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TRÄUME - zur „BRAUT VON MESSINA“, 2005

Der eine Traum: Ein Regisseur streicht aus einem alten Stück den Chor - er gehöre in die
Kirche oder auf die Oper - , das Publikum meidet das Theater, er wird Wahlkampfmanager in
Deutschland. Der andere Traum: In Schillers Nachlass findet sich eine Verfügung, die alle
Schiller-Gedenkjahre untersagt, sie sind so beliebig wie die Fernsehwerbung....
Was tun? Die Vorhersehung orakelt Verbannung oder Belanglosigkeit. - Ich erhalte das Ange-
bot, 2005, im Schiller-Jahr, die für unspielbar erachtete „BRAUT VON MESSINA“ in
Temeswar zur Aufführung zu bringen.

Den Träumen misstraue ich, die Zweifel bleiben. Zur großen Entdeckung der Probenarbeit
wird jener CHOR, der einzige in einem Drama Schillers. Die „betörend schönen Verse“ ver-
bergen Atem, Gestus, Vielfalt. Meine Hoffnung wächst mit Schillers Zuversicht, der Zu-
schauer werde sich nicht am Chor „erkälten“, wenn dieser sinnlich auf der Bühne handelt.
Der Chor wird zur eigentlichen Hauptfigur - und zum Probenmotor: Er beobachtet scharf,
kommentiert klug, kontrolliert und greift, wenn nötig, in das Geschehen ein. Er reflektiert
über Gott, die Welt, Natur und Mensch, steht keinem Kriminalkommissar nach. Er hält direk-
te Beziehung zum Zuschauer, damit dieser nicht zu stark Mitleid mit den Personen hege, sich
nicht einfühlt in das schicksalhafte Geschehen - dabei Denken und Fragen vergisst, auch
Kritik und Protest. „ Er ist gleichsam außer dem Stück (...), steht am sicheren Ufer, wenn das
Schiff mit den Wellen kämpft“, und „das Gemüth des Zuschauers soll (...) kein Raub der
Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter von den Rührungen scheiden...“
„In der zweiten Qualität“ dann, wenn der Chor mit zwei mal sechs Körpern, sechs unter-
schiedlichen Gesichtern - versteckt nicht hinter Masken! - mit einer Stimme als Mit- und
Gegenspieler auftritt - ist er „selbsthandelnde Person“, die „die ganze Blindheit, Beschränkt-
heit, dumpfe Leidenschaftlichkeit der Masse“ darstellt, „und so hilft (...) die Hauptfiguren
heraus(zu)heben.“ Nicht genug damit: Der Chor fightet auch - mit Versen, mit Körper,
Waffe, Material, markiert das Meeresrauschen und baut die Bühne um. „So wie der Chor in
die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung“ (Schiller).
In den Texten verstecken sich ungeahnte Spielmöglichkeiten! Die Story vom Untergang der
Fürstenfamilie steht „Ödipus“ nicht nach, erinnert an Lessings „Nathan“ - wenn von den drei
Religionen Christentum, Buddhismus, griechische Götterlehre keine einer anderen überlegen
ist. Die Liebesszenen können mit denen aus „Die Liebenden von Verona“ („Romeo und
Julia“) konkurrieren, den abgrundtiefen Figurencharakteren, geprägt von Machtgier, Hass,
Selbstsucht, Anmaßung und politischem Kalkül, steht Shakespeare Pate. Ohne Vergleich sind
Schillers Verse selbst, die handlungsbefördernden, kraftvollen ersten Silben oder Worte auf
der neuen Zeile, deren Bildhaftigkeit, Pathos, Rhythmus. Leidenschaftliche Extreme liegen
unglaublich nah beieinander.
Und wer hätte das gedacht: Bertolt Brecht - 2006 ist Brecht-Gedenkjahr - ist ein Schüler
Schillers: Die Welt ist veränderbar, der einzelne Mensch ist zur Tat fähig und für sie verant-
wortlich, alle sozialen Konflikte ergeben sich aus widerstreitenden Interessen, sind nicht
schicksalhaft und ewig...
Theater vermag die Welt nicht zu verändern, aber es fragt nach dem WARUM?, fragt nach
dem GESTERN, um das HEUTE bereits so zu leben, damit das MORGEN etwas sicherer und
gerechter werde. Es befördert das NEIN!, trainiert lustvolles HINHÖREN und HINSEHEN
und ermuntert zu Zivilcourage. Und Lachen befreit.

Die Fürstin von Messina verliert „ohne Schuld“, wie sie mehrfach gelobt, ihre beiden Söhne,
die Macht, das eigene und der Tochter Lebensglück. Wenn sie an der Katastrophe Finale allen
Orakeln, Träumen, Religionen, Ideologien abschwört - „Ob rechts die Vögel fliegen oder
links / Die Sterne so sich oder anders fügen /Nicht SINN ist in dem Buche der Natur, / Die
TRAUMKUNST TRÄUMT; UND ALLE ZEICHEN TRÜGEN“ - kann das nur der Anfang
und eine Seite kritischer Selbsterkenntnis sein. Für sie zu spät. Nicht für den Zuschauer...

Gestern hatte ich den Traum: Schiller hätte in diesen Tagen die große Stückeolympiade in
Dublin, oder war es Athen?, mit der „BRAUT VON MESSINA“ gewonnen...

Träume.
Bernd Guhr

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