, 2008, 64ff. (Mokyr
betont – im Kontrast zu Webers Sichtweise – die „informale“ Normativität (private-order contract-
enforcement institutions), die kulturelle Infrastruktur formaler Institutionen; eine Infrastruktur, die
den gentleman und damit Vertrauen zwischen Fremden – Marktbeziehungen, Entwicklung neuer Tech-
nologien durch Partnerschaften, Unternehmen etc. – möglich werden ließ); vgl. auch die Hinweise bei
Ladeur (Fn. 42).

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II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)

schaftlichen Wandels auf eine politische Option, nämlich Gesetzgebung, beschränkt ist, eröffnen das Com-
mon law und die an ihm geschulte Rechtstheorie einen sehr viel breiteren Optionenraum, innerhalb dessen
das Recht auf die gesteigerte Eigendynamik der modernen Gesellschaft und ihrer vielen unterschiedlichen
Praxisfelder reagieren kann (z. B. in Form einer ökonomischen Analyse des Rechts).
Auch auf methodologischer Ebene ist Webers Entwicklungsgeschichte nicht frei von Aporien. Die ganze
Problematik seines epigenetischen Erklärungsmodells,64 bei dem einzelne „Entwicklungsstufen“ oder „Ra-
tionalitätsstufen“ von der historischen Realität abgezogen, generalisiert und dann mit historischem Mate-
rial angereichert werden, ist bereits im Syntagma „Entwicklung-Geschichte“ angelegt. Auf der einen Seite
kann sich die Theorie nicht in „Geschichte“ erschöpfen, in der Aufzählung bloß individueller Ereignisse,
Dekalog, Solon, Zwölf-Tafel-Gesetz, Justinian, französische Revolutionsverfassung, Code civil, BGB etc.
Weber, der Bewunderer „großer Politik“, neigt zwar dazu, historische Veränderungen auf Machtkämpfe,
d. h. soziologisch: Selektionen auf Kontingenz zurückzuführen. Dazu passen eine Reihe von Äußerungen
des Methodologen Weber, in denen die operative Wirklichkeit der Geschichte zu einem (sinnlosen) un-
endlichen Strom „unermesslichen Geschehens“, der sich der Ewigkeit entgegenwälzt, verdünnt wird.65 An-
dererseits geht es Weber aber gerade um die Prozesse der formalen Rationalisierung des Rechts, und darin
ist die Theorie auf die Beobachtung von Steigerungsverhältnissen und historischen Tendenzen festgelegt.
Der darauf bezogene Entwicklungsbegriff ist zu Webers Zeiten jedoch mit allerlei Arten von Fortschritts-
konzepten belastet, z. B. in Form aufeinander folgender Gesellschaftsformationen (Marx), Stadien
(Comte) oder Stufen (Bücher), die Weber allesamt zutiefst verdächtig sind.66
Auf exakt diese Ausgangslage antwortet Webers Begriff der Entwicklungsgeschichte. Weber meint, sich der
Opposition Sinnlosigkeit der Geschichte vs. Entwicklung = Forschritt durch eine idealtypische Entwick-
lungskonstruktion entziehen zu können. Diese idealtypische Konstruktion reduziert Geschichte auf ein blo-
ßes Modell, auf ein rein theoretisches Konstrukt zur Beschreibung der (in ihrer operativen Realität unbe-
schreibbaren) historischen Realität. Diese idealtypische Modellbildung hat zwar den schwerlich zu
leugnenden Vorteil, die im 19. Jahrhundert übliche Fortschrittsmetaphysik hinter sich lassen zu können, da
weder eine sachliche Kongruenz von Theorie und historischer Realität noch eine lineare Abfolge der ver-
schiedenen Rationalitätsgrade im Verlauf der historischen Entwicklung unterstellt werden muss.67 Das aller-
dings konfrontiert Weber mit dem Problem des Übergangs von einer idealtypischen Entwicklungs- oder Ra-
tionalitätsstufe zur anderen, ein Problem, das innerhalb der Theoriearchitektur des „Idealtypus“ unlösbar
ist.68 Stefan Breuer hat deshalb – im Kontext der Herrschaftssoziologie – angeregt, Webers materiale Unter-
suchungen gewissermaßen gegen den neukantischen Methodologen Weber zu wenden und an der Entwick-
lungsgeschichte das zu akzentuieren, was sie mit neueren Evolutionstheorien, mit Theorien dynamischer
(vorübergehender) Stabilität, „mit der Annahme von Zyklen, Katastrophen und Sprüngen“ in der Ge-
schichte, kompatibel macht.69 Dieser Gedanke scheint auch im Kontext von Webers komparativer Kulturge-
schichte des Rechts produktiv zu sein, zumal Webers Entwicklungsgeschichte des Rechts solche Vorstellun-
gen keineswegs fremd sind.

64
Zum epigenetischen Erklärungstypus vgl. Webers eigene Reflexion in M. Weber, Gesammelte Aufsätze
zur Religionssoziologie III (1920), 1988, 2f.; weitere Hinweise bei Breuer (Fn. 22), 185; ders. (Fn. 43),
28ff. (dort zum Begriff der „Entwicklungsgeschichte“ in einem herrschaftssoziologischen Kontext);
Quensel/Treiber (Fn. 25), 106ff.
65 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922), 1985, 184 („Immer neu und anders
gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen, flüssig bleibt, damit der Um-
kreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für
uns erhält, ‚historisches Individuum‘ wird.“); vgl. auch Breuer (Fn. 43), 27.
66 Vgl. nur Schluchter (Fn. 21 – Religion, Bd. 1), 93ff. (für das Verhältnis Weber/Marx).
67
Weber (Fn. 26), 505 („Daß die hier theoretisch konstruierten Rationalitätsstufen in der historischen
Realität weder überall gerade in der Reihenfolge des Rationalitätsgrades aufeinander gefolgt, noch auch
nur überall, selbst im Okzident, alle vorhanden gewesen sind oder auch nur heute sind ... dies alles soll
hier ad hoc ignoriert werden, wo es nur auf die Feststellung der allgemeinsten Entwicklungszüge an-
kommen kann.“).
68
Breuer (Fn. 43), 28f. (mit Hinweis auf Adorno).
69
Breuer, ebd., 30, vgl. auch 100; ders. (Fn. 22); anders sieht das z. B. Schluchter (Fn. 21 – Individualis-
mus), 165f., der Webers Entwicklungsgeschichte als „evolutionstheoretisches Minimalprogramm“ cha-
rakterisiert und meint, dass Evolutionstheorien unabdingbar an eine Vorstellung von „Fortschritt“ ge-
koppelt sein müssten.

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§ 7. Evolution

III. Evolutionstheorie

1. Evolutionstheorie und Systemtheorie


261 Max Weber sieht die Entwicklung und die Evolution des modernen Rechts letztlich
durch die Brille seiner Herrschaftssoziologie. Damit bewegt sich seine Kultursoziolo-
gie des Rechts doch sehr im Schatten einer politischen Rechtskonzeption. Diese kon-
zentriert sich ausschließlich auf das formalisierte positive Recht, während die infor-
melle Konventions- und Institutionenbildung, das private ordering, demgegenüber
stark vernachlässigt wird, ähnlich wie heute noch in der Verfassungsgeschichte der
Neuzeit oder etwa in Michael Stolleis’ Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen
Rechts. Webers kulturvergleichende Rechtsentwicklungsgeschichte ist jedoch insofern
für die neuere Evolutionstheorie anschlussfähig, als sie jede Form von Fortschrittsme-
taphysik aufgibt und den Geschichtsbegriff – zumindest in den materialen Unter-
suchungen – für Vorstellungen von Nicht-Linearität, Diskontinuität und plötzliche
Einschnitte öffnet. Darin trifft sie sich mit der neueren Evolutionstheorie, die ent-
wicklungslogische Annahmen von Änderungsprozessen in eine bestimmte Richtung
ebenfalls zu vermeiden sucht. Evolution heißt hier Ermöglichung höherer Komplexi-
tät, nicht aber Fortschritt in Richtung Perfektion. Es mangelt der Evolutionstheorie
allerdings oft an Klarheit im Hinblick auf den Evolutionsbegriff und an der Eindeutig-
keit des Gegenstands, auf den die Evolution bezogen sein soll.
262 Derartige begriffliche und konzeptionelle Unklarheiten wollen Niklas Luhmann,
Gunther Teubner, Marc Amstutz u. a. durch eine Kombination von Evolutionstheorie
und Systemtheorie vermeiden.70 Auch bei diesen Autoren geht es wie bei Weber um
eine Alternative zu linearen Fortschrittserzählungen, aber anders als Weber benutzen
Luhmann, Teubner und Amstutz den Evolutionsbegriff in enger Anlehnung an
Charles Darwin. „Evolution“ wird hier durch ein Dreierschema bestimmt: durch den
konditional verknüpften Zusammenhang von Variation, Selektion und Restabilisie-
rung.71 „Variation“ bezieht sich auf die Reproduktionsmuster der systemeigenen Ele-
mente oder Operationen, also auf mögliche Veränderungen der bis zu einem bestimm-
ten Zeitpunkt im Rechtssystem praktizierten Gewohnheiten. „Selektion“ referiert auf
die damit einhergehende Änderung von Strukturen als Bedingung weiterer Reproduk-
tion, also auf veränderte (rekursive) Ausgangsbedingungen. „Restabilisierung“ mar-
kiert die Weiterführung der gewählten Struktur, das Stabilhalten des Systems im Sinne
dynamischer Stabilität (rekursive Vernetzung). Der Versammlungsbegriff wurde von
der Rechtsprechung in der Vergangenheit stets weit ausgelegt. Unter dem Druck der
Zunahme eines neuen Typus von Unterhaltungsdemonstrationen („Love-Parade“)
sieht sich das Bundesverfassungsgericht jedoch mit einer veränderten Sachlage kon-
frontiert und sucht nach neuen Möglichkeiten, mit dem abweichenden Demonstra-
tionstypus umzugehen (Variation). In einem neuen Fall wird die Unterhaltungsde-
monstration dann erstmals explizit aus dem Versammlungsbegriff ausgeschlossen

70 Vgl. nur N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft,
1993, 239ff.; G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 61ff.; Amstutz (Fn. 20), 108ff. („Re-
tention“).
71 Vgl. nur Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 242; Teubner (Fn. 70), 74ff.; vgl. allg. auch
D. Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005, 237ff., der wie Amstutz von „Retention“
(statt von Restabilisierung) spricht.

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III. Evolutionstheorie

(Selektion), in weiteren Entscheidungen verfestigt sich die neue Rechtsprechung (Res-


tabilisierung).72
Die Verwendung von Begriffen Darwins in der Rechtstheorie sollte nicht als unmittelbare „Anwendung“ 263
biologischer Erkenntnisse oder „Metaphern“ interpretiert werden. Darwins Begriff der natural selection
wird nicht einfach auf die Rechtsentwicklung übertragen; der Systemtheorie geht es um interne Selektion
und um die vorübergehende Eigen-Stabilisierung dynamischer (Sinn-)Systeme, nicht aber um externe Se-
lektion und ausschließlich phylogenetische Gesetzmäßigkeiten wie Darwin. Mit der Evolutionstheorie soll
vielmehr eine der bedeutendsten Errungenschaften des modernen Denkens zur Erklärung rechtsstruktu-
reller Veränderungen genutzt werden.73 Diese Chance sollte auch deshalb nicht vertan werden, weil die
Evolutionstheorie wie keine andere allgemeine Theorie geeignet sein dürfte, neue Kommunikationsmög-
lichkeiten zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu eröffnen, auch deshalb, weil die moderne Biolo-
gie bereits ihrerseits stark durch Kybernetik, Informationstheorie und Computerdenken beeinflusst ist.74
Wie produktiv evolutionstheoretisches Denken in dieser Hinsicht sein kann, belegt etwa die jüngere Dis-
kussion über die Verschränkung von biologischer Evolution und Kultur: Zwischen der biologischen Aus-
stattung des menschlichen Gehirns auf der einen und den dadurch hervorgebrachten kulturellen Erfin-
dungen auf der anderen Seite gibt es offensichtlich einen durch (Kommunikations-)Medien vermittelten
Zusammenhang. Wie neuere psychologische und anthropologische Publikationen zeigen, lässt sich etwa
ein co-evolutives Verhältnis von Sprache einerseits und Morphologie der Sprech- und Hörfähigkeit des
Menschen andererseits nachweisen.75 Die Erfindung und Ingebrauchnahme der Schrift scheint ebenfalls
enorme Auswirkungen auf die funktionale Organisation des menschlichen Gehirns gehabt zu haben.76

Der Akzent des dreigliedrigen Evolutionsbegriffs liegt auf der Unterscheidung von Va- 264
riation und Selektion, auf der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit plötzli-
cher Ordnungseinbrüche. Das alte teleologische Entwicklungsmodell wird hier durch
ein zirkuläres Modell abgelöst, das davon ausgeht, dass sich Ordnungen nur über eine
geraume Zeit stabilisieren können und Phasen der Stabilität durch Phasen der Instabi-
lität abgelöst werden. Gegenüber der herkömmlichen Vorstellung von Geschichte im
Sinne allmählicher Veränderung folgt aus dieser Begriffsanlage zunächst einmal,
Rechtsgeschichte nicht als Einheit, sondern als Differenz zu konstruieren. Die Evolu-
tionstheorie geht nicht von der Einheit und Kontinuität eines geschichtlichen Überlie-
ferungszusammenhangs aus, sondern von der Pluralität und Diskontinuität histori-
scher Überlieferungszusammenhänge. Entscheidend ist dann nicht mehr die Frage
nach dem inneren Zusammenhang etwa des römischen Zivilrechts vom Zwölf-Tafel-
Gesetz über die römische Spätzeit bis in die jüngste Vergangenheit, sondern die Ana-
lyse der „Bedingungen der Möglichkeit unplanmäßiger Strukturänderungen“.77
Diversifikation und Komplexitätssteigerung sind als Effekt „zirkulär produzierte(r)
Verstärkung einer Abweichung vom vorherigen Zustand“ zu begreifen („deviation
amplification“).78 Strukturänderung, Abweichung vom vorherigen Zustand, kann
durchaus das Produkt sprunghafter Umbrüche sein, Resultat von Katastrophen (von
72 Vgl. W. Hoffmann-Riem, Neuere Rechtsprechung des BVerfG zur Versammlungsfreiheit, NVwZ 2002,
257ff.
73
Noch emphatischer E. Mayr, Das ist Evolution, 2003, 26 („der größte geistige Umbruch in der
Menschheitsgeschichte“) bezogen auf das Erscheinen von Darwins „On the Origin of Species“ im Jahr
1859.
74 Dazu allg. L. E. Kay, Das Buch des Lebens, 2005 (insbesondere zum genetischen Code).
75 Vgl. nur P. J. Richerson/R. Boyd, Not by Genes Alone, 2005, 193.
76
Vgl. nur M. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 2002, 114ff.; sehr früh
schon findet man Vermutungen in diese Richtung bei dem Paläontologen A. Leroi-Gourhan (La geste
et la parole); vgl. auch die Bemerkungen bei H. Nowotny, Unersättliche Neugier, 2005, 41f.
77 Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 240.
78
Luhmann, ebd., 121 Fn. 157. Der Begriff „deviation amplification“ stammt von M. Maruyama.

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§ 7. Evolution

gr. katastrophé, Wendung, Wendepunkt, plötzliche Umkehr). Solche Katastrophen


können sich – aus der Sicht des Rechts – als reiner Zufall darstellen. Jedenfalls ist
Rechtsevolution keine zielgerichtete, allmähliche, kontinuierliche und bruchlose Stei-
gerung von Komplexität und auch keine prozessartige, phasenhafte Entwicklung von
niederen zu höheren (perfekten) Rechtsformen. Evolution ist unprognostizierbar und
führt nie zu perfekten Zuständen, „denn Perfektion würde die Bedeutung von Ge-
schichte auslöschen und weitere Evolution ausschließen“.79
265 Mit der Verknüpfung von Evolutionstheorie und Systemtheorie wird das rechtshisto-
rische Forschungsinteresse – wie schon in Webers Entwicklungsgeschichte – an Fragen
der Gegenwart ausgerichtet und die Frage nach dem Anfang des Rechts relativiert bzw.
verabschiedet. Evolution kann nur die Strukturen bereits bestehender Systeme ändern,
das autopoietische System aber kann schon begrifflich nicht durch einen „initial kick“
verursacht sein. Es ist zirkulär konstituiert und setzt voraus, was es produziert. Damit
soll die Willkür des Anfangs eines jeden rekursiven Kommunikationsnetzwerks reflek-
tiert und jede Suche nach einem „Anfang der Anfänge“ (v. Foerster) als unproduktive
Fragestellung abgeschnitten werden. Die Gründung des Rechts wird – wie schon die
Lehre vom Naturzustand bei Hobbes80 – als ein im Rechtsdiskurs gefertigter Ur-
sprungsmythos, als eine gemeinsame Fiktion, behandelt,81 während sich der Schwer-
punkt der evolutionstheoretischen Analyse auf die Suche nach Anhaltspunkten verla-
gert, die erkennen lassen, an welchem Punkt rekursive Netzwerke beginnen, ihre
eigene Existenz – in der Form der Beobachtung zweiter Ordnung – zu reflektieren.
Die Erklärung evolutionärer Prozesse und Errungenschaften verschiebt sich damit
von einer am Kausalitätsbegriff orientierten Suche nach einer Verkettung von Ursa-
chen auf die Beobachtung struktureller Systeminnovationen. Damit erhalten einerseits
Merkmale wie Planlosigkeit, Zufallsanstöße, nachträgliches Erkennen von Errungen-
schaften, Ungewissheit usw. einen Platz in der (evolutionstheoretischen) Rechtstheo-
rie, andererseits wird aber keineswegs alles dem Zufall überlassen. Die neuere Evolu-
tionstheorie konzentriert sich insbesondere auf die Rekonstruktion von allgemeinen
Entwicklungsbedingungen, die für Systemevolution günstig sind. Diese Möglichkeits-
bedingungen werden von Luhmann – im Anschluss an einen Sprachgebrauch von Tal-
cott Parsons – als „preadaptive advances“ bezeichnet (dazu unten Rn. 274ff.).
266 Diese begrifflichen Ausgangsentscheidungen machen eine eigenständige Evolution des
Rechtssystems denkbar, ohne die Abhängigkeit des Rechtssystems von gesellschaft-
lichen und kulturellen Bedingungen relativieren oder gar ignorieren zu müssen. Im
Unterschied zur traditionellen Rechtsgeschichte, die oft auf unklaren theoretischen
Prämissen aufbaut, zwingt die Kombination von Evolutionstheorie und Systemtheorie
sogar dazu, das Verhältnis von Rechts- und Gesellschaftsentwicklung mit besonderer
Genauigkeit und Schärfe zu formulieren. Wenn man davon ausgeht, dass sich das

79
N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, 407 (im Zusammenhang mit der Evolution des politi-
schen Systems).
80 Vgl. etwa S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, 2004, 166; vgl. auch allg. V. Kahn, The Future of
Illusion, 2014.
81
Für den Fall Rom siehe Fögen (Fn. 34), 61ff., 78 („Anders als in Form der Erzählung kann der big bang
des Rechts gar nicht dargestellt werden. Und eben dafür, für den Urknall des Rechts, dienten den Rö-
mern die Zwölf Tafeln.“). Für Griechenland K. Robb, Literacy and Paideia in Ancient Greece, 1994,
125ff. (drakonische und solonische Gesetzgebung als Mythos althergebrachter Regeln); dazu allg.
N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 441.

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III. Evolutionstheorie

Rechtssystem seit dem 19. Jahrhundert als autonomes („eigengesetzliches“) System


ausdifferenziert hat bzw. mit Luhmann schon immer als autopoietisches System vo-
rausgesetzt werden muss, dann kann Rechtsevolution nicht lediglich als Variable der
Evolution von Nicht-Recht behandelt werden, etwa als „Reflex“ gesellschaftlicher, kul-
tureller oder politischer Evolution. Es geht in der Evolution immer um Differenz und
Anpassung im Verhältnis von System und Umwelt.82 Damit werden vor allem die An-
forderungen an die begriffliche Genauigkeit der Erklärung gesteigert, wie es trotz der
Autonomie des Rechtssystems zu plötzlichen Strukturänderungen im System kommen
kann. Wo und an welchen Stellen reagiert das Rechtssystem auf die Co-Evolution an-
derer Systeme und wo und an welchen Stellen ist es für allgemeine (nicht-systemspezi-
fische) evolutionäre Entwicklungen z. B. der Kultur, der Sprache, der Medien, des ge-
meinsamen Wissens etc. durchlässig?
Evolutionstheoretische Modelle werden inzwischen auch in der Rechtsgeschichte selbst diskutiert. Schon 267
Franz Wieacker hatte in der 2. Auflage seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit angeregt, die Vorstellung der
Kontinuität der Geschichte nach dem Vererbungsmodell der modernen Biologie, nämlich wie die Repro-
duktion genetischer Informationen zu fassen.83 In jüngerer Zeit hat namentlich Marie Theres Fögen vor-
geschlagen, die Rechtsgeschichte als Geschichte der Evolution des Rechtssystems neu zu schreiben und da-
bei vor allem das (darwinsche) Muster von Variation, Selektion und Restabilisierung zu nutzen.84 Diese
Überlegungen erscheinen auch deshalb vielversprechend, weil die Verbindung von Evolutionstheorie und
Systemtheorie helfen kann, das in Turbulenzen geratene Unternehmen Rechtsgeschichte zu restrukturie-
ren, zumal der Relevanzverlust historischer Einsichten für die an tagesaktuellen Fragen orientierte Rechts-
dogmatik irreversibel sein dürfte; auf dieser Ebene ist eine Wiederverknüpfung von juristischen und histo-
rischen Erkenntnisinteressen kaum vorstellbar. Evolutionstheorie kann und soll natürlich nicht die
quellenorientierte Arbeit der Historiker ersetzen. Es geht allein darum, Rechtsgeschichte für theoretisch
abgesicherte Forschungsinteressen des eigenen Fachs anschlussfähig zu halten, sie also nicht ausschließlich
den Historikern zu überlassen.85

2. Zur Autonomie des Rechts


Die jüngere evolutionstheoretische Diskussion wirft eine alte Frage in einem veränder- 268
ten begrifflichen Kontext neu auf: die Frage nach dem Verhältnis von begrifflich-kon-
struktiven und historisch-genetischen Komponenten der Rechtstheorie. Es erscheint
zwar für die Rechtstheorie einerseits unumgänglich zu sein, auch für solche Kulturen
den Rechtsbegriff zu benutzen, die – wie etwa die antike griechische Rechtskultur –
eine von anderen Normen scharf abgegrenzte Rechtssphäre noch gar nicht kannten.
Andererseits kann die Frage, zu welchen Zeitpunkten und an welchen Orten der Ent-
stehungsprozess einer spezifisch juristischen Semantik einsetzte und diese sich auch in-
stitutionell in einer Loslösung des Rechts von anderen gesellschaftlichen Regelbestän-
den und Konventionen niederzuschlagen begann, von der Evolutionstheorie nicht
ausgespart werden. Auch wenn man die Frage nach dem Anfang abschneidet und den
Mythos einer ersten Differenz, einer ersten Spur, zu vermeiden sucht, stellt sich zumin-
dest im „universalhistorischen“ Kulturvergleich die Frage, wieso es nur auf einem be-
stimmten Pfad der Rechtsentwicklung – und offensichtlich unter starkem Einfluss des

82
Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 240.
83
Wieacker (Fn. 5), 43f.
84 Fögen (Fn. 2), 14ff.; dies. (Fn. 34), 15ff.
85 Zu dieser Alternative kritisch etwa S. Lepsius, „Rechtsgeschichte und allgemeine Geschichtswissen-
schaft“, ZNR 27 (2005), 304ff.; vgl. auch Ogorek (Fn. 9), 31; und Wyduckel (Fn. 19), 109ff.

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§ 7. Evolution

römischen Zivilrechts – zur Ausdifferenzierung eines hochformalisierten positiven (ge-


schriebenen) Rechts gekommen ist, während alle anderen Kulturen nicht über divina-
torische, religiöse oder rhetorische Rechtsstrukturen hinausgekommen sind. Man
denke nur an die islamische Rechtskultur, die, obwohl sie seit alters eine hochent-
wickelte Rechtsgelehrsamkeit kennt (fiqh), das Recht bis heute nicht von der Religion
hat lösen können.86
269 Auf die Frage, wann und wo der Prozess der Ausdifferenzierung des positiven Rechts his-
torisch eingesetzt hat, findet man in der Systemtheorie sehr unterschiedliche Antworten.
Es gibt Äußerungen, die nahe legen, dass bereits einige Stadtkulturen des antiken Mittel-
meerraums über ein autonomes (autopoietisches) Recht verfügten.87 Damit meint Luh-
mann in erster Linie das römische Zivilrecht, während das Athenische Stadtrecht oder
das Recht der vorderasiatischen Hochkulturen (Mesopotamien) als eng mit nicht-juristi-
schen Diskursen verwoben qualifiziert werden. Auch für Marie-Theres Fögen verkörpert
schon das römische Zivilrecht den Fall eines ausdifferenzierten verselbstständigten Sys-
tems, „das seine eigene Sprache begründete, pflegte und ausbaute, bis sie nur noch für
ihre Schöpfer verständlich war“.88 Daneben findet man bei Luhmann jedoch zugleich
Aussagen, die sich in Richtung der These Harold Bermans deuten lassen, derzufolge erst
die „Wiederentdeckung“ der Digesten und das daran anknüpfende kanonische Recht des
Mittelalters die Autopoiesis des europäischen Rechts möglich gemacht haben.89 Anderen
Äußerungen Luhmanns zufolge soll der eigentliche take-off des Rechtssystems gar erst
um 1800 stattgefunden haben und in einem engen Zusammenhang mit der Ausdifferen-
zierung des Wirtschaftssystems stehen.90 Auch im Kontext des Gewaltproblems betont
Luhmann diese funktionalen Interdependenzen: Ohne die Monopolisierung von Gewalt
im neuzeitlichen Staat sei ein autonomes Rechtssystem nicht vorstellbar.91 Ähnlich
argumentieren auch die am (modernen) Wirtschaftsrecht orientierten Arbeiten von
Gunther Teubner und Marc Amstutz: Der Begriff des autonomen Rechtssystems setzt
bei beiden Autoren funktionale Gesellschaftsdifferenzierung voraus.92
270 Auch wenn man davon ausgeht, dass sich Rechtsevolution wiederholen kann, die
Emergenz des autonomen (autopoietischen) Rechts also nicht auf einen einzigen
initial kick zurückgeführt werden muss, herrscht an dieser Stelle doch große Unsicher-
heit. Diese Unklarheiten hängen ersichtlich mit der in der Systemtheorie nur unzu-
reichend durchgearbeiteten Abstimmung der älteren Theorie funktionaler Diffe-
renzierung und den neueren Überlegungen zur Autopoiesis und Evolution von
Kommunikationssystemen zusammen. Luhmanns Systemtheorie ist zunächst auf der

86
Vgl. nur A. P. Dáhlen, Islamic Law, Epistemology and Modernity, 2003, 39ff., 46 („law always is con-
nected to commandment and embodies the will of God“), und die weitgehend noch immer gültigen
Bemerkungen bei Weber (Fn. 26), 474f.
87 Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 71.
88
Fögen (Fn. 34), 209, vgl. auch 196, 212; ähnlich sieht es A. Schiavone, The Invention of Law in the
West, 2012.
89
H. J. Berman, Recht und Revolution (1983), 1991, 81, 808; Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesell-
schaft), 62; vgl. auch ders. (Fn. 79), 388 Fn. 346.
90 Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 446ff.
91
Luhmann, ebd., 122, 281f.
92
Teubner (Fn. 70), 73, 78ff.; Amstutz (Fn. 20), 73ff.; ders., Rechtsgeschichte als Evolutionstheorie, RG 1
(2002), 26ff., 27 (mit der zutreffenden Bemerkung, dass Recht als ausdifferenziertes Funktionssystem
der Gesellschaft eine entsprechende Gesellschaftsformation, d. h. soziale Differenzierung, voraussetze,
die in antiken und vormodernen Kulturen nicht vorhanden war).

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III. Evolutionstheorie

von Parsons übernommenen Folie einer Theorie funktionaler Differenzierung ent-


standen, die ihrerseits auf der Soziologie der sozialen Differenzierung der Jahrhundert-
wende aufruht (Émile Durkheim, Georg Simmel, Max Weber etc.). In diesem Kon-
text war sie von vornherein auf die moderne Gesellschaft zugeschnitten. Dies zeigt
etwa die relativ früh publizierte Rechtssoziologie (1. Aufl. 1972): Die Entwicklung des
Rechtssystems folgt der Entwicklung des Gesellschaftssystems, und dieses wird in sei-
ner Komplexität vor allem durch segmentäre, ständische oder funktionale Differenzie-
rungsstrukturen bestimmt.93 Mit der autopoietischen Wende und der stärkeren Kon-
zentration der Systemtheorie auf den Kommunikationsbegriff – zum ersten Mal
ausführlich in Soziale Systeme (1984) präsentiert – ist ein zweiter Theoriestrang ent-
standen, der sich mit der funktionalen Differenzierungstheorie nicht so ohne weiteres
in Einklang bringen lässt. Das zeigt gerade die Evolution des Rechts. Wenn man pri-
mär auf kommunikative Autopoiesis, binäre Codierung und Beobachtung zweiter
Ordnung abstellt, kann man das römische Zivilrecht durchaus als autonomes Recht
qualifizieren. Gleichwohl wird man von einer Ausdifferenzierung des römischen
Rechts im Sinne einer universal zuständigen Funktionsspezifikation nicht ausgehen
können. Dagegen spricht schon, dass der gesamte öffentliche Raum in Rom nicht
durch (Zivil-)Recht, sondern durch Tradition und mos maiorum, durch Respekt vor
den althergebrachten Konventionen des Adels, den Sitten der Vorväter, bestimmt
wurde. Eine strikte Trennung von Recht und gesellschaftlichen Konventionen war
auf dieser Grundlage unmöglich.94
Es stellt sich daher die Frage, ob die Systemreferenz der Rechtsevolution, das Rechtssys- 271
tem, als invariante Struktur begrifflich vorgegeben werden muss oder ob der Systembe-
griff selbst zu historisieren wäre. Luhmanns Lösungsvorschlag für dieses intrikate Pro-
blem läuft darauf hinaus, den Systembegriff im Begriff der Autopoiesis mit einer
zeitpunktbezogenen Zeit, mit punktualisierter Gegenwärtigkeit, zu verknüpfen und diese
Zeitstruktur als historische „Invariante“ zu setzen.95 Obwohl diese Zeitvorstellung, die
punktualisierte Gegenwärtigkeit, die abstrakte und homogene Zeit der Moderne voraus-
setzt (wenn nicht sogar eine typisch postmoderne Vorstellung), siedelt Luhmann histori-
sche Veränderungen des Systems allein auf der Ebene seiner Selbstbeschreibung an: Ob
das Rechtssystem fallorientiert wie in Rom auf der Grundlage schriftlicher responsa arbei-
tet oder sich – wie im späten 19. Jahrhundert – an systematischen Gesetzbüchern mit
Selbstverpflichtung zur „Anwendung“ orientiert, immer prozessiert das Rechtssystem in
der operativen Wirklichkeit autopoietisch von Fall zu Fall. Etwas anders formuliert: Ist
die Autopoiesis des Systems einmal in Gang gekommen, arbeitet das Rechtssystem im
Rahmen einer als irreversibel gedachten Weltzeit notwendigerweise zeitpunktabhängig
und sequentiell, d. h. ohne die Stütze verwandlungsfreier Dauer oder Ewigkeit. Fögen
hat den Gedanken eines historisch invarianten Systembegriffs dahingehend zugespitzt,
dass die Evolutionstheorie eine Einheit „Recht“ voraussetzen müsse, die nicht von „histo-
risch höchst wechselhaften und kontingenten Begleiterscheinungen abhängt“.96

93 Vgl. N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, 132ff., und die Diskussion bei Teubner (Fn. 70), 70 („Das
Recht wird an verschiedene Entwicklungsstadien gesellschaftlicher Differenzierung angepasst.“).
94
Zur Dominanz des mos maiorum vgl. nur K.-J. Hölkeskamp, Rekonstruktion einer Republik, 2004,
24f., 33f.; Wieacker (Fn. 36), 353; vgl. auch J. Kirov, Die soziale Logik des Rechts, 2005, insb. 59ff.
95 Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 45 („Autopoiesis wird mithin als ‚Invariante‘ eingeführt.
Sie ist bei allen Arten von Leben, bei allen Arten von Kommunikationen stets dieselbe.“).
96
Fögen (Fn. 2), 14ff., 15.

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§ 7. Evolution

272 Der Vorschlag eines historisch invarianten Systembegriffs hat zwar den Vorteil, die Re-
ferenz der Evolution, die beschrieben werden soll, exakt angeben zu können. Der Vor-
schlag bezahlt dafür jedoch den hohen Preis, am Ende nicht mehr zwischen sozialem
System und Funktionssystem unterscheiden zu können. Die Ausdifferenzierung einer
spezifisch juristischen Expertise aus dem Universum gesamtgesellschaftlicher Kommu-
nikation ermöglicht es sicherlich, im Fall des römischen Zivilrechts von einem autono-
men System zu sprechen, das auch institutionelle Konsequenzen wie Bedingungen
hatte. In diesem Sinn könnte man das römische Zivilrecht als erstes autonomes
Rechtssystem bezeichnen. Damit wird aus dem römischen Zivilrecht aber noch kein
gesellschaftlich ausdifferenziertes Funktionssystem. Dazu fehlte in Rom eben die dafür
notwendige funktional differenzierte Umwelt.97 Es müsste also in Zukunft zumindest
deutlich zwischen der Autonomie von Funktionssystemen und der Autonomie sozialer
Systeme unterschieden werden. Außerdem müsste geklärt und entschieden werden,
ob von Autopoiesis bei jedem operativ geschlossenen Kommunikationszusammen-
hang oder erst im Fall eines autonomen (modernen) Funktionssystems die Rede sein
soll. Entscheidet man sich für die zuletzt genannte Alternative, könnten in der römi-
schen Rechtskultur allenfalls Anlagen von Rechtsautonomie gesehen werden, nicht
aber schon autopoietische Autonomie selbst. Diese Vorstellung ist freilich mit Luh-
manns Autopoiesis-Konzept unvereinbar. Evolution setzt Autopoiesis voraus, kann
aber nicht selbst Gegenstand von Evolution sein. Evolution ist immer Evolution auto-
poietischer Systeme. So gesehen ist Autopoiesis der transzendentale Rest der System-
theorie.
273 Das Problem des Verhältnisses von begrifflich-konstruktiven und historisch geneti-
schen Komponenten der Rechtstheorie kann hier nicht abschließend behandelt wer-
den. Es soll aber erneut dafür plädiert werden, den Systembegriff nicht wie eine uni-
versalhistorische oder transzendentale Form zu handhaben. Ein solcher Ansatz würde
letztlich die Geschichtlichkeit des neueren systemtheoretischen Denkens selbst ver-
leugnen. Geschichte wäre dann nichts weiter als das Medium der Entfaltung einer
theoretisch gewonnenen Form. Dagegen wäre eine Position in Anschlag zu bringen,
die den Einsatz ihres Denkens und die Evolution von Formen selbst reflektiert: Das
dynamisch und rekursiv operierende System ist nur innerhalb bestimmter historischer
Gegebenheiten denkbar und kann nur hier seine volle Gültigkeit entfalten. Recht tritt
nicht sofort in Form eines autopoietischen Systems in Erscheinung; zumindest ist die
funktionale Autonomie des Rechtssystems ein relativ spätes Produkt der Rechtsevolu-
tion, das unauflöslich mit der Evolution der modernen (liberalen) – in Luhmanns Be-
grifflichkeit: funktional differenzierten – Gesellschaft verknüpft ist. Und weil funktio-
nale Differenzierung selbst eine Erscheinungsform von Gesellschaftlichkeit in der
Geschichte ist, kann ihre Kontinuität für die Zukunft keineswegs als gesichert unter-
stellt werden. Es sind durchaus neue Formen gesellschaftlicher Interdependenzen
denkbar, auch neuartige Mechanismen der Überlappung zwischen Systemen, eine Lo-
gik der Vernetzung und daraus hervorgehende Hybridbildungen und „Zwischenwel-
ten“ in einer neuartigen Computerkultur, die sich möglicherweise im differenztheore-
tischen Strang der Luhmannschen Systemtheorie nicht adäquat abbilden lassen.
Überhaupt bezieht sich die gesamte Anlage der systemtheoretischen Evolutionstheorie
möglicherweise zu sehr auf die Evolution des expliziten Rechts, während die Evolution
97 Das sieht Fögen (Fn. 34), 212 („Das römische Recht ... war selbst als System eine einsame, hochgezüch-
tete Pflanze inmitten einer systemisch schwach kultivierten Umwelt.“) nicht anders.

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IV. Medien als pre-adaptive advances

der instituierten Praktiken, der sozialen Konventionen, der Bräuche, Sitten und Ge-
wohnheiten, das private ordering, vernachlässigt werden.

IV. Medien als pre-adaptive advances

1. Zur Verknüpfung von Evolutionstheorie und Medientheorie


Die neuere evolutionstheoretische Forschung interessiert sich für die Eigendynamik 274
rechtsinterner Strukturänderungen und fragt, wie mit Hilfe des Dreierschemas von
Variation, Selektion und Restabilisierung Evolution im Recht realisiert wird. Darin
trifft sie sich mit Webers Entwicklungsgeschichte, soweit diese den innerjuristischen
Bedingungen der europäischen Rechtsentwicklung nachgegangen war. Ähnlich wie
bei Weber geht es allerdings auch in der neueren evolutionstheoretischen Forschung
nicht darum, das Interesse an der Eigendynamik der Rechtsentwicklung zu verabsolu-
tieren, sondern um die Klärung der Frage, auf welche Weise Rechtsevolution von ge-
samtgesellschaftlicher Evolution abhängig ist bzw. wie Rechtsentwicklung und außer-
juristische Faktoren ineinandergreifen. Zwei Begriffe haben in diesem Kontext
Karriere gemacht. Soweit es um die wechselseitige evolutionäre Abhängigkeit autopoi-
etischer Systeme geht, etwa von Wirtschaftssystem und Rechtssystem, spricht man
von „Co-Evolution“.98 Soweit es um gesamtgesellschaftliche Möglichkeitsbedingun-
gen für unplanmäßige Strukturänderungen im Recht geht, hat sich der Begriff der
pre-adaptive advances (Vorentwicklungen) durchgesetzt.99
Pre-adaptive advances stehen in der neueren Evolutionstheorie für Möglichkeitsbedin- 275
gungen oder günstige Umstände im Hinblick auf Variationen und Strukturänderun-
gen von sozialen Strukturen oder autonomen Systemen. Als besonders günstig für
Evolution können sich nachträglich verschiedenste Erfindungen oder Katastrophen
erweisen, beispielsweise die Erfindung der Stadt oder des Geldes für das Aufkommen
der Demokratie. Haben sich solche Erfindungen als Problemlöser konsolidiert, spricht
man – wiederum im Anschluss an Luhmann – von „evolutionären Errungenschaf-
ten“.100 Das theoretische Konzept der pre-adaptive advances dient vor allem dazu, den
evolutionären Umbau von sozialen Strukturen oder autonomen Systemen mit allge-
mein gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen in Verbindung bringen zu können,
deren Bedeutung erst ex post, mit erheblicher Zeitverzögerung, erkennbar wird. Damit
kann die Theorie dem Zufall einen Platz in der Evolution einräumen, d. h. gegen die
Vorstellungen teleologischer oder kausaler Geschichtskonstruktionen opponieren,101
ohne auf die Markierung von Possibilitäten verzichten zu müssen. Leidenschaftliche
(auf Sexualität basierende) Liebe wurde über Jahrhunderte in außerehelichen Bezie-
hungen gepflegt, aber erst mit der Freigabe der Partnerwahl stieg sie zum tragenden
Bestandteil der bürgerlichen Ehe auf. Auch wenn es gänzlich unwahrscheinlich ist,

98
Teubner (Fn. 70), 68, 78ff. („Ko-Evolution“); Luhmann (Fn. 79), 562 („Co-evolution“); Fögen (Fn. 2),
18 („Co-evolution“).
99 Fögen, ebd., 18f.; Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 243; vgl. allg. auch ders. (Fn. 79), 512f.
100
Vgl. allg. Luhmann (Fn. 79), 505ff., 506 (evolutionäre Errungenschaften = konsolidierte Gewinne, die
besser als andere mit komplexen Verhältnissen kompatibel sind); Fögen (Fn. 2), 18.
101 Luhmann (Fn. 79), 509 (mit der Bemerkung, dass es zielorientiertes Suchen nach Problemlösungen
gibt, dass aber gerade weitreichende evolutionäre Errungenschaften zumeist nicht auf diese Weise zu-
stande kommen).

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§ 7. Evolution

dass auf Sexualität basierende Liebe erfunden wurde, um die bürgerliche Ehe hervor-
zubringen, kann die Evolutionstheorie doch argumentieren, dass erst die bürgerliche
Ehe die evolutionäre Bedeutung leidenschaftlicher Liebe augenfällig gemacht hat.102
276 Der Ausdruck „pre-adaptive advances“ geht unmittelbar auf den amerikanischen Soziologen Talcott Par-
sons zurück. Ein vergleichbares Konzept von Entwicklungsbedingungen lässt sich allerdings schon in We-
bers komparativer Kulturgeschichte des Rechts nachweisen. So sieht Weber beispielsweise in der dialekti-
schen Methode der platonischen Philosophie eine Entwicklungsvoraussetzung dafür, dass sich die
eigentümliche Sonderform der Rechtslehre der Priesterschulen einer rational systematischen Jurisprudenz
annähern, aber letztlich nicht zu einer solchen fortbilden kann: der Fall etwa des jüdischen heiligen Rechts,
der rabbinischen Kommentarliteratur zur Tora (den fünf Büchern Moses), wie sie zunächst in der Mischna
und später in der Gemara kompiliert worden waren.103 Auch die Fortschrittstheorien des 19. Jahrhunderts
kannten pre-adaptive advances. Vor allem Hegel interessierte sich für time lags in der Weltgeschichte, in der
Rechtsphilosophie von 1821 etwa im Kontext der Beziehung von Freiheit und Eigentum. Die Freiheit des
Menschen war für Hegel eine Errungenschaft des Christentums, aber erst in der (abstrakten) Freiheit des
bürgerlichen Eigentums kam diese Errungenschaft zu ihrem Dasein. „Es ist wohl an die anderthalbtausend
Jahre, dass die Freiheit der Person durch das Christentum zu erblühen angefangen hat [...] Die Freiheit des
Eigentums aber ist seit gestern, kann man sagen, hier und da als Prinzip anerkannt worden. – Ein Beispiel
aus der Weltgeschichte über die Länge der Zeit, die der Geist braucht, in seinem Selbstbewußtsein fortzu-
schreiten ...“.104

277 All diese Konzepte – Co-Evolution, pre-adaptive advances und evolutionäre Errungen-
schaften – sind für eine Verknüpfung von Evolutionstheorie und Medientheorie von
großer Bedeutung. Sie ermöglichen, der Bedeutung der Kultur und der Medien für
die Rechtsevolution eine genauere begriffliche Fassung zu geben. Das gilt insbesondere
für das Konzept der pre-adaptive advances. Dieses Konzept lässt sich gleichermaßen
produktiv für moderne und vormoderne Bedingungen nutzen, im Unterschied zum
Konzept der Co-Evolution, das mir stärker auf die gesellschaftlichen Bedingungen
der funktionalen Differenzierung zugeschnitten zu sein scheint,105 dessen Übertra-
gung auf prämoderne Bedingungen jedenfalls eine Reihe begrifflicher Unklarheiten
aufwirft, die mit dem Problem der autopoietischen Autonomie zusammenhängen
(vgl. oben Rn. 268ff.). Die Ausgangsannahme eines solchen Forschungsansatzes hieße
dann: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Emergenz von (Verbreitungs-)Me-
dien wie Lautsprache, Schrift, Buchdruck und elektronischen Medien einerseits und
der Geschichte und Evolution des Rechts andererseits.106 Auch im Verhältnis von Me-
dienevolution und Rechtsevolution ginge es um den Nachweis eines Bedingungszu-
sammenhangs im Sinne von Möglichkeiten oder Possibilitäten, nicht aber um die Un-
terstellung eines notwendigen oder gar hinreichenden Bedingungszusammenhangs,
um Medien als „letzte Ursache“ der Rechtsgeschichte. Aber warum sollte die Evolution
des Rechts von einem Medium wie Schrift – in dem hier explizierten Sinn – „abhän-
gig“ sein?

102
Zu dieser Entwicklung näher N. Luhmann, Liebe als Passion, 1982, 139ff.
103
Weber (Fn. 26), 459, 478f. Beide Kompilationen, zwischen 200 und 600 n. Chr. entstanden, bilden
die Grundlage für den Talmud, der bis heute zentralen Schrift des Judentums.
104 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1970, § 62; J. Ritter, Metaphysik und
Politik, 1969, 266 Fn. 9, 267.
105
So zumindest explizit bei Teubner (Fn. 70), 68 („Ko-Evolution“ wird dort als „Herausbildung autono-
mer Evolutionsmechanismen in geschlossenen Systemen und deren wechselseitige strukturelle Kopp-
lung“ definiert).
106 Verbreitungsmedien im Unterschied zu Erfolgsmedien wie Macht, Geld, Wahrheit etc. Zu dieser Un-
terscheidung Luhmann (Fn. 79), 202ff.; vgl. auch Baecker (Fn. 71), 175ff.

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IV. Medien als pre-adaptive advances

Bezieht man die Frage zunächst auf Formen des expliziten positiven Rechts, kann man 278
plausibel behaupten, dass rechtliches Wissen, juristische Expertise, nur mit Hilfe von
Medien ausdifferenziert werden kann. Nur durch Schrift, Buchdruck oder andere Me-
dien kann spezialisiertes Rechtswissen, wie etwa zivilrechtliches, mit Referenz auf
Recht erarbeitet, erinnert und mitgeteilt werden. Medien haben deshalb für die
Rechtsordnung eine Doppelfunktion: Sie fungieren gleichzeitig als Mittel und Spei-
cher von Rechtskommunikation.107 Ein Medium wie Schrift kann zur Rechtskommu-
nikation eingesetzt werden, man denke nur an gesetzliche Schriftformerfordernisse wie
etwa beim öffentlich-rechtlichen Vertrag (§ 57 VwVfG). Schrift kann aber auch, etwa
in Kommentaren, zur Archivierung juristischer Wissensbestände genutzt werden.108
Dies legt die Vermutung nahe, dass Medien das Gedächtnis des Rechts strukturieren
und damit sowohl die Bedingungen der wiederholten Verwendbarkeit rechtlichen
Wissens konditionieren als auch den Grad der Neigung, von Traditionen und Gepflo-
genheiten abzuweichen und damit Innovation zu ermöglichen.109 Das gilt insbeson-
dere auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, und zwar sowohl für die
Rechtspraxis als auch für die Rechtstheorie. Für die Rechtspraxis sei hier nur auf die
Entwicklung des gerichtlichen Urteils in Europa seit dem 18. und 19. Jahrhundert
hingewiesen: Die schriftliche Urteilsbegründung führte zu einer Verfeinerung der ju-
ristischen Argumentation, die ihrerseits – jedenfalls bis vor kurzem – von der Möglich-
keit des Abspeicherns entscheidungsrelevanter Gedankengänge in Druckstücken (Ent-
scheidungssammlungen) abhängig war. Eine enge Verbindung von Rechtsevolution
und Medienevolution lässt sich auch für die meisten Typen juristischer Expertise
nachweisen. Anspruchsvolle Selbstbeschreibungen der Rechtspraxis, Unternehmen
wie Rechtsdogmatik und Rechtstheorie können – wie das Wort Selbstbeschreibung ja
bereits sagt – sich nur auf der Grundlage von Schriftgebrauch und Buchdruck entwi-
ckeln; denn was nicht gedruckt werden kann, hatte jedenfalls vor der Erfindung und
Ingebrauchnahme von Computern und Computernetzwerken keine Chance, „auf die
Selbstbeschreibung des Systems einzuwirken“.110 Rechtswissenschaft und Rechtstheo-
rie basieren auf geschriebenen Texten, auf der Absonderung einer Schriftsprache über
Recht; und ohne die Anlage eines reichen schriftbasierten Vorrats an Wissen und The-
men wäre das europäische Recht niemals in der Lage gewesen, seine interne Komple-
xität so außerordentlich zu steigern, wie es dies seit dem 16. Jahrhundert (Humanis-
mus) getan hat. Die europäische Rechtswissenschaft hätte sich ohne Buchdruck und
Bibliotheken vielleicht gar nicht, jedenfalls aber anders entwickelt.

107
Mit A. Hahn, Ist Kultur ein Medium?, 2004, 49, muss man die Reihenfolge möglicherweise sogar um-
drehen und gegen den (leicht a-historischen) Begriff des „Kommunikationsmediums“ darauf hinwei-
sen, dass Schrift zunächst als Speichermedium genutzt wurde, bevor sie zum Medium der kommuni-
kativen Wiederverwendung aufstieg. Vgl. auch Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 247
(„Lange bevor Schrift zur Kommunikation benutzt wird, dient sie zur Aufzeichnung von erinnerungs-
werten Informationen ...“); vgl. auch J. Kersten, Digitale Rechtsdogmatik, 2015, 481ff.
108 Medien können natürlich auch zu beidem gleichzeitig gebraucht werden, zur Kommunikation und
zur Wissensspeicherung, wie etwa das eigenhändig geschriebene und unterschriebene Testament zeigt
(§ 2247 BGB).
109
Fögen (Fn. 2), 18 („Der Radius möglicher Selektionen ist vermutlich durch das ‚Gedächtnis‘ des Sys-
tems gesteckt, welches ständig zwischen Vergessen und Erinnern unterscheidet und damit mögliche
Anschlüsse limitiert.“).
110
Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 500f.

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§ 7. Evolution

279 Mit „Gedächtnis“ ist hier nicht die Gedächtniskunst (gr. mnemosyne, lat. ars memoriae) bestimmter Perso-
nen oder Autoren gemeint. Der hier benutzte Gedächtnisbegriff bezieht sich auf Informationen und Wis-
sen, das sich in kommunikativen Beziehungsnetzwerken ablagert und vom Gedächtnis der Individuen
deutlich unterschieden werden muss. Darin schließen wir an Konzepte wie Erinnerungskultur bzw. an
den Begriff des kommunikativen bzw. sozialen Gedächtnisses an, wie sie die neuere Forschung entwickelt
hat. Unter „Erinnerungskultur“ versteht Jan Assmann das Wissen, das eine Gesellschaft nicht vergessen
darf, ohne ihre Identität zu verlieren.111 „Kulturelles Gedächtnis“ ist nach Assmann die institutionalisierte,
kommemorierte Erinnerung an symbolische Figuren des Anfangs einer Gemeinschaft, im Unterschied zur
gelebten, kommunizierten Erinnerung etwa an Eltern und Großeltern; letztere nennt Jan Assmann „kom-
munikatives Gedächtnis“.112
Im Unterschied zu Jan und Aleida Assmann, die sich als Kulturwissenschaftler in erster Linie für die unbe-
wohnten Archivbestände, die Bereiche des Abgelegenen, Ausgelagerten und Vergessenen, für die „Gräber
des Sinns“ interessieren,113 betont Niklas Luhmann möglicherweise stärker die Jetztzeitlichkeit aller sozia-
len Gedächtnisoperationen, d. h. die Konstruktion der Vergangenheit auf dem Boden der jeweiligen Ge-
genwart.114 Damit wird die für die moderne Gesellschaft wichtige Funktion des Neuen (neue Ideen, neue
Technologien, neue Werke in Kunst, Film und Musik etc.), also die Organisation des Vergessens, in der
Systemtheorie vielleicht stärker als in der Kulturtheorie von Jan und Aleida Assmann akzentuiert; das „so-
ziale Gedächtnis“ Luhmanns wird jedenfalls über die Doppelfunktion von Erinnern und Vergessen be-
stimmt.115 Trotz dieser Unterschiede sind sich Systemtheorie und Kulturtheorie aber darin einig, dass der
Gedächtnisbegriff die kommunikativen Eigenleistungen von sozialen Beziehungs- und Kommunikations-
netzwerken einfangen soll; und diese Form darf weder individualpsychologisch auf Erinnerungskunst noch
auf gleiche Bewusstseinszustände von Individuen („kollektives Gedächtnis“) reduziert werden.116 In die-
sem Sinn besitzt auch das Rechtssystem ein Gedächtnis, die Fähigkeit, durch Schrift, Buchdruck oder
Computertechnologie spezifisch juristische Wissensbestände erinnern und vergessen zu können.

280 Durch die Verknüpfung von Evolutionstheorie, Kulturtheorie und Medientheorie


lässt sich der Zusammenhang von Rechts- und Gesellschaftsevolution besser erklä-
ren. Über Kultur und Medien sind Rechtsevolution und Gesellschaftsevolution un-
auflöslich miteinander verbunden, schon weil die Gesellschaft immer dieselben Me-
dien und die mit ihnen verbundenen Wissensformen benutzt wie das Rechtssystem.
Eine solche evolutionäre Interdependenz, eine „Co-Evolution“, lässt sich gerade für
das westliche Recht, für Webers Formalrecht, nachweisen: Errungenschaften wie
philosophisches (epistemisches) Wissen haben im römischen Zivilrecht eine erste
große Abweichungsverstärkung ermöglicht, an die die mittelalterliche und neuzeit-
liche Rechtswissenschaft anknüpfen konnte – um unter dem Eindruck von Natur-
philosophie und Rationalismus eine neue Abweichungsverstärkung zu produzieren.
Beide Sprünge der Ideenevolution, platonische Dialektik wie Naturphilosophie,
hängen ihrerseits eng mit bestimmten medienevolutionären Einschnitten zusam-
men, eben mit der Erfindung der Alphabetschrift und des Buchdrucks, die jeweils
auch für die Rechtsentwicklung folgenreich waren. Abstrakter gefasst: Die Erfin-
dung und Ingebrauchnahme solcher Medien wie Schrift und Buchdruck stellen den
Zusammenhang zwischen sozialer Evolution, kultureller Evolution und Rechtsevo-
lution her. Rechtsevolution ist gerade über Sprache und Medien mit gesellschaft-
111
J. Assmann (Fn. 6), 30 (oder positiv: das „Gedächtnis, das eine Gemeinschaft“ stiftet).
112
Assmann, ebd., 46, 52 (kulturelles Gedächtnis), 50 (kommunikatives Gedächtnis) und 56 (Skalenmo-
dell).
113 Für das von A. Assmann so genannte „Speichergedächtnis“ vgl. nur A. Assmann, Erinnerungsräume,
1999, 96 (Speichergedächtnis = „Grab des Sinns“).
114
In Anlehnung an A. Assmann (Fn. 113), 17; vgl. dazu nur Luhmann (Fn. 79), 578f.
115 Luhmann, ebd., 579; vgl. auch E. Esposito, Soziales Vergessen, 2002, 24ff., 27f.
116 Vgl. nur Luhmann (Fn. 79), 583 („Das soziale Gedächtnis ist keineswegs das, was Kommunikationen
als Spuren in individuellen Bewußtseinssystemen hinterlassen.“).

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IV. Medien als pre-adaptive advances

licher Evolution verknüpft.117 Damit gewinnt der Medienbegriff einen Bedeutungs-


zuwachs für die Rechtstheorie, der in der bisherigen Forschung nicht wirklich ausge-
schöpft worden ist.
Die Frage nach der entwicklungsgeschichtlichen und evolutionären Bedeutung der Medien ist bislang eher 281
selten und wenn, dann meistens außerhalb der Rechtswissenschaft oder Rechtstheorie gestellt worden. Die
Fragestellung selbst kann auf Autoren wie Marshall McLuhan, Harold Innis, Jack Goody, Ian Watt, Walter
J. Ong und Eric A. Havelock zurückgeführt werden. Havelock hat in seinem Preface to Plato (1963) die
Evolution des griechischen Denkens von Homer bis Platon vor dem Hintergrund des Auftretens der Al-
phabetschrift analysiert und dabei u. a. die Substantivierung von Verben und Adjektiven als Konsequenz
des Übergangs zur Schriftkultur interpretiert. The Greek Concept of Justice (1978) dehnt diesen For-
schungsansatz auf den Bereich von Politik und Recht aus und rekonstruiert den Auftritt des Substantivs
„Gerechtigkeit“ (dikaiosyne) in der platonischen Philosophie. Diese bislang wenig beachtete Entdeckung
Havelocks ist von umso größerer Tragweite, als David Daube in seinem Roman Law (1969) für den Fall
des römischen Rechts eine ähnliche Tendenz der Bildung von Substantiven aus Verben nachgewiesen
hat.118 An die Forschungen von Havelock und Ong knüpfen außerdem viele Bemerkungen Luhmanns
im Recht der Gesellschaft an, ein Buch, das besonders die evolutionäre Bedeutung der Schrift für das Recht
hervorhebt. Weitere medientheoretische Untersuchungen sind im Kontext der Schrifttheorie Derridas ent-
standen, etwa die Arbeiten von Peter Goodrich. Andere, wie die Arbeiten von Cornelia Vismann, sind
stark von der literaturwissenschaftlichen Medientheorie Friedrich Kittlers beeinflusst worden.119 Evolu-
tionstheoretische Fragestellungen, insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen von Bildmedien und
Hypertext für die zukünftige Rechtsentwicklung, finden sich schließlich in Arbeiten von Ino Augsberg, Ri-
chard Sherwin, Klaus Röhl, Ralf Christensen, Kent Lerch, M. Ethan Katsh, Volker Boehme-Neßler, Ro-
nald Collins, David Skover und Fabian Steinhauer,120 um nur einige Autoren und Namen zu nennen.
In der älteren rechtswissenschaftlichen und rechtshistorischen Forschung wird die evolutionäre Bedeutung
der Medien dagegen eher stiefmütterlich behandelt. Bei den Rechtshistorikern steht bis weit in das
20. Jahrhundert hinein das Sinnverstehen im Vordergrund. Wie weiland schon bei Kant basiert Sinnver-
stehen auf der Mitteilung von Gedanken, deren Artikulationsformen als unabhängig von den sie bestim-
menden Medien gedacht werden; die Frage nach der medialen Verfasstheit des Sprachsinns, das Problem
der medialen Spur, wird ausgeblendet.121 Es gibt allerdings auch Ausnahmen. So finden sich etwa in Max
Webers komparativer Kulturgeschichte des Rechts einige durchaus bemerkenswerte Beobachtungen zum
Verhältnis von Oralität und Literalität, etwa im Umfeld religiöser Rechte. Die Tradition, schreibt Weber
beispielsweise mit Bezug auf das hinduistische und islamische Recht, muss hier „unmittelbar von Mund
zu Mund durch verlässliche heilige Männer gegangen sein; ein Vertrauen auf schriftliche Aufzeichnungen
würde bedeuten, dass man Pergament und Tinte glaubt statt den charismatisch qualifizierten Menschen,
den Propheten und Lehrern“.122 Ein ähnliches Interesse an Schrift und Sprache hatte zuvor Rudolf v. Jhe-
ring bekundet. In seinem Geist des römischen Rechts liest man nicht nur Erstaunliches über den analytischen
Charakter des Alphabets,123 sondern auch über die Bedeutung der Lautsprache für die altrömischen

117 Mit Hahn (Fn. 107), 51, ließe sich auch formulieren: „Medien sind das Material, aus dem sich Interpe-
netrationen formen.“ Eine ähnliche Umakzentuierung findet sich auch bei K.-H. Ladeur, Computer-
kultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, ARSP 74 (1988), 230f. (mit
der Bemerkung, dass die Grenze zwischen innen und außen, Selbst und Anderem, nicht so strikt gezo-
gen werden könne, weil die Sprache das Medium der intersystemaren ‚strukturellen‘ Kopplungen sei).
118 Vgl. nur Fögen (Fn. 34), 196ff., 198.
119
C. Vismann, Akten, 2000; vgl. auch R. M. Kiesow, Das Alphabet des Rechts, 2004.
120
I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009; R. K. Sherwin, When Law Goes Pop, 2000; K. F. Röhl,
Das Recht nach der visuellen Zeitenwende, JZ 58 (2003), 339ff.; R. Christensen/K. D. Lerch, Perfor-
manz – Die Kunst, Recht geschehen zu lassen, 2005, 55ff.; M. E. Katsh, Law in a Digital World, 1995;
V. Boehme-Neßler, Hypertext und Recht, ZfR 26 (2005), 161ff.; R. Collins/D. Skover, Paratexts, Stan-
ford Law Review 44 (1992), 509ff.; F. Steinhauer, Bildregeln, 2009.
121
Zum Begriff der „medialen Spur“ S. Krämer, Das Medium als Spur und als Apparat, 1998, 73ff.
122 Weber (Fn. 26), 459f.
123 R. v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. II/2,
1875, 334ff.

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§ 7. Evolution

Rechtsgeschäfte. Diese Reflexionen Jherings lesen sich heute wie eine Vorwegnahme auf die auf Perfor-
manz abstellenden Sprechakttheorien.124

2. Primäre Oralität und Schriftgebrauch


282 Walter J. Ong bezeichnet solche Kulturen als primär oral, die noch nie mit phoneti-
scher Schrift oder Buchdruck in Berührung gekommen sind; primäre Oralität im Un-
terschied zum Analphabetismus in literalen Kulturen, den Ong einer „sekundären
Oralität“ zuschreibt.125 Unter Bedingungen primärer Oralität können gesellschaftliche
Regelbestände, Tradition, Sitte, Brauchtum, Konventionen etc., nur „durch eine lange
Kette miteinander verflochtener Unterhaltungen“ bewahrt werden,126 durch ständige
Rück-Vergewisserung des gemeinsamen Wissens im Medium der flüchtigen Lautspra-
che. Das hat zur Folge, dass Sprache und Wissen einen stark formularischen Charakter
annehmen, der auf der laufenden Wiederholung immergleicher Wortformulare ba-
siert,127 auf „ritengestützter Repetition“ im Sinne von Jan Assmann.128 Ob es unter
solchen Bedingungen schon in primitiven Gesellschaften „Recht“ gegeben hat oder
ob sämtliche Konventionen und Regeln hier nur ein Aspekt jener faits sociaux totaux
waren, wie sie Marcel Mauss in seinen Essays über Die Gabe beschrieben hat – imma-
nenter Bestandteil einer reziproken Organisation von Sozialität –, wird in der einschlä-
gigen Literatur kontrovers diskutiert.129 Allem Anschein nach kannten aber schon ein-
fache Jäger- und Sammlergesellschaften rechtliche Regelbestände sowie (implizite)
Streitschlichtungsmechanismen, etwa im Fall eines Verstoßes gegen Inzestregeln.130
Allerdings ist die Emergenz rechtsspezifischer Kommunikation unter Bedingungen
primärer Oralität nur schwer vorstellbar. Das zeigt aber umgekehrt, dass das Recht
seine eigenen Grenzen notwendigerweise durchlässig halten muss, dass es als institu-
ierte Praxis auch in oralen Kulturen existiert und dass es diese kulturelle Infrastruktur
auch heute nicht einfach abstreifen kann.
283 Schon primär orale Kulturen kennen gemeinsame Rechtsnormbestände, auch wenn es
in ihnen keine evolutionären Anreize gibt, spezifisch juristische Wissensbestände über

124 Jhering, ebd., 420ff. (zum oralen Formalismus des altrömischen Rechts), vgl. auch 562 („Der Stoff, aus
dem das ältere Recht die formellen Geschäfte gebildet hat, sind Handlungen, Zeichen und Worte.
Unter ihnen nehmen letztere die erste Stelle ein.“).
125 W. J. Ong, Orality and Literacy (1982), 2002, 11.
126 J. Goody/I. Watt, Konsequenzen der Literalität, 1981, 45ff., 47. Diese, laufende Wiederholung ein-
schließende, Verbindung nennt J. Assmann (Fn. 6, 16f.) die „konnektive Struktur“ des gemeinsamen
Wissens.
127
Vgl. dazu M. Parry, The Making of Homeric Verse, 1987, 266ff., 325ff.; Ong (Fn. 125), 20ff.
128 J. Assmann (Fn. 6), 87ff., 97ff.
129 Vgl. den Überblick zur Frühgeschichte des Rechts bei Wesel (Fn. 1), 15, 19ff.; weitere Nachweise zum
Forschungsstand bei Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 259 Fn. 49. Die ethnologische und
anthropologische Forschung wirft u. a. methodologische Probleme auf: Da es nur wenige archäologi-
sche Daten über primitive Gesellschaften gibt, ist die Forschung hier letztlich auf ethnologisches Ma-
terial angewiesen und damit auf die Unwägbarkeiten einer unterstellten Vergleichbarkeit von Feldfor-
schungen in Gesellschaften, die sich auf kolonialisierten Territorien befanden oder auf andere Weise
durch Hochkulturen beeinflusst worden waren, und Gesellschaften der Frühgeschichte.
130
Segmentäre, auf Verwandtschaftsgruppen aufbauende Gesellschaften institutionalisierten Streit-
schlichtung etwa im Fall von Brautpreisschulden; teilweise lassen sich in archaischen Gesellschaften
(Protostaaten) sogar öffentliche Todes- und Verstümmelungsstrafen nachweisen, siehe Wesel (Fn. 1),
26f. (Der Inzest des Kelemoke), 40f. (Der Streit um die Brautpreisschulden der Roikine).

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IV. Medien als pre-adaptive advances

solche Normbestände aufzubauen. Rechtsevolution als Evolution eines expliziten po-


sitiven Rechts wird in oralen Kulturen dadurch blockiert, dass Sprache und Sprachge-
brauch, langue und parole, Wortlaut und Sinn immer zusammenfallen. Sprachhandeln
ist und kann nicht von den Regeln der Sprache getrennt werden. Es gilt, um mit
Goody und Watt zu sprechen, das Prinzip der direkten „semantischen Ratifizierung“,
der Konfliktlösung ad hoc.131 Das gilt auch im Bereich des materiellen Rechts: Orales
Recht wiederholt sich selbst oder produziert eine Variation, die als solche nicht er-
kennbar ist – oder die Regel wird einfach vergessen, wenn sie angesichts geänderter
Umstände keine Verwendung mehr findet.132 Für Belege dieser Thesen lässt sich auf
die umfangreiche Diskussion über das frühe antike griechische Recht (prédroit) ver-
weisen. Deren wichtigste Quellen sind die Epen Homers und Hesiods, insbesondere
die Gerichtsszene in der Ilias von Homer (Schild des Achilles).133 Diese Diskussion
hat gezeigt, dass es in Griechenland schon in archaischer Zeit (um 700 v. Chr.) öffent-
liche Streitbeilegungsverfahren und allgemein anerkannte Rechtsnormen gab. Aber in
den Epen Homers lassen sich keine expliziten Rechtsnormen nachweisen, kein mate-
rielles Recht im heute üblichen Sinn, sondern lediglich implizites Erfahrungswissen,
das in Form von Klugheits- und Verhaltensregeln (metis) in die homerischen Helden-
geschichten und Erzählungen über die heroische Vergangenheit verwoben ist, Recht
also in anderen Formen als heute existierte.134
Erst die Erfindung und Ingebrauchnahme der phonetischen Buchstabenschrift ermög- 284
licht es, den gemeinsamen Regelbestand zeitbeständig zu fixieren und zu explizieren.
Das ist die ausschlaggebende Vorentwicklung, die evolutionäre Errungenschaft, die un-
gefähr seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. die beeindruckende Komplexitätssteigerung des
Rechts in den vorderasiatischen Hochkulturen, im antiken Griechenland und in Rom
möglich gemacht hat.135 Zum einen gestattete es die Buchstabenschrift, explizite Ge-
und Verbote in Form apodiktischer Sätze aufzustellen, wie z. B. im Fall des Dekalogs,
der Zehn Gebote des altjüdischen Rechts.136 Außerdem wurde durch die Buchstaben-
schrift eine komplexere Explikation gesellschaftlicher Konventionen möglich, die
Wenn/Dann-Form, in der ein auf einen Fall bezogener Vordersatz (Protasis) mit einem
Nachsatz oder einer Folge (Apodosis) verbunden wird (Konditionalprogramm). Folgt
man Jean Bottéro lassen sich erste Anläufe zu konditionaler Formbildung im alten Me-

131
Goody/Watt (Fn. 126), 48 (beide Autoren sprechen auch von einem „homöostatischen Charakter“ ora-
ler Kultur); vgl. auch Ong (Fn. 125), 46f.; aus linguistischer Sicht mit vergleichbaren Ergebnissen
Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 29 („Orale Kommunikation ist konstitutiv daran gebunden,
dass Sprecher und Hörer sich in ihr zugleich mit dem Gesagten über die Geltungsbedingungen dieses
Handelns verständigen.“).
132
Fögen (Fn. 34), 84; ähnlich J. Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft,
1990, 229 („Dieser Prozess [der der Regeländerung, T. V.] ist unmerklich, weil Normen nur in münd-
licher Form existieren, so daß Regeln, die nicht mehr anwendbar sind, häufig dem Gedächtnis entglei-
ten.“).
133
Vgl. M. Gagarin, Writing Greek Law, 2008, 13ff.; Robb (Fn. 81), 74ff.; dazu bereits Weber (Fn. 26),
452, 767.
134 Vgl. Robb (Fn. 81), 78ff. („The Exemplum of Epic“); ähnlich R. Thomas, Writing, Law, and Written
Law, 2005, 41ff., 57; anders Gagarin (Fn. 133), 36 („Thus, before writing we can speak of oral law –
viz.judicial procedure without writing – but not oral laws.“).
135
Dazu vorzüglich J. Assmann, Herrschaft und Heil, 2002, 178ff.; zur Evolution der Alphabetschrift in
den vorderasiatischen Hochkulturen vgl. nur H. Haarmann, Universalgeschichte der Schrift, 1990,
267ff.
136
Vgl. dazu nur E. Otto, Recht im antiken Israel, 2003, 151, 160f.

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§ 7. Evolution

sopotamien noch vor dem Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. im Zusammenhang mit di-
vinatorischen Praktiken nachweisen.137 Auf diese, von einer Schreiberzunft getragene
Technik sattelte womöglich ein umfangreiches Verkehrsrecht auf, das unterschied-
lichste Schriftverträge wie Darlehen, Kauf, Pacht, Miete etc. kannte.138 In den griechi-
schen Städten (poleis) wurde die Buchstabenschrift schließlich in engem Zusammen-
hang mit dem Experiment der Demokratie folgenreich.139 Städte wie Dreros und
Gortyn nutzten seit 650 v. Chr. die Schriftkunst, um gemeinsame Konventions- und
Regelbestände in Mauern zu ritzen und den für Streitschlichtungen zuständigen Ma-
gistraten an eine für alle erkennbare gleiche Handlungsgrundlage zu binden.140
285 Auch wenn gesellschaftliche Regelbestände und Konventionen historisch gesehen zu-
nächst nur dann verschriftlicht wurden, wenn diese innerhalb der oralen Kultur unklar
oder strittig waren, die Verschriftlichung also Klarheit über den geltenden Regelbestand
schaffen sollte,141 kommt es evolutionstheoretisch gesehen doch darauf an, die eigen-
tümliche Paradoxie der Wirkung gegenüber dem Wollen in den Blick zu nehmen: Re-
sultat der Nutzung der Buchstabenschrift für rechtliche Zwecke ist gerade nicht die Eli-
minierung jeden Streits um Worte, sondern eine neue Differenz, nämlich die Differenz
zwischen dem geschriebenen Wort und seiner (authentischen) Interpretation, die spä-
ter – unter christlich-paulinischem Einfluss – so genannte Unterscheidung zwischen
dem „buchstäblichen Sinn“ und dem „Geist des Gesetzes“.142 Während mündliche
Kommunikation auf dem Gesetz der direkten semantischen Ratifizierung basiert, da-
rauf, dass sich Sprecher und Hörer gleichzeitig über das Gesagte und die Geltungsbe-
dingungen dieses Handelns verständigen, macht Schrift Abweichungen von der Tradi-
tion erkennbar – und damit denkbar.143 Die Transformation der flüchtigen Lautsprache
in das (vermeintlich) stabile Medium der Alphabetschrift mündet daher keineswegs in
eine Welt eindeutiger Worte und trennscharfer Zeichen, wie sie etwa die formalen Spra-
chen der Mathematik und Geometrie ausbilden. Schriftförmige Satz- und Textbildung
steigern vielmehr die semantische Dichte der Rechtssprache und potenzieren damit ihre
Unbestimmtheit. Erst durch die Einführung der Schrift entstehen „Zweifelsfälle und
unentschiedene Fälle der Frage ..., ob ein X zu Recht als Y zu kategorisieren ist“.144

137 J. Bottéro, Mesopotamia, 1992, 125ff („deductive divination“), 127f. (zur Bildung von Wenn/Dann-
Formen), vgl. auch 136 („divination became thus an a-priori knowledge ... That knowledge was de-
ductive, systematic, capable of foreseeing, and had a necessary, universal and, in its own way, abstract
object, and even its own ‚manual‘.“).
138 Vgl. dazu nur den Überblick bei H. Neumann, Recht im antiken Mesopotamien, 2003, 55f., 121f.;
vgl. aber auch Bottéro (Fn. 137), 181 („Mesopotamian law was essentially an unwritten law.“).
139
Robb (Fn. 81), 85ff., 99ff., 103; K.-J. Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im
archaischen Griechenland, 1999, 60ff., 262ff.; Thomas (Fn. 134), 41ff., 48.
140 Die Griechen nannten diese Regeln oft nach dem Medium, in dem sie realisiert wurden, z. B. to gra-
phos (das Geschriebene) oder einfach grammata (die Buchstaben). Dagegen handelt es sich beim Co-
dex Hammurabi (um 1750 v. Chr.) nicht um einen „Codex“, sondern um eine Kommemorativ-In-
schrift, um ein Dokument der Selbstpreisung des Königs und seiner „Gerechtigkeit“. Vgl. dazu
Bottéro (Fn. 137), 156ff.; J. Renger, Noch einmal: Was war der ‚Kodex‘ Hammurabi – ein erlassenes
Gesetz oder ein Rechtsbuch?, 1994, 27ff., 51.
141 So für den Fall Griechenland vielfach bezeugt. Vgl. nur Thomas (Fn. 134), 41ff., 42 (Euripides), 43,
46 (Solon), 52.
142
Vgl. dazu Goody (Fn. 132), 268ff.
143 Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 249, vgl. auch 340f.
144 So, in einem allgemeineren Zusammenhang, Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 28. Wie Stet-
ter anmerkt, fordert Frege für die (formale) Logik die scharfe Begrenztheit des Begriffs, aber er fordert

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IV. Medien als pre-adaptive advances

Vor diesem Hintergrund ermöglicht die Buchstabenschrift zwei verschiedene Ent- 286
wicklungspfade. Der erste Entwicklungspfad ermöglicht den Übergang von „ritueller
zu textueller Kohärenz“.145 Solange die Schrift nur supplementären Charakter hat,
bleiben die Abweichungsmöglichkeiten von der oral gesicherten Tradition gering. Der
Status der Schrift bleibt prekär, sie dient vor allem zur Kanonisierung des Wissens,
dessen Anwendung wiederum auf Interaktionskontexte angewiesen bleibt. Im Bereich
der Rechtspraxis zeigt sich das u. a. darin, dass das geschriebene Recht von der wörtli-
chen Auslegung beherrscht wird, d. h. Innovationen auf der Grundlage von Texten als
undenkbar angesehen werden. Das ist etwa im griechischen Stadtrecht und im frühen
römischen (Sakral-)Recht der Fall. Der Gortyn-Code kannte eine strikte Bindung des
Magistraten an den Wortlaut, und auch im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. ist eine
Formel nachweisbar, wonach der Magistrat kein ungeschriebenes Recht anwenden
darf. Wie das altjüdische Recht (Deut. 5.1), ist auch das frühe römische Recht an
buchstabengenauer Auslegung orientiert.146 Erst in späteren, schon unter dem Ein-
fluss griechischen dialektischen Denkens stehenden Traditionen des Judentums
kommt es zu der Erkenntnis, dass die (schriftlichen) Gesetze immer der ergänzenden
mündlichen Interpretation bedürfen, kommt es zu einer produktiven Auslegungstech-
nik, die wiederum Ähnlichkeiten mit der Interpretationslehre der römischen Jurispru-
denz seit der (späten) Republik aufweist.147
Die andere evolutionäre Möglichkeit, die die Buchstabenschrift eröffnet, kann man 287
mit Luhmann als Ermöglichung von „Ideenevolution“ bezeichnen.148 Die Buchsta-
benschrift stand den vorderasiatischen (nordsemitischen) Hochkulturen vermutlich
seit dem späten 2. Jahrtausend v. Ch. zur Verfügung, aber erst Platon benutzte sie zur
Produktion eines neuartigen Wissens, zur Herstellung von „Philosophie“. Aufgrund
dieser Ungleichzeitigkeit wird in der Literatur viel darüber diskutiert, ob und inwie-
weit die Emergenz der platonischen Dialektik (epistéme dialektiké) in Athen intrinsisch
mit den Besonderheiten der griechischen Alphabetschrift (im Unterschied zur phöni-
zischen Buchstabenschrift) verbunden ist oder durch diese sogar begünstigt wurde; die
schrifttheoretische Grundlage für diese Diskussion bildet Ignaz Gelbs A Study of
Writing.149 Folgt man in dieser sehr kontrovers und auf Grund ihrer politischen Impli-
kationen teilweise mit sehr viel Leidenschaft behandelten Frage Autoren wie Eric
A. Havelock, Kevin Robb, Elena Esposito, Christian Stetter u. a., gibt es gute Argu-
mente für die These, dass die Evolution philosophischen Wissens, Platons epistéme

sie eben deshalb, weil er weiß, dass es in der natürlichen Sprache anders ist. Vgl. dazu auch den Kom-
mentar von L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1945), 2003, § 71.
145
J. Assmann (Fn. 6), 87ff.
146
Vgl. nur Fögen (Fn. 34), 98; Wieacker (Fn. 36), 330 (formalistisches Haften am Wortlaut); Kaser
(Fn. 14), 213 („die interpretatio geht zu Anfang von dem Wortsinn aus, den der allgemeine Sprachge-
brauch ergibt“).
147
Fögen (Fn. 34), 138 Fn. 46, mit Hinweis auf D. Daube, Rabbinic Methods, 1949.
148
Luhmann (Fn. 70 – Die Gesellschaft der Gesellschaft), 536ff.; vgl. auch J. Assmann (Fn. 6), 96, 99,
259ff.
149 Gelbs Studie trug noch in der ersten überarbeiteten Auflage (Chicago 1963) den Untertitel „The
Foundations of Grammatology“. Der Begriff „Grammatologie“, der heute gemeinhin J. Derrida zuge-
schrieben wird, stammt also tatsächlich von I. Gelb. An Gelb schließen etwa an: E. A. Havelock, The
Muse Learns to Write, 1986, 59ff.; Robb (Fn. 81); J. Assmann (Fn. 6), 259f.; Esposito (Fn. 115),
101ff.; aus linguistischer Perspektive Stetter (Fn. 131), 273ff.; kritisch etwa H. Haarmann, Writing
technology and the abstract mind, Semiotica 122 (1998), 69ff., 86ff.; mit guten Argumenten gegen
die teleologischen Züge in Gelbs Evolutionstheorie F. Coulmas, Writing Systems, 2003, 197ff.

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§ 7. Evolution

dialektiké, eng mit der Evolution der Grammatik, der techné grammatiké, verwoben ist.
Grammatik im Sinne einer theoretischen Reflexion von Sprachformen aber gab es nur
in Griechenland; und nur das griechische Denken hat der Wahrheitsform des geschrie-
benen Satzes eine so große Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht nur zufällig und beiläu-
fig nennt Platon den Satz im Kratylos etwas Großes, Schönes und Ganzes.150
288 Die Konsequenzen dieses Entwicklungssprungs realisieren sich zum ersten Mal im anti-
ken römischen Zivilrecht. Während das theoretische Denken in Griechenland keinen
Eingang in die Rechtspraxis fand und noch das athenische Gerichtsverfahren klassi-
scher Zeit durch Rhetorik, d. h. – in Webers Worten – durch „Pathos, Tränen und Be-
schimpfungen des Gegners“, bestimmt wurde,151 nutzten die römischen Juristen der
(spät-)-republikanischen Zeit eben jene platonische Philosophie und Dialektik zur be-
grifflichen (von anschaulichen Tatbeständen unabhängigen) Erfassung des rechtlichen
Regel- und Entscheidungsmaterials;152 sie praktizierten Jurisprudenz vor allem als
Scheidekunst.153 Juristen wie Quintus Mucius Scaevola gebrauchten ferner den Kern-
bestand der platonischen Dialektik, das diairetische Erkenntnisverfahren, jenes tò katà
géne diareísthai,154 das eine Einteilung des Seienden nach Gattungen und Arten, nach
genera und species, möglich macht. Mit Hilfe dieser Methode wurde in Rom zum ersten
Mal eine sekundäre Beobachtungsebene, die der iuris prudentia, in das Rechtssystem
eingezogen, die in Form von Gutachten (responsa) und Lehrbuchliteratur – vermittelt
über den römischen Prätor155 – auf die Evolution des Rechts zurückzuwirken begann.
289 Daraus resultierte eine zirkuläre Verstärkung von prätorischer Amtsfunktion und juris-
tischer Expertise, die zu einer bis dahin gänzlich ungekannten Verfeinerung gesell-
schaftlicher Regelbestände und Konventionen im Medium einer zunehmend abstrak-
ten juristischen Satz- und Begriffsbildung (definitiones, regulae iuris) mündete. Mit der
Satz- und Begriffsbildung gingen erste Systematisierungen des zivilrechtlichen Fallma-
terials einher, Unterscheidungen wie Obligation und Strafe, Besitz und Eigentum.
Dieses Differenzierungsgeschehen machte nicht zuletzt den Konsensualvertrag mög-
lich, einen evolutionären Sprung ohnegleichen, den weder das griechische Recht noch
andere antike Rechte kannten.156 Seinen Abschluss erfuhr das dialektische Ordnungs-
denken im Institutionenlehrbuch von Gaius (2. Jahrhundert n. Chr.), in dem der
Rechtsstoff wohl zum ersten Mal nach dem Schema der Trichotomie sortiert wurde,
der Unterteilung nach Personen (lat. personae), Sachen (lat. res) und Klagen (lat. actio-
nes), ein Schema, das selbst im BGB noch Spuren hinterlassen hat. Die Erarbeitung
und Verwendung dichotomischer und trichotomischer Strukturen im antiken römi-
schen Recht bedeutete eine juristische Ordnungsleistung, an die die Justinianische Ge-
setzgebung und die mittelalterliche Jurisprudenz anschließen konnten.

150 Platon, Kratylos, 224b f.; dazu Stetter (Fn. 131), 299ff.
151
Weber (Fn. 26), 816. Zur Bedeutung der Rhetoren/Oratoren im athenischen Prozess, die in der jünge-
ren Literatur zu einem „rhetorical turn in scholarship on Athenian law“ stilisiert wird, vgl. nur
S. C. Todd, Law and Oratory at Athens, 2005, 97ff.
152 Vgl. dazu ausführlich Schiavone (Fn. 88), 185ff.
153 Vgl. F. Steinhauer, Vom Scheiden, 2015, insb. 68ff.; Schiavone (Fn. 88), 198ff. (Abstraktion als das
beherrschende Prinzip der römischen Ziviljurisprudenz).
154
Platon, Sophistes, 253d; dazu aus jüngerer Zeit Stetter (Fn. 131), 325.
155 Vgl. dazu Fögen (Fn. 34), 190ff.; zur aristokratischen Bestimmtheit des römischen Rechts Kirov
(Fn. 94), 59ff.
156
Vgl. dazu M. Th. Fögen, Zufälle, Fälle und Formeln, RG 6 (2005), 84ff., 88.

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IV. Medien als pre-adaptive advances

3. Buchdruck
Der nächste Bruch in der Geschichte und Evolution des westlichen Rechts, der 290
Sprung zum Rechtssystem, setzte den Buchdruck als pre-adaptive advance voraus. So-
lange Papyrus- und Pergamenthandschriften dominierten und Bücher nicht ohne wei-
teres zugänglich waren, blieben die Möglichkeiten einer systematischen Anordnung
des Rechtsstoffes begrenzt. Auch die Justinianische Gesetzessammlung des spätrömi-
schen Reichs, das Corpus iuris civilis, das bereits auf dem Pergamentkodex basierte,
entsprach mehr einer vergangenheitsorientierten Sammlung von Rechtstexten als
einem zukunftsorientierten Systementwurf im Sinne der neuzeitlichen Naturphiloso-
phie.157 Das ist auch weniger überraschend als viele Juristen glauben, zumal die Kar-
riere des Systembegriffs nicht vor 1600 begann, nach Luhmann zunächst als Buchtitel
und zur Ankündigung der Absicht, „ein Buch mit einer ordentliche(n) Stoffgliederung
zu verfassen.“158 Wie wir weiter oben bereits gesehen haben, bewirken das hoch stan-
dardisierte Kodierungsrepertoire der Druckschrift, die durchgehende diskrete Forma-
tierung des bedruckten Raums und die umfassende orthographische Regelbindung
eine digitale Aufbereitung des Sprachsystems, die wiederum erst die übersichtliche
Darstellung im Sinne Wittgensteins, den von einem „enzyklopädischen“ Einheitswil-
len getragenen Systementwurf, ermöglicht hat (Rn. 100ff.).159
Ansätze zu einer systematischen Darstellung lassen sich schon im italienischen Huma- 291
nismus nachweisen. Einen Bruch mit der rhetorischen Tradition in Richtung Einheit,
Konsistenz und Harmonie vollzog bereits die logisch-dialektische Methode von Petrus
Ramus (1515–1572), dessen Methodenideal der klaren und übersichtlichen topischen
Ordnung wiederum in enger Beziehung zu den neuen Möglichkeiten des Buchdrucks
(und umgekehrt) stand. „Clarity and logic of organization, the disposition of matter
on the printed page became ... a preoccupation of editors, almost an end in itself. It is
a phenomenon familiar to a student of encyclopaedic books in the late sixteenth cen-
tury, relating to the increased fascination with the technical possibilities of typesetting
and the great influence exerted by the methodology of Peter Ramus ... The Ramist
doctrine that every subject could be treated topically, that the best kind of exposition
was that which proceeded by analysis was enthusiastically adopted by publishers and
editors.“160 Erneuerung des vorgefundenen Stoffes, Systematisierung und Vereinfa-
chung des Wissens, das Sehen des Zusammenhangs, wurde schließlich auch zum Pro-
gramm der neuzeitlichen Naturphilosophie. Von „ersten“ Sätzen ausgehend, entfaltete
die Naturphilosophie ihre Themen vollständig deduktiv, d. h. alle Sätze innerhalb des
Systems wurden über Grund/Folge-Relationen miteinander verknüpft, und auch dies
geschah nicht zufällig im Medium des gedruckten Buchs. Schon für Galilei und Des-
cartes nahmen Universum und Welt selbst die Gestalt eines „großen Buches“ an.161
157
E. L. Eisenstein, The Printing Revolution in Early Modern Europe, 1993, 71 („The medieval teacher of
the Corpus Iuris was ‚not concerned to show how each component was related to the logic of the whole‘,
partly because very few teachers on law faculties had a chance to see the Corpus Iuris as a whole.“).
158 Luhmann (Fn. 81), 543.
159 Wittgenstein (Fn. 144), § 122 („Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches
eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge sehen‘.“).
160
Eisenstein (Fn. 157), 70f. (Zitat von N. Gilbert); zum Zusammenhang von Methode/Systemdenken
und Buchdruck bei Ramus vgl. W. J. Ong, Ramus, 1958, 304, 315.
161 Zur Abhängigkeit der modernen Naturwissenschaft vom Buchdruck vgl. nur P. Rossi, Die Geburt der
modernen Wissenschaft in Europa, 1997, 72ff.; Eisenstein (Fn. 157), 187ff.

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§ 7. Evolution

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass Hans Blumenberg das Buch, und insbeson-
dere das Buch in der Tradition des Judentums und des Christentums, zu Recht als das
Medium bestimmt, im dem das Disparate und weit Auseinanderliegende, Widerstre-
bendes, Fremdes und Vertrautes am Ende als Einheit begriffen oder zumindest als ein-
heitlich begriffen vorgegeben werden könne.162
292 Erneut ist es eine zirkuläre Verstärkung von Medien- und Ideenevolution, die einen
Sprung in der Rechtsevolution ermöglicht: Im 19. Jahrhundert wurde das mit dem
Buchdruck verbundene Methodenideal der „Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse
unter einer Idee,“163 das System, auf dem europäischen Kontinent von der histori-
schen Rechtsschule adaptiert; wohingegen die kontinentalen Systembildungen im
englischen Common law fortan als benchmark fungierten, um die Abweichung von
diesem Methodenideal immer wieder positiv wie negativ zu kommentieren.164 Die tra-
genden Elemente des rechtspositivistischen Rechtssystems waren: Abkehr von allem
philosophischen und politischen Räsonnement, rein juristische „Construction“, Be-
herrschung des Rechtsstoffs von einem Punkt aus, innere Kohärenz und „Conse-
quenz“ des gesamten Rechtsstoff unter einer ihn durchherrschenden „Gesamtidee“.
Ihren Höhepunkt erreichte diese Semantik der „inneren Einheit“ der Rechtsordnung
vielleicht im Pandektenlehrbuch Bernhard Windscheids (seit 1862), dessen außeror-
dentliche Wirkung – nach einer treffenden Beobachtung Wieackers – auf eine ein-
malige mediale Alleinstellung zurückzuführen war; auf „eine Autorität, die heute auf
verschiedene Institutionen und Organisationen verteilt ist: das Gesetz, die höchstrich-
terliche Entscheidung, der große Kommentar und das Lehrbuch“.165 Vermittelt über
das systematische Gesetzbuch oder die auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit
angelegte Rechtsakte wanderte das rechtspositivistische Systemdenken auch in die
Rechtspraxis ein.

4. Elektronische Medien und Computer


293 Fiel die Sattelzeit der Verwissenschaftlichung der Rechtsexpertise in Deutschland in
eine Phase, in der Pandektenlehrbücher und vergleichbare Unternehmen im Bereich
des Öffentlichen Rechts eine mehr oder weniger exklusive Stellung innehatten, sah
sich der Rechtsbetrieb bald mit der Konkurrenz neuer (elektronischer) Medien kon-
frontiert. Die Vorstellung, dass die juristische Expertise wesentlich über Lehrbücher
synthetisiert würde, ist zwar bis weit in das 20. Jahrhundert hinein präsent. Mit dem

162
H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 1981, 17, 18; F. J. Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung,
2014, 124.
163 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1787), 1974, B 861. Zu den kommunikativen Voraussetzungen
der Idee eines Systems der Erkenntnisse J. Simon, Kant, 2003, 20ff. Zum Systembegriff bei Kant vgl.
auch M. Riedel, System, Struktur, in: Geschichtliche Grundbegriffe, 2004, 307ff.
164
Vgl. dazu nur Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 273f. Die von Kontinentaleuropa abwei-
chende Entwicklung des englischen (und skandinavischen) Rechts dürfte nicht zuletzt mit der Domi-
nanz lokaler mündlicher Rechtstraditionen zusammenhängen, die eine Einflussnahme der gelehrten
Buchkultur erschwerte, während das in Deutschland, Frankreich und Italien einflussreiche Römische
Recht des Mittelalters ein Recht der (klerikalen) Schriftkultur war und blieb und daher von Anfang an
stärker für Buchwissen durchlässig gewesen sein mag.
165 Wieacker (Fn. 5), 446; vgl. auch die entsprechenden Reflexionen Forsthoffs über die Bedeutung der
„monographischen Einzelarbeit“ für die Evolution der verwaltungsrechtlichen Systembildung:
E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1966, z. B. 42, 48.

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Bedeutungszuwachs von Gesetzbüchern, höchstrichterlichen Entscheidungssamm-


lungen und juristischen Fachzeitschriften (um nur einige Beispiele zu nennen), büßte
das systematische Lehrbuch jedoch am Ende des 19. Jahrhunderts seine mediale Vor-
rangstellung ein. Spätestens in der Weimarer Republik konsolidierte sich eine plura-
listische Vielfalt unterschiedlichster juristischer Publikationsmedien; neben Lehr-
büchern werden Handbücher, (Praktiker-)Kommentare, juristische Monats- und
Wochenzeitschriften usw. zu immer beliebteren Publikationsorganen. Und mit der
Vielfalt der Publikationsmedien beginnen auch die rechtswissenschaftlichen communi-
ties of practice und Teilöffentlichkeiten zu wachsen. Die Einheit der Rechtswissenschaft
zerbricht in die großen Teilgebiete Privatrecht und Öffentliches Recht, und quer zu
den Gebietsdifferenzen entstehen darüber hinaus ganz neue Teildisziplinen der
Rechtswissenschaft, wie etwa juristische Rechtsphilosophie (Karl Bergbohm, Gustav
Radbruch), Verfassungslehre (Carl Schmitt, Rudolf Smend) oder Rechtstheorie (Hans
Kelsen).
Welche Konsequenzen werden die Erfindung des Computers und der Aufstieg des In- 294
ternets für die weitere Rechtsentwicklung haben? Um diese Frage produktiv beantwor-
ten zu können, ist hier vorgeschlagen worden, die Möglichkeiten von Begriffen und
Vorstellungen der Computerkultur zu testen (vgl. Rn. 136ff.).166 Ist einmal erkannt,
dass das Internet nichts anderes als „ein gigantischer Computer“ ist, „ein komplexes
sich selbst organisierendes Informationssystem, in dem keine zentrale Leistungsver-
mittlung stattfindet“,167 muss auch die Rechtstheorie die netzwerkförmige, nicht-hie-
rarchische, dynamische Reproduktion von Systemen in den Vordergrund rücken. Die
Rechtsordnung befindet sich offensichtlich seit einiger Zeit in einem umfassenden
Prozess des Wandels zu einer neuartigen Operationsweise dynamischer Stabilität, auf
die Sprachphilosophie und Dekonstruktivismus mit Begriffen wie „Sprachspiel“,
„Performanz“ oder „différance“ reagiert haben und auf die Luhmann den Begriff der
„Autopoiesis“ angesetzt hat. Diese Vorstellung dynamischer Ordnungsbildung muss
insbesondere mit der Einsicht verknüpft werden, dass die Computerkultur die Gren-
zen der Rechtsordnung selbst in Richtung Dynamisierung und Fluktuanz verändert
und die Grenze von einer Trennlinie in eine Kontaktzone verwandelt. Die Leistungen
des Rechts sind heute in einem nie gekannten Maße von Überlappungen, Hybridbil-
dungen und „strukturellen Kopplungen“ mit anderen sozialen Systemen abhängig, die
mit einer traditionell systemtheoretischen (auf den Sinnbegriff aufbauenden) System/
Umwelt-Differenz kaum mehr zu erfassen sein dürften. Das ist auch der tiefere Grund
dafür, dass das Recht der Gesellschaft heute weitaus mehr als Erwartungssicherheit zur
Verfügung stellen muss. Der durch den Computer ausgelöste Einschnitt in der Rechts-
evolution wäre in einer „Logik der intra- und interorganisationalen Netzwerke“ zu re-
konstruieren, also mit einem Wissen in Zusammenhang zu bringen, das „von heter-
archischen hybriden Verschleifungen und Relationierungen von Suchprozessen in
Netzwerken bestimmt wird“.168

166 Dazu – programmatisch – schon früh Ladeur (Fn. 117), 218ff. (mit der These des Verlustes der Ein-
heit des Rechtssystems); vgl. auch Christensen/Lerch (Fn. 120), 55ff.; Augsberg (Fn. 120), 133ff.; zum
Hypertext und seinen Konsequenzen für das Recht vgl. auch F. Müller/R. Christensen, Juristische Me-
thodik, Bd. 2, 2012, 235ff., 245ff.
167 K. Mainzer, Computerphilosophie zur Einführung, 2003, 161.
168
K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 296.

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§ 7. Evolution

295 Dagegen scheint die Diagnose von der „visuellen Zeitenwende“ zu kurz zu greifen. Sicherlich kann man
leicht eine Reihe von Phänomenen aufzeigen, die in die Richtung eines iconic turn weisen. Richard Sher-
win hat das Eindringen der visuellen Populärkultur in das US-amerikanische Recht etwa am Beispiel der
Übernahme filmischer Realitätskonstruktionen im Geschworenenprozess dargestellt, Cornelia Vismann
beobachtet in den Medien der Rechtsprechung eine neue Offenheit von (internationalen) Gerichten für au-
diovisuelle digitale Technologien, die sie als Durchlässigkeit für justizfremde Anforderungen und Einflüsse
interpretiert.169 Es ist außerdem absehbar, dass der Computer die Operationsweise von Gesetzgebung, Ver-
waltung und Rechtsprechung auf unterschiedlichste Weise erfassen und verändern wird, eine Entwick-
lung, die sich auf der Ebene der Verwaltung etwa in den neueren Entwicklungen des electronic government
und des „Informationsverwaltungsrechts“ erkennen lässt.170 Aber soweit mit dem Aufstieg von Bildmedien
und Computer schematische Szenarien vom Verfall begrifflicher Rechtskultur verbunden werden, Diagno-
sen einer Visualisierung des juristischen Denkens, einer „Bilderflut“, in der die „Schriftkultur“ des Rechts
zu ertrinken droht,171 ist die These von der visuellen Zeitenwende nicht überzeugend. Recht hat schon
immer über die Verknüpfung verschiedener Medien operiert, verwiesen sei hier noch einmal auf die förm-
lichen Rechtsgeschäfte des altrömischen Rechts wie mancipatio oder stipulatio, die Weber als Vorbild für
seinen Typus des empirischen Formalismus dienten. Und gerade der Buchdruck hat – wie man von Witt-
genstein lernen kann – eben auch eine Sehweise auf die Welt ermöglicht, die darin besteht, „dass wir die
‚Zusammenhänge sehen‘“.172

296 Eine neuartige Logik der Vernetzung bestimmt heute nicht zuletzt die unterschied-
lichen Formen juristischer Expertise. Dadurch gerät auch die Rechtstheorie in eine pa-
radoxe Situation. Sie bleibt einerseits auf die Wahrheitsform des Buches angewie-
sen,173 dessen Leistungen auch in Zukunft nicht durch den Zeitschriftenaufsatz, den
Beitrag in einem Sammelband, eine webpage oder einen Hollywood-Film ersetzt wer-
den können. Auf der anderen Seite ist die Rechtstheorie heute nicht mehr mit der glei-
chen Selbstverständlichkeit in einer bürgerlichen Kultur des Buches beheimatet wie
dies die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts möglicherweise war. Als Buchwissen
konkurriert die Rechtstheorie heute viel stärker mit anderen Medien, vor allem mit au-
diovisuellen Massenmedien und zunehmend auch mit Computer und Internet. Dieser
evolutionären Dynamik kann sich die Rechtstheorie nicht in einem „Kampf auf ver-
lorenem Posten“ entgegenstellen. Die Möglichkeit der linearen Form, die Exposition
rechtstheoretischen Wissens in einem von einer „Gesamtidee“ (Gerber) getragenen
Systementwurf, die Formung eines geschlossenen und einheitlichen Ganzen aus einer
zusammenhängenden Reihe rechtlicher Stoffe, liegt hinter uns. Dagegen wäre die
Buchform heute an die Computerkultur anzupassen. Die Rechtstheorie hätte sich
einer offenen, konnexionistischen Architektur anzuverwandeln und als „horizontaler
Hypertext“ von Themen und Unterscheidungen zu präsentieren, in dem das Testen
der Kombination von verschiedenen Differenzen die Fundierung aller Aussagen des
Systems in einer einzigen Anfangsoperation, dem Prinzip, ersetzt. Ob die Rechtstheo-
rie diese konnexionistische Architektur dann ausschließlich durch Druckschrift und
Texte (wie in diesem Buch) oder auch in Bildern darstellt, ist eine zweitrangige Frage.

169
Sherwin (Fn. 120), 24f., 41ff.; C. Vismann, Medien der Rechtsprechung, 2011, ins. 333ff., 341.
170
Vgl. M. Eifert, Electronic Government, 2006; zum Informationsverwaltungsrecht E. Schmidt-Aß-
mann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1982, 278ff.; Ladeur (Fn. 168), 331ff.
171 Röhl (Fn. 120), 339; ähnlich auch H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverwaltungsgericht als Impulsgeber
für die Fachliteratur, 2003, 1061ff.
172
Wittgenstein (Fn. 144), § 122.
173 Für die Philosophie vgl. J. Simon, Philosophie des Zeichens, 1989, 253 („Wir haben in der Wissen-
schaft keine Alternative zum Schema des Buches.“) Diese These bedarf angesichts gegenläufiger Ent-
wicklungen in den Naturwissenschaften allerdings einer genaueren Spezifizierung.

180
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IV. Medien als pre-adaptive advances

Die Logik der Vernetzung verändert schließlich auch die Kommunikationsbedingun- 297
gen im Rechtssystem selbst. Die im Lehrbuch des 19. Jahrhunderts noch zentral (re-)
präsentierte Rechtswissenschaft sieht sich heute mit einer Vielzahl von juristischen
(Teil-)Öffentlichkeiten konfrontiert. Garantierten das Pandektenlehrbuch oder ver-
gleichbare Lehrbücher des Öffentlichen Rechts (Paul Laband, Otto Mayer), dass In-
novationen nicht auf kleine Gemeinschaften von Rechtswissenschaftlern beschränkt
blieben (und auch die Gerichtspraxis im Durchschnitt erreicht werden konnte), kann
auch in dieser Hinsicht nicht mehr auf Kontinuität vertraut werden. In einem Netz-
werk überlappender Nachbarschaften dominieren zwangsläufig Prozesse der Selbstab-
schließung, während „Kommunikation“ im alten tradierten Sinn, d. h. im Sinn der
Herstellung von Gemeinschaft, nicht mehr als selbstverständlich unterstellt werden
darf. Neuerungen in der Rechtstheorie werden heute von der Rechtsdogmatik eher
gar nicht zur Kenntnis genommen oder sickern nur sehr langsam durch. Das gilt in
noch höherem Maße für die Rechtspraxis, etwa für Gerichte, die heute weitgehend
selbstreferentiell operieren. Auf diese schwierige Situation darf die Rechtstheorie aller-
dings nicht ihrerseits mit Selbstreferenz antworten. So unverzichtbar die Beobachtung
von Rechtstheorie durch Rechtstheorie im Einzelfall auch sein mag, die weitere
Rechtsevolution dürfte kaum durch Kommunikationen des Typs „Baiers Unterschei-
dung zwischen Regeln für Gründe und Regeln, die Rangordnungen zwischen solchen
Regeln festlegen, ist eine wichtige Ergänzung der Toulminschen Analyse des mora-
lischen Argumentierens“ gesichert sein.174 Gerade unter den Bedingungen eines be-
schleunigten gesellschaftlichen Wandels muss die Rechtstheorie der Rechtspraxis
einen Varietätspool an Ideen zur Verfügung stellen, alternative Entwicklungspfade,
die in der Theorie bereits soweit heruntergebrochen sind, dass sie praktisch und dog-
matisch anschlussfähig erscheinen. Ob die Botschaften der Rechtstheorie dann eine
bessere Chance haben, gehört zu werden, wird die weitere Evolution zeigen.

174
R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, 131.

181
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Personenregister

Die Zahlen verweisen auf die Randnummern dieses Buches.


Adelung, Johann Christoph: 104 Eberl, Oliver: 164
Adorno, Theodor W.: 143 Ehrlich, Eugen: 5, 207, 236
Alexy, Robert: 29, 41, 165, 217, 224, 250 Esposito, Elena: 287
Amstutz, Marc: 262, 269 Esser, Josef: 21, 192, 218–222, 224, 233, 236
Antiphon: 76, 159, 170
Aquin, Thomas von: 158 f Feuerbach, P. J. Anselm: 202
Aristoteles: 14, 15, 75f., 119, 157, 160ff., 169, Fish, Stanley: 197
170 Foerster, Heinz v.: 11, 179, 227, 265
Assmann, Aleida: 9a, 279 Fögen, Marie Theres.: 267, 269, 271
Assmann, Jan: 9a, 9b, 248, 279, 282 Forst, Rainer: 29, 163
Augsberg, Ino: 196f., 240ff., 281 Frankenberg, Günter: 29
Austin, John: 27, 56, 253 Friedrich, Caspar David: 90
Fuchs, Erich: 207
Beccaria, Cesare: 211
Benjamin, Walter: 135, 154, 178, 228f., 234 Gadamer, Hans-Georg: 54, 143, 192,, 210, 213,
Bergbohm, Karl: 293 215ff., 220f., 225, 227, 235
Berman, Harold: 269 Gaddis, William: 199
Blumenberg, Hans: 100, 107, 291 Gagarin, Michael: 248
Böckenförde, Ernst-Wolfgang: 27, 155, 249 Gaius: 289
Bodin, Jean: 172 Galilei, Galileo: 45, 73f., 79, 81, 291
Böhm, Franz: 29 Gassendi, Pierre: 45, 73
Boehme-Neßler, Volker: 281 Gelb, Ignaz: 287
Bottéro, Jean: 284 Gepharts, Werner: 9 a
Bourdieu, Pierre: 109 Gerber, Carl Friedrich v.: 20, 51, 84, 86f., 87,
Breuer, Stefan: 260 90ff., 94, 138, 150, 200, 248
Brunner, Otto: 249 Gödel, Kurt: 132, 139
Bücher, Karl: 260 Goldschmidt, Levin: 257
Goodman, Nelson: 54, 102f.
Cavell, Stanley: 242 a Goodrich, Peter: 281
Chomsky, Noam: 59, 235 Goody, Jack: 281, 283
Christensen, Ralph: 192, 224, 233, 281 Grimm, Dieter: 249
Chrysipp: 160 Grolman, Karl Ludwig v.: 202
Cicero, Marcus Tullius: 20, 158 Günther, Klaus: 29, 163
Cohen, David: 248
Collins, Ronald K. L.: 281 Habermas, Jürgen 29, 54, 116, 163–167, 235
Comte, Auguste: 260 Hart, Herbert L. A.: 1, 9, 37, 148, 180, 250
Hartung, Fritz: 249
Darwin, Charles: 262f., 267 Havelock, Eric A.: 131, 281, 287
Daube, David: 248, 281 Heck, Philipp: 207
Davidson, Donald: 56 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 17, 24–26, 47,
De Clapier, Luc Marquis de Vauvenargues: 141 50a, 51, 79, 83, 85, 93, 107, 111, 119, 138,
Deleuze, Gilles: 12 143, 174, 213, 216, 276
Delevingne, Cara: 114 Heidegger, Martin: 213, 215
Derrida, Jacques: 12, 54, 56, 109, 131, 135, 148, Herberger, M.: 20
208, 221, 227, 281 Herder, Johann Gottfried v.: 246
Descartes, René: 45, 54, 73, 79, 173, 291 Herodot: 246
Dreier, Horst: 27 Hesiod: 76, 159, 283
Dreier, Ralf: 165 Hilbert, David: 139
Duden, Konrad: 104 Hintze, Otto: 249
Durkheim, Émile: 3, 270 Hobbes, Thomas: 24, 27, 36, 45, 49, 54, 57, 73,
Dworkin, Ronald: 29, 163, 166 77, 79–83, 92, 107, 111, 116

183
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Personenregister

Hofmann, Hasso: 27 Magdelain, André: 248


Hofstadter, Douglas R.: 212 Mainzer, Klaus: 139
Homer: 159, 161f., 281, 283 Marcellus: 198
Honneth, Axel: 29 Marx, Karl: 3, 260
Hugo, Gustav: 17, 24, 247 Maturana, Humberto: 113, 144
Humboldt, Wilhelm v.: 56 Mauss, Marcel: 282
Husserl, Edmund: 177 Mayer, Otto: 86f., 150, 297
McLuhan, Marshall.: 281
Innis, Harold: 281 Mommsen, Theodor: 247
Montesquieu, Charles: 202
Irnerius: 160
Moretti, Franco: 254
Müller, Friedrich: 192f., 221f., 224, 233
Jellinek, Georg: 116
Jhering, Rudolf v.: 20, 84, 94, 97, 152, 205, 207,
Neumann, Hans: 248
257, 281
Newman, Randy: 197
Justinian: 85, 260, 289f. Newton, Isaac: 45, 48, 74
Niesen, Peter: 164
Kahn, Victoria: 9a, 107
Kant, Immanuel: 24ff., 33, 36, 45–52, 54f., 57, Ockham, Wilhelm v.: 172
61, 64, 72, 79, 81, 83, 85f., 107, 111, 118, Ong, Walter J.: 54, 281f.
150f., 153, 162, 165, 174, 208f., 254, 281
Kantorowicz, Hermann: 207 Palyi, Melchior: 3, 251
Kaser, Max: 249f. Parsons, Talcott: 6, 181, 265, 270, 276
Katsh, M. Etan: 281 Pawlowski, Hans-Martin: 193
Kelsen, Hans: 1–4, 7, 9f., 39–42, 52, 60, 64, 67, Platon: 15f., 55, 109, 160f., 170, 276, 280f., 287f.
93, 97ff., 108, 112, 132, 139, 148, 155, 176ff., Pringsheim, Otto: 248
180f., 189, 209, 223, 233f., 250, 293 Puchta, Georg Friedrich: 51, 84, 86–91, 94f.,
Kepler, Johannes.: 74 138, 200, 247, 254
Kittler, Friedrich: 54, 281 Pufendorf, Samuel v.: 80 a
Klippel, Diethelm: 250
Knütel, Rolf: 249 Radbruch, Gustav: 20, 26, 66, 156, 293
Koselleck, Reinhart: 246 Ramus, Petrus: 73, 291
Koskenniemi, Martti: 250 Rawls, John: 163, 166
Krämer, Sybille: 54 Robb, Kevin: 248, 287
Kristeva, Julia: 12 Rodin, Auguste: 110
Röhl, Klaus-F.: 281
Laband, Paul: 20, 51, 84, 86, 88, 91, 94, 150f., Rosen, Lawrence: 9 a
194, 200ff., 297 Ross, Alf: 148
Rousseau, Jean Jacques: 24, 72, 80, 254
Ladeur, Karl-Heinz: 128, 131, 136, 185, 190, 196,
Rückert, Joachim: 250
230, 240 ff
Rümelin, Max: 207
Larenz, Karl: 35, 38f., 53, 192f., 205, 217, 219,
224
Saussure, Ferdinand de: 55f., 109, 119, 235
Lefort, Claude: 29 v. Savigny, Friedrich Carl v.: 1, 17, 23f., 51, 72,
Leibniz, Georg Wilhelm: 139 84ff., 88, 90f., 94f., 138, 145f., 182, 192f.,
Lenel, Otto: 247 200, 203ff., 207, 225, 247, 254
Lerch, Kent: 281 Scaevola, Quintus M.: 288
Le Sage, Alain-René: 141 Schleiermacher, Friedrich: 192, 204
Livius: 246 Schmitt, Carl: 88, 93, 135, 154f., 207, 227, 293
Locke, John: 24, 116 Schoeman, Georg Friedrich: 202
Luhmann, Niklas: 6, 8f., 9b, 10, 12, 17, 34, Schottel, Justus Georg: 104
42ff., 54, 56, 66, 100, 102, 108ff., 112f., 116, Schröder, Jan: 250
119–121, 124, 126f., 131ff., 137–145, 148, Sherwin, Richard K.: 281, 295
175, 179ff., 185, 190, 208, 227, 230, 234, Sima Qian: 246
250, 262, 265f., 269–273, 275, 279, 281, Simmel, Georg: 270
287, 290, 294 Simon, Herbert Alexander: 243
Lyotard, Jean-François: 12 Simon, Josef: 47

184
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Personenregister

Skover, David M.: 281 Waldenfels, Bernhard: 131


Smend, Rudolf: 293 Watt, Ian: 281, 283
Smith, Adam: 24 Weber, Marianne: 3, 251
Spencer Brown, George: 12, 110f., 116, 126 Weber, Max: 3ff., 28, 36, 68, 70, 93, 152ff., 164,
Spinoza, Benedictus: 45, 73 250–262, 265, 270, 274, 276, 280f., 288,
Steinhauer, Fabian: 281 295
Stetter, Christian: 54, 101ff., 287 Wieacker, Franz: 168, 249f. 267, 292
Stolleis, Michael: 249, 261 Wiethölter, Rudolf: 65, 185, 238
Willoweit, Dieter: 249
Teubner, Gunther: 119a, 131, 185, 187, 227, 230, Windscheid, Bernhard: 51, 84f., 87, 94f., 149,
237–241, 262, 269 151, 200, 205, 254, 257, 292
Thomas, Yan: 248 Wittgenstein, Ludwig von: 54, 56–59, 105, 112,
Thomasius, Christian: 49 167, 178, 211, 221, 235, 290, 295
Thür: 248 Wolf, Erik: 248
Thukydides: 246 Wolfe, Thomas: 18
Toulmin, Stephen: 297 Wolff, Christian: 20, 91
Turing, Alan: 132, 139 Wolff, Hans Julius: 248
Wright, George Henrik v.: 41
Valéry, Paul: 148
Vico, Gian Battista.: 246
Vismann, Cornelia: 9a, 281, 295

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Sachregister

Die Zahlen verweisen auf die Randnummern dieses Buches.


Auslegung (s. Interpretation) 23, 191f., 195–199, Computer 13, 101, 106, 118, 136, 137–139,
203–209, 211–216, 218–220, 222, 231ff., 144f., 263, 278f., 293–296
240, 249, 286 – kultur 34, 136ff., 139, 144, 185, 273, 294, 296
Adelsgesellschaft (societas civilis) 24, 71, 79, 157, Corpus iuris civilis 50a, 75, 85, 290
169, 172, 182, 187
Aggregat 83, 86, 106 Dezision, Dezisionismus 50, 135, 154, 227
Anfang (s. Axiom, erste Sätze, Prinzip) 7, 22, 25, Dialektik, dialektisch 73, 111, 143, 233, 276, 280,
29, 75, 81, 97f., 101, 110f., 132ff., 138, 174, 286–289, 291
228, 258, 265, 268, 279, 296 Diairesis, diairetisch 21, 109, 288
Applikation 212, 225, 227 Differenz (s. Unterscheidung) 7, 9b, 12, 108–111,
Autonomie 116f., 128, 137f., 148, 162, 183, 190, 238,
– des Rechtssystems 9b, 71f., 93, 95, 100f., 115, 245, 264, 266, 268–270, 272f., 277f., 285,
120f., 128, 145, 223, 238, 240, 242, 266, 268, 289, 294, 296
272, 273 Differenztheorie, differenztheoretisch 7, 12, 109,
– der Familie 239 113, 128, 232, 270, 273
– autopoietische 277 différance 12, 109, 131, 135, 294
– traditionelle Fassung 115 Digesten 85, 160f., 198, 257, 269
Autopoiesis, autopoietisch 7f., 9, 112–118, Digitalisierung 101f.
120ff., 126, 128–130, 134, 137, 139–142, Diskurs, Diskurstheorie 24, 28f., 163–167, 183,
144f., 179, 181, 234, 265f., 269–274, 277, 217, 223, 265, 269
294 Dogmatik (s. Rechtsdogmatik) 17, 20f., 23, 31, 201
Axiom, axiomatisch (s. Anfang, erste Sätze, Prin-
zip) 74, 78, 88, 110, 139 Einheit des Rechts/Rechtssystems (s. Hierarchie) 6,
8, 98, 106, 130, 181.
Beobachtung Eigenverfassung 237f., 244
– erster Ordnung 11, 32, 123 Entscheidung
– zweiter Ordnung 10–13, 19, 31f., 39, 123f., – Begründung der 230, 243
145, 265, 270, 278, 288 – Einzelfall- 52, 209
– Fremd/Selbstbeobachtung 12, 63 – Entscheidungsmacht 155
Bestimmungssätze 34 – Entscheidungsnorm 30f., 209, 222
– Entscheidungssystem/-betrieb 7, 13, 145, 191
Bewegungsgesetz 48, 74f., 77, 81
– Entscheidungsrechte, subjektive 88, 231
BGB 17, 31, 69f., 247, 259f., 289
– Entscheidungszwang 133
Buchdruck 13, 41, 100–102, 104, 106f., 136a, – Gerechtigkeitsentscheidung 163
145, 201, 277–280, 282, 290–292, 295 – Gerichtsentscheidung 9, 43, 125, 191, 193,
Buchstabe (gramma) 40, 74, 100, 104, 198, 223, 243
284–287 – Mysterium der 227–229
– Paradoxie und Aporie der 133, 139, 227–229,
Case law 30 236
Code – Rechtsentscheidung 154, 194, 218, 222, 233,
– binärer 12, 120, 123, 125, 127f., 132f., 137, 236, 244, 254
242 – Zeitpunkt der 43f., 63
– civil 68f., 259f. Epistemologie,
– Gortyn- 198, 286 – soziale, gesellschaftliche 40, 100, 136, 182,
– schrift, digitale 101 186, 240
Codierung, Kodierung 102, 104, 106, 118, 120, „erste“ Sätze (s. Anfang, Axiom, Prinzip) 78, 88,
122f., 127f., 270, 290 92, 110, 291
Co-Evolution 266, 274, 277, 280 erste Philosophie (prima philosophia) 75
Common law 22, 50, 68, 82f., 174, 182, 221, Erwartung
260, 292 – normative 42–44, 66, 121, 127, 181, 190
communities of practice 32, 60, 293 – kognitive 42, 44, 66, 190

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Sachregister

– Sinnerwartung (Gadamer) 211, 215f., 220 – Allgemeinheit des Gesetzes 45, 51, 55, 150
– Erwartungsstrukturen 42 – vs. Gesetzesanwendung 51, 53, 64, 207, 212,
– Erwartungssicherheit 43, 121, 227, 294 224
– Verhaltenserwartung 42, 166, 244 Gesetzespositivismus 84, 150, 174, 182
Ethik 33, 46f., 49, 163, 170 Gesetzgebung 46, 63, 68–70, 85, 146, 151–153,
– Diskursethik 166f. 170, 172f., 175f., 180, 184, 198, 209, 260,
– kantische 46f., 49 289, 292, 295
– Nikomachische 14, 161 – politische 84, 155, 164, 175, 182, 206, 240
Evolution 101, 161, 184, 245, 251f., 255, 257, Gewalt 27, 29, 50, 82, 88f., 91, 121, 133, 135,
259–267, 270–275, 277f., 280f., 283, 287f., 151, 154f., 172, 178, 202, 223, 259f., 269
290, 292, 294, 297 – sanktionierte (s. Zwang, Rechtszwang, Impera-
– evolutionärer Zufall 92 tiv) 42, 49f., 121, 149, 151f., 155, 184
– Ideenevolution 77, 280, 287, 292 Grammatik 59, 192, 234f., 287
evolutionäre Errungenschaften 277 griechischer Stadtstaat (polis, poleis) 15, 75, 80,
Evolutionstheorie 16, 250, 261–268, 271, 274f., 158ff., 169f., 198, 259, 284
277, 280f., 285 Grundnorm (s. secondary rule) 7, 97f., 108, 112,
Expertise 132, 139, 148, 177, 180, 184, 209
– juristische 10, 12–14, 19, 26, 30, 60, 95, 170,
191, 256f., 272, 278, 289, 293, 296 Hermeneutik
– technische 127 – juristische 23, 192, 194, 210–218, 223–226,
– theoretische 145 229, 231–233, 235f., 241, 243
– philosophische 54, 143, 192, 210–216a
Folgerichtigkeit 91f., 99 hermeneutischer Zirkel 210f., 217, 219, 221
Formalismus (im Recht) 94, 252–254, 257f. Herrschaft 72, 88, 91f., 154, 164, 251
– empirischer 252f., 295 – legale 152f., 164
– logischer 252, 257 – traditionale 152, 249
– Wort- 253 Heterarchie, heterarchisch 7, 106, 129, 131, 140,
Freiheit, freier Wille 24, 29, 38, 45, 48, 50, 72, 182–185, 240, 244, 294
88ff., 96f., 107, 111, 145, 151, 174, 227, 276 Hierarchie 67, 75, 92, 99, 129, 132, 140, 146f.,
Freirechtsschule 97, 207 155, 162, 169, 180, 185, 254
Fremdreferenz – schema 16, 67, 77
– vs. Selbstreferenz 126f. – Leges- 159, 165
Funktion (des Rechts) 8, 43f., 120f., 128, 145, historische Rechtsschule 22f., 84, 86–89, 247f.,
238, 254, 273 251, 292
Humanismus 73, 278, 291
Gedächtnis 278f.
Gegenwart 117f., 141f., 179, 183, 246, 265, 279 iconic turn 295
Gemeinwesen (commonwealth) 79f., 80a, 164, 169 Idee 25, 27, 83
Genealogie 89, 94 – Ideengeschichte 27, 77, 82, 249
Gerechtigkeit 9, 12, 25, 29, 66, 75, 156, 160 (Di- – Gesamtidee 92, 96, 137, 292, 296
gesten), 161–163, 170f., 183, 199, 218f., 228, – Ideenevolution 77, 280, 287, 292
233, 236, 281 Imperativ (s. Zwang, Rechtszwang, Gewalt) 35f.,
– kommende 135 57 (Wittgenstein), 82 (Hobbes), 197, 252
– Tausch- 160, 162 – kategorischer Imperativ 33, 46–49
– verteilende (austeilende) 160ff. Imperativentheorie 35f., 82
Geschlossenheit 7, 126, 128 Interessenjurisprudenz 97, 207
– operative 112f., 115, 127 Interpretation (s. Auslegung)
– normative 42, 127, 190, 242 – canones der 196, 228
Gesellschaftsvertrag 24, 80, 80a, 81, 111, 116, – Elemente der 23, 196, 199
173 – grammatische 196, 203, 205
Gesetz (s. lex, nomos, Regeln) 1, 28, 30, 36, 45, – historische 196, 201, 230, 235f.
47ff., 52, 57, 72, 74, 76, 82, 125, 127, 132, – legale (s. Gesetzesinterpretation) 204
150f., 155, 159, 168, 170–173, 180, 191, 194, – objektive vs. subjektive 60, 205, 212, 215, 225
197, 200, 202, 204f., 207ff., 227, 230, 284f., – systematische 23, 68, 105, 196
292 – teleologische 196, 198f., 207
– allgemeines 45f., 48–53, 72, 76, 118, 150f., – Vollzugsform der 211, 216, 219, 230, 232
174, 219, 222ff. Iterierbarkeit, itérabilité, Iterabilität 131, 208

188
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Sachregister

Juristenrecht 31, 60, 158, 206, 259 69, 71, 76, 97ff., 108, 112, 118, 125–127,
– römisches 20, 30f., 68 132, 146–149, 154, 159, 165, 168, 177f., 180,
183, 185–188, 209, 218, 220ff., 226, 230,
Kodifikationsrecht 68, 70ff., 106 235, 237, 239, 242a, 254
knowing how vs. knowing that 188 Normentheorie 1, 3, 34, 37f., 41, 64f., 112
Kommunikation 10, 56, 59, 115f., 119a, 120, Normenpyramide (s. Rechtsordnung, Stufenbau
122, 133f., 145, 178f., 181, 185, 211, 234f., der) 67, 140
238f., 242, 253, 272, 282, 285, 297 Notationssystem 103
Konstruktion 39, 46, 80a, 81, 84, 86, 90, 96, 148,
200f., 203, 260 Operation 6f., 53, 57, 80, 108, 110, 113, 117ff.,
– vs. Interpretation 200f., 210, 213, 224 120, 125, 128ff., 134, 144f., 177, 179ff., 252,
Konvention, Konventionen 9b, 27, 32f., 40, 47, 262, 294
59, 71, 94, 127, 145, 149, 159, 170, 172ff., Oralität, oral 9a, 170, 281f., 286f.
185–190, 203, 234, 239–242, 260f., 268, – primäre 282
270, 273, 282, 284f., 289 Orthographie 101, 104
Kondensierung (condensation) 131, 208
Konditionalprogramm 34f., 37, 43f., 64, 125,, Pandekten 85
284 – Pandektenrecht 85, 205
– vs. Zweckprogramm 44 – Pandektenwissenschaft (s. Rechtspositivismus,
Konfirmierung (confirmation) 130f., 208 rechtswissenschaftlicher Positivismus) 85–87,
149, 254, 292f., 297
langue vs. parole 55f., 235, 283 Paradoxie, paradox 12, 50a, 99, 110, 132ff., 138f.,
legis actio 253 148, 153, 156, 185, 229, 232, 237, 285, 296
Letztbegründung 9, 54, 135, 213 – des Entscheidens 133, 139, 224, 226–229
lex (s. Gesetz) 69, 76, 159, 168, 171f., 221, 237 – der historischen Zeit 245
Lückenlosigkeit 69, 91, 99, 106 – Entfaltung der 133f.
– Entparadoxierung der 133, 228f., 236
mancipatio 253, 295 – Gründungs- 88, 133, 138f.
Medium, Medien 9a, 13, 30, 60, 66, 74, 100– Performanz, performativ (s. Sprache, Gebrauch
102, 104f., 116, 138, 143ff., 149, 181, 189, der) 56, 82, 102, 158f., 161, 235, 253, 281,
201, 211–214, 232, 242a, 245, 265ff., 266, 294
273, 277f., 280ff., 285, 289, 291, 293–295f. Philosophie
– Materialität des/der 102 – Begriff der 15, 75
mediale Spur 102 – praktische (philosophia civilis) 36, 45–49, 51,
Maschine (trivial/nicht-trivial) 59, 179, 202, 227, 55, 61, 79f., 92, 118, 135, 173
255 precedent 82
Metaphysik 75, 77–79, 151, 260 Positivismus
Modell – rechtswissenschaftlicher (s. Rechtspositivismus)
– Konkretisierungs- 194 17, 51, 81, 84f., 88f., 94, 107, 149–151,
– Anwendungs- und Subsumtions- 53, 65, 194f., 153f., 174, 194, 200–202, 206, 208
202, 204 Prinzip (Principien) 6, 22, 24ff., 29, 46f., 49, 50a,
mos maiorum 270 55, 67, 71, 75, 78, 90, 94, 110, 138, 156, 159,
236, 241, 253f., 259, 276, 283, 296
Naturrecht 24, 72, 75f., 118, 156–159, 163, 165,
169, 171–174, 182, 186, 259 Rationalität 23, 25, 72, 82, 93, 167, 173, 216,
Naturphilosophie (philosophia naturalis) 45, 73f., 224, 228, 238f., 240, 243, 252, 254, 260
77–79, 81–83, 85, 87f., 98, 107, 133, 157f., – formale vs. materiale 252, 256, 260
173, 200, 280, 290f. Recht
Naturzustand 80, 265 – jüdisches, altjüdisches, altisraelisches 158, 198,
nomos, nomoi (s. Gesetz, lex, Regeln) 256, 276, 284, 286
– vs. physis 76, 158f., 168, 170 – göttliches 159, 171
Normativität 38–41, 43, 60, 118, 149, 158, 182, – griechisches 76, 158f., 160f., 170, 198, 248,
187, 190, 193, 221f., 224, 233, 242 a 268, 283, 286, 289
– sachbestimmte 224, 233 – natürliches (s. Naturrecht) 24, 72, 75, 118,
Normbereich 222, 224 156ff., 159, 163, 165, 171–174, 182, 186
Norm, Normen (s. Regel, Gesetz, lex, nomos) 1–4, – positives, Positivität des 91, 93, 139, 168f.,
9, 30–33, 38f., 42, 44f., 52, 57f., 60–62, 66, 173f., 186

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Sachregister

– rationales 4, 252 re-entry 126


– römisches 17, 20–22, 30f., 37, 50, 68, 76, 85, Regel, Regeln (s. Normen, Gesetz, lex, nomos) 20f.,
152, 158f., 160, 166, 170, 193, 198, 200, 204, 23, 33, 37–47, 49, 53, 56–68, 71f., 76, 82, 91,
247–250, 253, 257f., 264, 268–270, 272, 93, 118, 130, 125, 139, 146f., 153, 165, 172,
280f., 286, 288ff., 295 185–189, 203, 209, 212, 217, 221, 227, 230,
– und Moral 25, 33, 49, 51, 151, 165, 178, 200 232, 234f, 237, 240ff., 242a, 243, 254, 282f.,
Rechtsbegriff 5, 21, 37, 68, 86, 88, 92, 159, 170, 297
235, 268 – bestände 32, 40, 47, 130, 146f., 185, 190, 203,
Rechtsdogmatik 9f., 13, 16, 19–23, 26, 31, 145, 224, 227, 233, 239f., 244, 268, 282–285, 289
191, 247, 267, 278, 297 – haftigkeit 49, 51, 56, 88, 170, 173, 222, 224,
Rechtsfortbildung 195 232, 240
Rechtsfolgen 37, 185 – juristische 30, 32, 39, 200
Rechtsgeltung 2 (Kelsen), 5 (Ehrlich), 9b, 30, 35, – mäßigkeit 32, 38, 45, 49, 58, 61, 65, 100
39 (Kelsen), 40, 97f. (Kelsen), 122, 146, 148 Regelverständnis
(Hart), 149, 151 (Kant/Savigny), 152 (Weber), – normatives 38–41, 60f., 190
153, 154 (Schmitt), 155, 157, 159, 163 – praktisches (praxeologisches) 60–63, 190
(Rawls), 164ff. (Habermas), 165 (Dreier/ Rekursion 120
Alexy), 168–175, 176f. (Kelsen), 178, 179– – rekursive Verknüpfung/Vernetzung 63, 65,
182 (Luhmann), 184f., 189f., 200 (Rechtspo- 117, 120, 129, 144, 179, 230, 262, 265
sitivismus) Richterrecht 31, 195, 233
Rechtsgeschichte 84, 245, 247–251, 258, 264,
266f., 277 Sachbereich 199, 206, 222, 242, 243
– romanistische 248f., 258 Schrift 13, 30, 32, 41, 82, 101f., 105, 125, 131,
– germanistische 248 145, 198, 211, 213, 263, 277f., 280ff., 285f.
Rechtslehre 24 u. 49ff. (Kant), 50a (Hegel), 221ff. – Buchstaben- 198, 284–287
(F. Müller), 256f., 276 – Alphabet- 14, 101, 103, 161, 280f., 285, 287
– reine (Kelsen) 1, 4, 7, 10, 39–42, 97ff., 108, – Druck- 102, 104f., 290, 296
132, 139, 148, 234 Sein vs. Sollen 2f., 5, 9, 39, 60, 177, 221, 234
Rechtsnormen 1f., 30–36, 39–42, 44, 52, 54, Selbstbeschreibung 1, 11f., 19f., 26, 75, 138,
60ff., 65, 67f., 66, 112, 118, 124f., 127, 130, 140f., 144f., 193, 271, 278
132, 134, 146, 155, 166, 176, 189, 191, – vs. Fremdbeschreibung 26
193ff., 200, 208f., 212, 221, 234, 237, 244, Selbstreferenz 126f., 243, 297
254, 259, 283 – vs. Fremdreferenz 126f.
– individuelle vs. generelle 52, 99, 209 Semantik (s. Wissen, bewahrenswertes) 20, 77, 96,
Rechtsordnung 1, 16, 19, 32, 35, 45, 49, 52, 67, 143, 249, 268, 292
80, 93, 98, 108, 112, 140, 148, 152, 154f., – der Zeit 141f., 145, 246
164, 168, 177f., 184, 198, 209, 213, 224, Souveränität 45 u. 81f. (Hobbes), 151 (Savigny),
231f., 234f., 241f., 278, 292, 294 154f. (v. a. C. Schmitt), 172 (Bodin)
Rechtsparadoxie Sprache 40f., 54–57, 59f., 61, 74, 82, 102, 105f.,
– Pflege der 133 109, 116, 119, 136, 144, 166f., 178, 192, 208,
Rechtsphilosophie 1, 9, 24–29, 50a (Hegel), 56, 211–214, 219f., 227, 234f., 263, 266, 269,
163, 174 u. 276 (Hegel), 293 280–283, 285
Rechtspositivismus 23, 83, 85f., 88, 90f., 93f., – Gebrauch der, Sprachgebrauch 59, 116, 167,
97ff., 108, 111, 118, 130ff., 137f., 150, 182, 192, 196, 219, 232, 235, 283
184, 200ff., 205, 207f., 211ff., 216a, 220f., Sprachphilosophie 16, 54, 56, 159, 211, 235, 294
224f., 228, 232, 243, 251, 254 Sprachspiel 54, 61, 240, 294
rechtswissenschaftlicher Positivismus 17, 84, 88f., Sprechakt 56, 117, 176, 235, 253, 281
149, 151, 174, 194, 201f., 206 Stabilität 35, 128, 222, 227, 259, 264
Rechtssatz 34f., 38, 41, 53, 199, 254 – dynamische 118, 121, 179, 241, 260, 262, 294
Rechtsetzung 93, 154, 166, 169, 176, 209, 212 stare decisis 82
Rechtssoziologie 8, 10, 16f., 36, 121, 251f., 270 Strukturänderungen 264, 266, 274f.
– frühe 3–5, 7, 9a, 122, 251 – unplanmäßige 264
Rechtsquelle 146–149, 151, 155, 164, 182, 184f., strukturelle Kopplung 116, 145, 227, 294
193, 195, 201, 203, 231, 247 Stufenbau
Rechtsquellenlehre 23, 146–149, 168, 175, 182, – der Rechtsordnung (s. Normenpyramide) 52,
184 67, 98f., 112, 140, 209, 231
Rechts- und Staatsphilosophie 27 Subsumtion 22, 51, 53, 194f., 202–204

190
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Sachregister

Subsumtionsautomat 202, 205, 226 Vernunft 9, 15, 47f., 50a, 54, 72, 83, 88, 96, 151,
– rechtspositivistischer 205 165, 167, 183, 213, 217, 228, 233, 236, 243,
Syllogismus 53, 211 245
– deduktiver 194, 202 – recht 165, 174
Symbol 55, 102, 181, 184f. Verstehen 23, 116, 178, 192, 204, 210, 213f.,
Symbolsysteme 102f. 217f., 247, 281
System – Geschichtlichkeit des Verstehens 210, 247
– begriff 22, 75f., 79, 85, 91, 96, 110, 140, 217, Volksgeist 95, 151, 182, 232, 248
271ff., 290 Voluntarismus 172, 259
– begriff, rechtspositivistischer 85, 88–91, 96, volonté genérale vs. volonté de tous 72
200f., 217, 254f., 292 Vorverständnis 23, 143, 215–220, 222, 224f.,
– bildung 83, 86, 90, 95, 100f., 107, 114, 131, 228, 236, 241
144, 200, 292
– denken 17, 68, 72, 83f., 90, 97, 99, 139, 173, Widerspruchsfreiheit 23, 69, 139
213, 292 Wiederholung 4, 7, 56, 58, 112, 118, 129–131,
– theorie 6–11, 42, 54, 66, 108–119, 126, 128– 208, 230, 282
133, 137f., 143ff., 179ff., 223, 242f., – erkennbare 130
261–273, 279 Willensfreiheit 89
– rationalität vs. Zweckrationalität 254 Wissen
– rekursives (s. dynamisches, nachbarschaftliches) – bewahrenswertes (s. Semantik) 20
7, 65, 120, 129, 131f., 137, 144, 179, 230, – sicheres (Gewissheit) 15, 63, 73, 76, 78, 107,
262, 273 208, 212133, 224
– dynamisches 7, 65, 98, 117, 119ff., 129–132, – implizites 186, 188f.
137, 140, 144, 179, 184, 262f., 273, 294 – praktisches (s. gemeinsames,
– nachbarschaftliches 7, 65, 120, 129, 180, 184, communities of practice) 13, 40, 186f., 189, 208
230 – gemeinsames (s. praktisches) 216, 234–237,
– polyzentrisches 231 240–244, 266, 282

Theorie (theória) 14, 16 Zeichen, Zeichenfestlegung 55f., 58f., 102, 104f.,


– Meta- 10, 26 109, 181, 210, 222, 225, 285
– vs. Praxis 15ff., 27, 58f., 229 – Willkür der 209
Zeit
Überlieferungszusammenhang 214f., 224f., 228, – zyklische 141
264 – lineare 141
Unentscheidbarkeit 72, 135, 225, 227ff., 234, 240 – Irreversibilität der 57, 208f., 216 a
Ungewissheit 63, 65, 99, 121, 142, 226f., 265 Zeitpunkt 57, 117–120, 134, 141, 143f., 179,
Universalpragmatik 217, 235 210, 246, 262, 268, 271
Unterscheidung (s. Differenz) Zeitstabilität, zeitstabil 7, 51f., 55, 61, 63, 65,
– Recht/Unrecht 9b, 11f., 118, 123f., 133 112, 118, 121, 136a, 180, 210, 284
– Selbstreferenz/Fremdreferenz 126f. Zivilrecht 66, 127, 187, 189, 196, 221, 289
– System/Umwelt 6, 12, 71, 108–111, 113, 126, – römisches 17, 158f., 248, 250, 253, 257f., 264,
128, 203, 232, 266, 294 268ff., 272, 280, 288
Zwang, Rechtszwang (s. Gewalt, staatlich sanktio-
Verfassungsrecht 37, 185, 231 nierte) 27, 36, 49f., 64, 151f., 178, 260

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https://doi.org/10.17104/9783406746154-187
Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:59:55.
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