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1007/s12054-018-0022-6
Extrablick Internationale Freiwilligendienste
Kurzzeitfreiwilligenarbeit
im Ausland – Was hilft
eigentlich wem?
Von ehrenwerten Motiven und frustrierenden Erfahrungen
Reisen und die Welt gesehen zu haben gehört mittlerweile zum guten Ton in den Biographien junger Er-
wachsener. Dabei gilt es schon lange nicht mehr, einfach auf den ausgetretenen Pfaden der anderen Tou-
rist_innen zu wandeln, sondern neue Wege zu entdecken. Freiwilligenarbeit im Ausland hat sich in den
letzten Jahren zu einer Möglichkeit für junge Menschen entwickelt in fernen Ländern in sozialen Einrich-
tungen zu arbeiten und gleichzeitig vor, nach oder während ihrer Tätigkeiten auch das Vergnügen nicht zu
kurz kommen zu lassen. Außerordentlich beliebt sind hierbei Kurzzeitprogramme, die Reisen und Frei-
willigenarbeit besonders flexibel verbinden: Voluntourismus.
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lich verlassen, nimmt der größte Teil die Form der Kurz- einer Diskreditierung der örtlichen Lehrkräfte, die zuzüg-
zeitprogramme im Ausland wahr und bleibt nur wenige lich in den Einrichtungen tätig sind.
Tage oder Wochen in ein und derselben Einrichtung vor Eine Freiwillige berichtet aus ihrem Alltag in einer Schu-
Ort (Liebel 2017). le, dass „die Lehrer pro Stunde immer eine Aufgabe an die
Tafel schreiben, die sie dann korrigieren würden und auch
Ehrenwerte Motive die wären dann alle falsch. Ohnehin würden die Kinder ja
Die Analysen der Homepages zahlreicher Anbieter von nur auswendig lernen. Überhaupt nichts richtig verstehen“
Kurzzeitfreiwilligenarbeit sowie Besuche von Informati- (Beobachtungsprotokoll 6, 28, 1-9). Sie beschreibt außer-
onsabenden für Interessierte lassen erkennen, welche Hoff- dem, dass die Kinder zu Beginn immer singen und tanzen
nungen und Wünsche in den Freiwilligen geschürt werden würden. Der Gehalt an Bildung in Gesang und Tanz wird
und mit welchen Anreizen bestückt sie ins Ausland reisen. von der Freiwilligen herabgesetzt, den Lehrkräften wird
Vornehmlich wird die Soziale Arbeit mit Kindern in Afri- ihre Kompetenz abgesprochen. In jenen Narrativen zeigt
ka, Lateinamerika und Südostasien beworben. Zwei zent- sich die Frustration in den Erfahrungen vor Ort und auch
rale Punkte sind dabei: die Hilflosigkeit darin, dass die Freiwilligen merken, dass
1. die Kinder vor Ort werden als unendlich dankbar und ihre Hilfe nicht in erhofftem Ausmaß und in erhoffter Form
gleichzeitig sehr niedlich dargestellt und beschrieben. Anwendung findet.
2. vornehmlich die Aufgaben „Kinder unterrichten und Gleichzeitig bleiben die große Dankbarkeit von und die
betreuen“ oder „Bildung und Unterricht“ vor Ort wer- Nähe zu den Kindern, welche vorher versprochen werden,
den versprochen. im Endeffekt auch aus. Die eingenommene Position als wei-
Das erste Ergebnis hierzu speist sich aus den Bild- und ße Lehrkräfte, die ständig kommen und gehen, lassen die in
Textwelten der Homepages. Auf Plattformen für Freiwil- Bildern angekündigte dankbare Kuschel- und Spielzeit mit
ligenarbeit im Ausland stößt man auf Abbildungen von den Kindern nicht zu. In Pausensituationen beispielswei-
jungen Freiwilligen, die mit ihrer „Klientel“ gezeigt wer- se separieren sich die Freiwilligen, statt mit den Kindern
den: Ein kleiner Tiger, der aus einer Milchflasche trinkt zu interagieren. Zudem blenden die Freiwilligen als ihrer-
(Tierschutzprojekt) und junge weiße Frauen mit mehreren seits definierte Wissensträger aus, dass sie sich den Men-
kleinen Schwarzen Kindern in ihren Armen und auf dem schen vor Ort in machtvolleren Positionen gegenüberse-
Schoß (Waisenheimprojekt). Anbieter versprechen zudem hen. Die „Definitionsmacht darüber, was als Bildung gilt
die Dankbarkeit der Mitarbeiter_innen vor Ort sowie der und wer als gebildet bzw. ungebildet gilt“ (Kemper u.a.
Kinder: „IHR helft und so können sich Projekte weiterent- 2009, S. 119) liegt hier bei den Freiwilligen und zeigt un-
wickeln, die Menschen werden euch dankbar sein“ (Beob- überbrückbare Machtverhältnisse auf, die sich für sie nicht
achtungsprotokoll 2, 11, 29-30). durch eine Dankbarkeit der Kinder schließen kann. Hinzu
Zu den angebotenen Aufgaben versprechen die Home- kommt die Erkenntnis, dass die Kinder nicht die erhofften
pages und die Informationsabende, dass die Freiwilligen Lernerfolge erzielen, ungeachtet dessen, dass die Freiwil-
ihre eigenen sprachlichen Fähigkeiten Kindern im Unter- ligen selbst auch keine ausgebildeten Lehrkräfte sind. Um
richt in Waisenheimen weitervermitteln können, ihre ver- allerdings trotzdem eine Berechtigung zu haben, vor Ort
mittelten Englischkompetenzen jenen zu einem besseren zu sein, reagieren die Freiwilligen in Erfahrungsberichten
Leben verhelfen könnten und sie zudem in den Heimen in auf Blogs, ihren Familien und auch uns als Forscherinnen
Spiel mit und Pflege der Kinder eingebunden sind. gegenüber mit Narrativen über das große Elend der Kin-
der vor Ort und blenden ihre frustrierenden Erlebnisse aus.
Was dann passiert
Unsere Analysen der Beobachtungen in Südostafrika ge- Intersektionale Machtverhältnisse
ben Aufschluss über den Ist-Zustand vor Ort. Die von uns Zunächst lässt sich festhalten, dass es durchaus unter-
dort angetroffenen Freiwilligen unterrichten tatsächlich schiedliche Reaktionen auf die Arbeit, aber auch die Frei-
größtenteils an Schulen oder in Waisenheimen. Unsere Er- willigen selbst gibt. So machten wir die Erfahrung, dass
gebnisse zeigen allerdings, dass sie keine weiteren Aufga- den weißen Freiwilligen insbesondere im öffentlichen Raum
ben in den Heimen ausfüllen. So zeigen die Beobachtungen mit massiver Skepsis und Kritik begegnet wird. Die jun-
in einer von uns besuchten Einrichtung, dass die Freiwil- gen Menschen werden häufig als schlecht integrierbar oder
ligen lediglich an vier Tagen in der Woche für jeweils vier überheblich wahrgenommen. Für den ortsüblichen Touris-
Stunden täglich präsent waren. Dabei sind teilweise bis zu mus werfen sie kaum etwas ab. So kommen sie auch nicht
zehn Freiwillige in der Einrichtung für 30 Kinder zustän- als profitable Kund_innen in Frage, denen man sich an-
dig. Die Freiwilligen scheinen dabei häufig frustriert über dienen müsste. Anders sieht dies im Kontext der Empfän-
die Lernerfolge der Kinder und verbinden dies häufig mit ger_innenorganisationen aus, die ein spezielles Verhältnis
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Sozial Extra 2 2018
Extrablick Internationale Freiwilligendienste
zu den Freiwilligen haben. Sie befinden sich zum einen in Kolonialisierte Bildungsobjekte
finanzieller Abhängigkeit zu den Entsendeorganisationen, Die „Aufnahmegesellschaft“ wird somit zum Objekt des
zum anderen sind sie selbst in ihrem Umfeld oft in sehr de- eigenen Handelns, über welches nach eigenen Gestus und
privilegierten Positionen, die durch die Anwesenheit von weißem Erfahrungswissen frei bestimmt wird. Gleichzeitig
Weißen ein Stück weit durchbrochen werden kann. wird damit ein Wissen über die ‚Anderen‘ geschaffen, wel-
ches für die Differenzkonstruktion in der Sozialen Praxis
Frust und fehlende Anerkennung einen notwendigen Bestandteil der Aufrechterhaltung der
Die Frustration, die sich im Rahmen dieser Angebote sozialen Positionierung darstellt. Eggers (2009) hält hierzu
ergibt, liegt dabei selbstredend nicht nur bei den Frei- in Anlehnung an Mills fest, „dass rassistische Grenzziehun-
willigen. Die Praxen der Kurzzeitfreiwilligenarbeit hin- gen rassistisch markierte Subjekte in eine Art Zwangsbe-
terlassen auch bei den vermeintlichen Adressat_innen, ziehung mit Weißen einbinden sollen. Erstere sollen verfüg-
den Menschen, mit denen im Ausland gearbeitet werden bar gemacht werden und nicht außerhalb des Einflusses von
soll, dauerhafte Spuren. Beispiele hierfür sind die Dele- Weißen oder vielmehr von hegemonialen Weißen stehen. In-
gitimierung eigener kultureller Werte und Praxen, wie dem ein weiß geprägtes und definiertes epistemisches Wis-
zum Beispiel Landessprache oder lebenswelttypische Un- sen über markierte ‚Andere‘ erzeugt und legitimiert wird,
terrichtsmaterialien. So konnten wir in unserer Untersu- wird auch die Normalität und Normativität einer hierarchi-
chung feststellen, dass im „Unterricht“ lediglich europäi- schen komplementären rassifizierten Ordnung verankert
sche Sprachen in einem minimalen Grundwortschatz ge- und tradiert“ (ebd., S. 61; Herv. i. Orig.). Eben jene Nor-
lehrt werden. Die eigene Landessprache konnte aufgrund malität und Normativität schreibt sich letztlich auch in die
der mangelnden Kompetenz der Freiwilligen keine Be- Adressat_innen ein. Die Kinder lernen den Anforderungen
rücksichtigung finden. Im Gegenteil, vielmehr wurde auf- zu entsprechen und die Erwartungen der weißen Freiwilli-
grund der fehlenden Kenntnis der Landessprache, diese gen entsprechend zu bedienen. Beispielhaft stehen hierfür
entwertet und den Kindern mithin untersagt: „Nubia (ein Praktiken des Einforderns der ewig gleichen Unterrichts-
Kind) nimmt die Bildkärtchen und spielt dann das Spiel spiele, auch ohne jeden Bildungsnutzen für die Adressat_
aus dem Unterricht nach. Als sie einen Elefanten hoch- innen. Das Erfüllen stereotyper Vorstellungen und Argu-
hält, sagt ein Junge: ‚Tembo‘. Maike (Freiwillige) korri- mentationen, wie die Bereitung eines „traditionellen“ Ab-
giert ihn und sagt: ‚No! Elephant‘. Ich sage, dass ‚Tembo‘ schiedes mit Tanz und Musik gehören ebenfalls dazu. Die
aber doch richtig gewesen sei. Sie sagt: ‚Naja, auf Swahi- Wahl auf diese Form des Abschiedes mag eine gewollte In-
li...‘“ (Beobachtungsprotokoll 11, 104, 4-8). Zum Erler- szenierung sein, Freiwillige in ihren Vorstellungen „exoti-
nen von Sprache wurden, wie in europäischen Bildungs- scher“ Fremde bestärken zu wollen und somit Differenz-
räumen üblich, mithilfe von Piktogrammen Begriffe ge- konstruktionen weiterhin zu reproduzieren.
übt. Abbildungen, wie die eines Schwimmbades, eines In diesem Moment drehen sich Empfänger und Anbie-
Einfamilienhauses mit rotem Ziegeldach oder auch eines ter von dem vermeintlichen Bildungsangebot um. Wäh-
Emmentaler Käses, entsprachen jedoch nicht im Ansatz rend zunächst die weißen Freiwilligen gehofft hatten, pä-
der Lebenswelt der Kinder, welche hier ausgebildet wer- dagogische und sozialarbeiterische Praxis im Ausland an-
den sollten. Sie setzten vielmehr westlich-europäische wenden zu können, werden sie selbst zu denjenigen, denen
Standards als Norm. Was die Kinder hier also lernen ist: ein Unterhaltungsangebot durch die Schwarze Bevölkerung
Die weißen Akteur_innen sind die Macher_innen – dieje- vor Ort unterbreitet wird. Schlussendlich bleibt auf beiden
nigen, die die Struktur des Alltags für die Adressat_in- Seiten wenig Kompetenzentwicklung, weder genießen die
nen vorgeben und den Inhalt bestimmen. Dies betrifft so- Kinder stabile Beziehung oder eine angemessene Bildung,
wohl die räumlichen Gegebenheiten als auch die inhaltli- noch erlernen die Weißen interkulturelle Kompetenzen auf
che Ausrichtung der sozialarbeiterischen Praxis. Augenhöhe oder gar pädagogisch nachhaltige Verantwor-
Darüber hinaus machen die Kinder kaum Erlebnisse dau- tung. Im Gegenteil: Hierarchische Machtverhältnisse, die
erhaft stabiler emotionaler Beziehungen, außer denen in sich auch auf globaler Ebene ausdrücken, werden durch In-
der Eigengruppe. Die hohe Fluktuation und jeweils kur- teraktionsdynamiken der Freiwilligenarbeit perpetuiert.
ze Aufenthaltsdauer der weißen Freiwilligen, die stets die
Erwartung an die Kinder herantragen, dankbar für die Wem bringt es was?
angebotene Hilfe sein zu müssen, führen langfristig zu Profitieren lässt sich schlussendlich nur im Sinne einer ka-
einem emotionalen Ausstieg der Kinder aus den Bezie- pitalistischen Verwertungslogik. Für die autochthone Be-
hungskonstellationen mit den Freiwilligen und stattdes- völkerung sind es die paar Euro, die die Freiwilligen als
sen zu einer Inszenierung solcher Praktiken, um die Er- Spende in den Einrichtungen lassen. Für die Freiwilligen
wartungen zu erfüllen. ist es die Erfahrung, die sich gewinnbringend in den Le-
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benslauf integrieren lässt und auf dem Arbeitsmarkt oder 1. Wir verwenden in die Begriffe „Schwarz“ und „weiß“ im Sinne der kritischen Weißseins-
forschung als politische Bezeichnungen und stellen hiermit „Schwarz“ als die politisch kor-
bei der Ausbildungssuche unterstützend wirkt. Vor allem
rekte sowie selbstgewählte Bezeichnung für Schwarze Menschen und „weiß“ zur Sichtbarma-
aber gewinnen die Anbieter solcher Geschäfte – die Un- chung von ansonsten unsichtbar gemachten Machtverhältnissen heraus.
ternehmen, die für die Planung und Durchführung solcher
Reisen mit Hilfscharakter unglaubliche Summen einstrei-
chen, bei einem Markt, der stetig wächst. Dieses Geschäft
mit den Bildern von Elend zu beenden und stattdessen auf
eine nachhaltige Förderung interkulturellen Austauschs auf
Literatur
Augenhöhe und ein Lernen voneinander zu setzen, ist ei-
EGGERS, MAUREEN MAISHA (2009).
ne der Forderungen, die sich aus unserer Forschung er- Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der
schließt. Darüber hinaus gilt es, aus der Perspektive einer kritischen Weißseinsforschung in Deutschland. In: Susan Arndt et
al. (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung
professionellen Sozialen Arbeit, solchen unprofessionellen in Deutschland (S. 56-72). Münster: Unrast-Verlag
pädagogischen Praktiken keine Legitimität zu attestieren, HOLMES, KIRSTEN UND SMITH, KAREN (2009).
indem diese Auslandsaufenthalte beispielsweise als (Vor-) Managing Volunteers in Tourism. Abingdon: Routledge Taylor & Francis
Praktika in Studium und Ausbildung anerkannt werden. KEMPER, ANDREAS UND WEINBACH, HEIKE (2009).
Klassismus. Eine Einführung. Münster: UNRAST-Verlag
Stattdessen kommt Ausbildungsorten, wie Hochschulen,
LIEBEL, MANFRED (2017).
die Aufgabe zu, daran Kritik zu üben und Möglichkeiten Postkoloniale Kindheiten. Zwischen Ausgrenzung und
für eine gelingende transkulturelle Soziale Arbeit zu ent- Widerstand. Weinheim/Basel: Beltz Juventa
wickeln und zu vermitteln. s NEUFEIND, MAX, GÜNTERT, STEFAN T. UND WEHNER, THEO (2015).
Neue Formen der Freiwilligenarbeit. In: Theo Wehner,
∑ Stefan T. Güntert (Hrsg.), Psychologie der Freiwilligenarbeit
(S. 195-220). Berlin/Heidelberg: Springer VS
springer.com/Angebot1
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