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Das Kunstmagazin der ZEIT

Nº108 November 2015    Seit 1930

Im Bann der Frauen: Die Wiener Moderne


25 Seiten

WSpIeE N
zial

€ 11,80 (D) 00108


SFR 20,– (CH)
€ 13,– (A, I, LUX, NL)
4 190713 511804

Zurbarán Der spanische Barockmeister in Düsseldorf Deutsche Fayence Ein Sammlerseminar


500 Millionen Dollar! Die Kunstschätze des früheren Sotheby’s-Besitzers Alfred Taubman
Denk
Kunst ist
eine LEIDENSCHAFT,
die wir gerne teilen.
Foto: Städel Museum

Kunstversicherung

Für Informationen wenden Sie sich bitte an:

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1029 Wien, Österreich

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12 Leadenhall Street, London, EC3V 1LP, UK

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UNSER
TITELBILD
TITELBILD: Courtesy Galerie St. Etienne, New York (Ausschnitt); Albertina, Wien; Courtesy Galerie St. Etienne, New York

Ein Maler zeichnet ein junges Aktmodell vor »Schiele, ein Aktmodell vor dem Spiegel tasien, aber ihr herausfordernder Blick signa-
dem Spiegel. Er sieht, wie sie sich selbst an- zeichnend« von 1910, unten vom selben lisiert, dass sie sich ihrer Macht über die
schaut, wie verführerisch sie sich findet, wie Künstler die »Sich zurücklehnende Frau mit Männer durchaus bewusst ist.
stolz sie auf ihre weiblichen Reize ist. Der Ma- grünen Strümpfen« aus dem Jahr 1917 Auf den Bildern von Schiele emanzipiert
ler ist Egon Schiele, ein junger Wiener Künst- sich die Frau ein Stück weit, auch wenn der
ler, der hier um 1910 etwas sehr Unkonventio- Maler in seiner persönlichen Haltung alles
nelles ausprobiert. Er zeigt nicht nur, wie andere als ein Feminist war. Eine große Aus-
damals bei Frauenporträts üblich, den Blick stellung im Wiener Belvedere zeichnet nun
des Mannes auf die Frau, sondern auch den beeindruckend nach, wie bei Schiele und den
Blick der Frau auf ihr malendes Gegenüber. zwei anderen bedeutenden Wiener Moder-
Auf einmal ist die Frau nicht mehr nur passiv, nisten, Gustav Klimt und Oskar Kokoschka,
sondern ein autonomes Wesen, das – mitun- das Thema weibliche Sexualität zum beherr-
ter schamlos – seine Rechte einfordert. Mit schenden künstlerischen Sujet wurde. Wir
ihrer sexuellen Attraktivität dient sie zwar im- haben dieser Schau unsere Titelgeschichte ab
mer noch der Befriedigung von Männerfan- Seite 22 gewidmet. MATTHIAS EHLERT

3
INHALT WI E N
Spezial

Bilder: Belvedere, Vienna; Georg Hornemann


Drei Tage in Wien S. 48

Kolumnen 18 Was passt zu … Die großen


Amelie von Wulffen?
Geschichten
10 Die Marktfrau 20 Was haben Sie gesehen,
Vintage-Mode ist ein Randgebiet Herr Obrist? 22 Das Rätsel Frau
im deutschen Auktionsmarkt, in Die Messe Expo Chicago, die Eine große Schau im Belvedere
dem aber viel Potenzial steckt Künstler von The Hairy Who widmet sich dem Verhältnis von
und die Sammlung Carl Thoma Klimt, Schiele und Kokoschka
12 Drei Wünsche zum weiblichen Körper
Eine Apfelfotografie von Martin
Mlecko, ein Wasserfarbenwald 32 Amerikanisches Epos
von John Wells und eine schöne Wegen Preisabsprachen wanderte
Silberschale von Tiffany Was passt zu …? S. 18 Sotheby’s-Chef Alfred Taubman
ins Gefängnis. Nach seinem Tod
14 Heimliche Zwillinge wird jetzt seine Kunst versteigert
Der Moderator Wieland Backes
und ein keltischer Votivkopf 38 Aufbruch in den Anden
Wie eine Kunstmesse Sammler
Kritikerfrage und Händler in Kolumbiens
Welche Kunststadt ist derzeit Hauptstadt Bogotá lockt
am aufregendsten?
40 Drama und Erleuchtung
16 Hand des Meisters Francisco de Zurbarán: die erste
Selbstgebranntes des Künstlers Retrospektive in Deutschland für
Franz von Stauffenberg den spanischen Barockmaler
Agenda
70 Mit dem Fiaker in die Zukunft 100 Stilkunde
Eine Ausstellung erinnert Elegante Zeitmesser: Sanduhren
an die legendäre Wiener
Galerie von Peter Pakesch 104 Auktionen
Das Auktionshaus Mehlis in Plauen
74 Kosmos in der Kiste offeriert Stühle; Herbstauktionen in
Joseph Cornells Assemblagen im New York bei Christie’s, Sotheby’s
Kunsthistorischen Museum und Phillips; Versteigerungen in
Wien im Dorotheum, Im Kinsky
76 Ausstellungen in Wien und bei Hassfurther; Schweiz: Asia-
Liebe in Zeiten der Revolution, tika bei Koller, Kunst und Antiqui-
Vija Celmins, Farbenrausch des täten bei Fischer und Stuker, Cahn
Expressionismus, Politischer bietet Antiken; Herbstauktionen bei
Populismus, Spurensuche der Lempertz, Van Ham, Döbritz und
Sammlung Feldmann und in der Villa Grisebach; Sammlung
der Designer Stefan Sagmeister Buchheim bei Neumeister
Taubman-Auktion, S. 32
78 Wiener Melange
48 Drei Tage Wien Die beiden Messen Wikam und
Bilder: Sotheby’s New York; Nagel, Stuttgart; Albert Oehlen/Privatsammlung

Hieronymus Boschs »Weltgericht« Art & Antique mixen Meister-


in der Akademie, Galerienbummel haftes aller Stile und Epochen
in der Taubstummengasse und
abends ab in die Miranda-Bar 84 Kunst für Weltverbesserer
Die Vienna Art Week
56 Sammlerseminar setzt auf konstruktive Kritik
Nach einem Preisabfall empfiehlt
sich die Fayencekunst des Barock 86 Kunsthandel Wien
und des Rokoko als ideales Gebiet Herbert Goslar in der Galerie
für antizyklische Sammler Frey, 40 Jahre Bel Etage

64 Glossar 88 Nachrichten
Begriffslexikon zu Fayencen sowie Jeff Koons in Florenz, Aquarell
wichtige Museen und Händler von Dix kehrt nach Mannheim
zurück, Rembrandt-Paar,
66 Thurn und Taxis Fragebogen Musée de l’Homme saniert,
Ralf Ziervogel über sein Kowdor Göring-Sammlung öffentlich

Personalien
Hartwig Fischer, Katia Baudin,
Galerie Pakesch, S. 70
Carla Juri, Christine Tohmé,
Bernd Reiß 138 Kunststück
»Der Hafen II/Hafen mit
90 Im neuen Licht zwei großen Dampfern« (1930)
Eine Kölner Schau zeigt kaum von Franz Radziwill
bekannte Facetten des
Malers Godefridus Schalcken 146 Bild meines Lebens
Matthias Schweighöfer über
92 Ausstellungen Bruno Brunis Lithografie
Picassos Skulpturen im MoMA, »Die Umarmung«
Kirchner in Aschaffenburg,
Munch trifft van Gogh,
»Save the Data«, Altmeister in
St. Gallen, Ferdinand Nigg 6 Editorial
8 Impressum
94 Messen
9 Mitarbeiter des Monats
BAAF, Affordable Art Fair
in Hamburg, Paris Tableau und 142 Termine
Cologne Fine Art 145 Vorschau

Sammlerseminar, S. 56
5
EDITORIAL

Liebe Leserinnen,
liebe Leser,
ein Wettrennen: Mit dem Fiaker durch Wien, an
einem kalten Tag im Spätherbst. Diesen Spaß ha-
ben sich Albert Oehlen und Martin Kippenberger
1985 erlaubt. Wer gewonnen hat – und mit wel-
chen Tricks –, das lesen Sie ab S. 70. Peter Pakesch

Bilder: Wolfgang Stahr; Didi Sattmann, Privatarchiv/Wien Museum (2)


hat die beiden Künstler damals in seiner Galerie
in der Ballgasse ausgestellt und ihre Eskapaden
begleitet. Jetzt hat er sein Archiv dem Wien Mu-
seum geschenkt, das der Galerie und ihren irr-
witzigen Projekten derzeit eine Ausstellung wid- sagt, outet sich sofort als Tourist. Die Wiener sa-
met. Im Foto unten von Didi Sattmann hat gen »Fjacker«, wie mir Martin Böhm, der Ge-
Kippenberger seinem bärtigen Kutscher die schäftsführer des Dorotheum erzählt hat. Das
Scheine schon gegeben, während Oehlen noch Wort stammt vom Kutschenstandplatz der Rue
lachend nach seiner Geldbörse greift. de Saint Fiacre in Paris, die wiederum nach dem
Achtung beim Thema Fiaker! Ich fand irischen Heiligen Fiacrius benannt ist.
zwar das langgezogene »Fii« klinge besonders Noch ein Wettrennen: Im November
Wienerisch. Stimmt aber nicht: Wer Fiiiacker herrscht auch im Auktionswesen Hochbetrieb,
und besonders konkurrieren die beiden größten
Häuser. Christie’s erwartet mehr als 100 Millio-
nen Dollar für einen verführerischen Akt von
Modigliani. Sotheby’s versteigert die Sammlung
des amerikanischen Immobilienmilliardärs
Alfred Taubman (S. 32). Sein Leben ist reich an
Höhen und Tiefen: Er kaufte das Traditionsun-
ternehmen Sotheby’s 1983, geriet wegen illegaler
Preisabsprachen mit der Konkurrenz in die
schlimmste Krise des Auktionswesens – und
wurde 2002 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Das ist der Öffentlichkeit bekannt. Doch welche
Schätze seine Sammlung umfasst, erfahren wir
erst jetzt, im Zuge ihrer Versteigerung.
Viel Spaß beim Lesen!

Ihre Lisa Zeitz


Chefredakteurin

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MITARBEITER
DES MONATS
Angela Gräfin von Wallwitz
Keramische Kunst ist das Thema ihres Lebens. Nach-
dem sie mit 23 als Trainee bei Sotheby’s in London an-
fing, arbeitete sie sich schnell zur Leiterin der Porzel-
lanabteilung hoch. Ab 1988 führte sie in London, später
in München einen erfolgreichen Kunsthandel für Ma-
jolika, frühe Porzellane und Fayencen. 2007 zog sich
Angela Gräfin von Wallwitz (re.), hier in München mit
einer Sammlerin, vom öffentlichen Geschäft zurück.
Bilder: Uwe Bayer; privat/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; privat

Doch weiterhin berät sie Keramikliebhaber und Mu-


seen. Ihre Kennerschaft ist heute in aller Welt gefragt:
die ideale Autorin für unser Sammlerseminar (S. 56).
»Fayencen sind ja nicht so wie Porzellane in Serie her-
gestellt und darum viel individueller«, schwärmt sie.

Nina Schedlmayer
Die 39-jährige Kunsthistorikerin ist unsere Frau in Wien: In
dieser Ausgabe stellt sie uns nicht nur ihre Lieblingsorte in
der Donaumetropole vor (S. 48), sondern bespricht auch
Joseph Cornells Assemblagen im Kunsthistorischen Muse-
um (S. 74). Mehr von ihr kann man bei »Profil«, in Zeitschrif-
ten wie »Camera Austria« oder der »Springerin« und in un-
serem Schwesterblatt »Kunst und Auktionen« lesen.

Gerd Presler
Mit 18 Jahren lernte er Franz Radziwill kennen,
später schrieb er das Werkverzeichnis seiner
Druckgrafik und blieb ihm in Freundschaft
verbunden. Unser Foto zeigt den Theologen
und Kunsthistoriker Anfang der Achtzigerjah-
re im Atelier des Künstlers. Vor über 35 Jahren
erschien Preslers erster Text in der weltkunst.
Wer sonst hätte jetzt für uns das »Kunststück«
zu Franz Radziwill (S. 138) schreiben sollen?

9
DI E M A R K T F R AU

Abendroben für Amazonen


Vintage-Mode ist für viele Auktionshäuser bloße Zierde. Dabei trägt sie nicht
nur Geschichte, sondern auch das Potenzial zur Wertsteigerung in sich

ie sind in den großen Auktions- ben ihren zweiten Frühling, wenn sie im Drei- und vierstellig sind die Preise meist, für
häusern hierzulande – bedauer- Auktionssaal erwählt werden. Dafür kommt die Interessenten Hingucker mit Geschichte
licherweise – nicht mehr als ein Haute Couture der Fünfziger- bis Achtziger- ersteigern können – gute Adressen sind dafür
Farbtupfer. Viel Arbeit, wenig jahre in Frage – aber nur, wenn sie gekonnt das Dorotheum in Wien oder Lempertz in
Ertrag, aber ein Spielbein, das allen Beteilig- Zeitgeist spiegelt, kaum getragen und nicht Köln. Als letzteres Haus im vergangenen Feb-

S
ten enorme Aufmerksamkeit verschafft.
Denn für die sogenannte Vintage-Mode, also
für Designerware aus vergangenen Jahrzehn-
umgeändert ist. Retro-Mode wurde allge-
mein beliebt, als sich 2001 die Filmschauspie-
lerin Julia Roberts auf der Oscarverleihung
ruar 143 Modelle des Designers Heinz Oester-
gaard aufrief (laut ZEIT aus der Sammlung
eines anonymen »jungen Herrn«), wurden
ten, begeistern sich längst nicht nur Frauen, in einem fast 20 Jahre alten Valentino-Kleid 71 000 Euro eingespielt.
sondern auch modisch interessierte Männer präsentierte. Auch Michelle Obama hat den Vintage-Mode hat in den angelsächsi-
– die Kostümpräsentation des Berliner Retro-Schick nochmals gepusht. schen Ländern einen viel höheren Stellen-
Kunstgewerbemuseums zum Beispiel basiert Katrin Stoll, Chefin im Münch- wert als in Deutschland. Wer mehr sucht als
im Wesentlichen auf einem Ankauf der ner Auktionshaus Neumeister, ein so originelles wie tragbares Einzelteil,

Bilder: Koller; Auctionata; Pablo Castagnola


Sammlung von Martin Kamer (einem Kos- schwärmt vom Material sollte deshalb die regelmäßigen Auktionen
tümbildner) und Wolfgang Ruf (ei- der Vintage-Mode, von Kerry Taylor in London ins Auge fassen.
nem Kunsthändler). das weder Elastan Die nächste »Passion for Fashion«-Auktion
Abendroben großer Couturiers, noch Viskose kennt, bei der Expertin, die die Couture von Promi-
Cocktailkleider und Mäntel, die um- und von der Quali- nenten wie Lady Di unter den Hammer
werfende Silhouetten zaubern, erle- tät der Drucke auf bringt, findet am 8. Dezember statt. Doch
schweren, schön Vorsicht im Auktionssaal: Als die Vorbesitze-
fallenden Stoffen. rin Marilyn Monroe hieß und das zu verstei-
Mode von gestern für Sammler von Im deutschspra- gernde Kleid weltberühmt war, weil die
heute: Die »Kelly Bag« von Hermès chigen Raum las- Muse es beim Geburtstagsständchen für den
aus dem Jahr 1997 erzielte bei Koller
sen Modeauktio- geliebten John F. Kennedy getragen hatte,
18 000 Schweizer Franken. Dazu
nen das Herz der war an Christie’s Kassenschalter nach dem
passt ein weiterer Klassiker: Bei
Auctionata fiel für das Tweed-Bouclé- Fashionistas nur Zuschlag eine Rechnung von 1,3 Millionen
Kostüm von 2003 aus dem Hause punktuell höher Dollar zu regulieren.
Chanel bei 1200 Euro der Hammer schlagen. Das On- Doch nicht jeder Vintage-Fan sucht
line -Auk t ionshaus gleich Museales zu einem Millionenpreis. Es
Auctionata konnte im gibt auch die Amazone, die ausschließen
Mai 2015 ein »Lacedress möchte, auf der VIP-Tour im Museum dem
with Bustier« von Yves eigenen Kleid wie einer Doppelgängerin zu
Saint Laurent für 1176 begegnen. Diese Jägerin wird sich also eher
Euro weitergeben. für gelebte Geschichte entscheiden und his-
Die nächste Spezialaukti- torische Modelle von Christian Dior, Coco
on zu »Jewellery, Fashion Chanel oder Valentino tragen, um die eigene
und Handbags« findet am Individualität zu unterstreichen. In unserer
14. Dezember statt. Koller in konformistischen Gesellschaft wirkt Vin-
Zürich versteigerte ebenfalls tage-Mode genau wie die Kunst als Mittel der
im Mai eine gesuchte »Kelly Distinktion.
Bag« aus Krokodilleder von Nix für ungut, Ihre sonst eher mode-
Hermès für knapp 20 000 müde Marktfrau, die Secondhand-Couture
Schweizer Franken. Ein Versa- zu schätzen weiß. ×
ce-Rock, der schöne Beine noch
schöner ausstellt, ging für 5100 Susanne Schreiber
Franken weg. Modebewusste ist Redakteurin des
Bieter tragen sich die nächste Vin- Handelsblatt und betreut
tage-Auktion bei Koller am 11. No- dort seit vielen Jahren
vember in den Kalender ein. den Kunstmarkt

10
Galerie Canesso
Pa r i s
altmeister Gemälde

Pier Francesco mola


Coldrerio (tessin),   rom, 
................................................................................................................................

Erminia ritzt Tankreds Namen in einen Baumstamm


Öl auf leinwand,  ×  cm

    ‒   ‒ laplace de


bourse ‒ ( -   )

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des Lebens«. Die »Äpfel« (28 x 21 cm), ein
Silbergelatine-Abzug von 2013, Auflage 5,
stammt aus der Reihe, die in dem Buch

Bilder: Pierogi Gallery; Martin Mlecko/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Kunsthaus Nüdling
»Les choses de la vie« im Kerber Verlag
veröffentlicht wurde. Über Grundemark
Nilsson Gallery in Berlin (0170 5470707).

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Papierrauschen
Wie Bäume und Blätter wirken die Formen in Wasserfarben
in der Arbeit »Untitled #2« von John Wells. Die Brooklyner
Galerie Pierogi (001 718 5992144) bietet das Blatt (16,5 x 13,3 cm)
zum Kauf an. In Deutschland ist die Galerie bereits bekannt:
2006 eröffnete sie für drei Jahre eine Dependance in Leipzig.

Frühstück bei Tiffany


Von schlichter Schönheit ist die Silberschale, die wir wir am Stand
des Kunsthaus Nüdling aus Fulda (0661 22303) auf der Münchner
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H E I M L IC H E Z W I L L I N G E

Keltischer Votivkopf Wieland Backes

Bilder: Finch & Co, London; SWR; Frank Röth/F.A.Z.


Manche Männer haben ein Lächeln, da denkt man, das
gibt es nur einmal. Etwa das von Wieland Backes, dem Gründer
der SWR-Talkshow »Nachtcafé«. Und doch lächelt jemand
ganz genau so, und das schon seit 2000 Jahren: Der keltische
Kultkopf, der bei Finch & Co auf der letzten Brafa ausgestellt
war, ist unserem Leser Adalbert Ruhnke aus Niederstetten
aufgefallen. Merci sagt Ihre bildredaktion@weltkunst.de

K R I T I K E R F R AG E

Welche Kunststadt ist derzeit am aufregendsten?

Samuel Herzog Kia Vahland Niklas Maak Lindsay Pollock Hanno Rauterberg
Neue Zürcher Zeitung Süddeutsche Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung Art in America DIE ZEIT

Ist es nicht gerade ein São Paulo ist längst das, Nach allem, was man Ich bin natürlich befangen, Ob Graz, Brüssel oder
Merkmal unserer Tage, dass was früher einmal New trotz allem dort zu sehen aber meine Heimatstadt Köln – in vielen Städten
man das eben nicht York war: ein Ort, an dem bekommt: Teheran. New York war, ist und wird regt sich eine Kunst
beantworten kann? Aber sich alle treffen, jeder seine Und »aufregend« ist es in absehbarer Zukunft der jenseits der Institutionen.
sicher werden uns die Nische findet und gänzlich auf jeden Fall, im Iran aufregendste Kunstort sein. Oft ist es die lebendigere.
Städte Ostasiens künftig Neues entstehen kann. Kunst zu machen oder Nirgendwo sonst gibt es
die meisten Überraschun- zu zeigen. diese Ansammlung von
gen bescheren. Die Künstlern, Museen,
Power ist da ganz enorm. Galerien und Kritikern.

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H A N D DE S M E I S T E R S

In Gino Veritas
Der Künstler Franz von Stauffenberg destilliert seinen Gin nach Gefühl und mit
handgeschälten Orangen. So entsteht ein Tropfen für Liebhaber

Bilder: Sorin Morar (6); Eberle & Eisfeld; Michael Biedowicz


tauffenberg Gin ist ein gutes einfacher Handarbeit. Zunächst verkaufte er Neben den klassischen Wacholderbeeren
Geschäft, die kleine Brennerei seinen Obstbrand in Galeriekreisen, dann kommen auch Zitronen- und Orangen-
aus Süddeutschland wird bei wurde das Interesse immer größer, und er be- schalen in den Gin. Die Gewürze mischt
Barkeepern immer beliebter, gann, Gin zu brennen. Zum einen, weil er Franz von Stauffenberg (Mitte) selbst,
auch die Etiketten klebt er eigenhändig auf

S
Es gibt ihn im KaDeWe in Berlin zu kaufen selbst Ginliebhaber ist, aber auch weil man
und beim Concept Store Murkudis. Mittler- Gin leichter in größeren Mengen herstellen
weile werden pro Monat ein paar hundert kann. Die Grundlage ist Agraralkohol, der mit den Gewürzen wird der Alkohol in die
Flaschen verkauft – mit steigender Tendenz. mit verschiedenen Gewürzen und vor allem Blase der Destille gegeben. Darin wird er an-
Dabei wollte Franz von Stauffenberg eigent- Wermut versetzt und destilliert wird. gewärmt und ruht zwölf Stunden. In dieser
lich dem Markt entfliehen. Allerdings nicht Das Besondere am Stauffenberg Dry Zeit spaltet von Stauffenberg das Buchen-
dem für Spirituosen, sondern dem für Kunst. Gin ist, dass er echte Handarbeit ist. Jeden holz, mit dem er die Blase befeuert.
Von Stauffenberg ist Filmkünstler, war Arbeitsschritt macht von Stauffenberg Es kommt auf das Geschick des Destil-
Teil des Duos RothStauffenberg und selbst. Es wird nie mehr gebrannt, als leurs an, das »Herz« des destillierten Alko-
verkaufte in einer Berliner Galerie. Das der Namensgeber selbst herstellen hols zu treffen. Der erste und der letzte An-
Kunstgeschäft aber wurde für ihn im- kann. Und jeder Brennvorgang ist et- teil des Alkohols, der aus dem Spiralrohr der
mer abstrakter – er sehnte sich nach et- was anders. Die Destille stammt aus Destille rinnt, wird abgetrennt und wegge-
was Echtem. den 1930er-Jahren, es ist ein Gerät schüttet. Anschließend wird der aromatisier-
Er erinnerte sich an die ohne Thermometer. Man be- te Alkohol verdünnt und nach einer Ruhezeit
kleine Brennerei im schwäbi- dient es nach Gefühl – und das gefiltert und abgefüllt. Auch das Etikett klebt
schen Jettingen, die in einem ist entscheidend für die Qualität der Graf selbst auf die Flaschen. Anschlie-
Gutshof des Grafengeschlechts des Gins. Jeder Durchgang be- ßend nummeriert er sie. Fehlte nur noch,
untergebracht ist. Sie wurde ginnt damit, dass von Stauffen- dass er sie signiert und ausstellt. ×
kaum noch benutzt, im Jahr berg die Gewürze mischt, außer
2007 ließ er sich von dem Brenn- Wacholder unter anderem La- Tillmann Prüfer ist Style
meister erklären, wie man Obst- vendel, Ingwer, Nelken und Director des ZEITmagazin.
brände herstellt. Es war als eine Kardamon sowie Zitronen- und Er stellt hier jeden Monat
Art Therapie gedacht, ein echtes Orangenschalen. Die Schalen herausragende Leistungen der
Produkt wollte er herstellen, in schneidet er selbst. Zusammen Handwerkskunst vor

16
1917 Gustav Klimt
Mädchenkopf

Österreichische Gemälde von 1800 bis heute


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Amelie von Wulffen

Bilder: Amelie von Wulffen, courtesy Gió Marconi, Mailand/Galerie Meyer Kainer, Wien/Freedman Fitzpatrick, Los Angeles; Courtesy of PAMONO & Galleria Swing/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Brunno Jahara; Georg Hornemann; Anna Arca
4

Märchenhafte und surreale Motive vermischt Amelie von Wulffen


mit privaten Erlebnissen von Verlust und Einsamkeit. Ihre Kunst
hält die Schwebe zwischen Collage und Malerei. Die Pinakothek der
Moderne in München zeigt bis zum 21. Februar rund 60 Werke

1 Wunderlampe 2 Sitzenbleiber 3 Monsterwespe 4 Drinkveredler


Amelie von Wulffen mixt In der Münchner Ausstel­ Oft ignoriert von Wulffen Wie in einer Collage sind
ihre Malstile, doch einen lung sind fünf Schulstühle Größenverhältnisse und Martino Gampers Unter­
Pinsel nutzt sie oft. Auch ein Hinweis auf die Male­ Naturgesetze. Die Wespe setzer »In Vino Veritas« aus
die Lampe »Frozen Light« rin als lernendes Wesen. »Rake« aus Gold und Silber Lederkreisen zusammen­
der Designerin Jungin Lee Diesen Hocker entwarf der von Georg Hornemann ist gesetzt (ca. 25 Euro).
lebt von schicken Pinsel­ Designer Brunno Jahara, so groß wie ein Unterarm
strichen (um 1900 Euro). er kostet 2300 Euro. (Preis auf Anfrage). Redaktion: Inga Krieger

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Chicago! Mit den Lokalmatadoren von


The Hairy Who, der Sammlung digitaler Kunst von
Carl Thoma und den Skulpturen von Charles Ray

Hans Ulrich Obrist


ist Kurator für zeitgenössische Kunst und
leitet die Serpentine Gallery in London

Was haben Sie gesehen, Herr Obrist? drei Ausstellungen hintereinander, 1967, 1968, war in den Fünfzigerjahren gegen den abs-
Ich komme mit ganz frischen Eindrü- 1969, berühmt geworden. Jim Nutt ist der be- trakten Expressionismus gerichtet. Der be-
cken aus Chicago, wo ich zehn Jahre lang kannteste, aber auch KARL WIRSUM (1) und rühmteste Vertreter war Leon Golub. Sein
nicht mehr war. Und nun war ich innerhalb Gladys Nilsson und die anderen haben da- Traum war immer, einmal in Mexiko auszu-

Bilder: Pentimenti Productions; Charles Ray/The artist and Matthew Marks Gallery; Milena Carstens; Illustration: Andrea Ventura
von drei Wochen gleich zweimal da. Es ist mals Chicagoer Kunstgeschichte geschrie- stellen, weil er von den dortigen Moralisten
eine neue Energie in der Stadt. ben. Meine Idee war, ein Gruppenporträt zu beeinflusst war. Bevor er gestorben ist, hat er
machen, indem ich alle Mitglieder befrage. mir davon erzählt. Deshalb ist die Ausstel-
Was war der konkrete Anlass? lung, die wir mit ihm in London gemacht ha-
Die Messe EXPO macht viele diskursive Gab es eine zentrale Erkenntnis? ben, zurzeit in Mexiko – wir erfüllen ihm sei-
Programme. Ich war dort, um ein Gruppen- Dass ihre Bücher damals genauso wich- nen Traum posthum.
gespräch mit den Leuten von The Hairy tig waren wie die Ausstellungen. Und dass
Who zu machen. Einzelgespräche mit Künst- die Künstler früh beeinflusst von Comics wa- Was gibt es sonst Neues in der Stadt?
lern mache ich ja fast jeden Tag, aber Kollek- ren, das macht ihre Arbeit so besonders, sie Theaster Gates hat ja schon seit Langem
tivgespräche sind etwas Besonderes. Mit beginnt immer mit einer Zeichnung. Wenn seine Nachbarschaft verändert mit künstle-
Rem Koolhas und anderen haben wir in der man so will, gab es hier eine lokale Überset- risch-politischen Projekten, mittlerweile hat
Serpentine Gallery einmal ein Gruppenge- zung des Surrealismus. Wenn man einmal in er sein eigenes Institut gegründet. Und es
spräch über London geführt, mit den Zero- diese Zeit eintaucht, stellt man fest, dass es gibt die spannende Sammlung von Carl Tho-
Künstlern habe ich ein Gespräch über Zero damals eine Reihe von Künstlergruppen gab ma, der sich auf digitale Kunst konzentriert.
geführt, vor Otto Pienes Tod. Es gibt ja nur wie etwa The Imagists, die der Stadt ein sehr Es gibt immer noch relativ wenige Sammlun-
noch wenige Künstlergruppen aus dem vitales, spezielles künstlerisches Leben ge- gen für digitale Kunst. In Deutschland gibt
20. Jahrhundert, bei denen noch alle Protago- schenkt haben. Das hat sich übrigens bis heu- es das ZKM in Karlsruhe, eine fantastische
nisten am Leben sind. te erhalten, abseits der beiden Zentren New Pionierinstitution für neue Technologie. Es
York und Los Angeles, auch wegen der gro- ist immer wieder erstaunlich, wenn man
So wie bei The Hairy Who? ßen Zahl von Sammlern. Es gab in der Gene- raus in die Welt geht, festzustellen, dass es
Ja. Die Hairy-Who-Leute, heute alle ration vor The Hairy Who eine andere Grup- eben nicht in jedem Land eine Institution
etwa Mitte siebzig, gehören zur sogenannten pe, The Monster Roster, die ebenfalls gerade wie das ZKM gibt. Wie wichtig das ZKM ist,
Counter-Culture-Bewegung und sind mit wiederentdeckt wird. The Monster Roster kann man gar nicht oft genug betonen.

Haben Sie noch einen Ausstellungstipp?


Die Skulpturen von CHARLES RAY (2),
die im Art Institute von Chicago in einem
Feld angeordnet präsentiert wurden, sodass
man Bezüge zwischen den Arbeiten herstel-
len kann. Auch die zwei neuen unbemalten
nackten Figuren sind dabei, die das Whitney
Museum aus Prüderie nicht zeigen wollte.

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb


der Kunstwelt?
Der aufregendste Roman des Jahres:
Alexandra Kleemans »You Too Can Have a
Body Like Mine«. Es geht um Identität – nicht
mehr als etwas Gegebenes, sondern als etwas,
das sich durch Entscheidungen verändert. ×

Christoph Amend, Herausgeber


der WELTKUNST,
befragt Hans Ulrich Obrist
jeden Monat nach seinen
1 2
Entdeckungen in der Kunst

20
40
Meisterwerke
jahre − 27
Albers
Awe
Baumeister
September
Becher
Cragg
Dix
− 23
Ernst
Francis
Fußmann
Januar 2016
Graubner
Hartung
Hesse
Jawlensky
Katz
Kirchner
Kneffel
Knoebel
Kollwitz
Lehmpfuhl
Liebermann
Macke
Marini
Mataré
Modersohn-Becker
Münter
Nauen
Nolde
Pechstein
Picasso
Piene
Poliakoff
Purrmann
Richter
Rohlfs Ernst Ludwig Kirchner
Schleime Sitzende Frau mit einem Hut in einem Restaurant, ca. 1912
Sintenis Aquarell, Deckfarben und Bleistift auf Papier
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8
DAS
RÄTSEL
FRAU
Klimt, Schiele, Kokoschka.
Sie alle kannten im Wien
um 1900 nur ein Thema:
das andere Geschlecht und
seine Geheimnisse. Eine
große Ausstellung im
Belvedere zeigt, wie stark
Frauen und Sexualität
ihre Kunst beeinflussten

VON
M AT T H I A S E H L E RT
HEA DZEILE

BU oben Ehenditati conet aut idellaborum


ipsum quia quati sam ut hit que ellorrovidus
dit pellacc aerupta sinctotaquid que eturio
volenih itatius.Arum videbisciis sequam,
Anis sinto voloribus, andus, evelis volest
ulpa aut omIm vendit re dolupt BU oben
Ehenditati conet aut idellaborum ipsum
quia quati sam ut hit que ellorrovidus dit
pellacc aerupta sinctotaquid queis

24
W I E N E R MODE R N E
Bild vorherige Seite: Privatsammlung, Courtesy Richard Nagy Ltd., London; Bild links: Kunstmuseum Solothurn, Dübi-Müller-Stiftung, 1980; Bilder rechts: Moritz Nähr/Leopold Privatsammlung; Leopold Museum, Wien; bpk/The Metropolitan Museum of Art

W
Was macht die Frau mit dem Mann? Saugt sie
ihn aus, beraubt sie ihn seiner wertvollsten
Kräfte? Zieht sie ihn hinab auf ihr Niveau? Ja,
was sind überhaupt Frauen? »175–186 cm über
dem Boden gehen Hüte spazieren und 15 cm
darunter Kleider, und diese werfen Falten
wie Lebendige«, notiert 1907
Oskar Kokoschka, einund­
zwanzigjähriger Student an
der Kunstgewerbeschule, und
stellt damit seine Verachtung
offen zur Schau. 
Sie ist im Wien des Fin
de Siècle durchaus gesell­
schaftsfähig, als besonders ra­
dikale Haltung zur Frauenfra­
ge. Diese ist das Thema der
Stunde, Karl Kraus spricht
vom »vaginalen Zeitalter«.
Über nichts wird intensiver
und heißblütiger unter Künst­
lern, Schriftstellern und Wis­
senschaftlern diskutiert als
über das Rätsel Frau. Sig­
mund Freud empfängt in sei­
ner Wohnung in der Berg­
gasse nervöse bürgerliche Damen und
diagnostiziert ihnen anhand ihrer Träume
einen unheilbaren »Penisneid«. Mehr Ein­
fühlungsvermögen in die weibliche Psyche
zeigt der Arzt und Schriftsteller Arthur
Schnitzler. In seinen Dramen und Erzählun­
gen, die erstaunlich offen über Sex reden,
dürfen Frauen auch eigenständig begehren.
Den unheilvollsten Einfluss übt der Philo­
soph Otto Weininger aus, der in seinem fluss der Kirche schrumpft angesichts des GUSTAV KLIMT war ein intimer Kenner der
Buch »Geschlecht und Charakter« Frauen Fortschritts der Wissenschaften, schon lange weiblichen Sexualität. In seinem Nachlass
komplett auf ihre Sexualität reduziert und ist der Liebesakt keine Erbsünde mehr. Aber fanden sich über 40 Zeichnungen, die sich
den Mann als geistiges Genie überhöht. Sein noch wird weitgehend eine Doppelmoral ge­ allein dem Thema Masturbation widmen.
früher Tod, er begeht 1903 mit 23 Jahren lebt, die sexuelle Erfahrung in die Bordelle Ebenfalls recht freizügig präsentiert sich
Selbstmord, macht Weininger zum Popstar verbannt, während zu Hause alles Ge­ eine der drei Nackten auf dem Gemälde
»Goldfische« von 1901/02 (linke Seite).
der akademischen Jugend. schlechtliche tabuisiert wird.  
Vorherige Doppelseite: Egon Schieles »Sit-
Das alles geschieht in einem Klima des Wie sehr das Thema Frauen auch das
zende Frau in violetten Strümpfen«, 1917
gesellschaftlichen Umbruchs. Veränderung Werk der wichtigsten Wiener Künstler jener
liegt in der Luft. Die Frauen werden selbst­ Zeit bestimmt hat, wie sehr sie mit ihm ge­
bewusster, fordern das Wahlrecht ein und rungen und auch ihre eigenen Beziehungen
den Zugang zu höherer Bildung. Der Ein­ in ihm verarbeitet haben, zeigt nun die gro­

25
W I E N E R MODE R N E

ße Ausstellung »Klimt, Schiele, Kokoschka 36, zeigt er auf der zweiten Ausstellung der ken studiert und danach begonnen, eine
und die Frauen« im Belvedere. Obwohl man Secession in Wien sein erstes offizielles Frau- stark ornamentale Malweise zu entwickeln,
in den vergangenen Jahren schon vieles über enbildnis. Das impressionistisch hingetupfte unter Verwendung von metallischen Farben
den »Weiberheld« Klimt, den »Sittenstrolch« Gemälde von »Sonja Knips« mit Blüten- und Gold – ein Material, das ihm als Sohn
Schiele oder den »Spießerschreck« Kokoschka schmuck und einem dramatischen Helldun- eines Goldschmieds vertraut war.
erfahren hat, leistet sie in ihrer Zusammen- kelkontrast macht ihn zum Star der Wiener Wie moderne Ikonen der Weiblichkeit
schau Pionierarbeit: Zum ersten Mal wird Gesellschaft. Aus dem Theatermaler wird ein wirken nun seine Modelle: extreme Luxus-
das Thema in all seinen Bezügen umfassend gefragter Porträtist, für dessen lebensgroße geschöpfe, gefangen in einem goldenen Käfig

Bilder links: privat; Belvedere, Wien; Bild rechts: Collection of the Gemeentemuseum Den Haag
ausgebreitet; Einzelaspekte wie die Darstel-
lung von weiblicher Selbstbefriedigung, die
bislang eher verschämt umschifft wurden, Anders als Klimt sucht Schiele die Interaktion mit seinen
werden offensiv erörtert.
Als Künstler hatte man um 1900 einen Modellen. Offensiv fordert er ihre Blicke heraus.
privilegierten Zugang zu Frauen: Man bot
ihnen einfach an, sie zu porträtieren. So
konnte man sie ungestört in seinem Atelier Bilder sich das Wiener Großbürgertum be- aus Repräsentation, Sittsamkeit und Wohl-
empfangen und sie dort zu aufreizenden Po- geistert. Ab jetzt malt er nur noch Frauen stand. Alles Individuelle tritt an ihnen zu-
sen ermuntern. Eine Möglichkeit, von der und entwickelt dafür einen eigenen Stil. Er rück, unnahbar wirken sie und undurch-
etwa Gustav Klimt ausgiebig Gebrauch löst sich zunehmend von seinen Vorbildern, schaubar. Was man von ihnen körperlich
machte. Um jedes seiner berühmten Frauen- dem belgischen Symbolismus und französi- wahrnimmt, sind nur das blasse Gesicht, oft
porträts rankten sich Gerüchte, wie weit die schen Postimpressionismus, und beginnt, leicht errötet, und die bleichen Hände, wäh-
Nähe zwischen Maler und Modell wohl ge- naturalistische Züge mit den dekorativen rend ihr glanzvolles Äußeres mit der Umge-
gangen sei. Mit vielen seiner Aktmodelle, die Elementen des Jugendstil zu verbinden. bung zu verschmelzen scheint. In dieses De-
ausnahmslos aus niederen sozialen Schich- Anschaulich lässt sich dieser Übergang kor bettet Klimt dann subtile sexuelle
ten stammten, knüpfte der Künstler, dem in der Wiener Ausstellung verfolgen. Dem Symbole ein, etwa stilisierte Spermien oder
eine »urwüchsige Kraft« und »Erdgeruch« meisterhaften Bildnis der »Marie Henne- Eizellen, deren Abbildungen er aus den po-
nachgesagt wurden, sexuelle Beziehungen berg« (1901/02), in dem Raum und Sessel pulärwissenschaftlichen Büchern seiner Zeit
an. Obwohl er nie verheiratet war und mit noch pointillistisch angedeutet werden, steht kannte. Angewandte Freud’sche Sublimie-
seiner Mutter und den beiden Schwestern das nur vier Jahre später entstandene Porträt rungstheorie ist das, hatten doch die darge-
unter einem Dach lebte, soll von Fritzi Riedler gegenüber, stellten großbürgerlichen Frauen oft früh ei-
er bis zu 14 uneheliche Kin- das in seiner abstrakt-schim- nen weitaus älteren, vermögenden Mann
der gezeugt haben. Frauen merndenen Flächigkeit voll- geheiratet und lebten nun ihre unerfüllten
waren Klimts natürliche kommen anders wirkt. Es ist künstlerischen, intellektuellen und eroti-
Umgebung, er lebte unter ein Hauptwerk aus Klimts schen Sehnsüchte als Salongastgeberin oder
ihnen, war mit ihrer Ge- »Goldener Periode«, die 1903 Sammlerin aus.
fühlswelt und ihrer Körper- nach einem Besuch in Raven- Aber Klimt konnte auch deutlicher wer-
lichkeit vertraut. Nackte na einsetzt. Ausführlich hatte den. Sobald er das Sujet des Auftragsporträts
Schwangere tauchen auf sei- er dort byzantinische Mosai- verließ und sich seinen Phantasmagorien
nen Bildern ebenso selbst-
verständlich auf wie ausge-
mergelte Alte oder pralle
Jugendschönheiten.
Doch eines scheint die-
ser erfolgreiche Frauenver-
steher nicht gekannt zu haben: die große, al-
les verzehrende Leidenschaft, die Körper
und Geist zugleich ergreift. Immer hielt er
einen Rest Distanz, und diese Distanz ist
auch ein Schlüssel zu seinem Werk. Klimt
fühlte sich vollkommen der Schönheit und
dem Ästhetischen verpflichtet; die Abgründe
der Seele zu erforschen, interessiert ihn nicht.
Zum Frauenporträt findet Klimt erst re-
lativ spät. Im November 1898, da ist er schon

EGON SCHIELE wird nach seiner Heirat


in der Darstellung von Frauen gemäßigter.
1917 malt er ein Liebespaar in zärtlicher
»Umarmung«. Rechte Seite: ein Porträt sei-
ner Ehefrau »Edith Schiele in gestreiftem
Kleid«, das im Jahr 1915 entstand

26
W I E N E R MODE R N E

hingab, drängten erotische Motive in den von seinem Meister und reüssiert mit expres- cke ein, mal verwirrt oder ängstlich, mal ag-
Vordergrund. In »Goldfische« (1901) streckt sionistischen Darstellungen leicht bekleide- gressiv oder verachtend, und betrachtet sich
eine der drei nackten Grazien dem Betrach- ter Frauen, die bei männlichen Sammlern selbst als Erforscher der Geheimnisse körper-
ter kess ihren runden Hintern entgegen. Hier reißenden Absatz finden. licher Anziehung. Auf diese Weise gewinnen
sind die Frauen ganz von Natur durchpulst, Auch für Schiele sind Frauen und seine seine Modelle eine sexuelle Autonomie, die
schwerelose Wasserwesen, deren einziger Da- Beziehung zu ihnen das vorherrschende The- auf die Betrachter damals wie heute mitunter
seinszweck die sinnliche Verführung ist. ma. Anfangs steht ihm seine Schwester Ger- verstörend wirken kann.
Noch expliziter geht es auf seinen ti Modell, dann zwei »schwarzhaarige Mäd- Ihre besondere Spannung gewinnen
Zeichnungen zu, denen man im Belvedere chen«, wahrscheinlich Prostituierte, schließ- Schieles Bilder durch den leeren Hinter-
einen eigenen Ausstellungsabschnitt widmet. lich Wally Neuziel, die 1911 zu seiner Muse grund, der zu den farblich hervorstechenden
Hier erweist sich Klimt als intimer Kenner und Geliebten wird. Die Liebe zu Wally trägt Haaren, Geschlechtsteilen oder Strümpfen
der weiblichen Sexualität, dem weder sich in- reiche künstlerische Früchte. Im Jahr ihres kontrastiert. Die Frauen wirken bei ihm wie
nig küssende Frauen noch der Gebrauch von Kennenlernens malt er »Die rote Hostie«, ein in Schaukästen ausgestellt oder auf weißen

Bilder links: Österreichische Nationalbibliothek; Fondation Oskar Kokoschka/Bildrecht, Wien, 2015/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Bild rechts: Belvedere, Wien
Sexspielzeugen fremd waren. Detailliert wie Doppelporträt, das sie und ihn in ekstati- Laken drapiert, was ein Gefühl der Isolation
in Filmstills sind da etwa einzelne Phasen kli- scher Vereinigung zeigt und dabei sexuelle und Angst evoziert. Zeitgenössische Betrach-
toraler Stimulation festgehalten, von der sich Praktiken mit christlichen Motiven kreuzt. ter empfanden das als schamlos und erkann-
steigernden Erregung bis zur glücklichen Er- Anders als Klimt sucht Schiele die Interakti- ten auf den Bildern »geschundene« Körper
mattung. Was auf den voreingenommenen on mit seinen Modellen. Er fordert ihre Bli- und Seelen. Als Schiele dann auch noch 1912
Betrachter wie eine Frühform der Por- wegen Verstößen gegen die Sittlichkeit
nografie wirkt, interpretiert der Kurator kurzzeitig inhaftiert wird, hat er seinen
Alfred Weidinger als revolutionären Ruf als Pornograf weg.
Akt. Für ihn ist Klimt der erste Künstler, Dabei agierte er weitaus bürgerli-
der die weibliche Selbstbefriedigung cher, als man angesichts seiner drasti-
ohne Angst und Scham zeigt, und das schen Werke vermuten würde. Dass er
in einer Zeit, die noch voller Vorurteile Wally nicht heiraten konnte, war ihm
gegenüber einer eigenständigen weibli- von vornherein klar, dafür war ihr so-
chen Sexualität steckte. zialer Status zu niedrig. Seine spätere
In dieser Zeit sieht ein 17-jähriger Ehefrau Edith behandelte er autoritär
Kunststudent, dem seine Professoren und engstirnig, strikt trennte er nach
eine außergewöhnliche Begabung tes- der Eheschließung künstlerisches
tieren, die Arbeiten Klimts und ist hin- Schaffen und Privatleben. Seine Bilder
gerissen. Noch bevor er einen Abschluss wurden realistischer und gelassener,
hat, verlässt Egon Schiele die starre Wie- weniger gynäkologisch, auch wenn er
ner Kunstakademie und startet, geför- bestimmte Stilmittel wie verkürzte
dert von Klimt, eine Blitzkarriere. Jun- Gliedmaßen und ungewohnte Kompo-
ge Genies sind damals in Mode, sitionen beibehielt. 1918 raffte ihn mit
Hoffmannsthal hat es in der Literatur 28 Jahren die Spanische Grippe hinweg,
vorgemacht. Schnell emanzipiert er sich wer weiß, welche künstlerische Ent-
wicklung er noch genommen hätte.
Wie es vielleicht gekommen wäre,
lässt sich am Lebensweg Oskar Ko-
koschkas ablesen, der im Wien des Fin
de Siècle mit Schiele um die Rolle des
Klimt-Kronprinzen konkurriert. Als er
im Frühling 1908 die Lithografien zu
seinem bei der Wiener Werkstätte er-
schienenen Künstlerbuch »Die träu-
menden Knaben« auf der Kunstschau
vorstellen darf, verteidigt Klimt die Ent-
scheidung mit den Worten »Oskar Ko-
koschka ist das größte Talent der jünge-
ren Generation. Und selbst wenn wir
Gefahr liefen, dass unsere Kunstschau
demoliert würde, nun, dann geht man
eben zugrunde. Aber man hat seine
Pflicht getan.«
OSKAR KOKOSCHKA versieht 1918 in Kokoschka hatte das Buch, in dem
Dresden sein Bild »Stehender weiblicher er die verschmähte Liebe zu seiner Mit-
Akt« mit den Gesichtszügen Alma schülerin Lilith Lang verarbeitet, mit
Mahlers. Drei Jahre sind die beiden da sexuell aufgeladenen, noch am Secessi-
schon getrennt. Re. Seite: Gustav Klimts onsstil geschulten Illustrationen verse-
Porträt von »Johanna Staude« (1917) hen, die vieles von dem vorwegnahmen,

28
W I E N E R MODE R N E

Das Kindweib entzündete in Wien die Fan-


tasie von Künstlern und Literaten. Oskar
Kokoschkas Aquarell »Tanzendes Mädchen
in blauem Kleid« (1908) zeugt davon

res übrig, so erinnert er sich in seinen Me-


moiren, als sich davonzustehlen und Gemäl-
de samt Farbkasten zurückzulassen.
Zu diesem Zeitpunkt war er bereits ein
gefragter Künstler, der Klimt als Vorbild
längst hinter sich gelassen hatte. Mit seinem
expressiven Malstil, der auf Symbole und Or-
namente verzichtete, empfand er sich als See-
lenerkunder, sowohl seiner eigenen verborge-
nen psychischen Prozesse wie der seiner
Modelle. Auf seinen Bildern will er Wesens-
züge, Gefühle und Stimmungen einfangen,
Realitätsnähe ist ihm weitgehend egal.
1912 beginnt Kokoschka eine Liaison
mit der sieben Jahre älteren Alma Mahler, ei-
ner der schönsten Witwen Wiens. Alle seine

Bild: Fondation Oskar Kokoschka/Bildrecht, Wien, 2015/VG Bild-Kunst, Bonn 2015


Modelle tragen nun die Gesichtszüge Almas,
in den Armen der erfahrenen Frau erlebt er
nach eigenem Bekunden zum ersten Mal das
»körperliche Glück«. Ihrer konfliktreichen
Beziehung und wie sie sich in Kokoschkas
Werk widerspiegelt, widmet die Ausstellung
im Belvedere ein eigenes Kapitel. Der Künst-
ler ist hin- und hergerissen und sieht Alma
Mahler wahlweise als Kind, Geliebte, Frau,
Schwester und Mutter. Von so vielen Rollen
zeigt sich die Komponistenwitwe bald über-
fordert und beginnt auf Distanz zu gehen.
Seinen Heiratsanträgen verweigert sie sich,
das gemeinsame Kind treibt sie ab. Kokoschka
ist darüber untröstlich, seinen Liebeskum-
mer verarbeitet er in zahllosen Bildern, die
Titel tragen wie »Der Mann erhebt seinen
Kopf aus dem Grabe, auf dem das Weib sitzt«.
1915 verlässt Alma Mahler ihn für den Archi-
tekten Walter Gropius, ein Abschied an dem
Wesenszüge, Gefühle und Stimmungen will Kokoschka Kokoschka noch lange zu knabbern hat. Drei
Jahre später, 1918, da ist er schon nach Dres-
einfangen, Realitätsnähe ist ihm egal. den gezogen, lässt er sich als Ersatz für die
verlorene Geliebte eine lebensgroße Puppe
nach ihrem Vorbild anfertigen.
was später den Expressionismus auszeichnet. sierten Schädel und dem übergroßen Ego 1918 ist auch das Jahr, in dem Klimt und
Die Bilder erkunden die überreiche erotische galt er in Wien als »Oberwildling«, der sich Schiele sterben, der eine früh vollendet, der
Fantasiewelt von Heranwachsenden, den in- als Frauenverächter aufspielte. 1909 veröffent- andere als reifer Künstlerfürst. Der Erste
neren Aufruhr, der mit dem Erwachen der lichte er ein Theaterstück mit dem bezeich- Weltkrieg hat der Frauenbewegung mächtig
Triebe einhergeht. Ein Thema, das in Wien nenden Titel »Mörder. Hoffnung der Frau- Aufschub gegeben, Frauen werden jetzt ob
heftig diskutiert wurde, seit Freud 1905 in en«, in dem sich die Hauptfigur nur mit des Männermangels im Berufsleben ge-
»Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« die einem Gewaltakt aus dem verderblichen braucht und erhalten endlich das Wahlrecht.
frühkindliche und pubertäre Sexualität als Klammergriff weiblicher Verlockung zu be- Bald tragen sie männliche Bubiköpfe, steu-
Faktum beschrieben hatte. freien vermag. Frauen scheinen ihm richtig- ern Flugzeuge und lassen sich Zigaretten rau-
Im Unterschied zu Klimt und Schiele gehend Angst eingeflößt zu haben: Einen chend abbilden. Doch das Mysterium der Se-
war Kokoschka in Liebesdingen ein Spätzün- vom Kunsthändler Paul Cassirer vermittel- xualität, das die drei Wiener Modernisten so
der, der sich vom weiblichen Geschlecht ten Auftrag, die berühmte Schauspielerin heftig umtrieb, beschäftigt uns bis heute. ×
stark verunsichert fühlte. Diese Hemmun- Tilla Durieux zu porträtieren, konnte er
gen versuchte er mit seinem radikalen Auf- nicht vollenden, weil ihre Verführungskraft »Klimt, Schiele, Kokoschka und die Frauen«, Un-
treten zu kompensieren. Mit seinem kahl ra- einfach zu groß war. Ihm bleibt nichts ande- teres Belvedere, Wien, 22. Oktober bis 28. Februar

30
BASSENGE

Carl Leypold (1806–1874). Birke und Eiche im Frühling. Öl auf Papier. 29,5 x 37,6 cm. Datiert „d 18/4 1832“.

Kunstauktionen 26.–28. November 2015


Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphik des 15. bis 19. Jahrhunderts
Moderne und Zeitgenössische Kunst

Fotoauktion 2. Dezember 2015


19. bis 21. Jahrhundert und Fotobücher

G A L E R I E B A S S E N G E · E R D E N E R S T R A S S E 5A · 14193 BE R L I N
Tel.: +49 30-8938029-0 · Fax: +49 30-8918025 · E-Mail: art@bassenge.com · Kataloge online: www.bassenge.com
Zu Hause in Bloomfield Hills bei Detroit: Calder-
Mobiles, ein Fasanenstillleben von Monet
und Tänzerinnen von Degas. Picassos »Femme
assise« (1938) und de Koonings »Untitled XXI«
(1976) sind jeweils auf 25–35 Mio. Dollar ge-
schätzt. Rechts hinter der Orchidee eine
futuristische Komposition von Giacomo Balla
Amerikanisches Epos
Zwei Jahrzehnte bestimmte Alfred Taubman als Eigner das Schicksal von Sotheby’s.
Jetzt soll seine Sammlung für mehr als 500 Millionen Dollar versteigert werden

VON
LISA ZEITZ

33
A L F R E D TAU B M A N

W Kunstwerke versteigern zu lassen. Die einmalige Sammlung


umfasst Objekte von der Antike bis zur Gegenwart, altägyp-
tische und chinesische Antiquitäten, Renaissance- und Ba-

Bild vorherige Doppelseite: Sotheby’s New York/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Bild links: Courtesy the Taubman Family; Bild rechts: Sotheby’s New York
rockmalerei, Impressionisten und die Moderne, Künstler
wie Raffael, Toulouse-Lautrec, Modigliani, Schiele, Picasso
und Rothko. Beide großen Auktionshäuser buhlten um die
außerordentliche Einlieferung. Sotheby’s hat den Wettstreit
mit einer Garantie von 500 Millionen Dollar für sich ent-
schieden. Das ist die höchste Summe, die ein Auktionshaus
je garantiert hat.
Es war Taubman selbst, der Garantien bei Sotheby’s
einführte, als er das Unternehmen 1983 kaufte und grund-
legend modernisierte. Die Garantie ist eine riskante Praxis,
die den Prinzipien des transparenten Auktionswesen eigent-
lich widerspricht – zumal wenn dritte Parteien sie finanzie-
ren – doch sie dient den großen Auktionshäusern oft als
überzeugendes Argument bei der Akquise besonders presti-
geträchtiger Objekte.
1983 war das Unternehmen, kurz vor seinem 250. Jubi-
läum, in finanzieller Not. Taubman sah Sotheby’s als »hoch-
näsiges, abweisendes Kunstauktionshaus«, so schreibt er in
seinen Memoiren, und hatte die Vision, ein »offenes, umfas-
sendes Einzelhandelsgeschäft« mit freundlichem Service da-
raus zu machen, das nicht nur wie bis dato hauptsächlich
Händler, sondern Sammler direkt ansprechen würde. Taub-
man erneuerte nicht nur die Finanzmodelle, sondern auch
die Ausstellungen, die Architektur und die Gestaltung der
Kataloge: »Schriftgröße 9 ist unlesbar für Leute, die alt ge-
nug sind, sich Kunst zu leisten!« Auch auf die Kriterien der
Akquise nahm er Einfluss: »Damit ich nachts ruhig schlafen
konnte, hörten wir auf, Schrumpfköpfe, Elefantenstoßzäh-
ne und Nazi-Memorabilia zu verkaufen.« In London ließ er
ein Café in das altehrwürdige Auktionshaus einbauen. Er
eröffnete Filialen in Hongkong, Moskau und Monte Carlo.
Außerdem erkannte er die magnetische Wirkung von
»Celebrity Sales«. Die Auktion der Juwelen der Herzogin
von Windsor 1987 in Genf, bei der Liz Taylor mehr als
600 000 Dollar für eine Brosche ausgab, war ebenso ein Me-
Wer an Alfred Taubman denkt, hat nicht sofort den Kunst- dienereignis wie die zehntägige Auktion der Hinterlassen-
sammler vor Augen. Was war da noch? Ja, richtig, der schaften von Andy Warhol 1988 in New York, bei der allein
Riesenskandal vor 15 Jahren, als Sotheby’s und Christie’s die Keksdosen des Künstlers eine Viertelmillion Dollar ein-
wegen illegaler Preisabsprachen weltweit in die Schlagzeilen spielten. Im selben Jahr brachte er Sotheby’s an die Börse.
gerieten. Christie’s packte zuerst aus, dann sagte auch noch Reichtum und Glamour waren Taubman nicht in die
Sotheby’s CEO Dede Brooks gegen ihren eigenen Chef aus, Wiege gelegt, als er 1924 in Pontiac, einem Vorort von De-
und so wanderte der Sotheby’s-Chairman Alfred Taubman, troit nahe der kanadischen Grenze, geboren wurde. Die El-
der stets seine Unschuld beteuerte, im Sommer 2002 für tern des kleinen Adolph Alfred waren jüdische Einwanderer
knapp zehn Monate hinter Gitter. aus Ostpreußen – zu Hause wurde Deutsch gesprochen. Das
Im April ist der Milliardär im Alter von 91 Jahren ge- bescheidene Vermögen, das sie sich erarbeitet hatten, ging
storben. Geld lässt sich leichter dividieren als Kunst, und so während der Großen Depression verloren. Es war nicht die
entschieden seine drei Kinder aus erster Ehe und seine zwei- Armut, wegen der sich der Schüler als Außenseiter empfand:
te Frau Judy Taubman, die ehemalige Miss Israel, rund 500 Er stotterte und war Legastheniker, er war ungelenk und

34
HEA DZEILE

In der New Yorker Wohnung an der Fifth Ave-


nue hatte Amedeo Modiglianis »Porträt der
Paulette Jourdain« (1919) seinen Platz. Linke
Seite: Alfred Taubman in seiner Residenz in
Palm Beach in den Achtzigerjahren

35
A L F R E D TAU B M A N

Mark Rothkos »Untitled (Lavendar and Green)« (1952) ist auf 20–30 Millionen Dollar geschätzt, Thomas

Bilder links und rechts: Sotheby’s New York/VG Bild-Kunst, Bonn 2015 (4)
Gainsboroughs »Blue Page« (ca. 1771) auf 3–4 Millionen. Charles Burchfield, der auch Stoffmuster und Tapeten
entwarf, malte die Wiese mit dem »Admiral« 1961–62 (Taxe 600 000–800 000 Dollar). Rechte Seite:
Neben Rothko und Franz Kline zierte auch eine kleines Bild von Georgia O’Keeffe das Esszimmer in Michigan

überdurchschnittlich groß für sein Alter. Außerdem war er unter anderem Mark Rothkos meditatives Gemälde »Untitled
das einzige jüdische Kind in seiner Klasse – und er hieß (Lavendar and Green)« von 1952. Das Bild soll jetzt 20 bis 30
Adolph. Doch den ersten Vornamen ließ er bald fallen. Millionen Dollar einspielen. Bald war er auch Kunde der le-
Taubman war noch ein Teenager, als Japan Pearl Har- gendären Kunsthändler Leo Castelli und Betty Parsons. Zu
bor bombardierte. Er meldet sich freiwillig für den Kriegs- seinen frühen Erwerbungen gehören Werke von Frank Stella
dienst und wurde mit der Air Force in den Pazifik entsandt. und Robert Rauschenberg. Willem de Koonings späte, in
Die ungeheuren Auswirkungen der Atombombe auf Hiro- Gelb- und Rottönen gehaltene Abstraktion »Untitled XXI«
shima sah er mit eigenen Augen. Nach seiner Zeit beim Mi- von 1976, die das Wohnzimmer in Bloomfield Hills bei De-
litär studierte er Kunst und Architektur an der University of troit zierte, kaufte Taubman 1977 in der James Corcoran Gal-
Michigan in Ann Arbor und arbeitete nebenbei als Schuh- lery in Los Angeles. Der New Yorker Kunsthändler William
verkäufer. Schon damals erprobte er ungewöhnliche Ge- Acquavella, mit dem Taubman gut befreundet war, vermittel-
schäftsideen. Zum Beispiel weckte er die Kauflust seiner te ihm 1983 das zauberhafte Modigliani-Porträt der Paulette
Kommilitoninnen, indem er die neuesten Schuhmodelle auf Jourdain. Die Werke von de Kooning und Modigliani sind
den Treppenstufen ihres Wohnheims drapierte. jetzt auf jeweils 25 bis 35 Millionen Dollar geschätzt.
In seine Studienzeit fällt der Erwerb seines ersten Christoph Graf Douglas, ehemaliger Deutschland-
Kunstwerks. Sein Lehrer Carlos Lopez rief ihn am Schluss Chef von Sotheby’s, kannte Taubman durch die gemeinsame
eines Malkurses in sein Büro. »Er gab mir eine Drei, das war Arbeit sehr gut. »Er hat die Firma gekauft, als sie in Not war,
die höchste Note, zu der er sich aufgrund meiner häufigen nur drei Leute in den Führungsetagen ausgetauscht und den
Abwesenheiten durchringen konnte. Außerdem gab er mir Umsatz verachtfacht«, erzählt er am Telefon. »Es gab zu der
eine seiner Tuschezeichnungen als Aufmunterung, mich Zeit natürlich einen unheimlichen Kunstboom.« Vor dem
weiterhin mit Kunst zu beschäftigen. ›Du hast Talent‹, sagte Kauf analysierte Taubman den Markt. Weltweit lag der Um-
er, ›aber du wirst es nicht auf dem Golfplatz finden.‹« satz mit Kunst Anfang der Achtzigerjahre bei 25 Milliarden
1950 nahm Taubman 5000 Dollar Kredit auf und grün- Dollar im Jahr, wovon nur 1 Milliarde Dollar zusammen auf
dete sein erstes eigenes Bauunternehmen. Mit der Planung die beiden großen Auktionshäuser fiel. Da sah er Potenzial.
und Errichtung von Einkaufszentren wurde er schon inner- Zu Recht: Nach dem letzten Tefaf-Report summierte sich
halb eines Jahrzehnts zum Millionär. Shoppingmalls präg- der globale Kunstmarkt 2014 auf 51 Milliarden Euro, wovon
ten bald überall die amerikanische Landschaft und Alltags- alleine das Auktionsgeschäft von Sotheby’s einen Anteil von
kultur, und Taubman hatte ein besonderes Talent, die rund 5 Milliarden Euro hat.
Schwellenangst seiner Kunden zu erkennen und durch ver- Douglas hat Taubman als humorvollen, »trotz seines
schiedene Maßnahmen zu überwinden. Reichtums unwahrscheinlich natürlichen« Menschen erlebt,
Kunst fand Taubman von den Fünfzigerjahren bis An- beim Lachsfischen in Island oder auf einer DDR-Reise. Als
fang der Achtzigerjahre hauptsächlich in Galerien und bei der amerikanische Tycon in einer Molkerei in Leipzig etwas
Händlern. Auf der West 57th Street in New York war er regel- kaufen wollte und eine Stunde in verschiedenen Schlangen
mäßig zu Gast in der Green Gallery, die man mit einem wack- anstehen musste, so Douglas, sei Taubman zu dem Urteil ge-
ligen Aufzug in den vierten Stock erreichte. Dort kaufte er kommen: »Dieser Staat kann nicht funktionieren.« Dagegen

36
sei er in West-Berlin vom KaDeWe begeistert gewesen: »Hier
gab es die größte Wurstauswahl der Welt. Taubman liebte
GALERIE
Würste. Er hatte Tränen in den Augen.«
Mit dem Kauf von Sotheby’s 1983 verlagerte sich seine
T
E U
TSCHBEIN
Sammeltätigkeit von Galerien auf Auktionen. Douglas er-
innert sich an Taubmans Worte, Sotheby’s habe die weltbes-
seit1
969
ten Kunstexperten, da wäre es doch töricht, nicht auf sie zu N
a ch4 6J ah renw erd eicha u sg esu n dh eitlichen
hören. Den Zuschlag für Gainsboroughs »Blue Page« erhielt Gründ enm ein eG alerieinF ran k fu rta m D om
er in London 1989 bei rund 1 Million Pfund. Ungefähr das ina nd ereH än deü b erg eb en .
Doppelte soll das Werk nun in New York einbringen. Selten S ieh abend ieG eleg en h eit
ging Taubman mit seinen Geboten über die Schätzungen Gem äldeu n dA q uarelled es1 8 .u n d1 9.J a hrh.
hinaus. Aus der Sammlung von Gianni Versace in London zured u ziertenP reisenzuerw erb en.
1999 ersteigerte Taubman für 3 Millionen Pfund – weit un- Ichfreu em ichm einenK un den
terhalb der Taxe – Picassos »Femme assise sur une chaise« beiein erK aufen tsch eid u n g
(1938), die jetzt auf 25 bis 35 Millionen Dollar geschätzt ist. bera ten dzu rS eitezusteh en .
Oftmals hatte er vor der Einlieferung Stücke persönlich ga-
rantiert. Wenn sie keinen anderen Käufer fanden, wurden Verk
au fsa
u sstellung
sie Teil seiner Sammlung: »So hat Taubman einige sehr gute
Stücke hinzugewonnen«, so Douglas.
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Taubman pflegte Wohnsitze in seiner Heimat Michi-
N
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gan, auf Long Island, in Manhattan, Florida und London.
»Er hat sehr lebendig mit den Sachen gelebt«, so Douglas. FlämischeR omantiker
Das kann man sich gut vorstellen, wenn man etwa Monets Sch
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Stillleben mit toten Fasanen in seinem Wohnzimmer sieht
und weiß, dass Taubman ein leidenschaftlicher Jäger war. 1
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Seine Heimat Michigan lag ihm besonders am Herzen. Mo.b
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Als großer Philanthrop spendete er seiner Universität, die er
ohne Abschluss verließ, rund 200 Millionen Dollar. Mit vie-
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len Millionen förderte er auch das Detroit Institute of Arts, +
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das einen Flügel nach ihm benannt hat. Zu seinen Schen- in
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tschbein.com
kungen gehört Paul Klees »Kleine Landschaft mit Garten-
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alerie-teutschbein.com
tor« von 1928. Acht Leihgaben jedoch, die den Museumsbe-
suchern in Detroit ans Herz gewachsen sind, lassen seine
Erben bei der New Yorker Altmeisterauktion im Januar ver-
steigern, darunter Werke von Pietro da Cortona, Caracciolo
und Guercino. Es ist ein Kreislauf: Ein Leben geht zu Ende,
die Kollektion wird aufgelöst. Andere Sammler sind jetzt
am Zug. Bald werden die Kunstwerke wieder neue Schick-
sale begleiten, zerstreut in alle Winde. ×

Sotheby’s versteigert die Sammlung von Alfred Taubman in New


York: »Masterworks« am 4.11., »Modern & Contemporary Art« am
5.11., »American Art« am 18.11. und »Old Masters« am 27. 1.2016

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Aufbruch in
den Anden
Eine Kunstmesse lockt Sammler,
Kuratoren und Händler nach
Bogotá – und beflügelt die Kulturszene
der Zehnmillionenstadt

VON
BA R BA R A KU TSCH ER

5
38 6 7
B O G O TÁ

R
adfahren in Bogotá, mitten Auf der entgegengesetzten Seite des Pavillons me, und es werden stetig mehr. Die meisten
in den Anden? Der Vorschlag lieferte der nicht kommerzielle Sektor »Arte- ballen sich im Zentrum oder in den guten
kam überraschend. Ja, die cámara« dagegen ein Abbild der aktuellen Wohngegenden im Norden: in den Vierteln
Hauptstadt Kolumbiens, ein Produktion. Hier konnten 33 junge kolum- San Felipe, Chicó oder La Macarena, das
Moloch mit fast zehn Millionen Einwohnern bianische Künstler ohne Galerierepräsentati- schon seit den Fünfzigerjahren Anlaufstelle
in 2600 Meter Höhe, besitzt mit 390 Kilome- on ihre sperrigen Ideen ausbreiten: ein star- für Künstler und Intellektuelle war.
Bilder: Daniel Romero/VWpics/Redux/Redux/laif; Stephen Ferry/NYT/Redux/laif; Edgar Jiménez/Flickr; Franck Guiziou/hemis.fr/laif; Doris Salcedo; Felipe Uribe; Courtesy of Cámara de Comercio de Bogotá

tern das längste Radwegenetz der Welt. Dazu ker Kontrast zu der oft zahmen Ware in den Ohne Zweifel zählt der Unternehmer
erfand Kolumbien vor vierzig Jahren die benachbarten Händlerkojen. »Dieser Sektor José Darío Gutiérrez zu den treibenden Kräf-
»Ciclovía«: Jeden Sonn- und Feiertag werden übernimmt viele Funktionen einer Bienna- ten der Stadt. Er und weitere Sammler zeit-
bestimmte Hauptstraßen, die sonst zum le«, so Paz Gaviria stolz. genössischer Kunst, wie Sergio Ferreira oder
Bersten gefüllt sind, für den Autoverkehr ge- Als einzige Kunstmesse in Lateiname- der Architekt Alejandro Castaño, machen
sperrt. Sie locken Scharen von Radlern an. rika kann Artbo vier Satellitenmessen auf- ihre Räume zum Messewochenende für
Nach einem halben Jahrhundert Bür- weisen, etwa die 5. Odeon Modern Art Fair Scharen von VIPs zugänglich. Da konnte
gerkrieg scheint der Friedensprozess in Ko- mit 21 Galerien in einem Dreißigerjahrekino man durch Gutiérrez’ weitläufiges Duplex-
lumbien Fortschritte zu machen, auch wenn oder die Million Peso Fair, in der nichts über apartment mit atemberaubendem Blick über
es im Sommer wieder Anschläge von Gueril- 300 Euro kostet. Artbo lieferte auch den die Stadt im gut bewachten Viertel Los Ro-
lagruppen gab. Die Kunstszene ist aber schon Startschuss zum geschäftigen Art Month mit sales streifen. Sein Fokus ist seit über dreißig
seit einigen Jahren auf dem Radar unterneh- acht über ganz Bogotá verteilten Stationen Jahren vor allem Kolumbianisches. Jeder
mungslustiger Kuratoren und Sammler. Zu des Luis-Caballero-Preises, des wichtigsten Raum ist vom Boden bis zur Decke mit
den Künstlerstars zählen Miguel Ángel Rojas, Kunstpreises des Landes. Hier durften ko- Kunst gepflastert, beginnend mit Landschaf-
der Drogenhandel und Gewalt thematisiert, lumbianische Künstler prominente öffentli- ten des 19. Jahrhunderts über den Concretis-
und Doris Salcedo, die 58-Jährige wurde ge- che Orte wie Museen, Kirchen und Denkmä- mo und zur aktuellen Konzeptkunst. Aber
rade mit einer Retrospektive im New Yorker ler der Stadt für ihre Interventionen nutzen. dazwischen überraschen auch frühe, selten
Guggenheim Museum geehrt. Alberto Baraya, der in seinen Werken in die gesehene Stillleben von Fernando Botero aus
Eine zentrale Rolle für das Image der Rolle eines Botanikers des 18. Jahrhunderts einer Zeit, als er noch auf der Suche nach sei-
Stadt spielt die 2005 gegründete Kunstmesse schlüpft, gab im Hof der Casa Museo Quinta ner ureigenen Sprache war. Gutiérrez reihte
Artbo im Kongresszentrum Corferias Bogo- de Bolívar am Rande der Stadt eine Vogel- sich im letzten Jahr auch unter die Gründer
tá. Sie hat ihre Besucherzahl diesen Oktober stimmenperformance. Juan Fernando Herrán des ersten Auktionshauses Bogotás für latein-
nach Angaben der Messeleitung auf 35 000 belebte das Innere des riesigen Kriegerdenk- amerikanische Kunst, BogotAuctions.
verdoppelt. Auch das Qualitätsniveau und mals »Monumento a los Héroes« auf einer Ebenfalls in La Macarena, nur wenige
die Zahl der mittlerweile 84 Aussteller sind verkehrsumtosten Insel an der Autopista Straßenzüge entfernt, findet sich ein weiterer
gestiegen. Noch fehlen die ganz großen in- Norte mit einer Videoprojektion und mit wichtiger Kunstraum: Schon vor fünf Jahren
ternationalen Galerien- und Künstlernamen, Skulpturen. öffnete die gemeinnützige Familienstiftung
doch Händler bestätigen, dass es hierzulande Pflichtbesuch eines jeden Touristen ist Fundación Neme NC-Arte, die sich großzü-
mehr Sammler gebe als etwa in Mexiko. das Museo del Oro del Banco de la República gig über vier Etagen erstreckt. Hier liegt der
Der Akzent der Messe liegt auf junger Colombia in der historischen Altstadt La Fokus eher auf internationaler Kunst. Gera-
lateinamerikanischer Kunst, vor allem auf Candelaria mit 6000 präkolumbischen Gold- de reflektiert der Argentinier Jorge Macchi
der Konzeptkunst, mit Preisen im vier- bis objekten. Im Neubau von 2008 wird man mit seinen ausgreifenden Lattengerüsten
fünfstelligen Bereich. Die gut vernetzte, heu- über drei Etagen durchaus unterhaltsam »Lampo« (Blitz) über Licht und Schatten.
te 32-jährige Kunsthistorikerin María Paz durch die Geschichte geführt. Zu den Höhe- Einige Kilometer entfernt liegt das jun-
Gaviria, Tochter des ehemaligen Präsidenten, punkten gehört das aus filigranem Gold ge- ge Kunstviertel San Felipe, wo sich vor zwei
übernahm vor vier Jahren das Messeruder fertigte Minifloß von Eldorado (600 bis Jahren die unabhängige Institution FLORA
und brachte frischen Wind ins Unterneh- 1600 n. Chr.), das eine Zeremonie des Muisca- ars + natura als Anker etablierte. Ihr Direktor
men. Mit der Artbo verfolgt sie auch eine di- Volkes darstellt. ist José Roca, der vor Kurzem noch als Kura-
daktische Mission, denn unter dem runden Unweit davon, im Museumskomplex tor für lateinamerikanische Kunst an der
Dutzend privater und staatlicher Museen in der Banco de la República, gibt es seit fünf- Tate Modern in London gearbeitet hat. Als
Bogotá ist die zeitgenössische Kunst nicht zehn Jahren das Museo Botero. Der in seiner sein nächstes Projekt plant er den Neubau ei-
breit vertreten. Der Messesektor »Referentes« Heimat populäre Fernando Botero, der sich nes Studiogebäudes, in dem zwölf interna-
ermöglichte anhand von käuflichen Expona- als »kolumbianischsten aller kolumbiani- tionale Künstlerstipendiaten wohnen und ar-
ten der teilnehmenden Galerien einen Gang schen Künstler« bezeichnet, stiftete der beiten sollen.
durch die Kunstgeschichte Lateinamerikas Staatsbank insgesamt 208 Werke, davon 123 Seit Oktober gibt es in Bogotá auch eine
von den Zwanziger- bis in die Achtzigerjahre. eigene Arbeiten, der Rest stammt von euro- erste ausländische Galerie. Der Franzose
päischen Künstlern wie Corot, Renoir, Freud Fabien Castanier, der seit einigen Jahren eine
und Bacon. »Botero wird von der jungen Sze- Galerie in Los Angeles betreibt, möchte hier
Schätze aus Jahrtausenden: 1 + 2 Das Mu-
ne kritisch betrachtet, aber er verdient Lob lateinamerikanische Künstler entdecken und
seo Botero beherbergt den »Akt mit
Selbstbildnis« 3 Im Museo del Oro ist das für seine philantropischen Bemühungen«, im Norden bekannt machen. Passend hat er
1969 in Pasca gefundene goldene Floß zu erklärt María Paz Gaviria. seine erste Gruppenshow, nach Umkehrung
bewundern 4 Die Wallfahrtskirche auf dem Vor allem auf privater Ebene passiert in eines kolumbianischen Sprichworts, »Dando
Monserrate 5 Doris Salcedos »Atrabiliaras« der Stadt viel: Die überall kostenlos auslie- Papaya« genannt. »Das heißt: Hab keine
6 Jorge Macchi ist bei NC-Arte zu sehen gende kompakte Broschüre »Bogotá Artecir- Angst«, meint Castanier und lächelt ver-
7 Kunst von Shana Moulton auf der Artbo cuito« listet um 120 Galerien und Kunsträu- schmitzt. ×

39
ZUR BA R ÁN

Drama und Erleuchtung


Göttliche Verklärung bedeutete bei Francisco de Zurbarán immer auch
tiefe Menschlichkeit. Jetzt ist der faszinierende Maler in Düsseldorf zu erleben
Bild links: Museum Kunstpalast/Horst Kolberg/Artothek; Bild rechts: bpk – Bildagentur Kunst, Kultur und Geschichte/München/Bayerische Staatsgemäldesammlung – Alte Pinakothek

VON
I R MG A R D BER N ER

M
Mit der Stille verhält es sich wie mit der Dun-
kelheit. Sie ist uns suspekt, wir trauen ihr nicht,
sie lässt uns zweifeln – an uns und an der Welt.
Die Gemälde des Spaniers Francisco de Zurba-
rán sind erhaben über solche Zweifel, denn sie
sind allein der Stille verpflichtet. Einer Stille
der Andacht, deren Glanz wie aus der Dunkel-
heit zu einem inneren Leuchten erwächst und
im irdischen Sein mit dem Hauch eines göttli-
chen Schimmers verschmilzt. Es ist die schwei-
gend knisternde Stille in einer Kapelle, einer
Kartause, einer Höhle. Weltabgewandt kniet
der Mönch Franziskus wie in Trance dem inne-
ren Zwiegespräch hingegeben. Die spitze Ka-
puze verschattet das Gesicht des Heiligen aus
Assisi, der die Armut vorzog und die Askese
vorlebte. Seine Physis ist ganz Kleid, ganz her-
be Kutte, sein Körper verborgen unter dem stei-
fen Tuch, geschützt vor den Blicken und viel-
leicht vor sich selbst. Das raue Leinen ist aus
Flicken genäht, auf deren zerfransten Rändern
Lichtpunkte tänzeln.
Seit den 1630er-Jahren bis wenige Jahre vor
seinem Tod hat Zurbarán den Heiligen immer
wieder gemalt, insgesamt über 50 Versionen, in
Ekstase oder in Meditation, mit dem Totenkopf
in der Hand oder das Memento mori neben

»Der heilige Franziskus in Meditation« (li.),


1630/35, ist im Besitz des Museum Kunstpa-
last. Re.: »Grablegung der hl. Katharina von
Alexandrien auf dem Berg Sinai«, um 1636

41
ZUR BA R ÁN

die in der sinnlichen Stofflichkeit so greifbar


naherückt?
Zu jener Zeit, 1639, lässt der Barockma-
ler Zurbarán das innere Feuer indes auch
nach außen schlagen: in der Sakristei des
Klosters Santa María von Guadalupe inmit-
ten der herben Extremadura-Berge. In der
wandfüllenden Bildererzählung bricht rot-
glühendes Licht aus dem Himmel, und in ih-
rer dunklen Klause verströmen die porträ-
tierten Mönche in ihren schwarzweißen
Kutten die Atmosphäre des Gebets und der
vom Gottesglauben überwältigten Gefühle.
Der Maler der Mönche, so wird Zurba-
rán oft genannt – und doch war er viel mehr.
Denn auch in den auf Mondsicheln schwe-
benden Madonnen, diesen in feinem Rosa
oder zartem Weiß und liturgischem Blau ge-
wandeten Wesen, umgeben vom goldenen
Aureolenkranz aus Engelsköpfen, treibt er
sein raffiniertes Spiel zwischen Entrückung

Bild: Museo de la Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Madrid/Pablo Linés Viñvales
und Wirklichkeit. Bis hin zu den Lilien, Ro-
sen und Silbertellern, die wie beiläufig und
doch so sinnträchtig die Stille der Bilder be-
leben. Das Agnus Dei, das Lamm mit den ge-
fesselten Läufen und dem dichten Kraushaar,
in das man hineinfassen möchte, ist wie er-
füllt vom Geist Gottes. Aber können wir den
ehrfürchtigen Blicken, denen sie galten, heu-
te noch folgen? Können wir ihn wirklich be-
greifen, den Maler der heiligen Männer und
frommen Frauen, die er so herrlich gewandet
und zugleich so sehr verrätselt in ihrer mys-
tischen Ekstase und stillen Frömmigkeit?
Jetzt kann man es versuchen, denn Zur-
barán, vor wenigen Jahren noch ein Geheim-
tipp unter den Künstlern des »Siglo de Oro«,
des Goldenen Zeitalters Spaniens, ist nun in
Düsseldorf zu erleben. Mit 79 Gemälden (da-
runter acht von seinem Sohn Juan), Leihga-
ben aus aller Welt bis hin nach Kuba und Me-
xiko, richtet das Museum Kunstpalast dem
Spanier eine große Retrospektive aus. Eigent-
lich unfasslich, aber es ist tatsächlich die ers-
te Zurbarán-Ausstellung im deutschsprachi-
gen Raum, erarbeitet in Kooperation mit
dem Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid.
Wer war dieser Künstler? Der seine Bil-
der mit gemalten Zettelchen signierte, auf
sich auf dem trockenen Boden. Wir alle sind die er selbstbewusst schrieb: »Zurbarán facie-
sterblich, sagen diese Bilder und sublimieren bat« – Zurbarán hat dies gemacht. Geboren
den Tod. Es sind Figuren wie gemeißelt – Zurbaráns Darstellungen der wurde er 1598 in Fuente de Cantos, einem
auch der sterbende Christus am Kreuz oder kleinen Marktflecken im kargen Land der
der Christus der Barmherzigkeit. Sie tauchen Frommen und Heiligen südlichen Extremadura. Es ist das Jahr, in
aus der Dunkelheit in das spärliche Licht, das
sich im Bausch des Lendentuchs fängt, es
sind zutiefst geprägt von der dem König Philipp II. nach langer Regent-
schaft stirbt und ein Reich im Niedergang
zum Strahlen bringt und dem fahlbläulich spanischen Mystik. hinterlässt. Im Alter von 16 Jahren beginnt
nackten Körper eine Art Seelenschimmer der junge Francisco seine Ausbildung in Se-
auflegt. Man stelle sich vor, in der dunklen villa, der Kunstmetropole Andalusiens und
Kapelle dieser Konzentration ausgesetzt zu florierenden Hafenstadt mit regem Handel
sein. Würden wir sie ertragen, die Stille, die mit der Neuen Welt, in der Werkstatt des Ma-
Dunkelheit, die Wirklichkeit des Leidens, lers Pedro Díaz de Villanueva. Der fast gleich-

42
Bilder: Philadelphia Museum of Art: Purchased with the W.P. Wilstach Fund, 1900; Ayuntamiento de Sevilla, Colección Municipal/Martín García Pérez

altrige Diego Velázquez, mit dem ihn eine des heiligen Dominikus: Zurbaráns erster In der »Verkündigung«, wohl 1650 gemalt,
lebenslange Freundschaft verbinden wird, Großauftrag. Zu dieser Serie gehört »Die bricht die himmlische in die irdische Sphäre
lernt bei Francisco Pacheco. Nach drei Jah- Jungfrau Maria erscheint einem Mönch von der künftigen Gottesmutter ein. Unten:
ren lässt Zurbarán sich als pintor de imagine- Soriano«; es ist eines der frühesten Werke in »Unbefleckte Empfängnis« vor gold glühen-
ría in Llerena in der Extremadura nieder. Er der Düsseldorfer Ausstellung. dem Engelshimmel, um 1645. Linke Seite:
heiratet, bekommt drei Kinder, darunter den Der Legende nach erschienen einem be- »Bildnis des Fray Jerónimo Pérez«, Ordens-
meister der Mercedarier, um 1630/32
begabten Juan. Zu früh stirbt seine Frau, er tenden Mönch die Muttergottes und die Hei-
heiratet wieder. Drei Ehen werden es und ligen Katharina und Maria Magdalena, die
zehn Kinder, von denen fast keines überlebt. ihm ein Gemälde mit dem Abbild des Domi-
Zurbaráns Zeit war zutiefst geprägt von nikus überreichten. Trickreich zeigt Zurba-
der spanischen Mystik. Das zuweilen Erstarr- rán den Ordensgründer auf einem Bild im
te seiner Bilder, vor allem im Frühwerk, ist Bild, in der Linken hält er die Lilie, das Sym-
wohl auch jenen Formeln geschuldet, mit de- bol der Reinheit, in der Rechten ein Buch
nen die katholische Kirche die Macht über mit der Ordensregel: eine klare Komposition,
die anmaßenden Körper und Geister zurück- einfach zu lesen. Die Gegenstände wirken
erobert: durch Dekrete zur religiösen Male- echt, und auch das Porträt erscheint, als sei
rei, die sie in der Folge des gegenreformato- es auf eine bespannte Leinwand gemalt.
rischen Konzils in Trient 1563 erlässt. Die monumentale Schlichtheit seiner
In dem tief katholischen Spanien des Werke hat Zurbarán schon zu Lebzeiten be-
17. Jahrhunderts sucht Zurbarán nach bild- rühmt gemacht. Er hielt sie frei vom Ballast
mächtigen Formen des Glaubens, wendet sei- der großen barocken Rauminszenierungen
ne malerischen Mittel jedoch sparsam an. von Rubens oder Caravaggio, mit dessen
Durch den düsteren (»tenebren«) Hinter- Helldunkel sein Stil oft verglichen wird. Und
grund, die scharfen Konturen von Gesich- dennoch treiben die Kleider und Stoffe fal-
tern, Körpern und Stoffen, aber durch einen tenreich ihr wogendes Spiel, knistern die Sei-
expressiven Pinselduktus erzielt er starke den und scheint Mariens Kleidsaum zu ra-
plastische Wirkungen. Rasch hat Zurbaráns scheln, wenn die Engelsköpfe sich darunter
Werkstatt einigen Erfolg zu verbuchen. Im drängeln und schmiegen.
Januar 1626 unterschreibt er einen Vertrag Im Jahr 1629 verlegt Zurbarán seine
mit dem Prior des Dominikanerklosters San Werkstatt nach Sevilla, auch auf Wunsch des
Pablo el Real in Sevilla (der heutigen Pfarr- dortigen Stadtrats. Die Aufträge mehren sich,
kirche Santa María Magdalena). Es geht um mit seinen Gehilfen hat der Maler einen gro-
insgesamt 21 Gemälde, davon 14 zum Leben ßen Markt zu beliefern. Bald darauf, 1631,

43
ZUR BA R ÁN

Ein Malerleben im Dienst von Kirche und König

Bilder: Iglesia Parroquial de Santa María Magdalena, Sevilla/Pedro Feria; Museo Nacional del Prado, Madrid; Raczyński-Stiftung am Muzeum Narodowe, Poznań; The Art Institute of Chicago; Bilboko Arte Ederren Museoa – Museo de Bellas Artes de Bilbao
1598
Francisco de Zurbarán wird als Sohn eines
Kaufmanns in Fuente de Cantos in der
Extremadura geboren. 1614–1617 absolviert er
eine Malerlehre in Sevilla, danach lässt er sich in
Llerena als Maler für religiöse Motive nieder.

1626
Zurbarán nimmt seinen ersten Großauftrag an:
21 Gemälde für das Dominikanerkloster San Pablo el
Real in Sevilla. In der Ausstellung sind zwei davon
zu sehen, o. »Die Jungfrau erscheint einem Mönch
von Soriano«. 1629 zieht Zurbarán ganz nach Sevilla.

1638
Für das Kartäuserkloster
Nuestra Señora de la Defensión
in Jerez malt Zurbarán eine

1634 Reihe von Altarbildern. Eines


davon ist die »Rosenkranzma-
König Philipp IV. ruft Zurbarán an den Hof in Madrid, wo er donna mit vier Kartäusern«. Bis
wie Velázquez an einem großen Gemäldezyklus im 1903 gehörte sie zur Sammlung
Buen-Retiro-Palast mitwirkt. Er malt zwei Schlachtenbilder Raczyński in Berlin, heute ist sie
und zehn Heldenszenen des Herkules, seine einzigen im Nationalmuseum in Poznań.
mythologischen Werke. Jetzt in Düsseldorf: »Herkules leitet 1639 beginnt Zurbarán mit
den Fluss Alpheios durch die Ställe des Augias« (o.). seinen berühmten Bildern im
Kloster Guadalupe: der einzige
Zyklus, der sich noch am
Originalstandort befindet.

1649
Zurbaráns Sohn Juan fällt mit 29 Jahren der Pest zum
Opfer. Er war ein sehr begabter Maler, der sich auf
Stillleben spezialisierte. In der Ausstellung ist jetzt mit
acht Gemälden erstmals die Hälfte seines bekannten
Werks zu sehen, u. »Birnen in Porzellanschale«, um 1645.

1664
Am 27. August stirbt Zurbarán
mit 65 Jahren in Madrid. 1658
hatte er Sevilla verlassen
und sich in der Hauptstadt
angesiedelt. 1662 malte er das
letzte datierte, signierte Bild:
»Die Jungfrau Maria mit dem
Jesuskind und dem heiligen
Johannes«. Das aussdrucks-
starke Werk beschließt
die Düsseldorfer Ausstellung.

44
entsteht eines seiner Hauptwerke, die »Apo-
theose des heiligen Thomas von Aquin«, heu-
te im Museum von Sevilla. Viele Klöster und
Kirchen wollen nun seine Bilder der Askese,
aber auch von ihm die Geschichte ihres Or-
dens erzählt haben. Sie schätzen den leiden-
schaftlichen Mystizismus seiner Kapuzen-
brüder und des Gekreuzigten, die verzückten
Gesichter der Unbefleckten Empfängnis.
Es sind Bilder zur Anbetung, manche
von ihnen werden bei den Prozessionen der
Semana Santa, der Karwoche, durch Sevilla
getragen. Immer mehr Aufträge an Zurba-
rán kommen jetzt auch aus Übersee, aus den
spanischen Kolonien. Dort liebt man genau-
so die in Ekstase entrückten Mönchen und
die verzückten weiblichen Heiligen.
Zurbaráns Meisterschaft wird nun auch
dem König zugetragen. 1634 holt Philipp IV.
ihn nach Madrid und ernennt ihn zum Hof-
maler. Ein ständiges Gehalt wie Velázquez
bekommt er aber nicht. Nun zeigt sich, dass
Zurbarán, der Männerkörper stets unter
Massen von Stoff verbirgt, auch die Nackt-
heit lebensecht und sinnlich darstellen kann.
Für die Dekoration des Buen-Retiro-Palasts,
Bild: Pepe Morón/Museo de Bellas Artes de Sevilla

an der auch Velázquez und andere mitwir-


ken, soll er einen Herkules-Zyklus malen.
Ein mythologisches Sujet also, eine Ausnah-
me in Zurbaráns Schaffen. Auf einem dieser
Gemälde steht der Held mit seiner Keule
über dem tosenden Fluss Alpheios, dessen
Lauf er in die Ställe des Augias umgeleitet
hat. In einer anderen Szene trägt Herkules
einen dramatischen Kampf mit der Lernäi-
schen Hydra aus. Kraftstrotzende Gladiato-
renleiber mit glänzend straffer Haut und
mächtigen Muskeln betreiben diese über-
menschlichen Kraftakte. Beide Gemälde aus
dem Prado sind nun in Düsseldorf zu sehen.
Die Herkules-Gemälde von 1634/35 brin-
gen Zurbarán die Anerkennung des Königs.
Den Aufenthalt am Madrider Hof nutzt er
zudem, um Philipps italienische Sammlun-
gen zu studieren und sich, neben dem Nach dem Konzil von Trient erließ die ka- Casilda durch die meisterliche Ausführung.
Freund Velázquez, mit den zeitgenössischen tholische Kirche Regeln zur Darstellung Die Goldfäden der schweren Brokatstickerei
und anerkannten Malern der Epoche auszu- des Jesuskindes. Sie sollte auf die künftige scheinen über den Boden zu scharren, wenn
tauschen. Das bleibt nicht ohne Folgen: Die Passion hinweisen. Das ist der gegenrefor- die maurische Heilige durch das Bild
neuen Erkenntnisse bewirken bei Zurbarán matorische Kontext von Zurbaráns »Jesus- schreitet. In den Jahren 1638/39 entstand für
eine Abkehr vom Tenebrismus, der expressi- kind mit der Dornenkrone«, um 1645/50 das Kartäuserkloster Nuestra Señora de la
ven Helldunkelmalerei. Nach seiner Rück- Defensión in Jerez de la Frontera eine große
kehr nach Sevilla hellt sich seine Palette auf, Werkserie. Zu ihr gehörte die monumentale
insgesamt wird das Licht in seinen Werken »Rosenkranzmadonna«, die jetzt nach 100
ebenmäßiger. Als Vorlagen für die Szenen Jahren erstmals wieder in Deutschland zu
und Posen der Heiligen dienen ihm und sei- sehen ist. Bis 1903 hing das Gemälde im
nen Gehilfen weiterhin Drucke und Stiche Palais Raczyński in Berlin; dann ging es mit
der Niederländer und Deutschen. der ganzen Sammlung der polnischen Adels-
In dieser Zeit entstehen auch die ele- familie nach Posen (Poznań), wo sie heute im
gant gekleideten und geschmückten weibli- dortigen Nationalmuseum hängt.
chen Heiligen als Porträts mit der »göttli- Im Jahr 1631 malt Zurbarán zum ersten
chen Note«, die sich großer Beliebtheit Mal das Schweißtuch der heiligen Veronika
erfreuten. Besonders besticht die heilige und macht dieses Symbol für die Leiden

45
Bilder des jungen Juan nun in der Ausstel-
lung zu sehen sind, ist eine kleine Sensation.
Und eine große Entdeckung.
Aber auch der Vater Francisco ist im-
mer noch viel weniger bekannt als seine
spanischen Zeitgenossen Velázquez oder
Murillo, vor allem gilt das für den protestan-
tischen Norden. Die zögerliche Rezeption
liegt sicher in der Tiefe des religiösen Senti-
ments in Zurbaráns Bildern begründet. Das
ist einem nicht katholischen Publikum noch
schwieriger zu vermitteln als die blutge-
tränkten Martyrien des zeitgleichen Ribera.
Zudem hatten bis zur französischen Beset-
zung Spaniens unter Napoleon kaum Werke
Zurbaráns das Land verlassen. Bis auf einige
wenige in der königlichen Sammlung in
Madrid befanden sich fast alle noch in den
Klöstern und Kirchen Andalusiens und der
Extremadura.
Ein einziges Mal scheint Zurbarán sich

Bilder links: Museo Nacional del Prado, Madrid (2); Bild rechts: Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid
selbst gemalt zu haben, um 1655/60, in dem
»Gekreuzigten mit einem Maler«. Gewiss ist
es nicht und doch so offensichtlich: Der alte
Maler steht, in tiefe Kontemplation versun-
ken, zu Füßen des verstorbenen Gekreuzig-
ten und hebt seinen Blick zu Christus. Die
rechte Hand hat er ans Herz gelegt, in der
Linken hält er eine Palette mit Pinseln. Er
trägt eine malvenfarbene Tunika, was manch
einen veranlasste, darin die Figur des Apos-
tels Lukas zu sehen, den Patron der Maler.
Schemenhaft dunkel hinter dem Kreuz
schimmert ein Berg, vielleicht Golgatha.
Und hier ist es wieder, dieses Verrätselte, das
Christi, mit zwei Schnüren an die Wand ge- Möglicherweise das einzige Selbstporträt Spiel, das Zurbarán treibt. Aber ob Selbst-
heftet, als Stillleben zum Andachtsbild. Zurbaráns: »Der Gekreuzigte mit einem bildnis oder nicht, interessant ist vielmehr,
Auch die Lämmer und Schafe fallen in dieses Maler«, um 1655/60. Unten: »Das Martyrium dass er hier wortlos sagt: Ich habe das gemalt.
neue Genre. Gerne wird er deswegen als Still- des heiligen Jakobus«, um 1636/40. Und dass man darüber spekulieren kann, ob
lebenmaler bezeichnet. Man müsse aller- Re. Seite: »Die heilige Casilda«, um 1630 Zurbarán hier nicht auch seine eigene Fähig-
dings differenzieren, betont Beat Wismer, keit als Maler göttlich beglaubigen lässt.
der Museumsdirektor in Düsseldorf und Ku- Zurbarán hat Spanien nie verlassen.
rator der Schau. Denn Zurbarán hat zwar 1658 zieht er ein zweites Mal nach Madrid
überall wunderbare kleine Stillleben inte- und bleibt dort. Sein letzter großer klerikaler
griert, etwa im »Haus in Nazareth« von 1644, Auftrag 1659/60 führt ihn in die Kapelle des
dort sind es Bücher und Birnen auf dem heiligen Diego im Franziskanerkloster Santa
Tisch, Tontasse und Tücherkorb auf dem Bo- María de Jesús in Alcalá de Henares. Ansons-
den, die er als die Essenz des Göttlichen in ten malt er nur noch Andachtsbilder zum
Alltagsgegenständen geradezu hyperreal- privaten Gebrauch. Bereits krank, verfasst er
stisch malt. Der eigentliche Stilllebenmaler sein Testament mit dem Wunsch, im Kloster
aber ist sein Sohn. Erst Juan de Zurbarán der unbeschuhten Augustiner in Madrid be-
(1620–1649) hat im Familienbetrieb autono- graben zu werden. Am 27. August 1664 stirbt
me Werke daraus gemacht. Zarte Zitronen, Francisco de Zurbarán. Zwei Jahre zuvor war
lichtschillernde Weintrauben vor schwarzem sein letztes bekanntes Bild entstanden, »Die
Grund, Früchtekorb und Teller mit Quitten, Jungfrau mit dem Jesuskind und dem heili-
Trauben, Feigen, Pflaumen, saftig glänzend gen Johannes«. Die Frömmigkeit ist in wei-
und voller Lichtfarben, man möchte sie grei- ches Sfumato gegossen, still und in erleuch-
fen und herausnehmen. 15, vielleicht 20 Wer- teter Dunkelheit. Der wir angesichts dieses
ke umfasst das Œuvre Juans, der viel zu früh Werkes doch etwas näher kommen. ×
starb, mit nur 29 Jahren hinweggerafft von
der 1649 grassierenden Pestepidemie. Eine »Zurbarán. Meister der Details«, Museum Kunst-
Monografie über ihn gibt es nicht. Dass acht palast, Düsseldorf, bis 31. Januar 2016

46
Drei Tage in

Wien

VON
N I N A S C H E DL M AY E R

48
WIEN

Ringstraße, Burgtheater, Belvedere


– Wien hat dem kulturaffinen
Besucher überwältigend viel zu
bieten. Doch auch abseits der
bekannten Prachtbauten, am
Bild links: Belvedere, Vienna/Courtesy Franz West Privatstiftung; Bilder rechts: Gerhard Wasserbauer/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; picture alliance/blickwinkel/Samot; cleo/ddp images

Stadtrand, im Park und auf den


Dächern der Hotels, ist in der
österreichischen Hauptstadt
die Kunst zu Hause

1. TAG gen. Heute steht das Werk im prachtvolle barocke Exemplare


Kunsthistorischen Museum, das – ein Erd- und ein Himmelsglo-
Der Wiener Ausstellungsbesu- im Gegenzug alljährlich in der bus des Venezianers Vincenzo
cher hat nicht zu Unrecht den warmen Jahreszeit ein zeitge- Coronelli – Lust auf weitere
Ruf, bewegungsfaul zu sein. nössisches Kunstwerk präsen- Entdeckungen. Ein weiteres
Kein Wunder: Wenn schon in tiert. Dem winterlichen Besu- Highlight des garantiert nie
der Innenstadt so viel los ist – cher bleibt immerhin eine überfüllten Museums ist der
wieso sollte man diese verlas- Umrundung des seit seiner Saal mit Weltkugeln aus diver-
sen? An unserem ersten Tag tun Renovierung 2010 hell erstrah- sen Ländern.
wir es den Einheimischen lenden Gebäudes. Durch den Nun wird es Zeit für einen
gleich und bleiben innerhalb hinteren Ausgang des Parks Kaffee – dafür bietet sich gleich
des Rings, jener historistischen kommt man nun auf den Ball- gegenüber das winzige Unger
Prachtstraße, deren 150-jähriges hausplatz, wo man sich kurz und Klein an: Es liegt im ersten
Jubiläum dieses Jahr ausgiebig nach links wendet: Hier wurde Hochhaus Wiens, zwischen 1931
gefeiert wird. Neben Rathaus 2014 Olaf Nicolais Denkmal für und 1932 von Siegfried Theiss
und Burgtheater startet man in die Verfolgten der NS-Militär- 2 und Hans Jaksch erbaut.
den Vormittag – nämlich im justiz – im Volksmund: »Deser- Gleich ums Eck gelangt man
Volksgarten, in dem der klassi- teursdenkmal« – eröffnet, eine auf die Freyung und zum
zistische Theseustempel liegt. treppenförmige Skulptur, auf Kunstforum, dessen Programm
Er wurde zwischen 1819 bis 1823 deren oberstem Plateau die sich vom Anfang des 20. Jahr-
von Peter von Nobile erbaut Inschrift »all alone« zu lesen ist. hunderts bis in die Gegenwart
und diente ausschließlich dem Weiter geht es in die Herren- erstreckt. Neben Ausstellungen
Zweck, Antonio Canovas Skulp- gasse, und zwar zur Nummer 9, der historischen Avantgarde
turengruppe »Theseus erschlägt ins Globenmuseum. Bereits im zeigt man im Keller des Hauses
den Kentauren« zu beherber- ersten Raum machen zwei (»Tresor«) oft lohnende Solo-
shows der jungen Künstlergene-
ration. Und im gut sortierten
Shop findet der Wien-Besucher
1 Das Auktionshaus Dorotheum
garantiert ein Mitbringsel. Man
ist auch ohne Ersteigerungs­
absicht einen Besuch wert kann aber auch ins Dorotheum
schlendern, wo der »Glashof«
2 Hier steht die Zeit still: das
Kaffeehaus Prückel im Erdgeschoss mit allerlei
Kunstgewerblichem lockt.
3 Der innerstädtische Volks­
garten mit dem klassizistischen Wenn man Glück hat, sind gera-
Theseustempel de Vorbesichtigungen für hoch-
Linke Seite: Auf dem Vorplatz karätige Auktionen zu sehen.
des Oberen Belvedere mit Doch auch sonst lohnt sich
seinen Schieles und Klimts steht ein Besuch des Hauses mit sei-
3
eine Skulptur von Franz West nen vielfältigen Abteilungen.

49
Bilder: Hotel Daniel/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Pierre Adenis/laif; Georg Kargl Fine Arts, Wien/VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste Wien; Brotfabrik
3

Mieten sind günstig – Gemein-


debau statt Prachtboulevard.
Das ist auch für die Kunst
attraktiv: Ein paar Straßen-
bahnstationen (Nummer 6) ent-
fernt liegt die Brotfabrik, wo
4
sich in den vergangenen Jahren
immer mehr Kunstinstitutio-
nen angesiedelt haben. Nicht abends zum On Market zu
nur die beiden großzügigen gelangen, ein asiatisches Restau-
Räume der Galerie Hilger rant, in dem man sich auch als
1
haben hier ihren Sitz, sondern alteingesessene Wienerin ein
auch kleinere Spaces wie etwa wenig kosmopolitisch fühlt.
2. TAG jener des Sammlers Michael Sel- Wem nach Tofu-Kürbis-Curry
lemond. Darüber hinaus liegt oder Zhajiang-Nudeln nach
Der heutige Tag steht im Zei- hier ein heimliches Fotozen- einem ordentlichen Cocktail ist,
chen der Gegensätze – was trum Wiens, mit der Anzenber- hat es nicht weit in die kürzlich

;
nicht nur die Kunst betrifft, ger Gallery, der Photon Gallery eröffnete Miranda-Bar: Den
sondern auch die urbanen sowie dem Ostlicht. Dort Tag mit einem Drink (Empfeh-
1 Ein Schiff von Erwin Wurm auf
Atmosphären. Zunächst dem Dach des Hotel Daniel gewinnt man aktuell Einblicke lung: Queen Mum) am polier-
besucht man die Akademie der in die Wiener Kunstszene der ten Tresen aus brasilianischem
2 Der Stadtpark lädt schon seit
bildenden Künste, genauer 1862 zum Verweilen ein 1970er-Jahre, die von der Wiene- Granit abzuschließen ist nicht
gesagt deren Gemäldegalerie, rin Cora Pongracz fotografisch die übelste Idee.
3 Die Galerie Georg Kargl in der
am Schillerplatz. Dort verbirgt Schleifmühlgasse dokumentiert wurde. In
sich nämlich nicht nur das Magdas Kantine, einem erst
4 Rubens’ »Boreas entführt
berühmte Weltgerichtstripty- Oreithya« gehört zu den kürzlich eröffneten Lokal, 3. TAG
chon von Hieronymus Bosch, zahlreichen Highlights der das von der Caritas betrieben
sondern eine Reihe anderer Gemäldegalerie wird, kann man einen späten Langsam, aber sicher könnte
hochkarätiger Gemälde, etwa 5 Die Brotfabrik im südlichen Lunch zu sich nehmen. man nun zu dem vordringen,
Rubens’ »Boreas entführt Stadtteil Favoriten ist Heimat für Nun geht es zurück in die wofür die Kunst dieser Stadt
Oreithya«, ein fantastischer spä- viele Galerien Stadt. Wir verlassen die U1 bekannt ist, nämlich in die Zeit
ter Tizian (»Tarquinius und dieses Mal schon in der der Jahrhundertwende. Auch
Lucretia«) sowie zahlreiche nie- Taubstummengasse nahe der wenn man die erstklassige
derländische Stillleben – und Schleifmühlgasse, um einen Sammlung an Klimts und
natürlich die packenden Vul- Galerienspaziergang zu starten: Schieles im Oberen Belvedere,
kanbilder des Michael Wutky, Georg Kargl, Christine König, das – wie das Untere – im Auf-
dem aktuell eine Sonderaus- Kerstin Engholm, Gabriele Senn trag des Prinzen Eugen vom
stellung gewidmet ist. und Andreas Huber haben hier Barockarchitekten Johann
Jetzt, nach eineinhalb ihre Läden, daneben gibt es gla- Lucas von Hildebrandt errichtet
Tagen, streifen wir tatsächlich mouröse Geschäfte, vom Vin- wurde, schon einmal besucht
ein wenig in die Ferne. Wir stei- tage-Möbel-Shop (Rauminhalt) hat: Es wird sich gewiss etwas
gen in die U1 und fahren zum bis zur Designer-Secondhand- noch nicht Bekanntes finden,
Reumannplatz, direkt ins Herz boutique (Flo Vintage). Hier etwa die leicht verstörenden
des Arbeiterviertels Favoriten. lässt sich ein Nachmittag ver- Porträts des Anton Romako aus
Hier geht es etwas lässiger zu, bummeln. Den überfüllten dem 19. Jahrhundert oder die
man hört türkisch-serbisch-ara- Naschmarkt nebenan sollte extrem grimassierenden »Cha-
5
bisches Sprachgemisch, und die man am besten nur queren, um rakterköpfe« des Barockbild-

50
belvedere
UNTERES BELVEDERE
Rennweg 6, 1030 Wien
Täglich 10–18 Uhr
Mittwoch 10–21 Uhr
www.belvedere.at
Gustav Klimt, Eugenia Primavesi (Detail), 1913/14, © Toyota Municipal Museum of Art
WIEN

hauers Franz Xaver Messer- Museum für angewandte Kunst, von deren Anfängen bis in die
schmidt. Und allein die barocke wo Judd (wie etwa auch Jenny 1930er-Jahre erforscht und in
Anlage und der berühmte Holzer, Barbara Bloom oder Ausstellungen, die sich ganz
Canaletto-Blick lohnen den Franz Graf) eine der zahlrei- besonderen Fragestellungen
Besuch. Wer nun ein Mittag- chen Schausammlungen gestal- widmen, präsentiert – derzeit
essen benötigt, dem sei der gut- tete. 1863 gegründet, war das sind dort unter dem Titel
bürgerliche Gmoakeller am Museum ursprünglich als Mus- »Gerahmtes Gedächtnis« Foto-
Heumarkt empfohlen; hier tersammlung für Künstler und grafien in exzentrischen Bild-
bekommt man klassische Wie- Handwerker gedacht. Es liegt rahmen, etwa aus Geweihen
ner Küche. Das Schüttbild an gleich neben dem Stadtpark, oder Hufeisen, zu besichtigen
der Stirnwand des hinteren und heute erkunden wir die (Voranmeldung notwendig).
Saals stammt übrigens von Abteilung »Wien um 1900«: For- Zum Abschluss bietet sich
einem nicht besonders bekann- mal reduzierte Teetassen von ein Abend im Café Engländer
ten Künstler und nicht von Her- Josef Hoffmann, fein ornamen- an, das gern von der Kunstszene
mann Nitsch, auch wenn die tierte Möbel von Dagobert der Stadt besucht wird: Vom
Signatur Gegenteiliges behaup- Peche und Dekorstoffe von Studenten über den Starkünst-

Bilder: IMAGNO/Sammlung Christian Brandstätter; Karte: 123map, Daten: OpenStreetMap, Lizenz ODbL; Grafik: Peggy Seelenmeyer
tet. Diese dürfte einst ein Koloman Moser vermögen das ler bis hin zur Museumsdirekto-
angeheiterter Gast, offenbar mit Publikum jeder Generation in rin trifft man sich hier all-
Lippenstift, hinzugefügt haben. ihren Bann zu ziehen. abendlich auf ein Achtel Wein
Nun könnte man einen klei- Wer nun noch immer Lust oder ein Seidel Bier. Ein biss-
nen Verdauungsspaziergang im auf Kunst hat, der findet unweit chen ist das Engländer wie ein
nahen Stadtpark einlegen. Dort von hier das kleine, feine Photo- Zeitloch: Irgendwie bleibt
Das Photoinstitut Bonartes
stößt man auf Donald Judds institut Bonartes: Unter der zeigt zurzeit Fotografien in man hier immer hängen. Bleibt
Stage Set, eine große Outdoor- Leitung der einstigen Albertina- exzentrischen Rahmen, darunter nur zu hoffen, dass die Heim-
Skulptur: Sie entstand 1991 im Fotokuratorin Monika Faber diese neckische Inszenierung reise am nächsten Tag nicht all-
Zuge einer Ausstellung im wird hier akribisch Fotografie in einer Wiener Villa, um 1900 zu früh startet.

Wien auf einen Blick


»Wien, Wien, nur du und geschmackvoll,
allein, sollst stets die Vespas stehen zur Aus­ Prater
Stadt meiner Träume leihe bereit. Zimmer
sein« – in diesen ab 98 Euro
Hotels träumen Sie Landstraßer Gürtel 5
besonders gut. 3
3 Magdas Hotel 2
1 Das Triest »Stay open­minded« ist
Das Hotelrestaurant das Motto des von der Innere Stadt
3
bietet norditalienische Caritas betriebenen
Köstlichkeiten wie Hotels in der Nähe des 1
5 8
Rotkrautrisotto und Prater, im dem Flücht­
linge aus 14 Nationen 4 4
Wolfsbarschfilet in
Schnittlauchöl, die Zim­ beschäftigt sind. Stu­ 6
mer und Suiten sind dierende der Akademie 7
schlicht elegant und der Künste haben die Museumsquartier
verfügen zum Teil über Zimmer und Suiten in­
9
private Gärten. Zimmer dividuell gestaltet.
ab 129 Euro. Laufbergergasse 12
Wiedner Hauptstraße 12 1
4 25 Hours
2 Hotel Daniel Direkt am Museums­ 1 Stephansdom
Auf dem Dach des quartier und in Lauf­ 2 Kunstforum
Hotels nahe dem Belve­ weite zur Ringstraße 3 Globenmuseum
dere liegt ein Schiff des liegt das 217­Zimmer­ 4 Dorotheum
Künstlers Erwin Wurm Haus, das sich gestalte­ 5 Volksgarten Belvederegarten
vor Anker. Auch einen risch dem Zirkus widmet. 6 Photoinstitut Bonartes 10
Bienenstock gibt dort Artisten, Trapezkünstler 7 Stadtpark
oben, der fleißig Honig und Feuerschlucker 8 MAK
fürs Frühstücksbuffet zieren hier die Wände. 2
9 Gemäldegalerie
produziert. Die 116 Zimmer ab 94 Euro. 10 Schloss Belvedere
Zimmer sind modern Lerchenfelder Straße 1-3

52
BEUYS INDIANA
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FENI HOCKNEY BASE LITZ
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Kunsthändlerverband
Deutschland
Wenn es um den Handel mit Kunst und
Antiquitäten geht, ist der Kunsthändlerverband
Deutschland der qualifizierte Gesprächspartner
für die Politik. Die aktuelle Diskussion um das
geplante Kulturgutschutzgesetz zeigt einmal
mehr, wie wichtig es ist, dass der Handel für
seine Interessen eintritt. Wir wollen verhin-
dern, dass immer neue bürokratische Hürden
den Handel unnötig behindern und damit auch
unseren Kunden die Freude am Umgang mit
Kunst und Antiquitäten genommen wird.
Der KD gibt Ihrem Anliegen eine Stimme.

KD Kunsthändlerverband Deutschland e.V.


Norbert Munsch Geschäftsführer
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SAMMLER
SEMINAR Nº 2 5

Deutsche
Fayence

Die Fayencekunst des Barock und Rokoko ist im Preis stark gefallen. Das ist der Qualität
dieser Werke nicht angemessen. Ein herrliches Gebiet für antizyklisches Sammeln

VON
A N G E L A G R Ä F I N VON WA L LW I T Z
S A M M L E R SE M I N A R

S
Sammeln reimt sich nicht auf chillen. Soll
heißen: Von allein erschließt sich kein Gebiet
des Kunsterwerbes; schon gar nicht eines,
das drei und vier Jahrhunderte in die Ge­
schichte zurückführt und mit komplexen
Techniken der Keramikherstellung zu tun
hat. Sehen die deutschen Fayencen des Ba­
Bild links: Christie’s Images Ltd. 2015; Bilder rechts: Dorotheum, Wien; Metz, Heidelberg; Neumeister, München

rock und Rokoko nicht alle gleich aus? Wie


passen sie in meine moderne Wohnung? So 1
und ähnlich lauten die Vorbehalte gegenüber
der Fayence. Doch wer sich einmal auf das
Thema eingelassen hat, wer tiefer eindringt
und sein Wissen erweitert – was ja nicht Ar­
beit, sondern Vergnügen, Entspannung und
Erkenntnis verheißt –, der wird mit einem
faszinierenden Sammelfeld belohnt, das der­
2
zeit zudem mit niedrigen Preisen lockt.
Als ich mit 22 Jahren in Schloss Lust­
heim bei München eine Führung durch die
Sammlung Schneider geben sollte, war ich
selbst zunächst einigermaßen verständnislos.
Über 2000 Stücke Meissener Porzellan: In
meinen Augen sahen sie alle gleich aus. Fünf
Tage später führte ich 25 Schulfreunde meines
Vorgesetzten durch die Sammlung und konn­
te wenigsten erklären, wie sich die Stilgrup­
pen unterscheiden. Warum es zu den ver­
schiedenartigen Motiven gekommen war, das
3
verstand ich erst über die Jahre, Schritt für
Schritt mit jedem keramischen Objekt, das
ich bei Sotheby’s katalogisieren musste. Drei besondere Stücke aus dem großen dass Architekten, Einrichter und Wohnma­
Fundus von Fayence-Tellern: 1 Ansbacher gazine die Vielfältigkeit dieser Handwerks­
Fayence, ein Bärenmarkt Teller mit Allianzwappen zweier Adelsfami- kunst übersehen, die unsere Geschichte in
In meiner Arbeit als Expertin im Auktions­ lien, 1717 zu einer Hochzeit bestellt. Im allen Winkeln der sogenannten Provinz le­
haus und später als Kunsthändlerin lernte Dorotheum im Oktober für 3400 Euro zu- bendig macht. Im Interiordesign von heute
geschlagen 2 Blumenteller aus dem be-
ich, dass jedes Werk viele Facetten hat und spielt die Fayence, obgleich oft von hohem
rühmten Clemenswerther Jagdservice,
deshalb für die Liebhaber und Sammler aus ästhetischen Reiz, keine Rolle. Doch birgt
Manufaktur Straßburg, 1749/54, 7000 Euro,
ganz unterschiedlichen Gründen begehrens­ der schwache Markt für uns auch Vorteile.
Zuschlag bei Metz 2011 3 Einer von vier
wert ist. Zudem bringt jedes neue Objekt, Tellern mit Allianzwappen, Nürnberg, Mitte Der Wert geerbter Sammlungen fordert nur
jede neue Pirsch immer auch neue Bekannte, 18. Jh., die Nachfahren einer der Familien sehr geringe Erbschaftsteuer. Und das gesun­
neue Bücher und spannende Orte, die es zu boten 2014 bei Neumeister 21 000 Euro kene Interesse des deutschen Bildungsbür­
besuchen gilt, um noch mehr über das Sam­ für die Gruppe. Li. Seite: Terrine in Form gertums an der eigenen Geschichte bewirkt
melgebiet zu lernen. eines Truthahns der Manufaktur Höchst, zumindest den positiven Zustand, dass sich
Am Finanzmarkt würde man die Fa­ um 1770. Das Schaugericht erzielte bei heute jeder Erwerbstätige deutsche Fayen­
yence als »Bärenmarkt« bezeichnen: eine Christie’s 40 000 Euro cen leisten kann.
Branche, die gerade eine klassische Baisse Man kann in der eigenen Region begin­
durchläuft. Das hat verschiedene Gründe. nen und sich dort umschauen. Bereits für 500
Einer ist gewiss die allgemeine Geschichts­ Euro (zuweilen sogar weniger) lässt sich mit
vergessenheit und eine Vergötterung der Ge­ einem Walzenkrug aus der zweiten Hälfte des
genwartskunst, die bürgerlicher Main­ 18. Jahrhunderts viel Neues entdecken, denn
stream geworden ist. Ein anderer liegt darin, bis 1900 gab es in fast jedem Städtchen eine

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S A M M L E R SE M I N A R

Fayencemanufaktur oder eine Werkstatt von


Fayencemalern. Diese Handwerker und
Künstler belieferten den Bischof wie den Ta­
gelöhner mit Gefäßen aller Art, im oberen
Segment waren es oft skulpturale Kunstwer­
ke von eigenem Rang. Die Industrialisierung
und die Auflösung der Monarchien verdräng­
ten die Manufakturen, aber der formbare
Ton interessierte auch die Maler und Bildhau­
er der Moderne – Picasso, Matisse und viele
andere. Daraus entstanden im 20. Jahrhun­
dert die unzähligen kleinen Keramikateliers,
die es bis heute überall gibt. Wirtschaftsge­
schichtlich schloss sich damit der Bogen, an
dessen Beginn zwischen 1628 und 1656 in
Hamburg die erste deutsche Fayencemanu­
faktur gegründet worden war.
Der Begriff Fayence umfasst mitteleuro­ 1
päische, gebrannte, nicht gesinterte Irdenwa­
re, die mit einer weißen Zinnglasur über­
zogen ist. Das Wort kam in Frankreich auf
und leitete sich von der Stadt Faenza ab, im
16. Jahrhundert eines der bedeutendsten Ke­
1 Der Wursthafen aus Nürnberg, 1730/40,
ramikzentren Italiens mit Exporten an viele
Zuschlag 1300 Euro bei Nagel 2 Haus­

Bilder: Nagel, Stuttgart; Christian Oberlander; Van Ham, Köln


europäische Höfe. Die anhaltende Einfuhr malerkrug mit dem Porträt eines Juden, 2
ostasiatischer Porzellane um 1650 entfachte Bayreuth um 1765, Sammlung Neuner
das Bedürfnis, Ähnliches herzustellen. Zum 3 Bischof als Bowlendeckel, Kellinghusen,
größten Produktionsstandort von Fayence, am 14. November bei Van Ham, Taxe 6000
die dem chinesischen Porzellan nacheiferte, Euro 4 Ein Höhepunkt der Fayencekunst:
wurde das holländische Delft. Applike aus Fulda, 1745, Sammlung Neuner
te. Deutsche Fayencen aus dem 17. und frühen
Unsichtbare Schäden 18. Jahrhundert sind rar, dennoch können
Die künstlerisch besten Fayencen entstanden selbst bedeutende Fächerplatten oder Enghals­
sowohl im Auftrag von Adel und Klerus als krüge heute für etwa 15 000 Euro erstanden
auch der wohlhabenden Bürger in den Frei­ werden. Vor 30 Jahren waren die holländischen
en Reichsstädten. Gerade dadurch erklärt Beispiele der mittleren Qualität etwa halb so
sich die große Bandbreite der Qualität und teuer wie die Fayencen aus Frankfurt und Han­
der wunderbare Formenreichtum der deut­ au. Heute ist es umgekehrt.
schen Fayencekunst. Einzelne Werkstätten Der Marktwert von Fayencen bemisst sich
begannen nach dem Dreißigjährigen Krieg, über die Qualität der Form und Malerei sowie
eher grobkörnige Fayencegefäße mit weißer über den Erhaltungszustand. Bestoßungen
Zinnglasur und blauer Bemalung herzustel­ (Chips) und Haarrisse sind bei diesem weichen
len. Mit den Einwanderern aus Holland kam Material hinzunehmen. Aber Brüche, Ergänzun­
auch die Familie Behagel in die Rhein­Main­ gen fehlender Henkel oder Knäufe mindern den
Gegend. Der sehr auf Gewerbeförderung be­ Wert um 40 bis 80 Prozent. Ein heikles Problem:
dachte Graf Friedrich Casimir von Hanau Moderne Restaurierungstechniken sind nahezu
verlieh den Behagels 1661 ein 20­jähriges Pri­ unsichtbar. Das vorsichtige Abklopfen des Scher­
vileg zur Errichtung einer »bisher ohnbe­ bens mit einer spitzen Nadel (bitte nicht krat­
kannten Porzellain Backery«. zen!) lässt die harte originale Oberfläche von der
Vorerst arbeiteten nur holländische 3 weichen restaurierten unterscheiden. Jede Rech­
Immigranten in der Hanauer Fayence­ nung sollte einen detaillierten Zustandsbericht
manufaktur. Sie orientierten sich beinhalten. Die darin gemachten Aussagen ha­
stark an den Vorbildern aus ben in Deutschland eine Garantie über 30 Jahre.
Delft, sodass es einiger Übung Mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts ent­
bedarf, um die Herkunft der standen in allen Teilen des Reichs Fayencema­
Stücke zu bestimmen. Der Er­ nufakturen. In seinem immer noch un­
folg der Hanauer Fayence bei schätzbaren Standardwerk von 1921
Adel und Bürgerschaft war beschreibt Otto Riesebieter die Ge­
so groß, dass Johann schichte und Produkte von 88
Christoph Fehr bereits deutschen Manufakturen des 17.
1666 in Frankfurt eine und 18. Jahrhunderts. Die Herstel­
weitere Manufaktur gründe­ lungstechnik war seit Jahrtausen­
den bekannt, und Fayence war in Deutsch­
land zunächst einfaches Gebrauchsgeschirr.
Die Tonwerker arbeiteten nicht nach Vor­
zeichnungen großer Designer, sondern
Grafen Sulkowsky in Meißen gefertigt, be­
einträchtigte die Fayenceherstellung noch
nicht. Die Tafelkultur erlebte seit dieser Be­
stellung einen rasanten Aufstieg, auch die
CAHN
nach eigenen Ideen oder mit der Verfeine­
rung der Motive und Formen aus dem Aus­
kunstvollen Tafeldekorationen wurden im­
mer vielfältiger. Die Fayence entwickelte
Antike Kunst
land. Ideenloses Abkupfern? Oftmals ist es sich hier durchaus unabhängig vom Porzel­
das in der Tat bei den günstigeren Gefäßen lan. Legendär sind die beiden Jagdservice,
für das Bürgertum; aber für die Fürsten kre­ die der Kölner Erzbischof und Kurfürst Cle­
ierten die Fayencekünstler bald eigene For­ mens August um 1750 für seine Schlösser
men, die auch die Objekte in den Wunder­ Brühl und Clemenswerth in Straßburg be­
kammern widerspiegelten. So etwa ein Paar
kleinerer Flötenvasen aus der Manufaktur
Wolbeer in Berlin. Sie zeigen, wie sich der
Wunsch des preußischen Königs Friedrich
I., eine eigene Manufaktur in der Residenz­
stadt zu haben, auf die Auswahl von Form
und Nutzen der Gegenstände auswirkte.
Diese Vasen sollten nie Blumen aufnehmen,
sondern waren als eigenständige Kunstob­
jekte vorgesehen. Anfang des Jahres erwarb
sie eine junge Mutter bei mir und erweiter­
te damit ihre kleine, aber feine Sammlung.
Die wohl bedeutendsten Werke der
deutschen Fayencekunst sind zwei monu­
mentale Wandleuchter aus der Manu­
faktur in Fulda. Sie ragen heraus in ih­
rem Design, der Malqualität und auch
der Höhe von 71 Zentimetern, denn es war
Bild: Christian Oberlander

sehr schwierig, so große Objekte ohne Ver­


werfungen zu brennen. Heute bilden die
Appliken einen Höhepunkt im Besitz von
Helmut Neuner, der die derzeit wohl beste
Privatkollektion deutscher Fayencen zu­
sammengetragen hat.
Der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts
ging es nicht nur um notwendiges Geschirr,
sondern auch um ausgefallene Gefäßfor­
men und Tischdekorationen für die neue
Tafelkultur des service français. Platten, 4
Kannen und Vasen wurden auf den Buffets
zwischen die Preziosen aus Silber und Zinn stellte. Zu diesem Zeitpunkt leitete der
gestellt. Die frühen deutschen Fayencen wohl berühmteste Keramikmaler, Adam
waren also nicht nur luxuriöse Gebrauchs­ Friedrich von Löwenfinck, die Fayencema­
gegenstände, man bewunderte sie auch als nufaktur von Paul Hannong. Löwenfinck
Kunstwerke. Nicht umsonst ließen Fürsten lernte und arbeitete 1726 bis 1736 in Meißen,
und reiche Handelsherren große Speise­ danach wirkte er in Bayreuth, Ansbach,
service mit ihrem Wappen bemalen. Fulda, Höchst und schließlich in Paul Han­
nongs Firma in Straßburg und Hagenau.
Genialer Löwenfinck Das Elsass gehörte damals schon zu Frank­
In einem Schloss in Süddeutschland fan­ reich, blieb aber kulturell deutsch geprägt
den sich 2012 bei der Erstellung eines In­ und betrieb ohne Zollgr