Der Orthopäde
Leitthema
Orthopäde
https://doi.org/10.1007/s00132-019-03825-3
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von
Springer Nature 2019
Da der Klettersport immer beliebter
wird, nehmen auch die Fälle
sportartspezifischer Verletzungen
in der täglichen Praxis zu. Am
häufigsten sind dabei die Finger
und die Schultern betroffen.
Hierbei gibt es eine Vielzahl von
Differenzialdiagnosen. Gleichzeitig
ist mit einem Anstieg degenerativer
Verletzungen bei älteren Sportlern
zu rechnen.
Einleitung
Der Klettersport erlebt derzeit einen ra-
santen Aufstieg. Während Klettern in
den 1980er-Jahren noch eine Ausnah-
mesportart für Individualisten darstell-
te, kann der Sport mittlerweile zu den
Mainstream-Sportarten und Fitnessdis-
ziplinen gezählt werden. Dabei erlebt der
Sport als Wettkampfdisziplin eine zu-
nehmende Popularität, welche unlängst
in der Aufnahme ins Olympische Pro-
gramm gipfelte. Andererseits stellt gera-
de die Subdisziplin „Bouldern“ (seilfrei-
es Klettern in Absprunghöhe) eine Frei-
zeitsportart dar, die einen hohen Gesell-
schaftswert aufweisen kann. Die künstli-
chen Kletteranlagen und Boulderhallen
sind dabei nicht nur Treffpunkt für leis-
tungsorientierte Sportler, sondern gera-
de auch für Freizeit- und Feierabend-
sportler. Bedingt durch diese beiden ak-
tuellen Tendenzen kommt es zu einer
Verschiebung der Verletzungsmuster mit
der Notwendigkeit eines Umdenkens in
der Sportlerbetreuung. Die zunehmen-
de Professionalisierung der nun olympi-
schen Sportart führt dabei zu einer im-
mensen Steigerung der Trainingsvolumi-
Volker Schöffl1,2,3 · Michael Simon1 · Christoph Lutter4
1
Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sozialstiftung Bamberg, Bamberg, Deutschland
2
School of Clinical and Applied Sciences, Leeds Becket University, Leeds, UK
3
School of Medicine, University of Colorado, Denver, USA
4
Orthopädische Klinik und Poliklinik, Universitätsmedizin Rostock, Rostock, Deutschland
Finger- und Schulter-
verletzungen im Klettersport
na und -intensitäten bei Wettkampfathle-
ten [10]. Damit wird konsequenterwei-
se auch die Verletzungsinzidenz (insb.
Überlastungsschäden) in dieser Grup-
pe zunehmen [10]. Durch eine Verände-
rung des Routenprofils im Wettkampfs-
port ändern sich zudem die Anforderun-
gen an die Athleten und neue Verletzun-
gen, wie z. B. Verletzungen der ischio-
kruralen Muskulatur oder Frakturen der
Handwurzel werden häufiger [11, 27].
Andererseits zeigen sich insbesondere
bei Anfängern neuerdings teils höher-
wertige Verletzungsmuster. Unter dem
Begriffdes „Newbie“-Syndroms wird hier
über schwerere Verletzungen (Wirbel-
körperfrakturen etc.) berichtet, welche
bei vergleichsweise geringen Traumata
(Sturz auf die Matte aus 50 cm Höhe) bei
sportlichen Anfängern auftreten. Letzt-
lich sind diese Verletzungen als Ausdruck
einer abgeschwächten Ganzkörpermus-
kulatur in Verbindung mit einem Koordi-
nationsdefizit und motorischen Schwä-
chen zu werten [26]. Dabei führt ein ge-
ringes Trauma, welches beim Leistungs-
oder Freizeitathleten eine normale Trai-
ningsbelastung darstellt, bereits zu teils
höherwertigen Verletzungen [26].
Epidemiologie
Erfasst und ausgewertet wurden nun alle
kletterspezifischen Verletzungen unserer
sportmedizinischen Abteilung, welche
als Referenzzentrum für Klettersportver-
letzungen des Deutschen Alpenvereins
fungiert. Die gewonnenen Daten kön-
nen dabei mit den zurückliegenden
Erhebungszeiträumen verglichen und
aktuelle Trends und epidemiologische
Veränderungen innerhalb der Sportart
herausgearbeitet werden.
Die häufigsten akuten Verletzungen
im Klettersport sind durch Stürze bedingt
und betreffen die unteren Extremitäten
im Sinne von Sprunggelenksdistorsionen
und Frakturen [3, 9, 13]. Die häufigs-
ten Überlastungsschäden hingegen sind
an der oberen Extremität im Bereich der
Hände und Schultern lokalisiert [28], wo-
bei besonders sportartspezifische Verlet-
zungen wie Ringbandläsionen oder Epi-
physenfrakturen eine wesentliche Rolle
spielen [31].
Die . Tab. 1 gibt die kletterspezifi-
schen Verletzungen im eigenen Patien-
tenkollektiv über drei Erhebungszeiträu-
me an. Dabei zeigen sich stets Hand- und
Fingerverletzung als häufigste Verletzun-
gen. Über die letzten Jahre nahmen aller-
dings auch die Knieverletzungen zu, was
durchdie veränderte Technikund häufige
Anwendung der sog. Heel-Hook-Tech-
nik (aktiver Zug an unterer Extremität
in überhängenden Wandstrukturen) be-
dingt sein kann [27]. Vergleichbares gilt
für Verletzungen im Bereich der Schul-
ter [31]. Im Folgenden werden Finger-
und Schulterverletzungen als häufigste
Abkürzungen
AC Akromioklavikulargelenk
LBS Lange Bizepssehne
NSAR Nichtsteroidale Antirheumatika
PIP Proximales Interphalangealgelenk
SLAP Superiores Labrum von anterior
nach posterior
Der Orthopäde
 Leitthema

Tab. 1 Kletterspezifische Verletzungen im eigenen Patientenkollektiv bandverletzung [24]) erfolgte bisher ein
Verletzungen n % Verletzungen n % Verletzungen n % konservatives Vorgehen mit initialer
2017–2018 2009–2012 1998–2001 Ruhigstellung und frühfunktioneller Be-
(n = 633) (n = 911) (n = 604) handlung mittels Ringbandschutzring
Ringbandver- 78 12,3 Ringbandver- 140 15,4 Ringbandver- 122 20,2 (. Abb. 3).
letzung (Finger) letzung (Finger) letzung (Finger) In der täglichen Praxis hat dabei ak-
Tenosynovitis 67 10,6 Kapsulitis (Fin- 87 9,5 Epikondylitis 51 8,4 tuell die initiale Ruhigstellung etwas an
(Finger) ger) Bedeutung verloren; vielmehr wird be-
Kapsulitis (Finger) 49 7,7 Tenosynovitis 80 8,8 Tenosynovitis 42 7,0 reits frühzeitig eine Versorgung mittels
(Finger) (Finger) Ringbandschutzring für 6 Wochen ange-
Knieverletzung 45 7,1 SLAP-Verletzung 51 5,6 Kapselzerrung 37 6,1 strebt [18]. Ein posttraumatisch dauer-
(Finger)
haft vergrößerter Abstand zwischen Beu-
SLAP-Verletzung 37 5,8 Epikondylitis 50 5,5 Hautabschürfung 34 5,6 gesehnen und Knochen lässt sich damit
Impingement 34 5,4 Impingement 40 4,4 Rückenschmerzen 24 4,0 meist verhindern; eine kräftige Narben-
(Schulter) (Schulter)
platte bildet dabei eine Art „Neo-Ring-
Handgelenks- 22 3,5 Beugesehnen- 36 4,0 Knieverletzung 14 2,3 band“ aus.
überlastung zerrung (Finger)
Epikondylitis

Epiphysenfugen-
21

19
3,3

3,0
Morbus Dupuy-
tren
Kapselzerrung
30

25
3,3

2,7
Frakturen

Kapsulitis (Fin-
14

13
2,3

verletzung (Finger)
(Finger)
Wirbelsäulen- 18 2,8 Beugesehnen-
verletzung ganglion (Finger)
SLAP superiores Labrum von anterior nach posterior
Entitäten im Klettersport detailliert dis-
kutiert.
Verletzungen der Finger
Die Differenzialdiagnose von Finger-
verletzungen im Klettersport beinhaltet
mehr als 30 verschiedene Pathologien
[31, 33] von denen im Folgenden nur
die wichtigsten und sportartspezifischen
dargestellt werden sollen.
Ringbandverletzungen
Das Ringbandsystem des Fingers dient
der knochennahen Führung der Beu-
gesehnen, um die längswirkende Kraft-
entwicklung der Muskel-Sehnen-Einheit
in eine Flektionsbewegung der Finger-
gelenke umzulenken [17]. Anatomisch
gesehen besteht das Ringbandsystem
des zweiten bis fünften Fingers aus fünf
Ringbändern (A1–A5) sowie aus drei
Kreuzbändern (C1–C3) (. Abb. 1). In
Beugestellung der Finger vergrößert sich
der Abstand zwischen Beugesehnen und
Knochen über dem proximalen Inter-
phalangealgelenk (PIP) und der Winkel
zwischen Ringband und Beugesehnen
wird kleiner. Je kleiner dieser Winkel,
2,2
ger)
19 2,1 Beugesehnen- 11 1,8
ganglion (Finger)
umso größer wird die auf den Ringban-
dapparat wirkende Kraft, wobei sich die
größtmögliche Beanspruchung bei ma-
ximaler Beugung im PIP-Gelenk findet
[17]. Es ist daher nicht verwunderlich,
dass Ringbandrupturen die häufigsten
Verletzungen im Klettersport darstellen.
Gerade in schweren Routen mit sehr
kleinen Griffen treten besonders hohe
Belastungen an den Fingern auf [32]. Am
häufigsten betroffen sind dabei die das
PIP-Gelenk umgebenden Ringbänder
(A2–A4) [35]. Im Falle einer Verletzung
in diesem Bereich folgt die Diagnose-
findung dem in . Abb. 2 aufgeführten
Algorithmus [23].
Neben der klinischen Untersuchung,
welche im Falle von Mehrfachruptu-
ren oftmals ein deutlich sichtbares und
palpables „Bowstring-Phänomen“ (sub-
kutanes Aufspannen der Beugesehnen)
aufweist, empfiehlt sich zur weiter-
führenden Diagnostik der Einsatz der
Sonografie und ggf. Kernspintomogra-
fie. Durch die dynamische Sonografie
lässt sich eine Ringbandverletzung in
der Regel sehr sicher darstellen, sodass
eine MRT nur noch in Ausnahmefällen
durchgeführt wird [19]. Bei singulärer
Ringbandverletzung (Grad I–III Ring-
»vonBeimehreren
der Komplexruptur
Ringbändern ist
die operative Rekonstruktion
indiziert
Bei der Komplexruptur von mehreren
Ringbändern (Grad IV) ist die opera-
tive Rekonstruktion mittels Ringband-
plastik indiziert. Eine direkte Naht der
Ringbandstümpfe ist oft nicht erfolgver-
sprechend, sodass eine Ringbandersatz-
plastik notwendig wird. Bei Kletterspor-
tathleten empfiehlt sich, basierend auf
biomechanischen Analysen, eine modi-
fizierte „Loop and a half “-Operations-
technik, bei der das Transplantat aus-
gehend vom A2-Ringband weiter nach
distal verlängert wird [25].
Tenosynovitis
Die Tenosynovitis ist die wichtigste Diffe-
renzialdiagnose zur Ringbandverletzung
und das häufigste Überlastungssyn-
drom bei Kletterern [31]. Diese Über-
lastungsreaktion kann sich aufgrund
von konsekutiver Überlastung chro-
nisch progredient entwickeln, oder akut
nach Trainingseinheiten oder intensi-
ven Klettertagen auftreten [33]. Klinisch
imponiert der Finger mit einer milden
Schwellung, wobei ausgedehnte Schwel-
lungen wie bei Rheumatikern oder ein
„Lederknarren“ fast nie vorhanden sind
[7]. Im Rahmen der Untersuchung be-
steht palmarseitig ein Druckschmerz
auf Höhe des A2-Ringbandes oder im

Der Orthopäde
 Zusammenfassung · Abstract
Orthopäde https://doi.org/10.1007/s00132-019-03825-3
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
V. Schöffl · M. Simon · C. Lutter
Finger- und Schulterverletzungen im Klettersport
Zusammenfassung
Hintergrund. Der Klettersport erlebt derzeit
einen rasanten Wandel und entwickelt
sich von einer Trendsportart hin zu einem
Breitensport. Damit einhergehend steigt die
Anzahl klettersportspezifischer Verletzungen.
Fragestellung. Ziel der Arbeit ist es, die
Inzidenz von klettersportspezifischen
Verletzungen darzustellen sowie deren Klinik
und Therapie anhand der aktuellen Literatur
zu erläutern. Dabei liegt der Fokus auf Finger-
und Schulterverletzungen.
Material und Methoden. Es erfolgte die
Erfassung der Inzidenz von kletterspezifischen
Verletzungen im eigenen Patientenkollektiv
sowie die Diskussion der Diagnostik und
Therapie in Anbetracht der aktuellen Literatur.
Ergebnisse. Finger- und Schulterverletzungen
stellen die häufigsten Entitäten im Klettersport
Finger and shoulder injuries in rock climbing
Abstract
Background. Sport climbing is rapidly
becoming a popular trend sport, which
has resulted in a surge of climbing-specific
injuries.
Objectives. The goal of this paper is to
delineate the incidence of climbing-specific
injuries focusing on finger and shoulder
injuries. Furthermore, we aim to illustrate
clinical symptoms and therapeutic strategies
based on the current literature.
Materials and methods. The incidence of
climbing-specific injuries in a large patient
population was recorded and diagnosis and
treatment options were assessed considering
the current literature.
Results. Finger and shoulder injuries are the
most common entities in sport climbing.
Bereich der Handwurzel. Zudem findet
sich häufig auch eine Schmerzausstrah-
lung bis in den Unterarm. Die Sicherung
der Diagnose erfolgt mittels Sonogra-
fie wobei sich ein charakteristischer
Flüssigkeitsring (Halophänomen) im
Querschnitt zeigt (. Abb. 4).
Therapeutisch kann initial, je nach
Schwere der Symptome, eine Schienen-
ruhigstellung durchgeführt werden. Des
Weiteren umfasst die konservative The-
rapie neben einer Sportpause die Medi-
kation mit NSAR und Enzympräparaten,
dar. Im Bereich der Fingerverletzungen fanden
sich mehr als 30 verschiedene Differen-
zialdiagnosen wobei Ringbandrupturen,
Tenosynovitiden, Epiphysenfrakturen sowie
Lumbrikalisverletzungen einen besonderen
Stellenwert aufgrund Ihrer Sportartspezifität
einnehmen. Im Bereich der Schulter spielen
vor allem SLAP-Läsionen (superiores Labrum
von anterior nach posterior) eine wesentliche
Rolle. Diese stellen aktuell die fünfthäufigste
Diagnose aller Kletterverletzungen im eigenen
Patientenkollektiv dar. Verletzungen der
Rotatorenmanschette, Rupturen der langen
Bizepssehne, Impingement-Symptomatiken
sowie durch Schulterluxationen bedingte
Verletzungen (Bankart-Läsionen etc.)
gehören zu den zuletzt häufiger auftretenden
Pathologien im Klettersport.
With regard to finger injuries, more than
30 different differential diagnoses were
identified, with pulley injuries, tenosynovitis,
epiphyseal fractures, as well as lumbrical
muscle tears being of the greatest importance
due to their climbing-specific nature. With
regard to shoulder injuries, SLAP lesions
play a particularly important role, currently
representing the fifth most common diagnosis
in the patient population analyzed. Further
pathologies that are becoming increasingly
important among sport climbers are injuries
of the rotator cuff, long biceps tendon
ruptures, impingement syndromes and
injuries caused by shoulder dislocations (e.g.
Bankart lesions).
Eisabreibungen, Bürstenmassagen sowie
eventuell entzündungshemmende Hand-
bäder [7]. In chronischen Fällen kann ei-
ne lokale Kortikoidinstillation erfolgen,
welche streng in die Sehnenscheide und
nicht intratendinös erfolgen muss [7]. In
seltenen Ausnahmefällen besteht die In-
dikation zur offenen Tenosynovektomie
[7].
Diskussion. Fingerverletzungen gehören im
Klettersport zu den spezifischen Verletzungen
und stellen eine diagnostische Herausfor-
derung dar. Die Verletzungen der Schulter
werden in der Zukunft weiter zunehmen,
da neue Wettbewerbsmodalitäten und
Subdisziplinen (z. B. Bouldern) immer höhere
Anforderungen an die Athleten stellen.
Zudem ist mit einem Anstieg an degenerative
Verletzungen bei älteren Sportlern zu rechnen.
Schlüsselwörter
Sportverletzung · Ringbandruptur · Epiphy-
senverletzung · Lumbricalisverletzung · SLAP-
Läsion
Conclusions. Finger injuries are common in
sports climbing and can be challenging to
diagnose and treat correctly. The number
of shoulder injuries is expected to rise
as new competition modalities and sub-
disciplines (e.g. bouldering) increasingly stress
athletes’ musculoskeletal systems. An increase
of degenerative injuries in long-time climbers
is expected due to changes in the sport.
Keywords
Sport injuries · Pulley injuries · Epiphyseal
fractures · Lumbrical muscle tears · SLAP
lesion · Epiphysis · SLAP-tears · Sport injuries ·
Stress fractures · Upper extremity
Epiphysenfraktur
Besondere Beachtung muss den in
den letzten Jahren gehäuft auftreten-
den atraumatischen Epiphysenfraktu-
ren (Ermüdungsfrakturen) jugendlicher
Kletterer zukommen [7]. Zumeist han-
delt es sich dabei um Salter-Harris-
III-Frakturen [8, 20]. Ein auslösendes
Trauma wird von den Patienten nur
selten berichtet [8]. Die jugendlichen
Kletterer (meist 13.–16. Lebensjahr) be-
richteten vielmehr über langsam zuneh-
Der Orthopäde
 Leitthema
Abb. 1 8 Das Ringbandsystem der Fingerbeugesehnen; A Ringbänder, C Kreuzbänder
mende Schmerzen und Schwellungen im
Fingermittelgelenk [20]. Rezidivieren-
de Fingerschmerzen und Schwellungen
jugendlicher Kletterer müssen daher im-
mer radiologisch abgeklärt werden. Bei
klinischem Verdacht und unauffälligem
konventionellem Röntgenbild muss eine
MRT-Diagnostik erfolgen [20]. Die The-
rapie ist in der Regel konservativ, eine
reine Sportkarenz für 6–8 Wochen ist da-
bei meist ausreichend. Im Anschluss wird
eine MRT-Kontrolle empfohlen. Zeigt
sich in dieser Kontrolle eine Dislokation
oder eine fehlende Durchbauungsten-
denz, wird eine perkutane Epiphysiodese
mittels Kirschner-Draht empfohlen [4].
Lumbrikalisverletzung
Verletzungen der Lumbrikalismuskula-
tur sind eine seltene aber kletterspezifi-
sche Verletzungsentität, die erstmalig von
Schweizer et al. [34] beschrieben wur-
de. Unsere Daten zeigen jedoch in den
vergangenen Jahren eine deutlich zuneh-
mende Inzidenz [12]. Bei Kletterzügen,
bei denen der Athlet den entsprechenden
Griff mit nur einem oder zwei Fingern
festhalten muss, kommt es zur weitge-
henden Streckung des betroffenen Fin-
gers im Grundgelenk und im PIP-Ge-
lenk, während die benachbarten Finger
zur Kraftverstärkung voll flektiert wer-
den. Hierdurch wird die belastete Flex-
or-digitiorum-profundus-Sehne so stark
gegenüber den unbelasteten benachbar-
ten Profundussehnen verschoben, dass
die gemeinsamen Ursprünge der Mm.
lumbricales ebenfalls gegeneinander ver-
schoben werden; es kommt dabei zu Teil-
rupturen und Zerrungen in der Mus-
kulatur [12]. Die Diagnose kann meis-
tens bereits schon im Rahmen der klini-
Der Orthopäde
schen Untersuchung mittels Provokati-
onstest erfolgen (. Abb. 5). Hierbei zieht
der Kletterer am verletzten Finger bei
gebeugten benachbarten Fingern gegen
den Widerstand des Untersuchers. Ei-
ne Schmerzexazerbation in der Hohl-
hand ist als positiver Befund zu werten.
Werden die benachbarten Finger beim
Provokationstest ausgestreckt, kommt es
zu einem plötzlichen sistieren der Be-
schwerden. Die Therapie der Lumbrika-
lisverletzungen ist selbst bei höherwerti-
gen Muskelverletzungen stets rein kon-
servativ. Neben einer Sportkarenz wer-
den zudem Tapingverbände (Buddy-Ta-
ping), Dehnübungen zur Prävention von
Vernarbungen sowie ggf. Stoßwellenthe-
rapie empfohlen [12].
Verletzungen der Schulter
Epidemiologie
Insgesamt zeichnet sich eine Zunahme
der Schulterverletzungen im Klettersport
ab [9], was auch die Auswertung unse-
res eigenen Patientenkollektives wieder-
spiegelt [31]. Hierbei findet sich aktu-
ell ein Anstieg der Inzidenz für Schul-
terverletzungen beim Klettern von 5 %
(1998–2001) auf 17,2 % in den Jahren
2009–2012. Auf alle Kletterverletzungen
bezogen war dabei die SLAP-Läsion mit
51 (5,6 %) Verletzten die vierthäufigste
Diagnose überhaupt [31]. Die . Tab. 2
gibt Aufschluss über die aktuelle Ver-
teilung von Schulterverletzungen inner-
halb unseres Patientenkollektivs (Kletter-
sportler). Im folgenden Abschnitt wird
auf die Spezifika der im Klettersport we-
sentlichen Verletzungen näher eingegan-
gen.
SLAP-Läsionen
Die im Klettersport häufig verwendeten
„Schulterzüge“ stellen eine besondere
Bewegungsabfolge dar, welche vor allem
den Bizepssehnenanker belasten und da-
durch häufig zu SLAP-Läsionen führen
[29, 30]. Auslösende Bewegung ist eine
starke Innenrotation im Schultergelenk,
bei der die lange Bizepssehne (LBS), ge-
führt durch die Pulley-Schlinge, um den
Humeruskopf geschlungen wird. In Ver-
bindung mit der hohen Kraftanstrengung
führt dies zu einer erheblichen Belas-
tung der LBS-Insertion [29]. Dennoch
ist meistens nicht das Einzelereignis aus-
lösend, sondern vielmehr die chronische
Mikrotraumatisierung durch repetitive
Belastungen. Betroffen sind meist Ath-
leten >35. Lebensjahr mit langjähriger
Klettererfahrung [29]. Für die klinische
Untersuchung empfiehlt sich neben dem
O’Brien-Test die Durchführung zweier
kletterspezifischer SLAP-Provokations-
tests, welche die sportartspezifische Be-
lastungssituation simulieren (. Abb. 6).
Die Diagnosesicherung erfolgt durch
eine MR-Arthrographie [16]. Im Falle
höherwertiger SLAP-Läsionen empfiehlt
sich therapeutisch die primäre LBS-Te-
nodese. Unser Standardverfahren bei
Überkopfsportlern ist hierbei die Te-
nodese mittels Biotenodese-Schraube
im suprapektoralen Bohrloch [14, 15].
Gerade vor dem Hintergrund einer chro-
nischen Mikrotraumatisierung ist eine
solide Tenodese und die Ausschaltung
des Schmerzgenerators am Bizepsseh-
nenanker sinnvoll [2, 30]. Das superiore
Labrum wird zusätzlich zur Tenodese
originär refixiert. Zwar konnte in Studien
eine orthotope SLAP-Refixation beim
Nichtsportler in 75–97 % gute Ergebnis-
se liefern, bei Überkopfsportlern lieferte
das Verfahren jedoch nur in 22–75 %
der Fälle zufriedenstellende Ergebnisse
[2, 3]. Bei 6 Spitzenkletterern erfolg-
te deshalb eine primäre Tenodese mit
Rekonstruktion des kranialen Labrums,
alle Sportler erreichten wieder eine volle
sportartspezifische Funktionalität und
Belastbarkeit [30]. Auch Boileau et al. [2]
favorisieren beim Sportler eine primäre
Tenodese. Zudem zeigt eine aktuelle
Nachuntersuchung von 30 Kletterern
aus unserem eigenen Patientenkollek-
 Verdacht auf Ringbandruptur

Röntgenbild

Fraktur
Ja Nein

Ultraschall

Dehiszenz Sehnen zum Knochen

<2mm >2mm fraglich

MRT

Zerrung Singuläre Ruptur Mehrfachruptur

Abb. 3 8 Ringbandschutzring zur konservativen Behandlung von singulä-
ren Ringbandrupturen
Sympt. Therapie Kons. Therapie Operation

Abb. 2 8 Diagnostischer Algorithmus bei Verdacht auf Ringbandruptur.

Aus [24]

Abb. 4 8 Charakteristischer Flüssigkeitsring (Halophänomen) im Quer-

schnitt der Fingersonographie bei Tenosynovitis (Pfeil)

Abb. 5 8 Provokationstest bei V. a. Lumbrikalisverletzungen

Abb. 6 8 Kletterspezifische SLAP-Provokationstests (SLAP:superiores Labrum vonanteriornachposterior)[29].a SLAP-Test1:

Der Patient drückt bei 90° Abduktion und maximaler Innenrotation „aus der Schulter“ heraus (analog zur kletterspezifischen
Bewegung). Eine Schmerzhaftigkeit gilt als positiver Test. b SLAP-Test 2: Der Patient drückt gegen die Hand des Untersuchers
nach außen (analog zur kletterspezifischen Bewegung). Eine Schmerzhaftigkeit gilt als positiver Test

Der Orthopäde
 Leitthema
Tab. 2 Aktuelle Verteilung von Schulterverletzungen im Klettersport (n =154, 2017–2018) [31]
Schulterverletzungen 2017–2018 (n = 154)
SLAP-Verletzung
Impingement (Schulter)
Dislokation/Bankart-Läsion
Distorsion (Schulter)
Rotatorenmanschettenverletzung
AC-Verletzung
LBS-Tendinose
Instabilität (Non-Bankart)
Pulley-Verletzung
LBS-Ruptur
Andere
M.-supraspinatus-Tendinose
AC Akromioklavikulargelenk, LBS lange Bizepssehne, SLAP superiores Labrum von anterior nach
posterior
tiv gute Ergebnisse (durchschnittlicher
Constant-Murley-Score von 89,6 Punk-
ten) nach o. g. operativem Eingriff. Alle
Patienten konnten ihre sportliche Aktivi-
tät binnen 12 Monate wieder aufnehmen.
Siebenundsechzig Prozent der Patien-
ten waren auf einem vergleichbaren
Leistungsniveau wie vor der Verletzung
sportlich aktiv [14].
Schulterluxation – Bankart-Läsion
Neben traumatischen Labrumläsionen
durch akute Luxationen (Typ Gerber 2)
finden sich im Klettersport gelegentlich
Schulterbeschwerden auf dem Boden
chronischer Mikrotraumata mit ent-
sprechender Kapsellaxizität, gestörtem
muskulären Bewegungsmuster (Bayley-
Typ Polar III) und rezidivierenden Sub-
luxationen [29]. Bei unklarer Erstdiagno-
se ist eine MR-Arthrographie zwingend
erforderlich. Die Therapie der Labrum-
läsion ist meistens operativ [29]. Bei
funktionellen Instabilitäten hingegen,
die durch eine erhöhte Kapsellaxizität
sowie gestörte muskuläre Bewegungsab-
laufabläufe entstehen [29], handelt es sich
in der Regel um erworbene unidirektio-
nale Instabilitäten ohne Labrumdefekt.
Oft korrelieren diese Beschwerden mit
klettertechnischen Besonderheiten des
Athleten, wie gehäuftem „Hängen am
langen Arm“ ohne entsprechende mus-
kuläre Stabilisierung (passives Hängen
mit starker Belastung der Schulterge-
lenkskapsel) [22, 29]. Eine Kapsel-Band-
Der Orthopäde
n %
37 29,8
34 27,4
22 17,7
16 12,9
12 9,7
12 9,7
6 4,8
5 4,0
5 4,0
2 1,6
2 1,6
1 0,8
Insuffizienz und Schädigung von Mecha-
norezeptoren kann daraus resultieren.
Neben der mechanischen Insuffizienz
kommt es auch zu einer Einschrän-
kung der neuromuskulären Stabilisation
[1]. Die Therapie einer funktionellen
Instabilität im Klettersport ist rein kon-
servativ mittels Stabilisierungstraining
und Anpassung der Klettertechnik [22].
Rupturen der langen Bizepssehne
Da der Klettersport oft bis ins höhere
Lebensalter auf hohem bis sehr hohem
Niveau ausgeführt werden kann, sind de-
generative Rupturen der langen Bizeps-
sehne nicht selten [31]. Eine konserva-
tive Therapie von proximalen LBS-Rup-
turen resultiert in einer Kraftreduktion
von 8–21 % bei Flexion und Supination
im Ellenbogen. Nach chirurgischer Re-
fixation liegt dieses Kraftdefizit nur bei
0–10 % [21]. Da Kletterer in der Regel
kein Kraftdefizit akzeptieren, empfehlen
wir die operative Revision mittels Teno-
dese [29]. Alle so von uns therapierten
Sportler erreichten damit ihr früheres
sportartspezifisches Kletterlevel wieder,
wobei ein durchschnittlicher Constant-
Murley-Score von 97,8 Punkten und ei-
ne selbstevaluierte Bizepsfunktion von
97,3 % ermittelt werden konnte [21].
Impingementsyndrome
Impingementtypische Beschwerden(sub-
akromial, subkorakoidal, interne Im-
pingementsyndrome) sind die zweithäu-
figste Schulterpathologie bei Kletterern
[31]. Zusätzlich verstärkt werden die
Symptome oft durch eine degenerative
Veränderung des Akromioklavikular-
gelenkes sowie einen Haltungsschaden,
den kletterspezifischen Rundrücken [5].
Durch die beim Kletterer häufig ver-
kürzte Pektoralismuskulatur und einer
ausgeprägten rückseitigen Schultergür-
telmuskulatur kommt es zu einer ver-
mehrten Brustkyphose mit verstärkter
Innenrotationsstellung der Schultern
[5], was eine Impingementsymptomatik
noch weiter verstärkt. Der therapeu-
tische Ansatz ist zunächst konservativ
mittels Physiotherapie. Nur im Falle
therapieresistenter Beschwerden oder
bei zusätzlichen Sekundärpathologien
ist eine operative Therapie indiziert.
Rotatorenmanschettenruptur
Immer mehr ältere Sportler sind weiter-
hin auf einem hohen Leistungsniveau im
Klettersport aktiv [6, 36]. Mitunter treten
hierbei degenerative Veränderungen und
Verletzungen im Bereich der Rotatoren-
manschette auf. Die Diagnosesicherung
erfolgt auch hier mittels Kernspintomo-
graphie und Sonographie sowie mittels
einer ausführlichen klinischen Untersu-
chung. Im Falle von Komplett- oder hö-
herwertigen Teilrupturen ist eine operati-
ve Therapie mit Refixation indiziert [29].
Retrospektiv konntenSimonetal. [36]bei
12 Kletterern mit operativ versorgter Ro-
tatorenmanschettenruptur einen durch-
schnittlichen postoperativen Constant-
Murley-Score von 92 Punkten erzielen.
Alle Patienten konnten ihre vorherigen
sportlichen Aktivitäten 12 Monate post-
operativ wieder ausüben [36].
Fazit für die Praxis
4 Fingerverletzungen gehören im
Klettersport zu den spezifischen Ver-
letzungen und stellen oftmals eine
Herausforderung in der Diagnostik
und Behandlung dar.
4 Die klinische Untersuchung und die
Sonographie stellen die Grundsäulen
der Diagnosefindung von Fingerver-
letzungen bei Kletterern dar.
4 Eine weitere Zunahme an Schulter-
verletzungen ist wahrscheinlich. Dies
beruht u. a. auf der enormen Be-
liebtheit des Bouldersports, bei dem
höhere athletische Anforderungen
und Belastungen auftreten.
4 Degenerativen Überlastungsschäden
von Finger und Schulter werden bei
Klettersportlern weiter an Bedeutung
zunehmen.
4 Einige Verletzungsentitäten im Klet-
tersport bedürfen oftmals einer
operativen Therapie. Die sportspe-
zifischen Ergebnisse nach Rotato-
renmanschettenverletzungen, SLAP-
Läsionen (SLAP: superiores Labrum
von anterior nach posterior), trau-
matischen Labrumläsionen oder
Rupturen der langen Bizepssehne
sind dabei in der Regel gut.
Korrespondenzadresse
Dr. med. Michael Simon
Klinik für Orthopädie und
Unfallchirurgie, Sozialstiftung
Bamberg
Buger Straße 80,
96049 Bamberg, Deutschland
sporttraumatologie@
sozialstiftung-bamberg.de
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. V. Schöffl, M. Simon und C. Lutter
geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine
Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt.
Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort
angegebenen ethischen Richtlinien.
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