Als Kind war sie die mit dem "bösen Blick". Heute ist Anne Imhof eine erfolgreiche
Performance-Künstlerin. Ihre langjährige Partnerin Eliza Douglas hat sie in New York
in aktueller Mode und Vintage-Shirts fotografiert. Interview: Christoph Amend
Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende [https://www.zeit.de/we], Ausgabe 05/2023.
Auf der Biennale in Venedig erhielt sie den Goldenen Löwen, sie ist eine erfolgreiche Perfromance-
Künstlerin und hätte, sagt sie, auch das Zeug zur Boxerin gehabt. Anne Imhof erzählt von
prägenden Momenten ihrer Kindheit, ihrer Zeit als Türsteherin und was das Abgeben von Kontrolle
mit ihrer Kunst zu tun hat.
Ein Hinterhof in Berlin-Kreuzberg Mitte Januar, die Künstlerin Anne Imhof ist hier vor ein
paar Monaten in eine Remise gezogen, ihr Studio liegt auf der anderen Straßenseite. Sie bittet
erst in ein großes Wohnzimmer mit Kamin, führt mich dann in den ersten Stock, wo sie alles
hat, was sie für ihren Alltag braucht, wie sie sagt. Ein Boxsack hängt von der Decke, ein
Klavier steht mitten im Raum, und ein Ton- und Videoarbeitsplatz mit Monitoren und großen
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ist vor einer auseingerichtet.
Wand der Merkliste entfernt.
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gehen wir wieder zurück
ins Wohnzimmer und setzen uns vor den Kamin. "Können Sie den anmachen?", fragt sie und
verschwindet kurz in der offenen Küche. Als das Feuer brennt, ist sie wieder da, setzt sich in
einen niedrigen Sessel, auf dem Tisch stehen Kaffee und Obst. "Nehmen Sie sich ruhig eine
von den Tassen", sagt sie und deutet auf den Tisch. Auf der Tasse, die ich nehme, ist ihr
Vorname Anne zu lesen. Das sei die Kindheitstasse aus ihrem Elternhaus, sagt sie und lacht.
Imhof: Nein. Ich wollte damals überhaupt erst mal durchsetzen, dass ich ein Junge bin, dann
kam Silas als Wunschname dazu.
ZEITmagazin: Wie haben denn Ihre Eltern auf den Wunsch, ein Junge zu sein, reagiert?
Imhof: Sie haben ihn angenommen und wahrgenommen, aber das hat natürlich nicht dazu
geführt, dass der Wunsch auch in meiner Umgebung akzeptiert wurde. Fulda, die kleine
Stadt, in der ich aufgewachsen bin, ist sehr katholisch und sehr konservativ geprägt, und
ganz oft waren andere Mütter besorgt, dass ihre Töchter mit mir spielen, weil ich so
jungenhaft sei, da war ich fünf oder sechs. Manche Eltern haben ihren Kindern regelrecht
verboten, mich zu sehen. Geredet wurde darüber nicht, aber manchmal haben mir das
andere Kinder erzählt.
Imhof: Im Nachhinein war das richtig dramatisch, aber als Kind akzeptiert man das
irgendwie, auch wenn ein Schmerz bestimmt da war. Diese Ablehnung ist mir auch später
begegnet, als ich in England anderthalb Jahre lang auf einem katholischen Internat war.
Unsere Betreuerin im Mädchenhaus hat gesagt, ich hätte den bösen Blick, ich würde die
anderen Mädchen verhexen, man solle nicht so viel Zeit mit mir verbringen. Das klingt wie
aus einem längst vergangenen Jahrhundert, oder? Es ist jedenfalls interessant, dass Sie
danach fragen, weil ich bis heute als Künstlerin, als Musikerin mit denselben Vorstellungen,
wie man zu leben hat, konfrontiert werde.
Die Vorstellung, dass Frauen bescheiden und demütig sein sollen, gelte auch in der
Kunstwelt, sagt Anne Imhof.
Bodysuit und Hose mit integrierten Stiefeln von Balenciaga © Eliza Douglas
Imhof: Das passiert ganz subtil, und es hat auch mehr mit der Vorstellung, wie eine Frau zu
sein hat, zu tun. Das gilt ja für alle Berufe, also natürlich auch in der Kunstwelt. Frauen
müssen schön bescheiden und demütig sein, eine Künstlerin kann gerne außergewöhnliche
Kunst machen, soll aber nicht zu fordernd sein. Verrückt ja – aber es muss, oder sie muss
schon sehr gut aussehen dabei.
ZEITmagazin: Ihre Heimatstadt Fulda in Osthessen ist stark vom Barock geprägt, es gibt viele
Kirchen, viel alte Kunst. Erinnern Sie sich an das erste Mal, als Sie als Kind bewusst ein
Kunstwerk wahrgenommen haben?
Imhof: Als ich fünf war, sind wir mit der Familie nach Rom gefahren, meine Eltern hatten
Freunde dort, und ich weiß noch, dass wir die Sixtinische Kapelle besucht haben, das war
beeindruckend. Ich kann mich nicht genau an die Malereien erinnern, aber ich weiß noch,
wie überwältigt ich war, auch von der Größe des Raums. In meinem Kopf verbindet sich
dieser Moment übrigens mit einem anderen. Die römischen Freunde meiner Eltern hatten
einen Pool, und ich bin da reingesprungen. Ich hatte mir vorher eine Schwimmweste
umgelegt, aber als ich ins Wasser gesprungen bin, hat sich der Gurt gelöst. Und ich konnte
nicht schwimmen. Für kurze Zeit dachte ich, dass ich ertrinke.
Imhof: Ja, niemand war da, alle anderen waren irgendwo im Garten, und wir Kinder durften
auch nicht ins Wasser, ich bin heimlich reingesprungen. Ich musste also schwimmen, obwohl
ich es gar nicht konnte, ich sehe noch die Rhododendron-Büsche vor mir und den
Magnolienbaum, der in der Nähe des Pools stand. Das war mein erster Überlebenskampf.
Imhof: Ja, und dieses Gefühl, das selbst geschafft zu haben, war so groß, dass ich meinen
Eltern nie davon erzählt habe. Erst Jahrzehnte später sind wir mal darauf zu sprechen
gekommen, und ich war erstaunt: Wie, ihr wusstet das nicht? Sie sagten, dass ich ihnen nie
davon erzählt hatte.
Vintage-Fan-T-Shirt der "Twilight"- Filmreihe und Lederhose von Alexander
McQueen © Eliza Douglas
ZEITmagazin: Nach Ihrer Internatszeit haben Sie 1997 in Fulda Abitur gemacht. Wie war der
Kunstunterricht an der Schule?
Imhof: An den in Deutschland kann ich mich kaum erinnern, aber in England war er sehr gut,
sehr konkret, wir haben beispielsweise gelernt, Skulpturen zu zeichnen. Das war super, weil
mein Kunstlehrer der Erste war, der gesehen hat, dass an meinen Zeichnungen irgendetwas
ist, und das auch gesagt hat. Ich habe vorher schon gezeichnet, Porträts von meiner Familie,
von Freunden, aber in England hat sich zum ersten Mal jemand künstlerisch mit mir
auseinandergesetzt, das war wichtig. Ich habe auch früh Gedichte geschrieben, oft standen
die dann neben einer meiner Zeichnungen.
ZEITmagazin: Zeichnungen spielen in Ihrer Arbeit bis heute eine wichtige Rolle. Sie sind vor
allem als Performancekünstlerin bekannt, die mit einer Gruppe von Menschen auftritt, aber
Sie konzipieren diese Auftritte oft zuerst über Zeichnungen.
Imhof: Ich habe die Zeichnungen aus meiner Kinder- und Teenagerzeit vor Kurzem mal
gesucht, aber leider nicht mehr gefunden. Sie tauchen vielleicht irgendwann einmal auf, ich
habe die meisten verschenkt.
ZEITmagazin: Nach der Schule haben Sie an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach
studiert.
Imhof: Da habe ich vor allem fotografiert und Videos gedreht und gar nicht mehr gezeichnet.
Ich hatte dort einen Zeichenlehrer, der mir ständig gesagt hat, ich müsse erst einmal lernen,
wie man richtig zeichnet, bevor ich abstrahiere – aber ich wusste doch schon, wie ich
zeichnen wollte! Damals habe ich mit Hausbesetzern in Frankfurt gewohnt, deren Häuser
waren teilweise legalisiert worden, und zum Tausch hatten sie Wohnungen in einer
ehemaligen amerikanischen Kaserne bekommen. Ich habe in einer früheren
Offizierswohnung gelebt, da habe ich übrigens auch schon einen Boxsack an die Decke
gehängt. Ich weiß noch, dass ich eines Tages die Gedichte, die ich geschrieben hatte, in einen
Umschlag gesteckt habe, einem Dozenten von der Hochschule auf den Tisch gelegt und
gesagt habe: "Ich mache jetzt nur noch das, ich will Dichter werden." Das war mein Abschied
von der Hochschule.
ZEITmagazin: In einem Gespräch mit dem Kurator Hans Ulrich Obrist haben Sie einmal
erzählt, was Sie heute als Ihr erstes Kunstwerk betrachten: einen Boxkampf.
ZEITmagazin: ... einer Fotografin und Freundin, die mit Ihnen auch auf der Hochschule
gewesen war.
Imhof: Ja, genau. Für die Bar habe ich mir eine Performance überlegt. Ich habe damals viel
Musik gemacht in einer Band.
Imhof: Eine Freundin in dem besetzten Haus hatte mir Gitarrespielen beigebracht, ja, es war
eine krasse Zeit. Ich wollte jedenfalls Musik und Boxen zusammenbringen.
"Wenn ich das richtige Training bekommen hätte", sagt Imhof, "wäre ich Boxerin
geworden und nicht Künstlerin"
T-Shirt der Künstlerin, darunter ein gemustertes Kleid von Louisa Ballou
© Eliza Douglas
ZEITmagazin: Ihre beiden Leidenschaften. Wie sind Sie eigentlich zum Boxen gekommen?
Imhof: In Frankfurt, genau in der Zeit. Ich glaube, ich wollte Kämpfer werden und mit
meiner Band touren, Texte schreiben, Gitarre spielen, sonst nichts. Meine Tochter Zoë war
damals ein Jahr alt ...
ZEITmagazin: Sie haben sie mit 21 Jahren bekommen und sie ohne den Vater alleine
großgezogen ...
Imhof: ... ich wollte sie beschützen können, ich wollte stark sein, mich wappnen. Ich hatte
damals einen Boxlehrer, aber ich war nie in einem Verein. Ich habe gespürt, dass ich Talent
hatte. Heute denke ich: Wenn mich damals jemand gesehen und ich das richtige Training
bekommen hätte, wäre ich Boxerin geworden und nicht Künstlerin.
ZEITmagazin: Wie lief Ihre erste Performance in der Riz Bar ab?
Imhof: Wir haben Menschen gecastet, die sich bereit erklärt hatten, gegeneinander zu boxen,
eine Punkband spielte dazu. Der Kampf sollte so lange dauern, wie die Band spielte, und die
Band sollte so lange spielen, wie der Kampf dauerte, aber weil es keinen Schiedsrichter gab,
ist zwischen den Boxern und der Band eine unauflösbare Abhängigkeit entstanden.
ZEITmagazin: Da steckt schon viel von dem drin, was Ihre Arbeit bis heute ausmacht:
Performer, Musik, eine Choreografie, die gleichzeitig viel Freiraum für Spontanes lässt.
Imhof: Ja, im Grunde genommen hat sich ab diesem Zeitpunkt alles entwickelt, was ich
heute mache.
ZEITmagazin: Von 2008 an waren Sie auf der berühmten Städelschule in Frankfurt, die viele
wichtige Künstlerinnen und Künstler hervorgebracht hat wie Tobias Rehberger und Tomás
Saraceno.
Imhof: Wobei mir zu der Zeit noch nicht klar war, wie mein Leben aussehen wird. Ich wollte
immer Künstler sein, seit ich denken kann. Irgendetwas hat mich immer darauf beharren
lassen. Es musste sein. Ich habe damals jedoch vor allem Musik gemacht, habe Konzerte
gegeben, ich habe mich Tyger Tyger genannt – nach dem Gedicht von William Blake The Tyger
aus dem 18. Jahrhundert.
ZEITmagazin: 2012 wurde mit Ihrer Abschlussarbeit "School of the Seven Bells" zum ersten
Mal die Öffentlichkeit auf Sie aufmerksam: Sie wurden mit dem Absolventenpreis
ausgezeichnet.
Imhof: Ja, aber die Arbeit, die für mich zündend war, hat ein Jahr zuvor stattgefunden. Ich
hatte Freundinnen und Freunde gefragt, ob sie mitmachen. Die Arbeit fand am frühen
Morgen nach der alljährlichen Party der Städelschule statt, ich habe ein Konzert gegeben, und
eine Freundin hat sich wie ein Tiger auf der Linie entlang bewegt, sie hat auf mich reagiert
und ich auf sie.
Imhof: (lacht) Ja, es war dasselbe Prinzip. Und zwei Freunde haben eine Ballettstange an eine
Wand gebohrt. Ich wollte damit ausdrücken: Es geht um Disziplin und Tanz. Weil der Auftritt
nach der Party stattfand, flogen überall leere Becher herum, es war dreckig, und der Wind
blies durch diese große Lagerhalle. Leute haben geweint, ich wusste erst gar nicht, was los
ist. Da habe ich gemerkt: Das ist es. Es war auch viel Zufall dabei – der Wind, die Dunkelheit,
das passte zu dem langsamen Song, den ich gespielt habe, eine Ballade.
In ihrer Arbeit sei es wichtig, Kontrolle abzugeben, so "entstehen Momente, auf die
man selbst nie gekommen wäre"
ZEITmagazin: Wenn Sie nun wie 2021 das riesige Palais de Tokyo in Paris bespielen, müssen
Sie diese Zufälle einplanen.
Imhof: Ja. Ich habe an dem Morgen in der Lagerhalle verstanden: Wenn man Kontrolle
abgibt, entstehen Momente, auf die man selbst nie gekommen wäre. Noch etwas: Ich habe
damals verstanden, dass Texte, also Gedichte, wenn sie zu Lyrics eines Songs werden, noch
einmal eine ganz andere Wirkung haben können. In dem Lied ging es darum, dass jemand
seine Liebe erklärt, seinen Liebeskummer, und dass diese Liebe universell ist, also dass er in
alle verliebt ist.
Imhof: Ich habe in diesem Moment gesagt: Ich liebe mein Publikum.
ZEITmagazin: Sie haben einmal gesagt, dass Sie das Wort Performance nicht mögen.
Imhof: Darüber bin ich hinweg (lacht). Das hatte früher viel mit meinen inneren Zweifeln zu
tun: Was bedeutet Performance überhaupt, wie macht man das? Die Zweifel kamen natürlich
auch daher, dass bei mir alles so schnell ging, innerhalb von drei Jahren ist alles passiert, von
dem ich immer geträumt habe. Ich habe mich ja vor Publikum ausprobiert. Es folgte eine
Ausstellung im Portikus in Frankfurt, ein erster Bericht in der Zeitschrift Artforum, ein Jahr
später war ich schon im MoMA PS1 in New York. Dann Kunsthalle Basel, 2016 der Hamburger
Bahnhof in Berlin.
ZEITmagazin: Warum?
Imhof: Das ist schon merkwürdig bei mir: Ich suche mir erst eine riesige Halle aus und
wundere mich dann, dass eine Masse von Menschen auftaucht.
ZEITmagazin: 2017, ein halbes Jahr nach Berlin, haben Sie den deutschen Pavillon in Venedig
gestaltet, für den Sie mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurden, einer Art Oscar der
Kunstwelt.
Imhof: ... wir haben die Zeitungen aufgeschlagen, und ich war einfach auf jeder Feuilleton-
Aufmacherseite. Ich dachte: Jetzt ist nichts mehr so wie vorher. Als ich dann in Venedig
erfahren habe, dass ich mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet werde, hat Susanne Pfeffer,
die Kuratorin des deutschen Pavillons, die mich eingeladen hatte, gesagt: "Anne, das passiert
jetzt, es wird dein Leben verändern, und das wird ganz schön hart, weil du noch so jung bist."
Als Imhof erfuhr, dass sie mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wird, war sie
"verängstigt bis in die Knochen"
ZEITmagazin: Sie waren 39.
Imhof: Ich war verängstigt bis in die Knochen. Aber auch einfach zu sehr in die Arbeit
vertieft und habe nicht zu viel darüber nachgedacht.
Imhof: Daran kann ich mich kaum erinnern, das war wie ein Rausch.
ZEITmagazin: Ihr Stück in Venedig, eine fünfstündige Performance, haben Sie "Faust"
genannt [https://www.zeit.de/2017/27/anne-imhof-biennale-venedig-faust-performance], wie
das Werk von Goethe und die gleichnamige Ouvertüre von Wagner. Später haben Sie die
Wagner-Festspiele auch besucht. Wie fanden Sie diese Abende?
Imhof: Interessant. Erst einmal war die Akustik gar nicht so gut, wie immer behauptet wird.
Hätte ich alleine die Musik gehört, hätte es mir sehr gefallen, aber mit den Inszenierungen bin
ich nicht klargekommen.
Imhof: Für mich ist das altes Theater. Das hat für mich nichts mit dem zu tun, was die Musik
kann. Die Inszenierungen hatten für mich viele leere Stellen.
Imhof: Auf jeden Fall. Warten Sie, lassen Sie es mich lieber so sagen: Ich hätte Lust darauf,
Wagners Musik zu inszenieren, aber ich weiß nicht, ob das in Bayreuth sein muss. Wenn ein
deutscher Künstler den deutschen Pavillon gestaltet hat, dann kann er auch nach Bayreuth?
Ich weiß nicht, ob das mein Weg ist. Ich will eher rausgehen und nicht rein in diese
großbürgerliche Enge.
ZEITmagazin: Während Ihrer Jahre in Frankfurt haben Sie nicht nur studiert und
künstlerisch gearbeitet, sondern auch als Türsteherin im Robert Johnson in Offenbach
gearbeitet, der als einer der besten Clubs der Welt gilt. Wie hat diese Zeit Sie geprägt?
Imhof: Das war sechs Jahre lang meine Arbeit, insofern war sie schon sehr wichtig. Und der
Club als Idee einer Nachtgesellschaft mit eigenen Regeln natürlich auch, der Rausch, das In-
der-Musik-Sein, die Umkehrung von Tag und Nacht. Ich selbst habe ja nicht gefeiert, ich habe
gearbeitet, dadurch stand ich auf der anderen Seite, aber ich habe natürlich trotzdem alles
beobachtet.
ZEITmagazin: Sie haben einmal gesagt, dass Sie noch nie im Berghain waren, auch weil Sie
nicht an der Tür abgewiesen werden wollten, Sie wüssten ja, wie Türsteher so ticken.
Imhof: Das war mehr als Witz gemeint. Tatsächlich war ich letzte Woche zum ersten Mal im
Berghain. Es war sehr gut. In der Nacht sein bedeutet für mich einfach auch sehr viel
Schmerz.
Imhof: Es erinnert mich immer an diese Zeit damals. Sie müssen sich das so vorstellen: Ich
habe nachts im Club gearbeitet, tagsüber habe ich die Städelschule besucht und auf meine
kleine Tochter aufgepasst. Geschlafen habe in dieser Zeit kaum, diese Jahre waren krass. Ich
brauche nicht viel Schlaf, fünf Stunden.
ZEITmagazin: Nur fünf Stunden?
Imhof: Ich kann auch mit drei Stunden auskommen. Das liegt wahrscheinlich an meinem
Charakter, ich bin einfach extrem, entweder – oder. Ich liebe es, nachts wach zu sein, da
kommen mir die besten Ideen, manchmal alle auf einmal.
ZEITmagazin: Sie waren von 2015 an mit der Künstlerin Eliza Douglas zusammen. Was
dachten Sie, als Sie sie zum ersten Mal trafen?
Imhof: Ich war einfach überwältigt. Endlich, habe ich gedacht, ich hatte schon von ihr
gehört. An diesem Abend habe ich ein Konzert gespielt auf einer Gala des Magazins Texte zur
Kunst, ich war richtig nervös, und wir sind uns kurz vorher in der Lobby des Hotels begegnet.
Ich habe gehofft, dass Eliza noch da ist, als ich angefangen habe zu spielen. Ich habe ständig
ins Publikum geschaut, konnte sie aber nirgendwo entdecken, es war zu dunkel. Aber
hinterher hat Eliza mir geschrieben, sie war also noch da gewesen, und sie fand’s gut, "du
hast keinen Grund gehabt, aufgeregt zu sein". Das war der Anfang.
ZEITmagazin: Seit Längerem arbeiten Sie und Eliza Douglas zusammen. Wie kam es dazu?
Imhof: Ich habe sie gecastet für Angst, das Stück im Hamburger Bahnhof in Berlin. Wir haben
sofort gut zusammengearbeitet, weil wir uns von allen Vorstellungen gelöst haben, wie man
probt, wie man performt. Wir haben vor allem viel geredet, und wir mussten uns dazu nie
verabreden.
Imhof: Nach Faust in Venedig war nicht nur mein Leben nicht mehr wie vorher, sondern auch
unsere Beziehung. Wir waren nicht mehr so unschuldig, wir mussten erst lernen, mit der
Aufmerksamkeit umzugehen. Wir können heute immer noch sehr gut miteinander arbeiten,
für meine letzte Ausstellung Youth, die in Moskau stattfinden sollte, haben wir dort nur zu
zweit geprobt.
ZEITmagazin: Wegen des Krieges konnte die Ausstellung nicht in Russland gezeigt werden,
sie lief im vergangenen Jahr in Amsterdam.
Imhof: Genau, aber wir haben die Filme noch in Moskau gedreht, und ich wusste, ich kann
da nur alleine mit ihr hin, weil wir beide gemeinsam sehr effizient sind. Die Zusammenarbeit
war andererseits auch neu für uns beide, weil ich zum ersten Mal selbst Regie geführt und
sehr genaue Anweisungen gegeben habe.
ZEITmagazin: Könnten Sie sich vorstellen, wie andere bildende Künstler auch einmal Regie
bei einem Kinofilm zu führen?
Imhof: Auf jeden Fall, ich arbeite gerade daran. Und ich bereite gerade ein Stück vor, mit dem
ich auf eine Tournee gehen könnte. Ich glaube, dass ich dadurch meine Arbeit zugänglicher
machen kann, und das ist alles, was mich interessiert. Institutionen in der Kunstwelt machen
zwar viel Neues möglich, aber es bleibt eben dann doch oft sehr exklusiv und wird
gleichzeitig sofort konserviert. Und wer kann schon ins Museum gehen? Eine Mutter mit drei
Kindern, die tagsüber arbeitet, kauft sich doch kein Museumsticket, wenn das Museum um
fünf Uhr nachmittags zumacht. Zugänglichkeit kann doch nicht nur auf Instagram passieren.
In der Kunstwelt herrscht vor einer solchen Öffnung auch Angst, nach dem Motto: Dann wird
die Kunst weniger wert.
ZEITmagazin: Ich habe nur gerade auf Ihre Kaffeetasse geschaut, sie ist von Nirvana, der
Band.
Imhof: (lacht) Es kommt nur auf die Inhalte an! Vielleicht ist Popkultur auch der bessere
Begriff als Mainstream.
ZEITmagazin: Wir haben uns zu einem ersten Gespräch im ersten Frühjahr der Pandemie
getroffen, damals waren Sie verunsichert über die Kunstmarkt-Situation, alle Projekte waren
auf Eis gelegt.
Imhof: Ich kann mich sehr gut daran erinnern, das war in meinem alten Studio an der
Potsdamer Straße in Berlin. Ich war damals monatelang alleine wie die meisten von uns und
habe die Ausstellung im Palais de Tokyo in Paris vorbereitet. Das war ein eigentümlicher
Zustand, ein Spagat zwischen ganz klein und ganz groß denken. Ich hatte totale Angst.
Einerseits. Auf der anderen Seite war ich auch in einer privilegierten Situation, mir kam diese
Zeit sehr gelegen, diese Ruhe. Ich merke immer noch, wie anstrengend ich es heute finde,
wieder raus in die Gesellschaft zu gehen.
Imhof: Ich stehe auf, mache Sport und mache Kunst. Ich mache nichts anderes. Bin für mich.
Und gleichzeitig weiß ich, dass ich beim Performen am besten bin, dafür lebe ich.
Imhof: Das weiß ich gar nicht genau. Sie ist ihnen fremd, glaube ich, aber sie können mit den
Themen, die ich behandele, schon sehr viel anfangen. Sie kommen und schauen sich die
Stücke an, ich bin dann immer ziemlich aufgeregt. Und sie sind besonders kritisch. Vielleicht
hat es auch damit zu tun, dass meine Kunst so persönlich ist und mein Leben so ganz anders
ist als ihr Leben.
ZEITmagazin: Am Anfang unseres Gesprächs haben Sie gesagt, dass Sie als Kind gerne ein
Junge gewesen wären. Wie sehen Sie das heute?
Imhof: Diese Frage hat sich für mich aufgelöst, ich habe versucht, mich selbst nicht
definieren zu müssen. Aber sie ist immer wieder von außen aufgetaucht, wenn ich
beispielsweise mit einer Frau in Frankfurt unterwegs war, in den Außenbezirken. Da ist es
vorgekommen, dass andere einen haben spüren lassen, dass man nicht ihren Vorstellungen
entspricht.
ZEITmagazin: Verbal?
Z+
Fitnessübung
Die lange Brücke
[https://www.zeit.de/sport/2023-01/fitnessuebung-die-lange-bruecke-personal-trainer]
Smartphone-Fotos
Schnappschuss Plus
[https://www.zeit.de/entdecken/2023-02/smartphone-fotos-tipps-lifehack]
Imhof: Auch physisch, es kam auch zu Gewalt. Ich thematisiere das nicht in meiner Arbeit,
aber alles, was ich erlebt habe, steckt trotzdem tief in meiner Arbeit drin.
ZEITmagazin: Sie haben mal ein Lied von Marlene Dietrich gecovert. "Wenn ich mir was
wünschen dürfte", singen Sie, "möcht ich etwas glücklich sein / Denn wenn ich gar zu
glücklich wär / Hätt ich Heimweh nach dem Traurigsein." Was bedeuten Ihnen diese Zeilen?
Imhof: Es ist schön, Glücklichsein und Traurigsein als Orte zu beschreiben. Ich kann schon
sehr melancholisch sein und im nächsten Moment wieder sehr euphorisch.
Imhof: Dann wäre ich gerne am Ozean und würde den Delfinen zuschauen.