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Howard Clark

Über das Machen einer gewaltfreien Revolution


Einleitung

Mit diesem Text geht es mir nicht darum, einen Plan zu entwerfen, und ich will auch nicht so
tun, als hätte ich neue Antworten auf die alte Frage, wie man eine gewaltfreie Revolution
hinkriegt. Zuweilen bin ich eher pessimistisch, was die Aussichten für eine gute Revolution
betrifft. Ich hoffe also, dass ich keine falsche Zuversicht wecke, dass sie so und nicht anders
kommen wird. Ich habe diese Ideen nicht in eine Sprache gekleidet, die darauf aus ist, zu
imponieren und ich habe es vermieden, andere Leute zu zitieren, um die Dinge mit eigenen
Worten formulieren zu können.

Diese Broschüre will kein Lehrbuch sein. Kein Mensch kann aus heutiger Sicht vorhersagen,
auf welche Weise sich eine Revolution ereignen kann. Die Erfahrungen, die uns dazu bringen,
über eine Revolution nachzudenken, sind so verschieden, und wir kommen aus derart
unterschiedlichen Hintergründen, dass eine Revolution sehr vielseitig sein wird. Sie wird
keinem schnurgeraden Weg folgen. Deshalb geht es in weiten Teilen dieser Broschüre darum,
ein breites Spektrum von Aktivitäten zu beschreiben, von denen ich glaube, dass sie zu einer
gewaltfreien Revolution beitragen können.

Eine gewaltfreie Revolution stelle ich mir nicht als einheitliche Massenbewegung vor, welche
die herrschenden Institutionen hinwegfegt. Für mich bedeutet gewaltfreie Revolution, dass
Menschen in ihrer jeweiligen Situation ihr Leben in die eigene Hand nehmen und dabei
anderen Werten Geltung verschaffen - Werten, die zuvor systematisch unterdrückt wurden in
der Herausbildung einer Gesellschaft, die auf Herrschaft, Konkurrenz und Missachtung des
Lebens gegründet ist.

Hierarchie - angefangen von der Herrschaft der Erwachsenen über Kinder über die
Unterdrückung der Frauen durch Männer bis hin zu den Zinnen gesellschaftlicher Macht - ist
nicht nur eine Gewohnheit, von der wir uns mit der Kraft unseres Willens befreien können,
sondern auch ein Organisationsprinzip, das in das Fundament unseres Gesellschaftssystems
fest einbetoniert ist, Doch hierarchische Strukturen existieren nicht unabhängig und einfach
nur außerhalb von uns - sie sind angewiesen auf unser stillschweigendes Einverständnis, ja
auf unsere aktive Teilnahme. Sie sind in unserem Lebensstil und unserer Denkweise ebenso
fest eingepflanzt wie in der materiellen Organisation unserer Gesellschaft.

Gewaltloser Anarchismus stellt daher nicht nur die traditionelle revolutionäre Machtfrage
(«Wer ist am Drücker?»), sondern fügt angesichts der Tatsache, dass das Patriarchat
technokratische, anti-ökologische und imperialistische Verhaltensweisen in allen
Lebensbereichen zusammenfügt, die Frage nach der Qualität des Lebens hinzu: «Wie könnten
wir leben?» Dabei geht es um Lebensstil, Sexualität, Ressourcenverbrauch, Qualität.

Versuche einer sozialen Revolution sind stets dem Risiko der Gewalt ausgesetzt, denn keine
herrschende Elite wird ihre Macht freiwillig hergeben. Revolutionäre werden oft gefragt, ob
die Anwendung von Gewalt in einer Revolution notwendig ist oder nicht. Für uns gewaltfreie
Anarchisten jedoch - die wir glauben, dass die Mittel, mit denen wir eine Revolution anzetteln
wollen, die wesentlichen Merkmale der von uns angestrebten neuen Gesellschaft enthalten
sollen - stellt sich eine ganz andere Frage: Wie machen wir eine gewaltfreie Revolution
überhaupt möglich?
Ich glaube, dass Gewaltfreiheit auf eine Kultur gegründet sein muss, die im Wachsen ist - eine
Kultur, die Dinge miteinander verbindet: Kommunitarismus mit Kampf, Phantasie mit
Überzeugung, Aufmerksamkeit für die Dinge des Alltags mit globaler Perspektive,
Entschlossenheit mit Empfindsamkeit. Diese Kultur spiegelt sich wider in der möglichen
Konvergenz von Anarchismus und Feminismus.

Bezogen auf die besondere Situation z.B. hier in England heißt dies, dass eine solche Kultur
mit der Arroganz brechen muss, mit der man politische Institutionen des Westens samt
unpassender Technologien in Weltregionen unter englischer oder britischer Herrschaft
exportiert und den Menschen dort übergestülpt hat. Sie muss zudem brechen mit dem
Überfluss, der auf der Verelendung oder gar der Auslöschung anderer Völker fußt, und der
darauf angewiesen ist, die Erde ohne Rücksicht auf die Umwelt auszuplündern. Im Gegensatz
dazu lauten die Schlüsselbegrrffe der neuen Kultur: Einfachheit, direkter persönlicher
Umgang zwischen Menschen, Aufgeschlossenheit für das Wissen anderer Völker,
Dezentralisation, Überwindung des Gegensatzes zwischen Arbeiten und Spielen sowie
zwischen Geist und Körper, Wiederverzahnung von ländlichem und städtischen Leben als
Bremse gegen die Landflucht, Auffüllung von Ressourcen.

Eine gewaltfreie Revolution wird nicht von selbst aus der Verbreitung einer solchen Kultur
hervorgehen. Ich schlage als Strategie keinen Prozess vor, der sich nur noch entfalten muss
Vielmehr geht es um eine Praxis, die wir Tag für Tag zu leben haben, die ständiges Bemühen
erfordert, zu der Konflikte gehören und von der wir hoffen, dass sie sich ständig erneuert,
indem sie Menschen zu weiteren Aktivitäten anspornt. Gewaltfreiheit wurzelt darin,
Machtverhältnisse in der gesamten Gesellschaft und zwischen Gesellschaften in Frage zu
stellen, und von daher findet sie ihre Bestätigung durch Menschen, die sich in eigenem
Auftrag dazu entschließen, konstruktiv zu handeln.

Eine Klarstellung

Ich will an dieser Stelle einige Punkte nennen, wo ich mit gängigen sozialistischen
Vorstellungen von einer Revolution über Kreuz liege. Erstens widerspreche ich der
Vorstellung, dass es bei einer Revolution um die Eroberung des Staates ginge. Für jede
Gruppe von Machthabern ist es charakteristisch, dass sie danach trachtet, ihre Macht zu
festigen und auszubauen; kein Staat wird sich selbst per Gesetz abschaffen. Deshalb muss das
«Absterben des Staates» heute beginnen, indem Menschen ihm die Gefolgschaft aufkündigen
und versuchen, ihn überflüssig zu machen. Für jede gute Revolution ist es von fundamentaler
Bedeutung, dass jegliche Macht über andere Menschen in Frage gestellt wird und dass wir
lernen, uns die Macht über unser Handeln anzueignen.
.
Zweitens, man sollte sich eine Revolution nicht als Vulkan vorstellen, der durch eine
Wirtschaftskrise im Kapitalismus zum Ausbruch kommt. Die 68-er Revolte in Frankreich hat
gezeigt, wie plötzlich ein Volksaufstand auch ohne wirtschaftliche Krise entstehen und wie
schnell er bis zu dem Punkt um sich greifen kann, an dem er zur Gefahr für die bestehenden
Machtstrukturen wird. Die Spannungen in städtisch-industriellen Gesellschaften sind von
solcher Intensität, dass wir die Möglichkeit ähnlicher Aufstände nicht vernachlässigen dürfen;
aber weder können wir davon ausgehen, dass sie unausweichlich sind noch davon, dass sie
erfolgreiche Wegbereiter einer sozialen Revolution sein werden. Am wahrscheinlichsten ist,
dass der Kampf der Menschen für eine Änderung sowohl ihrer Lebensumstände als auch der
gesellschaftlichen Verhältnisse lange dauern wird. Selbst in Zeiten größter Umwälzungen,
wenn die Macht des Staates geschwächt ist, werden wir über bereits entwickelte, dauerhaft
nicht-hierarchische und kooperative Formen sozialer Organisation verfügen müssen, denn in
einem sozialen Machtvakuum verlieren Menschen häufig die Orientierung und fallen zurück
in den Trott, mit dem sie einem Führer hinterherlaufen (selbst wenn es ein neuer Führer ist).

Drittens, eine gewaltfreie Revolution ist nicht die Fortsetzung des traditionellen
Klassenkampfes mit gewaltfreien Mitteln. Ich lehne die Vorstellung von einer Revolution ab,
die das männliche Industrieproletariat als Hauptakteur sieht, als treibende Kraft, deren
historische Aufgabe es sei, den Kapitalismus abzuschaffen. Es gibt gesellschaftliche Gruppen,
deren Unterdrückung Gründe hat, die jede orthodoxe Klassenanalyse sprengen, und innerhalb
dieser Gruppen der Unterdrückten gibt es stets Menschen, die doppelt unterdrückt sind –
Frauen, Kinder, usw.

Teile der Linken reden immer noch davon, „Schlüsselbereiche“ oder „Schlüsseloptionen“ in
der Gesellschaft zu erobern. Dabei ignorieren sie das Ausmaß, in dem Menschen unter
technokratischen Bedingungen selbst von Routine-Entscheidungen über ihr Leben
ausgeschlossen sind und beständiger Manipulation unterliegen. Wenige sind bereit, darüber
nachzudenken, wie viel es zu ändern gilt, um sämtlichen Herrschaftsverhältnissen ein Ende zu
setzen: die Beherrschung der ländlichen Regionen durch die Städte, der Provinzen durch die
Metropolen, die Beherrschung ganzer Generationen, die Beherrschung der «Ungebildeten »
und Analphabeten durch berufsmäßige Experten, die Beherrschung der rassischen und
kulturellen Minderheiten, die Beherrschung von Schwulen durch heterosexuelle
«Normalität», die Beherrschung von Geisteskranken und von Menschen mit Behinderungen.
In ihrer Hauptströmung ist die britische Linke gegenüber wirtschaftlichem Wachstum
unkritischer eingestellt als einige Gruppen auf der Rechten - dies ungeachtet der ökologischen
Gefahr für die Erde und ungeachtet des fortdauernden britischen Imperialismus. Noch gra-
ierender ist, dass die Linke die Bedeutung des Patriarchats unterschätzt und sich weigert, zur
Kenntnis zu nehmen, dass es heute in erster Linie darum gehen muss, männliche
Überlegenheit männliche Macht in Frage zu stellen – in der Gesellschaft insgesamt, in den
Institutionen, in der Familie und natürlich auch in den vier Wänden der Arbeiterklasse.

Das Ergebnis ist, dass die britische Linke ungeachtet gelegentlicher Beteuerungen des
Gegenteils und Ausflüge in andere «Themen» immer noch den Gewerkschaften hinterher
trabt und sich so verhält, als sei der Kampf gegen Rechts, für Lohnsteigerungen und für die
Verteidigung von Arbeitsplätzen das Ein und Alles des revolutionären Kampfes und als sei
die Militanz der Industriearbeiterschaft schon ein Wert an sich. Manchmal vergisst sie sogar,
dass auch der Kampf gegen die Macht der Gewerkschaftsbürokratie zum Klassenkampf dazu
gehört.

Auch in der Arena der Arbeitskämpfe sind andere Fragen überfällig - die Frage der
Arbeiterselbstverwaltung beispielsweise ist eine absolut revolutionäre Forderung, die sich
nicht erst im Falle eines Aufstandes quasi aus heiterem Himmel stellt. Bereits heute sind
unmittelbare Schritte in diese Richtung möglich, indem bestimmte Forderungen gestellt
werden - nach Veränderungen bei der Arbeitsteilung, nach Beseitigung der Lohnunterschiede,
nach mehr kollektiver und gemeinschaftlicher Arbeit im Fertigungsprozess, nach Einebnung
der Fachhierarchien, so dass Arbeiter mehr als bisher die Dinge, die sie herstellen, auch selbst
entwerfen - und in dem Widerstand gegen technische Innovationen geleistet wird, die nur um
ihrer selbst willen eingeführt werden. Mag sein, dass solche Maßnahmen innerhalb des
Kapitalismus abgefedert werden, dennoch führen sie weg von der Behauptung, dass mehr
Zufriedenheit nur mit mehr Geld möglich ist. Und mehr ein Arbeiter seine
Arbeitsbedingungen selbst bestimmen kann, desto wahrscheinlicher wird er erkennen, dass er
in der Lage ist, sich mit anderen Arbeitern zusammen zu tun, um seinen Arbeitsplatz selbst zu
verwalten.
Für die Gewerkschaften bleiben Hausarbeit und Kinderbetreuung (gewöhnlich unbezahlte
Arbeit) einfach unsichtbar, Forderungen nach angemessen bezahlter und sicherer
Teilzeitarbeit, auch nach Elternzeiten für Väter (ebenso wie für Mütter) sind aber
entscheidend, wenn die Menschen in großer Zahl dazu gebracht werden sollen. Die Trennung
der Hausarbeit nach Geschlechtern aufzugeben.

Eine weitere Frage ist, was wir produzieren und wie viel davon. Folgten wir einem „Recht auf
Arbeit“, kämen wir dahin, auf der ständigen Jagd nach wirtschaftlichem Wachstum unser
Leben damit zu verschwenden, noch mehr Waffen, noch mehr Autos, noch mehr Verpackung
zu produzieren. Und schwarze und andere Jugendliche, die Lohnarbeit zu den gebotenen
Bedingungen ablehnen, würden zwangsweise am unteren Ende der sozialen Skala
«integriert».

Es ist aber nicht nur der Inhalt der meisten Gewerkschaftsaktivitäten, den es neu zu
bestimmen gilt. Es reicht einfach nicht, über die Existenz von Elite-Gewerkschaften
hinwegzusehen, die nur ihre Privilegien sichern wollen. Auch den ganzen
Gewerkschaftsapparat gilt es durch direktere und basisdemokratische Organisationsformen zu
ersetzen.

Mir ist klar, dass ich an dieser Stelle eher Thesen aufstelle statt sie durchzuargumentieren. Ich
lege es aber nicht darauf an, hier eine detaillierte Kritik der britischen Linken oder der
«Arbeiterbewegung» zu liefern. Mir geht es lediglich darum, den Unterschied zwischen
Vorstellungen, wie sie auf der Linken gang und gäbe sind, und den Interessen eines
gewaltfreien Anarchismus herauszustellen.

«Die Massen»

Machen wir uns keine Illusionen über die natürliche Solidarität «des Volkes», der legendären
Massen. Die meisten Menschen teilen das Anliegen von Revolutionären nicht, und dies ist
weder einer mangelhaften Kommunikation oder einem Missverständnis radikaler Positionen
zuzuschreiben, noch der Tatsache geschuldet, dass die Widersprüche des kapitalistischen
Systems noch nicht genügend gereift seien, um die Menschen von ihrem «falschen
Bewusstsein» abbringen zu können. Unser Charakter wird in einer autoritären Umgebung
geformt, wir leben in einer Bequemlichkeitsgesellschaft, wo unsere besten Impulse unter
Müllbergen begraben und unsere Instinkte erst negiert und dann verfälscht werden. Das gilt
auch für diejenigen unter uns, die das revolutionäre Licht bereits erblickt haben; wir bilden
beileibe keine Ausnahme.

Die meisten Menschen sind in das System integriert. Manche schenken


ihm sogar ihr Vertrauen – ein Vertrauen, das nicht durch die Atombombe, nicht durch den
Welthunger, nicht durch Grubenunglücke, nicht durch Atomkraft, Inflation und
Korruptionsskandale und auch nicht durch eine Strafjustiz erschüttert werden konnte,
die das Leben von Menschen zum Schutz des Eigentums zerstört. Auf der anderen Seite
glaube ich, dass die meisten Menschen mit ihrem Leben nicht zufrieden sind - sie leiden unter
Stress, aber auch das ganze System leidet permanent unter Stress. Dennoch fügen sich die
meisten Menschen in ihr Schicksal; sie sehen kaum eine andere Möglichkeit, als sich mit den
Umständen zu arrangieren, die sie vorfinden - seien dies Hausarbeit und Kinderbetreuung,
Fließbandarbeit, Hochhäuser, Autoindustrie, heterosexuelle Dominanz, industriell hergestellte
Lebensmittel, Schulzwang oder was auch immer. Viele sehnen sich nach der «Sicherheit“, die
ihnen von einer «Recht und Ordnung»-Ideologie versprochen wurde und finden Sündenböcke,
die sie für ihr Defizit an Glück verantwortlich machenkönnen.

Zu den gängigen revolutionären Mythen gehört die Annahme, dass die Menschen im Falle
einer schweren Wirtschaftskrise quasi von selbst in eine Revolte getrieben würden. Ohne tief
greifende Änderung von Wertvorstellungen jedoch hätte eine solche Revolte eine sexistische,
imperialistische, anti-ökologische und altersdiskriminierende Prägung. Ohne bewusste und
kontinuierliche Anstrengung werden die Charakterpanzer nicht abfallen, werden die
patriarchalen Verhaltensmuster der Männer nicht verschwinden, und würden die Hierarchien
allenfalls vorübergehend aufgehoben. Eine Revolution, die diese Punkte nur unter
«Verschiedenes» auf die Tagesordnung setzt, mit denen man bis zur Erledigung der
Hauptsachen warten könne, eine Revolution, der die Erstürmung der Vorstandsetagen der
Wirtschaft wichtiger ist als die Selbstbestimmung der Menschen über ihr Alltagsleben, für
eine solche Revolution lohnt es sich nicht, sein Leben einzusetzen; sie wird die Entfremdung
(den Ausschluss der Menschen von ihrem eigenen Leben) nicht beenden.

In großer Zahl werden sich die Menschen erst dann an revolutionären Aktivitäten beteiligen,
wenn sie erkannt haben, dass Veränderungen nötig sind, wenn sie glauben, dass Veränderung
möglich ist, wenn sie wissen, was sie verändern wollen und wenn ihnen bewusst wird,
dass sie diese Veränderungen selbst durchsetzen können. Unser Ausgangspunkt muss im Hier
und Jetzt liegen, mit den Erfahrungen der Menschen, mit der Entfremdung der Menschen
voneinander, mit unserer Entfremdung von so elementaren Dingen des Lebens wie dem Land,
auf dem unsere Nahrungsmittel angebaut werden, mit unserer Entfremdung von unseren
eigenen Sehnsüchten. Und selbstverständlich müssen wir den strukturellen Unterbau unserer
Entfremdung ins Visier nehmen - männliche Überlegenheit, den Staat, den Kapitalismus.

Daraus ergibt sich als erster Schritt eines anarchistisch-gewaltfreien Vorgehens, seine eigenen
Beziehungen zu hinterfragen - sich darüber klar zu werden, wo auf einem herumgetrampelt
wird, ein selbstbestimmtes Leben einzufordern und zugleich Verantwortung für sein Handeln
zu übernehmen, was übrigens auch heißen kann, vom Rücken anderer herunter zu steigen:
also einerseits sich nicht herumkommandieren zu lassen, andererseits anderen nicht ihre
Energie zu nehmen - sei es, dass man sie für sich kochen oder die Wäsche machen lässt, sei
es, dass man sich auf imperialistisch angeeignete Nahrungsmittel verlässt, ohne sich jemals
um die Versorgung mit eigenen Lebensmitteln bemüht zu haben. Unsere Beziehungen zu
hinterfragen beinhaltet auch, unsere Rolle in dieser Gesellschaft in Frage zu stellen, uns jene
Politik des Beherrschens und Ausbeutens - sowohl anderer Länder als auch bestimmter
Gruppen im eigenen Land - bewusst zu machen, in welcher wir uns bequem eingerichtet
haben,

Es hat nichts mit dem christlichen Trachten nach persönlicher Vollkommenheit zu tun, dass
gewaltfreier Anarchismus so großen Wert darauf legt, uns selbst und unsere unmittelbaren
Beziehungen zu ändern. Es geht vielmehr um eine Veränderung, die im Aufbau einer Kultur
des Kämpfens entsteht - einer Kultur, in der wir Macht in Frage stellen, in der wir uns
gegenseitig bestärken und versuchen, unser Leben zu gestalten, einer Kultur, in der wir ein
Gespür für uns selbst gewinnen können - als Gestalter unseres Schicksals, als aktive Träger
der Macht, mit der wir Dinge für uns selbst tun können.

Im 19.Jahrhundert sah es zunächst danach aus, dass die kollektive Stärke des neu
entstandenen Industrieproletariats eine solche Kultur hervorbringen könnte. Doch je länger
wir im Kapitalismus leben, desto mehr wird das Familienleben zur Privatsache, und je
technokratischer die Gesellschaft wird, desto weiter entfernen wir uns von jener Art von
Solidarität im Kommunalen. Es ist unsere Aufgabe, diese Solidarität herzustellen, und den
Weg dahin weist uns die Frauenbefreiungsbewegung. Bis jetzt jedenfalls hat die
Frauenbewegung keine neuen Hierarchien und Parteien geschaffen, sondern setzt auf und
Bewusstseinsbildung.( *(1972, Anm: radio chiflada)

Ich habe eine Menge durch Lesen gelernt, doch zuweilen ist es geradezu beängstigend und
verwirrend, mit einem Schwall von Zitaten, Verweisen und Fußnoten konfrontiert zu werden.
Kollektives Reflektieren unseres Lebens, unserer Situation, unsere Aktivitäten, unserer
Gefühle, gepaart mit einer Entschlossenheit, sie zu ändern- dies ist direkt und egalitär; es gibt
unserem Alltagsleben Sinn, es erhält unseren Kampfeswillen. Darin zeigt sich ein
revolutionärer Weg zur Bildung einer revolutionären Theorie - dass wir alles Verborgene an
die Oberfläche bringen, um dann festzustellen, dass andere dasselbe getan haben; dass wir uns
mit anderen zusammentun, um die Blockaden zu überwinden, an denen wir als Einzelne
scheitern; dass wir unsere Politik von Erfahrungen ableiten, die wir mit anderen teilen.

Bei einem gewaltfrei-anarchistischen Vorgehen ist also die erste organisatorische


Grundeinheit das, was wir «Bezugsgruppe» nennen - eine nicht unbedingt formalisierte
Gruppe von Leuten, die sich gegenseitig unterstützen bei ihrem Versuch, sich neue
Verhaltensweisen anzueignen, obwohl sie sich vielleicht gar nicht in derselben Lage befinden;
die voneinander lernen, ohne neue Hierarchien und neue Barrieren durch Monopolisierung
von Fachwissen zu errichten_ Und die ersten Kampfplätze sind immer dort., wo du bist - zu
Hause, in der 'tiacroarschaft, am Arbeitsplatz, in deinen sozialen Beziehungen, ats
Konsument.
Dies ist ein vollkommen anderes Organisationsmodell als das Eintreten in eine Partei und das
Verkaufen der zugehörigen Parteizeitung !

Das Volk

In meiner Studentenzeit, ab 1968 folgende, als die Schwulenbewegung in England aufkam


und die Frauenbewegung gerade entstand, hatten viele von uns einigermaßen begriffen,
dass wir mit unserer Weigerung, den für uns bestimmten Platz in der Gesellschaft
einzunehmen, eine Revolution für uns selbst machen mussten - nicht für einen abstrakten
Begriff von «den Unterdrückten», der uns nicht betraf, sondern für uns, die wir ebenfalls von
Entfremdung betroffen waren.

Dennoch waren unsere Meetings meistens nichts anderes als Gelegenheiten für männliche
Politikhelden (wie mich), große Reden zu schwingen, bei denen wir darum wetteiferten, wer
die radikalste Linie vertrat und mit den meisten großen Namen um sich schmeißen konnte.
Andere Teilnehmer, Frauen vor allem, trauten sich dagegen nicht, ihre unfertigen Ideen
einzubringen, aus Angst davor, verspottet zu werden. Alle schienen irgendwie Angst davor zu
haben, ihre Ängste, ihre Zweifel, ihre Gefühle, ihre Verletzungen zu zeigen - in der
Befürchtung, man könnte sie für weniger revolutionär halten als alle anderen. Niemand kam
auf die Idee, auszusprechen, dass der Gedanke an mögliche Gefängnisstrafen sie davon
abhielt, sich an riskanten Aktionen zu beteiligen. Bei der Planung unserer Aktionen
thematisierte niemand seine Sorge, dabei vielleicht körperlich verletzt werden zu können.
Oder wenn wir's in eine Fernsehsendung geschafft hatten, sprach niemand an, wie es sich für
ihn anfühlte, dass seine Eltern uns als studentische «Krawallmacher» beschimpften.
Stattdessen jagten wir uns gegenseitig Schuldgefühle ein - «Wie kannst du nur Angst davor
haben, verprügelt zu werden, wenn Amerika Vietnam bombardiert?» -und kompensierten
unsere Schuldgefühle mit Super-Militanz.
Und wie sehr wir unsere Geheimnisse voreinander hüteten! Die Rechten versuchten, unsere
studentische Militanz mit sexueller Frustration zu erklären - was ganz offenkundig Unfug
war, aber es gab in der Tat ein durchaus gängiges Verhaltensmuster von Leuten, die zunächst
superaktiv in politischen Gruppen waren, bis sie eine Beziehung anfingen und ausstiegen.
Doch diskutiert wurde darüber nicht - höchstens gefeixt. Jungfräulichkeit und Homosexualität
waren Dinge, zu denen sich Linke nicht bekannten. Dass jemand sich für minderwertig hielt,
weil sie noch Jungfrau war, oder sich pervers vorkam, weil er schwul war, hatte nichts mit
Politik zu tun. Wenn Sexualität zu einem politischen Thema wurde, bezogen wir uns auf
Wilhelm Reich und verwiesen auf die sexuelle Verelendung der Massen - also von denen da,
nicht von uns hier.

Es war genau diese Situation, die vor einigen Jahren in einem internen Papier der
„International Marxist Group (IMG)1“ zu der Feststellung führte, dass es «in der IMG nicht
viele Menschen gibt, mit denen man reden kann» - eine Klage, die auf die meisten
Studentengruppen in den 68-ern zutraf und wahrscheinlich auch heute noch vielfach zutrifft.
Es ist zu einem guten Teil diesen Zuständen zu verdanken, dass immer mehr Feministinnen es
unmöglich finden, mit Männern politisch zusammenzuarbeiten. Wenn wir bei unserem
Vorgehen mehr persönliche Verantwortung dafür übernehmen, wie wir leben, dann sind die
Bezugsgruppen als Orte gegenseitiger Unterstützung wichtiger denn je. Wir sind darauf
angewiesen, uns gegenseitig zu ermutigen bei unserem Versuch, mit unserer Kauflust und
unserem Überfluss zu brechen, unsere Charakterstrukturen abzulegen, uns von
überkommenen Geschlechterrollen zu befreien und neue Werte zu leben. Als Einzelne sind
wir überfordert damit, selber einen Mikrokosmos der zukünftigen Gesellschaft zu verkörpern
- an uns selbst zu arbeiten und zugleich selber Gemüse anzubauen; uns nur mit Muskelkraft
fortzubewegen und gleichzeitig unseren Teil der Kinderbetreuung und der Hausarbeit zu
übernehmen; auf die emotionalen Bedürfnisse anderer einzugehen, und gleichzeitig
Kampagnen zur Verbreitung unserer Ansichten zu organisieren; repressive Gesetze zu
stoppen und gleichzeitig militärische Aufrüstung oder offene Kriegseinsätze zu verhindern.
Doch wir können einiges davon tun, und zusammen mit anderen können wir ein Gegen-Ethos
schaffen, das uns gemeinsam Kraft gibt.

Politik in den eigenen vier Wanden

Was wir früher für «Privatangelegenheiten» hielten, sind politische Anliegen geworden.
Analytisch betrachtet ist es offensichtlich, dass Geschlechterrollen nicht biologisch
vorgegeben sind und dass die gängigen Stereotypen im Dienste männlicher Überlegenheit
stehen. Allerdings gibt es starke gesellschaftliche Kräfte, die es uns erschweren, diese
Analyse in unserer Lebensweise und in den eigenen vier Wänden wieder zu finden.

Manche Sozialisten sind deshalb der Meinung, dass es sich dabei um einen Nebenwiderspruch
handele, dass es zunächst darum gehen müsse, den Kurs der Gesellschaft und die sozialen
Strukturen zu ändern. Der Punkt ist nur, dass «gesellschaftliche Kräfte» aus vielerlei
Entscheidungen von Einzelnen und Gruppen (oder, eher noch, aus fehlenden Entscheidungen,
also aus Konformismus) entstehen, die in Übereinstimmung mit den Bedingungen getroffen
werden, die von den Mächtigen diktiert wurden. Und dass es sich bei der Familie ebenfalls
um eine soziale Struktur handelt. Dort lernen wir unsere ersten Lektionen über Autorität - und
zwar über beide Spielarten von Autorität, der vernünftigen und fürsorglichen Autorität, die
uns rät, nicht die Hand ins Feuer zu halten, und jene andere Autorität, die unsere
Selbstbestimmung verhindert, uns das Recht auf eigene Entscheidungen vorenthält und zur
brutalen Ausübung von Macht degeneriert. Die patriarchale Familie ist die autoritäre
Urstruktur in unserem Leben, der Schoß aller Macht. Die Routinen von Herrschaft und
Unterwerfung, die wir hier erlernen, springen über auf andere zwischenmenschliche
Beziehungen und sind typisch für alle gesellschaftlichen Beziehungen und hierarchischen
Strukturen.

Dass die Kleinfamilie in Britannien immer zerbrechlicher wird, heißt nicht, dass sich ihre
Beziehungsmuster auflösen. Eine Ehescheidung kann ein Akt weiblicher Selbstbehauptung
sein, sie kann aber auch nur das Ergebnis davon sein, dass ein Mann sich mit dem Segen des
Gesetzes aus seiner Verantwortung stehlen will. Sie kann Frauen den Weg in neue Bereiche
der Freiheit eröffnen, aber sie kann auch den Druck auf sie verstärken - schließlich heiraten
die meisten Geschiedenen erneut. Für Kinder ist es in der Regel besser, wenn sie von einem
Elternteil, der sich nicht um sie kümmert, getrennt werden; andererseits kann ihre
Abhängigkeit von einem einzigen Erwachsenen ihre Lage auch verschlimmern. Die
Auflösung des traditionellen Familienlebens ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass bestimmte
repressive Strukturen und Verhaltensweisen nachlassen, dass Menschen die alten
Kompromisse nicht mehr eingehen wollen. Doch welche Alternativen gibt es?

Manche Radikale (sowohl heterosexuelle als auch schwule) streben in ihrer Beziehung an,
gleichberechtigt und monogam zu leben, ohne den Stellenwert anderer Freundschaften zu
bestreiten. In jüngster Zeit nehmen auch Experimente mit kollektiven Lebensformen zu - in
manchen von ihnen sind sexuelle Beziehungen zugelassen, bei anderen ausgeschlossen, und
in wieder anderen lebt man rein zölibatär zusammen. Es sind Lebensgemeinschaften
entstanden, in denen ausschließlich Frauen oder ausschließlich Schwule zusammenleben. Zu
den größten Erfolgen der Schwulenbewegung gehört es, dass sie nicht nur mit der
Behauptung aufgeräumt hat, Heterosexualität sei «normal», sondern auch ein größeres
Bewusstsein für die Bandbreite möglicher sexueller Orientierungen und Beziehungen
geschaffen hat, und dass sie - gemeinsam mit der Frauenbewegung - dafür gesorgt hat, dass
über das Wesen der menschlichen Sexualität und über die Konsequenzen bestimmter
Entscheidungen intensiver nachgedacht wird.

Wir haben erkannt, dass uns das Leben zuhause mehr geben könnte, dass es aber keine
einfache Formel dafür gibt, wie wir die Familie entweder transformieren oder abschaffen
könnten, dass es kein klares Bild von der «sexuellen Befreiung» gibt - außer, dass sie sehr
weit von dem entfernt ist, was in einer Kultur der ständigen Reizüberflutung geschieht -, und
dass es zwar viele starke Ideen, aber kaum eine Verständigung darüber gibt, welchen Platz
Kinder darin haben. Und kaum ist der berühmte Spruch vom Privaten, das politisch sei, zum
Klischee geworden, haben dieselbe Härte, Breitbeinigkeit und Konkurrenz, die uns aus der
«Politik» alten Stils vertrieben hat, ins Privat-Politische Einzug gehalten: indem wir uns
gegenseitig Vorwürfe machen über unser Konsumverhalten, unsere Monogamie, unsere
Kindererziehung oder was auch immer - anstatt zu respektieren, dass jeder von uns
Schwierigkeiten hat, sein Leben zu ändern. Und gerade in diesen «privaten» Bereichen ist die
Gefahr am größten, vereinzelt zu werden.

Wege aus der Machtlosigkeit

Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft sind dazu gebracht worden, sich machtlos zu
fühlen. Die Arbeit am Fließband ist in der Regel sehr kleinteilig, so dass die Arbeiter gar nicht
nachvollziehen können, wie und was sie eigentlich herstellen. Die gleiche Art von
Arbeitsteilung besteht im gesamten Wirtschaftsleben: Jede Berufsgruppe entwickelt einen
eigenen Jargon, der selbst einfache Dinge für Außenstehende unbegreiflich macht. Und die
Bürokratie - mit all ihren Formblättern und ihrer ganzen Seelenlosigkeit - ist nur dazu da, die
Menschen in Unwissenheit zu halten, getreu der Devise: «Wer seine Rechte kennt, der
betrügt.»

Zum Teil hat dieses Ohnmachtsgefühl etwas mit Größe zu tun - damit, dass Strukturen über
sich hinausgewachsen sind; zum Teil liegt es auch an der technischen Komplexität und der
Schnelligkeit des technischen Fortschritts - natürlich im Interesse des wirtschaftlichen
Wachstums. Zum Teil liegt es aber auch an schierem Elitismus, schließlich ist es nicht im
Interesse der Machteliten, dass die Menschen begreifen, wie das System funktioniert (oder
scheitert) - abgesehen davon, dass sie in der Lage sein sollen, ihren kleinen Teil dazu
beizutragen. Und jede Elite innerhalb der Elite klebt an ihren Ämtern und Posten.

Das alles führt dazu, dass wir uns in einer Rolle wieder finden, wo wir zuhören statt reden,
zuschauen statt handeln und lesen statt schreiben. Sobald wir uns jedoch zusammentun und
uns selbst organisieren, wird das System auf einmal transparenter. Sobald über unsere
Aktionen in den Medien berichtet wird, erkennen wir, wie verzerrt oder bestenfalls wie
unzutreffend die meisten Berichte sind. Sobald wir daran gehen, unsere Anliegen «auf
ordentlichem Wege» vorzutragen, wird uns klar, durch welchen Sumpf an Trägheit,
Schlamperei und Kompromiss wir waten sollen

Sobald aber Menschen anfangen, sich erfolgreich zu organisieren, nimmt ihr


Selbstbewusstsein zu, beginnt ihre Vorstellungskraft zu wachsen, lernen sie neue Fertigkeiten
hinzu und entdecken ihre Talente. Und andere, die ebenfalls unzufrieden sind, sich aber bisher
ohnmächtig fühlten, beginnen zu spüren, dass es Alternativen gib, dass sie sich mit ihrer
Situation nicht abfinden müssen.

Ein gewaltfrei-anarchistischer Ansatz zu einer Revolution fängt damit an, dass Menschen
lernen, gemeinsam anders zu leben, zu kooperieren, die etablierten Institutionen zu umgehen
oder zu bekämpfen und Alternativen zu entwickeln. Sätze wie diese werden häufig so
verstanden, als sei Gewaltfreiheit auf Aktionen beschränkt, an denen nur eine Minderheit der
Menschen beteiligen kann. Dem ist jedoch nicht so. Genossenschaftliche Strukturen –
beispielsweise selbstverwaltete Schulen, Lebensmittelkooperativen,
Arbeiter*innenkooperativen, Wohnungs-Kooperativen, Baugruppen, selbstverwaltete
Kliniken, Anwaltskooperativen – sind nicht auf Minderheiten beschränkt. Wo sie zum
gegenwärtigen Zeitpunkt in Britannien existieren, sind sie - wie alle sozialistischen
Bewegungen hierzulande - zwar nicht besonders stark. Aber in diesen Initiativen geht es um
die Grundbedürfnisse aller Menschen. Man muss sich dort nicht von morgens bis abends
engagieren, sondern kann sich je nach seinen zeitlichen Möglichkeiten einbringen. Diese zur
Zeit noch kleinen Initiativen können als Teil einer Strategie gelten, die auf die Entwicklung
gemeinschaftlicher Strukturen abzielt, als Möglichkeit, mehr Menschen in den Kampf zur
Verbesserung ihrer materiellen Lebensumstände hineinzuziehen und als das praktische
Aufzeigen von Möglichkeiten, die uns offen stehen.

Wohnungsprobleme gehen jeden an. So wehren sich Mieter und Anwohnerinitiativen gegen
Behörden und Planer, fordern Selbstbestimmung über die Neubaupläne in ihrem Viertel und
gründen sogar Kooperativen zur Umsetzung dieser Pläne. Sie lassen sich nicht länger
abwimmeln durch die Verklärungen professioneller Planer, also jener Männer (denn um
solche handelt es sich in der Regel), die ganze Nachbarschaften zerstören und geflissentlich
die offenkundigen Probleme übersehen, die beispielsweise entstehen, wenn man keine
Jugendzentren einplant, wenn mann Kindergärten direkt neben Altenwohnungen setzt, wenn
mann die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern und Leuten mit Kinderwagen übersieht oder
Wohnungen ohne Fenster baut.

Inzwischen gibt es Initiativen von Mieter*innen und Anwohnern, die mit dem Rat von
Bauunternehmern selber Häuser planen. Zugegeben: Solche Mieter-Kooperativen bringen
natürlich die Gefahr mit sich, dass ihre Mitglieder sich selber ausbeuten, während der
Hauseigentümer oder eine Stadtverwaltung den Gewinn davontragen. Doch wohnt ihnen auch
das Potential inne, das Leben in der Gemeinschaft neu zu organisieren, neue Möglichkeiten zu
schaffen - zum Beispiel für gemeinschaftliche Kinderbetreuung, für das Herausholen von
Menschen aus dem kleinen Kreis ihrer Familie, für den Zugang zu gemeinsam genutzten
alternativen Technologien. Bereits Hausbesetzungen hatten in manchen Gegenden die
Grundlage für solche Entwicklungen gelegt. An Stelle von Hausbesetzungen können aber
auch Wohnungskooperativen und Grundstücksgenossenschaften eine dauerhafte Struktur
bilden.

Das Beispiel der Frauengesundheitszentren wiederum zeigt, dass mensch schneller zum Ziel
kommen kann, wenn mensch sich auf Selbsthilfe konzentriert, als wenn mensch sich mit
Demos vor den Zitadellen der Macht aufhält.

Immer wieder sind Frauen - egal, ob sie schwanger sind oder unter vaginalen Erkrankungen
oder Gebärmutter-Problemen leiden - von Ärzten und Pharmaunternehmen wie der letzte
Dreck behandelt worden. Bei Männern sind Ärzte viel zu selten bereit, ihren Patienten eine
bestimmte Behandlung zu erklären - bei Frauen haben sie häufig genug überhaupt keine
Ahnung. Was höflicherweise als «Frauenkrankheiten» umschrieben wird, ist seit der
Errichtung des ärztlichen Medizin-Monopols vernachlässigt worden. So ist es weiter an der
Tagesordnung, dass Ärzte über die möglichen Nebenwirkungen von Medikamenten -
insbesondere von Verhütungsmitteln und Psychopharmaka - nichts wissen und Klagen
darüber einfach überhören.

An immer mehr Orten schließen sich Frauen zusammen und entwickeln für sich
Heilmethoden, die viel besser sind als jene, die sie durch noch so heftige Proteste gegen das
Gesundheitssystem oder die staatlichen Behörden hätten erreichen können. Gegen den
Widerstand der Ärzteverbände haben Frauen eigene Gruppen zur Selbstdiagnose gegründet,
in denen sie ihren Körper erkunden, Erfahrungen austauschen, Wissen miteinander teilen, alte
Formen der Heilbehandlung wieder beleben oder an sich selber ausprobieren, wie frau etwa
vaginale Blutungen behandelt oder eine Schwangerschaft durch menstruelle Extraktion
unterbricht, wodurch den Berufsmedizinern die Kontrolle über die Gebärfähigkeit der Frauen
aus der Hand genommen wird, und in denen sie dafür kämpfen, dass Frauen mehr Einfluss auf
die Umstände haben, in den sie Kinder zur Welt bringen - sei es im Krankenhaus oder zu
Hause. In Frauengesundheitszentren werden Frauen nicht als «Fälle» behandelt und
bekommen keine Pillen im Tausch gegen schlechte Unterbringung.

Damit soll die zentrale Bedeutung: der Nationalen Kampagne für die Freigabe der
Abtreibung (National Abortion Campaign) nicht bestritten werden, und einiges davon ist ja
bereits in Gefahr - die menstruelle Extraktion etwa könnte als Abtreibung eingestuft werden,
was zur Folge hätte, dass Nicht-Mediziner sie nicht vornehmen dürften.
An diesem Beispiel zeigt sich aber, wie Menschen vom Reden über ihre Beschwerden und
über zum Teil ganz private Sorgen zum Handeln kommen und Veränderungen erreichen.
Ausgehend von scheinbar kleinen Schritten zur Schaffung von Alternativen entsteht eine
fundamentale Kritik am „Nationalen Krankheitsdienst“, die nicht einfach das Klagelied über
mangelnde Versorgung anstimmt, sondern zeigt, wie das Gesundheitssystem von Grund auf
erneuert werden kann.
,

Schon allein durch das Zusammenlegen ihrer Kräfte schaffen die Menschen die
Voraussetzung für weiter gesteckte Aktionen. Zusammenschlüsse von Sozialhilfe-
Empfänger*innen beispielsweise haben dazu geführt, dass Betroffene Lebensmittel-
Kooperativen gründen und sich zu Gärtnerei-Genossenschaften zusammentun. Eine
nachbarschaftliche Lebensmittel-Kooperative sorgt nicht nur für niedrigere Preise und
besseres Essen, sondern bringt auch Menschen zusammen und ermutigt sie, auch in anderen
Bereichen ihres Lebens Verantwortung zu übernehmen. Daraus kann ein Ausgangspunkt für
anderweitige Aktionen werden, etwa zur Unterstützung des internationalen Boykotts von
Orangen aus Südafrika und Zwiebeln aus Chile.

Inzwischen ist im ganzen Land ein regelrechtes Netzwerk von Bio-Läden entstanden, von
denen die meisten kollektiv geführt werden. Mit immer enger werdender Vernetzung und
Zusammenarbeit kommen sie allmählich in die Lage, politische Entscheidungen zu treffen -
sei es, dass sie ihre Waren von Landwirtschaftskooperativen statt von kapitalistischen
Lieferanten beziehen, oder sei es, dass sie regionale Produkte statt Importgemüse einkaufen.
Einige Bioläden folgen dem Beispiel der «Dritte-Welt-Läden» in Holland und klären ihre
Kunden über die Politik mit Lebensmitteln auf, etwa, indem sie entsprechende Informationen
auf ihre Einkaufstüten drucken. Auch dieses ist sicher ein sehr begrenztes Beispiel, es zeigt
aber, wie Menschen sich gesellschaftliche Bereiche aneignen, mit denen sie sonst nicht in
Berührung gekommen wären.

Wie bei den gesunden Lebensmitteln können wir auch in anderen Bereichen unseren
wirtschaftlichen Bedarf selber decken. So wird in der linken Szene beispielsweise derart viel
gedruckt, dass es inzwischen linke und selbstverwaltete Druckbetriebe gibt, die davon leben
können und in einigen Fällen sogar Leuten beibringen, wie mensch selber druckt. Auch wer
darüber mitbestimmen will, wie sein Haus gebaut wird, wird sich eher an eine
Wohnungskooperative oder Baugruppe wenden als an Wimpey . Allerdings hat der
technokratische Kapitalismus hierzulande den Markt derart lückenlos unter Kontrolle
gebracht, dass für Handwerksgenossenschaften kaum noch Nischen übrig sind, in denen sie
überleben könnten. Eine Kooperative, die Glühbirnen mit unbegrenzter Lebensdauer
herstellen würde, hätte mit Sicherheit großen Erfolg, aber solche Chancen sind dünn gesät.
Nahrungsmittel sind ein solcher Bereich, in dem gute Chancen bestehen. Etliche
genossenschaftliche Bio-Bäckereien florieren. Viele Städter, die es sich finanziell leisten
können, sind aufs Land gezogen, um Bio-Bauernhöfe zu gründen. Andere diskutieren
Möglichkeiten, Land zu erwerben, indem sie bei Eigentümern, die an Nachlässen bei der
kommunalen Grundsteuer interessiert sind, den Kaufpreis in Raten abstottern und
Grundstücksgenossenschaften gründen. Wenn diese Modelle funktionieren, dann wird
«Zurück aufs Land» keine Parole mehr sein, die nur für Privilegierte und Wohlhabende gilt.
Manche Kooperativen entwickeln sich zu einer Art erweitertem Selbermachen. Andere
werden von Leuten gegründet, die einfach nicht in das kapitalistische Wirtschaftssystem
passen - etwa eine Kooperative von Menschen mit Behinderung, die Tischleuchten herstellen.
Die heutigen Kunsthandwerker-Genossenschaften produzieren zwar eher Dekorationen und
Luxusartikel statt Gebrauchsgüter, doch erweitern auch sie die Wahlmöglichkeiten der
Beteiligten.

Um uns die Produktion innerhalb der Ökonomie des Geldes anzueignen, dürfen wir uns aber
nicht darauf beschränken, florierende «Alternativbetriebe» zu gründen. Falls sie Profit
abwerfen, werden sie es über kurz oder lang mit kapitalistischen Konkurrenten zu tun
bekommen. Und sie selber werden unter ständigen Druck geraten, kapitalistische
Betriebsformen zu übernehmen, wie das Beispiel der «Fabriken für den Frieden» in Wales
und Schottland in den 60-er Jahren zeigt: sie endeten als hierarchische und völlig
durchorganisierte Unternehmen.

Die Organisation gemeinschaftlicher Kinderbetreuung gilt, je nach dem, wie mensch sie
versteht, als eine unpolitische Aufgabe, tatsächlich aber gehört sie zu jenen praktischen
Maßnahmen, die dazu angetan sind, das Leben für einige leichter zu machen. Und gleich, wie
viel Freude das Zusammensein mit Kindern auch machen kann: Kinderbetreuung als
Ganztagsjob ist eine enorme Belastung für Erwachsene und tut auch den Kindern nicht gut.
Gemeinschaftliche Kinderbetreuung gibt Eltern, insbesondere Müttern, wieder mehr Zeit und
Energie für andere Dinge, ohne gezwungen zu sein, ihre Kinder Einrichtungen auszuliefern,
in denen sie nichts zu sagen haben. Zugegeben, das mag als ziemlich unwichtig erscheinen,
wenn mensch eine Weltrevolution im Schilde führt. Doch es geht um das Potenzial, das ist
diesem Ansatz sichtbar wird. Und selbst kleine Erfolge machen den Menschen mehr Mut, als
wenn sie mit demselben Aufwand versuchen würden, die Labour-Regierung dazu zu bringen,
sozialdemokratische Politik zu machen!

Erfolg wirkt ansteckend. Denken wir nur an die große Zahl an Menschen, die sich in den
letzten zehn bis fünfzehn Jahren an direkten Aktionen in ihren Gemeinden beteiligt haben –
seien es Straßenblockaden für Fußgängerüberquerungen, gegen den Ausbau von
Umgehungsstrassen oder den Bau von Autobahnen, oder seien es Mietstreiks zur Erzwingung
von Sanierungsmassnahmen. Dem „Komitée der 100“ gelang es in den 60-er Jahren trotz
vieler Sitzblockaden zwar nicht, den britischen Staat zu entmilitarisieren; Tatsache ist aber,
dass seither die Menschen in einer Stadt nach der anderen schon bei kleineren Problemen
gelernt haben, dass direkte Aktionen sich auszahlen. In Nottingham zum Beispiel sperr-
ten einige Anwohner nicht nur ihre Straße für den Durchgangsverkehr, sondern besetzten
auch ein Haus, um es zum Spielhaus für Kinder umzufunktionieren; und die Stadtverwaltung
willigte später sogar ein, ihnen das Haus für 60 Pfund zu verkaufen.

Kämpfe zu einem Thema führen fast zwangsläufig zu Kämpfen auf anderen Feldern.
Natürlich ist es möglich, aus dem Blickwinkel der Konservativen eine Kampagne etwa zur
Unterstützung weiblicher Flüchtlinge zu führen; aber in vielen Fällen wird eine solche
Kampagne über kurz oder lang in die Forderung nach genereller wirtschaftlicher
Unabhängigkeit von Frauen münden, was wiederum den Anstoß für die Forderung nach
einem Mindesteinkommen für alle, unabhängig von ihrer «Produktivität», Kinder
eingeschlossen, geben kann (solange wir in einer Geldökonomie leben, absolut richtig!).
Manche Initiativen kämpfen gegen den Bau einer Straße in einem Tal und schlagen eine
andere Trassenführung vor, während andere die herrschende Verkehrsplanung insgesamt und
den Landschaftsverbrauch grundsätzlich in Frage stellen und die Macht der Straßenbau-
Lobby angreifen. Gegen Rüstungsproduktion wird man schwerlich angehen können, ohne
Konzepte dafür zu entwerfen, wie die örtliche Wirtschaftsstruktur die Schließung von
Rüstungsfabriken verkraften könnte. Ebenso wenig kann man gegen Atomkraft kämpfen,
ohne Möglichkeiten einer alternativen Energieversorgung zu erkunden und für die Senkung
des Energieverbrauchs einzutreten,

Ob es uns gelingt, den Schwung unserer Aktivitäten für eine Veränderung der Gesellschaft
beizubehalten, hängt zu einem ganz entscheidenden Teil vom Stil unserer Aktionen ab. Mit
anderen Menschen zusammenzuarbeiten ist kein Kinderspiel. Die meisten Zeitgenossen haben
sexistische Attitüden. Gerade wir Männer müssen lernen, dass auch wir Verantwortung dafür
tragen, sexistische Bemerkungen zu hinterfragen oder seelisch Leidenden Trost zu spenden,
anstatt dies immer nur den Frauen zu überlassen. Die meisten Menschen zeigen zudem
elitäres Verhalten; sie werden versuchen, Hierarchien zu bilden und sich dabei womöglich auf
ihr Fachwissen berufen. Solchen Tendenzen müssen wir entschieden entgegentreten, sollten
gleichzeitig aber auch anerkennen, dass manche Menschen in der Tat besondere Kenntnisse
auf bestimmten Spezialgebieten haben, und wir sollten sie darin bestärken, dieses Wissen mit
anderen zu teilen.

Viele Menschen haben keine Lust darauf, politisch aktiv zu werden, weil sie erleben, wie
fürchterlich verbissen es dabei zugeht oder dass politische Anliegen fast ausschließlich über
das gedruckte Wort kommuniziert werden. Mit Theater, insbesondere mit Straßentheater,
lassen sich Botschaften nicht nur wirkungsvoller rüberbringen, sondern auch neue
Beziehungen zwischen «Darstellern» und «Zuschauern» herstellen, und hin und wieder
ergeben sich dabei auch Möglichkeiten zum Mitmachen. Über den Imperialismus zum
Beispiel werden wahrscheinlich mehr Menschen wirklich etwas lernen, wenn sie bei einem
Rollenspiel über internationale Handelsbeziehungen (vielleicht in der Rolle eines
multinationalen Konzerns) oder in einem anderen Spiel zu diesem Thema mitmachen, als
wenn sie ein Buch darüber lesen. Aufläufe von Kunden, die an bargeldlosen Kassen mit
Bargeld bezahlen wollen oder in der Börse Pfundnoten verbrennen, können gewohnte
Routinen durcheinander bringen und Denkanstöße sein, alltägliche Finanztransaktionen in
Frage zu stellen.

Gleichwohl gilt aber: Eine soziale Revolution ist mehr als die Kombination von konstruktiven
Projekten mit hinlänglichem Mut und phantasievoller Taktik. Mensch kann nicht oft genug
betonen, wie wichtig es ist, die diversen Kämpfe miteinander zu verknüpfen - sowohl
praktisch, etwa hinsichtlich der Frage, wie manche Ladenkollektive ihre Gewinne an
Gemeinschaftsprojekte abführen, als auch in der Analyse, die zeigt, dass die verschiedenen
Probleme miteinander zusammenhängen, und die jeden Kampf auf seine Wurzeln
zurückführt. Den meisten Widerstandskampagnen nutzt es, dass sie eine Art von konstruktiver
Komponente besitzen - Beispiele dafür sind etwa die Kriegssteuerverweigerungskampagne in
den USA, die zur Gründung alternativer Banken und Finanzfonds geführt hat, mit denen
Alternativprojekte finanziert werden, oder der Widerstand der Bauern von Larzac in
Frankreich gegen die Erweiterung eines Truppenübungsplatzes, der sie zur Gründung einer
Grundstücksgenossenschaft geführt hat. In den USA ist zu beobachten, dass dort viele der
langlebigen Alternativprojekte im Umfeld von Widerstandsbewegungen und im
Zusammenhang mit wachsendem Bewusstsein bestehen - etwa die Frauenbewegung, die
Black Consciousness-Bewegung und die Antikriegsbewegung. Vielleicht besteht darin der
entscheidende Schutzschild., der Alternativprojekte davor bewahrt, vom System integriert zu
werden und den Verlockungen des Profitstrebens zu erliegen.

Hierzulande sind die Freien Schulen - ursprünglich entstanden als gemeinschaftlich


organisierte Selbsthilfe, um Kindern aus armen Familien Lernmöglichkeiten zu bieten –
vielfach zu Einrichtungen degeneriert, in die der Staat diejenigen abschiebt, die an seinem
Bildungssystem gescheitert sind. Manche Wortführer von Hausbesetzern haben Obdachlose
im Namen der Stadtverwaltung hinausgeworfen. Und scheiternde kapitalistische Unter-
nehmen wurden in «Arbeiterkooperativen“ umgewandelt, wobei man die Arbeiter dazu
brachte, Opfer zu bringen, die sie anderweitig nicht akzeptiert hätten. Dies zeigt, dass
Alternativprojekte, wenn sie losgelöst von anderen gesellschaftlichen Aktivitäten betrieben
werden oder nicht in eine revolutionäre Strategie eingebettet sind, den Herrschenden zum
Opfer fallen und dazu benutzt werden können, revolutionäre Initiativen zu bändigen.
Je etablierter Organisationen werden, desto rigider und bürokratischer werden ihre Strukturen.
So sind einige der aktivsten Mietervereinigungen der vergangenen Jahre inzwischen fast so
wie Sitzungen des Stadtrats, ganz zu schweigen davon, dass sie von parteipolitischen
Machtkämpfen in den eigenen Reihen geplagt sind. Die Gewerkschaften sind heute nicht nur
durch und durch bürokratisch, sondern tendieren auch dazu, ihre Mitglieder zu demobilisieren
und als Verwalter der Arbeiterschaft zu fungieren. Viele radikale Schwarze und radikale
Frauen erleben Gewerkschaften als ihre Gegner, und zweifellos sind andere Organisa-
tionsformen entscheidend, wenn (Lohn-)Arbeiter für Selbstverwaltung kämpfen wollen.

Ein weiteres Problem ist Wachstum und Größe. Wir müssen sehr sorgfältig darauf achten,
dass Organisationen nicht den Rahmen verlassen, der allen Beteiligten gleiche Teilhabe
garantiert und verhindert, dass Organisationen sich verselbständigen. In manchen Fallen wird
es notwendig sein, dass alternative Institutionen sich teilen müssen, damit ihre Größe
überschaubar und direkte Demokratie, die im Umgang von Angesicht zu Angesicht geübt
wird, in ihren Entscheidungen gewahrt bleibt. Wo übergeordnete Koordinationsgremien
notwendig werden, müssen wir darauf achten, dass sie sich nicht zu elitären Instanzen
zentraler Kontrolle auswachsen.

Gleichwohl gilt: Ist ein Alternativprojekt einmal erfolgreich etabliert, verändert es spürbar die
«objektiven Bedingungen» der Menschen und hebt die Wahrscheinlichkeit, dass weitere
Menschen dazu kommen, sich an einer solchen Strategie zu beteiligen. Es definiert
Lebenslagen neu, indem es Beweis stellt, dass menschliche Solidarität und Vertrauen eine
bessere Art von Sicherheit bieten als alle Zäune, die wir um uns errichten, dass wir durch
genossenschaftliches Wirtschaften unser menschliches Potenzial eher ausschöpfen als durch
den Krieg aller gegen alle. Indem sie neues Selbstvertrauen fassen, lernen Menschen, zu
erkennen, dass «das » nicht unveränderlich ist. Zum jetzigen Zeitpunkt, wo viele konstruktive
Projekte einen harten Überlebenskampf führen müssen, mag es unrealistisch erscheinen, so
viel Hoffnung in ihren Erfolg zu setzen wie ich. Bemerkenswert ist aber, dass die Zahl solcher
Projekte trotz des widrigen wirtschaftlichen Klimas hierzulande in den letzten Jahren enorm
zugenommen hat- am drastischsten beim Anbau und der Verteilung von Lebensmitteln und
bei feministischen Projekten, aber auch bei Alternativzeitungen und Druckereien sowie bei
kleinen städtischen Handwerkerkooperativen. Was vielleicht noch wichtiger ist: Das
Bewusstsein hinter solchen Initiativen hat sich ausgebreitet. Wer über ein bestimmtes Thema
politisch aktiviert wurde, der kommt in vielen Fällen zu einer grundsätzlichen Kritik der
Gesellschaft.

Ich setze meine Hoffnung darauf, dass kooperative und gemeinschaftliche Strukturen, je mehr
Menschen sich zu ihnen hingezogen fühlen, einen kritischen Punkt ihres Wachstums
erreichen, an dem sympathisierende Bevölkerungsteile, die sich heute noch abgehängt oder
machtlos fühlen, auf der Kippe stehen, auch mitzumachen. Dann wird nach meiner
Überzeugung ein Punkt erreicht sein, ab dem ein wesentlicher Teil des Lebens unabhängig
von und gegenläufig zum Staat und der Großwirtschaft sein wird. Damit will ich nicht sagen,
dass wir nun aus dem Nichts daran gehen sollten, unsere eigene, auf vollständige
Selbstversorgung gerichtete und genossenschaftlich organisierte Parallelgesellschaft
aufzubauen, um mit dem technokratisch-kapitalistischen Britannien zu konkurrieren und den
Staat überflüssig zu machen. Allerdings glaube ich, dass wir nicht umhin können, uns
bestimmte Ressourcen anzueignen und Gebäude und Wirtschaftsteile zu übernehmen. Das
Entstehen einer Gegengesellschaft muss einher gehen damit, dass diejenigen, die jetzt noch in
hierarchischen Strukturen stecken, ein stärkeres Gespür für ihre kollektive Stärke gewinnen
und damit, dass staatliche Autorität ihren Schrecken verliert, wenn sie sich einem Widerstand
gegenüber sieht, der seine Basis in den eigenen vier Wänden der Menschen hat. So wie unsere
Bemühungen, uns selbst zu stärken und die Beherrschung anderer abzulegen, Hund in Hand
gehen, so kann auch der Aufbau unserer eigenen unabhängigen Strukturen nicht von der
Rückeroberung all dessen getrennt werden, was uns der Staat entrissen hat (oder wir ihm
zugestanden haben).

Gewaltfreiheit im Konflikt

Gewaltfreiheit versucht weder, Konflikten aus dem Weg zu gehen, noch folgt sie einer
Strategie des Konfliktschürens, um immer tiefere Polarisierungen zu provozieren. Natürlich
gibt es grundlegende Konflikte - etwa zwischen denen, die Befehle geben, und denen, die sie
entgegennehmen; zwischen denen, die Land besitzen, und denen, die Miete dafür bezahlen
sollen; zwischen Experten, die ihr Fachwissen monopolisieren, und denen, die auf den
Zugang zu diesem Wissen und zu ihren Ressourcen angewiesen sind. Gewaltfreies Vorgehen
bedeutet, sich in diese Konflikte einzumischen, um Herrschaftsverhältnisse zu beenden, damit
Menschen sich die Macht zurückerobern, um ihr eigenes Leben führen zu können.

Andererseits kommt es auch darauf an, Gegensätzlichkeiten nicht zu übertreiben, Es kann


einen in ziemliche Verlegenheit bringen, wenn ein «faschistischer Typ» sich als ein Liberaler
erweist, der bereit ist, unseren Forderungen ein Stück weit entgegen zu kommen. Allzu oft
werden oppositionelle Bewegungen von Zerrbildern des angeblichen «Feindes» angeheizt
statt von einer nüchternen gesellschaftlichen Analyse getrieben - mit der Folge, dass diese
Bewegungen die Behörden am Ende dazu nötigen, diesem Zerrbild zu entsprechen, dass sie
sich auf staatliche Repression verlassen und häufig in sich zusammenfallen, wenn ihnen
Samthandschuhe statt Eisenfäuste entgegengestreckt werden. Appelle, mit vereinten Kräften
gegen eine politische Maßnahme oder gegen eine Behörde vorzugehen, haben häufig nur die
Funktion, sich nicht mit Spaltungen im eigenen Lager auseinanderzusetzen. So werfen einige
Sozialisten Feministinnen, Schwulen, Schwarzen, Arbeitslosen und Hausbesetzern gerne vor,
sie seien «spalterisch», «sektiererisch» oder «ablenkend., wenn jene sich darüber beschweren,
dass ihre Forderungen übergangen werden.

Gewaltfrei Handeln setzt voraus, dass man ein Gefühl füreinander hat, dass man sich
füreinander zuständig fühlt. Jeder muss in der Lage sein, seine Beschwerden und Probleme zu
artikulieren. Eine durch Verrenkungen erzwungene Solidarität lässt nicht nur schnell nach,
sondern basiert auch auf Manipulation und den Versuch, andere für das eigene Revolu-
tionsverständnis zu instrumentalisieren. Wenn über taktische Fragen nach langen
Redeschlachten in Massenversammlungen entschieden wird statt nach eingehender
Erörterung in kleinen Gruppen, dann ist das ein sicheres Indiz dafür, dass sich ein weiterer
Entfremdungsprozess in die Revolution eingeschlichen hat, Das hervorstechendste Merkmal
der Besetzung des Atomkraftwerks Seabrook durch 1400 AKW-Gegner war die Art und
Weise, wie sie organisiert wurde. Die Clamshell Alliance, die zu der Besetzung aufgerufen
hatte, bestand darauf, dass jeder Teilnehmer an der Aktion vorher an einem Training in
gewaltfreier Aktion teilgenommen hatte und sich einer kleinen Bezugsgruppe («affinity
group») anschloss, in der das gemeinsame Vorgehen besprochen wurde. Ein Sprecher aus
jeder Bezugsgruppe berichtete im Anschluss an die Sprecher der anderen Gruppen; dort
verständigte man sich auf das Vorgehen und trug das Ergebnis zurück in die Kleingruppen.

Sich auf gewaltfreie Konflikte einzulassen, erfordert auch, den Gegner realistisch
einzuschätzen. Anhänger*innen eines gewaltlosen Anarchismus machen sich keine Illusionen
über die Brutalität eines Staates, der sich in seiner Existenz bedroht fühlt. Sie unterstellen
jedoch, dass es in vielen Fällen möglich ist, die Staatsmacht davon abzuhalten, aus lauter
Panik möglich ist, die Staatsmacht davon abzuhalten, aus lauter Panik sofort mit ganzer
Brutalität zu reagieren. Durch unsere Gesprächsbereitschaft und unsere beständigen
Zusicherungen, nicht töten oder verletzen zu wollen, können wir mäßigend wirken, in
manchen Fällen vielleicht sogar moralischen Zwang ausüben. Wenn ein Gegner sich
offenkundig in einer schwächeren Lage befindet, wird es den Verfechtern der Gewaltfreiheit
in vielen Fällen darum gehen, ihrem Gegenüber aus seiner Unnachgiebigkeit hinaus zu helfen,
vielleicht auch dadurch, dass sie ihm einen gesichtswahrenden Kompromiss anbieten.

Soziale Macht fußt auf Gehorsam von Menschen, egal, ob dieser Gehorsam freiwillig, aus
Gewohnheit oder erzwungenermaßen geleistet wird. Die Zerstörung einer Tyrannei erfordert
nicht die physische Zerstörung oder Demütigung des Tyrannen. Gewaltfreie Aktion kann
manchen Herrscher dazu bringen, selbst die moralische Qualität seiner Machtausübung in
Frage zu stellen. Umgekehrt gilt aber auch: Nur wenige Herrscher werden ihre Macht und die
Früchte ihrer Macht freiwillig oder frohgemut aus der Hand geben. Es fällt schwer genug in
persönlichen Beziehungen, wo angeblich Liebe und Vertrauen herrschen, dass wir uns nicht
gegenseitig verletzten - trotzdem geschieht es hin und wieder.

In Indien haben Landbesitzer im Gefolge der von Vinoba Bhave und anderen Gandhi-
Schülern geführten Gramdan- Bewegung ihre Ländereien an Dorfbewohner übertragen - eine
Kampagne, die ausschließlich auf der Basis von Überzeugung und moralischem Druck funkti
onierte. Zwar hatte diese Kampagne ihre Grenzen - so übergaben nur wenige Landbesitzer ih-
en gesamten Grundbesitz, die meisten von ihnen übergaben nur ihre unfruchtbarsten Böden,
und die wenigsten der rund 100.000 Dörfer, die sich zu den Gramdan-Grundsätzen der
freiwilligen Zusammenarbeit und der Abschaffung von Eigentumsrechten verpflichteten,
halten sich wirklich dran. Doch trotz dieser Einschränkungen ist durch diese Kampagne
mehr Land umverteilt worden als durch die Regierung, und jedenfalls sehr mehr als durch die
Naxaliten, von denen die meisten für ihre Versuche, Land mit Waffengewalt umzuverteilen,
im Gefängnis landeten.

In Portugal gab es 1974/75 einige Fälle, wo Farmer und Fabrikbesitzer sich den Forderungen
der Arbeiter nach Kollektivierung der Betriebe oder deren Umwandlung zu Genossenschaften
anschlossen statt sich ihnen entgegenzustellen. Natürlich gab es Probleme mit ihnen, wenn sie
dafür mehr verlangten als gleiche Mitsprache, doch waren einige von ihnen immerhin
imstande, bei den Versuchen für Arbeiterselbstverwaltung mitzumachen, die überall im Land
unternommen wurden. Selbstverständlich sich die meisten Farmeigentümer entweder zur
Wehr oder ergriffen die Flucht, um sich an der Organisation der internationalen Sanktionen
gegen Portugal zu beteiligen. Doch ist es nicht vorstellbar, dass sie – hätte man ihnen
versichert, dass ihr Leben nicht in Gefahr ist, dass Nationalisierung nicht bedeutet, einen
staatlichen Verwalter von außen an ihre Stelle zu setzen, sondern eine genossenschaftliche
Arbeiterselbstverwaltung zu errichten, an der auch sie teilhaben können - ist es nicht
vorstellbar, dass paar mehr von ihnen sich mit den Veränderungen abgefunden hätten?

Ich bin nicht blauäugig genug, um zu glauben, dass wir eine ganze kapitalistische
Herrscherklasse zu überzeugten Anhängern der Selbstverwaltung machen könnten! Aber es
lohnt sich, einige Anstrengung darauf zu verwenden, dass sie sich damit anfreunden, und sei
es auch nur, um ihrem Widerstand die Spitze zu nehmen.

Doch egal wie einzelne Kapitalisten sich entscheiden werden - jeder Versuch, die Macht in
der Gesellschaft grundsätzlich und durchgreifend umzuverteilen wird früher oder später auf
die geballte Gewalt des Staates und repressiven Apparates treffen. Die angeblich so
«humanen» britischen Truppen verübten Massaker an gewaltfrei demonstrierenden Indern,
und die Militärjunta in Chile richtete ein entsetzliches Blutbad an. Der Preis der Reaktion ist
nicht zu unterschätzen.

Darin liegt einer der Gründe, warum es für ein gewaltfrei-anarchistisches Vorgehen von so
grundlegender Bedeutung ist, die Macht des Staates durch den Aufbau von Parallelstrukturen
kontinuierlich zu untergraben und gleichzeitig innerhalb der bestehenden Institutionen dafür
zu kämpfen, dass Hierarchien hinterfragt und unser kollektives Bewusstsein gestärkt wird.

Falls aber die Reaktion marschiert und Widerstand überhaupt noch möglich ist, dann ist es
nach meiner fester Überzeugung möglich, gewaltfrei zu widerstehen. Mehr noch: Falls eine
strikt gewaltfreie Strategie uns an den Punkt einer Konfrontation mit der bewaffneten
Staatsmacht geführt hat, werden die meisten Menschen sich der Vielfalt gewaltfreier Aktions-
formen bewusst sein - Streiks, Besetzungen, Boykotts, Mietstreiks, Steuerverweigerung - und
darauf vorbereitet sein und Erfahrung darin haben, wie man gewaltfreie Disziplin einhält.
Zudem besteht die Wahrscheinlichkeit, dass in dieser Situation viele Staatsdiener ihren Dienst
verweigern oder kurz davor stehen, ihren Dienst zu quittieren.

Mit gewaltfreier Nicht-Zusammenarbeit auf Massenbasis wurden Regierungen lahm gelegt


und gestürzt, mit Steuerverweigerung und Streiks wurde die Umsetzung unpopulärer
Regierungsmaßnahmen verhindert Als Norwegen und Dänemark während des Zweiten
Weltkrieges von den Nazis besetzt waren, hinderte die Nicht-Zusammenarbeit der
Bevölkerung die Nazis an der Durchsetzung bestimmter Maßnahmen. Regierungen können
nur bestehen, wenn das Volk sie gewähren lässt, wenn die Menschen sich regieren lassen statt
ihr Leben selbst zu organisieren. Wenn eine Regierung sich dem entschlossenen gewaltfreien
Ungehorsam der Bevölkerung gegenüber sieht, wird sie entweder versuchen, den Willen ihrer
Gegner durch blanken Terror zu brechen, oder sie wird versuchen, einzelne Anführer
herauszukaufen. Doch zur gleichen Zeit muss sie damit rechnen, dass ihre Truppen
unzuverlässig werden - erst recht dann, wenn wir unmissverständlich klarstellen, dass es uns
um die Zerstörung staatlicher Macht geht, nicht um die Vernichtung der Träger staatlicher
Macht.

So weigerten sich 1953 polnische Truppen, gegen ostdeutsche Arbeiter vorzugehen, die gegen
das stalinistische System der DDR aufbegehrten. In bewusster Entscheidung für eine Politik
der Gewaltfreiheit sperrten die Arbeiter sämtliche Waffen und Munition weg, die Soldaten
niedergelegt oder ihnen übergeben hatten. Als russische Soldaten eingesetzt wurden,
verweigerten viele von ihnen den Befehl, einige wurden vor ein Militärgericht gestellt und
mindestens 32 von ihnen wurden hingerichtet.

1968 gelang es den russischen Truppen in der Tschechoslowakei zwar am Ende, den
spontanen Widerstand gegen die Invasion zu zerschlagen, doch nach einer Woche ihres
Einsatzes galten die Soldaten als unzuverlässig – sie hatten zuviel erlebt und zeigten
Anzeichen von Befehlsverweigerung. Sie mussten ausgetauscht werden.

Beim Volksaufstand von 1956 in Ungarn waren die russischen Truppen völlig verunsichert
und ließen ungarische Bürger auf ihre Panzer klettern, verbrüderten sich mit ihnen und
schmückten sie mit der ungarischen Flagge. Als die ungarische Polizei jedoch das Feuer
eröffnete, glaubten die Russen, es werde auf sie, nicht auf die Aufständischen geschossen, und
reagierten dementsprechend, als seien sie hereingelegt worden. Trotzdem wurden einige
russische Panzer aufgegeben und den aufständischen Ungarn überlassen.
In all diesen Beispielen handelt es sich um ungeplante und unbewaffnete Aufstände. Wer
weiß, um wie viel erfolgreicher sie gewesen wären, wären sie besser vorbereitet gewesen?
Hätte es sich um bewaffnete Aufstände gehandelt, wären sie zweifellos mit noch größerem
Blutvergießen niedergeschlagen worden, Wo Armeen sich hauptsächlich aus der
Arbeiterschicht eines Landes rekrutieren - in Britannien also aus jungen Kerlen, die anderswo
keine Arbeit finden oder auf Armeewerbung hereingefallen sind - ist es gewiss sinnvoller, das
Militär zu zersetzen und so den Staat zu entwaffnen, als sich auf einen Rüstungswettlauf mit
ihm einzulassen.

Dass militärische Einheiten sich mit Volksaufständen verbünden, ist nicht ungewöhnlich. Es
hat sogar Fälle gegeben, wo Regierungstruppen, die sich einer unbewaffneten Menge
gegenübersahen, Befehle verweigerten. In Petersburg erhielten Kosaken 1917 den Befehl,
eine Menschenansammlung aufzulösen. Als sie heranritten, bildete die Menge Spaliere, um
den Kosaken auf ihren Pferden Platz zu machen. Einige verwickelten die Kosaken in
Gespräche, andere lächelten ihnen sogar zu! Die Kosaken ritten daraufhin zurück und
verweigerten ihren Kommandeuren den Gehorsam. Am folgenden Tag wechselten sie die
Seiten und verteidigten das unbewaffnete Volk gegen die berittene Polizei!
(Offenbar hatten sie kein Vertrauen, dass die Methode, mit der sie zum Überlaufen gebracht
worden waren, auch bei ihren früheren Kollegen funktionieren würde).

Kein Zweifel: Jede Regierung verfügt über ihre besonders ausgebildete Eliteinheiten bei
Armee und Polizei – in Britannien sind es das Parachute Regiment, der Special Air Service
(SAS) und die Special Patrol Group - Einheiten, auf die unsere Ansichten unter keinen
Umständen eine besondere Anziehungskraft ausüben dürften. Doch diese Einheiten selbst
sind es, die sich zum Gegner anderer Truppen machten – einige der einfachen Polizeibeamten
bei Grunwick hassten die SPG mehr als die Streikposten! Auch die Fallschirmjäger-Einheiten
erfreuen sich bei den übrigen Teilen der Armee keiner besonderen Beliebtheit. Und selbst
wenn sie sich als Ärsche des Widerstands gegen eine gewaltfreie Revolution hervortun: Auch
Ärsche merken sehr schnell, dass das Spiel aus ist, wenn sie erkennen, wie wenige sie sind –
so wie jene Generäle, die 1961 einen Putschversuch unternahmen, um die Unabhängigkeit
Algeriens zu verhindern. Dank der Nichtzusammenarbeit des größten Teils der Armee und der
mangelnden Unterstützung in der Bevölkerung brach der Putsch schon nach vier Tagen in
sich zusammen.

Ebenso klar ist, dass der britische Staat Teil eines globalen Machtsystems ist; er genießt die
Unterstützung anderer Großmächte und ihrer Armeen. Das ist einer der Gründe, warum es
wichtig ist, Bündnisse mit gewaltfreien Revolutionären rund um den Globus zu schließen und
bei gemeinsamen Projekten zusammenzuarbeiten. Vielleicht gelingt es, einer
Besatzungsmacht durch Nicht-Zusammenarbeit einen Strich durch die Rechnung zu machen,
vielleicht gelingt es auch, die Wehrkraft von Besatzungstruppen zu zersetzen, und vielleicht
wird die Konfrontation mit ausschließlich gewaltfreiem Widerstand der betreffenden
Großmacht in gewissem Umfang die Hände binden. Doch grundsätzlich gilt: Die Welt ist zu
sehr miteinander verwoben, als dass eine Anarchie in nur einem Land zur Blüte gelangen
könnte. Der Erfolg jeder gewaltfreien Revolution hängt in noch größerem Maße von der
Ausweitung befreiter Gebiete rund um den Globus ab, als die leninistische Revolution in
einem Land vom Erfolg des Leninismus anderswo abhängt.

Zum Schluss dieses Kapitels will ich auf einige Episoden der jüngeren Vergangenheit in
Südafrika, Chile und Portugal eingehen.
Oft wird behauptet: «In Südafrika hat man es mit Gewaltfreiheit versucht und ist gescheitert.»
Während der 50-er Jahre trat der African National Congress (ANC) ausdrücklich für
Gewaltfreiheit ein. Seine Defiance-Kampagne von 1951/53 beinhaltete die bewusste und
offene Missachtung der Passgesetze. 1957 wurden während eines 12-wöchigen Busboykotts
14.000 Menschen verhaftet - ein Boykott, durch den die Rücknahme von
Fahrpreiserhöhungen durchgesetzt wurde (die Regierung kompensierte den Einnahmeausfall
durch eine Abgabe bei den Arbeitgebern). 1958 wurden allein in Johannesburg 2.000 Frauen
verhaftet, weil sie gegen die Passgesetze verstoßen hatten. Der ANC war allerdings eine
elitäre Organisation, die von einer kleinen Gruppe geführt wurde. Seine
Organisationsstrukturen waren so undemokratisch wie schwerfällig. Trotz alledem, und trotz
der Provokateure in den eigenen Reihen (was vielleicht ein Hinweis darauf ist, dass es der
südafrikanischen Regierung damals lieber wäre, wenn sie es mit gewaltsamem Widerstand zu
tun gehabt hätte) gelang es dem ANC, Tausende von Menschen zu mobilisieren. Er gab den
Schwarzen neue Selbstachtung und gewann auch Unterstützung in Teilen der weißen
Bevölkerung, etwa der Frauen der Black Sash-Bewegung, die Aktionen des gewaltfreien
zivilen Ungehorsams gegen die Apartheid unternahmen.

Aktivist*innen innerhalb des ANC und des Pan-Afrikanischen Kongresses betrachteten


dies als das Ende der gewaltfreien Etappe des Kampfes. In ihren hatte Gewaltfreiheit ihren
Auftrag, den Kampf auf eine «höhere Stufe“zu heben, erfüllt. Der ANC hatte zu keinem
Zeitpunkt eine gewaltfreie Strategie der Befreiung.

Leider hatte die Führung des ANC die Unnachgiebigkeit des Apartheidregimes unterschätzt.
Statt sich auf die Solidarität der Schwarzen zu stützen, setzte sie auf Zugeständnisse der
Weißen Machthaber. Im Gefolge des von 1961, zu dem der ANC ein Jahr nach dem Massaker
von Sharpeville von aufgerufen hatte, und der von Umkonto We Sizwe («Speer des Volkes»)
verübten Sabotageakte gegen Eisenbahnlinien und Sprengstoffanschläge verschärfte sich die
Repression, und der ANC selbst wurde nach dem neu erlassenen Anti-Sabotage-Gesetz
verboten. Das Apartheidregime war zwar in seiner ganzen Brutalität entblößt, aber die
Hoffnungen Führung hatten sich als vergeblich erwiesen.

Seit jener «Niederlage der Gewaltlosigkeit» hat jedoch auch der bewaffnete Kampf gezeigt,
dass er Geduld erfordert. Tatsächlich waren es nicht Aktionen des bewaffneten Kampfes, die
das Regime am meisten erschütterten, sondern die Welle von Streiks zu Beginn der 70-er
Jahre und die unbewaffneten Revolten der jüngeren Zeit in den schwarzen Townships, wobei
Streiks, Schulboykotts und Sitzstreiks wieder eine große Rolle spielten. Die
«Befreiungsarmeen» hatten bei diesen Ereignissen keinen nennenswerten Einfluss. Natürlich
würden viele Schüler in Soweto zu den Waffen greifen, wenn sie denn welche hätten - es gibt
in der schwarzen Bevölkerung in Südafrika nur wenige, die sich einer prinzipiellen
Gewaltfreiheit verpflichtet fühlen, und die Aussichten für eine gewaltfreie Revolution sind
heute alles andere als gut. Der Punkt ist jedoch: Man sollte die Chancen der Gewaltfreiheit in
Südafrika nicht wegen des Scheiterns einer einzelnen Organisation abschreiben.

In Chile hielt die Unidad Popular, die alles andere als eine Entwaffnung des Militärs wollte,
an der Wehrpflicht fest und ließ danach sogar die unteren Dienstränge von Soldaten säubern,
die versucht hatten, den Sozialismus beim Wort zu nehmen und für eine Demokratisierung
der Armee eingetreten waren, Während Theatergruppen in den Städten und Regionen
florierten, wurden sie aus den Kasernen verbannt. In den letzten Monaten von Allendes
Amtszeit wurden Wehrpflichtige und Unteroffiziere aus der Armee entlassen, inhaftiert und
sogar gefoltert. Reaktionäre erzwangen den Rücktritt des reformorientierten
Generalkommandeurs und Truppen wurden in Fabriken geschickt, um nach Waffen zu suchen
(von denen sie jedoch kaum welche fanden). Es liegt auf der Hand, dass man die Rolle des
Militärs in Chile nicht isoliert von der Gesamtsituation betrachten darf, Doch ebenso wie die
Gegnerschaft der Unidad Popular gegen Landbesetzungen durch Bauern ist dies ein weiteres
Beispiel dafür, dass Chiles «parlamentarischer Weg» größeres Vertrauen in das Fair Play und
die Verfassungstreue des Establishments, auch des militärischen Establishments, setzte als auf
die Stärke des Volkes und seiner Eigeninitiative.

In Portugal waren Soldaten und Arbeiter in ihren Reden beieinander, und ein ums andere Mal
wurden die Soldaten gerufen, in Konflikten zu vermitteln. In manchen Fällen entschieden sie
dabei zugunsten der Arbeiter, die eine Fabrik besetzt hatten, vor allem wenn sie bestimmten
Regimentern angehörten, aber dies war nicht die Regel. Häufiger stützten sie entweder die
kommunistische Partei oder die Fabrikbesitzer. Trotz der ganzen Verwerfungen und Unruhen
in Portugal, die dem Sturz von Caetano und später von Spinola folgten, zogen die Radikalen
in der Armee den Kürzeren, ebenso wie diejenigen, die auf die Parole von der Einheitsfront
aus Arbeitern und Soldaten hereingefallen waren. Revolutionär*innen müssen begreifen, dass
Armeen ihrem Wesen nach hierarchische Institutionen sind, die Gehorsam gebieten und sich
ohne Wenn und Aber gegen jede Form von Selbstverwaltung stellen. Und sobald Menschen
sich auf Armeen oder Waffen verlassen, verkümmert ihr Kampf zu einer militärischen
Auseinandersetzung, bei der es nur noch darum geht, wer die größte Macht hat, bei der um
fest gefügte Positionen gekämpft wird und allenfalls kleine Zugeständnisse gemacht werden.

Die Alternativen

Dass ich in dem bisher Gesagten einige Probleme umschifft habe, ist offensichtlich. Ich will
meine eigenen Zweifel an den Chancen einer gewaltfrei-anarchistischen Revolution
keineswegs verbergen. Aber gerade dann, wenn mir die größten Zweifel kommen, muss ich
mir eingestehen, dass es keine gute Alternative dazu gibt.

Als gängige Alternative zu einer Strategie der Selbsterhaltung, bei der wir eine Gegenkultur
entfalten und Stück für Stück an einer Gegengesellschaft bauen, gilt die Gründung einer
Partei – also einer zentralistischen, elitären und hierarchischen Organisation, die darauf aus
ist, ihren Mitgliedern die Richtung des Kampfes zu diktieren und sie zu indoktrinieren.
Parteien werden den Kern eines neuen Staates bilden, wenn ihre Revolution Wirklichkeit
werden sollte und ihre Mitglieder werden dann die neuen Bürokraten sein. Als Mitglied einer
Massenpartei bekommt Mensch kein Gespür für die eigene Macht, mit der sie/er Dinge
beeinflussen kann. Mensch lernt nicht, selbst beurteilen zu können, dass sie viel besser über
die eigene Lage Bescheid weiß als irgendwelche abgehobenen Parteiführer, die die Blauen
Bände von Marx und Engels in- und auswendig kennen.

Was den bewaffneten Kampf angeht, so erfordert auch er Strukturen des Gehorsams,
Hierarchien, Befehlsketten, militärische Disziplin. Er benötigt geheime Versorgungswege und
er schränkt - sofern er auf Nachschub aus dem Ausland angewiesen ist - die eigene
Unabhängigkeit in fataler Weise ein. Ein bewaffneter Kampf funktioniert nicht ohne
Tapferkeit, ohne Brutalität, also nicht ohne jene Art von maskulinem Gehabe, das jeden
Versuch, sich von maskuliner Kultur freizumachen, auf den Sanka-Nimmerleinstag
verschiebt.
Als wir einmal mit einer kleinen Gruppe gewaltfreier Anarchist*innen an einem Treffen
teilnahmen, protestierte ein Teilnehmer gegen unsere Anwesenheit mit den Worten: «Wie
können wir mit Leuten zusammenarbeiten, die dem Volk die Waffen wegnehmen wollen?»
Daraufhin glaubte ein anderer, uns zu verteidigen, indem er erwiderte: «Wir hocken doch alle
im selben Zug. Der Unterschied ist nur, dass die anderen eine Station früher aussteigen.»
Sorry, Bruder: Wir sitzen keineswegs im selben Zug. Anders als wir benutzt du das, was du
als gewaltlose Mittel bezeichnest, nur solange, bis du den Staat mit physischer Gewalt
übernehmen kannst - so wie in der Vergangenheit manche Gruppen gewaltfreie Mittel
eingesetzt haben, um die Unterstützung der Massen zu gewinnen, die sie dann in den
bewaffneten Kampf zu führen hofften. Doch gewaltfreier Anarchismus ist keine Politik, bei
der mensch einfach Halt macht, kurz bevor es zur Gewaltanwendung kommt. Er verlangt
vielmehr eine Revolution anderer Art und anderen Stils: indem mensch sich jeglicher Macht
widersetzt und sie untergräbt, indem mensch sich jeglichen Machtverhältnissen verweigert
und entzieht und indem sie/er Verantwortung für ihr Handeln im Zusammenwirken mit
anderen übernimmt.

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