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Dein persönlicher Wortschatz


von Marija

Als mein Team und ich angefangen hatten, unsere B2 und C1 Kurse zu konzipieren und mit
Materialien zu füllen, beschäftigten wir uns mit der Frage, welcher Wortschatz obligatorisch zum
Niveau B2 oder C1 gehört. Da wurde es sehr schnell sehr unübersichtlich. Es gibt zwar ungefähre
Vorgaben, was Menschen sprechen, schreiben und verstehen müssen, wenn sie diese oder jene
Prüfung bestehen wollen. Dennoch mussten wir feststellen, dass die Lehrbücher für B2 und C1 zum
Teil völlig unterschiedlichen Wortschatz enthielten. Und unsere Kursteilnehmer beschwerten sich
immer wieder über bestimmte Bücher, weil sie „zu kompliziert“ seien und andere wiederum waren
„zu einfach“. So, und nun? Wie ist es dann möglich, was B2 und C1 ist?

Ich muss gestehen, dass ich diese Frage bis heute nicht eindeutig beantworten kann. B2 ist das
Niveau, bei dem man ganz passables alltagstaugliches Deutsch spricht und schreibt, könnte man
sagen. Man ist auch in der Lage, einen halbformellen Brief zu verfassen bzw. einen Forumsbeitrag.
Auf Niveau C1 müssen die Prüfungskandidaten mit anspruchsvollem akademischem Wortschatz
hantieren, sowohl mündlich als auch schriftlich. Das ist die prägnanteste Beschreibung der beiden
Niveaus, die mir in den Sinn kommt.

Ich möchte jedoch an dieser Stelle ein Konzept vorstellen, das in meinen Kursen entstanden ist,
nachdem ich erlebt habe, wie unterschiedlich die Niveaus unserer KursteilnehmerInnen sind, auch
wenn sie im selben Kurs sind und sich auf die gleiche Prüfung vorbereiten. Wenn also die karge
Kombination aus Zahlen und Buchstaben (A1, B2, C1…) uns keine allzu ausführliche Information
darüber liefern, welches Niveau jemand hat und wozu er oder sie sprachlich in der Lage ist, dann
muss es auch andere Wege geben, Sprachkenntnisse zu messen.

Mein Konzept nennt sich „dein persönlicher Wortschatz“ und klingt erstmal recht angenehm. Jeder
hat seine eigene Sprache, daher kann es gar kein Lehrbuch geben, wo der für alle taugliche
Wortschatz aufgelistet ist. Diese Vorstellung ist einerseits befreiend, andererseits etwas
erschreckend, weil somit nicht mehr klar ist, was man zu lernen hat. Ich behaupte jedoch, dass diese
Sichtweise das Ganze doch vereinfacht.

Der persönliche Wortschatz ist weitgehend unabhängig von deinem objektiven Niveau. Es ist der
Wortschatz, den du als Person und Persönlichkeit brauchst, um auch in einer Fremdsprache du zu
sein. Um zu verstehen, was genau ich damit meine, nimm dir bitte 10-15 Minuten Zeit, ein Blatt

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Papier und einen Stift und notiere all die Merkmale, die sich definieren. Ich zeige dir an meinem
Beispiel, was ich meine.

Ich bin…

- eine Frau, Tochter, Mutter, Schwester, Partnerin, Freundin, Tante, Chefin, Kollegin…
- Russin, Lettländerin, Osteuropäerin, deutsche und lettische Staatsangehörige…
- Optimistin, ehemalige Veganerin, nicht religiös, aber durchaus etwas esoterisch orientiert…
- Besitzerin eines Hundes…
- Youtuberin, Creator, Schriftstellerin, Speaker, Motivationstrainerin, Dozentin, Lehrerin…
- Visuell-kinästhetisch orientiert (Lerntyp), ein Nachtmensch, Leseratte (ich lese sehr gerne),
Naschkatze (ich esse gerne Süßigkeiten), ein Faulpelz…
- Introvertiert, vielseitig interessiert, gebildet, irgendwo zwischen Sanguiniker und
Melancholiker angesiedelt
- Entspannt und gelassen in fast allen Lebenslagen, geduldig, humorvoll
- Altruistisch und glaube an das Gute in Menschen
- Ein Sportmuffel, meistens

Ich…

- spreche ca. 6 Sprachen


- kann ziemlich gut kochen, tue es aber selten
- reise gerne
- höre gerne gute Musik, von Beethoven bis Rammstein (und zurück)
- schreibe gerne Geschichten
- kann gut zuhören
- lache gerne und viel
- …

Ich könnte diese Liste noch lange fortsetzen, aber ich hoffe, du verstehst, was ich gemeint hatte.
Jeder Mensch hat unzählige Facetten, die sich zu einer absolut einzigartigen Persönlichkeit
zusammenfügen. Seine Sprache wird durch all diese Facetten bestimmt, nicht nur durch die Prüfung,
die er ablegen muss. Was also ist zu tun?

Meine Empfehlung lautet: Lerne zwar für die Prüfung und mach dich mit dem Format vertraut, stelle
sicher, dass du alle Prüfungsaufgaben gut kennst und lösen kannst. Aber! Parallel dazu vergiss bitte
nicht, dass es auch noch eine zweite Sprache gibt, die es zu lernen gilt: DEINE Sprache.

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Wer bist du und wie und worüber möchtest du sprechen und schreiben? Was interessiert dich? Wo
möchtest du hin? Was ist dein Ziel?

Wie du siehst, kommen wir immer wieder zu diesen Fragen zurück. Warum das so ist? Weil Sprache
niemals etwas Objektives ist, was für alle gleich ist und in identischen Tabletten verabreicht werden
kann. Es gibt keinen Kurs und kein Buch, die genau DEINEN Wortschatz enthalten. Die gute
Nachricht: Wenn du es weißt, kannst du die Verantwortung für deine Sprache übernehmen und dir
Wortschatz auf verschiedenen Quellen schöpfen. Schreiben neben den folgenden Fragen JA oder
NEIN (bzw. wähle die für dich relevante Option).

• Möchtest du über berufliche Themen sprechen/schreiben?


• Möchtest du über deine Familie sprechen/schreiben?
• Ist für dich Humor wichtig?
• Möchtest du optimistisch, pessimistisch oder realistisch auf die Dinge im Leben reagieren?
• Möchtest du mit der Sprache spielen, kreativ schreiben, vielleicht Gedichte schreiben?
• Möchtest du dich über deine Hobbys und Interessen unterhalten können? (Handarbeiten,
Kochen, Gartenarbeit, Einrichtungsdesign, Tennis, F1, Film & Fernsehen, Reisen…)
• Möchtest du deine Gefühle und Emotionen ausdrücken können?
• Möchtest du Probleme lösen und Konflikte bewältigen?
• Möchtest du über deine Wünsche, Vorlieben, Ziele und Visionen sprechen?

Dies sind nur ein paar Beispiele. Es geht prinzipiell darum, dass du dich mit diesem Thema
auseinandersetzt. Ein Arzt benutzt anderen Wortschatz als eine Lehrerin, ein Ingenieur denkt (und
schreibt und spricht) anders als ein Künstler. Ein Teenager benutzt anderes Vokabular als seine
Großeltern. Ein optimistischer Vegetarier benutzt andere Worte als eine cholerische Profisportlerin.

Ich empfehle dir, dein persönliches Wörterbuch anzulegen und dort nützliche Formulierungen zu
notieren, die für DEINEN Alltag und dein Leben nützlich sind. Die Quellen für interessante
Redewendungen sind überall: Wenn du eine Serie auf Netflix schaust, mit Freunden sprichst, im
Museum bist, Marijas Videos auf Youtube anschaust, ein gutes Buch liest… überall findest du
Redewendungen und Ausdrücke, die du übernehmen kannst. Nutze diese Möglichkeit und sammle
deinen Wortschatz so lange, bis du das Gefühl hast, dass du dich in der Fremdsprache genauso
präzise und spontan ausdrücken kannst wie in deiner Muttersprache. Selbstverständlich ist es keine
Aufgabe von Wochen und Monaten – eher von Jahren oder sogar Jahrzehnten. Aber es lohnt sich,
sich damit zu beschäftigen, denn du wirst diesen Wortschatz nie vergessen – er wird ein Teil von dir
sein. Solches Vokabular musst du nicht für die Prüfung auswendig lernen, um ihn dann wieder zu

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vergessen („bulimisches Lernen“ nennt man das sehr treffend) – deinen persönlichen Wortschatz
benutzt du tagtäglich und baust ihn Wort für Wort, Satz für Satz auf.

Als ich angefangen hatte, Spanisch zu lernen, hatte ich meinen mexikanischen Lehrer Mauro lange
darum gebeten, statt Anfängergrammatik und -wortschatz mit mir mexikanische Witze zu lesen und
zu übersetzen. Er war anfangs überrascht und ich erklärte: Für mich ist Humor sehr wichtig. Wenn ich
eine Sprache lernen, möchte ich möglichst schnell mit Worten spielen können und Witze erzählen
und verstehen. Bereits auf dem Niveau A1-A2 wollte ich Witze übersetzen und lernte ganze Sätze
auswendig, obwohl ich die grammatischen Strukturen noch nicht alle verstehen konnte. Aber ich
konnte etwas Witziges auf Spanisch erzählen, das war ein Erfolg!

Ich habe viele Menschen beim Deutschlernen begleitet und betreut und immer wieder folgende
Situation erlebt: wenn das Thema sie nicht interessierte, konnten sie im Unterricht kaum ein Wort
sagen und ich zweifelte daran, ob sie genügend Vokabular hatten. Sobald aber ein Thema
angesprochen wurde, wofür sie brannten, wachten sie schlagartig auf und diskutierten aktiv mit. Ich
habe es bei Müttern und bei Ärzten, bei Künstlern und bei Ingenieuren erlebt – sobald sie sich mit
dem Thema identifizieren konnten, fühlten sie sich darin pudelwohl, auch wenn ihnen noch Worte
fehlten. Hinzu kam der Trick, der mit unserem Gedächtnis immer wieder funktioniert: Wenn wir
etwas interessant finden, bleibt es im Gedächtnis haften. Wenn wir etwas total langweilig finden,
aber lernen müssen (z. B. für die Prüfung), quälen wir uns damit lange, vergessen aber am Ende das
meiste.

Das Geheimnis der schmerzfreien Prüfungsvorbereitung besteht also darin, dass man sich
vorwiegend mit interessanten Themen befasst und die scheinbar uninteressanten so aufbereitet,
dass sie nun doch auch interessant wirken. Manchmal muss man ein wenig tricksen, aber möglich ist
es immer. Für manche Themen braucht man etwas mehr Geduld und Kreativität.

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