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12 09:53 Seite 1
ISBN 978-3-942816-15-1
U2 FH 40_Fachheftreihe_FPG_Blau_Musterdokument 30.07.12 09:49 Seite 1
Die Beiträge in dieser Reihe geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder, die von der Herausgeberin
nicht in jedem Fall geteilt werden muss. Die Fachheftreihe ist als Diskussionsforum gedacht.
Herausgeberin
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Ostmerheimer Str. 220, 51109 Köln
Tel.: 0221/8992-0
Fax: 0221/8992-300
Projektleitung
Dr. Daniela Watzke
E-Mail: daniela.watzke@bzga.de
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist eine Fachbehörde im Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Gesundheit.
Auflage: 1.5.07.12
ISBN 978-3-942816-15-1
Band 40 der Fachheftreihe ist erhältlich unter der Bestelladresse BZgA, 51101 Köln,
und über Internet unter der Adresse http://www.bzga.de
Diese Broschüre wird von der BZgA kostenlos abgegeben. Sie ist nicht zum Weiterverkauf durch die Empfän-
gerin/den Empfänger oder Dritte bestimmt.
Bestellnummer: 60640000
Umbruch FH 40 (4-6-2012)_Fachheftreihe_FPG_Blau_Musterdokument 30.07.12 09:46 Seite 3
Vorwort
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ist nach Paragraf 2 des Transplantationsgeset-
zes mit der Aufklärung der Allgemeinbevölkerung zur Organ- und Gewebespende beauftragt. Diesen Auftrag
übt die BZgA in Kooperation mit Fachgesellschaften, Krankenhäusern, Ärzteverbänden sowie Selbsthilfegrup-
pen aus.
Mit der massiven Veränderung der Medienlandschaft in den letzten Jahren, zum Beispiel der deutlich gestie-
genen Bedeutung des Internets und sozialer Netzwerke als Informationsmedium, muss auch über eine neue
Herangehensweise an die Zielgruppe Allgemeinbevölkerung nachgedacht werden.
Aus diesem Grund hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung am 06.10.2010 die interdiszipli-
näre Expertentagung »Aufklärung zur Organ- und Gewebespende in Deutschland. Neue Wege in der Gesund-
heitskommunikation« ausgerichtet. In diesem Kontext haben Expertinnen und Experten aus den Bereichen
Medizin, Medienwissenschaft und Psychologie über verschiedene Kommunikationswege diskutiert. Hierbei
stand die Frage im Vordergrund, ob die Vermittlung von Informationen zur Organ- und Gewebespende nur
durch informierende Angebote möglich ist, oder ob dies auch zum Beispiel durch fiktionale Unterhaltungsan-
gebote geleistet werden kann. Es wurde diskutiert, inwieweit es mit fiktionaler Unterhaltung möglich ist, Ein-
stellungen und Verhaltensabsichten in Bezug auf die Organspendebereitschaft zu verändern, also persuasive
Wirkungen zu erzielen. Des Weiteren wurden u.a. folgende Fragen erörtert: Welche Wege der Gesundheitskom-
munikation können in Deutschland beschritten werden, um die Bevölkerung umfassend zu informieren und
dazu zu bewegen, einen Organspendeausweis auszufüllen? Welche ethischen Gesichtspunkte sind in der
Kommunikation via Medien zu bedenken? Wie soll mit emotionalen und provokativen Botschaften umgegan-
gen werden? Wie können bestehende Ängste in der Bevölkerung überwunden werden?
Band 40 der Fachheftreihe »Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung« dokumentiert die Beiträge
der Tagung und macht deutlich, welche Aspekte für eine erfolgreiche Aufklärungsarbeit zu berücksichtigen
sind.
Inhalt
Vorwort 3
Tagungsbeiträge 6
Vom »Geschenk des Lebens« bis zu »Du bekommst alles von mir – ich auch von dir?« –
Soziokulturelle Überlegungen und empirische Befunde zur öffentlichen Wahrnehmung
der Organspende
Sabine Wöhlke und Silke Schicktanz 23
Bedingungen für die Bereitschaft zur Organspende und das transtheoretische Modell
Karl-Heinz Schulz 40
Anhang 116
Tagungs-
beiträge
40
30
25
20
12 17
14
10
11
0
1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012
Jahre
Abb. 1: Aktive Akzeptanz (Bereitschaft, nach dem Tod Organe zu spenden) und Besitz eines Organspendeausweises. Daten der bundes-
weiten Repräsentativbefragungen der BZgA der Jahre 1999, 2000, 2001, 2008 und 2010.
zeigen und diese bereits zu Lebzeiten in einem Organ- gung »Einstellung, Wissen und Verhalten der deut-
spendeausweis bzw. durch die Mitteilung an die An- schen Allgemeinbevölkerung zur Organspende«5 zu
gehörigen zum Ausdruck gebracht haben. Durch den ermitteln, welches Wissen in der Allgemeinbevölke-
Abgleich dieses Profils mit dem von Personen, die rung zur Organ- und Gewebespende vorhanden ist
der Organ- und Gewebespende negativ oder unent- und welchen Einfluss der Faktor Wissen auf die Ein-
schlossen gegenüberstehen, lassen sich wichtige stellung und das Verhalten zur Organ- und Gewebe-
Erkenntnisse über die handlungsdeterminierenden spende hat.
Faktoren gewinnen.
Für den deutschsprachigen Raum ist nur wenig
über die Bedeutung des Faktors »Wissen« bekannt.4
Daher war es das Ziel der BZgA-Repräsentativbefra-
1 Aktive Akzeptanz bezeichnet die Bereitschaft, nach dem eigenen Tod Organe und Gewebe zu spenden.
2 Die Bereitschaft bzw. die Ablehnung, Organe zu spenden, wird als eine Form des Gesundheitsverhaltens definiert. Im Vergleich zu typi-
schen Bereichen wie zum Beispiel dem Rauchen gibt es für die Organspende eine Besonderheit. Einstellung und Verhalten liegen hier zeit-
lich deutlich voneinander getrennt, da es zur Umsetzung des Verhaltens erst durch den Eintritt des Tods kommt. Damit ist eine direkte
Umsetzung des Verhaltens bei den befragten Personen nicht direkt überprüfbar. Aus diesem Grund wird hier die geäußerte Bereitschaft
zur Organspende (aktive Akzeptanz) bzw. das Ausfüllen eines Organspendeausweises als ein zu Lebzeiten messbares Verhalten heran-
gezogen.
3 Gold et al. 2001, Morgan und Miller 2002, Morse 2009, Schweda und Schicktanz 2009, Krampen und Junk 2006, Keller et al. 2004, Hüb-
ner und Six 2005, Bunzel und Smeritsching 1999, Smith et al. 2008.
4 Vgl. zum Beispiel Bunzel und Smeritsching 1999, Meier et al. 2000.
5 Vgl. BZgA 2010.
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8 TAGUNGSBEITRÄGE
Dabei bedeuten:
Ermittlung des Wissensstands 17 bis 19 Punkte: Sehr gut informiert
14 bis 16 Punkte: Gut informiert
der Allgemeinbevölkerung
10 bis 13 Punkte: Mäßig informiert
0 bis 9 Punkte: Schlecht informiert
Frage: Man kann ja Organ- und Gewebespenderin Frage: Haben Sie mit Ihrer Familie und Freundin-
bzw. -spender werden, wenn man sich bereit erklärt, nen/Freunden über das Thema Organ- und Gewebe-
nach dem Tod seine Organe, zum Beispiel für Nieren-, spende gesprochen?
Leber- oder Herzverpflanzungen, oder seine Gewebe Ja
zur Verfügung zu stellen. Was halten Sie generell von Nein
Organ- und Gewebespende? Stehen Sie dem eher Keine Angaben
positiv oder eher negativ gegenüber? Weiß nicht
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10 TAGUNGSBEITRÄGE
Frage: Haben Sie Ihrer Familie und/oder Freundinnen/ Habe keine Zeit, mir einen zu besorgen.
Freunden Ihre persönliche Entscheidung für oder Ich weiß nicht, wo es die Ausweise gibt.
gegen eine Organ- und Gewebespende mitgeteilt? Bin zu krank oder zu alt, um Organspenderin bzw.
Ja -spender zu werden.
Nein Ich oder meine Angehörigen sind aus religiösen
Keine Angaben Motiven dagegen.
Weiß nicht Ich möchte selber auch kein Organ bekommen.
Man soll der Natur ihren Lauf lassen.
H5: »Wer gut bis sehr gut über das Thema Organ- Ich kann und will mich jetzt noch nicht entschei-
und Gewebespende informiert ist, hat keine Ängste den.
bezüglich der Organ- und Gewebespende. Ich fürchte den Missbrauch durch Organ-
handel.
Frage: Welche Gründe sprechen für Sie dagegen, sich Eine Organ- und Gewebespende entstellt meinen
einen Organspendeausweis zu besorgen? Körper.
Ich möchte mich mit dem Thema Tod nicht aus- Organe und Gewebe könnten vor meinem Tod ent-
einandersetzen. nommen werden.
Ich habe Angst, dass von den Ärztinnen und Ärz- Eine Organ- und Gewebespende stört die Toten-
ten nicht mehr alles für mich getan wird, wenn ein ruhe.
Organspendeausweis vorliegt. Sonstiges, und zwar ... Æ NOTIEREN
Habe keine Zeit, mir einen zu besorgen.
Ich weiß nicht, wo es die Ausweise gibt. H6: »Wer gut bis sehr gut über das Thema Organ-
Bin zu krank oder zu alt, um Organspenderin bzw. und Gewebespende informiert ist, beabsichtigt in
-spender zu werden. nächster Zeit, sich einen Organspendeausweis zu
Ich oder meine Angehörigen sind aus religiösen beschaffen.«
Motiven dagegen.
Ich möchte selber auch kein Organ bekommen. Frage: Haben Sie vor, sich den Organspendeausweis
Man soll der Natur ihren Lauf lassen. in den nächsten zwölf Monaten zu besorgen und aus-
Ich möchte kein Organ oder Gewebe spenden. zufüllen? Ganz sicher, vielleicht, eher nicht? Oder ist
Ich kann und will mich jetzt noch nicht entscheiden. das völlig ausgeschlossen?
Ich fürchte den Missbrauch durch Organhandel. Ganz sicher
Sonstiges, und zwar ... Æ NOTIEREN Vielleicht
Keine Angaben. Eher nicht
Völlig ausgeschlossen
Frage: Aus welchen Gründen haben Sie sich gegen Weiß nicht
eine Organspende entschieden? Keine Angaben
Ich möchte mich mit dem Thema Tod nicht ausei-
nandersetzen. H7: »Wer sich bereits mit dem eigenen Tod auseinan-
Ich habe Angst, dass von den Ärztinnen und Ärz- dergesetzt hat, ist bereit, Organe und Gewebe zu
ten nicht mehr alles für mich getan wird, wenn spenden.«
ein Organspendeausweis vorliegt.
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Frage: Wären Sie grundsätzlich damit einverstanden, Frage: Wenn man sich mit dem Thema Organ- und
dass man Ihnen nach Ihrem Tod Organe und Gewebe Gewebespende auseinandersetzt, muss man sich
entnimmt, oder wären Sie damit nicht einverstan- zwangsläufig mit dem eigenen Tod auseinanderset-
den? zen. Welche der folgenden Aussagen trifft auf Sie zu?
Einverstanden (Mehrfachnennungen sind möglich.)
Hilfsvariable: Spende ja Ich habe mich schon einmal mit meinem eigenen
Nicht einverstanden Tod auseinandergesetzt.
Hilfsvariable: Spende nein Ich habe schon einmal mit Familienangehörigen
Weiß nicht oder Freundinnen/Freunden über meinen Tod
Keine Angaben gesprochen.
Ich habe ein Testament.
Frage: Wenn man sich mit dem Thema Organ- und
Gewebespende auseinandersetzt, muss man sich Frage: In Deutschland gibt es eine sogenannte Pa-
zwangsläufig mit dem eigenen Tod auseinanderset- tientenverfügung. Darin werden Wertvorstellungen
zen. Welche der folgenden Aussagen trifft auf Sie zu? und Behandlungswünsche zum Ausdruck gebracht
(Mehrfachnennungen sind möglich.) für den Fall, dass die oder der Betroffene – vorüber-
Ich habe mich schon einmal mit meinem eigenen gehend oder dauerhaft – nicht mehr in der Lage ist,
Tod auseinandergesetzt. bezüglich einer medizinischen Behandlung ihre oder
Ich habe schon einmal mit Familienangehörigen seine Zustimmung oder Ablehnung direkt kundzu-
oder Freundinnen/Freunden über meinen Tod tun. Sind Sie im Besitz einer solchen Patientenver-
gesprochen. fügung?
Ich habe ein Testament. Ja
Nein
Frage: In Deutschland gibt es eine sogenannte Weiß nicht
Patientenverfügung. Darin werden Wertvorstellungen Keine Angaben
und Behandlungswünsche zum Ausdruck gebracht
für den Fall, dass die oder der Betroffene – vorüber- H9: »Wer das Hirntodkonzept verstanden hat, hat
gehend oder dauerhaft – nicht mehr in der Lage ist, keine Angst vor einer vorzeitigen Organ- und Gewebe-
bezüglich einer medizinischen Behandlung ihre oder entnahme.«
seine Zustimmung oder Ablehnung direkt kundzu-
tun. Haben Sie eine solche Patientenverfügung? Frage: Was versteht man Ihrer Meinung nach unter
Ja dem Begriff Hirntod?
Nein Einen komaartigen Zustand, aus dem man gele-
Weiß nicht gentlich, aber nicht immer, wieder erwachen kann.
Keine Angaben Den nicht wiederherstellbaren Ausfall aller Hirn-
funktionen.
H8: »Wer gut bis sehr gut über das Thema Organ- Eine Gehirnschädigung, bei der nur die denkenden
und Gewebespende informiert ist, hat sich mit dem und fühlenden Funktionen ausgefallen sind.
eigenen Tod auseinandergesetzt.« Ich kenne die Bedeutung des Begriffs nicht.
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12 TAGUNGSBEITRÄGE
Frage: Kann eine hirntote Person wieder ein norma- Ich oder meine Angehörigen sind aus religiösen
les Leben führen? Motiven dagegen.
Ja Ich möchte selber auch kein Organ bekommen.
Mit Einschränkungen Man soll der Natur ihren Lauf lassen.
Nein Ich kann und will mich jetzt noch nicht entschei-
Weiß nicht den.
Ich fürchte den Missbrauch durch Organhandel.
Frage: Welche Gründe sprechen für Sie dagegen, sich Eine Organ- und Gewebespende entstellt meinen
einen Organspendeausweis zu besorgen? Körper.
Ich möchte mich mit dem Thema Tod nicht aus- Organe und Gewebe könnten vor meinem Tod
einandersetzen. entnommen werden.
Ich habe Angst, dass von den Ärztinnen und Ärz- Eine Organ- und Gewebespende stört die Toten-
ten nicht mehr alles für mich getan wird, wenn ein ruhe.
Organspendeausweis vorliegt. Sonstiges, und zwar ... Æ NOTIEREN
Habe keine Zeit, mir einen zu besorgen. Keine Angaben
Ich weiß nicht, wo es die Ausweise gibt.
Bin zu krank oder zu alt, um Organspenderin bzw.
-spender zu werden.
Ich oder meine Angehörigen sind aus religiösen Ergebnisse der Wissens-
Motiven dagegen.
standsermittlung
Ich möchte selber auch kein Organ bekommen.
Man soll der Natur ihren Lauf lassen.
Ich möchte kein Organ oder Gewebe spenden.
Ich kann und will mich jetzt noch nicht entschei- Für alle Fragen der Wissensstandserhebung wur-
den. den die Antworten der kompletten Grundgesamtheit
Ich fürchte den Missbrauch durch Organhandel. (N = 4001) herangezogen.
Sonstiges, und zwar ... Æ NOTIEREN
Keine Angaben Möglichkeiten der Dokumentation der Organ-
und Gewebespendebereitschaft
Frage: Aus welchen Gründen haben Sie sich gegen In Deutschland kann die Entscheidung zur Organ-
eine Organspende entschieden? und Gewebespende in einem Organspendeausweis
Ich möchte mich mit dem Thema Tod nicht aus- dokumentiert werden. Diese Möglichkeit ist den
einandersetzen. meisten Befragten (93%) bekannt. Die Option, den
Ich habe Angst, dass von den Ärztinnen und Ärz- Angehörigen die eigene Entscheidung zur Organ- und
ten nicht mehr alles für mich getan wird, wenn ein Gewebespende mitzuteilen, sodass diese im Todes-
Organspendeausweis vorliegt. fall ihre Festlegung gegenüber den Ärzten und Ärz-
Habe keine Zeit, mir einen zu besorgen. tinnen vertreten können, ist einem deutlich geringe-
Ich weiß nicht, wo es die Ausweise gibt. ren Anteil der Befragten bekannt.
Bin zu krank oder zu alt, um Organspenderin bzw. Nicht zutreffend war die Vorgabe »Durch Eintrag in
-spender zu werden. ein Spenderregister«, die von über zwei Dritteln der
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Wie kann man in Deutschland festlegen, Aufklärung genießt. In der gleichen Erhebung gaben
61% der Befragten an, bevorzugt mit ihrem Arzt oder
dass man nach seinem Tod Organe und
ihrer Ärztin über das Thema Organ- und Gewebe-
Gewebe spenden will? (Mehrfachnen- spende sprechen zu wollen.9
nungen möglich) Damit kommt dieser Gruppe eine wichtige Funk-
tion als Multiplikator in der Aufklärungsarbeit zur
Durch den Eintrag in ein Spenderregister 67%
Organ- und Gewebespende zu.
Durch Ausfüllen eines Organspendeaus- 93%
weises Regelungen des Transplantationsgesetzes (TPG)
8 BZgA 2010. 97% der Befragten war die Existenz des Organspendeausweises bekannt, lediglich 3 % kannten dieses Dokument nicht.
9 BZgA 2010. Auf die Frage »An wen würden Sie sich wenden, wenn Sie mit jemandem über das Thema Organ- und Gewebespende sprechen
wollten?«, nannten 61% der Befragten den Arzt bzw. die Ärztin und 27% den Partner bzw. Angehörige.
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14 TAGUNGSBEITRÄGE
befürchten und 33 % die Angst äußern, dass im Fall die Angehörigen nach dem mutmaßlichen Willen der
der Fälle nicht mehr alles medizinisch Machbare für verstorbenen Person entscheiden. Ist dieser nicht
sie getan wird.10 bekannt, entscheiden die Angehörigen nach ihren
Vorstellungen.
Voraussetzungen für eine Organ- und Gewebeent- Die meisten Befragten (85%) kennen die Rege-
nahme lung, dass für eine Organ- und Gewebeentnahme die
In Deutschland kann nur dann eine Organ- und Zustimmung der betroffenen Person vorliegen muss.
Gewebeentnahme vorgenommen werden, wenn der Die Möglichkeit, das Einverständnis im Todesfall via
Hirntod festgestellt wurde und wenn der Spender Angehörige einzuholen, ist allerdings nur zwei Drit-
bzw. die Spenderin einer Entnahme zu Lebzeiten teln (67%) der Bevölkerung geläufig.
zugestimmt hat (entweder schriftlich, zum Beispiel Dass jemand automatisch zur Organspenderin
in einem Organspendeausweis, oder mündlich durch bzw. zum -spender wird, wenn er nicht zu Lebzeiten
Mitteilung an die Angehörigen). widersprochen hat, vermuten immerhin 17 % der
Ist die Entscheidung der verstorbenen Person zur Gesamtbevölkerung.
Organ- und Gewebespende nicht bekannt, so sollen
Beschränkung der Organ- und Gewebeentnahme/
Rücknahme des Entschlusses zur Organ- und Gewe-
bespende
Welche Regelung gibt es in Deutschland,
Etwa drei Viertel (77%) aller Befragten wissen,
um Organe und Gewebe nach dem Tod dass die Organ- und Gewebeentnahme auf bestimm-
entnehmen zu dürfen? (Mehrfachnen- te Organe und Gewebe beschränkt werden kann.
nung möglich) Einem Großteil (86%) der Bevölkerung ist bekannt,
dass man seinen Entschluss zur Organ- und Gewebe-
Man muss einer Organ- und Gewebeent- 85% spende rückgängig machen kann.
nahme selber zugestimmt haben.
90 9 1
Ja Organ- und Gewebehandel
Nein Ein Großteil der Befragten (87%) weiß, dass Organ-
Weiß nicht/Keine Angaben und Gewebehandel in Deutschland nicht erlaubt ist.
Gesamt (N = 4001) Das Transplantationsgesetz verbietet nach § 18 den
Handel mit Organen und Geweben. Wer Organe und
Gewebe gegen Geld oder Geldwert entnimmt oder
Befragung ausgeschlossen werden. Allerdings hat vermittelt, überträgt oder sich übertragen lässt, wird
die Berichterstattung um diesen Vorgang generell mir einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder
das Thema Organspende verstärkt ins Bewusstsein einer Geldstrafe bestraft.
der Allgemeinbevölkerung getragen.
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16 TAGUNGSBEITRÄGE
Ist Organ- und Gewebehandel in ab, sich weiter mit dem Thema Organ- und Gewebe-
spende auseinanderzusetzen und eine eigene Ent-
Deutschland erlaubt?
scheidung zu treffen.
9 87 3
Vermittlung von in Deutschland entnommenen
Ja Organen
Nein In Deutschland werden gespendete Organe an die
Weiß nicht/Keine Angaben
Stiftung Eurotransplant in den Niederlanden gemel-
Gesamt (N = 4001)
det und von dieser Organisation nach genau definier-
ten Kriterien an Empfängerinnen und Empfänger
der Länder des Eurotransplant-Verbundes (Belgien,
Altersgrenze für die Organ- und Gewebespende Niederlande, Luxemburg, Deutschland, Slowenien,
Lediglich 43 % der Befragten ist bekannt, dass es österreich und Kroatien) vermittelt. Fast zwei Drit-
keine Altersbegrenzung für eine Organ- und Gewebe- teln (64%) aller Befragten ist dies bekannt.
entnahme gibt.
Dieses Ergebnis korrespondiert mit den Erfahrun-
gen des Infotelefons Organspende: Eine der am Welche Aussage ist richtig? In Deutsch-
häufigsten gestellten Fragen ist die nach einer Alters- land entnommene Organe werden ...?
grenze für die Organ- und Gewebespende. Es exis-
tiert prinzipiell keine kalendarische Altersgrenze für
14 16 64
eine Organ- und Gewebespende; was zählt, ist der
biologische Zustand des Organs.11 ... an in Deutschland lebende Personen vermittelt
... weltweit vermittelt
Die irrtümliche Annahme nach einer fest definier-
... durch Eurotransplant an die Länder vermittelt,
ten Altersgrenze hält nach Erfahrungen aus Informa- die dem Verbund angehören
tionsgesprächen vor allem ältere Menschen davon Gesamt (N = 4001)
Kann man sich nach der Organ- und In Deutschland gilt als Kriterium für die
Gewebeentnahme von der verstorbenen mögliche Organ- und Gewebeentnahme
Person verabschieden? das Vorliegen ...?
68 24 8 70 21 4 5
Ja … des Hirntods
Nein … des Herztods
Weiß nicht/Keine Angaben … des Komas
Gesamt (N = 4001) Weiß nicht/Keine Angaben
Gesamt (N = 4001)
18 TAGUNGSBEITRÄGE
Gibt es Ihrer Meinung nach in Deutsch- Wie hoch ist Ihrer Meinung nach die
land genügend Organe und Gewebe für Wahrscheinlichkeit, dass ein Patient
Patientinnen und Patienten, die auf ein bzw. eine Patientin nach der Übertra-
neues Organ bzw. Gewebe warten? gung einer Niere fünf Jahre nach der
OP noch gut mit diesem Organ lebt?
12 86 1
Ja 6 32 49 12
Nein 20 bis 40 %
Weiß nicht/Keine Angaben 40 bis 60 %
Gesamt (N = 4001) 60 bis 80 %
80 bis 100 %
Gesamt (N = 4001)
Wie lange wartet im Allgemeinen in
Deutschland Ihrer Meinung nach eine
Patientin bzw. ein Patient auf eine Spen- Verständnis Hirntod
Auf die Frage: »Kann eine hirntote Person wieder
derniere?
ein normales Leben führen?« antworten 14% der
Gesamtbevölkerung mit »Ja« bzw. »Mit Einschrän-
1 14 51 30
kungen«. Damit ist der deutlichen Mehrheit der
Keine Wartezeit, da ausreichend Organe vorhanden Befragten klar, dass der Hirntod den Tod des Men-
Weniger als 1 Jahr
schen darstellt.
3 Jahre
5 bis 7 Jahre
Gesamt (N = 4001)
Kann eine hirntote Person wieder ein
normales Leben führen?
Erfolgsaussichten der Transplantation
Insgesamt liegt die sogenannte Fünf-Jahres- 85 1
2 12
Transplantationsrate nach einer Nierentransplanta-
Ja
tion in Deutschland bei 72,7%.12 Ein Patient bzw. eine
Mit Einschränkungen
Patientin hat eine 60- bis 80-prozentige Wahrschein-
Nein
lichkeit, fünf Jahre nach der Operation noch gut mit Weiß nicht/Keine Angaben
einer postmortal gespendeten Niere zu leben. Diese
Gesamt (N = 4001)
Tatsache ist ungefähr der Hälfte (49%) aller Befrag-
ten bekannt. Circa ein Drittel (32%) der Bevölkerung
sieht diese Chance allerdings nur bei 40 bis 60 %.
Ergebnisse der Wissensstandserhebung – H5: »Wer gut bis sehr gut über das Thema Organ-
Bei richtiger Beantwortung aller Fragen konnten und Gewebespende informiert ist, hat keine
maximal 19 Punkte erzielt werden. Sehr gut infor- Ängste bezüglich der Organ- und Gewebespende.
miert: 17 bis 19 Punkte. Gut informiert: 14 bis 16 – H7: »Wer sich bereits mit dem eigenen Tod ausei-
Punkte. Mäßig informiert: 10 bis 13 Punkte. Schlecht nandergesetzt hat, ist bereit, Organe und Gewebe
informiert: 0 bis 9 Punkte. zu spenden.«
– H8: »Wer gut bis sehr gut über das Thema Organ-
spende informiert ist, hat sich mit dem eigenen
Informiertheit Tod auseinandergesetzt.«
– H9: »Wer das Hirntodkonzept verstanden hat,
8 44 39 9 hat keine Angst vor einer vorzeitigen Organ- und
Gewebeentnahme.«
Sehr gut
Gut
Mäßig Folgende Hypothesen wurden nicht bestätigt:
Schlecht H6: »Wer gut bis sehr gut über das Thema Organ-
Gesamt (N = 4001) und Gewebespende informiert ist, beabsichtigt in
nächster Zeit, sich einen Organspendeausweis zu
beschaffen.«
Die Auswertung der Wissensstandserhebung Die Hypothese H3: »Wer gut bis sehr gut über das
zeigt, dass 8 % der Befragten sehr gut und 44% gut Thema Organ- und Gewebespende informiert ist, hat
informiert sind. Knapp die Hälfte (48%) der Befrag- einen Organspendeausweis ausgefüllt« konnte nicht
ten sind demnach mäßig (39%) bis schlecht (9%) mit statistischer Signifikanz bestätigt werden.
über das Thema Organ- und Gewebespende infor- Wer sehr gut über das Thema Organ- und Gewebe-
miert. spende informiert ist, ist bei denjenigen unterreprä-
sentiert, die sich ganz sicher in nächster Zeit einen
Ergebnis der Hypothesentestung Organspendeausweis besorgen wollen. Diejenigen
Folgende Hypothesen konnten bestätigt werden: hingegen, die schlecht informiert sind, sind überre-
– H1: »Wer gut bis sehr gut über das Thema Organ- präsentiert.
und Gewebespende informiert ist, hat eine posi- Anhand des Ergebnisses der Wissensstandserhe-
tive Einstellung zur Organ- und Gewebespende bung sowie der Hypothesentestung lassen sich
(passive Akzeptanz).« folgende »Profile« erstellen:
– H2: »Wer gut bis sehr gut über das Thema Organ-
und Gewebespende informiert ist, ist bereit, seine Merkmale von gut bis sehr gut informierten Personen
Organe und Gewebe zu spenden (aktive Akzep- – Positive Einstellung zur Organ- und Gewebe-
tanz).« spende (passive Akzeptanz).
– H4: »Wer gut bis sehr gut über das Thema Organ- – Sind bereit, Organe und Gewebe zu spenden
und Gewebespende informiert ist, hat einen (aktive Akzeptanz).
Organspendeausweis ausgefüllt und mit seinen – Haben mit ihren Angehörigen über die Entschei-
Angehörigen über das Thema Organ- und Gewebe- dung zur Organ- und Gewebespende gesprochen.
spende gesprochen.«
Umbruch FH 40 (4-6-2012)_Fachheftreihe_FPG_Blau_Musterdokument 30.07.12 09:46 Seite 20
20 TAGUNGSBEITRÄGE
– Wer sehr gut informiert ist, besitzt in der Regel nuierlicher Informationsbereitstellung und das Ange-
einen Organspendeausweis; von den gut infor- bot einer personalen Kommunikation (zum Beispiel
mierten Personen besitzen ein Drittel einen Organ- über das Infotelefon Organspende) die Organ- und
spendeausweis. Gewebespendebereitschaft positiv beeinflusst wer-
– Haben keine Ängste bezüglich der Organ- und den kann.
Gewebespende (Angst, dass nicht mehr alles Die Ergebnisse der Wissensstandserhebung bele-
medizinisch Machbare getan wird, Angst vor gen, dass der Faktor Wissen sehr wohl einen Einfluss
Organhandel). auf die Entscheidung zur Organ- und Gewebespende
– Haben sich mit dem eigenen Tod auseinander- hat, aber nicht der allein ausschlaggebende Faktor
gesetzt und sind bereit, Organe und Gewebe zu ist, der Menschen dazu bewegt, eine positive Ein-
spenden. stellung zur Organ- und Gewebespende in gleichge-
– Haben das Hirntodkonzept verstanden und keine richtetes Handeln (Ausfüllen eines Organspende-
Angst, dass die Ärztinnen und Ärzte nicht mehr ausweises bzw. Mitteilung der Entscheidung an die
alles medizinisch Machbare für sie tun. Angehörigen) umzusetzen. So sind gut informierte
Personen, die noch Ängste in sich tragen, nicht un-
Merkmale von mäßig bis schlecht informierten bedingt bereit, einen Organspendeausweis aus-
Personen zufüllen.
– Haben eher eine negative Einstellung zur Organ- Um dem Ziel, dass möglichst jeder Mensch eine
und Gewebespende (geringe passive Akzeptanz). Entscheidung zur Organ- und Gewebespende trifft,
– Sind nicht bereit, Organe und Gewebe zu spenden näherzukommen, müssen zukünftig mehr Anstren-
(geringe aktive Akzeptanz). gungen auf die Behebung derjenigen Wissensdefizite
– Haben eher nicht mit ihren Angehörigen über die verwendet werden, die zu einer Ablehnung der Organ-
Entscheidung zur Organ- und Gewebespende und Gewebespende (Anti-Donation) führen.13 Offen-
gesprochen. bar setzt die Dokumentation der Entscheidung für
– Besitzen keinen Organspendeausweis. eine Organ- und Gewebespende eine hohe positive
– Haben eher Ängste, dass nicht mehr alles medizi- Einstellung gegenüber der Thematik voraus (Pro-
nisch Machbare für sie getan wird, und fürchten donation).14
den Organhandel. Welche Bedeutung haben diese Ergebnisse für die
– Haben sich noch nicht mit dem eigenen Tod aus- Aufklärungsarbeit? Bestimmte Informationen, wie
einandergesetzt. die im Transplantationsgesetz niedergelegten Rege-
lungen zu den Abläufen einer Organ- und Gewebe-
Zusammenfassung spende, müssen verstärkt kommuniziert werden, um
Die Untersuchungsergebnisse geben wichtige Hin- die Menschen zu informieren und damit bestehende
weise für ein besseres Verständnis des Organspen- Ängste abzubauen und das Vertrauen in die Organ-
deverhaltens und bestärken die Vermutung, dass und Gewebespende zu stärken. Die BZgA greift in
durch gezielte Aufklärungsarbeit in Form von konti- ihrer aktuellen Kampagne zur Organ- und Gewebe-
13 Siehe hierzu auch die Ausführungen von Karl-Heinz Schulz in diesem Fachheft (S. 40).
14 Vgl. hierzu Parisi und Katz 1986.
Umbruch FH 40 (4-6-2012)_Fachheftreihe_FPG_Blau_Musterdokument 30.07.12 09:46 Seite 21
spende mit dem Titel »ORGANPATEN werden«15 diese Gold, S. M., Schulz, K.-H., Koch, U. (2001): Der Organ-
Ängste auf und versucht, durch eine Kombination spendeprozess: Ursachen des Organmangels und
aus personeller Kommunikation und Informations- mögliche Lösungsansätze. Forschung und Praxis
bereitstellung die Menschen zu informieren, vor- der Gesundheitsförderung, Band 13. Bundeszen-
handene Ängste abzubauen und die Menschen zu trale für gesundheitliche Aufklärung, Köln.
befähigen, eine Entscheidung zur Organ- und Gewe- Hübner, G., Mohs, A. (2011): The role of implicit atti-
bespende treffen zu können. tudes and attitude strength in predicting organ
Die kontinuierliche Fortführung der Wissens- donation behavior. Psychology and Health (sub-
standserhebungen wird die Kampagne begleiten und mitted paper).
damit sicherstellen, dass die Botschaften der Kam- Hübner, G., Six, B. (2005): Einfluss ethischer Über-
pagne dem Informationsbedürfnis der Bevölkerung zeugungen auf das Organspendeverhalten: ein
kontinuierlich angepasst werden. Durch dieses Vor- »Erweitertes Modell der Organspende«. Zeitschrift
gehen kann langfristig das Profil von spendebereiten für Gesundheitspsychologie, 13, S. 118–125.
Personen vervollständigt und die Aufklärungsarbeit Keller, S., Bölting, K., Kaluza, G., Schulz, K.-H., Ewers,
optimiert werden. H., Robbins, M. L., Basler, H. D. (2004): Bedingun-
gen für die Bereitschaft zur Organspende. Zeit-
schrift für Gesundheitspsychologie, 12, S. 75–84.
Krampen, G., Junk, H. (2006): Analyse und Förde-
rung der Organspendebereitschaft bei Studieren-
Literatur den. Eine Erkundungsstudie auf der Basis des
Handlungstheoretischen Persönlichkeitsmodells.
Zeitschrift für Gesundheitspsychologie, 14, 2006,
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung S. 1–10.
(2010): Wissen, Einstellung und Verhalten der All- Meier, D., Kuhlencordt, R., Clausen, C., Rogiers, X.
gemeinbevölkerung zur Organspende. Zentrale (2000): Effects of an educational segment con-
Ergebnisse der BZgA-Repräsentativbefragung cerning organ donation and transplantation.
2010. Internet: http://www.bzga.de/presse/hinter- Transplantation Proceedings, volume 32, issue 1,
grundinformationen. pp. 62–63.
Bunzel, B., Smeritschnig, B. (1999): Einstellungen Morgan, S. E., Miller, J. (2002): Beyond the organ
und Bedenken zum Thema Organtransplantation – donor card: The effect of knowledge, attitudes, and
eine Erhebung bei Medizinstudentlnnen. Acta Chir values on willingness to communicate about
Austriaca, Heft 2, 1999, S. 111–116. organ donation to family members. Health Com-
DSO (2009): Jahresbericht Organspende und Trans- munication, 14, pp. 121–134.
plantation in Deutschland. Frankfurt am Main. Morse, C. R. (2009): Religiosity, anxiety, and dis-
Gabler S., Häder S. (1997): Überlegungen zu einem cussions about organ donation: understanding
Stichprobendesign für Telefonstichproben in a complex system of associations. Health Commu-
Deutschland. ZUMA-Nachrichten, 41, S. 7–18. nication, 24:2, 2009, pp. 156–164.
15 Vgl. hierzu die Ausführungen von Johanna Merkel in diesem Fachheft (S. 68).
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22 TAGUNGSBEITRÄGE
VOM »GEScHENK DES LEBENS« BIS ZU »DU BEKOMMST ALLES VON MIR – IcH AUcH VON DIR?« 23
16 Das Kapitel fasst wesentliche Ergebnisse zur öffentlichen Einstellung gegenüber der Organtransplantation zusammen, die bereits in
englischsprachigen Zeitschriften publiziert wurden: Schicktanz und Schweda 2009, Schicktanz 2009a, Schicktanz, Schweda und Fran-
zen 2008, Schweda, Schicktanz und Wöhlke 2009a, Schweda und Schicktanz 2009, Schweda und Schicktanz 2008. Des Weiteren wer-
den vorläufige Ergebnisse einer noch laufenden Studie speziell zur Lebendorganspende zusammengefasst.
Umbruch FH 40 (30-8-2012)_Fachheftreihe_FPG_Blau_Musterdokument 30.08.12 07:56 Seite 24
24 TAGUNGSBEITRÄGE
Perspektiven ebenso wichtig wie die inhaltliche der gesellschaftlichen und individuellen Realität auf-
Diskussion um die Organspende. Daher soll in die- zeigen. Während quantitative Forschungsmethoden
sem Kapitel vor allem auf diese Perspektiven aus auf die Perspektive abzielen »Wer vertritt die Mei-
soziokultureller und empirischer Sicht eingegangen nung X«, zielen qualitative Forschungsmethoden auf
werden. die Eruierung der argumentativen Ebene ab; sie fra-
Dafür erscheinen folgende drei Fragestellungen gen eher nach dem Warum.
relevant: Auch aus ethischer und politischer Sicht ist es
– Inwiefern muss Organ-»spende« im sozialen wichtig anzuerkennen, dass »Äußerungen derselben
Handlungskontext von Reziprozität und archa- Realitäten in unterschiedlichen, manchmal unverein-
ischen Modellen von Gabe-Gegengabe gesehen baren Diskursen« (Bourdieu 1998, S. 17) münden
werden? können und damit zugleich in einer pluralen Gesell-
– Welche Rolle spielen Körperverständnisse für schaft etwas Gängiges sind. Dass Patientinnen und
Laien und Betroffene? Patienten sowie Laien in komplexen bioethischen
– Welche Unsicherheiten und Ambivalenzen zeigen Fragen auch Inkohärenzen, Ambivalenzen und mora-
sich bei Laien und Betroffenen hinsichtlich des lische Unsicherheit zeigen, ist dabei nicht als Beleg
Hirntodkonzepts? für deren »Inkompetenz« zu werten, denn Unein-
deutigkeiten lassen sich zumindest auch am Anfang
Die folgenden Ausführungen basieren auf theore- jedes Expertendiskurses beobachten (Schicktanz
tischen Überlegungen und empirischen Befunden zu 2009b, S. 231). Empirische Studien zu bioethisch
diesen drei Fragen. umstrittenen Fragen helfen, mehr Kontextsensitivität
zu schaffen (Musschenga 2005, Krones 2008).
Diese Herangehensweise versteht sich als empiri-
sche Ethik.
Unsere Untersuchungen zielen auf die Erhebung
Methodisches Vorgehen für von Einstellungen und Meinungen zum Thema Organ-
spende sowie die dazugehörigen motivationalen
die Analyse der Laien- und
Hintergründe ab. Diese Hintergründe können rein
Patientenperspektive individuell sein, werden zum Teil jedoch auch gesell-
schaftlich, das heißt soziokulturell, geprägt. Um die
Vielfalt und die Tiefe der kulturellen Implikationen,
Gerade für ein vertieftes, kritisches Verständnis, Konnotationen und Kontexte herauszuarbeiten,
warum in Deutschland eine verhältnismäßig geringe bietet sich aus der breiten Palette qualitativ sozial-
aktive Bereitschaft existiert, Organe zu spenden, ist empirischer Methoden gerade die sogenannte Fokus-
es wichtig, den inhaltlichen Argumenten, Positionen gruppendiskussion an.
sowie Unsicherheiten von direkt oder indirekt Betrof- Bei dieser Methode handelt es sich um moderierte,
fenen genauer nachzugehen. Besonders hilfreich leitfadengestützte Gruppendiskussionen mit acht
hierfür haben sich Methoden der qualitativen empiri- bis zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmern (Morgan
schen Forschung erwiesen, da sie im Komplex von 1997, Bohnsack 2003).
Gesundheit, Krankheit und Tod ein Bild ermöglichen, Fokusgruppendiskussionen erlauben besonders
die Verknüpfungen, Ambivalenzen und Differenzen eine Analyse argumentativer Aspekte. Im Gegensatz
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VOM »GEScHENK DES LEBENS« BIS ZU »DU BEKOMMST ALLES VON MIR – IcH AUcH VON DIR?« 25
dazu zielen biografische Interviews vor allem auf gern sowie drei Fokusgruppen mit Spenderinnen
Positionen, Meinungen und vorgebrachte Argumente und Spendern einer Lebendnierentransplantation –
Einzelner ab. Die Heterogenität der Gruppe und der ebenfalls zum Thema Organspende – befragt. Bei
Fokus der Themen bewirken zudem fast immer, der Zusammensetzung aller Gruppen wurden bei
dass nicht alle sofort einheitlich einer Meinung sind, der Rekrutierung auf soziodemografische Faktoren
sondern sie sich erst diskursiv auf verschiedene geachtet, sodass die Gruppen ausgewogen nach
Aspekte verständigen müssen bzw. sich gegenseitig Alter, Geschlecht, Religion und Bildungsstand zusam-
hinterfragen. Unsere Analyse stützt sich auf die mengesetzt wurden. Als »Laie« wurde eine Person
Auswertung von insgesamt 14 anderthalb- bis zwei- klassifiziert, wenn weder die Person selbst noch eine
stündigen Fokusgruppendiskussionen aus zwei auf- nahestehende Verwandte oder ein nahestehender
einander aufbauenden Forschungsprojekten: Verwandter bisher konkrete Erfahrungen mit dem
I. Insgesamt acht Fokusgruppendiskussionen mit Thema Organspende gemacht hatte.
Laien und Betroffenen zum Thema Organtrans- Die Fokusgruppen wurden auf ein Speicherme-
plantation allgemein in Deutschland, den Nieder- dium mitgeschnitten und anschließend wortwörtlich
landen, Schweden und Zypern (N = 166), im Zeit- transkribiert, für den europäischen Vergleich danach
raum von 2005 bis 2006 durchgeführt und in die englische Sprache übersetzt. Die mehrstufige
anschließend analysiert und publiziert.17 Analyse erfolgte gemäß zuvor definierten Untersu-
II. Insgesamt sechs Fokusgruppendiskussionen chungskategorien nach der qualitativen Inhaltsana-
(N = 47) und 27 Einzelinterviews in Deutschland lyse (Mayring 2003). Außerdem wurden auf Basis
nur mit Betroffenen (Empfängerinnen und Emp- der Grounded Theorie (Strauss und corbin 1990)
fänger sowie Spenderinnen und Spender einer zusätzlich interpretative Konzepte induktiv entwi-
Lebendnierentransplantation), im Zeitraum von ckelt.
2008 bis 2009 durchgeführt und derzeit analy- Die deduktive sowie induktive Kodierung entlang
siert.18 von zentralen Kategorien und Themen erfolgte unter
Zuhilfenahme einer speziellen sozialwissenschaft-
In der EU-Studie (I) wurden in jedem Land jeweils lichen Software (ATLAS.ti) (Winkelhage et al. 2008).
eine Fokusgruppe mit Laien und jeweils eine mit Die qualitative Inhaltsanalyse konzentrierte sich auf
Betroffenen (vor allem Empfängerinnen und Empfän- gemeinsame Argumentationslinien (zum Beispiel
ger eines postmortalen Organs, deren Angehörige, verschiedene Pro/Kontra-Argumente) und Themen
aber auch Verweigerinnen und Verweigerer einer (zum Beispiel Bereitschaft zur Organspende, Hirn-
Organspende) mit verschiedenen Fragestellungen todkonzept, Reziprozität, Körperverständnis), die
zur postmortalen und Lebendorganspende konfron- sich während der Diskussion als geteilte Positionen
tiert. In der laufenden Studie (II) wurden jeweils drei der Gruppen (bzw. Untergruppen) ausweisen ließen.
Fokusgruppen nur mit Empfängerinnen und Empfän- Diese Hauptargumentationslinien erlauben eine
17 EU-Projekt: »challenges of Biomedicine – Socio-cultural contexts, European Governance and Bioethics (coB)« (Project No. SAS6-cT-
2003-510238), vgl. auch FN1. Für methodische Details verweisen wir auf Schweda und Schicktanz 2008, 2009.
18 Vgl. auch Projektskizze: Entscheidungsfindungsprozesse im Rahmen der Lebendnierenspende – Medizinethische und medizinanthropo-
logische Aspekte. http://www.egmed.uni-goettingen.de/index.php?id=143.
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26 TAGUNGSBEITRÄGE
19 Auch individuell abweichende Positionen oder »Außenseiter«-Positionen wurden speziell analysiert. Sie sind jedoch nicht Gegenstand
der hier vorliegenden Auswertung.
20 Man denke dabei im ersten Fall an Hilfeleistungen bei einem Verkehrsunfall oder im zweiten an das Zahlen von Beiträgen in die gesetz-
lichen Krankenkassen der Solidargemeinschaft.
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VOM »GEScHENK DES LEBENS« BIS ZU »DU BEKOMMST ALLES VON MIR – IcH AUcH VON DIR?« 27
einen mit der vereinfachten Verwendung des Begriffs 1. Es kommt zu einer Eröffnungsgabe.
»altruistische Spende« gerade in der öffentlichen 2. Die Gabe muss (kann) angenommen werden (häu-
Rhetorik zusammen (vgl. Abbildung 2) und steht fig gibt es hierfür auch Normen).
somit im Widerspruch zum Argument einer solidari- 3. Wenn die Gabe angenommen wird, muss eine
schen Verpflichtung. Bei der Lebendorganspende Gegengabe erfolgen.
wird hingegen oft vom Eigenvorteil der Spenderinnen
und Spender gesprochen, wenn sie einem geliebten Diese Verpflichtung ist ein wesentlicher Faktor,
Menschen ihre Niere spenden: Hier scheint eher Soli- der über einer möglichen reinen Kosten-Nutzen-Auf-
darität aus einem Gemeinschaftsgefühl (»Wir sind rechnung steht. Es ist also nicht die Gabe selbst,
ein Paar bzw. eine Familie«) zu erwachsen. die im Mittelpunkt steht, sondern deren Funktion –
»Geschenke« sind (im Gegensatz zu »Spenden«) die Funktion der Initiierung, Aufrechterhaltung und
in unserer Gesellschaft etwas sehr Persönliches und Auffrischung von Beziehungen. Wichtig ist, dass
verändern sowohl Gebende als auch Nehmende in zwischen der Annahme und der Gegengabe eine
ihrer Beziehung zueinander. Verschiedene Anthropo- gewisse Zeit verstreicht und dass sie durch die Unsi-
logen haben darauf aufmerksam gemacht, dass der cherheit geprägt ist, ob die Gabe wirklich erwidert
Austausch von Geschenken in jeder (auch moder- wird und ob es zu einem Ausgleich der Vorleistungen
nen) Kultur nach festgelegten Austauschritualen von kommt.
Geber- und Nehmerseite funktioniert. Gerade weil sie Auf der anderen Seite wird die Erinnerung an die
Teil dieser Kultur sind, werden diese Regeln selten Person mittels der Gabe, das Gedächtnis an die noch
ausgesprochen, sie sind selbstverständlich und ver- zu erbringende Leistung, wachgehalten. Ein Prinzip
meintlich jedem bekannt. Hierzu gehört auch, was der Gegenseitigkeit – das heißt Darbietung von Leis-
als ein »Geschenk« gilt bzw. angenommen werden tungen mit Hinblick auf einen reziproken Vorteil, der
kann und was nicht.21 Godelier kommt sogar zu dem eben auch beim Schenken bestimmend ist, also
Schluss, dass es Sachen gibt, die man behalten Leistungen, die zwar einen sozusagen freiwilligen,
muss, die man nicht weggeben darf.22 Das dem anscheinend selbstlosen und spontanen, dennoch
Geschenk zugrunde liegende soziale Prinzip wird zwanghaften und eigennützigen charakter aufwei-
auch als Reziprozität (Gegenseitigkeit) beschrieben. sen – ist als archaisches Prinzip auch bei der Organ-
Der Gabentausch ist dabei die klassischste Vari- »spende«, sei sie tot oder lebendig erfolgt, zu ver-
ante von Reziprozität und besitzt folgende sequen- muten (Gouldner 2005). Für den Soziologen Alvin
zielle Grundregeln, die auch als Verpflichtungen Gouldner ist der soziale Austausch, also die Rezipro-
interpretiert werden können (Mauss 1990, vgl. zur zität, eine der grundlegenden Dimensionen sozialen
Übersicht auch Wöhlke 2010, Adloff und Mau 2005): Verhaltens. Es ist dabei unerheblich, ob der soziale
21 Zum Beispiel gilt in unserer westlichen Kultur das Angebot, die Nacht mit dem eigenen Partner zu verbringen, nicht als akzeptiertes
Geschenk gegenüber Freunden, wie es in den Geschichten aus 1001 Nacht vorkommt. Auf unsere Kultur bezogen überdauerte der
Gabentausch jedoch auch als eine der ältesten sozialen Handlungspraxen für das Bilden von sozialen Beziehungen. Denn kaum ein Ken-
nenlernen und kein Flirt – ganz zu Schweigen von sogenannten ernsthaften Absichten – kommen ohne jene schemenhafte Dialektik
von Gabe und »Hingabe« aus (vgl. hierzu: Berking 1996).
22 Diese Sachen können kostbare Objekte, Talismane, Kenntnisse und Riten sein. Sie sind eine Bekräftigung von Identitäten und ihrer Kon-
tinuität durch die Zeit hindurch. Sie bekräftigen die Existenz der Identitätsunterschiede zwischen den Individuen sowie zwischen den
Gruppen, die eine Gesellschaft bilden (vgl. hierzu: Godelier 1999).
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28 TAGUNGSBEITRÄGE
23 Ein Argument gegen eine Gleichzeitigkeit von Handel und Geschenk lässt sich aus einer kürzlich abgeschlossenen Epoche unserer
jüngsten Geschichte gewinnen. Die vielen Millionen Paketsendungen, die aus der ehemaligen BRD in die ehemalige DDR gingen, mussten
lange Zeit die Aufschrift »Geschenksendung – keine Handelsware« tragen. Sie waren speziell für die Empfängerinnen und Empfänger
bestimmt, nicht für einen anonymen Markt oder als Tauschobjekt. Der Unterschied zwischen Geschenk und Ware wird in dieser Formu-
lierung direkt angesprochen und meist intuitiv verstanden. Die ungleichen Paketströme, die zwischen Ost und West flossen, sind zwar
nicht gerade ein Beleg für Reziprozität und Pflicht zur Erwiderung, jedoch ein Indiz gegen Gleichsetzung von Handel und Geschenk (vgl.
hierzu: Schmidt 1996).
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VOM »GEScHENK DES LEBENS« BIS ZU »DU BEKOMMST ALLES VON MIR – IcH AUcH VON DIR?« 29
an der neuen Kampagne des Berliner Herzzentrums liche (wenngleich symbolische) Gegengabe richten
(siehe http://www.proorganspende.de) (Abbildung 3), kann. Zudem bemängeln viele Angehörige von »Or-
bei der man nicht allein mehr auf altruistische ganspendern« eine fehlende öffentliche Anerken-
Spendekonzepte zurückkommt. Der Slogan: »Du be- nung der »spendenden« Seite.
kommst alles von mir – ich auch von dir?« steht in Die Studie von Hauser-Schäublin et al. verweist
der moralischen Tradition von gegenseitigen Erwar- bei der postmortalen Spende darauf, dass die Emp-
tungen. Ob damit jedoch gesunde Menschen, die findungen der Hinterbliebenen bezüglich der Organ-
nicht wirklich damit rechnen, selbst eine Organ- spende weit über die körperliche Ebene hinaus-
spende zu benötigen, sich motiviert fühlen, wird zu gehen. Auch in ihrer Wahrnehmung entspricht die
prüfen sein. Gerade bei der Postmortalspende kann postmortale Organspende also einer Gabe. Es stellt
nämlich das vorherrschende Prinzip der Anonymität sich daher die Frage, wie die von den Hinterbliebenen
den Wunsch bzw. die Erwartung, etwas zurückgeben geäußerten Bedürfnisse beachtet werden können.
zu wollen, unmöglich machten bzw. erschweren. Es gibt eine Reihe von Beispielen, um den Spendern
Durch den theoretischen Blickwinkel auf das Prin- und Spenderinnen (und ihren einwilligenden Angehö-
zip der Gabe werden bei der Organtransplantation rigen) Dankbarkeit und Anerkennung zu bekunden.
Aspekte sichtbar, die aus rein medizinischer Sicht Manche Länder haben dies zum Teil viel stärker insti-
eher vernachlässigt werden. So entstehen durch die tutionalisiert: In Spanien sind öffentliche Gedenk-
Organtransplantation enge Verknüpfungen individu- gottesdienste sehr verbreitet, in den USA werden
eller Schicksale und neue Formen sozialer Beziehun- Gedenktafeln aufgestellt. Die Erfolge solcher Aktio-
gen (siehe hierzu besonders Hauser-Schäublin et al. nen lassen vermuten, dass aufgrund der auch in
2001). unserer Kultur festverankerten Praxis der Gabe ein
Bei der postmortalen Organspende ist das Verhin- enormer Bedarf besteht, zumindest symbolisch eine
dern einer Kontaktaufnahme von Empfängerinnen Gegengabe zu initiieren. Das wirft für uns die Frage
und Empfängern sowie Spenderinnen und Spendern auf, warum solche Treffen nicht von staatlicher Seite
(genauer: deren Angehörigen) das Ziel. Diese Ano- unterstützt und organisiert werden. Bislang müs-
nymisierung bedeutet allerdings gleichzeitig, dass sen diese Treffen bei uns oft ehrenamtlich von den
die Organe losgelöst von der Identität und den sozia- Betroffenen selbst organisiert werden.
len Beziehungen der Spendepersonen übertragen Das (implizite) Prinzip der Reziprozität lässt sich
werden (Kalitzkus 2003). Verschiedene Studien noch komplexer im Kontext der Lebendorganspende
(Daar 1992, caplan et al. 1989, Fox und Swazey nachverfolgen. Eine Lebendorganspende kann laut
1992) und auch unsere eigenen Untersuchungen Transplantationsgesetz nur zwischen sich nahe ste-
zeigen, dass viele postmortale Organempfängerin- henden Familienmitgliedern oder eng verbundenen
nen und -empfänger Schuldgefühle haben bzw. Freundinnen und Freunden stattfinden. Diese Vor-
imaginierte Dankbarkeitsrituale oder besonderes gabe setzt nach unserem Verständnis bereits eine
soziales Engagement zeigen. Darin spiegelt sich die Art Reziprozität zwischen Empfängerin und Empfän-
kulturell geprägte Austauschpraxis der Gabe wider. ger sowie Spenderin und Spender voraus. Die Gabe
Die Empfängerin bzw. der Empfänger befindet sich selbst befindet sich eher auf symbolischer, immate-
einerseits im zeitlichen Intervall der Gegengabe, rieller Ebene − nicht die Niere als Organ an sich ist
andererseits bleibt aufgrund der anonymisierten die Gabe, sondern die Handlung bzw. die Geste der
Transplantationspraxis unklar, an wen sich die mög- Hilfeleistung (Decker 2009).
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30 TAGUNGSBEITRÄGE
Dabei sind zweierlei Dinge zu berücksichtigen: Gerade weil die Zahl der lebend transplantierten
Zum einen besteht zwischen dem Spender-Empfän- Organe in den letzten Jahren stetig angestiegen ist
ger-Paar bereits seit längerer Zeit eine reziproke Aus- und in einigen Nachbarländern (zum Beispiel Nieder-
tauschbeziehung.24 Für die sogenannte freiwillige lande) bereits die Hälfte aller transplantierten Nieren
Entscheidung für oder gegen eine Lebendspende von Lebendspendern stammen, ist diesem Zusam-
(sowohl von Spender- als auch Empfängerseite) menhang eine besondere Bedeutung beizumessen.
kann bereits eine Verpflichtung zur Handlung inner- Für viele chronisch kranke Nierenpatientinnen und
halb des Austauschprinzips vorliegen (dem Partner/ -patienten stellt die Lebendspende eine Alternative
der Partnerin etwas »schuldig« sein). Spende- und zur Dialyse dar (vor allem dann, wenn die Dialyse
Empfängerpersonen blicken also bereits auf einen aus körperlichen und psychischen Gründen nicht
Zirkel von sozialen Austauschbeziehungen zurück, vertragen wird). Auf ein postmortales Spendeorgan
in dem sich Erwartungen und altruistische Motiva- müssen die Patientinnen und Patienten derzeit im
tionen entwickelt haben. Unsere Interviews und Dis- Durchschnitt circa sechs bis acht Jahre warten.
kussionen mit Lebendspendern und auch -empfän- In der öffentlichen und auch medizinischen Dar-
gern zeigen interessanterweise, dass sie vor allem stellung wird die Lebendspende oft sehr verkürzt als
die Vokabeln des Schenkens benutzen und prakti- unkomplizierte Erfolgsgeschichte dargestellt. Diese
zieren.25 So wird von vielen Spendepersonen in den reduziert sich zumeist darauf, dass für die Spenden-
Gesprächen immer wieder betont, dass es ein Ge- den ein sehr geringes Komplikationsrisiko bestehe
schenk sei und dass sie keinerlei Gegenleistung (obwohl ein irreversibler operativer Eingriff an einem
erwarten. Zwei interviewte Empfänger haben das gesunden Körper stattfindet). Des Weiteren wird
Angebot zur Lebendspende von ihrer Spenderin gern betont, dass ein lebend gespendetes Organ eine
bzw. ihrem Spender sogar genau an ihrem Geburts- statistisch höhere Überlebenszeit hat als ein post-
tag bekommen. mortal gespendetes Organ. Diese Darstellungen
Die Lebendspende muss zudem nicht unbedingt können Familien, die konkret vor der Entscheidung
die (Eröffnungs-)Gabe sein. Spende- und Empfänger- über eine Lebendspende stehen, stark beeinflussen.
personen befinden sich bereits in einem sozialen Potenzielle Spenderinnen und Spender können sich
Austauschzirkel, der lange vor der Lebendspende unter Druck gesetzt fühlen, spenden zu müssen, da
begonnen hat, sodass die Lebendspende auch eine sie der Ansicht sind, die Gesellschaft erwarte dies
Gegengabe sein kann. Viele Betroffene feiern den Tag als Familienmitglied von ihnen. Dieser externe Druck
der Transplantation wie einen zweiten Geburtstag, an auf mögliche Spenderinnen und Spender erschwert
dem sich Spende- und Empfängerpersonen gegen- das umfassende und tief greifende Auseinanderset-
seitig Geschenke machen bzw. miteinander den Tag zen mit allen Vor- und Nachteilen, sich eben auch
verbringen. gegen eine Lebendspende entscheiden zu können.26
24 Dies variiert natürlich. Zwischen Kind und Elternteil besteht sie seit der Geburt, bei Geschwistern das gemeinsame Leben über, bei Ehe-
partnern seit dem Zeitpunkt, an dem sie sich als Lebensgemeinschaft wahrnehmen. Auch bei Freunden und Freundinnen besteht die
reziproke Beziehung so lange, wie die Freundschaft bereits währt.
25 Ein Spenden, das in seiner Ursprungsform anonym ist und das in der nicht anonymen Form keinesfalls selbstlos, sondern immer auf-
grund des Erlangens von Sozialprestige vorgenommen wird.
26 So hat beispielsweise die Zwillingsschwester einer Patientin psychisch stark darunter gelitten, dass Ärzte und Familie sie als die opti-
male Lebendspenderin angesehen haben. Sie konnte und wollte jedoch gar nicht spenden.
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VOM »GEScHENK DES LEBENS« BIS ZU »DU BEKOMMST ALLES VON MIR – IcH AUcH VON DIR?« 31
In den von uns untersuchten Fällen zur Lebendor- der medizinischen Voruntersuchungen im späteren
ganspende hatte sich nie ein Patient/eine Patientin Verlauf nicht infrage kommt.
eine mögliche Spenderperson gesucht. Immer eröff- In einer verdeckten Variante hingegen haben sich
nete eine mögliche Spenderperson dem Patienten potenzielle Spenderpersonen – ohne sich vorher mit
bzw. der Patientin das Angebot einer Lebendspende. den potenziellen Empfängerpersonen abzusprechen
So hatte keiner der befragten betroffenen Empfänger – in die Voruntersuchungen begeben. Erst mit der
und Empfängerinnen berichtet, dass er bzw. sie Gewissheit, dass man medizinisch als Spenderper-
jemanden wegen einer Lebendspende angefragt son infrage kommt, wird dann dem Empfänger bzw.
hätte. Vielmehr waren es die Ärztinnen und Ärzte, die der Empfängerin das Angebot unterbreitet. In dieser
in Gesprächen einen Elternteil (bei Kindern als Konstellation wird die Möglichkeit der Ablehnung sei-
Patienten) bzw. den Ehepartner erwähnten. Darauf- tens eines Patienten bzw. einer Patientin als wesent-
hin sprachen diese Begleitpersonen den potenziellen lich schwieriger empfunden, da das Angebot der
Empfänger bzw. die potenzielle Empfängerin an. Gabe bereits eine so hohe Qualität hat. Die in den
Dass die potenzielle Spenderperson die Initiative kulturell verankerten Gaberitualen vorhandenen
übernimmt, ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Machtstrukturen werden dabei sehr gut sichtbar: Die
Lebendspende als soziale Austauschpraxis durch- potenzielle Spenderperson hat eine starke Kontrolle
geführt wird und nach den Handlungsmustern einer über den Gabentausch. Denn ein Geschenk, bei dem
Gabe verläuft. Dabei sind mindestens drei unter- bereits so viel Mühe und Zeit aufgebracht wurde, ist
schiedliche Varianten zu finden: die »offene«, »ver- kaum abzulehnen. Die Gefahr wäre dann zu groß, als
deckte« oder »fehlende« Variante eines »Ange- »undankbar« dazustehen und damit die soziale
bots«. Beziehung zu gefährden. Zweifel, Skrupel und Ängste
Mit der offenen Variante ist gemeint, dass sich werden hier dem Angebot untergeordnet und kaum
sofort eine Person aus dem Umfeld beim potenziel- thematisiert. Alle Interviewten, die diese Variante des
len Empfänger bzw. bei der potenziellen Empfängerin Angebots angenommen haben, berichtete im Nach-
meldet, mit der Eröffnung, er bzw. sie wolle spenden. hinein von Problemen mit der Dankbarkeit und von
Hier findet im weiteren Verlauf eine Art Aushandlung Schuldgefühlen.
statt, ob der nierenkranke Patient bzw. die nieren- Ein Angebot »fehlt« dann, wenn es sich um eine
kranke Patientin die Annahme des Organs von dieser Notsituation handelt. Gerade bei Kindern, deren
Person will. Dieser Prozess kann je nach Verwandt- Gesundheitszustand sich rapide verschlechterte,
schaftskonstellation wenige Tage bis hin zu mehre- wurden vonseiten der Mütter und Väter unglaubliche
ren Monaten dauern. Stimmt der Patient bzw. die Anstrengungen geschildert. Sie hatten das Ziel, die
Patientin der Gabe zu, unterzieht sich die potenzielle Ärztinnen und Ärzte dazu zu bringen, die Lebend-
Spenderperson erst dann den notwendigen medizini- spende trotz kritischem Zustand des Kindes noch
schen Voruntersuchungen, ob sie überhaupt medizi- durchzuführen.
nisch als Spender infrage kommt. Bei dieser offenen Aus der Perspektive der Gabe betrachtet, er-
Variante haben die Beteiligten die Möglichkeit, unter schwert genau die zuvor beschriebene soziale Hand-
den gegebenen Umständen eine annähernd freie lungspraxis den Dialog über das Thema Lebend-
Entscheidung für oder gegen die Lebendspende zu spende in den Familien von nierenkranken Patienten
treffen. Auch auf die Gefahr hin, dass der potenzielle und Patientinnen. Es scheint häufig so zu sein, dass
Spender bzw. die potenzielle Spenderin aufgrund man die Familie nach außen schützt, indem man als
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32 TAGUNGSBEITRÄGE
Patient bzw. Patientin eine Lebendspende ablehnt. wiegenden Teil der Befragten wird die Annahme der
Umgekehrt kann auch ein fehlendes Angebot seitens Gabe als Verpflichtung zur Gegengabe wahrgenom-
der Familie unausgesprochene Konflikte auslösen: men. Sie äußerte sich zumeist in einer diffusen Art
Warum bekommt mein Dialysenachbar bzw. meine der Dankbarkeit und daraus resultierenden Schuld-
-nachbarin das Angebot einer Lebendspende und ich gefühlen, die allerdings je nach Verwandtschaftsbe-
nicht? ziehung variieren. Bei Kindern, die von ihren Eltern
Die Vermischung von Gabe und Ware kommt in ein Organ bekamen, schien die »Verpflichtung zur
der Lebendorganspende vor allem durch Dritte (das Gegengabe« am wenigsten ausgeprägt. Dies kann
medizinische Personal) zustande. Das medizinische auf das bereits bestehende asymmetrische Verhält-
Personal selbst handelt nach gesetzlichen Vorgaben nis zurückgeführt werden, bei dem Eltern ihren Kin-
und Marktregeln. Das fängt damit an, dass die er- dern auch sonst mehr »geben«. In symmetrischen
brachte Arbeit innerhalb des Transplantationssys- Beziehungen wie etwa Geschwistern, Ehepartnern
tems als eine reine Dienstleistung gesehen wird, die und Freundinnen/Freunden konnte ein wesentlich
entsprechend mit einem Gehalt bezahlt wird (und direkterer und ausgeprägter Umgang mit der Dank-
eben beispielsweise keine ehrenamtliche Tätigkeit barkeit bzw. mit Schuldgefühlen beobachtet werden.
ist). Daneben ist das medizinische Personal nicht Eine spezielle Variante ist die Chance der Gegen-
nur für die Vorbereitung, Durchführung und Nach- gabe. Hierfür steht der Fall eines Bruderpaares:
sorge der Transplantation zuständig, sondern ge- Der Ältere war seit seiner Geburt leicht spastisch
währleistet auch die Verteilungsregeln der zur Ver- gelähmt, konnte jedoch mit dieser Behinderung
fügung stehenden Organe. Dieses Verwischen der Schule und Ausbildung absolvieren. Dieser Bruder
Grenzen zwischen Gaben- und Warentausch führt zu hatte sich in den Nachkriegsjahren »wie ein Vater«
einer weiteren Verunsicherung in der Handlung der um seinen jüngeren Bruder gekümmert. Mit der Nie-
Spenderpersonen, Empfängerpersonen und Paare. renspende hatte der jüngere Bruder laut eigener
Die Interviewten haben bis auf ein Ehepaar inner- Beschreibung endlich die Gelegenheit, sich für diese
halb unterschiedlichster Zeiträume die Gabe ange- Hilfe erkenntlich zu zeigen.
nommen. Der Zeitpunkt der Annahme ist oft nicht Die Möglichkeit der Ablehnung oder aber die
die eigentliche Transplantation; er ist bereits früher Unmöglichkeit der Erwiderung wird noch stärker
zu lokalisieren, wenn die Zustimmung zur Lebend- tabuisiert. Hierüber zu berichten, fällt Patientinnen
spende erfolgt. und Patienten schwer, vielleicht auch, weil die
Auch bei der Annahme der Gabe lassen sich ver- Lebendspende in der Öffentlichkeit als Erfolgsge-
schiedene Typologien herausarbeiten. Es gibt Spen- schichte präsentiert wird. Denn ein starkes Motiv,
der-Empfänger-Paare, die sich offen über mögliche sich gegen eine Lebendspende zu entscheiden, kann
Zukunftsszenarien auseinandersetzen. Hierzu gehö- gerade die Angst sein, dass nach der Spende die
ren auch Fragen danach, wem das Organ nach der Beziehung unausgewogen wird – sei es, weil vorhan-
Spende »gehört«? Darf eine Spenderperson nach dene Asymmetrien verstärkt werden oder die Mög-
der Transplantation den Empfänger bzw. die Empfän- lichkeit der (ausgewogenen) Gegengabe nicht gese-
gerin kontrollieren und ihm bzw. ihr Vorschriften zum hen wird. Einige interviewte Ehepaare, Geschwister
Umgang mit dessen Körper (und mit dem Organ) und Freundinnen/Freunde berichteten daher auch,
machen? In der zweiten Variante werden diese dass man sich nach der Transplantation getrennt
zukünftigen Situationen eher tabuisiert. Beim über- hatte.
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27 Dabei haben wir länderübergreifend ausgewertet und keine speziellen Unterschiede gefunden.
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34 TAGUNGSBEITRÄGE
Staat oder eine Einzelperson) zu dienen. Das posi- ren stylischen Accessoires wie Tattoos (siehe
tive Recht, seinen Körper zu verkaufen, wurde Abbildung 4).
hingegen nie verteidigt. Dies kann natürlich daran 2. Die zweite Position, die häufiger in den Diskussio-
liegen, dass an sich die Idee des Organhandels nen aufscheint, bezieht sich auf Grenzsetzungen.
als generell unmoralisch bzw. anstößig betrachtet Diese sind eher implizit formuliert, sodass nicht
wird. Es ist aber auch plausibel und schlüssig, die eigentliche Bedeutung gesetzt wird, sondern
dass dahinter die durchaus kohärente Position das, was nicht erlaubt sein soll (zum Beispiel:
steckt, dass eben der Körper als Teil des Selbst »Irgendwo muss man auch mal dem menschli-
zur Person gehört und daher hier nicht ein markt- chen Handeln Grenzen setzen«). Hierbei wird kein
wirtschaftliches Konzept von Eigentum, sondern expliziter Verweis auf ein holistisches oder ganz-
Selbstbestimmung gemeint ist. Auch einige öffent- heitliches Körperkonzept vorgenommen, sondern
liche Kampagnen lassen sich hier einordnen, die es wird vielmehr auf übermenschliche Autoritäten
den Wunsch nach Organspende als individuelle wie die Natur oder Gott verwiesen. Diese setzen
Selbstbestimmung so interpretieren, dass er eine der Machbarkeit der körperlichen Selbstbestim-
Frage des Lebensstils ist, vergleichbar mit ande- mung Grenzen. Die Erfahrung der Begrenzung
selbst wird dabei als Wert gesehen, zum Beispiel
als eine wichtige Erfahrung der schicksalhaften
Offenheit und Unvorhersagbarkeit menschlichen
Lebens. Mit Bezug auf die Organtransplantation
kann es bedeuten, im Falle der eigenen Erkran-
kung kein Organ, sondern die Erkrankung als
Schicksal anzunehmen. Es kann aber auch bedeu-
ten, den Wunsch anderer nach Lebensverlänge-
rung durch eine Organspende als nicht legitim
oder zumindest als einen Wunsch anzusehen, der
aber nicht unbedingt zu erfüllen ist. Umgekehrt
eröffnet der Verweis auf höhere Zwecke wie Gottes
Wille auch Ansprüche für die Organspende, zum
Beispiel als solidarische Pflicht, weil das individu-
elle Recht auf Selbstbestimmung als begrenzt
angesehen wird.
3. Das dritte, immer wiederkehrende Körperkonzept
kann man als »organozentrisches Körperkon-
zept« betiteln. Einzelne Organe – meist das Ge-
hirn, in wenigen Ausnahmen auch die Fortpflan-
zungsorgane – erhalten eine besondere Bedeu-
tung für die Persönlichkeit und Identität des Men-
schen. Die Präsenz dieses Körperkonzepts ver-
Abb. 4: Kampagne des Berliner Gesundheitssenats: Postkarte
wundert insofern nicht, da sich ja, wie eingangs
»citycards« (2009) im Scheckkartenformat in Berlin erwähnt, zum Beispiel auch das Hirntodkonzept
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VOM »GEScHENK DES LEBENS« BIS ZU »DU BEKOMMST ALLES VON MIR – IcH AUcH VON DIR?« 35
auf ein solches organozentrisches Körper-Selbst- erscheint uns bedeutsam, dass ihre gleichzeitige
Konzept zurückführen lässt. Dieses Körperkon- Präsenz darauf verweist, dass eben nicht allein eine
zept rechtfertigt gewisse Grenzen der Organtrans- bestimmte moralische Motivation ausreicht, um die
plantation aus Sicht derer, die es teilen. So wären Haltung bezüglich Organspende zu ändern oder zu
zum Beispiel Gehirntransplantationen nicht er- beeinflussen. Vielmehr sind die dahinterliegenden
laubt, weil das Gehirn an sich als identitätsstiftend Körperbilder sehr wirkmächtig und durchaus in ko-
betrachtet wird. Andererseits zeigte sich auch, härenten Positionen zur Organtransplantation ver-
dass gerade die Vertreterinnen und Vertreter die- strickt. Als kulturell tradierte Vorstellungen werden
ses Konzepts oft direkt kollektive Ansprüche auf sie jedoch nur selten explizit gemacht, geschweige
Organe von hirntoten Patientinnen und Patienten denn, dass so leicht eine Revision möglich wäre. Der
ableiten. Im Falle eines Hirntods existiert ihrer Auf- medizinisch dominante Diskurs, der seit den 1960er-
fassung nach keine zu schützende Person mehr; Jahren die besondere Bedeutung des Gehirns als
mögliche legitime Interessen an der Integrität des Leitorgan für die Deutung der menschlichen Persön-
eigenen Körpers können daher nicht mehr beste- lichkeit in den Vordergrund gestellt hat, ist zwar auch
hen. Interessanterweise wurde das Hirntodkrite- in der Öffentlichkeit präsent, aber er ist eben nicht
rium als Todeskriterium auch sehr pragmatisch, der einzige.
aber weniger prinzipiell akzeptiert. So war weniger
der Verlust der Persönlichkeit für einige das Krite-
rium als vielmehr der medizinisch-technische
Fakt ausschlaggebend, dass man ohne unterstüt-
zende Maßnahmen nicht »weiterleben« kann. Ein Fazit
solches Weiterleben wurde nicht als wünschens-
wert erachtet. Jedoch äußerte in allen Fokusgrup-
pen immer wieder eine kleine Gruppe von Teilneh- Die in der öffentlichen Diskussion häufig vorfind-
merinnen und Teilnehmern konkrete Unsicher- bare Polarisierung zwischen bedauernswerten
heiten und Zweifel am Hirntodkonzept. So sei der Patientinnen und Patienten auf der einen Seite und
Hirntod eben kein ausreichendes Kriterium für den egoistischen Bürgerinnen und Bürgern auf der ande-
Tod des Menschen bis hin zu der festen Position, ren Seite ist aus ethischer Sicht sehr problematisch.
dass hirntote Patientinnen und Patienten im Ster- Auch manche Patientinnen und Patienten zeigen
ben liegen und entsprechend zu umsorgen seien. zum Teil sehr »egoistische« Erwartungshaltungen,
Auch wurde zwischen komatösen und hirntoten etwa indem sie ein Recht auf Erhalt eines Organs
Patientinnen und Patienten nicht immer differen- postulieren. Diese Haltung kann unter anderem –
ziert und damit die Möglichkeit nicht ausgeschlos- das wäre aber noch stärker empirisch zu untersu-
sen, dass jemand aus dem Zustand wieder erwa- chen – damit korrelieren, dass die Betroffenen mei-
chen kann. nen, sie hätten so viel für Familie und/oder Gesell-
schaft geleistet, dass diese nun eine Gegengabe
Das beachtenswerte am Vorkommen dieser drei erbringen müsse. Dabei werden auch die medizini-
Körperkonzepte ist weniger ihre Existenz an sich. schen Risiken und Limitierungen in der Machbarkeit
Jedes lässt sich auf altbekannte kulturhistorisch (zum Beispiel hohe psychische und körperliche
gewachsene Traditionen zurückführen. Vielmehr Belastungen auch nach einer Transplantation) vor-
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36 TAGUNGSBEITRÄGE
schnell ausgeblendet. Auf der anderen Seite müssen und umzusetzen. Auch wenn man aus anderen
Patientinnen und Patienten sehr komplexe und guten Gründen das Anonymitätsprinzip in der post-
schwierige Entscheidungen treffen, die weit über die mortalen Spende nicht sofort aufgeben will (um
rein medizinische Frage nach Lebensverlängerung zum Beispiel eine gerechte Verteilung der Organe zu
hinausgehen. garantieren oder auch die Privatsphäre von Angehö-
Unsere Ergebnisse zeigen ein plurales Bild an Pro- rigen zu schützen), so könnten explizite Gedenk-
blemen, Deutungsmustern und Handlungsoptionen tafeln und öffentliche Würdigungen einen wichtigen
hinsichtlich der Entscheidung und Bewältigung Schritt darstellen. Auch wenn dies Ressourcen kos-
sowohl bei einer postmortalen als auch der Lebend- tet, so wäre es unter Umständen aus solidarischer
spende. Dies macht deutlich, dass der medizinische Sicht geboten.
Eingriff für die Betroffenen rasch in den Hintergrund Die in vielen quantitativen Umfragen recht kon-
tritt und die sozialen Bedeutungen hierbei eine ent- stant große »Ablehner«-Gruppe, die einer Organ-
scheidende Rolle spielen. Es ist daher sehr sinnvoll, spende eher ablehnend oder unsicher gegenüber
diese Aspekte wissenschaftlich noch stärker zu eingestellt ist (Forsa 2001, BZgA 2009), lässt sich
untersuchen, um die Bedürfnisse (direkt und indi- wohl kaum allein auf Ignoranz oder Irrationalität
rekt) Betroffener besser zu verstehen. Diese Er- reduzieren. Vielmehr ist es plausibel, dass sowohl
kenntnisse werden dem medizinischen Personal tief sitzende verbreitete kulturelle Vorstellungen zum
schließlich helfen, im Vorfeld adäquater auf die spe- Recht am eigenen Körper als auch bezüglich der
ziellen Problematiken eingehen zu können. Auch Grenzen medizinischer bzw. menschlicher Machbar-
die psychologische und soziale Nachsorge mit Blick keit wichtige Faktoren für eine derartige Einstellung
auf die komplexen Probleme von postmortalen sowie sind. Damit handelt es sich aber um weltanschaulich
Lebendorganempfängerinnen und -empfängern haltbare, konsistente (anthropologische) Positionen,
sowie deren Lebendspenderinnen und -spendern die in einer pluralen, liberal-demokratischen Gesell-
sollte mehr Aufmerksamkeit erhalten. schaft nicht leicht hinweggefegt werden können.
Schließlich finden sich viele Hinweise, dass die Dazu bedarf es dann eher eines echten öffentlichen
öffentliche Polarisierung und Kampagnenrhetorik Diskurses, der ausreichend auch den Anliegen von
zwischen »Akt der Nächstenliebe« und »absoluter Skeptikerinnen und Skeptikern sowie betroffenen
Freiheit« (bis hin zur Forderung nach einer »tabu- bzw. potenziellen Spenderinnen und Spendern Gehör
freien« Diskussion von sogenannten Marktmodel- verschaffen muss.
len) problematisch ist. Unsere Ausführungen bele- Schließlich sollten unsere Ausführungen zeigen,
gen, dass der weitverbreitete Begriff der »Spende« dass die Organtransplantation ein hochkomplexes
im Kontext der postmortalen wie Lebendorgan- Geschehen ist, bei dem soziale, kulturelle, morali-
spende verschleiert, dass es sich hier eher um ein sche und rechtliche Normen eng ineinandergreifen.
komplexes prosoziales Verhalten handelt. Dieses ori- Der medizinische Blick auf das Phänomen reicht hier
entiert sich aber an vielen anderen Prinzipien wie nicht aus. Ähnlich ist es auch mit dem Problem des
Reziprozität und Gabe-Gegengabe-Konzepten, wenn- sogenannten »Organmangels«. Diese ökonomisch
gleich oft implizit und versteckt. Daher wäre es mit angelehnte Formulierung (vgl. ausführlicher: Schick-
Hinblick auf die Steigerung der öffentlichen Akzep- tanz und Schweda 2009) suggeriert, es handle sich
tanz vielleicht bedeutsam, konkrete staatliche Aktio- hier um einen objektiven Fakt. Jedoch wird hierbei
nen zur ideellen Reziprozität stärker zu entwickeln vielmehr schon eine moralische Wertung vorgenom-
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VOM »GESCHENK DES LEBENS« BIS ZU »DU BEKOMMST ALLES VON MIR – ICH AUCH VON DIR?« 37
men, denn zum einen werden Organe losgelöst von Bourdieu, P. (2005): Die Ökonomie der symbolischen
ihren Besitzern bzw. Körpern »gehandelt«. Zum Güter. In: Adloff, F., Steffen, M. (Hrsg.): Vom Geben
anderen ist das Problem eher als eine Differenz zwi- und Nehmen. Campus, Frankfurt am Main,
schen »Bedarf« und »Angebot« zu sehen. Aber ob S. 139–157.
dieses Angebot eben beliebig zu steigern ist, bleibt Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
aus ethischer Sicht eher fraglich. Vielmehr wäre noch (BZgA) (2009): Organ- und Gewebespende. Reprä-
die Frage zu klären, ob man nicht auch die Anzahl sentative Befragung der Allgemeinbevölkerung.
benötigter Organe reduzieren kann. In beiden Fällen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung,
handelt es sich also um ethische Bewertungen. In Köln.
der öffentlichen Diskussion zur Steigerung der Organ- Caplan, A. L., Annas, G., Bazell, R., Burrows, L., Miller,
spendebereitschaft fallen diese komplexen Perspek- C., Swazey, J. P. (1989): The gift of life: dilemmas
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Betroffenen sind eher ein Zeichen dafür, dass diese Proceedings, 24, pp. 2207–2211.
kulturellen Dimensionen sehr wirkmächtig sind. Es Decker, O. (2009): Der Warenkörper. Zur Sozialpsy-
wäre daher sicher für einen offenen gesellschaftli- chologie der Medizin. Leipzig.
chen Diskurs hilfreich, sie wesentlich expliziter zu Forsa (2001): Die Organspendebereitschaft in der
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VOM »GEScHENK DES LEBENS« BIS ZU »DU BEKOMMST ALLES VON MIR – IcH AUcH VON DIR?« 39
40 TAGUNGSBEITRÄGE
BEDINGUNGEN FÜR DIE BEREITSCHAFT ZUR ORGANSPENDE UND DAS TRANSTHEORETISCHE MODELL 41
Zum Einfluss der Medien auf die Organspende- einer Situation oder Idee definiert werden. Eine klas-
bereitschaft sei auf den Beitrag von Constanze Ross- sische Definition von Eagly und Chaiken (1993)
mann in diesem Fachheft (siehe S. 78) und auf ein- lautet: »Eine Einstellung ist eine psychologische
schlägige Literatur (Morgan et al. 2007, Morgan Tendenz, die sich in der Bewertung einer bestimmten
2009) verwiesen. Entität ... ausdrückt. Die Bewertung bezieht sich auf
Welche individuellen Faktoren fördern oder verhin- alle Klassen bewertender Reaktionen, sowohl offene
dern die Bereitschaft zur Organspende? Sowohl eher als auch verdeckte, kognitive, affektive als auch ver-
kognitive als auch nichtkognitive oder affektive haltensbezogene.«
Bedingungen, die diese Bereitschaft fördern bzw. Somit beinhaltet die Einstellung gegenüber der
hemmen, können differenziert werden. Hier soll der Organspende kognitive, aber auch affektive Einfluss-
gegenwärtige Stand der Forschung zu dieser Frage größen, die das Verhalten, hier die Bereitschaft zur
zusammengefasst werden und sodann ein aus der Organspende, beeinflussen können. Die Basis für
Suchtforschung adaptiertes Modell motivationalen die Einstellung stellen persönliche Überzeugungen
Handelns – das transtheoretische Modell der Verhal- (religiöse und kulturelle, Wissen und Normen) dar
tensänderung (Prochaska und Velicer 1997) – vor- (Radecki und Jaccard 1999). Diese Überzeugungen
gestellt werden, das Ansatzpunkte zur Förderung der (beliefs) enthalten wahrgenommene Vorteile (zum
Spendebereitschaft liefert. Beispiel anderen helfen), Nachteile (zum Beispiel die
eigene Familie belasten oder verärgern) oder Konse-
quenzen (zum Beispiel Auseinandersetzung mit der
eigenen Sterblichkeit) der Entscheidung, Organspen-
derin bzw. -spender zu werden. Die Einstellung zur
Kognitive Bedingungen Organspende ist in zahlreichen Studien untersucht
worden (Horton und Horton 1991, Kopfman und
Smith 1998, Skumanich und Kintsfather 1996,
Die im Folgenden beschriebenen – hier als »kog- Schulz et al. 2000, Morgan und Miller 2002), doch
nitive Faktoren« zusammengefassten – Bedingun- liegen die Effektstärken bezüglich der Beziehung
gen haben den gemeinsamen Nenner, dass sie auf zwischen der jeweils gemessenen Einstellung und
der Grundlage oder mit wesentlicher Beteiligung von der Bereitschaft zur Organspende eher im niedrigen
bewussten Überlegungen zustande kommen. Diese Bereich. Allerdings wurde in den meisten Studien
Gedanken allerdings beruhen zumeist nicht auf auch die abstrakte Einstellung zur Organspende und
direkter Erfahrung mit ihrem Gegenstand (die aller- nicht die konkretere Einstellung dazu, selbst Spen-
wenigsten Personen haben einen direkten Bezug derin bzw. Spender zu werden, erfasst. Die Einstel-
zum Thema Organspende), sondern auf Informatio- lung, eigene Organe selbst zu spenden, ist jedoch
nen aus mehr oder weniger zuverlässigen Quellen – handlungsrelevanter.
zumeist stammen diese Berichte aus den Print- oder Cacioppo und Gardner (1993) weisen in ihrem
elektronischen Medien. Review darauf hin, dass die Einstellung zur Organ-
spende kein eindimensionales Konstrukt ist, son-
Einstellung dern vielmehr durch die Interaktion zweier unkorre-
Eine Einstellung kann allgemein als die Bewertung lierter, das heißt voneinander unabhängiger Dimen-
einer Person, eines Objekts, einer sozialen Gruppe, sionen, bedingt ist. Auf der einen Seite steht die
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42 TAGUNGSBEITRÄGE
sogenannte Prodonation, die im Wesentlichen durch Vorteile der Transplantation werden demgegenüber
persönliche Zufriedenheit, Glauben an den humanitä- seltener vermittelt.
ren Nutzen der Organspende sowie Gefühle von Stolz In einer Studie an insgesamt 481 Studentinnen
geprägt werden, eine Spenderin bzw. ein Spender zu und Studenten sowie einer Zufallsstichprobe von
sein. Im Gegensatz dazu wird die negative Dimension 465 Einwohnerinnen und Einwohnern einer Klein-
bestimmt durch Angst vor Verstümmelung des Kör- stadt untersuchten Horton und Horton (1990) den
pers oder die Furcht, als potenzielle Organspender- Zusammenhang von transplantationsspezifischem
personen nur zweitklassige medizinische Versor- Wissen und der Einstellung zur Organspende. Sie fan-
gung zu erhalten. Parisi und Katz (1986) konnten den zwar einen hohen Grad an Informiertheit bezüg-
empirisch belegen, dass im Falle einer starken Aus- lich des Mangels an Organen sowie der Effektivität
prägung auf beiden Dimensionen die negative von Transplantationen oder der Notwendigkeit einer
Dimension verhaltensrelevant wird. In Erhebungen Zustimmung durch den Verstorbenen oder seiner
zur Organspendebereitschaft der Bevölkerung wurde Angehörigen, allerdings offenbarten sich in anderen
oft nur die Prodonation-Einstellung in ihrer abstrak- Bereichen deutliche Wissenslücken. Dazu gehörten
ten Version erfragt. Darauf könnten u. a. die schein- Unkenntnis des Hirntodkonzepts (circa 80% gaben
baren Widersprüche zwischen verbreiteter Zustim- an, bei einer potenziellen Spenderin bzw. einem
mung zur Organspende und häufiger Ablehnung der potenziellen Spender müsse Kreislaufversagen vor-
Organspende in der konkreten Situation beruhen. liegen) sowie Unsicherheit bezüglich des Spender-
ausweises (73% glaubten, dieser sei nur bei einer
Wissen offiziellen Registrierung durch das Gesundheitsmi-
Grundlage für eine Entscheidung zur Organspende nisterium gültig). Ein insgesamt gutes Wissen war
ist die Weitergabe und subjektive Verarbeitung von signifikant mit einer positiven Einstellung – dem
Informationen über die Transplantationsmedizin und Tragen eines Spenderausweises sowie der Bereit-
Organspende. Solche Informationen können aus schaft, die eigenen Organe sowie die Organe naher
unterschiedlichen Quellen stammen und spiegeln Angehöriger zu spenden – korreliert. Lücken in den
nicht immer die tatsächlichen Verhältnisse wider. drei genannten Bereichen (religiöse Überzeugungen,
Persönliche Erfahrungen aus dem sozialen Umfeld Hirntodkonzept, Spenderausweis) hingegen hatten
haben die allermeisten Menschen mit dieser The- einen signifikant negativen Einfluss.
matik eher selten, sodass Informationen aus den Allerdings sind diese Zusammenhänge ebenso wie
Medien als Grundlage für Entscheidungen weit über- diejenigen bezüglich der Einstellung insgesamt nur
wiegen. Die überwiegenden (Des-)Informationen gering ausgeprägt (Morgan et al. 2002, Reubsaet et
zum Thema Organspende erhalten die Menschen aus al. 2001). Auch Interventionsstudien weisen auf
den Medien, speziell dem Fernsehen. Wie inhaltsana- einen Zusammenhang der Organspendebereitschaft
lytische Studien zeigen, sind in diesen Informationen mit dem transplantationsbezogenen Wissen hin:
überwiegend negative Szenarien enthalten. Morgan Meier et al. (1999) zeigten in einer quasi-experimen-
et al. (2007) stellen heraus, dass Unterhaltungssen- tellen, kontrollierten Interventionsstudie, dass durch
dungen hauptsächlich geläufige negative, nicht eine Unterrichtseinheit mit Oberschülerinnen und
zutreffende Mythen über die Organspende verstär- -schülern Wissen zum Thema gesteigert, Ängste re-
ken. Es werden also eher Mythen als Fakten verbrei- duziert und die Spendebereitschaft verbessert wer-
tet, speziell zum Thema Organhandel und Hirntod; den konnten. Ein halbes Jahr nach der Durchführung
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BEDINGUNGEN FÜR DIE BEREITSCHAFT ZUR ORGANSPENDE UND DAS TRANSTHEORETISCHE MODELL 43
der Unterrichtseinheit zeigte sich jedoch schon eine dazu nehmen Personen, die nur eine geringe Invol-
Nivellierung der Unterschiede. Neben diesen Ergeb- viertheit aufweisen, Informationen »peripher« wahr
nissen scheint es wichtig, zu notieren, dass die (peripheral route). Sie achten weniger auf den Inhalt
Unterrichtseinheit auf gute Akzeptanz bei den Schü- der Information als auf periphere Reize wie Attrakti-
lerinnen und Schülern stieß, was für den Fall einer vität des Senders u. Ä. Diese Art der Informations-
großflächigen Implementierung ein nicht unwichtiger verarbeitung wird mit einer weniger persistenten
Aspekt wäre. Allerdings sollte in diesem Fall der Einstellung in Zusammenhang gebracht und sagt
Nachhaltigkeit der Informationen besondere Beach- zukünftiges Verhalten nicht vorher (Cacioppo und
tung zukommen, da ansonsten offenbar schon ein Petty 1986).
halbes Jahr später Erinnerungslücken bestehen Skumanich und Kintsfather (1996) gehen davon
bzw. neue »Informationen« (zum Beispiel aus den aus, dass Personen, die sich vom Thema Organ-
Medien) ältere relativieren. Wie über ein Thema gere- spende stark angesprochen fühlen, eher eine zen-
det und gedacht wird, ist u.a. bestimmt durch die trale Verarbeitung zeigen und daher über eine posi-
Informationen, die darüber zur Verfügung stehen. tivere, persistentere Einstellung verfügen und eher
Informationen bilden die Grundlage der Kommunika- Organspendeausweise unterzeichnen. Wichtig
tion. Dabei bilden diese Informationen eine Realität scheint den Autoren weiterhin die empathische Iden-
aus zweiter Hand: »... organ donation is an excellent tifikation mit den »Opfern« (das heißt den warten-
example of a ,second-hand reality‘, one which can den Patientinnen und Patienten). Diese wird in der
only be formed by exposure to the media, except in Sozialpsychologie als wesentlicher Prädiktor für
those rare cases where an individual has been altruistisches Helfen verstanden (Bierhoff 1996).
personally affected by organ donation or who has Voraussetzung für das Zustandekommen altruisti-
actively sought information from Web sites designed scher Motive ist natürlich die Kenntnis davon, wel-
to inform the public about organ donation« (Morgan che positiven Konsequenzen Organspende und
et al. 2007, S. 144). Transplantation für die Empfängerinnen und Empfän-
Weiterhin ist dabei die Involviertheit in ein Thema ger haben. Für Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und
zu berücksichtigen: Je nach Grad der Involviertheit Solidarität entscheidet sich eher jemand, der weiß,
wird eine eingehende Information mehr oder weniger was eine Transplantation für die Empfängerin bzw.
stark kognitiv elaboriert (das heißt verarbeitet und den Empfänger bedeutet.
ausgewertet). Stark in das Thema involvierte Per-
sonen achten bei der Verarbeitung einer themen- Wahrgenommene Normen
relevanten Information auf zentrale Aspekte der Der Beitrag von wahrgenommenen gesellschaft-
Nachricht, wie zum Beispiel Qualität und Stärke der lichen, religiösen und familiären Normen – also
Argumente. Verhaltensstandards und sich daraus ergebende Er-
Dieser Verarbeitungsweg wird als »central route wartungen – auf die Bereitschaft zur Organspende
persuasion« bezeichnet. Es wird angenommen, dass ist in zahlreichen Studien belegt worden (Radecki
diese zentrale Verarbeitung zu dauerhaftem Wissen, und Jaccard 1997, De Jong et al. 1998, Morgan und
Einstellungsänderung oder -manifestation führt und Miller 2002, Morgan 2004, Morgan et al. 2008). Aller-
eng mit zukünftigem Verhalten zusammenhängt. dings führen Morgan et al. (2008) aus, dass impli-
Darüber hinaus führt sie zu einer gezielten weiteren zit wahrgenommene soziale Normen auch zum
Informationssuche und -verarbeitung. Im Gegensatz Beispiel aus Projektionen eigener Ablehnung der
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44 TAGUNGSBEITRÄGE
Organspende auf andere resultieren können und aus dem Unvermögen heraus, uns mit Toten zu
demnach nicht externen Verhaltenserwartungen ent- identifizieren. Ein toter Körper symbolisiere einen
sprechen können, sondern subjektiven Kognitionen lebenden Menschen, und wenn ein Leichnam »ver-
und Emotionen. stümmelt« wird, empfände man dies so, als wenn
eine lebende Person verletzt würde. Deshalb
würde man Grauen bei dieser Vorstellung empfin-
den (Feinberg 1985).
– Andere Befragte geben als Grund für die Reser-
Nichtkognitive Bedingungen viertheit gegenüber dem Thema Organspende an,
sie würden damit einen Tabubruch begehen und
keinen Respekt vor den Grenzen zeigen, die durch
Während die Forschung zu den zuvor beschriebe- die Natur bzw. Gott vorgegeben sind: »The body
nen, hier als »kognitive Bedingungen« der Organ- should not be desecrated because it is a gift of
spende zusammengefassten Faktoren in der Vergan- god«.
genheit dominierte, zeigen neuere Studien (zum – Ängste, durch das Zeichnen eines Organspende-
Beispiel Morgan et al. 2008), wie bedeutsam in die- ausweises, das Schicksal herauszufordern:
sem Zusammenhang sogenannte »nichtkognitive« »People who donate their organs risk displeasing
Faktoren sein können. So werden in verschiedenen God or nature« oder »The surest way to bring
Studien (Gordon 2001, Wittig 2001, Sque und Payne about my own death is to make plans for it like
1996, Morgan et al. 2008) folgende Hinderungs- signing an organ donor card« (Morgan et al. 2008,
gründe genannt: S. 251).
– Ekelgefühle, erzeugt durch die Vorstellung, dass – Angst davor, »verdammt« zu sein, wenn der
eigene Organe sich in einem fremden Körper befin- Körper nicht unversehrt beerdigt wird. »The whole-
den. Dies werde als »unhygienisch« empfunden. ness of the body may have special importance
– Die Auffassung von der Verstümmelung/Schän- for people who believe in human immortality«
dung und Entstellung des Körpers. Sque und Payne (Sque und Payne 1996, S. 1365). Diese Angst
(1996) weisen darüber hinaus auf die Ansicht hin, basiert auf der Idee, »körperliche Integrität« sei
dass dem toten Körper Leid durch die Organent- im »Jenseits« erforderlich und es gebe kein
nahme zugefügt werde (»Harming the Dead«). Leben nach dem Tod, wenn der Körper nicht
Sie zitieren einen Angehörigen, der die Organent- »ganz« ist, also Organe fehlen (Parisi und Katz
nahme verweigerte: »I wanted to protect her, 1986).
because she was very vulnerable. She was dead, – Darüber hinaus werden weitere Ängste, die einer
but I didn’t want her to be cut about. I didn’t want Organspende entgegenstehen, von Befragten an-
her to be injured. You see: she was not injured in geführt: die Angst vor Schmerzen bei der Organent-
my eyes, because there were no marks. So any- nahme, ausgehend von einer Skepsis gegenüber
thing done after that would be an operation ... der Hirntoddefinition: »Bin ich dann wirklich tot?«.
So really that was my reservation, I didn’t want
her to be hurt« (Sque und Payne 1996, S. 1364). Neben solch individuellen Ängsten und Vorbehal-
Die empathische Reaktion, den Toten nicht verlet- ten stellt das Misstrauen gegenüber Ärztinnen und
zen zu wollen, geschehe nach Callahan (1987) Ärzten und den mit der Transplantationsmedizin ver-
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BEDINGUNGEN FÜR DIE BEREITSCHAFT ZUR ORGANSPENDE UND DAS TRANSTHEORETISCHE MODELL 45
bundenen Institutionen einen gewichtigen Faktor für verhaltens zur Verfügung (Keller 1999). Auf einer
die mangelnde Bereitschaft dar, Organe zu spenden. zeitlichen Dimension werden sechs Veränderungs-
Das Misstrauen bezieht sich dabei auf folgende phasen (»Stages of Change«, SoC) unterschieden.
Aspekte: Die SoC sind weder als »state« noch als »trait« auf-
– würdeloser Umgang mit dem Körper bei der Organ- zufassen: Sie gelten einerseits als stabil (trait) und
entnahme, können häufig Jahre überdauern, verändern sich
– missbräuchliche Verwendung der Organe/Angst jedoch auch (state). Sie sind dabei spezifisch für
vor Organhandel, eine bestimmte Person und ein bestimmtes Verhal-
– Ärztinnen und Ärzte würden das Wohlergehen von ten. In den ersten beiden Phasen werden zur Diag-
Patienten zugunsten eigener Vorteile opfern, nostik kognitive Einstellungsaspekte erfragt, in der
– vorzeitige Erklärung des Hirntods, dritten Verhaltensabsichten und in der vierten und
– Bevorzugung von Wohlhabenden oder VIPs und fünften Phase das konkrete Verhalten.
Diskriminierung bei der Organvergabe. Die Phasen werden wie folgt eingeteilt:
– Phase der Absichtslosigkeit (»Precontempla-
Demgegenüber äußern Befragte auch subjektive tion«): Es besteht keine Intention zur Verhaltens-
Vorteile einer Organspende wie die Vorstellung von änderung in den nächsten sechs Monaten. Fehlen-
»Unsterblichkeit«, der »Möglichkeit, nach dem Tod der Intention kann mangelndes Problembewusst-
weiterzuleben« und dem Tod durch die Spende einen sein – zum Beispiel aufgrund fehlender Informa-
Sinn zu geben. Organspenderinnen bzw. -spender tion – zugrunde liegen, es kann aber auch auf-
werden auch als »Helden« betrachtet. grund hohen sozialen Drucks zu einem Reaktanz-
verhalten (Miron und Brehm 2006) bei einer
Person kommen. Gerade weil eine Verhaltensände-
rung erwartet wird, befasst sich die Person nicht
damit. Schließlich kann auch resignatives Verhal-
Das transtheoretische Modell ten nach erfolglosen Versuchen der Verhaltensän-
derung dazu führen, in dieser Phase zu verharren.
(TTM) der Verhaltensänderung
Absichtslosigkeit kann also bedingt sein durch ein
Fehlen von Informationen und mangelndem Pro-
blembewusstsein oder durch einen fehlenden Wil-
Das transtheoretische Modell (TTM) der Verhal- len, sich mit dem Problemverhalten auseinander-
tensänderung ist ein heuristisches Modell zur zusetzen. Diese Phase stellt die stabilste aller
Beschreibung, Erklärung und Förderung von Gesund- SoC dar, da hier ohne aktive Intervention die Wahr-
heitsverhalten (Glanz und Bishop 2010). Es verwen- scheinlichkeit einer Änderung gering ist.
det Konzepte, die unterschiedlichen psychologi- – Absichtsbildung (»Contemplation«): Es besteht
schen Theorien entlehnt wurden, woher sich der die Intention zur Veränderung, ohne bereits rele-
Name »transtheoretisch« ableitet. Es beschreibt die vante Schritte unternommen zu haben. Dieses
Bereitschaft zu einer Einstellungs- und Verhaltensän- Stadium ist gekennzeichnet durch die Auseinan-
derung im Hinblick auf ein konkret definiertes Pro- dersetzung mit dem Zielverhalten, ohne dass
blemverhalten in einem Phasenmodell (Norcross et jedoch konkrete Schritte in diese Richtung unter-
al. 2010) und stellt Strategien zur Förderung des Ziel- nommen werden. Die Personen stehen einer Ver-
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46 TAGUNGSBEITRÄGE
haltensänderung ambivalent gegenüber, wollen Verhaltensänderung und birgt das größte Risiko
aber in den nächsten sechs Monaten Schritte in für Rückfälle in frühere Phasen.
diese Richtung einleiten. Es wird allerdings keine – Aufrechterhaltung (»Maintenance«): Eine Einstu-
diesbezügliche Verpflichtung sich selbst oder an- fung in das SoC der Aufrechterhaltung erfolgt,
deren gegenüber eingegangen. Wie die Stufe der wenn das Zielverhalten zwischen sechs Monaten
Sorglosigkeit ist auch die Stufe der Absichtsbildung und fünf Jahren stabil beibehalten werden konnte
stabil in dem Sinne, dass Personen sehr lange in und Rückfällen vorgebeugt wurde. Das Zielverhal-
ihr verharren können, ohne dass ein Fortschreiten ten wird zur Routine. Diese Stufe kann lebenslang
im Veränderungsprozess erkennbar wird. andauern. Das Unterlassen von zum Beispiel Dro-
– Vorbereitung (»Preparation«): Personen in der gen- oder Alkoholkonsum oder die Beibehaltung
Stufe der Vorbereitung zeichnen sich dadurch aus, einer gesunden Lebensweise und die Auseinander-
dass sie entschieden und motiviert sind, mit der setzung mit möglichen Rückfallsituationen kön-
Veränderung des problematischen Verhaltens zu nen für betroffene Personen lebenslange Aufgaben
beginnen. Die Handlungsintention und/oder erste sein, die keinen Abschluss erfahren.
Schritte, das Zielverhalten umzusetzen, charakte- – Stabilisierung (»Termination«): Für einige Verhal-
risieren diese Phase. Die Stufe der Vorbereitung ist tensweisen hat sich die Einführung einer sechsten
weniger stabil als die beiden vorangegangenen Stufe bewährt, die dadurch gekennzeichnet ist,
Stufen, da es sich um eine zeitlich begrenzte dass vollkommene Zuversicht besteht, das Zielver-
»Durchgangsstufe« handelt, die sich auf den eng halten beizubehalten, und keine Versuchung für
umgrenzten Zeitraum der nächsten 30 Tage einen Rückfall besteht.
bezieht. Personen in der Stufe der Vorbereitung
werden von konkreten Angeboten zur Unterstüt- »Im Verlauf einer Intervention kann kein linearer
zung einer Verhaltensänderung (zum Beispiel Fortschritt von einem Stadium zum nächsten erwar-
Gewichtsreduktionsprogramme, Nichtrauchertrai- tet werden. Die SoC werden zwar in aufsteigender
nings, Anzeigen von Fitnessstudios) am ehesten Reihenfolge sukzessiv durchschritten, aber in jeder
angesprochen. Phase ist auch eine Regression (,retention‘) in eine
– Handlung (»Action«): In der Handlungsstufe set- vorhergehende Phase möglich. Eine Regression von
zen Personen das Zielverhalten bereits seit mehr Action oder Maintenance wird dabei als Rückfall defi-
als einem Tag und weniger als einem halben Jahr niert. Der therapeutische Umgang mit der Regression
um. Im Gegensatz zu den ersten beiden Stufen kann zu ,einem neuen Anlauf‘, das heißt zum erneu-
stehen hier beobachtbare Verhaltensweisen im ten Übergang in die nächst höhere Phase, führen
Vordergrund, in den ersten beiden Stufen eher (Keller et al. 2001). Häufig ist ein mehrmaliges
kognitiv-affektive Prozesse, weshalb Personen in Durchlaufen der Stadien (,recycling‘) nötig, bis ein
dieser Phase auch am häufigsten Reaktionen aus Verhalten langfristig als stabil zu betrachten ist«
ihrer Umwelt erfahren. Die von außen beobacht- (Maurischat 2001, S. 15f.).
bare Handlung in dieser Stufe ist jedoch nicht mit
der angestrebten Veränderung gleichzusetzen, Zusätzliche Konstrukte im TTM
sondern wird als ein Schritt auf dem Weg zu einer Als zusätzliche Konstrukte im TTM haben sich die
(stabilen) Veränderung gesehen. Die Stufe der Entscheidungsbalance (»decisional balance«) und
Handlung ist die aktivste Phase im Prozess der die Selbstwirksamkeitserwartung (»self-efficacy«)
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BEDINGUNGEN FÜR DIE BEREITSCHAFT ZUR ORGANSPENDE UND DAS TRANSTHEORETISCHE MODELL 47
etabliert. Diese Konstrukte werden im TTM als »ab- therapeutische Ansätze zurückgeführt werden. Wei-
hängige« Variablen betrachtet, in deren Variation tere handlungsbezogene Prozesse sind: Gegenkondi-
sich die fortschreitende Einstellungs- bzw. Verhal- tionierung (counterconditioning, zum Beispiel syste-
tensänderung ausdrückt. Die Entscheidungsbalance matische Desensibilisierung), Selbstverpflichtung
wird durch individuell wahrgenommene Vor- und zur konsequenten Veränderung des Problemverhal-
Nachteile sowie das Ausmaß der Wichtigkeit von Pro- tens/Fassen eines festen Vorsatzes (self-commit-
und Kontra-Argumenten operationalisiert. Sie reprä- ment), unterstützende Beziehungen aufbauen und
sentiert den kognitiven Aspekt der Verhaltensände- nutzen (helping relationships) und die Kontrolle der
rung und ist besonders wichtig in den frühen SoC. Umwelt (stimulus control). Fünf weitere Verände-
Veränderungen der wahrgenommenen Vor- und rungsprozesse beziehen sich vorwiegend auf das
Nachteile verlaufen über die verschiedenen Stufen emotionale Erleben und die subjektive Bewertung
hinweg systematisch und reproduzierbar, das heißt, (kognitiv): Steigern des Problembewusstseins (con-
während in frühen Stadien eher Nachteile gesehen sciousness raising), emotionale Betroffenheit erle-
werden, werden in späteren Stadien zunehmend Vor- ben (emotional arousal), Neubewertung der persön-
teile der Verhaltensänderung betont. lichen Umwelt (environmental re-evaluation),
Als Selbstwirksamkeitserwartung wird das Aus- Wahrnehmung der Auswirkung des eigenen Verhal-
maß der Zuversicht, ein Verhalten zeigen zu können, tens auf die Umwelt (self-re-evaluation) und das
definiert. Sie entwickelt sich aus eigenen Erfolgser- Wahrnehmen förderlicher Umweltbedingungen
fahrungen, Modelllernen und Zuspruch von Bezugs- (social liberation).
personen und ist besonders relevant in den späteren Die Veränderungsprozesse werden dabei in prä-
Stadien der Verhaltensänderung (Preparation to aktional kognitive und aktional behaviorale einge-
Action to Maintenance). Die Operationalisierung der teilt, das heißt, die kognitiven Prozesse werden eher
Selbstwirksamkeitserwartung erfolgt in der Regel in den frühen Stadien eingesetzt, die behavioralen in
nach dem Schema: »Ich bin zuversichtlich, das Ziel- den späteren.
verhalten zu zeigen, wenn ...«, worauf eine Auflis-
tung verschiedener kritischer Situationen erfolgt. Kritik am TTM
Beide Konstrukte können als Indikatoren der Verän- Als Kritik am TTM (West 2005) wird geäußert,
derungswahrscheinlichkeit und als Prädiktoren für dass die Zeitkriterien (Dauer der einzelnen Phasen)
Rückfälle gelten. zwar präzise, aber arbiträr sind. Die »Readiness to
Change« stelle demnach eher ein Kontinuum dar als
Änderungsprozesse diskret unterscheidbare Stufen. Auch die Stadienzu-
Ein weiteres Kernkonstrukt im TTM sind die Verän- ordnung, insbesondere in den Stadien »Precontem-
derungsprozesse (Processes of Change). Es werden plation« und »Contemplation«, ist nicht immer
zehn Prozesse genannt, die aus verschiedenen Psy- valide, da Personen hier das Zielverhalten noch nicht
chotherapieschulen abgeleitet worden sind. Somit zeigen sollten. Dies ist jedoch oft nicht zutreffend.
versucht das TTM »... die bedeutendsten Wirkmecha- »Stadienmodelle postulieren, dass sich Personen
nismen der wesentlichen Schulen zu identifizieren innerhalb eines Stadiums ähneln, sich aber von Per-
und die Stärken einzelner Ansätze zu bündeln« (Kel- sonen weiterer Stadien qualitativ unterscheiden.
ler et al. 1999, S. 17). Der Einsatz von Belohnungs- Theoretisch sollen im TTM die Veränderungsprozesse
systemen (Selbstverstärkung) kann auf verhaltens- zwischen den Stadien differenzieren, allerdings ist
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bisher hierfür die wissenschaftliche Evidenz ausge- wahrgenommene situative Barrieren und Ressour-
blieben. Die Idee, eine Verhaltensänderung nicht als cen ein. Barrieren können diese Prozesse hemmen,
dichotom zu betrachten, sondern anhand der Verän- und Ressourcen begünstigen sie (Gollwitzer und
derungsbereitschaft in mehrere Stadien zu untertei- Schaal 1998, Schweiger, Gallo und Gollwitzer 2007).
len, hat das TTM maßgeblich und erfolgreich in den
vergangenen 20 Jahren verbreitet. Es ist ein Ver- Theoriegeleitete Studien zur Organspendebereit-
dienst des TTMs, dass erstmals auch jene Personen schaft mit dem TTM
in einem Modell erfasst werden können, die über ein Keller et al. (2004) überprüften in einer anfallen-
verändertes Verhalten (noch) nicht nachgedacht den, nicht bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe
haben (Stadium der Absichtslosigkeit)« (Kanning Grundannahmen des TTMs im Hinblick auf die Organ-
2006, S. 33f.). spendebereitschaft in Deutschland. An 400 Mitarbei-
Am TTM wird weiterhin kritisiert, dass der Über- terinnen und Mitarbeitern und deren Angehörigen in
gang zwischen Motivation und Verhalten, nämlich mehreren Betrieben und Verwaltungen wurden in
der Aspekt der Volition als Bindeglied, fehle. Gollwit- einer Querschnittsbefragung 400 Fragebogen ver-
zer und Sheeran (2006) unterscheiden dabei Zielin- teilt. Die Rücklaufquote betrug 81%, das heißt, von
tentionen (goal intentions: »Ich beabsichtige X zu N = 325 Befragten (55% Frauen, Altersdurchschnitt
tun«) und Ausführungsintentionen, Vorsätze bzw. 38 Jahre, SD = 15 Jahre) konnten die Fragebogen
sogenannte »Wenn-Dann-Pläne« (implementation ausgewertet werden. Neben soziodemografischen
intentions: »Wenn Situation Y eintritt, dann mache Variablen und der Einstellung zur Organspende wur-
ich X«). Letztere stellen Handlungspläne dar, bei den Operationalisierungen der Konstrukte des TTMs
denen nicht nur ein bestimmtes Ziel formuliert, – bezogen auf das Zielverhalten »Ausfüllen eines
sondern auch die konkrete Umsetzung dieses Ziels Organspendeausweises und Mitteilen der Entschei-
spezifiziert wird, das heißt, wann, wo und wie eine dung in der Familie« – erhoben.
Person ein bestimmtes Verhalten zeigt bzw., wie sie Die Stufen der Verhaltensänderung hinsichtlich
mit möglichen Hindernissen, die der Erreichung der Entscheidung für die Organspende wurden durch
des Ziels im Wege stehen könnten, umgehen wird. einen auf dichotomen Antworten basierenden kate-
»Wenn-Dann-Pläne« stellen somit eine Strategie dar, gorialen Algorithmus operationalisiert, der jede Per-
die Personen den Übergang von der motivationalen son eindeutig einer Stufe zuweist. Als Einstiegsfrage
in die volitionale Phase erleichtert. Darüber hinaus diente: »Haben Sie die persönliche Entscheidung
stellen sie eine Strategie zur Selbstregulation dar, getroffen, Organspender zu sein?«. Personen wurden
indem die Verhaltenskontrolle an äußere Bedingun- der Stufe der Absichtslosigkeit zugeordnet, wenn sie
gen, das heißt an eine konkrete Situation, geknüpft diese Frage verneinten und in einer weiteren Frage
wird (»passing the control of one’s behavior on to angaben, keine Absicht zu haben, sich mit dieser
the environment«). Die Kompetenzerwartung Entscheidung in den folgenden sechs Monaten aus-
(Selbstwirksamkeit) stellt auch hier einen wichtigen einanderzusetzen. Bei noch nicht getroffener Ent-
Einflussfaktor dar, denn die Handlungsplanung und scheidung und der Absicht, sich in den folgenden
die Durchführung werden nur initiiert, wenn die dafür sechs Monaten zu entscheiden, wurden Personen
notwendigen Kompetenzen als vorhanden wahrge- der Stufe der Absichtsbildung zugeordnet. Alle Perso-
nommen werden. Jedoch wirken auf den volitionalen nen, die bereits eine Entscheidung für die Organ-
Prozess und das Verhalten zusätzlich auch noch spende getroffen hatten, ohne jedoch einen Spen-
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BEDINGUNGEN FÜR DIE BEREITSCHAFT ZUR ORGANSPENDE UND DAS TRANSTHEORETISCHE MODELL 49
Eine Organspende erfordert, dass Menschen zerlegt Wenn ich sterbe, würde ich in einer anderen Person
und entstellt werden. weiterleben.
Wenn ich Organspender wäre, würden meine Ärzte Eine Organspende würde meinem Tod einen positi-
vielleicht nicht so lange um mein Leben kämpfen. ven Sinn geben.
Wenn ich Organspender wäre, würden sie meine Meine Familie wäre stolz auf meine Entscheidung,
Organe vielleicht bereits vor meinem wirklichen Tod ein Organspender zu werden.
entnehmen.
Eine Organspende würde meiner Familie und Freun-
Meine Familie würde sich Sorgen um mich machen. den den Umgang mit meinem Tod erleichtern.
Meine Familie würde es ablehnen, dass meine Organe Man würde sich an mich als eine gute und hilfsbe-
entnommen werden. reite Person erinnern.
Organspende ist mit meinen religiösen Ansichten Ein Organspender zu werden, könnte mir nützen, da
nicht vereinbar. ich eines Tages vielleicht selbst ein Transplantat
brauche.
Wenn ich ein Organspender würde, könnte ich früher
sterben. Menschen können stolz auf ihre Entscheidung sein,
ein Organspender zu sein.
Abb. 5: Entscheidungsbalance-Skala zur Organspendebereitschaft mit den Subskalen »Wahrgenommene Nachteile« und »Wahrgenom-
mene Vorteile« (Keller et al. 2004)
deausweis zu besitzen oder mit den Angehörigen ge- teile (Beispiel: »Wenn ich Organspender wäre, wür-
sprochen zu haben, wurden in die Stufe der Vorberei- den meine Ärzte vielleicht nicht so lange um mein
tung kategorisiert. Schließlich wurden alle Personen, Leben kämpfen«), die alternierend angeordnet wur-
die eine Entscheidung für die Organspende gefällt den. Personen beantworten auf einer fünfstufigen
hatten und einen Ausweis besaßen und mit den Skala (»gar nicht wichtig« bis »extrem wichtig«),
Angehörigen gesprochen hatten, der Stufe der Hand- wie wichtig die einzelnen Aussagen für ihre Entschei-
lung zugerechnet. Eine Differenzierung von Hand- dung sind, Organspender bzw. Organspenderin zu
lung und Aufrechterhaltung ist in diesem Kontext werden.
nicht sinnvoll. Das Konstrukt der Selbstwirksamkeit erfasst im
Zur Erfassung der Entscheidungsbalance wurde Kontext des TTMs das Vertrauen, auch unter widrigen
eine Skala in Anlehnung an Robbins et al. (2001) Umständen das Zielverhalten zu zeigen. Eingesetzt
entwickelt (siehe Abbildung 5). Es handelt sich um wurde die von Robbins et al. (2001) entwickelte
sieben Items, die subjektive Vorteile der Entschei- Skala (siehe Abbildung 6). Sie umfasst acht Items
dung zur Organspende repräsentieren (Beispiel: (Beispiel: »Ich bin sicher, dass ich ein Organspender
»Eine Organspende würde meinem Tod einen positi- werden kann, selbst wenn meine Familie gegen
ven Sinn geben«), sowie um sieben subjektive Nach- Organspende ist«). Die Antwortmöglichkeiten rei-
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Ich bin sicher, dass ich ein Organspender werden kann, 5. ... meine Freundinnen und Freunde zum Teil gegen
selbst wenn ... Organspende sind.
1. ... meine Familie gegen Organspende ist. 6. ... ich mich von anderen unter Druck gesetzt fühle,
2. ... ich nicht viel Zeit habe, eine Entscheidung zu treffen. Organspender zu werden.
3. ... ich von jemandem, den ich nicht kenne, gefragt wor- 7. ... ich von Situationen gehört habe, wo Organspenden
den bin, ob ich ein Organspender werde. nicht funktionierten.
4. ... andere Menschen mich zu überzeugen versuchen, 8. ... ich diese Entscheidung in Gegenwart anderer Perso-
dass es nicht wichtig ist. nen treffen muss.
chen auf einer fünffach gestuften Skala von »gar Ausfüllen eines entsprechenden Ausweises und/oder
nicht sicher« bis »extrem sicher«. durch ein Gespräch mit den Angehörigen über diese
Wie aus Abbildung 7 ersichtlich ist, hat die Mehr- Entscheidung dokumentiert haben. Circa 17 % geben
heit der Befragten (61%) keine persönliche Entschei- an, sowohl einen Spendeausweis zu besitzen, als
dung getroffen, Organspenderin bzw. -spender zu auch mit Angehörigen über ihre Entscheidung ge-
sein und plant auch nicht, diese Entscheidung in sprochen zu haben (Stufe der Handlung).
absehbarer Zeit zu treffen (Stufe der Absichtslosig-
keit). Etwa 10 % denken darüber nach, dies in den Veränderungsbereitschaft und Entscheidungs-
folgenden sechs Monaten zu tun (Stufe der Absichts- balance
bildung), und circa 12% berichten, dass sie eine Ent- Die Skalen-Reliabilitäten für die Vorteile (a = .83)
scheidung pro Organspende getroffen haben (Stufe und für die Nachteile (b = .82) sind sehr zufrieden-
der Vorbereitung), dies jedoch noch nicht durch das stellend. Es gibt deutliche Unterschiede in der Wahr-
70
Gesamt Frauen Männer
60
50
Prozent
40
30
20
10
0
Absichtslosigkeit Absichtsbildung Vorbereitung Handlung
Abb. 7: Verteilung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die Stufen der Verhaltensänderung zur Organspende (Keller et al. 2004)
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nehmung der Vorteile einer Entscheidung für die Or- Veränderungsbereitschaft und Selbstwirksamkeit
ganspende zwischen Personen in unterschiedlichen Die Skala Selbstwirksamkeit weist mit a = .92
Stufen. Personen in der Stufe der Absichtslosigkeit eine sehr gute Reliabilität auf. Über die Stufen der
gewichten die Vorteile, Organspenderin bzw. -spender Verhaltensänderung hinweg betrachtet, gibt es hier
zu sein, deutlich niedriger als Personen in der Stufe deutliche Unterschiede (vgl. Tabelle 1): Personen in
der Absichtsbildung. Bei den wahrgenommenen der Stufe Handlung haben deutlich mehr Zutrauen in
Nachteilen finden sich noch deutlichere Unterschie- ihre Fähigkeit, auch unter widrigen Umständen (zum
de in den Mittelwerten zwischen den einzelnen Stu- Beispiel Beeinflussung durch andere) eine Entschei-
fen, jedoch erwartungsgemäß in umgekehrter Rich- dung für die Organspende zu treffen, als Personen in
tung: Für Personen in den Stufen Absichtslosigkeit den Stufen Absichtsbildung, Vorbereitung und beson-
und Absichtsbildung sind die Nachteile deutlich wich- ders in der Stufe der Absichtslosigkeit.
tiger als für Personen in den Stufen Vorbereitung und Circa 17% der Befragten haben nach eigenen Anga-
Handlung. ben bereits ihre Entscheidung für die Organspende
Aus Tabelle 1 wird ersichtlich, dass für Personen durch Mitführen eines Spendeausweises sowie ein
in der Stufe der Absichtslosigkeit die relativen Nach- Gespräch mit den Angehörigen dokumentiert. Diese
teile überwiegen, für Personen in späteren Stufen Zahl liegt über dem Bevölkerungsdurchschnitt und
jedoch die Vorteile der Entscheidung, Organspende- deutet darauf hin, dass möglicherweise selektiv eher
rin bzw. -spender zu werden, stärker in den Vorder- die Menschen, die dem Thema offen gegenüberste-
grund treten. hen, bereit waren, an dieser Befragung teilzuneh-
AL AB V H
Skala (N = 189) (N = 32) (N = 39) (N = 50)
Tab. 1: Mittelwerte für Entscheidungsbalance und Selbstwirksamkeitserwartung bezüglich Organspendebereitschaft über die Stufen der
Verhaltensänderung (Keller et al. 2004)
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men. Auf die Analyse der Beziehung einzelner Kon- externer Druck auf den Entscheidungsprozess aus-
strukte zueinander sollte dies jedoch wenig Einfluss geübt wird, das heißt, das Drängen zu einer Entschei-
ausüben. dung muss als kontraproduktiv angesehen werden
Es zeigen sich erwartungsgemäß deutliche Unter- (vgl. Keller et al. 2004).
schiede für die Ausprägung der wahrgenommenen
Nachteile der Entscheidung zur Organspende über Veränderungsstadien der Bereitschaft zur Freigabe
die SoC hinweg; je geringer die Nachteile gewichtet eines Angehörigen zur Organspende
werden, desto höher ist die Bereitschaft. Als Barrie- In einer amerikanischen Studie untersuchten
ren für eine Entscheidung müssen vor allem Befürch- Robbins et al. (2001) 169 Familien (von insgesamt
tungen bezüglich eines Missbrauchs gesehen wer- 270), die nach einer Organspende eines ihrer Ange-
den (Stichworte: Organhandel, Organentnahme vor hörigen gefragt wurden. 76% der Teilnehmenden
dem »eigentlichen« Tod und schlechtere medizini- waren weiblich, das Durchschnittsalter lag bei
sche Versorgung von Organspenderinnen bzw. -spen- 46 Jahren, 73% der Stichprobe waren Weiße. 80,5%
dern). Für die wahrgenommenen Vorteile der Ent- der Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten in die
scheidung zur Organspende zeigt sich zwischen den Organspende ihres Angehörigen eingewilligt. Gemäß
Stufen Absichtslosigkeit und Absichtsbildung der Tabelle 2 wurden die Teilnehmerinnen und Teilneh-
erwartete signifikante Anstieg. Für die Skala der mer an der Studie in die verschiedenen Stadien der
Selbstwirksamkeit repliziert sich der aus anderen Verhaltensänderung für die Entscheidung zur Frei-
Verhaltensbereichen bekannte Befund: Die Bereit- gabe zur Organspende eines Angehörigen eingeteilt.
schaft zur Veränderung korrespondiert mit der Diejenigen, die in das Stadium »Precontempla-
Zuversicht, diese Veränderung umzusetzen. Am tion« eingeteilt wurden (29%), willigten zu 54% in
geringsten ist die Zuversicht in Situationen, in denen die Organspende ein, diejenigen, die in das Stadium
Contemplation I was considering the option of organ donation for [NAME] but was not yet ready to
make that decision
Preparation I was ready to choose the option of organ donation for [NAME] and needed more
information on the process to go ahead
Action I had already decided to donate [NAME] organs and only needed to move the dona-
tion process along
* Telephone interviewers used the first name of the deceased family when reading the staging measure choices to the participants.
Tab. 2: Veränderungsstadien für die Entscheidung zur Freigabe eines Angehörigen zur Organspende (Robbins et al. 2001)
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Stage items
Pros Cons
1. Organ donation is an important way to help 1. My loved one has suffered enough already and
somebody else. shouldn’t have surgery for organ donation.
2. Organ donation allows something positive to 2. Organ donation will cause my family more emo-
come out of my loved one’s death. tional distress.
3. Organ donation might prevent another family 3. If I consent to organ donation, the doctors will
from losing a loved one. not try to save my loved one’s life.
4. My family approves of organ donation. 4. The physicians may take my loved one’s organs
5. Organ donation helps people cope with the loss before he/she is really dead.
of a loved one. 5. Consenting to organ donation means you can’t
6. Consenting to organ donation helps bring have an open casket for your loved one.
meaning to the death of a loved one. 6. Hospitals could bill donor families for the costs
7. People who consent to organ donation can feel of organ donation.
proud of what they have done. 7. Consenting to organ donation will delay my
loved one’s burial.
Tab. 3: Die Items der Entscheidungsbalance-Skala – für und wider die Freigabe eines Angehörigen zur Organentnahme (Robbins et al. 2001)
»Contemplation« eingeteilt wurden (15%) zu 65%; dium (41%) zu 99%. Demnach kann die Zuteilung
diejenigen, die sich im Stadium »Preparation« befan- zu den Stadien als valide gelten. Die in dieser Studie
den (15%) zu 96% und diejenigen im »Action«-Sta- eingesetzte Entscheidungsbalance-Skala ist in
54
52
Standard Score
50
48
46
Pros Cons
44
Precontemplation Contemplation Preparation Action
N = 44 N = 25 N = 25 N = 69
Abb. 8: Mittelwerte der Entscheidungsbalance-Skalen (»Pro« und »Con«) in den Gruppen »Precontemplation«, Contemplation«, »Pre-
paration« und Action« (Robbins et al. 2001)
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54 TAGUNGSBEITRÄGE
Tabelle 3 wiedergegeben. Beide Skalen mit sieben losigkeit bei den Befragten bei Weitem überwiegt.
Items weisen eine zufriedenstellende interne Konsis- Fehlender Intention kann mangelndes Problembe-
tenz auf (Cronbachs alpha: Pro-Skala: .85; Con-Skala: wusstsein zugrunde liegen, es kann aber auch auf-
.78). Die Interkorrelation beider Skalen in dieser Stu- grund sozialen Drucks Reaktanzverhalten gezeigt
die beträgt r = –.22. werden, oder das Problem wird aufgrund von Ängsten
In Abbildung 8 sind die Mittelwerte der Entschei- vermieden. Da diese Phase die stabilste aller SoC
dungsbalance-Skalen (»Pro« und »Con«) in den darstellt, ist ohne aktive Intervention die Wahr-
Gruppen »Precontemplation«, »Contemplation«, scheinlichkeit einer Verhaltensänderung gering.
»Preparation« und »Action« dargestellt. Um sich aus diesem Stadium in Richtung zielgerich-
Die Verteilung der Mittelwerte der Entscheidungs- teter Handlung zu entwickeln, haben sich in der
balance-Skalen auf die Veränderungsstadien fällt Suchtforschung kognitiv-affektive Strategien
theoriekonform aus. Während die Mittelwerte in der bewährt, wie zum Beispiel Steigern des Problembe-
»Pro«-Skala von der »Precontemplation«- zur wusstseins und Steigerung des emotionalen Erle-
»Action«-Gruppe signifikant zunehmen (p < .01), bens bzw. der emotionalen Betroffenheit. Weitere
nehmen die Werte der »Con«-Skala in gleicher Weise Studien zur Übertragbarkeit des TTMs auf das Prob-
ab (p < .01) (vgl. Robbins et al. 2001, S. 529). Dieses lem der Organspendebereitschaft sind jedoch nötig.
Ergebnis spricht für die Validität des Konzepts und So sollten die Stichproben größer und bevölkerungs-
seiner Operationalisierung. repräsentativer sein und weitere Determinanten der
Organspendebereitschaft (Gold et al. 2001) berück-
sichtigen, und zwar sowohl kognitive als auch nicht-
kognitive, wie eingangs beschrieben. Auch die
Pro- und Kontra-Skalen der Entscheidungsbalance
Fazit bedürfen der Überprüfung und möglicherweise einer
Erweiterung (Kroll et al. 2011). Solche Studien kön-
nen nicht nur unser Verständnis für die Mechanis-
Neuere Studien belegen, dass sogenannte »nicht- men der Entscheidungsfindung für oder gegen die
kognitive« Faktoren die Organspendebereitschaft Organspende verbessern; sie bilden auch die Basis
stärker beeinflussen als »kognitive« Faktoren (Mor- für gezielte, individualisierte und motivationsorien-
gan et al. 2008). Sowohl aus der Einstellungsfor- tierte Interventionen, die eine Auseinandersetzung
schung (Parisi und Katz 1986) als auch aus den mit dem Thema Organspende fördern können.
dargestellten Studien zum TTM wird deutlich, dass Auch wenn eine empirische Überprüfung für die-
Pro- und Kontra-Argumente bei jeder Person berück- sen Bereich noch aussteht, ist für eine Intervention
sichtigt werden müssen. Diese resultieren häufig in auf der Basis des TTMs zu erwarten, dass auf Strate-
ambivalenten Einstellungen, und die Entscheidungs- gien zurückgegriffen werden kann, die sich in ande-
balance fällt bei Überwiegen der Gewichtung bzw. der ren Bereichen der Verhaltensänderung bereits
Anzahl negativer Argumente gegen die Entscheidung bewährt haben (Glanz und Bishop 2010). Grundsätz-
aus, Organe zu spenden. lich ist jedoch davon auszugehen, dass die Förde-
Erste Umsetzungen des TTMs in Bezug auf die rung der Organspendebereitschaft ein Ziel ist, das
Organspendebereitschaft sind insgesamt ermuti- am ehesten durch das Zusammenarbeiten unter-
gend. Hier zeigt sich, dass das Stadium der Absichts- schiedlicher Disziplinen (Ärztinnen und Ärzte sowie
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BEDINGUNGEN FÜR DIE BEREITSCHAFT ZUR ORGANSPENDE UND DAS TRANSTHEORETISCHE MODELL 55
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56 TAGUNGSBEITRÄGE
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BEDINGUNGEN FÜR DIE BEREITSCHAFT ZUR ORGANSPENDE UND DAS TRANSTHEORETISCHE MODELL 57
58 TAGUNGSBEITRÄGE
Einstellung
zwischen spezifischen Einstellungen und dem ent- Indikatoren, Urteilsheuristiken und Antwortmuster
sprechenden spezifischen Verhalten, während die sozialer Erwünschtheit wurden als Verfahren bzw.
Korrelation zwischen globaler Einstellung und spe- als Gründe und Ursachen benannt, um die empi-
zifischem Verhalten mit r = .13 sehr gering ausfiel. risch immer wieder auftretenden Diskrepanzen zu
2. Aus einer theoretisch-methodischen Perspektive erklären und zum Teil auch zu reduzieren.
wurde der naive Entdeckerfrohmut – wonach das, Bezogen auf die Einstellungs-Verhaltens-Relation,
was wir denken, auch das ist, was wir tun – mehr- die an dieser Stelle themenrelevant ist, gibt es seit
fach korrigiert: Validere Messinstrumente, multiple fast 50 Jahren eine Modifikation der ursprüng-
Verfahren, kongruente Einstellungs-Verhaltens- lichen Frage nach der Relation von Einstellung und
Einstellung
Verhaltenskontrolle
60 TAGUNGSBEITRÄGE
Verhalten in die entweder eigentlich immer schon bei den Befragten etwas gibt, was wir als Perspek-
gemeinte oder aber auf jeden Fall ebenfalls be- tive der »Impliziten Theorie« bezeichnen. Damit
deutsame Frage: Wie lässt sich Verhalten vorher- sollen im Prinzip zwei unterschiedliche Tatbe-
sagen und welches sind die dazu relevanten Prä- stände gekennzeichnet werden, die sich aber
diktoren? beide auf eine Art »Impliziter Theorie« zurückfüh-
Eines der prominenteren Verhaltens-Vorhersage- ren lassen.
Modelle ist das Modell des überlegten Handelns Zum einen gibt es eine sehr hohe Zustimmung,
von Fishbein und Ajzen aus dem Jahr 1975 (vgl. wenn danach gefragt wird, wie wichtig das Thema
Abbildung 9) und mit leichter Modifikation dieses Organspende ist – die Ergebnisse der Befragun-
Ursprungsmodells die von Ajzen (1985) entwi- gen zeigen eine extrem positive Einstellung
ckelte Theorie des geplanten Verhaltens (vgl. Ab- gegenüber dem Spenden von Organen. Üblicher-
bildung 10). Auf das Vorhersagemodell von Martin weise wird die Diskrepanz zwischen der positiven
Fishbein, das nach wie vor das am weitesten ver- Einstellung und dem eher seltenen positiv gezeig-
breitetste, am besten untersuchte und auch am ten Organspendeverhalten als Ergebnis sozialer
erfolgreichsten angewendete Modell ist, wird noch Erwünschtheit erklärt. Wir wollen dieser Interpre-
eingegangen. tation nicht widersprechen. Vielmehr möchten wir
3. Zuvor aber soll eine dritte Perspektive, die wir als den Blick auf eine Facette dieses Themas richten,
»differenzielle« apostrophiert haben, kurz einge- um deutlich zu machen, dass die positive Bewer-
führt werden. Anhand einer der bislang umfang- tung und die öffentlich bekundete Zustimmung
reichsten Metaanalysen, die wir bereits vor einigen eigentlich zu den »mächtigsten« Prämissen der
Jahren durchgeführt haben (Eckes und Six 1994), gesamten Forschung zum Organspendeverhalten
lässt sich deutlich zeigen, dass die bivariaten zählen! Man denke nur daran, die Einstellungen
Einstellungs-Verhaltens-Relationen je nach Verhal- seien ambivalent, möglicherweise zurückhaltend
tenskategorie höchst unterschiedlich ausfallen und ablehnend – dann müssten diese kognitiv-
(vgl. Abbildung 11). Nur in einem summarischen emotionalen Barrieren auch noch überwunden
und vorläufigen Sinn lässt sich also eine numeri- werden.
sche Größenordnung der Einstellungs-Verhaltens- Ein Ergebnis unserer eigenen Untersuchungen
Beziehung angeben. zeigt, dass es eine deutliche Tendenz der Befrag-
Allein die Tatsache, dass unterschiedliche Katego- ten gibt, zum einen, als konsistent angesehen zu
rien von Verhaltensweisen mit Einstellungen werden, und zum zweiten, sich nach Möglichkeit
unterschiedlich korrelieren, lieferte Hinweise auf eine positive Identität zwischen dem eigenen
weitere Determinanten, die von jeweils unter- Handeln und den eigenen Überzeugungen zu
schiedlicher Bedeutung sind. Wir sehen derartige bewahren. In einer aktuellen Untersuchung zur
Ergebnisse als Beitrag im Sinne der »Aufklärungs- Akzeptanz der Organspende (Vogel et al. 2011)
forschung« sozial-kognitiver Strukturen und mit 441 Personen aus vier Bundesländern (Nord-
damit auch Silberstreifen am Horizont, wenn es rhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt,
darum geht, Änderungsstrategien einzuleiten, die Mecklenburg-Vorpommern) gaben so 33,8% der
zur Minimierung der Diskrepanzen führen. Befragten (bei einer Rücklaufquote zwischen 11%
4. Mit der vierten Perspektive ist gemeint, dass es und 15,5%) an, einen Organspendeausweis aus-
sowohl in der öffentlichkeit insgesamt als auch gefüllt zu haben.
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Familienplanung
Arbeit
Religion
Umweltverhalten
Rassismus
Gesundheit
Abweichendes Verhalten
Studierverhalten
Konsumverhalten
Wahlverhalten
Sicherheitsgurt tragen
Problemlöseverhalten
Drogengebrauch
Sozialpolitische Aktivitäten
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1
Gewichtete mittlere Korrelation
Abb. 11: Einstellungs-Verhaltens-Relationen für unterschiedliche Verhaltensbereiche (Six und Eckes 1996)
Bei einer Internetbefragung, die sich nur an Stu- Eine der möglichen Strategien, nach Gründen und
dierende richtete und an der sich insgesamt 839 Ursachen für ein geringes Spendenaufkommen
Studierende aus ebenfalls vier Bundesländern zu suchen, besteht also sehr wohl darin, Profile,
beteiligten, fiel die berichtete Einstellungs-Verhal- (das heißt subjektive Normen, Wertvorstellungen
tens-Konsistenz noch höher aus: 44,2% der etc.) von denjenigen zu erstellen, die sich als
befragten Studierenden hatten nach eigenen Anga- Organspenderin bzw. -spender zur Verfügung stel-
ben einen Organspendeausweis ausgefüllt. len, und solchen, die dies ablehnen.
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62 TAGUNGSBEITRÄGE
halb, weil in einer aktuellen, umfangreichen Mono- Ajzen folgt einer möglichst maßgeschneiderten
grafie die Erzväter dieser Forschung, Martin Fishbein Modellbildung für den spezifischen Verhaltensaus-
und Icek Ajzen (2010), die relevante Forschung schnitt.
zusammengetragen haben. Allerdings zeigen sich Basierend auf der vorliegenden Forschung zur
auch hier Lücken in der Dokumentation: Vorliegende Organspendebereitschaft sowie nach einer Reihe von
Publikationen zur Organspende auf der Basis diese Vorversuchen schienen drei zusätzliche Konstrukte
Modells sind nicht aufgeführt (zum Beispiel Kopf- von Bedeutung:
man und Smith 1996, Morgan, Miller und Arasarat- 1. Moralische Normen als Verpflichtung gegenüber
nam 2002), es finden sich einzig und allein empiri- der Gemeinschaft, individuelles Leben retten zu
sche Untersuchungen zum Blutspendeverhalten. können.
2. Die als Störung der Totenruhe empfundene Ent-
Das erweiterte Modell der Organspende nahme von Organen des Verstorbenen.
Basierend auf der Theorie überlegten Handelns 3. Das Misstrauen gegenüber Ärztinnen und Ärzten,
entwickelten wir das erweiterte Modell der Organ- die sich an Organspenden bereichern und mögli-
spende (Hübner und Six 2005; vgl. Abbildung 12). cherweise weniger sorgfältig bei der Diagnose der
Diese Erweiterung des Modells von Fishbein und Spendepersonen sind.
Einstellung
Subjektive Norm
Totenruhe
Misstrauen
Abb. 12: Erweitertes Modell der Organspende (Hübner und Six 2005)
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64 TAGUNGSBEITRÄGE
Das erweiterte Modell der Organspende testeten Einstellung gegenüber der Organspende stärkster
wir in einer Untersuchung, an der sich insgesamt Prädiktor der Verhaltensintention ist, während der
512 Studierende beteiligten. Die in Abbildung 13 Beitrag der subjektiven Norm – über die die subjektiv
zusammengefassten Ergebnisse zeigen, dass die wahrgenommenen Erwartungen wichtiger Bezugs-
.61 .63
A1
.42 .76
A2 Einstellung
.43 .76
A3
.22 .88
M1 .7*
.51 .70 (1.71)
Spenden- Verhalten
M2 Moralische Norm bereitschaft
.45 .74 –.28***
M3
(–5.5)
.44 .75
D1
–.05
Totenruhe (–1.52)
.18 .91
D2
.22 .88
Mi1
.51 .70
Mi2 Misstrauen
.45 .74
Mi3
Abb. 13: Erweitertes Modell der Organspende – Modelltest (Hübner und Six 2005). Die Beziehungen zwischen den Modellvariablen sind
durch gerichtete Pfade dargestellt. Die Stärke der Beziehungen wird durch b-Koeffizienten (standardisierte Regressionskoeffizienten)
angegeben.
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personen erfasst wurden – deutlich geringer ausfiel. ausgeprägt waren. Anders formuliert – entscheidend
Die Varianzaufklärung der Spendenbereitschaft des ist nicht die positive Sicht der Organspende, sondern
klassischen Modells – bestehend aus der Einstel- die Abwesenheit negativer Überzeugungen und Be-
lung und der subjektiven Normkomponente – betrug fürchtungen. Die hemmende Wirkung negativer
75 %. Durch die Einbeziehung der moralischen Norm Kognitionen und Emotionen wurde differenziert von
wurde nur 1% weitere Varianz aufgeklärt, durch die Hübner (2008) anhand des von ihr entwickelten
Berücksichtigung des Konstrukts »Totenruhe« wei- Organspende-Informationsverarbeitungsmodells
tere 4 %. Die Variable »Misstrauen in ärztliches Han- analysiert. Dieses Modell macht das Organspende-
deln« war dagegen kein signifikanter Prädiktor. Die verhalten, basierend auf der Fishbein-Ajzen-Theorie
Varianzaufklärung der Spendenbereitschaft betrug überlegten Handelns, von der Spendenbereitschaft
somit insgesamt 80%. und den Einstellungen abhängig. Anders als bei
Diesen vergleichsweise hohen Aufklärungsantei- Fishbein und Ajzen – jedoch in Anlehnung an Parisi
len der Varianz der Verhaltensintentionen steht eine und Katz – werden Einstellungen von uns hinsicht-
deutlich geringere aufgeklärte Varianz des Verhal- lich einer positiven und einer negativen Einstellungs-
tens gegenüber. Über die Spendenbereitschaft wur- komponente unterschieden. Die positive Kompo-
den allein 27% der Verhaltensvarianz aufgeklärt – nente umfasst etwa die Erwartung, mit einer Spende
was immerhin einer bivariaten Korrelation von circa Leben zu retten. Die negative Komponente beinhal-
r = .52 entspricht. Hinzu kommen weitere 2%, wenn tet dagegen Ängste, wie etwa die Sorge, bei Organ-
Misstrauen in ärztliches Handeln als weiterer Prädik- spenderinnen bzw. -spendern würde die Todesdiag-
tor verwendet wird. Insgesamt konnte mit diesem nose verfrüht gestellt. Die zur Modellüberprüfung
Modell eine Gesamtvarianzaufklärung von 29% er- durchgeführte Fragebogenerhebung an N = 115
reicht werden und damit eine multiple Korrelation Befragten – mehrheitlich Studierende – zeigte nicht
von r = .54. unerwartet, dass Informiertheit über Organspende
Wir halten die minimale Erhöhung der Zahl der und Mitgefühl (Empathie) mit denjenigen, die auf
Prädiktoren im Vergleich zum Ausgangsmodell durch Organspende angewiesen sind, die Einstellungen
die verbesserte Vorhersage gerechtfertigt. Mit dem zur Organspende beeinflussen. Dies geschieht aber
erweiterten Modell der Organspende lassen sich in differenzierter Weise: Informiertheit hat eher Aus-
zumindest quantitative Aussagen über die Wirksam- wirkungen auf negative Einstellungen (wie Störung
keit themenspezifischer Prädiktoren machen: Nega- der Totenruhe, Misstrauen in ärztliches Handeln) –
tive Erwartungen, wie eine befürchtete Störung der Information hilft, negative Einstellungen zu mindern.
Totenruhe oder befürchtetes unzureichendes Ver- Positive Einstellungen basieren dagegen eher auf
halten ärztlichen Personals, wirken sich negativ auf Empathie. Empathie zu erzeugen, fördert entspre-
die Spendenbereitschaft sowie das Ausfüllen eines chend zwar die Wahrnehmung positiver Aspekte der
Spendenausweises auf. Organspende. Negative Einstellungen – letztlich die
Wie bedeutsam negative Erwartungen sich auf die entscheidenden Variablen – können so jedoch nicht
Spendenbereitschaft auswirken, zeigte bereits eine erreicht werden.
frühere Studie von Parisi und Katz (1986): Auch
stark positive Einstellungen zur Organspende führ-
ten nur dann zu einer erhöhten Spendenbereitschaft,
wenn gleichzeitig negative Erwartungen nur gering
Umbruch FH 40 (4-6-2012)_Fachheftreihe_FPG_Blau_Musterdokument 30.07.12 09:46 Seite 66
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