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Dr. Seung-Chol Shin

Vom Simulacrum zum Bildwesen:


Ikonoklasmus der virtuellen Kunst

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Dr. Seung-Chol Shin
Vom Simulacrum zum Bildwesen:
Ikonoklasmus der virtuellen Kunst

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.1 Bildpraxis in der virtuellen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.2 Ikonoklasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
1.3 Lebendigkeit des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2 Bild und Blick – Immersive Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . 25
2.1 Bild und Immersion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
2.2 Selbstreflexivität des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.3 Bildmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
2.4 Blick des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3 Körper als Bild – Cyborg Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.1 Anthropologie und Posthuman-Diskurs . . . . . . . . . . . . 65
3.2 Vergegenwärtigungskraft des Körpers . . . . . . . . . . . . . 70
3.3 Lebende Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
3.4 Prothese und Transfiguration . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
4 Realität des Bildes – Telepresence Art . . . . . . . . . . . . . 93
4.1 Posthuman und Telepräsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
4.2 Erweiterung des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
4.3 Bildliche Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
5 Latenz im Bild – Virtuelle Architektur . . . . . . . . . . . . . . 119
5.1 Eine Drehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
5.2 Bild und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
5.3 Bildliche Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
5.4 Materielle Performativität des Bildes . . . . . . . . . . . . . . 141
6 Transgression des Bildes – Bio Art und Artificial Life Art . . . 155
6.1 Leben des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
6.2 Simulacrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
6.3 Automaten in der Ära des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . 171
6.4 Biofakt und Totem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
6.5 Divino artista . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
6.6 Bildliche Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
6.7 Bild und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
6.8 Lebendigkeit des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Meinen Eltern
Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die
im Mai 2010 von der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu
Berlin angenommen wurde.
Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Horst Bredekamp, der über
die Jahre meine Arbeit betreut hat, sodann meinem zweiten Gutachter, Prof. John
Michael Krois (†), für seine Hilfsbereitschaft. Kurz nachdem ich meine Arbeit
abgegeben hatte, nahmen sie mich in ihre gemeinsame Kolleg-Forschergruppe
Bildakt und Verkörperung auf, die damals neu gegründet war. Bei den Diskussio-
nen und Gesprächen konnte ich das Gefühl verstehen, das Henry Moore vor dem
Elefantenschädel und R. Buckminster Fuller vor der Illustration des Facettenauges
der Insekten beschlich. Dafür danke ich den Mitarbeitern/-innen des Kollegs.
Ebenso möchte ich mich für Gedankenaustausch, Ermutigung, Hilfe und
Lektüre des Manuskriptes bei Prof. Peter Weibel, Prof. Stanislaus von Moos,
Prof. Wolfgang Schäff ner und Dr. Matthias Bruhn bedanken. Zu Dank verpflich-
tet bin ich natürlich den Künstlern/-innen Olafur Eliasson, Peter Gerwin Hoff-
mann, Maurice Benayoun, Luc Courchesne, Romy Achituv, Jeffrey Shaw, Rafael
Lozano-Hemmer, Char Davies, Neil Hamon, Yong-Baek Lee, Orlan, Eduardo Kac,
Paul Sermon, Ken Goldberg, Ken Feingold, Stéphane Gilot, Art+Com, Sachiko
Kodama, Ken Rinaldo, Martin Hesselmeier, Karl Sims, Yves Amu Klein, Teresa
Renn, Akira Wakita, Elisabeth King, Suzanne Anker, Christa Sommerer und Lau-
rent Mignoneau.

1. 11. 2011 Berlin


Seung-Chol Shin

7
1 Einleitung

1.1 Bildpraxis in der virtuellen Kunst

Alle Kunstpraxis setzt die Bildpraxis voraus. Diese alltägliche Wahrheit, die bisher
in der Ideologie der Kunst verborgen war, tritt heutzutage mit der These vom Ende
der Kunst in Erscheinung. Das Bild, das in der hegelschen „philosophizing art“1
keinen Ort hatte, kommt nun mithilfe von Arthur C. Danto zu neuer Geltung.2
Das Ende der Erzählung, das Danto proklamiert, ist nicht nur mit der Abschaf-
fung des soliden Kriteriums von Kunst verknüpft, sondern auch mit dem Aufstieg
der Kunst in eine neue Dimension. Die Grenze zwischen high und low bzw. Kunst
und Nicht-Kunst wird allmählich durchlässiger und auch unser Blick, der im
klassischen Kunstdiskurs eingesperrt war, gewinnt eine neue Freiheit. In diesem
Zusammenhang geht Hans Belting einen Schritt weiter. Während Danto immer
wieder versucht, die Kunst nach dem Ende der Kunst zu defi nieren,3 scheint Bel-
ting Interesse an der Dekonstruktion des Paradigmas oder der „Aus-Rahmung“
per se zu haben.4 Er hat die Diskontinuität oder Nicht-Absolutheit des Konzepts
Kunst dadurch auf indirekte Weise bewiesen, dass er der Bildpraxis vor dem Zeit-
alter der Kunst aufmerksam zuhört. Wie in seiner Studie über die mittelalterliche
Ikone zu sehen ist,5 gibt uns die Tatsache, dass es eine Kunst- oder Bildpraxis gab,
bevor das Konzept der Kunst verallgemeinert wurde, die Chance, unser Auge, das
seit einigen Jahrhunderten auf die absolute Kategorie Kunst beschränkt war, zu
dezentralisieren. In dieser Hinsicht hat Hans Belting postuliert: „Eine Geschichte
des Bildes ist etwas anderes als eine Geschichte der Kunst.“6 In der Tat: Erleben wir
nicht heutzutage eine vielfältige Produktion und einen enormen Konsum nicht
künstlerischer Bilder7, die einen großen Anteil an der zeitgenössischen Bildpraxis
haben? Das Monopol, das die Kunst in der Bildpraxis besessen hat, ist verschwun-
den und das Bild kann sich selbst manifestieren. Es rühmt sich heutzutage wieder
seiner kultischen Wirkungsmacht auf den Sozialraum und die Kunst wird in den
Kontext dieser Bildpraxis eingegliedert.8

1 Danto (1999).
2 Siehe ders. (1997).
3 Siehe ders. (1981).
4 Belting (1995), S. 21–23; siehe auch Bredekamp (1997), S. 33.
5 Belting(1990).
6 Ibid., S. 9.
7 Vgl. Elkins (1999).
8 Dazu kritisch: „Questionnaire on Visual Culture“, in: October 77 (Summer 1996), S. 25–70.

9
S.-C. Shin, Vom Simulacrum zum Bildwesen: Ikonoklasmus der virtuellen Kunst
© Springer-Verlag/Wien 2012
Einleitung

In dieser Hinsicht wird der Versuch von Oliver Grau, virtuelle Kunst in die
Bildwissenschaft als „historische Bildforschung“9 einzuführen,10 gerechtfertigt.
Er versucht, Medienkunst, die sich bisher „at the periphery of the discipline of
art history“ 11 befand, zu repositionieren, indem er betont, dass Medienkunst, die
auf „a new technological variety“ bezogen ist, de facto eine lange Geschichte hat.12
Er betrachtet virtuelle Kunst als eine Gattung oder Kunstform, die ihre eigene
Geschichte besitzt13, und unter Bezugnahme auf die „revolution in image space“14
verlangt er, dass wir diese „into the mainstream of art history“ eingliedern.15 Für
ihn ist die heutige virtuelle Kunst, die er, wie der Titel seiner Dissertation bereits
andeutet, als Realisierung der „Sehnsucht des Menschen, im Bilde zu sein“ begreift,
durch die nachhaltige Entwicklung der Technologie zu verstehen. Bei ihm liegt
virtuelle Kunst in der Wechselbeziehung zwischen Mensch und Bild begründet16
und verkörpert ihre eigene Besonderheit und Vielfalt in dem Medienparadigma.
Nun wird virtuelle Kunst in die Tradition der Bildpraxis verlegt und die Verän-
derung der Technologie fließt in das Konzept der Bildmedien17 ein. Diese Annä-
herung von Grau unterscheidet sich von einer eher traditionellen Sichtweise, die
virtuelle Kunst im Rahmen der Neugier und des Jubels über die neuen Medien
behandelt. Auch die neuen Medien würden irgendwann einmal alte und dann
blieben nur Banalität und ein spöttischer Blick auf diese übrig. Aber das Kunst-
oder Bildwollen18 in der virtuellen Kunst ist immer produktiv. Virtuelle Kunst
steht am Übergang. Durch neue Technologien, Materialien und ästhetische For-
men wird sie immer von neuem rekonfiguriert.
Die jüngste Publikation von Frank Popper über die Geschichte der virtuellen
Kunst beginnt genau dort, wo jene von Grau endet.19 Anders als Grau, der virtu-

 9 Vgl. Bredekamp (2003a).


10 Grau (2003), S. 11–13.
11 W. J. T. Mitchell diagnostiziert die Beziehung zwischen der herkömmlichen Kunstgeschich-
te und der neuen Medienkunst: „In the field of art history, with its obsessive concern for the
materiality and ,specificity’ of media, the supposedly ,dematerialized‘ realm of virtual and
digital media, as well as the whole sphere of mass media, are commonly seen either as beyond
the pale or as a threatening invader, gathering at the gates of the aesthetic and artistic citadel.“
Mitchell (2005), S. 205; vgl. die „ghetto-isation“ der Medienkunst bei Gere (2005).
12 Grau (2007), S. 8.
13 Siehe Grau (2003).
14 Ders. (2007), S. 10.
15 Ibid., S. 8.
16 Ibid., S. 5.
17 Zu den Bildmedien Bredekamp (2003b).
18 Jörg Trempler zufolge ist Kunstwollen nicht nur auf künstlerische Bilder, sondern auch auf
nicht künstlerische Bilder bezogen, insofern als Alois Riegl meint, dass nicht nur Kunst-
werke, sondern auch Naturdinge einem Stilwandel unterworfen sind, weil „[…] sie sich zwar
selbst nicht ändern, die Bilder, die wir uns von ihnen machen, sich aber geändert haben.“ In
diesem Zusammenhang schlägt Trempler vor, die Aktualität des Bildes als Bildwollen zu be-
zeichnen. Siehe Trempler (2009).
19 Popper (2007).

10
Bildpraxis in der virtuellen Kunst

elle Kunst im Rahmen des Medienparadigmas untersucht, schreibt Popper ihre


Geschichte in Bezug auf „the techno-aesthetic achievement“.20 Zwar könne man
die Frage stellen, ob „aesthetic advance“ überhaupt möglich sei, aber sein aufstre-
bendes Projekt, das die ästhetische Qualität der virtuellen Kunst im technischen
Wandel betrachtet, ist sehr überzeugend. Die Diversität der virtuellen Kunst, die
bei Grau in die Geschichte von Illusion und Immersion eingegliedert ist, wird bei
Popper in Zusammenhang mit der Diagnose von Pierre Lévy, also „the virtuali-
zation of art and the subsequent humanization of technology“21, gebracht. Pierre
Lévy hat Virtualität in Anlehnung an Gilles Deleuze, der dieser Potenzialität zuge-
schrieben hat, mit der Frage nach Aktualisierung verbunden und diese mithilfe
des Möbius-Effekts charakterisiert.22 Ihm zufolge ist dieser auf „transition from
interior to exterior and from exterior to interior“ 23 bezogen. Das heißt, das Merk-
mal der Virtualität sei in der Verkettung von oder an der unscharfen Grenze zwi-
schen verschiedenen Bereichen wie etwa dem Öffentlichen und dem Privaten, dem
Persönlichen und dem Gemeinsamen sowie dem Subjektiven und dem Objektiven
zu entdecken. Durch die Lehre Jean Baudrillards über „Hyperrealität“ sind wir an
dieses Phänomen schon gewöhnt.24 Die Verschmelzung von Wirklichkeit und Bild
bzw. von Land und Landkarte charakterisiert nicht nur unsere Kultur, sondern
auch die Bildpraxis der virtuellen Kunst.
In dieser Hinsicht betont Lévy noch einmal, dass „visualisation should not be
thought of as necessarily accompanied by disappearance or loss”,25 und weist auf
die Vermenschlichung der Technologie hin.26 Vielmehr sei sie mit der Materiali-
sierung verknüpft.27 Wie die technologische Virtualisierung oder die Aktualisie-
rung des Werkzeugs die gewöhnliche Geste der Menschen in anderer Form mate-
rialisiere und dieses Werkzeug uns als ein Objekt einen Zugang zu „an indefinite
set of possible uses“ ermögliche,28 erlaube die Kunst uns durch Virtualisierung

20 Ibid., S. 396.
21 Ibid., S. 395.
22 Lévy (1998a), S. 23–34.
23 Ibid., 33 f.
24 Siehe Baudrillard (1996).
25 Lévy (1998a), S. 94.
26 Ibid., S. 18.
27 Ibid., S. 94.
28 Lévy schreibt weiter: „[…] following Marshall McLuhan and André Leroi-Gourhan, it is
sometimes said that tools are the continuation or extension of the body. Th is theory doesn’t
seem to do justice to the specificity of the technological phenomena, however. You can give
your cousin a piece of cut silex. You can produce thousands of bifaces. But it is impossible for
you to grow more fi ngers or lend them to your nextdoor neighbor. A tool is more than just an
extension of the body; it is the virtualization of an action. The hammer may give us the illu-
sion of being an extension of our arm. A wheel is obviously not an extension of our leg but a
virtualization of walking. There are few virtualizations of action and many actualizations of
tools. The hammer could have been invented three or four times during the course of history.
Let’s say there were three or four virtualizations. But how many times has a hammer been
struck? There have been billions and billions of actualizations. The tool and the performance

11
Einleitung

„to share a way of feeling, a subjective quality of experience“.29 Das heißt, sie wird
durch Virtualisierung zum Objekt des Sinns. Oder umgekehrt: Sie ist als Objekt
des Sinns im Prinzip virtuell. In Bezug auf diese Virtualisierung oder Materiali-
sierung der körperlichen Handlung hat Frank Popper behauptet, dass die Techno-
logie, die für virtuelle Kunst eingesetzt wird bzw. diese ermöglicht, dem kreativen
Prozess des Kunstwerks „human commitment“ 30 zuschreibe. Was die Behaup-
tung von Pierre Lévy angeht, dass wir durch technologische Virtualisierung eine
neue physische Beziehung zu der Welt herstellen können,31 werde das grundle-
gende Bedürfnis oder der Drang des Menschen vom Künstler auf irgendeine
Weise in virtueller Kunst optimiert und realisiert.32 In der Tat können wir „human
value“, der im partizipatorischen, interaktiven, immersiven oder kreativen Prozess
der virtuellen Kunst verborgen ist, ohne Schwierigkeit entdecken. Denn virtuelle
Kunst inszeniert im Prinzip nicht nur die Interaktion zwischen Menschen und
Bild, sondern auch zwischen Menschen und Maschinen bzw. Menschen und Men-
schen. Mit Blick auf diese Vermenschlichung der Technologie ist virtuelle Kunst
einerseits auf Bildpraxis als körperlichen Akt oder Virtualisierung des Sinns bezo-
gen und andererseits wird sie in den künstlerischen Kontext oder von diesem Kon-
text heraus in die kulturelle Praxis, bei der es um die Tendenz zur globalen Virtua-
lisierung geht, eingegliedert.
Kunst bzw. virtuelle Kunst in unserem Sinne, die im Prinzip auf einen autono-
men, ästhetischen Schein bezogen ist,33 verkörpert nun die historische, kulturelle
Perspektive.34 Bei Grau wird virtuelle Kunst auf die Beziehung zwischen Mensch
und Bild reduziert und kann im Medienparadigma Historizität erlangen. Bei Pop-
per verkörpert sie in der techno-ästhetischen Perspektive „human value“ oder kul-
turelle Aspekte. Virtuelle Kunst ist zutiefst auf den technologischen Fortschritt
bezogen und dessen ästhetische Implikation spiegelt die Begierde des Menschen
wider, welche die technologische Entwicklung leitet. In der Tat realisiert die heu-
tige virtuelle Kunst durch die nachhaltige Entleihung neuer Medien und Techno-
logien das, was wir bisher vom Bild nur in der ästhetischen Dimension erwartet
haben. Um die Geschichte und Ästhetik der virtuellen Kunst, die in der zweiten
Hälfte des letzten Jahrhunderts Aufmerksamkeit erregt, zu beschreiben, scheinen
Grau und Popper ihre beste Strategie einzusetzen. Das Medien- oder Technologie-

of its form are the memory of the original moment of virtualization of the actual body.“ Ibid.,
S. 95 f.
29 Ibid., S. 99.
30 Popper (2007), S. 396.
31 Lévy (1998a), S. 97.
32 Siehe Popper (2007), S. 6.
33 Vgl. Adorno (1997).
34 Unter diesen Umständen können weder Kunst noch Kunstgeschichte ihre Autonomie ge-
währleisten. Hans Belting stellt fest: „Je mehr die innere Einheit einer autonom verstandenen
Kunstgeschichte zerfiel, umso mehr löste sie sich in das ganze Umfeld der Kultur und der
Gesellschaft auf, zu dem man sie rechnen konnte.“ Belting (1995), S. 22.

12
Bildpraxis in der virtuellen Kunst

paradigma ist das klassische und einzige Kriterium, das virtuelle Kunst von den
anderen Künsten unterscheidet.
Diese Besonderheit der virtuellen Kunst ist aber, wie gesagt, in die Allgemein-
heit der Bildpraxis eingeführt. Bei Grau kann das Medienparadigma vor allem in
der Beziehung zwischen Betrachter und Bild seinen Sinn erweisen. Und die ästhe-
tische Implikation, die darin besteht, dass „ein immanenter künstlerischer Trieb“35
durch Begegnung mit der Technologie aktualisiert wird, entspricht dem, was Pop-
per auch zeigen möchte, wenn er schreibt, „how technology is – or can be – huma-
nized through art“.36 Das Bild in der virtuellen Kunst verkörpert Historizität und
durch das Zusammentreffen mit den neuen Medien oder Technologien vergegen-
wärtigt es sich ununterbrochen in neuen ästhetischen Formen. In diesem Zusam-
menhang wird virtuelle Kunst in der Beziehung zwischen Kunstwollen und Bild-
medien erfasst und in die lange Geschichte der Bildpraxis eingegliedert. Dies ist
genau der Ansatzpunkt der vorliegenden Studie, die sich dem ikonischen, ästheti-
schen Prozess des Bildes der virtuellen Kunst widmet.
Das Bild ist zwar Ergebnis der Virtualisierung, aber es erlebt gleichzeitig eine
Materialisierung. Es konstituiert nämlich unsere physikalische Welt und entschei-
det, wie wir auf die Welt treffen. Aber das Bild ist keine bloße Hervorbringung von
Medien oder Technologien. Vielmehr ist das, was es in den neuen Medien oder
Materialien manifestiert, nichts anderes als es selbst. In diesem Sinne hat W. J. T.
Mitchell images als „mental things“ betrachtet und festgestellt, dass sie nicht nur
durch visuelle Medien, sondern auch durch Sprache, Erinnerung, Traum oder
Phantasie virtualisiert bzw. materialisiert werden können.37 Diese Tendenz zur
Virtualisierung des Bildes ist auch von Karl Clausberg in Analogie zur meme von
Richard Dawkins38 erfolgreich erklärt worden.39 Bilder verkörpern eine kulturelle
Bedeutung, indem sie sich in verschiedenen Medien transformieren und evolvie-
ren. Bisher ist diese Virtualisierung oder Materialisierung immer im Rahmen des
klassischen Kunst-Begriffs zu beobachten und zu erklären gewesen. Kunst hat hier
als ein Spiegel gedient, der zeigt, wie Trieb und Begehren, die im Bild immanent
sind, auf neue Medien treffen und damit in eine Gesellschaft eingliedert werden.
In der Tat schützt Kunst uns davor, dass wir direkt dem Bild ausgesetzt werden. Sie
schließt die magische Kraft des Bildes in der ästhetischen, virtuellen Dimension
ein. In der Beobachtung von David Freedberg und Hans Belting hat sie die unkon-
trollierbare Kraft des Bildes virtualisiert.40 In der so genannten Ära der Kunst
sind wir immer einem gespiegelten Bild begegnet. Die künstlerische Imagination
hat unseren Glauben an das Bild ersetzt und als Immunsystem gegen die Anste-

35 Riegl (1983), S. 20; zum Kunstwollen siehe auch ders. (2000).


36 Popper (2007), S. 5.
37 Mitchell (2005), S. 84; zur Unterscheidung von image und picture ibid. (1994), S. 4.
38 Siehe Dawkins (2006).
39 Clausberg (2009), S. 333–336.
40 Siehe Freedberg (1989) und Belting (1990).

13
Einleitung

ckungsgefahr des Bildes41 gedient. Uns konnte von der Kunst Sicherheit gewähr-
leistet werden.
Die Bildpraxis der virtuellen Kunst entkommt aber diesem Schutzgebiet. Vir-
tuelle Kunst ist auf die technische Realisierung des Bildakts42, der lange Zeit nur
in der ästhetischen oder hermeneutischen Tradition gesehen wurde, bezogen. Sie
führt die Reste des Bildes, die sich bis jetzt außerhalb der Idee der Kunst befan-
den, in diesen Kontext. Die Virtualisierung des Bildes ist also auf die Emanzi-
pation der magischen Kraft des Bildes bezogen. Pierre Lévys Identifikation von
Virtualisierung und Materialisierung ist daher in der virtuellen Kunst als Merk-
mal der Aktualisierung oder Realisierung des Bildes zu verstehen. Im Medien-
oder Technologieparadigma überwältigt die Bildpraxis der virtuellen Kunst die
virtuelle Dimension der klassischen Kunst. Wir begegnen nicht mehr von Kunst
gereinigten Bildern, sondern direkt groben Bildern per se. Die so genannte Maß-
losigkeit des Bildes überwältigt uns.43 Das Bild blickt uns an, wo wir es sehen.44
Es begehrt und führt sein eigenes Leben.45 Es erklärt sich als eine Realität und
zugleich als Lebewesen. In der Bilderfahrung begegnen wir immer seiner Ikonizi-
tät, aber gleichzeitig erfahren wir in der bildlichen Realität auch seine Wirkungs-
macht. Bilder berühren, ergreifen und erschüttern uns.46
Virtuelle Kunst zeigt die bildliche Realität, die die klassische Idee der Kunst
überwältigt. Wenn wir uns in diesem posthistorischen Zeitalter47 nicht an den
klassischen Begriff „Kunst“ klammerten, würden der ikonische, ästhetische Pro-
zess des Bildes und der Mechanismus der virtuellen Kunst in ihrer analogischen
Beziehung bis zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen. In diesem Zusammen-
hang wird die vorliegende Arbeit gerechtfertigt, die die virtuelle Kunst durch die
Untersuchung des ikonischen, ästhetischen Prozesses des Bildes oder umgekehrt
den Mechanismus des Bildes durch virtuelle Kunst beleuchten soll.

1.2 Ikonoklasmus

Das Bild ist im Prinzip Simulacrum oder Artefakt.48 Es ist nämlich die Hervor-
bringung einer Materialisierung, existiert aber nicht wirklich.49 Das heißt, es ist
virtuell, aber erzeugt körperliche Wahrnehmung und beeinflusst unsere Reali-
tät. Die Ikonizität des Bildes verknüpft sich daher immer mit unseren Sinnen. Die

41 Vgl. Schraub (2003).


42 Zum Begriff „Bildakt“ siehe Bredekamp (2010).
43 Siehe Reichle (2009).
44 Siehe Didi-Huberman (1999).
45 Siehe Mitchell (2005).
46 Krämer (2009), S. 31.
47 Vgl. Belting (1995), S. 179–192.
48 Vgl. Alberti (2000a), 1, S. 142.
49 Vgl. Serre (2005).

14
Ikonoklasmus

Bilderfahrung ist multisensorisch. In einem ikonischen Prozess durchdringt das


Bild unseren Körper und verursacht affektive Veränderungen.50 Die Bilderfahrung
setzt immer eine innere oder äußere Verbindung von Betrachter und Bild voraus.51
Aber die Beziehung zwischen den beiden ist nicht immer transparent, denn bei
der Bilderfahrung sind wir immer mit einer Ungewissheit konfrontiert.52 Das Bild
offenbart seinen Wirkmechanismus nicht. Es verwirrt und verlockt uns immer.
Leonardo da Vinci schreibt: „Nicht enthüllen, wenn dir die Freiheit lieb ist, denn
mein Antlitz ist Kerker der Liebe.“53 In diesem Sprachbild schützt der Schleier den
Betrachter vor dem Bild, wie er die Juden vor dem Glanz des Angesichts von Moses,
der vom Berge Sinai herabstieg, schützte.54 Es ist aber fast unmöglich, bei der Bild-
erfahrung diesen Abstand zu halten. Auch wenn wir das Bild physikalisch auf Dis-
tanz hielten, machte seine große Macht uns wehrlos und ergriffe uns. Horst Bre-
dekamp hat diese Macht des Bildes in Anlehnung an den Terminus speechact von
John Austin55 in seiner „Theorie des Bildakts“ 56 thematisiert. Wie ein speechact
den Zuhörer zu einer Handlung oder einem Affekt veranlasse, so beeinflusse das
Bild auch das Empfinden, Denken und Handeln des Menschen. Ihm zufolge wird
durch diesen Bildakt das Bild wie folgt erklärt:

„Bilder sind nicht Dulder, sondern Erzeuger von wahrnehmungsbezogenen


Erfahrungen und Handlungen; dies ist die Quintessenz der Lehre des Bild-
akts.“57

Hier betont er, dass Bilder nicht auf ihre Abbildungsqualität und ihre repräsentati-
ven Funktionen zu reduzieren sind, sondern in der Rekonstruktion einer aktivie-
renden Lebendigkeit bestehen. Das Bild ist zwar vom Menschen geschaffen, aber
es besitzt Eigenaktivität und führt uns somit. Deshalb ist das Bild, Bredekamp
zufolge, als „eigene Entität und unmittelbar Fakten schaffender Akteur“ zu begrei-
fen. Daraus ist das Verständnis vom Bild als Lebewesen abzuleiten.58 Bilder füh-
ren ein eigenständiges Leben und sind als Lebewesen zu verstehen.59 Und sie zie-
hen den Betrachter in ihre ikonische Differenz60 bzw. in ihren ikonischen Prozess

50 Siehe Elkins (2001); zum Perspektivewechsel von der menschlichen Wahrnehmung der Din-
ge zur Vitalität der Dinge Bennette (2010).
51 Siehe Belting (2001) und Krois (2006).
52 Didi-Huberman (1999) S. 14 ff.
53 „Non iscoprire se libertà / t’è cara ché ´l volto mio / è charciere d’amore“ Leonardo (1930–36),
Bd. 3, 1934, Fol. 10v, S. 16. Die Übersetzung in Anlehnung an Bredekamp (2010) S. 17; zu
Leonardos Wirkungsästhetik Fehrenbach (1997), S. 321–331.
54 2. Mose 34:29–35.
55 Austin (2002).
56 Bredekamp (2010); siehe auch ders. (2002), S. 169 sowie ders. (2004), S. 29 f.
57 Ders. (2010), S. 326.
58 In der Tat schreibt Bredekamp dem Bild „Lebensrecht“ zu. Ibid., S. 328.
59 Mitchell (2005), S. 105.
60 Boehm (1994a), S. 29-36.

15
Einleitung

hinein. Sie bilden als eine Realität die soziale Formation und konstituieren ein
Kollektiv mit uns.61
Bruno Latour zufolge sind die Menschen „nicht mehr unter sich“.62 Das gilt auch
für die Bilder. Das heißt, der Bildakt ist im Prinzip interaktiv. Bilder besitzen ein-
deutig eine Eigenaktivität. Aber man kann auch sagen, dass diese Eigenaktivität
der Bilder in Bildakten oder aus Bildakten geschieht. Der Bildakt setzt somit, wie
gesagt, eine innere oder äußere Verbindung von Betrachter und Bild voraus. Ohne
eine solche Beziehung unterscheiden sich Bilder nicht von bloßen Dingen.63 Aber
richtet sich nicht unser primitiver Glaube, wie die Studien von Bruno Latour und
Harmut Böhme64 zeigen, auch nach bloßen Dingen? Den beiden Studien zufolge
hebt die Irrealität der Ideologie des Modernismus, die auf der strikten Gegenüber-
stellung von Natur und Kultur, Subjekt und Objekt bzw. Dingen und Geist beruht,
eher unser primitives, ästhetisches Verhalten, das wir bis jetzt fortsetzen, hervor.65
Hans Belting hat in seinem Buch, das die Bildpraxis vor der Ära der Kunst behan-
delt, erklärt: „Der Mensch hat sich nie von der Macht der Bilder befreit.“66 In der
Tat dehnt die Bildpraxis der virtuellen Kunst die Ära des Bildes bis in die heutige
Zeit aus. Aber mithilfe der dazu eingesetzten neuen Medien und Technologien
wird das Bild sich nicht in ein passives Objekt des Glaubens, sondern in einen akti-
ven Produzenten desselben verwandeln. In dem Medien- oder Technologiepara-
digma wird die Macht des Bildes als Objekt des Rituals und Kults noch verstärkt
und unser Glaube daran vertieft sich immer mehr.
Der Diagnose Baudrillards über unsere Realität zufolge stellt das Bild als Simu-
lacrum die Welt nicht vor, sondern es manifestiert sich selbst.67 Oder, Vilém Flusser
zufolge, verstellen die Bilder die Welt, „bis der Mensch schließlich in Funktion der
von ihm geschaffenen Bilder zu leben beginnt“.68 In dieser Hinsicht hat Flusser
eine solche „Umkehrung der Bildfunktion“ als „Idolatrie“ 69 bezeichnet. Die Bilder
strukturierten unsere Wirklichkeit magisch um und der Mensch vergesse, dass
„er es war, der die Bilder erzeugte, um sich an ihnen in der Welt zu orientieren“.70
Wir genießen die visuelle Täuschung in der heutigen Kultur des Bildkonsums und
„entziehen den Bildern den Glauben, dass sie mehr sind als Bilder“.71

61 Vgl. Latour (2008), S. 11.


62 Ibid. (2000), S. 231.
63 Vgl. Bergson (1964), S. 56.
64 Böhme (2006b).
65 Siehe Latour (2008) und Böhme (2006b); vgl. auch Mitchell (2005), S. 76–106.
66 Belting (1990), S. 27.
67 Baudrillard (1996).
68 Flusser (1994), S. 9.
69 Ibid., S. 17.
70 Ibid., S. 10.
71 Belting (2005a), S. 26.

16
Ikonoklasmus

In diesem Bildglauben oder in dieser bildlichen Realität fällt Hans Belting


zufolge der Unterschied von Ikonen und Idolen in sich zusammen.72 Heutzutage
täuschten die Bilder Realität nur vor, „als ob es ohne sie keine Realität mehr gäbe“.
Die so genannten leeren Bilder, die von dem klassischen Referenzsystem befreit
sind, zeigen sich schlechthin selbst und ihre Fiktion wird de facto zu unserer Rea-
lität. Wie Realität und Phantasie voneinander nicht mehr unterscheiden sind, geht
auch der Unterschied von Bild und Fakt verloren. In diesem Zusammenhang
erklärt Hans Belting, dass Idolatrie sich zu einem Ikonoklasmus wandle.73 In der
Tat enthält das Bild in der virtuellen Kunst den ikonoklastischen Impuls, insofern
es aus der ästhetischen, virtuellen Dimension heraus zu einer Realität wird. Indem
es einen ästhetischen, physikalischen Einfluss auf die Realität des Betrachters aus-
übt, wird es zum Objekt des Glaubens. Deshalb überschneidet sich der Bildglaube
immer mit dem ikonoklastischen Impuls des Bildes. Gottfried Boehm hat dieses
Phänomen deutlich diagnostiziert:

„Bild soll nicht sein, Realität soll sein, genauer: das Bild soll Realität werden.“74

Er scheint hier das Repräsentationssystem des Bildes im Sinn zu haben. Denn mit
dem Verweis auf eine vorangehende Stelle zur Idolatrie-Szene im Exodus75 betont
er, dass das Goldene Kalb im jüdischen Glauben nicht ein bloßes, lebloses Ding,
sondern „der Gott“ 76 sei. In der Bildpraxis der Juden verschmelzen das Bild und
sein Inhalt bis zur Ununterscheidbarkeit. In diesem Zusammenhang formuliert
Boehm die Verschmelzung von einem Artefakt, etwa dem Goldenen Kalb, und
dessen Inhalt bildtheoretisch um:

„Es [= das Bild] verkörpert, zielt auf reale Präsenz.“77

Unser Bildglaube fällt immer mit der „ikonischen Ineinssetzung“ zusammen, die
im ästhetischen, ikonischen Prozess des Bildes geschieht. Die Idolatrie basiert
somit auf dem ikonoklastischen Impuls, der in diesem ikonischen Prozess des Bil-
des verborgen ist. Hier fällt das binäre Modell von rituellem und ikonischem Pro-
zess in sich zusammen. Nun können wir durch die ikonische Differenz des Bildes
die Bildpraxis als einen kulturellen Akt beleuchten.

72 Ibid., S. 15.
73 Ibid., S. 26.
74 Boehm (1994b), S. 336.
75 2. Mose 32:1–35.
76 Boehm (1994b), S. 330.
77 Ibid., S. 331 (Anm. d. Verf.).

17
Einleitung

In einem Repräsentationssystem hebt das Bild sich selbst auf, um zu einem per-
fekten Bild zu werden bzw. um seinen Inhalt hervorzuheben.78 Boehm hat dieses
Paradox mithilfe der ikonischen Differenz, die im Bild verborgen ist, erklärt:

„[…] dass die Bilder selbst Optionen ausüben, die entweder tendenziell bilder-
freundlich bzw. bildstärkend sind oder auch bilderfeindlich, bildnegierend. Die
Kriterien dieses inneren Bilderstreits […] lassen sich mittels des Theorems der
ikonischen Differenz formulieren. In der spannungsvollen Beziehung, die sich
im visuellen Grundkontrast zeigt, gibt es […] die Möglichkeit, dass Bilder ganz
selbstvergessen in der Illusionierung von etwas Dargestelltem aufgehen oder –
umgekehrt – ihr bildliches Gemachtsein betonen. In Extremis verleugnet sich
das Bild als Bild ganz, um die perfekte Repräsentation einer Sache zustandezu-
bringen.“79

Heutzutage scheint virtuelle Kunst dieses Ziel zu erreichen, indem sie eine per-
fekte Realität oder ein Lebewesen per se hervorbringt. Das heißt, ihr ikonischer
Prozess verbindet Virtualität und Wirklichkeit, wodurch die Bildlichkeit des Bil-
des eher verborgen wird. Dies ist genau der Grund, wieso wir die Bildpraxis der
virtuellen Kunst aufmerksam betrachten sollten. Der ikonische Prozess, der in der
virtuellen Kunst beobachtet wird, richtet sich immer auf tatsächliche Lebendigkeit.
Wie die Skulptur von Pygmalion zu einer lebendigen Frau transformiert wurde,80
aktualisiert das Bild in der Idee der Lebendigkeit seinen ikonoklastischen Impuls.
Die Bilder möchten nicht mehr leere Trugbilder bleiben. Wie in der Artificial Life
Art oder Bio Art zu beobachten ist, verbirgt das Bild seine Bildlichkeit und mani-
festiert sich in Form eines echten Lebewesens. Indem es die Technologie aktiv auf-
nimmt, überwindet es seine Grenzen. Und damit erfüllt es unsere Erwartung bzw.
unseren Glauben daran. Es stellt, als Wirklichkeit und Lebewesen, eine ästheti-
sche, physikalische, biologische und soziale Beziehung zum Betrachter her.
Heutzutage ist in der virtuellen Kunst zu beobachten, dass das, was Simulacrum
gewesen ist, Leben wird. Neben der Aktualisierung des ikonoklastischen Impulses
wandelt das Bild sich zum Lebewesen oder zur Realität. In diesem Zusammen-
hang reden wir nicht mehr von der Analogie von Bild und Organismus, sondern
von deren Verschmelzung oder Einheit. Bei der Bildpraxis in der virtuellen Kunst
wird das Bild zu dem, was sowohl Bild als auch Nicht-Bild ist, wohingegen sich
das Lebewesen oder die Realität zum Bild erklären. Die Bejahung dieser doppel-
ten Existenz setzt immer die Transgression des Bildes voraus. Das heißt: In die-
sem Zusammenhang wird das Bild selbst zum Beinahe-Nichts oder Beinahe-Alles.

78 Um eine perfekte Illusion zu schaffen, täuscht das Bildmedium hier vor, dass es nicht exis-
tiert. In dieser Hinsicht bezeichnet Arthur C. Danto die Beziehung von Bildmedien und
ihren Inhalten als „transparency theory“. Siehe Danto (1981), S. 158.
79 Boehm (1994a), S. 34.
80 Vgl. Stoichita (2008).

18
Ikonoklasmus

Diese Erweiterung des Bildbegriffs oder umgekehrt die Bildnegation, die neben
dem Auft reten der virtuellen Kunst phänomenal beobachtet werden kann, kön-
nen wir als Ende des Simulacrums oder als Ende des Bildes bezeichnen. Das Ende
des Bildes bedeutet kein buchstäbliches Ende. Vielmehr sollte es als letzter Slogan
betrachtet werden, der die Bildlichkeit des Bildes, die in der Transgression und
Maßlosigkeit des Bildes verbleicht, beschützt, wie die Rede vom „Ende der Kunst“
rhetorisch verstanden wurde. Die Dekonstruktion des Rahmens oder Paradigmas,
die Danto und Belting in der Geschichte der Kunst vorgenommen haben, sollte in
erster Linie für die heutigen Bilder geltend gemacht werden. Denn wie die Produk-
tivität der Kunst, die vom klassischen Repräsentationssystem befreit ist, könnten
die Bilder auch dadurch in eine neue Dimension springen, dass sie von dem Selbst-
verständnis als Simulacrum befreit werden oder umgekehrt dieses vervollständi-
gen.81 Die verschiedenen Nebenprodukte im so genannten Zeitalter der Techno-
science wie etwa der Cyborg oder das Biofakt erwarten in dieser Hinsicht als Bilder
behandelt zu werden. Der Terminus „Bildwesen“ bezieht sich auf solche lebendige
Bilder. Als Zusammensetzung aus Bild und (Lebe-)Wesen bezeichnet er das in der
Bildpraxis erzeugte Lebewesen. Im heutigen technischen Paradigma bleibt das
Bild nicht bloßes Bild, sondern realisiert seinen ikonoklastischen Impuls mithilfe
der inneren Bewegung des Materials oder Mediums. In der Tat würde das Bild, das
sich in einem Organismus manifestiert, je nach dessen Wachstum und Bewegung
entstehen und absterben und seine Form würde im Verlauf dieser Veränderungen
gebildet. Solche Bilder verkörpern die intrinsische Energie oder Logik des Mate-
rials.82 Sie können zwar ihren Urheber haben, aber ihr Leben und ihre Figuration
tragen eine potenzielle Möglichkeit in sich, ihr Leben oder ihre Form selbst zu ent-
falten. Das heißt: Sie sind autonom und unabhängig. Bildwesen als lebendige Bil-
der erschließen performative Kapazität und bilden sich selbst. Sie sind zwar lebend,
aber in der Idee des Materials können sie sich der heft igen Diskussion um die Defi-
nition des Lebens entziehen. Dadurch gelingt es ihnen, die Bildlichkeit des Bildes,
die in der heutigen Transgression des Bildes obsolet wird, zu bewahren.
So aktualisieren die Bilder ihren ikonoklastischen Impuls im ikonischen Pro-
zess. Sie manifestieren sich nicht nur ästhetisch, sondern auch technisch. Die
Kreativität oder Begierde des Menschen begegnet im Medien- oder Technolo-
gieparadigma dem ikonoklastischen Impuls des Bildes. Die Bilder als Lebewesen
werden deshalb durch den ikonischen Prozess in die Naturgeschichte oder in die
kulturelle Praxis eingegliedert. Und unsere Ikonologie verknüpft sich auch mit

81 Dies ist auch in der künstlerischen Praxis des letzten Jahrhunderts zu beobachten. Peter
Weibel zufolge sind Fluxus, Happening und Action Art als die ersten künstlerischen Stra-
tegien zu verstehen, die Repräsentation auf mehreren Ebenen durch Realität ersetzten. Sie
ersetzten beispielsweise das Bild eines Hundes durch einen echten Hund und das Bild des
Schmerzes wurde in realen Schmerz transformiert. Neben dieser künstlerischen Tradition
können wir heutzutage das Bild in der echten Aktion oder im tatsächlichen Leben ablesen.
Siehe Weibel (2002), S. 664 ff.
82 Siehe Shin (2011).

19
Einleitung

Physik83 oder Biologie84. In diesem Zusammenhang können wir vom „pictorial


turn“85 oder „iconic turn“86 in der virtuellen Kunst reden. Die Bilder geben immer
mehr als unsere Erwartung an sie zurück. Die Lebendigkeit des Bildes ist immer
auf diese Transgression oder auf das Ende des Bildes bezogen. In dieser Hinsicht
könnte der Ikonologie als der Wissenschaft von den Bildern ihre Aufgabe gestellt
werden: Sie wird in der virtuellen Kunst eingesetzt, um die Lebendigkeit des Bildes
in dessen ikonischem Prozess zu thematisieren.

1.3 Lebendigkeit des Bildes

Die Lebendigkeit des Bildes wird im Bildakt oder im ikonischen Prozess des
Bildes – in unserem Sinne – aktualisiert. Das Bild zieht den Betrachter in seine
ästhetische, technische und körperliche Beziehung hinein, indem es sich als ein
Lebewesen manifestiert. In der immersiven virtuellen Kunst, die im 2. Kapitel
behandelt wird, wird das Bild für den Betrachter zu einer Realität. Es referenziert
sich selbst und aktualisiert den ikonoklastischen Impuls, den es in sich verborgen
hält. Da aber die Selbsterkenntnis und die Aktualität des Bildes immer den Blick
des Betrachters voraussetzen, sind Betrachter und Bild voneinander abhängig. Das
Bild wird in der Interaktion mit dem Betrachter zu einer Realität und inszeniert
die Selbstreflexion des Betrachters in einem Immersionszustand.
Wir können diesen Raum, der vom Bild erzeugt ist, als ikonischen Blickraum
bezeichnen. Denn bevor der Betrachter auf ein Bild trifft, ist der Blick immer schon
im Bild verborgen.87 Wie der Betrachter mithilfe der Perspektive, in der sein Blick
virtualisiert ist, mit einem virtuellen Blick also, der von seinem Körper abgelöst
ist, das Bild erfährt, reagieren die zahlreichen virtuellen Blicke, die auf dem Bild-
schirm allgegenwärtig sind, in der immersiven virtuellen Kunst auf die Bewegung
des Betrachters. Diese Animation des Bildes ist nichts anderes als ein Merkmal
der Lebendigkeit des Bildes. Der Blick aus dem Bild blickt immer den Betrachter
an, erweckt und konstituiert ihn.88 Wie der Blick Gottes schließt er sich um den
Betrachter und referenziert seine Existenz. Die „Ikonologie des Blicks“89 wird für
die Untersuchung über den Raum, in dem die Lebendigkeit des ikonischen Blicks
wirkt, eingesetzt.
Im 3. und 4. Kapitel der vorliegenden Arbeit wird die Ikonologie des Körpers
thematisiert. Wie die Ikonologie des Blicks nicht den Blick des Betrachters als

83 Siehe Belting (2001), S. 12.


84 Vgl. Mitchell (2008a), S. 61–67.
85 Ders. (1992).
86 Boehm (1994a).
87 Belting (2006a), S. 21.
88 Vgl. Didi-Huberman (1999).
89 Siehe Belting (2005c), ders. (2006), S. 121 und S. 123 sowie ders. (2008), S. 9–12 und S. 23.

20
Lebendigkeit des Bildes

externen Faktor, sondern den virtuellen oder ikonischen Blick behandelt, der im
Bild verborgen oder in dieses übertragen ist, geht es bei der Ikonologie des Körpers
um die Beziehung zwischen dem menschlichen Körper als Bildmedium und dem
Bild. Im anthropologischen Verständnis von Belting ist das Bild immer auf den
vorangehenden Körper bezogen. Das Bild repräsentiert und vertritt nicht nur den
Körper, sondern es verändert ihn, interpretiert ihn neu und wird selbst dazu. In
dieser Hinsicht versucht Belting eine Erweiterung der Idee des Körpers. Das heißt,
für ihn ist der Körper „ein Sammelbegriff für alles, was man an ihm festmachen
und mit ihm darstellen kann“.90 In unserem Sinne verknüpft die Lebendigkeit des
Bildes sich daher mit der inneren Energie des Körpers als Bild oder Bildmedium.
Das heißt, sie besteht in der Wechselbeziehung zwischen Körper und Bild. In die-
sem Zusammenhang geht es im 3. Kapitel um Cyborg Art. Denn Cyborg Art the-
matisiert die Wechselbeziehung zwischen Körper und Bild, d. h. die menschliche
Existenz, die aus diesen beiden besteht.91 Um es anders auszudrücken: In der Ver-
schmelzung von Körper und Bild zu einer Kunstform spiegelt sich die allgemeine
Beziehung dieser beiden. Die radikale Bildpraxis im oder am Körper, die heut-
zutage in der Cyborg Art zu beobachten ist, wird auf den Kontext der Bildwer-
dung des Körpers oder die Einkörperung des Bildes reduziert. So wie wir an dem
Sinnbild der Verklärung Christi gesehen haben, dass der menschliche Körper zum
Bild Gottes transfiguriert wird, ermöglicht Cyborg ebenfalls dem menschlichen
Körper, sich selbst als ein Bild wiederzuentdecken. Der Körper manifestiert durch
Bildwerdung seine Bildlichkeit. Und die Einkörperung des Bildes, die sich mit der
Bildwerdung des Körpers kreuzt, erinnert uns an dessen ikonoklastischen Impuls.
Die Telepresence Art, die im 4. Kapitel behandelt wird, ist ein typisches Symp-
tom der Bildpraxis des Cyborg. Sie erweitert die menschlichen Sinne mithilfe einer
Prothese und im Paradigma actio in distans schreibt sie dem Menschen göttliche
Kraft zu.92 Der Betrachter kann durch die bildliche Repräsentation allgegenwär-
tig sein und die Realität steuern. Deshalb wird die ikonische Erfahrung des Bil-
des sowohl sinnlich als auch realistisch erlebt. Aber in der Telepresence Art wird
das Subjekt der bildlichen Erfahrung immer von der bildlichen Realität überwäl-
tigt. Das heißt, der Glaube an die Repräsentationsfähigkeit, die durch die heutigen
technischen Bilder93 oder die wissenschaft lichen Bilder rehabilitiert ist,94 wird in
der Bildpraxis der Telepresence Art vorausgesetzt. In der Tat: Ist die Identifi ka-

90 Belting (2002b), S. 35.


91 Siehe Krois (2001), S. 3.
92 Vgl. zum Prothesengott Freud (2001).
93 Vilém Flusser bezeichnet „ein von Apparaten erzeugtes Bild“ als „das technische Bild“.
Flusser (1994), S. 13; siehe auch ders. (2000).
94 Peter Weibel zufolge akzeptiert − anders als die moderne Kunst, die vom Repräsentations-
system Abstand hält − die Wissenschaft „die Optionen, die auf technischen Maschinen
basierende Bilder für die Repräsentation der Realität bieten, umstandslos.“ Weibel (2002),
S. 670.

21
Einleitung

tion der bildlichen Realität mit der Wirklichkeit95 nicht sowohl Voraussetzung der
Telepresence Art als auch das einzige Kriterium, das die Bildpraxis der Telepresence
Art von der Bildpraxis in der virtuellen Realität unterscheidet? Die Bilder, die von
Teleroboter oder Sehmaschine, die nur um ihrer selbst willen Sichtbarkeit produ-
zieren,96 erzeugt werden, passen ihre repräsentative Ordnung dem Betrachter an
und beleben wiederum den Bildglauben.
Den Bildraum als „living environment“97 im Auge, hat Oliver Grau immersiv-
interaktive Kunst, telematische Kunst und genetische Kunst als Subgenres der vir-
tuellen Kunst betrachtet.98 Aber wenn nicht vom Raum, sondern vom potenziellen
Leben die Rede ist, dann können wir virtuelle Architektur neben der Cyborg Art in
die virtuelle Kunst einbeziehen. In diesem Zusammenhang konzentriert sich das 5.
Kapitel, das virtuelle Architektur behandelt, nicht auf die virtuelle Raumwahrneh-
mung, sondern auf das Prinzip der architektonischen Formbildung. In der heutigen
virtuellen Architektur können wir die Realisierung des Begehrens des Bildes, das
die Architektur ersetzen möchte, beobachten. Es geht allerdings nicht nur um die
entwickelte Illusionstechnik, sondern auch um die Aktualisierung der Potenziali-
tät. In der Tat erhält der heutige „digital arbeitende“ Architekt die Form des Gebäu-
des durch einen automatisierten Computerprozess und verwirklicht diese in dem
so genannten total flow als echte Architektur. In diesem automatisierten Prozess
wird die Form der Architektur selbst generiert und in einem Material aktualisiert.
Das heißt: In der Architekturpraxis wird die schöpferische Rolle des Architekten
stark beschränkt und das Bild wird selbst zur Architektur. Heutzutage erinnert
uns der Einsatz von digitalen Medien und intelligenten Materialien an das Prinzip
der architektonischen Formbildung, das in der Natur vorhanden, aber bisher noch
nicht thematisiert ist. In der Tat beweisen die Formen, die, wie etwa Zufallsbilder,
aus der Natur selbst entstanden und generiert sind, dass Bilder in einem Material
durch ihre eigenen Energien verändert und generiert werden können. Die Aktivi-
tät der Formen assoziiert immer die Materialität. Die Bilder erschließen in ihrem
Material die performative Kapazität oder umgekehrt trägt das Material eine form-
generierende Kraft in sich.99 Die Bilder bilden sich selbst. Die Imagination des Bil-
des animiert die potenzielle Lebendigkeit des Materials und damit wird virtuelle
Architektur zum Leitbild der Bildpraxis der virtuellen Kunst.
In diesem Zusammenhang thematisiert die Ikonologie des Materials100 nicht
nur die Materialität des Bildes, sondern auch dessen tatsächliche Lebendigkeit.
Kunstwollen und Bildmedien setzen einander voraus und die Verschmelzung von

95 Vgl. in dieser Hinsicht Benoît Mandelbrot, Gründer der Fraktal-Theorie, hat festgestellt:
„Seeing is believing.“ Mandelbrot (1983), S. 21.
96 Siehe Virilio (1989).
97 Grau (2003), S. 7.
98 Ibid., S. 3.
99 Siehe Morris (1995).
100 Vgl. Wagner (2001).

22
Lebendigkeit des Bildes

Virtualität und Wirklichkeit bzw. von Bild und Lebewesen wird auch gerechtfer-
tigt. Bildwesen manifestieren sich immer in einem Material. Im 6. Kapitel wird
diese Transgression des Bildes als Phänomen betrachtet. Die heutige Artificial Life
Art und Bio Art sind moderne Varianten des Mythos von Pygmalion. Wie im Pro-
zess das, was Simulacrum gewesen ist, zu Leben wird, wird die Koexistenz von
Idolatrie und Ikonoklasmus inszeniert und die Lebendigkeit des Bildes im künstle-
rischen, wissenschaft lichen und rituellen Kontext rekonstruiert. In diesem Zusam-
menhang sind Jutta Webers Thesen über unsere Realität wie etwa von der „Tech-
nisierung des Lebendigen“101 und der „Verlebendigung der Technik“ als Hinweise
auf die Erweiterung der Bildpraxis oder umgekehrt auf die Reduktion des Lebens-
phänomens zu betrachten. Wir können zwar nicht definieren, was genau Leben
ist, aber die Kreativität des Menschen oder die Produktivität des Bildes würden in
der Analogie mit dem Lebensphänomen die Geschichte der Natur kontinuierlich
revidieren. So wird das Ende des Bildes oder das Ende des Simulacrum in Bezie-
hung zu der Natur im Übergang thematisiert. In der heutigen Transgression des
Bildes besäße die Bildpraxis einen Teil der Naturwissenschaft und unsere Ikono-
logie begegnete der Biologie. Die Bilder konstituieren mit uns zusammen ein Kol-
lektiv und greifen immer mehr in unsere Gesellschaft ein. Deshalb können wir,
wie die Künstler in der Renaissance, mit der Ikonizität des Bildes an der ethischen
Auseinandersetzung der Lebenswissenschaft teilnehmen. Die Bildtheorie oder die
Ikonologie würden zu allgemeinen Wissenschaften und dienten als Fenster, die die
Welt oder etwas Unsichtbares sichtbar machen.102
Schon im Jahr 1746 hatte Charles Batteux Malerei, Skulptur, Musik, Dichtung,
Tanz, Architektur und Redekunst in die freien Künste einbezogen, die im Prin-
zip der Nachahmung der schönen Natur begründet sind.103 Aber wir haben nicht
die Absicht, die Lebendigkeit des Bildes als Prinzip oder Kriterium der virtuellen
Kunst, die aus interaktiv-immersiver Kunst, Cyborg Art, Telepresence Art, virtuel-
ler Architektur, Bio Art und Artificial Life Art besteht, zu definieren. Ein solcher
Versuch wäre nicht nur willkürlich, sondern auch problematisch in Bezug auf die
Bildpraxis der virtuellen Kunst, die als Flux und Instabilität charakterisiert wird.104
Deshalb richtet sich unser Augenmerk eher darauf, mit Blick auf die Lebendigkeit
des Bildes die Transgression des Bildes, die in der virtuellen Kunst phänomenal zu
beobachten ist, zu erfassen. Auf welche Weise leitet die Aktivität des Bildes in der
ästhetischen Dimension den Wandel der Wirklichkeit? Unsere Ikonologie, die die
Transgression des Bildes verfolgt, soll das Begehren des Bildes und dessen Reali-
sierung dadurch aufzeigen, dass sie ihr Augenmerk auf den ikonischen Prozess des
Bildes richtet.

101 Weber (2003), S. 139; siehe auch Reichle (2005).


102 Zum Bild als fenestra aperta Alberti (2000b), I. 19, S. 224; vgl. Hogrebe (2006), S. 379.
103 Batteux (1746); zum Werdegang der bildenden Künste siehe Tatarkiewicz (1980), S.  20 f.,
Kristeller (1951) sowie ders. (1952).
104 Siehe Buci-Glucksmann (2002).

23
2 Bild und Blick – Immersive Kunst

2.1 Bild und Immersion

Die Reise ins Bild ist Asiaten vertraut. In ihren vielen wohlbekannten Legenden
kommen die Menschen ins Bild hinein oder es kommen umgekehrt die Figuren
aus dem Bild heraus. Außerdem ist der Paravent (屛風) ein gutes Beispiel, das zeigt,
auf welche Weise das Bild in ihrem Alltag den Raum des Betrachters teilt und cha-
rakterisiert.1 In der westlichen Kultur ist dieses Phänomen als eine noch stärkere
Tradition angesiedelt. Während es bei der Bilderfahrung der Asiaten nicht um die
realistische Repräsentation, sondern um ihr ästhetisches Verhalten geht, scheint
es, dass die Abendländer sich eher für die Ausführung der Illusion und die Ent-
wicklung der Illusionstechnik in der physikalischen und phänomenalen Dimen-
sion interessieren; dafür sind etwa die pompejische Wandmalerei, die barocke
Deckenmalerei2, das Panorama3, die heutige virtuelle Realität4 u. a. starke Beweise.
Illusionistische Bilder dieser Art üben mit ihrer überwältigenden Realitätsnähe
einen starken Einfluss auf die Realität des Betrachters aus.
Wenn man also davon ausgeht, dass es einer der wichtigen Anlässe von Bild-
praxis war, mit dem Bild den realen Raum zu verändern und zu erweitern und in
einen virtuellen Raum zu verreisen, dann ist die heutige virtuelle Kunst in Bezug
auf die technische Verwirklichung dieses menschlichen Begehrens zu verstehen.
Nicht zuletzt sollte die so genannte immersive Kunst, die heutzutage Konjunktur
hat, als eine Terminologie verstanden werden, die auf eine technische Lösungs-
möglichkeit des Kunstwollens zur Realisierung der langen Sehnsucht von Men-
schen, im Bild zu sein, verweist. Denn Immersion ist zwar eine Terminologie,
die von der Interface-Technologie in der Computerwissenschaft herrührt, aber
sie sollte auf der noch komplizierteren Ebene, das heißt in Bezug auf den Status
des Bildes oder auf das Verhalten des Betrachters, beleuchtet werden. Denn auch
wenn die Immersionserfahrung von dem technischen und medialen Einfluss nicht
unabhängig sein kann, liegt sie im Prinzip im großen Rahmen der Beziehung zwi-
schen Mensch und Bild. Diese Erfahrung birgt also eine unsichtbare interaktive
Beziehung zwischen den beiden in sich.
In diesem Zusammenhang stützt Oliver Grau sein bahnbrechendes Buch über
virtuelle Kunst auf folgende Hypothesen. Erstens: Indem er virtuelle Kunst in
der Kunstgeschichte der Illusion und Immersion zuordnet,5 betont er zu Recht,

1 Über den chinesischen Paravent als Bildmedium siehe Wu Hung (1996).


2 Über die illusionistische Deckenmalerei siehe Sjöström (1978) und Burda-Stengel (2001).
3 Siehe Oettermann (1997).
4 Siehe Grau (2001).
5 Grau (2003), S. 4.

25
S.-C. Shin, Vom Simulacrum zum Bildwesen: Ikonoklasmus der virtuellen Kunst
© Springer-Verlag/Wien 2012
Blick und Bild

dass virtuelle Realität sich schließlich auf die Frage nach der Beziehung zwischen
Mensch und Bild reduzieren lässt.6 Zweitens: Virtuelle Realität ist im Grunde
immersiv7 und diese Immersionserfahrung ist in der repräsentativen Funktion
des Bildes und dem Präsenzgefühl des Betrachters begründet.8 Drittens: Diese
Immersion geht davon aus, dass der Betrachter von dem perfekten Illusionsme-
dium, das unseren Sinn täuscht, gefangen genommen wird, so dass er je nach bild-
licher Logik handelt und fühlt.9
Grau postuliert, dass die hohe Qualität der Immersion oder die Präsenz im Bild
durch die Maximierung des Realismus erlangt werde.10 Ihm zufolge unterschei-
det sich Immersion von der Erfahrung des trompe-l’œil oder der illusionistischen
Malerei, die medial eingeschränkt ist, weil diese Art Malerei einen entscheidenden
Nachteil durch die hermetische Wirkung und die Aufhebung des Rahmens hat.11
Außerdem unterscheidet er Immersion von der Reise im Traum oder von der lite-
rarischen Darstellung, etwa in der Ekphrasis oder im Chatting. Seiner Definition
nach besteht Immersion darin, dass der Betrachter in dem 360˚-Raum, den das
Bild bietet, „critical distance to what is shown“ abschafft und „emotional involve-
ment in what is happening“12 erhöht. Mit anderen Worten integriert das Bild in
der virtuellen Kunst „the observer in a 360˚ space of illusion, or immersion, with
unity of time and place“.
In dieser Hinsicht können wir seine Perspektive, die den Ansatzpunkt der vor-
liegenden Studie bilden wird, wie folgt zusammenfassen. Erstens basiert Immer-
sion im Prinzip auf einer Bilderfahrung, auch wenn sie „polysensorily“ wahrge-
nommen wird.13 Zweitens: In einem immersiven Umfeld wird das Bild selbst zu
einem perfekten Raum. Drittens ist das Präsenzgefühl des Körpers im Bildraum
von der Aktivität der Bildmedien nicht unabhängig.
Diese drei Thesen sind als eine zu starke Reduktion des Begriffs „Immersion“ zu
sehen. Aber diese Reduktion scheint bei dieser Studie, die von der Beziehung zwi-
schen Bildmedium und dessen Betrachter handelt, unvermeidlich zu sein, ebenso
wie bei Grau, der über die virtuelle Kunst im Bezug auf das Medienparadigma
geschrieben hat. Immersion ist im engeren Sinne eine Terminologie, die sich nicht
auf ein Attribut des Bildes, sondern auf das ästhetische Verhalten des Betrachters
bezieht. Mit anderen Worten: Sie verweist nicht auf das Bild, sondern auf die Art
und Weise, wie das Bild sich auf den Betrachter bezieht, denn sie wird de facto
durch Interaktion zwischen dem technischen Umfeld, das vom Bildmedium kons-
tituiert ist, und der Wahrnehmung des Betrachters erzeugt. Die alten Griechen

6 Ibid., S. 5.
7 Ibid., S. 15.
8 Ibid., S. 14.
9 Ibid., S. 17.
10 Ibid., S. 14.
11 Ibid., S. 15 f.
12 Ibid., S. 13.
13 Ibid., S. 14.

26
Bild und Immersion

hatten zwar keine hoch entwickelte Illusionstechnik, wie es sie heute gibt, aber sie
haben wohl diese Tatsache besser als wir verstanden. Wenn Gorgias im 5. Jahrhun-
dert vor Christus das Wort apáte verwendet hat, hat er es nicht auf die bildende
Kunst, sondern auf das Theater bezogen.14 Das Theater erzeugt ein Phänomen
und dadurch lässt es uns etwas Reales glauben und ruft ein Gefühl hervor. Des-
halb hat Illusion im Prinzip eine engere Beziehung mit unserer Vorstellung als mit
der visuellen Augentäuschung,15 auch wenn sie in der visuellen Kunst angewandt
wird. Denn Illusion ist ein Terminus, der auf alle Arten möglicher ästhetischer
Erfahrungen anwendbar ist. Aber die Tatsache, dass sich die visuelle Kunst, relativ
gesehen, größere Mühe als andere Gattungen gegeben hat, solcherart ästhetische
Erfahrung zu inszenieren, verlangt von uns, dass wir niemals die Bedeutung der
visuellen Erfahrungen übersehen.
In der Tat hat Ernst Gombrich in seinem Buch Kunst und Illusion gezeigt, wo
und wie diese ästhetische Erfahrung und die Strategie der visuellen Kunst sich
treffen, wenn er über die psychologische Wirkung in der künstlerischen Erfahrung
schreibt. Er postuliert: „Was der Maler zu ergründen strebt, ist nicht so sehr die
Natur der uns umgebenden wirklichen Welt als vielmehr unsere Reaktionen auf
diese physischen Gegebenheiten.“16 Das heißt, es geht bei ihm nicht um die Kau-
salzusammenhänge in der Natur, sondern um den Mechanismus der Wirkungen
auf unsere Sinne. In diesem Zusammenhang behauptet Władysław Tatarkiewicz,
dass die Mimesis-Theorie, die die abendländische Kunsttheorie dominiert hat, in
diesem Illusionseffekt begründet sei.17 De facto haben Bildmedien große Macht
auf unsere Imagination ausgeübt. Die plinianische Anekdote über den Wettstreit
zwischen Zeuxis und Parrhasios18 oder die platonische Angst vor der visuellen
Imitation19 ist auch nichts anderes als ein Gegenbeweis für die große Macht der
visuellen Medien. Unser Verhalten, das Immersion als eine visuelle Erfahrung
betrachtet, kehrt zu dieser Tradition zurück. Dies ist der unvermeidliche Versuch,
den Rahmen der Diskussion zu verengen, und daher scheint es nicht ganz unrich-

14 Tatarkiewicz (1980), S. 277.


15 In dieser Hinsicht unterscheidet M. L. d’Otrange Mastai Illusionismus und Trompe-l’œil. Er
beschreibt: „Illusionism appeals predominantly to the imagination, as its magic is always in
some measure ‘in the eye of the beholder’ and it might even be defi ned as poetic illusion in
visual form. On the contrary, Trompe-l’œil, i.e., ‘that which deceives the eye,’ strives relent-
lessly to achieve perfect duplication of reality to the point of delusion.“ Siehe Mastai (1975),
S. 7–25; hier S. 8.
16 Gombrich (2002), S. 44.
17 Indem er das ästhetische Verhalten der alten Griechen beschreibt, hat er postuliert, dass die
Mimesis-Theorie sich de facto auf die menschliche Produktion, das heißt, Illusion zu schaf-
fen, bezieht. Tatarkiewicz (1980), S. 97. Bekanntlich glaubte Platon auch, dass das Wesen der
nachahmenden Kunst in der Herstellung der irrealen Dinge liegt. Siehe Platon (1985), 255b-c
sowie ders. (1989), 599d.
18 Plinius (1997), 65–66; über die kunsttheoretische Rezeption dieser Anekdoten in der west-
lichen Tradition siehe Bann (1989).
19 Platon (1989), 389a-b und ders. (1985), 235b–236d.

27
Blick und Bild

tig zu sein, wenn wir in diesem Rahmen den Schwerpunkt nicht auf die allgemeine
ästhetische Erfahrung, die verschiedene Kunstgattungen bieten, sondern auf die
Bildfrage legen. Vor allem stellt die Tatsache, dass die Tiere auch auf visuelle Illu-
sion reagieren20 – etwa die Vögel, die von Zeuxis getäuscht wurden21 –, noch eine
weitere Basis unseres Versuchs dar, Illusion oder Immersion durch die visuelle
Erfahrung zu erklären.
Immersion unterscheidet sich auch von Absorption22 oder Aufmerksamkeit23,
denn Immersion als eine Bilderfahrung bezieht sich nicht auf einen Geisteszustand,
sondern auf den physischen und physikalischen Moment. Sollten wir annehmen,
so die utopische Vorstellung vieler Forscher, in einen Bildraum hineinzutreten,24
dann bezeichnet der Terminus „Immersion“ nicht das einfache ästhetische Ver-
halten, sondern die echte Präsenz des Betrachterkörpers in einer bestimmten Zeit
und einem bestimmten Raum. Dies ist der allgemeine Ansatzpunkt, den fast alle
herkömmlichen Studien über virtuelle Kunst, insbesondere immersive Kunst, als
Forschungsobjekt vor Augen haben. Sie haben meistens die Frage nach der Präsenz
des Betrachters, etwa Körper, Wahrnehmung oder Gefühl im Bildraum25, oder
nach der Eigenschaft des Bildraums, etwa der Realität des virtuellen Raums26, zum
Gegenstand.
Nun werden wir in dieser Hinsicht die Aufgabe, die bisher noch nicht behandelt
wurde, übernehmen. Was uns hier beschäftigen soll, ist, zu zeigen, welches Attri-
but des Bildes Immersion erzeugt. Dies ist der Ansatzpunkt dieses Kapitels, das
von „Bildmedien“27 handelt. Wir fokussieren nicht auf Immersion an sich, sondern
auf die innere Logik des Bildes, etwa auf die Bilderfrage.28 Das heißt: Hier handelt
es sich darum, welches Attribut des Bildes als Verursacher Immersion oder das
spezifische ästhetische Verhalten des Betrachters bewirkt. Wie wir in dem Weat-

20 Es wird zum wichtigen Grund für W. J. T. Mitchell, dass er Illusionismus und Realismus
unterscheidet. Während Illusionismus ihm zufolge den Betrachter täuscht und eine Simu-
lation der Präsenz bietet, verrät Realismus die Wahrheit über die Dinge. Mitchell (1994),
S. 325–328.
21 Plinius (1997), 65; vgl. Kris und Kurz (1995), S. 90–91.
22 Über die Absorption als ästhetische Erfahrung siehe Fried (1980).
23 Siehe Crary (2000).
24 Diese alte, utopische Vorstellung wurde von den Futuristen modernisiert, die „den Betrach-
ter mitten ins Bild“ setzen möchten. In diesem Zusammenhang betrachtet Umberto Boccio-
ni das Bild als einen Raum oder eine Umwelt und betont dessen affektive Kraft. Er stellt fest:
„Für uns ist das Bild keine äußerliche Szene mehr, keine Bühne, auf der sich das Geschehen
vollzieht. Für uns ist das Bild eine architektonische Konstruktion mit Ausstrahlungsver-
mögen, deren Kernpunkt der Künstler und nicht der Gegenstand ist. Es ist eine die Emotion
ansprechende architektonische Umwelt, die die Empfi ndung hervorruft und den Betrachter
umgibt.“ Boccioni (1972), S. 229.
25 Siehe Rötzer (1995), ders. (1996), Angerer (2002), Hansen (2006) sowie Grau (2005).
26 Siehe Benedikt (1991) sowie Wertheim (1999).
27 Siehe Boehm (1999) und Bredekamp (2003b).
28 Allgemein über dieses Thema siehe Belting (2007) und Boehm (2007).

28
Bild und Immersion

Abb. 1: Olafur Eliasson, Weather Project, Instal-


lation einer gelben Kreisscheibe und eines die
Decke ausfüllenden Spiegels, 2003, Courtesy of
Olafur Eliasson.

her Project (2003) (Abb. 1) von Olafur Eliasson29 sehen können, kann das Kunst-
werk ohne Augentäuschung die Wahrnehmung des Betrachters und die ästheti-
sche Atmosphäre30 stimulieren. Es zieht den Betrachter in seinen Kontext hinein,
indem es ihn emotional erregt. In dieser Hinsicht wollen wir auf den selbst-refe-
renziellen Charakter des Bildes31 fokussieren. Einige Bilder zwingen den Betrach-
ter, sie für real zu halten, indem sie keine anderen Realitäten, Objekte oder Ideen,
sondern sich selbst zeigen. Außerdem werden sie zu einem Raum, der ein Gefühl
hervorruft und einen Präsenzeffekt bietet. Durch solche Bilderfahrung werden die
Bilder selbst zu einer Realität.
Wie können wir diese Realität des Bildes verstehen? Was sagt die heutige immer-
sive virtuelle Kunst über das Bild oder dessen Attribute aus? Was ist die innere
Logik, die im Bild enthalten ist? Welchen Einfluss übt sie auf den Betrachter aus?
Um auf diese Fragen zu antworten, werden wir zuhören, was die Bilder sprechen.
Diese Methode wurde von W. J. T. Mitchell in Picture Theory vorgestellt. Dort
hat er die Bilder, die selbst über sich sprechen und reflektieren, als Metapictures
bezeichnet. Ihm zufolge gilt: Metapictures „refer to themselves or to other pictures“
und „are used to show what a picture is“.32 Eine solche Annäherung unterscheidet
sich von allen herkömmlichen Versuchen, das Bild zu definieren. Wir versuchen

29 May (2003).
30 Über die Ästhetik der Atmosphäre siehe Böhme (2006a).
31 Über Selbstreflexivität und Medienbegriff des Bildes in den verschiedenen Kunstgattun-
gen siehe Stoichita (1993), Kirchmann (1994), Sykora (1996), Wu Hung (2006), Bogen (2001),
Wolf (2002), Krüger (2003), Rosen (2003), Kruse (2003) und Rimmel (2007).
32 Mitchell (1994), S. 35.

29
Blick und Bild

also nicht, das Bild von der Außenseite zu erfassen. Vielmehr werden wir selbst
ins Bild hineinkommen und es beobachten,33 wie bei einer Immersionserfahrung.
Diese reflexive Annäherung verrät, dass wir uns hier nicht mit der Frage, „was
ein Bild ist“, beschäftigen. Schon vor einem halben Jahrhundert hat Sydney S.
Shoemaker Selbstreflexion und Selbsterkenntnis ohne Identifi kation erwähnt.34
Auch wenn das Bild sich selbst erkennt und referenziert, können wir metapicture
nicht auf die Identifi kation oder die Selbstbestimmung des Bildes beziehen,35 denn
es ist nicht auf das Problem des Subjekts, sondern auf das des Prädikats bezogen.
Deshalb wird es hier nur behandelt, um den Charakter des Bildes zu entdecken
und zu beschreiben. Denn dieser Bildcharakter böte den Faden, mit dem wir uns
dem Verständnis der allgemeinen Bilder annähern könnten. Um es anders auszu-
drücken: Unser Interesse gilt nicht den technischen Besonderheiten, die in dem
Bild bestehen, sondern dem Paradigma allgemeiner Bildmedien. Wenn wir die
Kraft der Imagination, Fantasie oder Assoziation, die Bilder in uns hervorrufen,
anerkennen, dann können wir ohne Schwierigkeiten annehmen, dass diese all-
gemeine Eigenschaft des Bildes uns eher einen Einblick gibt, um immersive Bilder
zu verstehen.
Nun sollten wir die Eigenschaft der Bildmedien und deren Beziehung mit dem
Betrachter eingehend untersuchen. Wie können wir die spezifische ästhetische
Erfahrung, die selbstreferenzielle Bilder bieten, erklären? Diese Studie über die
Bilder, die sich selbst zeigen, die das Auge des Betrachters irritieren, die sich selbst
als ein Lebewesen erkennen und die auf den Betrachter reagieren und damit mit
ihm in der spezifischen Beziehung stehen, sollte uns Einblick in die Lebendigkeit
des Bildes und in den Bildakt geben.

2.2 Selbstreflexivität des Bildes

Bei La condition humaine von René Magritte (1933) (Abb. 2) geht es um ein Bild
über das Bild. Dieses Werk thematisiert das Bild als ein Medium, indem es die
Beziehung zwischen Bild, Realität und Wahrnehmung skizziert. Der Betrachter
vor dem Fenster, genauer gesagt vor dem Bild, sieht den Baum, der auf der Lein-
wand dargestellt ist. Kurioserweise inszeniert Magritte, dass dieser Baum den
Baum, der außerhalb des Raums steht, verbirgt. Dieses Werk verrät also nicht, ob

33 Mit diesem Versuch hat W. J. T. Mitchell „general field of images and their relation to di-
scourse“ beobachtet, indem er sieht, „if picture provide their own metalanguage.“ Ibid, S. 36
und S. 38.
34 Siehe Shoemaker (1968).
35 Indem er sich mit dem Thema Selbstreferenz ohne Identifi kation auseinandersetzt, stellt An-
drew Brook fest: „One can be aware of something as oneself without identifying it (or an-
ything) as oneself via properties that one has ascribed to the thing.“ Brook (2001), S. 9. In
dieser Hinsicht sollten wir das Attribut des Bildes untersuchen, das ein Immersionsgefühl
verursacht.

30
Selbstreflexivität des Bildes

Abb. 2: René Magritte, La condition humaine, Öl


auf Leinwand, 100 × 81 cm, National Gallery of
Art, Washington DC, 1933.

der Baum außerhalb des Raums wirklich vorhanden ist. Die Oberfläche der Lein-
wand ist transparent und zugleich opak. Sie könnte durchsichtig werden, aber
zugleich unser Auge daran hindern, hinter die Leinwand zu sehen. Zwar vergegen-
wärtigt unsere Vorstellung einen Baum, aber dennoch ist die Beziehung zwischen
dem Bild und der äußeren Realität nicht klar. Mit anderen Worten: Die Bildober-
fläche zeigt und verbirgt sich selbst in der Interaktion mit unserer Wahrnehmung.
Sie funktioniert als eine Metapher für unsere Erkenntnis,36 indem sie die Bezie-
hung mit der äußeren Realität infrage stellt.
Dieses Spiel der Bildoberflächen ist im Selbstbildnis von Parmigianino (ca.
1523/1524) (Abb. 3) auch zu beobachten. In diesem Werk bildet Parmigianino sein
Bild, das auf dem Konvexspiegel reflektiert ist, naturgetreu ab. Während der Hin-
tergrund verzerrt und verkleinert ist, gewinnen der Kopf und die Hand des Malers,
die dem Barbierspiegel37 nahe sind, die Oberhand über die anderen Dinge. Vasari
zufolge hat Parmigianino dieses Bild aus einem politischen Grund gemalt, näm-
lich um sich in Rom vorzustellen.38 In dieser Hinsicht scheint die Hervorhebung

36 In diesem Zusammenhang postuliert Reinhard Brandt, dass es sich bei diesem Bild um Pro-
bleme der Erkenntnistheorie handelt. Er schreibt: „Unsere Vorstellung ist ein transparenter
und zugleich ein verbergender Schleier, ein ‚veil of perceptions’, denn die Vorstellung als sol-
che bietet nicht die Gewähr dafür, dass hinter dem vorgestellten Baum ein wirklicher Baum
steht, wie Magritte in seiner Beschreibung anfänglich unterstellt. Was wir als Außenwelt
wahrnehmen, ist tatsächlich nur das bewusstseinsimmanente Bild einer Sache, deren exter-
ne Realität wir denken mögen, aber niemals wahrnehmen können.“ Brandt (2000), S. 426–
427.
37 Vasari identifi ziert diesen halbrunden Spiegel als Barbierspiegel. Vasari  – Parmigianino
(2004), S. 18.
38 In der ersten Auflage seiner Viten im Jahr 1550 berichtete Vasari, dass Parmigianino, als er
in seiner Heimatstadt von den Herrlichkeiten Roms hörte, Lust verspürt habe, nach Rom zu

31
Blick und Bild

Abb. 3: Parmigianino, Selbstbildnis im Konvex-


spiegel, Öl auf Pappelholz, Durchmesser:
24,4 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien,
um 1523/1524.

von Kopf und Hand, die die künstlerischen Fähigkeiten des Künstlers repräsen-
tiert,39 eine logische Entscheidung zu sein. Papst Clemens VII. (1478–1534) und
der Dichter Pietro Aretino (1492–1556), die dieses Werk gesehen haben, sollten sich
über Parmigianinos ingenium, das die flache Oberfläche des Bildes als die konvexe
Oberfläche des Barbierspiegels verändert hat, wundern.40
Was wir in diesem Werk sehen können, ist in der Tat eine physikalische Ober-
fläche des Bildes, aber wir nehmen sie als Konvexspiegel wahr. Das heißt: Das Bild
zeigt und verbirgt zugleich seine Oberfläche durch Interaktion mit unserer Wahr-
nehmung. Es ist eine widersprechende Basis des Bildes. Das Bild verbirgt sich
selbst in unserer Wahrnehmung und tarnt sich als andere Dinge.
Arthur C. Danto hat dieses Phänomen als the transparency theory bezeichnet.41
Ein illusionistisches Bild leitet uns dahin, dass wir es nicht als ein Bild, sondern
als ein Ding erkennen. Auch wenn wir das opake Material des Bildes sehen, glau-
ben wir, das Bild sei ein echtes Ding, weil das Medium dieses Bildes sich tarnt, als
ob es nicht vorhanden wäre. Im illusionistischen Bild wird das Medium transpa-
rent und deshalb wird das Bild als ein echtes Ding wahrgenommen. Danto pos-
tuliert aber, dass das Verschwinden des Mediums de facto unmöglich sei. Denn

reisen. Zu diesem Zweck habe er dieses experimentelle, bizarre Selbstbildnis erstellt und es
Papst Clemens VII. zugeschickt, woraufh in dieser ihn sogleich nach Rom rufen ließ. In der
zweiten Auflage von 1568 differenziert Vasari diesen Bericht. Als er jene bizarren Effekte sah,
die der Barbierspiegel hervorbringt, habe er dieses Selbstbildnis aus einer Laune heraus, aus
Lust, alles täuschend echt nachzuahmen, gemalt. Der Maler habe selbst dieses Bild nach Rom
mitgebracht, und als es sich dort der Kardinal der päpstlichen Kurie angesehen und seinen
Wert erkannt hatte, wurde er sofort zu Papst Clemens vorgelassen. Diese Mitteilungen Vasa-
ris besagen, dass es sich bei dem Selbstbildnis Parmigianinos um ein Bewerbungsstück han-
delt. Siehe Warnke (1997), S. 109–111.
39 Ibid. (1997), S. 108–120; Vgl. Bredekamp (2005).
40 Vasaris Bericht zufolge hat der Papst dieses Bildnis Aretino geschenkt, der es wie eine Reli-
quie zu Hause aufbewahrte. Vasari – Parmigianino (2004), S. 20–21.
41 Danto (1981), S. 158–159.

32
Selbstreflexivität des Bildes

„there is always going to be a residuum of matter that cannot be vaporized into


pure content“.42 In diesem Zusammenhang hat Danto the opaque theory, die an
einen materiellen Aspekt des Kunstwerkes gerichtet ist, als einen Gegenbegriff zur
transparency theory vorgelegt.43 Diese beiden Begriffe Dantos werden von Gott-
fried Boehm als widersprechende Komponenten, die das Bild konstituieren, neu
definiert. Sie seien genau genommen nicht zwei Theorien, sondern eine,44 denn
das Bild, das aus dem opaken Material besteht, zeigt nicht sich selbst, sondern
andere Dinge, die es repräsentiert. Ihm zufolge beruht die Wahrnehmung des Bil-
des meistens auf einem Grundkontrast, den er als „ikonische Differenz“ bezeich-
net hat.

„Was Bilder in aller historischen Vielfalt als Bilder ‚sind‘, was sie ‚zeigen‘, was
sie ‚sagen‘, verdankt sich […] einem visuellen Grundkontrast, der zugleich der
Geburtsort jedes bildlichen Sinnes genannt werden kann.“45

Der visuelle Grundkontrast von Boehm ist aus dem „Verhältnis zwischen dem
anschaulichen Ganzen und dem, was es an Einzelbestimmungen (der Farbe, der
Form, der Figur etc.)“ aufweist, entstanden.46 Mithilfe dieser Theorie Boehms kön-
nen wir auch in der illusionistischen Malerei eine perfekte Koexistenz oder Kohä-
sion von Form und Material bzw. von Bild im engeren Sinne und dessen Medium
finden.

Abb. 4: Kaninchen und Ente, aus:


Fliegende Blätter am 23. Oktober 1892.

Wie funktionieren nun diese widersprechenden Komponenten in unserer Wahr-


nehmung? Oder umgekehrt: Wie können wir sie wahrnehmen? Hier gibt es zwei
mögliche Antworten. Es sind nämlich die zwei verschiedenen Interpretationen
von Wittgenstein und Gombrich über das berühmte Bild von Fliegende Blät-

42 Ibid., S. 159.
43 Dantos Intention liegt darin, Sinn und Bedeutung der Repräsentation im Kunstwerk zu be-
leuchten, und deshalb hat er, am Beispiel von Illusion und Hardcore Painting, die beiden Be-
griffe in der Tat voneinander unterschieden.
44 Boehm (1994a), S. 33; siehe auch Majetschak (2005).
45 Boehm (1994a), S. 30.
46 Ibid.

33
Blick und Bild

Abb. 5: Maurice Benayoun, World Skin, Virtual


Reality, 1997, Courtesy of Maurice Benayoun.

ter, „Kaninchen und Ente“.47 (Abb.  4) Wittgenstein glaubte, dass wir sie nicht
als Kaninchen oder Ente, sondern als zusammengesetzte und synthetische Figur
erfahren können.48 In dieser Hinsicht bezeichnet Mitchell diese Figur als „the
figure of mulatto“.49 Diese Beobachtung ist bemerkenswert in unserem Kontext,
der von der Wahrnehmung des illusionistischen Bildes handelt. Sollten wir ein
Bild als eine Hybride, der ikonische Differenz innewohnt, wie Gottfried Boehm
postuliert hat, betrachten, dann erklärt das illusionistische Bild sich selbst als ein
synthetisches Bild, in dem Form und Materie sich zusammensetzen. In der Erfah-
rung derartiger Bilder kann man eine kritische Distanz zum Bild gewinnen und
damit ständig über sich selbst reflektieren.50
In dem illusionistischen Bild schließt unsere Wahrnehmung das begleitende
Bewusstsein über das Medium, in dem ein solches Bild entstanden ist, ein.51 World
Skin von Maurice Benayoun (1997) (Abb. 5) basiert auf dieser simultanen Wahrneh-
mung, die zwischen dem Bild und dessen Oberfläche stattfindet. Im cave trifft der
Betrachter auf eine katastrophale Szene von Krieg und Gewalt. Mithilfe der Com-
puter und Projektoren bildet ein rear screen, der sich um den Betrachter schließt,
einen Illusionsraum, genau so wie ein Panorama. Indem er mit dem Joystick in
die Ruinen navigiert, taucht der Betrachter langsam in den Bildraum ein. An die-
sem Werk fällt auf, auf welche Art und Weise es die Präsenz oder Selbst-Erkennt-
nis des Betrachters inszeniert. Im panoramaartigen Raum nimmt der Betrachter

47 Dieses Bild ist am 23. Oktober 1892 in Fliegende Blätter zum ersten Mal erschienen.
48 Er spricht: „Da kann ich sagen: Das ist ein H-E-Kopf. Aber ich kann auch ganz anders auf
die Frage reagieren. – Die Antwort, es sei der H-E-Kopf, ist wieder die Mitteilung der Wahr-
nehmung.“ Wittgenstein (2006b), S. 522.
49 Mitchell (1994), S. 53.
50 In dieser Hinsicht postuliert Mitchell, dass Metapicture sich nicht nur auf Selbsterkenntnis,
sondern auch auf das Selbst des Betrachters bezieht. Er stellt fest: „If self-reference is elicited
by multistable image, then, it has as much to do with the self of the observer as with the me-
tapicture itself. We might think of the multistable image as a device for educing self-know-
ledge, a kind of mirror for the beholder, or a screen for self-projection like the Rorschach test.“
Mitchell (1994), S. 48.
51 Siehe Polany (1994), S. 151.

34
Selbstreflexivität des Bildes

mit der Kamera Fotos auf. Wie die Sintflut des Bildes den Schmerz des Kriegs
abstumpft, löscht der Akt des Betrachters, ein Foto aufzunehmen, das Fotoobjekt
auf der Leinwand aus. Der Kameraverschluss kreuzt sich im Klang der Schießerei
und damit wird die Kamera zur Waffe. Dieser Akt des Betrachters bringt uns die
Pfeilmetapher52 der Renaissance in Erinnerung. Dass der Maler das Bild durch die
Perspektive ins Auge des Betrachters bringt, wurde damals mit dem Pfeil, der auf
eine Zielscheibe geschossen wird, verglichen.53 In World Skin schießt der Betrach-
ter den Pfeil mit der Kamera. Aber dieser Akt verursacht die Vernichtung des Seh-
felds. Tatsächlich wird sein Ziel auf der Leinwand mit der schwarzen Silhouette
ersetzt.
Heutzutage erfahren wir den Krieg mit dem Bild. Oliver Grau hat, zitiert nach
Vilém Flusser, geschrieben, „terrible real events are reduced to ‚significant sur-
faces‘“.54 Der Akt in World Skin, das Foto aufzunehmen, widerspricht freilich die-
ser Tendenz. In diesem Werk löscht der Betrachter die Bilder auf der Leinwand
allmählich aus und die Leinwand zeigt ihre Oberfläche, die verborgen war. Es
handelt sich um die Reflexion über unsere herkömmliche, unbewusste Bildbe-
trachtung. Hier wird die Grenze zwischen Bild und Realität sichtbar. Damit kann
der Betrachter die Illusion der Bilder und deren Medium gleichzeitig wahrneh-
men und eine Distanz zur Illusion gewinnen. Das heißt: Es geht um die kritische
Erkenntnis des Betrachters über den Mechanismus oder die Strategie des Bildes,
die eine Illusion erzeugen. Trotz seines Immersionszustands kann der Betrachter
sein Verhalten im Werk erkennen. Aber er hält nicht inne, sondern tut es weiter.
Am Ende drückt er den monochromen Bildraum aus und verlässt cave.
Gombrichs Perspektive zur Illusion steht mit dieser Erfahrung in Widerspruch.
Er postuliert, dass wir Bild und Medium oder Figur und Grund nicht gleichzei-
tig wahrnehmen können, ebenso wie beim Kaninchen-Ente-Bild unsere Wahr-
nehmung zwischen Kaninchen und Ente oszilliert.55 Wir nehmen bei der Bild-
betrachtung entweder Leinwand oder Flecken, also nicht beide simultan, wahr.56
Die heutige Simulationstechnik unterstützt diese Meinung Gombrichs. Die starke
Illusions- oder Immersionsstrategie des Bildes erlaubt dem Betrachter keine ästhe-
tische Distanz. Zwar kommen wir mit dem Bewusstsein in den Bildraum, aber wir
sind von dessen Illusion überwältigt, obwohl wir wissen, dass es nur ein Bild ist,

52 Kubovy (1986), S. 1–14.


53 Alberti, (2000b), I. 23, S. 233.
54 Grau (2003), S. 239; Flusser (1994), S. 8.
55 Gombrich (2002), S. 4-5.
56 Bei Gombrich ist Sfumato ein gutes Beispiel für das Schwingen zwischen dem Material des
Bildes und der Illusion. Er stellt fest: „Jenes ‚sfumato‘ − der durch Rauch verschleierten
Form −, das die auf der Leinwand vorhandene Information reduziert und dadurch den Pro-
zess der Projektion in uns anregt. In seiner Beschreibung dieser Errungenschaft der perfek-
ten Manier in der Malerei preist Vasari solche Konturen als zwischen dem Sichtbaren und
dem Unsichtbaren schwebend.“ Gombrich (2002), S. 185.

35
Blick und Bild

wie Gombrich einräumt.57 Es könnte auch gleicher Magie des Bildes zugeschrie-
ben werden, dass Pygmalion sich in seine Statue verliebt. Vor dem Bild geht die
Freiheit unserer Wahrnehmung verloren und das Schwingen Gombrichs bleibt nur
eine gute alte Erinnerung.
Diese zwei verschiedenen Verhalten gegenüber Illusion oder Immersion verra-
ten uns den grundlegenden Widerspruch des Bildes, denn sie beziehen sich nicht
nur auf unsere Wahrnehmung, sondern auch auf das Bild selbst, das diese verur-
sacht. In der Boehm’schen Lehre der ikonischen Differenz sollten wir uns immer
daran erinnern, dass illusionsbildende und bildstärkende Komponenten in dem
illusionistischen Bild koexistieren. Das Bild muss zu einem perfekten Bild wer-
den, um eine vervollständigte Illusion zu schaffen. In seiner perfekten Ausprä-
gung zeigt freilich das Bild sich selbst, nämlich als kein Bild mehr, sondern als ein
Ding oder eine Realität. Gottfried Boehm hat in diesem inneren Widerspruch eine
Selbst-Negation abgelesen.

„In der spannungsvollen Beziehung, die sich im visuellen Grundkontrast zeigt,


gibt es, wie wir sahen, die Möglichkeit, dass Bilder ganz selbstvergessen in der
Illusionierung von etwas Dargestelltem aufgehen oder – umgekehrt – ihr bild-
liches Gemachtsein betonen. In extremis verleugnet sich das Bild als Bild ganz,
um die perfekte Repräsentation einer Sache zustande zu bringen. Dieses Ziel
erreicht es, wenn wir als Betrachter getäuscht werden, das Bild für das Darge-
stellte selbst halten, es als Bild gleichsam übersehen.“58

Dieser Erklärung Boehms zufolge ist die innere Negation des Bildes so zu verstehen,
dass sie weder in der geschichtsphilosophischen59 noch in der diskursiven Ebene60,
sondern im ikonischen Darstellungsprozess61 begründet ist. Sie ist nämlich eine
intrinsische Eigenschaft des Bildes. Deixis des Bildes koexistiere im Prinzip mit
seiner Negation. In dieser Hinsicht postuliert Boehm zu Recht, dass „Erschaffen
von Bildern immer auch Momente der Negation einschließt“.62 Bekanntlich äußert
sich diese innere Negation des Bildes im Modernismus als Ästhetik des Erhabe-
nen63 und nun sollten wir sie in dem illusionistischen Bild noch einmal ablesen.
Schwarzes Quadrat von Kasimir Malewitsch (ca. 1914–1915) (Abb. 6) ist nichts
und zugleich alles. Dieses Quadrat bedeutet nämlich nichts und zugleich alles.

57 Er stellt fest: „Obwohl wir uns verstandesmäßig im klaren darüber sein können, dass ein be-
stimmtes Erlebnis eine Illusion sein muss, können wir uns genaugenommen nicht dabei er-
tappen, einer Illusion zu unterliegen, und können uns auch nicht beim Erleben einer Illusion
selbst beobachten.“ Ibid., S. 5
58 Boehm (1994a), S. 34.
59 Siehe Adorno (1997).
60 Marin (1995).
61 Boehm (2007a), S. 56.
62 Ibid., S. 55.
63 Lyotard (1994).

36
Selbstreflexivität des Bildes

Abb. 6: Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat,


Öl auf Leinwand, 53,5 × 53,5 cm, Tretjakov State
Gallery, Moskau, um 1914/15(?).

Es ist eine absolute Form, die von aller Illusion oder Ähnlichkeit befreit ist.64 Es
ist also keine Darstellung der anderen Dinge, sondern die sich selbst genügende
Selbstdarstellung des Bildes. Deshalb ist es opak. Es sperrt alle Möglichkeiten des
Bildes ab, aber stattdessen präsentiert und bringt es etwas Unsichtbares in unser
Auge. Es ist zwar eine Realität, aber ontologisch unbestimmbar. Für Malewitsch
ist dieses schwarze Quadrat „die Abwesenheit des Bildes und zugleich seine Apo-
theose. Denn die Abkehr von allem Gegenständlichen, der Weg zur gegenstands-
losen Welt, ermöglicht die Erfahrung einer Art Essenz der Realität.“65 Auf diese
Weise entdecken wir darin einen Moment der Selbstnegation des Bildes, dass das
Bild nicht Bild bleibt, sondern zu einer Realität wird.
Im Bild lauert grundsätzlich dieser ikonoklastische Impuls.66 Dies gilt auch
selbstverständlich für das illusionistische Bild. Es besitzt zwar „seine Kraft in
einer Verähnlichung“, aber dieser Ähnlichkeit kann es nicht genügen. Es zeugt
„eine Gleichheit mit dem Dargestellten“ und es wird mit seinem Inhalt „bis zur
Ununterscheidbarkeit“ verschmolzen.67 Das heißt: Das Bild zielt „auf reale Prä-
senz“.
Im Vergleich mit der Idolatrie-Szene im Exodus erklärt Boehm dieses Phäno-
men als Verschmelzung von Artefakt und Inhalt. Bei dem Bild finde nicht nur
Deixis, sondern auch „ikonische Ineinssetzung“ statt. Somit ist das Goldene Kalb
der Juden nicht als lebloses Ding, sondern als eine göttliche Präsenz durch das
Bild zu verstehen. Genau an diesem Punkt, wo Nietzsche die „Geburt“ der Kunst
sieht,68 beginnt die Selbsterkenntnis des Bildes. Das Bild „wirft seinen Bildcha-

64 Siehe Simmen (1998).


65 Boehm (1997), S. 305.
66 Vgl. Latour (2002) und Prange (2006).
67 Boehm (1994b), S. 330–331 ff.
68 Siehe Nietzsche (2000).

37
Blick und Bild

Abb. 7: Cornelis N. Gijsbrecht, Ohne Titel, Öl


auf Leinwand, 66,4 × 87 cm, Statens Museum
for Kunst, Copenhagen, um 1670.

rakter ab“, indem es sich selbst referenziert oder erkennt.69 Nun ist das Bild kein
bloßes Abbild der Dinge mehr, sondern zeigt sich selbst wie ein Lebewesen. Ganz
nach Derridas Lehre, dass wir jenseits des Zeichens nichts finden können,70 zeigt
das Bild andere Dinge nicht mehr, sondern behauptet sein eigenes Leben.
Im illusionistischen Bild findet schließlich unsere Wahrnehmung nicht jenseits,
sondern diesseits des Bildes statt.71 Dass wir das Bild sehen, heißt nämlich „nichts
anderes als eine innere Beziehung des Bildes zu realisieren“.72 Oder umgekehrt
bedingt die innere Logik des Bildes unsere Wahrnehmung. Darum geht es im
trompe-l’œil von Cornelis N. Gijsbrecht (1670–1675) (Abb. 7). Dieses Werk zeigt uns
das Bild nicht im allgemeinen Sinne – es zeigt seine Rückseite auf der Vorderseite.
Auf dieser Vorderseite oder Rückseite des Bildes ist ein Zettel, auf dem die Zahl „36’“
steht, gemalt. Dieser Zettel verstärkt den illusionistischen Charakter des trompe-
l’œil und zugleich deutet er an, dieses Werk sei das 36ste, das zu einer Sammlung
gehört. Es wäre also nichts anderes als eines von vielen Sammelobjekten. Deshalb
stellt Victor I. Stoichita fest, dass dieses Bild nichts darstellt.73 Dieses Werk ist ein
Bild und ein Ding zugleich. Die umgekehrte Leinwand negiert und zeigt zugleich
sich selbst. Sie zeigt nicht das Bild, sondern ihre Medialität als Bildträger. Das Bild
verweist auf sich selbst und erkennt sich selbst. Diese Selbsterkenntnis des Bildes
trifft mit seiner Negation zusammen. Ebenso wie das „Schwarze Quadrat“ von
Malevitsch ist es nichts und etwas zugleich74 und diese Realität des Bildes bedingt
unsere visuelle Illusion.

69 Regine Prange hat es als Paradox des Bildes bezeichnet. Sie stellt fest: „Der paradoxe Begriff
des ikonoklastischen Bildes formuliert die Konsequenz: Das sich selbst analysierende Bild
wirft seinen Bildcharakter ab, was ihm aber nur möglich ist, indem es gleichzeitig seinen
Bildstatus behauptet.“ Prange (2006), S. 16.
70 Er postuliert: „Ein Text-Äußeres gibt es nicht.“ Derrida (1983), S. 274.
71 Vgl. Gumbrecht (2004).
72 Boehm (1994b), S. 335.
73 Stoichita (1998), S. 308.
74 Vgl. Belting (2007b), S. 60.

38
Selbstreflexivität des Bildes

Abb. 8: Luc Courchesne, Where are


you? – Panoscope 360°, Single channel
immersive display for real-time 3D,
2005, Courtesy of Luc Courchesne.

Im strengen Sinne ist diese visuelle Illusion nichts anderes als ein Effekt, der auf
der Bildoberfläche stattfindet. Solange das Bild sich selbst erkennt und wie ein
Ding sich selbst zeigt, beginnt unsere Wahrnehmung, eine solche Bildoberflä-
che als etwas zu erkennen. Genauer gesagt nehmen wir etwas in der Fläche wahr.
Richard Wollheim bezeichnet diese Erfahrung als „Sehen-in“.75 Die Wahrneh-
mung des Betrachters geschieht also auf oder in der Oberfläche des Bildes. In dem
Werk von Luc Courchesne, Where are you? – Panoscope 360 (2005) (Abb. 8) findet
diese Sehen-in-Erfahrung statt. Denn in diesem Werk erweitert sich der Moment
der Selbstreflexion und Selbstnegation des Bildes zu einer Frage nach unserer visu-
ellen Erfahrung oder nach dem Bildraum. Dieses Werk wird in dem immersiven
360˚-panoramaartigen Raum vorgeführt. Die sukzessiven Versuche von Luc Cour-
chesne, einen nahtlosen Panorama-Raum zu bilden, wurden mit der kleinen Halb-
kugel in The Visitor: living by numbers (2000) (Abb. 9), die nur um den Kopf herum
schließen konnte, begonnen. Und schließlich hat er diesen enormen panorama-
artigen Raum erfolgreich geschaffen, in dem sich die Leinwand um den ganzen
Körper des Betrachters herum schließt und damit eine visuelle Distanz gewin-
nen kann. Courchesne hat in diesem Werk den Bildraum von der realen Welt
dadurch völlig getrennt, dass die panoramaartige Leinwand geschlossen wird,
wenn der Betrachter, der durch den Spalt zwischen der Leinwand eintritt, den Joy-
stick ergreift. Im Prinzip ist es die Funktion des Bildrahmens, das Bild von dem,
was kein Bild ist, zu unterscheiden. In diesem Werk markiert die zylinderförmige
Leinwand die Grenze zur Außenwelt und zugleich bildet sie ein virtuelles Theater.
In diesem Theater kann der Betrachter mit der Steuerung des Joysticks die ver-
schiedenen Dimensionen und Räume erfahren. Luc Courchesne beschreibt den
Bildraum seines Werkes folgendermaßen:

“At scale 0, the world looks like a simple XYZ grid defining the experience of the
navigable space. At scale +1, the world turns into an archive of pictures, sounds,
texts and objects (the author’s). Zooming out at scale +2, elements of this archive

75 Wollheim (1982), S. 192–210.

39
Blick und Bild

become particles in a “molecular” world of self-organizing clouds of lights remi-


niscent of late 19th century impressionistic views of the world and of a nascent
abstraction. Zooming yet further out at scale +3 reveals a sublime landscape of
mountains and valleys in tune with the 18th century idea of the picturesque.”76

Leibniz stellt in seiner Monadologie fest, dass die Monaden keine Fenster haben.77
Die Monaden, die „Vollkommenheit und Selbstständigkeit“ haben,78 entfalten die
Falte79 von ihrem Inneren aus.80 In der Analogie zu diesen Monaden kann der
Bildraum leicht zugänglich sein. Das Bild realisiert seine Potenzialität, indem es
einen Raum je nach seiner inneren Logik erzeugt und uns in diesen Raum hinein-
zieht.81 Was Courchesne oben beschreibt, ist nichts anderes als ein Bildraum. Er
zieht den Betrachter hinein und lässt ihn eintauchen. Das Bild referenziert weder,
noch zeigt es wirklichen Raum. Eher lässt es den Betrachter in sich selbst und in
den Raum, den es bietet, eintauchen. Wenn W.  J.  T. Mitchell den pictorial turn
postuliert, ist er von der Tatsache, „there is nothing outside the picture“ wirklich
überzeugt.82 In diesem Werk ist das Bild eine Welt und eine Realität des Betrach-
ters, der im Immersionszustand steht. Es bildet einen Rahmen getrennt von der
Außenrealität und interagiert mit dem Betrachter in seinem Kontext. Je nach sei-
ner Logik erzeugt es einen Raum und lässt den Betrachter immergieren. Das Bild
referenziert sich selbst und ergibt den Sinn in ikonischer Differenz. Die Immersion
des Betrachters geht von der Selbsterkenntnis des lebendigen Bildes aus.

2.3 Bildmedien

In seinem Buch Production of presence hat Hans Ulrich Gumbrecht eine Vorfüh-
rung der Präsenz als einen Gegenbegriff der Interpretations- oder Sinnkultur vor-
gestellt, die immer versucht, einen Sinn in der Tiefe eines Zeichens oder der Dinge
zu finden.83 Ihm zufolge wird Präsenz, die einen materiellen Charakter hat, in
einer räumlichen Beziehung von unserem Sinn wahrgenommen. In dieser Hin-
sicht legt Gumbrecht auf die Oszillation zwischen Sinneffekten und Präsenzeffek-
ten Gewicht. Diese Simultaneität von Sinn und Wahrnehmung, die Niklas Luh-
mann als ein wichtiges Zeichen des Kunstsystems versteht,84 öff net Zugang zum

76 http://www.panoscope360.com/#whereareyou (Stand am 12.09.2009).


77 Leibniz (1998), § 7, S. 13.
78 Ibid. § 18, S. 19.
79 Ibid. § 15, S. 17; Siehe auch Deleuze (2000).
80 Leibniz (1998), § 11, S. 15.
81 Vgl. Deleuze (2000).
82 Mitchell (1994), S. 41.
83 Gumbrecht (2004), S. 1–20.
84 In diesem Zusammenhang erklärt Gumbrecht folgendermaßen die Luhmannische These:
„The ‘art system’ is the only social system in which perception (in the phenomenological mea-

40
Bildmedien

Abb. 9: Luc Courchesne, The Visitor: Living by Numbers, Interaktive


Installation, 2001, Courtesy of Luc Courchesne.

Verstehen des Bildes als eines Mediums oder eines Dinges


und zugleich als einer visuellen Erscheinung. Denn wir sind
vor dem Bild ins Spannungsverhältnis zwischen dessen phy-
sikalischem und ästhetischem Aspekt geraten.
Wie im Werk von Courchesne zu sehen war, erzeugt das
Bild den doppelten Raum, einen physikalischen und einen
virtuellen, und zieht uns dort hinein. Der Paravent, der
Mobilität hat, ist auch eines der guten Beispiele für den vom
Bild erzeugten Raum. Für Asiaten war er ein gutes Mittel,
damit ihren Raum zu individualisieren. Denn der Paravent
ist selbst ein Bild und zugleich ein Ding, das sich in dem
wirklichen Raum befindet und diesen aufteilt. Während das
an die Wand gehängte Bild oder die Bildschirmrolle auf den Raum des Betrach-
ters keinen physikalischen Einfluss ausüben kann, lässt der Paravent den Bildraum
und den realen Raum des Betrachters sich überlagern. Der Rahmen des Paravents
unterscheidet nicht das Bild von dem Nicht-Bild – eher inszeniert er eine Begeg-
nung der beiden. Während die Leinwand im Werk von Courchesne den Betrachter
von der Außenwelt absondert, führt der Raum, den der Paravent inszeniert, ihn in
eine so genannte Mixed Reality ein.
Im doppelten Paravent (Double Screen) von Zhou Wenju (etwa 10. Jh.), der ver-
schwunden ist und von dem nur einige Abbildungen vorhanden sind, ist dieses
Grenzspiel zu sehen. Das Abbild in der Freer Gallery (Abb. 10) stellt die Leute, die
vor dem Paravent Go spielen, dar. Vor dem eigentlichen Bild spielen oder schauen
vier Männer und daneben steht ein Knecht zum Dienst bereit. Hinter einem Mann,
der wohl der Gastgeber sein soll, steht ein großer Paravent. Dieser Paravent zeigt
noch einen Raum im Bild. Dieser Bildraum im Bild scheint eine Darstellung des
Schlafzimmers zu sein. Auf dem Bett setzt sich ein Mann, der offenbar mit dem
Gastgeber zu identifizieren ist, zur Ruhe und vier Frauen bedienen ihn. Dahinter
kann man noch einen dreiteiligen Paravent finden, auf dem eine Landschaft gemalt
ist. Die Breite und der Winkel der zwei Seitentafeln dieses Paravents bedingen den
Standpunkt des Betrachters. Je nach dem Neigungswinkel der Möbel im Salon und
im Schlafzimmer im Bild ist das Auge des Betrachters von unten rechts vom Bild
aus in den Raum im Paravent im Paravent naturgemäß eingeführt. Der Betrach-
ter sieht durch den Salon in das Schlafzimmer, das auf dem Paravent dargestellt
ist, hinein und bemerkt, dass es eine Illusion im Bild ist. In diesem Moment wirkt

ning of a human relationship to the world mediated by the senses) is not only a precondition
of system-intrinsic communication but also, together with meaning, part of what this com-
munication carries.“ Ibid., S. 104–111, hier S. 107; siehe auch Luhmann (1997), S. 30 f. sowie
S. 41.

41
Blick und Bild

Abb. 10: Zhou Wenju (Kopie), Emperor Hozhu of


the Southern Tang Playing Chess (Houzhu quanqi
tu), Ink and color on paper, 31,3 × 50 cm, Freer
Gallery of Art, Smithsonian Institution, ca. 11 Jh.

freilich auch der visuelle Trick. Der Betrachter wird den Raum vor dem gemalten
Paravent, nämlich den Salon, als eine Wirklichkeit wahrnehmen.
Wu Hung zufolge ist dieses Bild eigentlich auf dem freistehenden Paravent ange-
bracht.85 Bei diesem Bild geht es nämlich um einen Paravent im Paravent im Para-
vent. Es ist ein Bild und zugleich ein Objekt sowie Medium und zugleich Form.
Durch diese Veränderung oder Überlagerung der Rahmen verschmelzen die Rea-
lität des Betrachters und die des Bildes miteinander. Dieser visuelle Trick vermit-
telt dem Betrachter den Eindruck, als ob die Hausszene im Paravent ein Teil der
realen Welt wäre. In diesem Raum, der vom Bild erzeugt wird, oder in dessen Kon-
text wird das Innere des Bildes zum Äußeren und vice versa. Hier ergibt sich die
Umrahmung des Bildes. Der Rahmen des Bildes unterscheidet zwar Inneres und
Äußeres oder Bild und Nicht-Bild, aber er gehört gleichzeitig zu beiden Bereichen.
Alberti hat das Bild als fenestra aperta definiert.86 In diesem Fall sehen wir vor
dem Bild in dessen Raum hinein. Aber der Paravent von Zhou Wenju baut die
Grenze zwischen dem Betrachter und dem Bild ab und rückt sie ins Bild. Diese
Sehen-in-Erfahrung ist in der Videoarbeit Shadow Piece (2005) (Abb.  11) von
David Claerbout deutlich zu sehen. Dieses Werk zeigt einen leeren Raum, wie
das Schwarze Quadrat von Malewitsch. Es referenziert sich selbst und bietet dem
Betrachter einen Raum. Der Betrachter kann im Bild in das Innere des geschlosse-
nen Gebäudes sehen. Diese Inszenierung vermittelt dem Betrachter den Eindruck,
als ob er sich innerhalb des Gebäudes befände. Manchmal kommen die Leute und
sehen in das Innere der geschlossenen Gebäude hinein. Die Tür ist aber geschlos-
sen. Der Betrachter kann innerhalb des Gebäudes beobachten, dass die Leute hin-
ter der transparenten Tür und Wand in das Gebäude hineinsehen. Er wird seine
Augen aus der Perspektive der Kamera naturgemäß anpassen und diese Überein-
stimmung der Augen ruft den Eindruck hervor, als ob er im Innern des Gebäudes
stünde. Hier findet ein Wechselspiel zwischen Entrahmung und Wiederumrah-
mung statt. Obwohl unser Körper sich außerhalb des Bildes befindet, schließt sich
das Bild um uns herum und zieht unseren Raum in seinen hinein. Die Grenze zwi-

85 Wu Hung (1996).
86 Alberti (2000b), I. 19, S. 224.

42
Bildmedien

Abb. 11: David Claerbout, Shadow Piece, 1-Kanal-


Videoinstallation (s/w, Ton), 30’19”, 2005.

schen uns und dem Bild wird aufgehoben und stattdessen werden Tür und Wand
im Bildraum zur neuen Grenze. Denn unsere Realität ist vom Bildraum gefangen
genommen und wir sind von der Grenze, die das Bild bietet, eingeschlossen. Die
transparente Wand zieht eine neue Grenze zwischen dem Inneren und dem Äuße-
ren des Gebäudes im Bild, in dem wir uns nun befi nden. Das Äußere des Bildes, in
dem wir stehen, wird zum Inneren des Bildes und damit tauchen wir ins Bild ein.
Bei dieser Art der Bilderfahrung ist die Beziehung zwischen Innerem und
Äußerem, zwischen Bild und Rahmen oder Form und Medium umgekehrt und
umgeschlagen. Wir können dieses Phänomen durch die Erklärung von Niklas
Luhmann verstehen, der aus der Perspektive der Systemtheorie den Akzent auf das
Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Medium als loser Kopplung von Elemen-
ten und der Form als rigider Kopplung von Elementen gelegt hat.87 Der Medien-
Begriff Luhmanns unterscheidet sich von den anderen Materialitäten. Ihm zufolge
hat der ursprüngliche Begriff von Materie – im Unterschied zur Form – genau die-
sen Sinn: „das von sich aus Unbestimmte und daher für Form Empfängliche, auf
Form Angewiesene zu bezeichnen“.88 Luhmann ersetzt das herkömmliche Schema
von Materie und Form mit der Unterscheidung zwischen Medium als einem Subs-
trat und Form, indem er erklärt, dass Medien „ein sehr hohes Maß an Auflösung
gewährleisten“. Beim Medium können Elemente „faktisch unbestimmt bleiben“,
denn sie sind nur lose verknüpft und deshalb sind sie „potentiell empfänglich für
Strukturierung“.89 Im Gegensatz dazu ist Form dasjenige, was diese losen Ver-
knüpfungen „zu strukturbildenden Mustern verdichtet“. Medien sind durch ihr
hohes Auflösungsvermögen „aufnahmefähig also für Formen; mit ihrer struktur-
bildenden Potenz selektieren die Formen unter den möglichen Verknüpfungen,
welche die Medien ihnen bereitstellen“.
Diese Beziehung zwischen Medium und Form ist von einem beobachten-
den System abhängig. Sie repräsentieren also nicht „physikalische Sachverhalte

87 Luhmann (1986).
88 Ibid., S. 6.
89 Krämer (1998a), S. 76.

43
Blick und Bild

im System“.90 Wie das Licht als ein Wahrnehmungsmedium beispielsweise „ein


Konstrukt“ als Unterschied zur Dunkelheit voraussetzt, ist die Unterscheidung
zwischen Medium und Form auch in einem Kunstsystem „immer nur für dieses
System relevant“. Mit anderen Worten: Die beiden setzen immer „eine Systemre-
ferenz“ voraus. In diesem Zusammenhang erkennt Luhmann, dass die Beziehung
zwischen den beiden in der relativen Unterscheidung liegt, die durch Evolution
variiert.91 Medium und Form verwenden also „dieselben Elemente, unterscheiden
sich aber unter dem Gesichtspunkt der losen bzw. festen Kopplung“.92
Immer wenn wir Medien begegnen, nehmen wir nicht etwa das Medium selbst,
sondern nur Formen wahr. Denn wie Sybille Krämer erläutert hat, tut das Medium
bei Luhmann nichts.93 Es informiert also nicht und enthält nichts. Stattdessen
stürzt es ständig die Beziehung mit der Form um, indem es in unseren Sinnen
seinen Rahmen umsetzt. Die Umrahmung in den Werken von Zhou Wenju und
Claerbout ist ein gutes Beispiel dafür. In diesen Werken überlagern sich das Innere
und das Äußere des Bildes, Virtualität und Wirklichkeit sowie Medium und Form.
Deren Unterscheidung ist nicht absolut, weil wir von Luhmann gelernt haben, wie
wir Medium und Form von der Materie befreien können.94 In dieser Hinsicht hat
Wu Hung mit seiner Analyse Recht, wonach der Paravent selbst „an object, a pain-
ting medium, a pictorial representation, or all three“ sei.95 Er paraphrasiert W. J. T.
Mitchell und bezeichnet den Paravent als „meta-metapicture“.96 Sinn und Bedeu-
tung, die der Paravent erzeugt, bestehen darin, dass er uns in sein inneres Bezie-
hungsnetz, das sich ständig umsetzt, hineinzieht, indem er als ein metapicture die
ikonische Differenz in sich enthält, sich selbst referenziert und erklärt. Er erweitert
sich als Bild und zugleich als Medium sowie als Inneres und zugleich als Äuße-
res, indem er seinen Rahmen überlagern lässt. Er ist selbst ein Bild und zugleich
erzeugt er einen Raum, der eine Illusion konstituiert, auf seiner Oberfläche. Der
Paravent referenziert zwar und zeigt sich selbst, aber in diesem Bild nehmen wir
nicht dessen Medialität, sondern dessen Form oder den von ihm erzeugten Raum

90 Luhmann (1997), S. 166.


91 Anders als Herbert Spencer geht es bei dem luhmannschen Begriff der Evolution nicht um
eine Abfolge, um eine Bewegung von Diff usion (Auflösung in unzusammenhängende Teile)
zu Konzentration und Integration, sondern um eine evolutionäre Steigerung der Interde-
pendenz von beiden Möglichkeiten: Auflösung und Rekombination.
92 Luhmann (1997), S. 167.
93 Krämer (1998a), S. 77.
94 In dieser Hinsicht erläutert Sybille Krämer die luhmannsche Theorie wie folgt. „Diese Me-
dientheorie – das betont Niklas Luhmann auch explizit – ist eine Version des funktionalis-
tischen Materie-/Form-Verhältnisses – mit dem entscheidenden – und auch folgenreichen –
Unterschied allerdings, dass, was das Medium und was die Form ist, in seinen Rollen je nach
Beobachterperspektive wechseln kann. Es geht also um ein Verhältnis, das nicht nur die
analytische Trennbarkeit von Stoff und Form voraussetzt, sondern radikaler noch annimmt,
dass die Funktion der Form prinzipiell unabhängig sei vom Material.“ Krämer (1998a), S. 77.
95 Wu Hung (1996), S. 9 und S. 237–259.
96 Ibid., S. 241.

44
Bildmedien

Abb. 12: Romy Achituv, BeNowHere, Interaktive


Installation, 1997, Courtesy of Romy Achituv.

wahr. Diese Illusion übt auf die Realität des Betrachters große Macht aus, indem
sie im Bildraum den Betrachterstandpunkt einstellt und den Betrachter präsen-
tiert.97
Dieses Umrahmungsspiel findet nicht nur in einem Bild, sondern auch in der
Beziehung der sukzessiven Bilder statt. Viele verschiedene zeitgenössische Live-
Bilder, etwa Filme, sind gute Beispiele dafür. BeNowHere (1997) (Abb. 12) von Romy
Achituv zeigt uns, dass diese Live-Bilder de facto die Kontinuität der Bildrahmen
begründen. In diesem Werk greift der Betrachter in das aktive Videofenster, das
auf der Leinwand fließt, ein.98 Mithilfe der Intervention des Betrachters hinterlässt
jede Szene ihre Spuren auf der Leinwand, indem sie sich vor- oder zurückbewegt.
Und diese Spuren bilden ein nicht-lineares Panorama.
In diesem Werk können wir die schon gefi lmten Panorama-Bilder als viele fra-
mes segmentieren. De facto ist es nichts anderes als eine Simulation des konsti-
tutiven Prinzips von narrative, worin Film oder Live-Bilder begründet sind. Lev
Manovich sieht einen Film, der aus „separate image sequences“ besteht, als eine
progressive Form von „the older simulation technologies“, etwa Panorama oder
Diorama.99 Die Verbindung zwischen den Bildern oder den Szenen, die wir als
montage bezeichnen, erzeugt narrative in ihrer Beziehung. Außerdem könnte
diese Disposition solcher Bilder oder Szenen eine räumliche Illusion verursachen,
wie im Werk von Zhou Wenju oder Claerbout. Ebenso wie der Paravent im Para-
vent einen Raum im Bild schafft, erzeugt der Film eine sukzessive Illusion des
Zeitraums auf der Leinwand. Manovich vergleicht diesen Raum des Films mit
dem „fake space“ der alten Simulationstechnologie. Ihm zufolge unterscheidet
die alte Simulation sich von dem Film, denn sie ist „limited by the materiality
of a view’s body, existing in a particular point in space and time“. Louis Jacques

97 Das Bild zieht den Betrachter in den Bildraum hinein und stellt seinen Standpunkt fest, in-
dem es seinen Rahmen wieder umsetzt. Wir können den Betrachterstandpunkt im Werk von
Zhou Wenju und Claerbout jeweils unten rechts und oben links fi nden.
98 Hier verwendet Romy Achituv Filmmaterial, das Michael Naimark für seine Installation, Be-
NowHere (Welcome to Neighborhood) 1996 aufgenommen hat, als sein Panorama-Bild.
99 Manovich (2001), S. 147–148.

45
Blick und Bild

Mandé Daguerre (1787–1851) zum Beispiel hat den Betrachter in seinem Londoner
Diorama dadurch von einer Szene zur anderen geführt, dass das Amphitheater
mit 200 Plätzen sich um 73˚ drehte. Außerdem vermittelt uns Manovich, dass im
18. Jahrhundert Potemkin (1739–1791) die gigantische Fassade als eine Art Diorama
an der Strecke errichtet habe, wo seine Geliebte, Katharina die Große (1729–1796),
vorbeikam.
Dafür können wir noch viele ähnliche Beispiele, etwa die Festarchitektur in der
Neuzeit100 oder die Bühne vor ihrer Modernisierung101, nennen. Diese alten Simu-
lations-Technologien sind aber in unserem Sinne als eine frühe virtual reality tech-
nology insofern zu verstehen, als sie die Bewegung des Betrachters und die seiner
Augen leiten. In virtuellen Räumen dieser Art konnte das Auge des Betrachters die
ganze Bühne nicht auf einmal fassen, sondern musste von einer Szene oder Spiel-
handlung zur nächsten wandern.102 Die Disposition dieser sukzessiven Bilder oder
Szenen fesselt uns nicht an bestimmte Orte und Zeitpunkte, sondern leitet die
Bewegung der Augen und des Körpers.
Marilyn Aronberg Lavin hat dieses Phänomen beobachtet, als sie die Muster
der Disposition der Fresken vom 13. bis ins 16. Jahrhundert untersuchte.103 Sie hat
ihre Aufmerksamkeit auf die visuellen Narratives und ihren Platz in dem archi-
tektonischen framework in der Dekoration der italienischen Kirchen gerichtet.
Ein Beispiel ist die Brancacci-Kapelle, die von Massacio, seinem Lehrer Masolino
und Filippino Lippi gestaltet wurde. Bei den Fresken in dieser Kapelle, die mit
der Szene Versuchung von Adam und Eva anfangen, handelt es sich um das Leben
des Heiligen Petrus.104 Aronberg Lavin hat die Sequenz der Fresken chronologisch
neu geordnet und den Ablauf der Augenbewegung, die ihnen folgt, schematisiert
(Abb.  13). Die Genesis-Szene, die rechts vom Eingang der Kapelle auf der zwei-
ten Etage beginnt, führt gegenüber zur Vertreibung, aber deren kompositionelle
Schubkraft richtet sich in den Raum der Kapelle. Alle Szenen auf der Höhe der
Stichkappe stellen Evangelien dar. Die Berufung von Petrus und Andreas (Mt. 4:18)
auf der linken Seite und Sturm auf dem See (Mt. 14:24) auf der rechten Seite sind
mit dem Thema „Fischer Petrus“ gepaart. Die halbe Stichkappe auf der Altarwand
thematisiert den Glauben. Hier sind Pasce oves meas (Jh. 21:17) auf der linken Seite
und die Verleugnung Christi (Mt. 26:70) auf der rechten Seite gemalt. Bei allen Sze-
nen auf der zweiten Etage geht es um Wundertaten von Petrus. Auf der linken
Seite ist die Bezahlung des Tributs abgebildet und auf der rechten Seite die Lahmen-
heilung und Auferweckung der Tabitha.

100 Oechslin (1984), S. 8–117.


101 Haß (2005).
102 Belting (2008), S. 205; vgl. Frey (1992), S. 151–223.
103 Lavin (1990).
104 Die folgende Beschreibung über diese Kapelle folgt der Einführung von Aronberg Lavin.
Siehe Lavin (1990), S. 133–138.

46
Bildmedien

Abb. 13: Marilyn Aronberg Lavin, Diagramm der Augen-


bewegung in Bracacci-Kapelle. Florenz, aus: The Place of
Narrative: Mural Decoration in Italian Churches,
431–1600, S. 136.

Die Szene an der Altarwand handelt von der Legende Petri. Das Predigen Petri
(Apostelgeschichte 3:12) auf der linken Seite der zweiten Etage führt nach unten
rechts, zum Tod des Ananias (Apostelgeschichte 5:12). Diese Diagonale kreuzt sich
mit den Szenen der Heilung mit dem Schatten (Apostelgeschichte 5:15) unten rechts
bis zur Taufe der Neubekehrten (Apostelgeschichte 10:48) oben rechts. Also bildet
diese Reihenfolge eine X-Form. Diese Augenbewegung auf der Altarwand ist als
ein visueller Fokus der Kapelle eingeschlossen.105 Außerdem ist hier die Einheit
der visuellen Komposition zu sehen. Diese vier Szenen als Ganzes drängen sich in
das Zentrum der Wand mit der Perspektive der architektonischen Bilder, die ihren
Fluchtpunkt in der Mitte der Fläche unter dem Fenster der Kapelle hat.
Auch in der tiefsten Etage der Seitenwand kann man thematische Einheit ent-
decken. Hier stammen die Szenen, die Aronberg Lavin als „the Festival Mode“
bezeichnet, aus den Apokryphen. Die Szenen auf der linken Seite, etwa Befreiung
Petri aus dem Gefängnis, Wiedererweckung des Sohns des Theophilus und Petrus
auf der Kathedrale sind eine Darstellung dessen, was in Antiochien stattgefunden
hat, und die Szenen auf der rechten Seite, etwa Disput Petri mit Simon Magnus und
Kreuzigung Petri, verweisen auf die Ereignisse in Jerusalem und in Rom. Hier geht
es nicht nur um die Einheit des Orts, sondern auch um liturgische Bedeutungen.
All diese Szenen, die die Festtage Petri zelebrieren, erreichen mit der Kreuzigung
Petri den Höhepunkt der liturgischen Bedeutung. Das Martyrium Petri identifi-
ziert sich mit dem Opfertod Christi.

105 Die oberen zwei Szenen und die untere sind jeweils auf das Thema Bekehrung und Wohl-
tätigkeit bezogen. Außerdem sind sie sich topografisch angeglichen. Die oberen Szenen, die
von Landschaft handeln, entsprechen dem tiefen Ausblick auf die Seitenwand der Kapelle.
Im Gegenteil sind die unteren Szenen architektonisch konstruiert. Darüber hinaus sind die
räumlichen Projektionen aller vier Szenen vereinigt. Siehe Lavin (1990), S. 136 ff.

47
Blick und Bild

In dieser Beobachtung Aronberg Lavins sind die Bilder auf zwei verschiedenen
Achsen, der Einheit der visuellen Komposition und jener des Themas, neu konsti-
tuiert. Mit anderen Worten: Diese Disposition der Bilder ermöglicht dem Betrach-
ter zwei unterschiedliche Blickweisen. Norman Bryson hat sie als gaze, etwa den
kontemplativen Blick, und glance, etwa den flüchtigen Blick, bezeichnet.106 Eigent-
lich sollte der Blick sich auf die physische Präsenz des Betrachters richten. Er dia-
gnostiziert, dass die Unterdrückung der Deixis den Körper auf die optische Ana-
tomie reduziert.107 Dies bedingt die Logik des Blicks. Im Fall der Perspektive ist
der Körper auf einen Punkt auf der Bildoberfläche reduziert, aber hier ist keine
Einheit des Auges zwischen Maler und Betrachter gewährleistet, denn wir beob-
achten die Welt nicht von einem einzigen Punkt aus, sondern mit zwei Augen.
Deshalb geht dem Blick allmählich die Beziehung mit der physischen Präsenz des
Betrachters oder mit dem realen Betrachter verloren. Für Bryson ist die chinesi-
sche Malerei eine Alternative, um den Blick aus der Krise der Perspektive zu retten.
Die Spur des Körpers und die Energie, die die asiatische Malerei enthält, verlangen
vom Betrachter, sich dem Bild „kinästhetisch“ zu nähern.108 In Bildern dieser Art
treffen sich Spur und glance, die aus der Körperbewegung entstanden sind, an der
Schnittstelle der Bildebene.
Die Einheit der visuellen Komposition in der Brancacci-Kapelle verursacht eine
simultane, diskontinuierliche Struktur des gaze. Außerdem konnten die Szenen
durch eine serielle, kontinuierliche Struktur des glance chronologisch konstituiert
werden. Der Zusammenstoß dieser zwei unversöhnlichen Blicke109 wurde schon
von Norman Bryson bei der Freskenreihe von Piero della Francesca in Arezzo
abgelesen.110 Zwischen dem Blick, der aus der visuellen Komposition entsteht, und
dem Auge, das der chronologischen Disposition folgt, bildet der Betrachter eine
räumliche Beziehung mit dem Bild111 und nimmt es als eine Realität an.
Die Disposition der Bilder verweist auf die physische Präsenz des Betrachters
und leitet zugleich seine Bewegung. Der Betrachter konstituiert den Rahmen des
Bildes, indem er ihn durchquert. Die Fresken der Kapelle als Database lassen je
nach der Trajektorie des Blicks des Betrachters eine hypernarrative oder interak-
tive narrative entstehen.112 Deswegen wird der Raum der Kapelle zu „the place
of narrative“, wie der Titel des Buchs von Aronberg Lavin lautet. Die Fusion der
Wahrnehmung und der Bewegung des Betrachters, die in diesem narrativen
Raum stattfindet, bezeichnet Anne Friedberg als „mobilized virtual gaze“.113 Diese
Wahrnehmungsweise gründet in einer Kombination von „a received perception

106 Bryson (2001), S. 117–162.


107 Ibid., S. 124.
108 Ibid., S. 148 ff.
109 Ibid., S. 153–154.
110 Ibid., S. 219.
111 Vgl. Gumbrecht (2004), S. 17.
112 Zur Relation von database und narrative siehe Manovich (2001), S. 227.
113 Friedberg (1993), S. 2.

48
Bildmedien

Abb. 14: Jeffrey Shaw, Place – Hampi, Inter-


aktive Installation, 2006, Courtesy of Jeffrey
Shaw.

mediated through representation“ und „an imaginary flânerie through an ima-


ginary elsewhere and an imaginary elsewhen“. Der Betrachter in der Kapelle ver-
körpert diese mobilized virtual gaze in der von den Bildern repräsentierten Welt
und in der Bewegung seines Auges. Der autonome Blick und die Imagination des
Betrachters bestimmen den Bildraum und dessen Rahmen und damit konstituiert
er seine Präsenz und Bewegung. In diesem Moment bedingen sich die Rahmen der
Bilder und der Blick des Betrachters gegenseitig.
Place – Hampi (2006) (Abb. 14), eine Installation von Jeff rey Shaw, die er seit
dem Jahr 1996 entwickelt hat,114 zeigt uns eine tiefe Überlegung über die Umrah-
mung des Bildes, die Präsenz des Betrachters und den Raum zwischen den beiden.
Dieses Werk ist auch als panoramaartige Form, wie im Werk von Luc Courchesne,
realisiert. Der Betrachter auf der drehenden Plattform projiziert das Bild auf einen
75˚ umfassenden Bereich der zylinderförmigen Leinwand. Hier wird der Betrach-
ter in der Pfeilmetapher zum Maler der Renaissance, der die Perspektive auf unser
Auge schießt.115 Er projiziert das Bild und zugleich nimmt er es wahr. Hier ver-
schwindet die Differenz zwischen Bildproduktion und Wahrnehmung. Die konti-
nuierliche Rotation des 75˚-Sichtfensters über der Leinwand enthüllt den gesamten
360˚ umfassenden Radius des computergenerierten Schauplatzes. Die Anweisung
des Betrachters setzt die Rotation des Bildes in Gang und damit konstituiert er
ein panoramaartiges Bild als Ganzes. Der Bildraum im Panorama enthält sech-
zehn virtuelle Zylinder, die die heiligen Orte von Vijayanagar (Hampi) in Süd-
indien darstellen. Diese Installation realisiert das Panorama im Panorama, gleich
dem Paravent im Paravent. Natürlich fi ndet hier auch ein Spiel der Umrahmung
statt. Der Betrachter sieht nicht nur das 360˚-Bild, das sich dreht oder gedreht wird,
sondern kann auch den Bildraum, der sechzehn Zylinder enthält, durchqueren.
Er kann sich in diesem Bildraum von einem virtuellen Panorama zum anderen
bewegen. Wenn er die Rahmen der Bilder durchquert, verschwindet die Grenze

114 Diese Installation wird seit Place – a user’s manual (1996) ständig upgegradet. Während an
der Hardware, etwa der zylinderförmige Leinwand und der Plattform, nicht so viel verän-
dert wird, wird der Inhalt immer wieder neu inszeniert. In diesem Werk kann man mit der
polarisierten Brille ein 3D-Bild genießen.
115 Kubovy (1986), S. 1–14.

49
Blick und Bild

zwischen Virtualität und Wirklichkeit, Bild und Medium, Materie und Form und
wird immer wieder neu gezogen.
Auf der Leinwand, die sich um den Körper des Betrachters herum schließt,
können die 16 Panoramen entfaltet werden. Die zylinderförmige leere Leinwand
schafft einen physikalischen Raum, aber zugleich kann er je nach Inhalt zum
Panorama oder zu einem Raum zwischen den virtuellen Leinwänden werden. Sie
wird also zu einer Realität, zu deren Repräsentation und zu einem Ort der Reprä-
sentation. Auf der Leinwand von Place werden sowohl der virtuelle als auch der
physikalische Raum erzeugt. Der Paravent von Zhou Wenju als ein Ort der Reprä-
sentation bietet dem Betrachter einen Raum auf seiner Oberfläche. Im Gegensatz
dazu schaffen die Bilder der Brancacci-Kapelle durch ihre architektonische Kom-
position oder die Augenbewegung einen Raum für die Bewegung des Betrachters.
In dem Place findet die Kombination der beiden statt. In dieser Installation funk-
tioniert das projizierte 75˚-Bild als ein Rahmen, in dem der Betrachter im virtuel-
len Raum navigieren kann, aber die Rotation des Betrachters ermöglicht eine suk-
zessive Disposition der Bilder auf der Leinwand. Hier ist der physikalische Raum,
der den Betrachter umschließt, paradoxerweise von dem autonomen Auge und der
Bewegung des Betrachters abhängig.
In dieser Hinsicht hat Mark Hansen dem Körper eine Funktion der akti-
ven Umrahmung zugeschrieben.116 In diesem Werk bleibt der 285˚ umfassende
Bereich – also außerhalb des projizierten 75˚-Bilds – auf der Leinwand immer leer.
Der Betrachter kann aber deswegen diesen zylinderförmigen 360˚-Raum als ein
Panorama betrachten, weil er die Bilder, die mithilfe der Rotation der Plattform
als sukzessive wahrgenommen werden, in seinem Körper wieder konstituiert.
Was in diesem Werk das ganze Panorama konstituiert, ist nämlich das Gehirn des
Betrachters, das die Bildersequenz synthetisch im Gedächtnis trägt.117 Der Körper
des Betrachters, der sich im physikalischen Raum befindet, operiert die Disposi-
tion der Bilder und deshalb wird der menschliche Körper zu einem Bildspeicher118
und zugleich zu einem Rahmen des Bildes.119
Hansen stellt fest, dass die Installation von Jeffrey Shaw sich bemüht, „to
expose the origin of the virtual image in the body-brain achievement of embodied

116 In seinem Buch Grammophon, Film, Typewriter postuliert Friedrich Kittler, dass die Diffe-
renz zwischen den Medien durch digitale Konvergenz verschwunden ist, und folglich muss
der Datenfluss sich an die menschliche Wahrnehmung nicht anpassen. In dieser Perspekti-
ve hat das digitale Bild als ein autonomes technisches Bild die intrinsische Korrelation mit
unserer Wahrnehmung verloren. Mark Hansen distanziert sich von diesem Medienbegriff
Kittlers. Aus einem phänomenologischen Standpunkt kritisiert er diese „obsolescence of the
image“ und beleuchtet den menschlichen Körper, den er als „affective body“ bezeichnet, als
einen „active framer of the image.“ Siehe Kittler (1986), S. 7–33 und Hansen (2004).
117 In dieser Hinsicht empfiehlt Barbara Maria Stafford, dass wir uns nicht nur mit sozialer oder
kultureller, sondern auch kognitiver Annährung zum Bild beschäft igen müssen. Stafford
(2004).
118 Belting (2001), S. 19–22.
119 Siehe Hansen (2003) und ders., (2006).

50
Bildmedien

(human) framing of information“.120 Hier wird die Modalität der Wahrnehmung


„from perception passively guided by a technical frame to perception actively crea-
ted via (human) framing“ verschoben. Hansens Betonung der aktiven Rolle des
Betrachters bei der Umrahmung der Bilder erinnert uns an den Medienbegriff von
Niklas Luhmann, in dem die Schichtung von Medium und Form je nach der Per-
spektive des Betrachters ständig stattfindet. Bei Place konstituiert unser Auge tat-
sächlich das Bild und dieses Bild wird zu einer Welt. Semir Zeki hat die Differenz
zwischen dem mentalen Bild und dem materialen Bild verneint, indem er ästheti-
sche Erfahrung der biologischen Funktion des Gehirns zuschreibt.121 Es ist näm-
lich eine Antizipation über das Verschwinden der Differenz zwischen Malen und
Sehen oder zwischen Produktion und Wahrnehmung des Bildes.122 Unser auto-
nomer Blick konstituiert das Bild. Wir sehen nur „in order to be able to acquire
knowledge about this world“, wie Zeki geäußert hat.123 In dieser Hinsicht hat Peter
Weibel Recht, wenn er sagt, dass die Kunst von Jeff rey Shaw in der technischen
Beziehung zwischen Bild und Betrachter „die Welt als mögliche Konstruktion“
zeigt124. In unserem Sinne bestimmt der autonome Blick des Betrachters die Rah-
men der Bilder und schneidet die Welt zu. Deshalb wird die Welt in diesem Werk,
wie der Titel des erstes Werks dieser Reihe, Place – a user’s manual (1995) erklärt,
zu einer „Welt als Gebrauchsanweisung“, etwa einer „Welt der Modalität“.125
Das Bild im Place ist durch den autonomen Blick des Betrachters als active fra-
mer neu angeordnet und konstituiert. Das Auge des Betrachters und die Welt sind
als ein Ganzes vereinigt und die Rahmen der Bilder schaffen eine Realität oder
Welt, die nicht nur ihr Inneres, sondern auch den Körper des Betrachters umfasst.
In diesem Moment ist der Betrachter im Bild eingeschlossen, indem er zu ihm
eine räumliche Beziehung aufbaut. Marie-Luise Angerer hat dieses Verschwinden
der Distanz zwischen Bild und Betrachter als „interessanteste Neuerscheinung“
unserer Zeit bezeichnet.126 Laut ihr werden wir zu Zeugen der Umkehrung von
der Frontalposition des „Gegenübers“ zum „Eintauchen“. Dieses Phänomen ist ein
wichtiges Merkmal der Immersion. Peter Sloterdijk hat Immersion als ein Entrah-
mungsverfahren für Bilder und Anblicke definiert.127 Der Betrachter und das Bild

120 Ibid. (2003) S. 87.


121 Zeki (1999).
122 Vgl. Bredekamp (2005b), S. 123–126.
123 Zeki (1999), S. 4.
124 Peter Weibel stellt fest: „Seine Kunst ist nicht Bildkunst, sondern Beziehungskunst, Schnitt-
stellenkunst. Da diese Beziehung in der apparativen Kunst technisch hergestellt wird, ist
seine Kunst technische Beziehungskunst. Die Ausgestaltung der Technik ist gleichzeitig die
Gestaltung der Beziehung zwischen Bild und Betrachter. […] In der Entwicklung der Steuer-
barkeit der technischen Beziehung zwischen Bildern der Welt und Betrachtern der Welt liegt
die Steigerung der Freiheitsgrade in der Beziehung zur Welt und der Möglichkeit, die ‚Welt‘,
zumindest ihre Bilder, nach eigenen Vorstellungen zu gebrauchen.“ Weibel (1997), S. 19.
125 Ibid.
126 Angerer (2006), S. 3 ff.
127 Sloterdijk (2006), S. 58.

51
Blick und Bild

stehen sich nicht gegenüber. In der Beziehung mit dem Bild hebt der Betrachter die
Grenze auf und wird selbst zum Produzenten der immersiven Umwelt. Wie wir
schon oben gesehen haben, kann das Bild in der Selbstreferenz zu einer Realität
des Betrachters werden. In unserem Sinne interagieren die innere Logik des Bil-
des und der Blick des Betrachters miteinander. Genauer gesagt: Sie bedingen sich
gegenseitig. Der Bildraum generiert eine Präsenz des Betrachters und umgekehrt
schafft der Blick des Betrachters einen Bildraum. In diesem Prozess ist die Distanz
zwischen den beiden aufgehoben und sie verschmelzen miteinander. Der Körper
wird selbst zu einem Teil des Bildraums, indem er sich seiner Präsenz bewusst ist.

2.4 Blick des Bildes

Beim Schweißtuch der Veronika von Francisco de Zurbarán (1658) (Abb. 15) kann
man den Formationsprozess der Präsenz oder der Selbsterkenntnis des Betrach-
ters nachvollziehen. Dieses Werk gehört zu der Tradition der nicht von Menschen-
hand gemachten Gottesbilder (acheiropoieta) und es benutzt zugleich die Trompe-
l’œil-Methode. Aber das Heilige Antlitz, das tatsächlich in der Veronika-Legende
eine praktische Bedeutung hat, ist nicht erkennbar gemalt. Während das Schweiß-
tuch der Veronika, das heißt der Bildträger, als Trompe-l’œil dargestellt ist, ist das
Antlitz Christi, das heißt das Bild, auf einen karminroten Farbfleck reduziert. Es
scheint eine individuelle Lösung Zurbaráns in der Polemik um die vera icon, die
im Rahmen der Reformation und Gegenreformation geführt wurde, zu sein.128
Hier beleuchtet Zurbarán nicht durch das Antlitz, sondern durch das Schweiß-
tuch den selbstreferenziellen Charakter des Bildes. In der ikonischen Differenz
der Bilder wird das Antlitz Christi oder der Fleck zu dem, was darstellbar ist, und
zugleich zu dem, was nicht darstellbar ist, oder zu einer Präsenz und zugleich zu
einer Repräsentation der Göttlichkeit.
Wir können zwar das Antlitz nur als einen Fleck betrachten, aber das Bild strömt
immer mit starker Lebendigkeit auf uns ein. In Anlehnung an Hans Belting stellt
Victor I. Stoichita fest, dass dieses Bild sich an der Schwelle zwischen der „Ära des
Bildes“ und der „Ära der Kunst“ befi ndet.129 Der neue Kunstbegriff erneuere den
alten Glauben. Hier wird die so genannte Kunst „in den Dienst des Glaubens“130
gestellt. In dieser Hinsicht sollten wir uns an die Tatsache erinnern, dass Bilder
sich auf die Frage nach der Selbsterkenntnis des Betrachters beziehen. In diesem
Werk wird der Schleier zu einem Grund und zugleich zu einer Figur. Er reizt einer-
seits als ein Objekt das Auge des Betrachters und andererseits lässt er uns das Ant-
litz Christi assoziieren. Der Betrachter konstituiert mithilfe seiner Vorstellungs-
kraft das Antlitz Christi, wie in einem Rohrschach-Test. Er sieht also, wie und was

128 Siehe Stoichita (1991), S. 200; vgl. Belting (2005a).


129 Stoichita (1991), S. 203 ff., siehe auch Belting (1990).
130 Stoichita (1991), S. 204.

52
Blick des Bildes

Abb. 15: Francisco de Zurbarán,


Schweißtuch der Veronica, Öl auf Leinwand,
105 × 83 cm, 1658.

er sehen will. Dadurch leitet das Bild die Selbsterkenntnis des Betrachters ab. Um
es anders auszudrücken: Es wird zu „a kind of mirror for the beholder, or a screen
for self-projection like Rorschach test“.131
Das Spiel zwischen Medium und Form in diesem Werk ermöglicht es, den
Betrachter zu betrachten.132 Das Bild als metapicture erkennt sich selbst und wirft
zugleich Licht auf den Betrachter. Das Antlitz reagiert auf unsere Vorstellung oder
unseren Blick, wie „Kaninchen und Ente“. Es repräsentiert den Blick des Betrach-
ters. Er ist ein symbolischer Ort, an dem der Betrachter seinen Blick wahrnehmen
kann, und zugleich ein lacanscher Fleck. Von Jacques Lacan haben wir gelernt,
dass der Blick sich beim Bild schon vor dem Auge des Betrachters befindet133 und
dass die Selbsterkenntnis des Betrachters de facto von den anderen konstituiert
wird.134 In diesem Zusammenhang durchquert das Antlitz, nämlich der Blick des
Bildes,135 den Betrachter und konstituiert seine Präsenz. Der autonome Blick des
Betrachters im Bildraum ist vom Blick des Bildes, der sich schon vor ihm befindet,
bedingt.
Dieser Blick des Bildes wurde schon von Nicolaus Cusanus in De visione dei,
aus dem Jahr 1453, ausführlich behandelt. Cusanus sandte diesen Traktat mit einer
niederländischen Gottesikone, die an der Nordwand des Konvents aufgehängt

131 Mitchell (1994), S. 48.


132 Crary (1996).
133 Lacan (1978), S. 78; über Ikonologie des Blicks siehe Belting (2006a).
134 Lacan (1985).
135 Nancy (2001).

53
Blick und Bild

werden sollte, den Mönchen der Benediktinerabtei Tegernsee und wollte sie damit
in ästhetische und religiöse Erfahrungen einführen.

„Zuerst werdet ihr euch darüber wundern, wie es geschehen kann, dass es alle
und jeden einzelnen zugleich ansieht. Denn derjenige, welcher im Osten steht,
kann sich in keiner Weise vorstellen, dass der Blick des Bildes auch in eine
andere Richtung, nach Westen oder Süden, gerichtet ist. Nun mag der Bruder,
der im Osten steht, sich nach Westen begeben und erfahren, dass der Blick hier
ebenso auf ihn gerichtet ist wie vordem in Osten. Und da er weiß, dass das Bild
fest hängt und unbeweglich ist, wird er sich über die Wandlung des unwan-
delbaren Blickes wundern. Auch wenn er einen Blick fest auf das Bild heftet
und von Osten nach Westen geht, wird er erfahren, dass der Blick des Bildes
ununterbrochen mit ihm geht und, kehrt er von Westen nach Osten zurück, ihn
auch dann nicht verlässt. Er wird sich wundern, wie dieser Blick sich unbeweg-
lich bewegte.“136

Hier überschneiden sich der Blick des Bildes und der alles sehende Gott.137 In dem
Experiment, das der Bischof von Brixen vorgeschlagen hat, treffen die Mönche auf
den ikonischen Blick,138 der einerseits alles ringsum überschaut und andererseits
jeden Einzelnen von ihnen anblickt. Dieses Bild ist zwar eine unbewegte Mate-
rie, aber es verändert sich je nach der Bewegung des Betrachters, als ob es belebt
wäre.139 Die Mönche waren von diesem Bild, das sie von allen Richtungen aus

136 Kues (1967), Vorwort, S. 97.


137 Ibid. S. 95. Die Tradition, im Auge Göttliches zu erkennen, ist im Dialog ‚Anuli’ von Leon
Battista Alberti auch zu sehen. Hier erzählt Alberti von Siegelringen, die in einem Brunnen
gefunden werden. Die Symbolik des ersten dieser Ringe, der Augen mit Adlerflügeln inner-
halb eines Kranzes zeigt, deutet Alberti wie folgt. „Der Kranz ist das Symbol der Freude und
des Ruhms: nichts ist mächtiger, schneller, würdevoller als das Auge; was soll man mehr
sagen? Es ist derart, dass es unter den Gliedern das erste und hervorragendste sowohl ein
König als auch fast ein Gott ist. Warum sonst deuten die Alten Gott als etwas dem Auge
Ähnliches, der das Universum schaut und das Einzelne unterscheidet? So werden wir also
ermahnt, unsern Lobpreis aller Dinge an Gott zu richten, uns in ihm zu freuen, ihn mit
ganzem Herzen und mit grünender und blühender Tugend zu umfassen, ihn, den Gegen-
wärtigen, der alles Unsrige sieht und unser Tun und unsre Gedanken kennt. Dann werden
wir andrerseits ermahnt, wachsam und besonnen zu sein, soweit es unsre Einsicht erlaubt,
indem wir alles aufspüren, was auf Ruhm der Tugend abzielt, und uns in ihm zufreuen, wenn
wir durch Fleiß und Mühe etwas von den guten und göttlichen Dingen erlangt haben.“ Zi-
tiert nach Einem (1968), S. 282. Während bei Alberti das menschliche Auge fast zum Gott
erhoben wird, ist es bei Cusanus von dem Blick Gottes überwältigt. Siehe Belting (2008),
S.  229–246; über den Vorrang des Auges als Göttliches siehe Chapeaurouge (1983) sowie
Schmidt-Burkhardt (1995), und über das geflügelte Auge Albertis siehe Watkins (1960) sowie
Bredekamp (1994).
138 Über den ikonischen Blick siehe Belting (2006a) und ibid. (2008).
139 In dieser Hinsicht bringt Fehrenbach Albertis Erwähnung über die paradoxe Lebendigkeit
der Bilder zur Erinnerung. Er stellt fest: „Paradox deshalb, weil das faktisch unbewegliche
und aus bloßen Farben gefertigte, tote Substrat die beiden wichtigsten ‚Ämter des Lebens‘

54
Blick des Bildes

anblickte, überrascht.140 Es ließ nämlich der ikonische Blick als unbewegter Bewe-
ger,141 so die Formulierung von Cusanus, den Betrachter bewundern.
Dieser ikonische Blick bildet zum Handicap des Betrachters, der nur einen ein-
zigen Blickpunkt hat,142 einen Kontrast. Die Betrachter können ihre visuellen
Erfahrungen denkbar miteinander austauschen, aber trotzdem können sie die
Schranken ihrer individuellen Perspektiven nicht überwinden. Denn es gibt nie-
manden, der auf andere Weise als seine Nachbarn blicken kann. Deshalb unter-
wirft der menschliche Blick sich dem ikonischen Blick oder dem absoluten Blick
Gottes.143
Während der Mensch nicht alles auf einmal sehen kann, sieht der Blick Gottes
in sich alles.144 Der Blick Gottes ist „das Auge der Kugelhaft igkeit und der unend-
lichen Vollkommenheit“.145 Er steht und bewegt sich zugleich und er sieht „alles
und das einzelne zugleich“.146 Das Auge des Betrachters, das sich im Wahrneh-
mungsraum bewegt, wird den Blick des Bildes, der wie ein Schatten seinen Bewe-
gungen folgt,147 sinnlich erleben. In der Pfeilmetapher kann der Betrachter den
Platz des Schützen nicht mehr einnehmen und wird zum vom ikonischen Blick des
lebendigen Bildes Gesehenen. Der ikonische Blick überwältigt den Betrachter, der
sich als Herrscher des Sehfelds verhalten wollte, und lässt ihn als ein Gesehenes
wiedergeboren werden. Dieser Umkehrung der Beziehung zwischen beiden sind
wir schon bei Narziss und Medusa sowie bei Jacques Lacan148 und Maurice Merle-
au-Ponty149 begegnet. Der ikonische Blick des lebendigen Bildes schließt sich um
uns herum und blickt uns an.

ausübt, wie Alberti in seinem Malereitraktat kurz zuvor, gut aristotelisch, betont hatte: mo-
tus et sensus.“ Fehrenbach (2003b), S. 1–2; siehe auch Alberti (2000b), II. 37 S. 260–263 und
Aristoteles (1995), II. 413ab, S. 64–71.
140 Diese Bilderfahrung ist kein neues Phänomen. Die scheinhafte Bewegung des Bildwerks
wurde schon von den antiken Autoren wie Lukian und Plinius behandelt. Lukian (1938),
S. 32, Plinius (1997), 120; zur mittelalterlichen Beschreibung dieses Phänomens siehe Rathe
(1938), S. 50–52; vgl. über die Lebendigkeit des bewegten Bildes und die allgemeine Annäh-
rungen zu diesem Gombrich (2002), S. 96, Chapeaurouge (1983), S. 49–50, Freedberg (1989),
S. 292, Fehrenbach (2003b), S. 1–3 sowie Bredekamp (2006)
141 Vgl. Aristoteles (1991), XII. 1071b–1073a, S. 249–261.
142 Dieser Kontrast ist auch in der Monadologie von Leibniz zu sehen. Dort stellt er fest: „Wie
eine und dieselbe Stadt von verschiedenen Seiten betrachtet ganz anders und gleichsam per-
spektivisch vervielfacht erscheint, so kommt es auch, dass es infolge der unendlichen Viel-
heit der einfachen Substanzen ebenso viele verschiedenen Universen gibt, die dennoch nur
die unterschiedlichen Perspektiven eines einzigen gemäß den verschiedenen Gesichtspunk-
ten jeder Monade sind.“ Leibniz (1998), §57, S. 41–43.
143 Belting (2008), S. 241; siehe auch Certeau (1984), S. 70–85, sowie Schmidt-Burkhardt (1995).
144 Kues (1967), VIII, S. 127.
145 Es erblickt also zugleich alles sowohl im Umkreis wie aufwärts und abwärts. Ibid., VIII,
S. 127.
146 Ibid., IX, S. 131.
147 Ibid., XV, S. 161.
148 Lacan (1978).
149 Merleau-Ponty (2002) sowie ders. (1994).

55
Blick und Bild

Kurioserweise hat Cusanus diesen ikonischen Blick mit der unveränderten


Liebe Gottes gleichgesetzt.

„Dein Sehen, Herr, ist Lieben, und wie Dein Blick mich so aufmerksam betrach-
tet, dass er sich nie von mir abwendet, so auch Deine Liebe. Und weil Deine
Liebe immer mit mir und sie nichts anderes ist als Du selbst, der mich liebt,
darum bist Du immer mit mir, Herr, Du verlässt mich nicht. Von allen Seiten
behütest Du mich, weil Du aufmerksamst Sorge für mich trägst. Dein Sein, Herr,
verlässt mein Sein nicht. Soweit Du mit mir bist, soweit bin ich. Und da Dein
Sehen Dein Sein ist, bin ich also, weil Du mich anblickst. Wendest Du Dein Ant-
litz von mir, so würde ich in keiner Weise weiter bestehen.“150

In dieser Liebe Gottes wird die ästhetische Erfahrung zur religiösen sublimiert.
Der Betrachter erlebt also in dem ikonischen Blick die Präsentation Gottes.151 Die
Grenze zwischen Gott oder Bild und Betrachter wird aufgehoben und Gottes Liebe
strömt in den Betrachter ein152 und konstituiert ihn dadurch. Hier wird Gott oder
der ikonische Blick zu einem Fundament der Präsenz des Betrachters. Ohne den
Blick oder die Liebe Gottes können wir nicht mehr existieren, wie Cusanus sagt,
denn sein Blick ist Ursprung des Lebens. Er sieht alles und begründet alles.153 Des-
halb bildet die Sehnsucht nach Gottes Liebe oder seinem Blick das Wesen des
Betrachters und konstituiert ihn.154
Mithilfe des ikonischen Blicks wird die Grenze zwischen Bild und Betrachter
aufgehoben. Cusanus hat diesen ikonischen Blick als eine „Umarmung, in der die
süße Freude“ 155 von Gottes Liebe ist, die den Betrachter „liebevoll umschließt“,
bezeichnet. In der absoluten Befriedigung, die die Umarmung der Bilder hervor-
ruft, fängt der Betrachter an, sich selbst zu erkennen. Diese Selbsterkenntnis des
Betrachters geht davon aus, „eine Wahrheit, von der wir selber das Bild sind“,156
im Blick Gottes, etwa in einem lebenden Spiegel der Ewigkeit157, zu entdecken. Mit
anderen Worten ist das, was wir in dem Blick Gottes entdecken, nicht das eigene
Bild, sondern das Bild, das wir von Gott erblicken.158 In der Umarmung der Liebe

150 Kues (1967), IV, S. 105.


151 Ibid., IV, S. 103.
152 Ibid., IV, S. 107.
153 Ibid., VIII, S. 125.
154 Ibid., IV, S. 103–107 und ibid., XVI, S. 164–167.
155 Ibid., IV, S. 107.
156 Ibid., XV; die Übersetzung in Anlehnung an Hans Belting (1990), S. 606.
157 Kues (1967), XV, S. 161.
158 In dieser Hinsicht hat Cusanus wie folgt zugegeben: „Mein Gott, Du bist so der Schatten,
dass Du die Wahrheit bist, und so das Abbild von mir und jedem anderen, dass Du das Ur-
bild bist.“ Ibid., XV, S. 161; vgl. über diese Analogie zwischen Gott und Menschen auch Leib-
niz (1998), § 83, S. 91.

56
Blick des Bildes

nähert der Betrachter sich allmählich der Unendlichkeit, indem er ein perfektes
Bild Gottes, das heißt unser eigenes Urbild, sucht.
In unserem Sinne ist das, was wir in der Bilderfahrung entdecken oder entde-
cken müssen, nichts anderes als die Unendlichkeit Gottes oder dessen ikonischer
Blick159, denn wir können nur in der Unendlichkeit eine absolute Erfüllung erle-
ben.160 Diese Sehnsucht nach der Unendlichkeit gibt uns einen wichtigen Hinweis,
wie wir den virtuellen Raum und dessen Erfahrung verstehen können. Richten
wir unseren Blick auf das Deckenfresko in Sant’Ignazio (wahrscheinlich zwischen
1691 und 1694) (Abb.  16). Andrea Pozzo hat hier die Bewegung des Betrachters
zur Unendlichkeit Gottes und den Raum des ikonischen Blicks fantastisch insze-
niert.161 Bekanntlich ist illusionistische Malerei von Pozzo dadurch charakteri-
siert, dass perfekte Illusion „nur von einem einzigen Betrachterstandpunkt aus“
funktioniert.162 In diesem Kirchenraum scheint es auch, dass Pozzo den Eindruck
des allgegenwärtigen Blicks, den Cusanus beschreibt, nicht simuliert, sondern dass
er einen anderen Weg geht. Er hat mit der in der Mitte des Langhauses im Fuß-
boden eingelassenen Marmorplatte einen idealen Betrachterstandpunkt markiert.
Nur an diesem Punkt in der ganzen Kirche ist perfekte Illusion entstanden. Der
Betrachter hat also in gewissem Sinne die Wahl, in die Illusion einzutauchen oder
nicht. Aber in der Tat bewegt der Betrachter sich, um den Augpunkt, den Pozzo
angelegt hat, zu finden. Christine Buci-Glucksmann postuliert, dass die folie du
voir über die Realität siegt und in der pausenlosen Metamorphose des Spektakels
nach der Anamorphose begehrt.163 Diese Behauptung meint unsere Tendenz, von
der Realität zur virtuellen oder traumhaften Welt flüchten zu wollen. Cusanus hat
es als eine Annäherung an die Unendlichkeit verstanden. Aus gleichem Anlass
beginnt der Betrachter von Pozzo die Bewegung, um eine perfekte Illusion zu ver-
folgen.
In Sant’Ignazio verrät die Deckenmalerei je nach der Bewegung des Betrach-
ters ihre verschiedene Modalität. Das Fresko, das auf der Wölbung gemalt ist,
basiert auf der Perspektive Albertis.164 Dank der perspektivischen Verkürzung hat
der Betrachter, der von dem Augpunkt abweicht, den Eindruck, als ob die fi ktive

159 Vgl. über die Bilderfahrung als Kommunikation mit dem Urbild Boehm (1969), S. 24–28.
160 Kues (1967), IV, S. 107 sowie ibid., VIII, S. 127.
161 Felix Burda-Stengel hat in seiner Dissertation über die illusionistische Malerei von Pozzo
auf die räumliche Bewegung des Betrachters, die dank seiner ‚Ein-Betrachter-Standpunkt-
Perspektive’ unvermeidlich verursacht ist, fokussiert und ihn mit der Wahrnehmungsweise
heutiger Medienkunst verbunden. Burda-Stengel (2001). In unserem Sinne gibt diese Annä-
herung uns einen Hinweis, den Bildraum verstehen zu können. Durch die Bewegung des Be-
trachters, der eine perfekte Illusion verfolgt, wird die Sehen-In-Erfahrung beim Bild de facto
zu einer räumlichen Erfahrung und der ikonische Blick wird zur Basis der Bewegung in dem
virtuellen Raum.
162 Burda-Stengel (2001), S. 10.
163 Buci-Glucksmann (2002), S. 99.
164 Burda-Stengel (2001), S. 87 und S. 107-109.

57
Blick und Bild

Abb. 16: Andrea Pozzo, Deckenfresko in


Sant’Ignazio, Rom, ca. 1691–1694.

Architektur auf der Decke für den Betrachter umkippte.165 Im Gegensatz dazu sind
die Auswirkungen der perspektivischen Verschiebung bei Figuren und Wolken
weniger stark zu spüren, weil sie bewegend und verschwommen dargestellt sind.166
Die Tatsache, dass Pozzo fast drei Viertel der Bildfläche mit der Scheinarchitek-
tur ausfüllt, obwohl ihm das Problem der perspektivischen Verkürzung schon
bewusst war, verrät uns, dass er dies mit Absicht konzipiert hat. Auf diese Frage
gibt uns Felix Burda-Stengel eine befriedigende Antwort, indem er darauf hin-
weist, dass der Betrachterstandpunkt sich in der Mitte des Kirchenschiffs befindet.
Der Betrachterstandpunkt liegt nämlich direkt unter Christus, der im Zentrum
der Deckenmalerei steht. Der Betrachter, der sich zum Gottesdienst vom Eingang
der Kirche zum Altar bewegt, erlebt plötzlich eine wundersame Verwandlung des

165 Dieses Phänomen relativiert sich von der Erwähnung Gombrichs. Er hat festgestellt, dass
das Trompe-l’œil seinen Kunstcharakter in dem Moment enthüllt, in dem der Betrachter
sich bewegt, wobei die Gegenstände des Trompe-l’œil ihr Aussehen aber nicht verändern.
Gombrich (2002), S. 233–235.
166 Vgl. über das ikonographische Programm Pozzos Wilberg-Vignau (1970), S.  45–46 sowie
Burda-Stegel (2001), S. 88–93.

58
Blick des Bildes

Raumes in diesem Punkt.167 Wahrscheinlich hatte Pozzo die Absicht, diesen Effekt
zu inszenieren. Hier verschmelzen die Wirklichkeit und die Virtualität miteinan-
der und der Betrachter erlebt Gott nicht mit dem Auge des Körpers, sondern mit
dem des Geistes.168
Hier können dem Terminus „Auge des Geistes“ zwei Bedeutungen zugeschrie-
ben werden. Erstens bedeutet es ein spirituelles Auge, das in einer Entzückung
Gott sieht. Zweitens hat es eine technische Bedeutung, die sich auf die Perspektive
bezieht. Die Perspektive ist de facto eine symbolische Repräsentation des Betrach-
terauges.169 Sie visualisiert den Blickpunkt. Deshalb erlebt der Betrachter, dass er
mit dem virtuellen Auge, das von seinem Körper abgelöst ist, die bildliche Reali-
tät sieht. Pozzos Deckenmalerei hat diese beiden Bedeutungen erfolgreich kompo-
niert. Das heißt: Das perspektivische Auge kreuzt sich mit dem Blick Gottes. Im
Moment der perfekten Illusion umschließt der ikonische Blick, der von oben her-
untersieht, den Betrachter und damit verwandelt der Raum des Betrachters sich als
eine himmlische Welt. Ebenso wie beim Schweißtuch von Zubarán oder der nie-
derländischen Gottesikone von Cusanus ist auch hier eine Begegnung von Kunst
und Religion inszeniert. Zu diesem Zeitpunkt wird die Betrachterbewegung, die
am Eingang des Kirchenraums begann, zur ästhetischen Erfahrung, eine perfekte
Illusion zu verfolgen, und zugleich zur religiösen Erfahrung, sich Gott zu nähern.
Jacques Lacan zufolge können wir im Blick Gottes ein Gefühl der Sicherheit und
Zufriedenheit haben.170 Gemäß der oben erwähnten Aussage von Buci-Glucks-
mann verfolgt der Betrachter eine perfekte Illusion, ohne zu wissen, wohin sie
ihn leitet. Die Illusion verursacht die Bewegung des Betrachters und ermöglicht
ihm Selbsterkenntnis. Der Betrachter kann sein Verhalten erkennen und feststel-
len, dass diese Illusion nichts anderes als eine Virtualität ist, aber er kann nicht
behaupten, dass er der Herrscher in diesem Sehfeld ist. Denn wir sind in der Welt
Gesehene, wie Merleau-Ponty gesagt hat.171 Hier können wir den von Pozzo insze-
nierten Raum als einen Blickraum charakterisieren. Die Sehnsucht von Cusa-
nus nach der Unendlichkeit quert im virtuellen Raum Pozzos die Bewegung des
Betrachters, der eine Illusion verfolgt. Außerdem entspricht der Blick Christi
dem Fluchtpunkt der Perspektive, die einen virtuellen Raum vermittelt.172 In der
Inszenierung Pozzos verwandelt sich der Kirchenraum in einen virtuellen Raum
und zugleich in einen Blickraum und damit stiftet der ikonische Blick ein Raum-
problem.173

167 Dieses Ereignis trägt doppelte Bedeutungen. Einerseits wird Christus zum Schlüssel, mit
dem der verborgene Sinn der Anamorphose lesbar wird, und andererseits wird diese visuelle
Er fahrung durch Christus in die religiöse Dimension eingeführt.
168 Siehe Burda-Stengel (2001), S. 101–103.
169 Panofsky (1964).
170 Lacan (1997), S. 293-319.
171 Merleau-Ponty (1969); siehe auch Lacan (1978), S. 81.
172 Vgl. über die Medialität der Perspektive Krämer (1998b) und Boehm (1999), S. 171.
173 Vgl. Belting (2008), S. 192.

59
Blick und Bild

Der virtuelle Raum, der im Bild entstanden ist, basiert auf einem ikonischen
Blick. Mit anderen Worten: Dieser Raum sollte als ein Blickraum definiert wer-
den. In dieser Hinsicht hat Hans Belting in seinem Buch über die westöstliche
Geschichte des Blicks zurecht damit angefangen, die Perspektive174, die Panofsky
in Bezug auf den Raum behandelt hat, auf das Problem des Blicks zu beziehen.175
Er betont, dass der perspektivische Raum de facto „im Blick und für den Blick“
erzeugt wird, „denn es gibt ihn nur auf einer Fläche, die von Hause aus nicht Raum
ist und nicht Raum hat“.176 Denn der Bildraum, den wir so nennen, ist nichts ande-
res als ein Blickraum und die Leinwand der Perspektive enthält immer in sich
einen virtuellen Blick, der das Bild konstituiert.
Darum geht es bei der Arbeitsszene Albrecht Dürers (1538) (Abb. 17). Hier beob-
achtet der Maler mithilfe eines stiletto eine Frau, die eine erotische Pose annimmt.
Hans Belting hat diese Szene wie folgt beschrieben: „Nicht der weibliche Körper
wird in der Zeichnung reproduziert, sondern der Blick, den der Zeichner darauf
wirft.“177 Denn was hier auf dem Bild gezeichnet ist, ist nichts anderes als eine
räumliche Disposition zwischen einem Punkt vor dem Auge des Malers und dem
Objekt des Auges, also der Frau. Der Maler fängt den Körper der Frau im Blick ein
und verwandelt seinen analytischen Blick in ein objektives Bild. In diesem Zusam-
menhang können wir allgemein feststellen, dass die Perspektive „den Blick selbst
ins Bild setzt“.178 All dies passiert freilich nur in der symbolischen Dimension,
denn der Blick ist an unseren Körper gebunden. Er kann niemals einem anderen
Artefakt übertragen werden. Deshalb wird die Perspektive zu einer symbolischen
Form oder zu einem abstrakten Zeichen.
Auf diese Weise erzeugt die Perspektive in der virtuellen Dimension einen
zum Bild gewordenen Blick.179 Beim Lesen von Le regard du portrait von Jean-
Luc Nancy hat Hans Belting es als „Ikonologie des Blicks“180 bezeichnet. Jean-Luc
Nancy schreib bei der Behandlung des Porträtst, dass im gemalten Blick das Bild
selbst zum Bild wird.181 Die Perspektive begründet eine enge Allianz von Bild
und Blick. Die Tatsache, dass wir den gemalten Blick bei einem Bild oder Artefakt

174 Über Perspektive siehe Boehm (1969), Kaufmann (1975), Damisch (1994), Elkins (1994),
Edgerton (2002) sowie Schmeiser (2002).
175 Belting (2008), S. 23–36.
176 Ibid., S. 25.
177 Belting (2006a), S. 130.
178 Belting (2008), S. 24.
179 Ibid.
180 Hans Belting erklärt: „Eine Ikonologie des Blicks verfolgt das Ziel, die Übertragung von
Blicken zu untersuchen, die in Bildern programmiert worden sind.“ In dieser Hinsicht liegt
ihre Aufgabe darin, „die unhintergehbare Vielfalt der individuellen und sozialen Blickpra-
xis im Spiegel der Bilder“ zu untersuchen, und die Perspektive ist in einer Bildfrage als eine
Kulturtechnik zu verstehen. Belting (2005c), ders. (2006), S. 121 und S. 123 sowie ders. (2008),
S. 9–12 und S. 23.
181 Nancy (2001), 80f; siehe auch Belting (2008), S. 98–103.

60
Blick des Bildes

Abb. 17: Albrecht Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes, Illustration einer praktischen Methode
der perspektivischen Darstellung aus Dürers Underweysung der Messung, Holzschnitt, 7,5 × 21,5 cm,
1538.

animieren, beweist nämlich, dass wir ihn als ein lebendiges Wesen annehmen.182
Wir ignorieren dessen tote Materie und begegnen der Animation des bildlichen
Lebens.183 In dem Traktat von Cusanus und in dem Trompe-l’œil von Pozzo ver-
ursacht der ikonische Blick die Bewegung des Betrachters in der Analogie zum
unbewegten Beweger von Aristoteles und führt ihn in eine geheimnisvolle Erfah-
rung ein.
Wir können den virtuellen Raum als einen Raum, in dem diese Lebendigkeit
des ikonischen Blicks wirkt, definieren. Der virtuelle Raum ist also nichts anderes
als Blickraum. Denn, wie Martin Seel postuliert hat, ist der Raum, der vom Bild
inszeniert ist, de facto kein Raum, sondern ein visuelles Phänomen sui generis.184
Der ikonische Blick des Bildes, den unser Auge reflektiert oder bedingt, realisiert
dieses visuelle Phänomen in Form von Raum. Der Blick schafft den Raum in der
Beziehung zwischen Bild und Betrachter und verursacht eine Interaktion. Belting
hat diesen Blick als Vektor verstanden.185 Zwar kommt er „überall zum Einsatz“
und „doch wird er nirgendwo festgehalten“. Er „transportiert und empfängt“ nur
das Bild zwischen Körper und Medium.186 In diesem Verkehr des Blicks ist die
Grenze zwischen Körper und Bild als Artefakt aufgehoben. Denn der Blick insze-
niert eine Verschmelzung von Körper und Bild oder eine Umarmung im Sinne
von Cusanus.
Die Umarmung zwischen Körper und Bild durch den Blick ist ein Ansatz-
punkt und ein wichtiges Zeichen für Immersion. Osmose von Char Davies (1995)
(Abb. 18) realisiert dieses Entrahmungsverfahren zwischen den beiden technisch
perfekt. Char Davids, die selber Taucherin ist, hat inszeniert, dass immersants, wie
sie sie bezeichnet hat, mit ihrem Atmen und ihrer Balance durch den Bildraum

182 Belting (2006a), S. 123.


183 Siehe Fehrenbach (2003b), S. 2.
184 Seel (2003), S. 288.
185 Belting (2006a), S. 122.
186 Über die Trichotomie „Bild, Körper und Medium“ siehe Belting (2001), S. 11–55.

61
Blick und Bild

navigieren können, wenn sie im Wasser tauchen. Wie das Wasser den Körper des
Tauchers durchnässt, umschließt der Blick des Bildes in dem virtuellen Raum den
Betrachter. Die kleine Leinwand des hmd als ein Bildmedium isoliert den Betrach-
ter von der Außenwelt und wird selbst zu seiner Welt. Diese Welt ist ein Raum des
Blicks. Das Bild wird selbst erkannt und die Lebendigkeit des ikonischen Blicks
wird aktiviert. Wie die Vielansichtigkeit der Carceri G. B. Piranesis, die von den
auf einem Bild verborgenen verschiedenen Blickpunkten verursacht wird, reagie-
ren die unzähligen Blickpunkte in diesem Werk auf die Bewegung des Betrachters.
Hier nämlich wird das Bild mit seinen unendlich vielen möglichen Blickpunkten
zu „a living environment“.187
Der Bildraum von Osmose besteht aus zwölf Bereichen, etwa Wald, Teich,
Wolke, Erde, Mikroorganismen u. a. Der Blick des Betrachters quert diese Räume,
indem er das Spiel der Umrahmung verursacht. Der Betrachter navigiert durch
diese Räume mit seinem Atmen und seiner Bewegung. Durch den Datenanzug
wird seine Bewegung in den Computer übertragen und die davon verursachte Ver-
änderung auf dem Bild wird durch hmd und 3D-Sound vom Betrachter wahrge-
nommen. Zuerst startet der Betrachter vom drei-dimensionalen Cartesian Grid.
Sein erstes Atmen bringt ihn ins clearing, das Wald umschließt. Die Bilder mit
dem Realitätsgefühl, das von hmd übertragen wird, ermöglichen dem Betrach-
ter „full-body immersion in the virtual environment“.188 Der Betrachter wird sich
an die Steuerung langsam gewöhnen. Mithilfe seines Atmens, das eine senkrechte
Bewegung bewirkt, schwebt er im Bildraum, erhebt sich über die Wolke, späht
Dinge unter der Erde aus oder schwimmt im Teich. Außerdem kann er den Baum,
der im clearing steht, oder den Mikrokosmos aus dessen Blättern ausspähen. Je
nach Bewegung des Betrachters werden alle Räume, die unklare Grenzen haben,
miteinander überlagert und getauscht.
In diesem Werk ist es bemerkenswert, auf welche Art und Weise es auf die Prä-
senz des Betrachters hinweist. Die Betrachterbewegung, die wir in Sant’Ignazio
sehen konnten, ist in diesem Werk durch Atmen verursacht. Der Betrachter begeg-
net dem ikonischen Blick, der in dem virtuellen Raum allgegenwärtig ist, indem
er sich auf sein Atmen und den inneren Sinn konzentriert. Ebenso ist, wie viele
immersants zugegeben haben, diese Begegnung für den Betrachter eine Quelle
der kontemplativen und meditativen Ruhe. Hier erlebt er „a heightened awareness

187 Oliver Grau stellt fest: „In virtual reality, a panoramic view is joined by sensormotor explora-
tion of an image space that gives the impression of a ‘living’ environment. Interactive media
have changed our idea of the image into one of a multisensory interactive space of experien-
ce with a time frame. In a virtual space, the parameters of time and space can be modified
at will, allowing the space to be used for modeling and experiment. […] The media strategy
aims at producing a high-grade feeling of immersion, of presence (an impression suggestive
of ‘being there’), which can be enhanced further through interaction with apparently ‘living’
environments in ‘real time’.“ Grau (2003), S. 7; In unserem Sinne legt der Blick, der vor unse-
rem Auge im Bild vorhanden ist, eine phänomenologische Basis dieser Interaktion und Im-
mersion, die von der Medienstrategie technisch unterstützt wird, an.
188 Grau (2003), S. 198.

62
Blick des Bildes

Abb. 18: Char Davies, Osmose, Virtual Reality


Installation, 1995 Courtesy of Char Davies.

of self-presence – paradoxically consisting of both a sense of freedom from their


physical bodies and heightened awareness of being in their bodies at the same
time“.189 Die Bilder, die vom Blick übertragen sind, sind einerseits eine Reflexion
des Betrachters und andererseits ein Gesicht der Ikone, das auf den Körper und
das Atmen des Betrachters reagiert. Wie der Vektor die äußere Kraft in Dinge
überträgt, strömt der Blick in den Betrachter ein und konstituiert ihn. Wie das
Bekenntnis von Cusanus wird der Betrachter deshalb im Bild eine Wahrheit sehen,
von der wir selbst nur ein Bild sind. In der Tradition des Christentums ist der
Mensch de facto selbst ein Bild Gottes. In dieser Hinsicht ist die Erfahrung des
Betrachters im Blickraum nichts anderes als eine Erfahrung von Gott und zugleich
eine Wiederentdeckung von sich selbst. Die beiden sind als Ganzes im Bild ver-
schmolzen.190
Char Davies schreibt, dass sie einen immersiven virtuellen Raum schaf-
fen möchte, „in which to explore the self’s subjective experience of ‚being-in-
the-world‘ – as embodied consciousness in an enveloping space where boundar-
ies between inner/outer, and mind/body dissolve“.191 Ebenso wie ein osmotisches
Phänomen gibt der Betrachter in dem virtuellen Raum seine festen Konturen auf
und wird „selbst in den kontinuierlichen Fluss der sinnlichen Erscheinungen

189 Char Davies, Virtual Space, http://www.immersence.com/publications/char/2004-CD-Spa-


ce.html (Stand vom 12.09.2009).
190 Christus spricht im Johannes-Evangelium: „An jenem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in
meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch.“ (Johannes 14:20) In dieser Liebesbezie-
hung wird die Umarmung des göttlichen Blicks, die Cusanus erwähnt hat, zum besten Aus-
druck, die Erfahrung über den Raum der ikonischen Blicks zu beschreiben.
191 http://www.immersence.com/osmose/index.php (Stand vom 12.09.2009).

63
Blick und Bild

hineingezogen“.192 Er öff net sich selbst zum Bild und wandert in dessen Raum.
Und er wird zu einem Teil des Sehfelds. Das Bild verschluckt ihn, schließt sich um
ihn herum und konstituiert ihn. Sein Selbst wird in der Wechselbeziehung zwi-
schen Körper und Bild gebildet und die Selbsterkenntnis des Bildes kreuzt sich mit
jener des Betrachters. Horst Bredekamp hat zum Mechanismus dieser Erfahrung
erklärt, dass das Bild vom Menschen geschaffen sei, ihm jedoch als eine „eigen-
aktive Größe“ entgegenkomme, mithin als Lebendiges begegne.193 Das Bild ist
lebendig. Und der intersubjektive Raum, den dieses Bild inszeniert, ist ein Raum
der Dinge-Ich-Einheit (物我一體), wo Bild und Betrachter bzw. Dinge und Ich sich
vereinigen. Norman Bryson schreibt, dass das Sein von sich selbst verlassen wer-
den solle, um sich selbst zu fi nden, indem er sich mit Nishitani Keijis (1900–1990)
Grundsatz „water does not wash water“ auseinandersetzt.194 Das Wasser kann
Wasser nicht waschen. Deshalb muss es, wenn es sich selbst fi nden möchte, woan-
ders hingehen. Die Dinge befinden sich ebenfalls dort, wo sie nicht vorhanden
sind. Die Lebendigkeit des Bildes verknüpft sich an der Selbsterkenntnis oder der
Seinsentdeckung des Betrachters in dem Bild- oder ikonischen Blickraum. Um es
anders auszudrücken: Der Immersionsraum, den das Bild erzeugt, dient als ein
Medium, wo der Betrachter oder das Bild durch sein Gegenüber sich selbst fi nden
kann. In diesem Zusammenhang hat Char Davies festgestellt: „What you encoun-
ter in Osmose is yourself.“195 Auff ällig ist, dass Bildmedien in dem heutigen neuen
Medienparadigma auf den alten Anspruch der religiösen, meditativen oder künst-
lerischen Praxis antworten.

192 Belting (2008), S. 286.


193 Siehe Bredekamp (2007).
194 Bryson (1988), S. 99; siehe auch Nishitani (1982), S. 116.
195 Zitiert nach Hansen (2006), S. 125.

64
3 Körper als Bild – Cyborg Art

3.1 Anthropologie und Posthuman-Diskurs

Zu seinem ewigen Leben muss der Körper verschwinden. Dieses Paradoxon beruht
auf dem anthropologischen Verständnis vom Bild. Hans Beltings anthropologi-
scher Annäherung an das Bild zufolge ist der Tod des Körpers mit dem Beginn des
Bildes gekreuzt.1 Er glaubt, dass das grundlegende Paradoxon des Todes immer im
Bild zu entdecken sei. Denn es sei die anwesende Abwesenheit dadurch zu erfah-
ren, dass ein Bild seinen wahren Sinn darin findet, „etwas abzubilden, was abwe-
send ist und also allein im Bild da sein kann“.2 Im Bild wird eine Präsentation des
Toten geschehen.3 Der Tote tauscht seinen verlorenen Körper gegen ein Bild ein4
und das Bild wird zum Vertreter des Körpers. Es füllt den Raum des Abwesenden
und ersetzt sein Leben.
Belting konstatiert: „Der Tote ist immer schon ein Abwesender, der Tod eine
unerträgliche Abwesenheit, die man mit einem Bild füllen wollte, um sie zu ertra-
gen.“5 Das Bild mildert den Schock des Ereignisses, das in unserem Körper statt-
findet, ab. Im Moment des Todes werden die Menschen passiv erfahren, dass
der Körper sich in einen Leichnam, also ein Bild, verwandelt. Der Leichnam ist
„nicht mehr Körper, sondern nur noch das Bild eines solchen. Die Menschen wer-
den hilflos der Erfahrung ausgeliefert, dass sich das Leben, wenn es stirbt, in sein
eigenes Bild verwandelt. Sie verloren den Toten, der am Leben der Gemeinschaft
teilgenommen hatte, an ein bloßes Bild.“6 Erst wenn sie diese schockierende und
unausweichliche Bildwerdung erfahren, stellen sie ihrerseits das Bild her. In der
Tat haben Maler wie Edvard Munch, Egon Schiele, Ferdinand Hodler oder Dante
Gabriel Rossetti ihren Geliebten oder Familienangehörigen, wie bei den christli-
chen Ikonen, das ewige Leben dadurch verliehen, dass sie sie auf dem Sterbebett
erfassten. Durch eine solche Bildpraxis oder ein diesseitiges künstliches Bild wird
„man aktiv, um der Todeserfahrung und ihren Schrecken nicht länger passiv aus-
geliefert zu bleiben“.7 In diesem Zusammenhang hat Carl Einstein (1885–1940) fest-
gestellt, dass das Bild „Verdichtung“ und „Verteidigung gegen den Tod“ sei.8

1 Belting (2001), S. 29.


2 Ibid., S. 144.
3 Alberti (2000b), II, 25, S. 235; siehe auch Boehm (2001), S. 4–6.
4 Belting (2001), S. 29.
5 Ibid., S. 144.
6 Ibid., S. 145.
7 Ibid., S. 146.
8 Einstein (1996), S. 532.

65
S.-C. Shin, Vom Simulacrum zum Bildwesen: Ikonoklasmus der virtuellen Kunst
© Springer-Verlag/Wien 2012
Körper als Bild

Abb. 19: Neil Hamon, Suicide Self-Portrait –


Hanging, silver gelatin print, 150 × 230 cm,
2006, Courtesy of Neil Hamon.

So lässt das Bild den Toten lebendig aussehen9 und durch das Bild erhält der Kör-
per sein Leben. Diese Erklärung des uralten Impulses der Bildproduktion ist sehr
überzeugend. Wenn der Körper nicht verschwände, ergäbe die Bildherstellung kei-
nen großen Sinn mehr. Wenn der Körper nicht verschwände, würde übermäßige
Wahrhaft igkeit das Bild nicht überfordern. Wenn der Körper nicht verschwände,
müsste das Bild die schwierige Rolle nicht übernehmen, den Körper zu vertreten.
Bei all diesen Annahmen geht es aber um Anzeichen für ein Ungleichgewicht des
Verhältnisses zwischen Körper und Bild, das den Tod als Bezugspunkt nimmt. Um
es anders auszudrücken: Wenn der Stoßdämpfer, etwa das Verschwinden des Kör-
pers und das darauf folgende Auft reten des Bildes, abgeschafft würde, versetzte
das Verhältnis zwischen Körper und Bild uns in einen unangenehmen Schrecken.
Es geht nämlich um die Unruhe, die von der Ambivalenz von Körper und Bild
verursacht wird. Im Dezember 2002 nahm sich am Berliner Künstlerhaus Tache-
les eine 25-jährige Künstlerin das Leben. Sie tat tatsächlich, was sie am Tag davor
angekündigt hatte. Die Sache, die der Tagesspiegel als „schreckliches Nachspiel der
Tat“ bezeichnet hat, fand danach statt.
„Stunden später wurde sie von Touristen und einer Schülergruppe gefunden.
Ein Touristen-Pärchen fotografierte sie aus etwa zehn Meter Entfernung und gab
der erstaunten Lehrerin der ausländischen Schulklasse die Auskunft, dass das ja
‚eine Performance oder eine Installation‘ sei. Erst einer der etwa zwölf Jahre alten
Schüler erkannte, dass es sich um eine Leiche handelte – so steht es im Protokoll
der Polizei.“10
Hier ist ein überraschendes Schwingen zwischen Körper und Bild zu beobach-
ten. Die kategoriale Grenze zwischen Leben und Kunst bzw. Körper und Bild wird
plötzlich aufgehoben. Bevor die Touristen den tatsächlichen Tod erkannten, glaub-
ten sie, dass der Leichnam der Künstlerin ein inszeniertes Bild des Todes sei, aber
sobald der tatsächliche Tod klar wurde, versetzte sie der Leichnam in einen unan-
genehmen Schrecken.

9 Siehe Kantorowicz (1957) sowie Schlosser (1993).


10 Tagesspiegel am 4. Dez. 2002; siehe auch den Dokumentarfi lm von Teresa Renn, Janine F
(2004).

66
Anthropologie und Posthuman-Diskurs

Abb. 20: Ferdinand von Rayski, Selbstmord des Künstlers im Atelier, Bleistiftzeichnung, 21,3 × 29,2 cm,
Kupferstichkabinett, Staatliche Kunstsammlungen, Dresden, ca. 1840.

War die Berliner Künstlerin lebensmüde? Oder wollte sie den Tod als ein Bild
sublimieren? Ging es bei ihrer Inszenierung um ein Bild des Todes oder um den
toten Körper per se? Ist das Bild, das die Touristen beobachteten, der tote Körper
per se oder dessen Bild? Wir können uns an die unzähligen Künstlerinnen, die mit
ihrem Körper den Tod inszenierten, in der Geschichte der Kunstaktion erinnern.11
In ihrer Bildpraxis oder ihrem Körperexperiment wurden ihre Körper als Bilder
inszeniert. Darum geht es bei dem Foto von Neil Hamon (2006) (Abb. 19) und der
Zeichnung von Ferdinand von Rayski (ca. 1840) (Abb. 20). In diesen beiden Wer-
ken erhängen sich die Künstler in ihrem Atelier. Der Pinsel, die Farbplatte und
die Gemälde identifizieren den Leichnam und den Tatort. Während das Werk von
Hamon mithilfe der Fotografie den Tod des Künstlers realistisch darstellt, nennt
die Zeichnung von Rayski den Grund des Künstlersuizids. In dieser Zeichnung ist
das Gemälde aufgeschlitzt und auf der linken Seite steht ein Gedicht von Friedrich
Franz von Maltitz geschrieben.

„Auf dem wahren Künstlergange


Lebt’s hienieden sich nicht lange.
Trägt in sich des Todes Kern,
Wahre Künstler sterben gern.“

11 Siehe Friedli (2006); vgl. über Körperexperiment siehe Stafford (1998), S. 201–210.

67
Körper als Bild

Abb. 21: Natasha Vita-More,


Primo Posthuman 3M +,
Quelle: http://www.natasha.cc/
primo.htm.

Mit diesem Gedicht wird „der Suizid des Künstlers nicht nur legitimiert, sondern
der Tod wird geradezu zum Gütesiegel des wahren Künstlers“.12 Die Künstler in
diesen beiden Werken bringen ihr Leben der Kunst zum Opfer. Zu sehen sind in
ihren Werken die Künstler, die die direkte Bildwerdung ihrer Körper inszenieren.
Hier ist nämlich ihr Kunstwollen, welches das Leben in die Kunst einführt, durch
Bildwerdung des Körpers visualisiert. Der wahre Künstler muss direkt zum Bild
werden.
Im Kontext der klassischen Bildpraxis vertritt das Bild den Körper und diesem
Körper wird mithilfe des Bildes wiederum das Leben verliehen. Wir sollten aber
einräumen, dass noch eine andere Art Bildpraxis in der Bildgeschichte vorhanden
ist. So ist etwa der Tod aus der aufeinander folgenden Kette von Körper-Tod-Bil-
dern ausgeklammert.
In dieser Art Bildpraxis ist die Distanz zwischen Körper und Bild, die den Tod
und das Verschwinden des Körpers festhält, verschwunden. Der Suizid der Ber-
liner Künstlerin bewirkt deshalb einen Schockzustand des Betrachters, weil sie
keine Simulation des Todes, sondern den echten Tod inszeniert hat. In diesem
Moment wird der Körper direkt zum Bild, das Bild wird hingegen nicht zum blo-
ßen Vertreter des Körpers, sondern zum Körper selbst. Es wird nämlich durch
den Körper und im Körper erscheinen. In Bezug auf solche Bildpraxis kann die
menschliche Existenz, wie John Michael Krois behauptet hat, nicht als Leib-Seele-
Verhältnis, sondern als Leib-Bild-Verhältnis beschrieben werden.13
Der Cyborg ist nichts anderes als ein Archetyp dieser menschlichen Existenz.
Dieser Körper oder das Bild, das durch die Ausstattung der Prothese oder die
direkte Veränderung des Körpers konstituiert ist, erweckt eine andere Art Bild-
praxis, die in der herkömmlichen repräsentativen Ordnung vergessen oder ver-
deckt ist: nämlich nicht die Herstellung des Bildes über den Körper, sondern die
Produktion des Bildes im Körper oder die des Körper-Bilds. Darum geht es bei
Primo Posthuman 3M + von Natasha Vita-More14 (Abb. 21). Dieser Körper oder das
Bild ist erfunden, um Mobilität, Flexibilität und Langlebigkeit zu optimieren. Er
verkörpert das Meta-Gehirn, das mithilfe von Nano-optical Neuron verbessert und

12 Friedli (2006), S. 152.


13 Krois (2001), S. 3.
14 Siehe http://www.natasha.cc/ (Stand am 12.09.2009).

68
Anthropologie und Posthuman-Diskurs

vernetzt ist, die Smart-Haut, die ihre Farbe verändern und sich gegen die Sonne
selbst schützen kann, und die andere Prothese. Hier ist der Körper nichts anderes
als ein Kompositwesen aus Prothesen, das erweitert und ersetzt werden kann,15
und dieses Mischwesen von Mensch und Maschine, das durch die Komposition
der ersetzbaren Teile konstituiert ist, soll, wie unser biologischer Körper, als eine
Verkörperung des akzidentiellen Körpers begriffen werden.
Katherin Hayles zufolge erweist dieser Posthuman sich in diesem Cyborg. Sie
stellt fest:
„In the posthuman, there are no essential differences or absolute demarcations
between bodily existence and computer simulation, cybernetic mechanism and
biological organism, robot teleology and human goals. […] The posthuman subject
is an amalgam from one of heterogeneous components, a material-informational
entity whose boundaries undergo continuous construction and reconstruction.“16
Es geht bei dieser Aufhebung der Grenze nicht um die ontologische Krise, son-
dern um den Ausgangspunkt, Mensch zu sein,17 weil der Mensch im Prinzip
Cyborg sei.18 Die Körperveränderung, die in diesem Verständnis über den Men-
schen natürlich stattfindet, ist in unserem Sinne als eine Bildpraxis zu begrei-
fen. Um es anders auszudrücken: Cyborg Art ermöglicht uns, die Bildpraxis im
menschlichen Körper zu beobachten.
Wenn von der Lebendigkeit des Bildes die Rede ist, tendieren wir immer dazu,
diese in der virtuellen und ästhetischen Dimension einzuschließen. Bilder wür-
den zwar wie Organismen betrachtet, aber sie seien keine Organismen.19 Cyborg
Art fordert gegen diese Grenzziehung zwischen Bild und Lebewesen heraus. Sie
macht Bilder zu Körpern und damit wird „die Differenz zwischen dem Bild und
allem jenem, wovon es ein Bild ist“,20 aufgehoben. Das heißt: In dieser Art Bild-
praxis ist das Bild an sich als ein Körper oder als ein Lebewesen zu verstehen. Der
alte Konflikt von Natur und Bild fließt in eine neue Ordnung und der Cyborg als
ein wesentliches Kulturphänomen unserer Zeit21 rückt sich in den Diskurs über
die Lebendigkeit des Bildes. Die Lebendigkeit des Bildes taucht nämlich in diesem
kategorialen Sprung oder in der Aufhebung der Grenze auf.

15 Katherine Hayles zufolge, „the posthuman view thinks of the body as the original prosthesis
we all learn to manipulate, so that extending or replacing the body with other prostheses be-
comes a continuation of a process that began before we were born.“ Hayles (1999), S. 3.
16 Ibid.
17 Vgl. Kac (1999), S. 301.
18 In dieser Hinsicht postuliert Hayles, „we have always been posthuman“. Hayles (1999), S. 291;
siehe auch Haraway (2000) sowie Clark (2004).
19 Mitchell (2005), S. 10–11.
20 Belting (2001), S. 109.
21 Vgl. Smith und Morra (2006).

69
Körper als Bild

3.2 Vergegenwärtigungskraft des Körpers

Zwischen Körper und Bild besteht eine alte Rivalität.22 Das klassische Verständnis
vom Bild als Vertreter des Körpers oder der alte Slogan der digitalen Kunst, etwa
das Verschwinden des Körpers, fungiert als ein indirekter Beweis für diesen lan-
gen Konflikt zwischen den beiden. Nicht zuletzt solange die Dekonstruktion des
Referenzsystems zwischen Körper und Bild beschleunigt wird, verneint das Bild
mit der noch stärkeren Kraft den Körper. Das Bild zeigt sich selbst und steht dem
Körper gegenüber. Dieser ikonoklastische Charakter des Bildes ist in der Video-
installation Angel Soldier von Yong-Baek Lee (2005) (Abb. 22) visualisiert. Bei die-
ser Installation geht es um die Künstler, die den Stereotyp herausfordern.23 Die-
ses Werk ironisiert die Kriegssituation. Der Soldat, der die feindlichen Stellungen
aufk lären geht, muss sich tarnen. Ein kleiner Fehler soll ihn zu Tode bringen. In
diesem Werk verschleiert Yong-Baek Lee die Figur des Soldaten mithilfe der bun-
ten Blumen. Aber der Betrachter kann die Bewegung des Soldaten sofort bemer-
ken, weil der Künstler paradoxerweise inszeniert hat, dass die Vögel singen, wenn
der Soldat sich bewegt. Die Bewegung des Betrachters im Bild, das eingefroren
aussieht, wird nämlich durch die Veränderung der Kontur des Soldaten und das
Vogelgezwitscher wahrgenommen.
In diesem Werk verschleiert das getarnte Bild seine Bewegung. Camouflage
macht den Körper des Soldaten unsichtbar oder transparent. Dies verstößt gegen
die klassische Aufgabe des Bildes. Im Bild sollte nicht der Referent, sondern das
Bild an sich transparent werden. Das Bild bezieht sich im Prinzip auf die Zeige-
handlung. In unserem Sinne geht es bei dem Bild um die körperliche Repräsenta-
tion des Abwesenden. Die Repräsentation bedeutet also, den Abwesenden präsent
sein zu lassen. In dieser Hinsicht hat Alberti die göttliche Kraft des Bildes erwähnt,
die nicht nur Abwesende vergegenwärtigt, sondern auch Verstorbene „erkennbar
vor Augen, sogar noch denen, die viele Jahrhunderte später leben“,24 stellt. So prä-
sentiert das Bild in sich einen Körper. Diese Präsenz ist allerdings mit der Zei-
geleistung des Bildes eng verbunden.25 In diesem Zusammenhang erklärt Gott-
fried Boehm die ikonische Differenz. Dank dieser ikonischen Differenz können
wir einen Körper im Bild wahrnehmen. Dazu führt er aus:

„Was uns als Bild begegnet, beruht auf einem einzigen Grundkontrast, dem
zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem, was sie an Binnen-
ereignissen einschließt. Das Verhältnis zwischen dem anschaulichen Ganzen

22 Siehe Belting (2002), S. 35.


23 Aus seinem Katalog: Lee, Yong-Baek, Seoul 2006, S. 38.
24 Alberti (2000b), II. 25, S. 235.
25 Boehm (2001), S. 6.

70
Vergegenwärtigungskraft des Körpers

Abb. 22: Young-Baek Lee, Angel Soldier, 1-Kanal-Videoinstallation, 17’, 2005, Courtesy of Young-Baek
Lee.

und dem, was es an Einzelbestimmungen (der Farbe, der Form, der Figur etc.)
beinhaltet, wurde vom Künstler auf irgendeine Weise optimiert.“26

Der visuelle Kontrast ermöglicht uns, etwas im Bild zu sehen. Die bildliche Wahr-
nehmung sei deshalb nichts anderes als „das eine im anderen“27 sehen, und „was in
der ikonischen Differenz sichtbar wird, der Gehalt, den sie hervorruft, meint etwas
Abwesendes“.28 Camouflage entfernt sich aber von dieser Art Bildpraxis. Bei der
Camouflage wird die Grund-Figur-Komposition der Gestaltpsychologie nivelliert.
Sie bringt sowohl sich selbst als auch ihr Objekt zum Verschwinden. Bei ihr geht es
nicht darum, den Abwesenden präsent sein zu lassen. Deshalb ist sie ein Bild und
zugleich ein Nicht-Bild oder Gegenbild. Sie verweist nicht auf den Abwesenden,
sondern auf sich selbst. Während die virtuelle Realität sich auf die Realität, die
nicht wirklich ist, bezieht, wird Camouflage ikonoklastisch, indem sie den Raum
des Abwesenden verschwinden lässt. Bei der Camouflage verschluckt das Bild den
Körper des Abwesenden.
Camouflage täuscht im Prinzip den Betrachter. In der Natur ist ihr Ziel klar.
Im Bezug auf das Überleben des Angepasstesten knüpft sich das Bemühen, eine
günstige Form für Schutz und Angriff zu verkörpern, an die Nachahmung der
Umgebung und diese natürliche Technik wurde weitgehend im Bereich des Kriegs
und der Kunst verwendet.29 Die Camouflage wird aber von Roger Caillois’ neuer

26 Boehm (1994a), S. 29–30.


27 Boehm (2004), S. 40.
28 Ibid. S. 32.
29 Siehe Schneider (2007), Elias (2009) sowie Newmark (2007).

71
Körper als Bild

Bedeutung verkörpert. Bei ihm wird die Camouflage nicht mehr in Bezug auf den
Schutz vor dem Feind erklärt, sondern als etwas, was sich im Feld des Optischen
ereignet, begriffen.30 Um es anders auszudrücken: Die Camouflage bezieht sich
darauf, dass der Körper zu einem Teil des Bildes oder zu einem Fleck im lacan-
schen Sinne wird.31 Hier wird die Grenze zwischen Innen und Außen, Figur
und Grund aufgehoben und der Körper wird von dem ihn umgebenden Raum
geschluckt.32 In diesem Zusammenhang schreibt Roger Caillois:

“I know where I am, but I do not feel as though I’m at the spot where I find myself.
To these dispossessed souls, space seems to be a devouring force. Space pursues
them, encircles them, digests them in a gigantic phagocytosis. It ends by replac-
ing them. Then the body separates itself from thought, the individual breaks the
boundary of his skin and occupies the other side of his senses. He tries to look at
himself from any point whatever in space. He feels himself becoming space, dark
space where things cannot be put. He is similar, not similar to something, but
just similar. And he invents spaces of which he is ‘the convulsive possession’.”33

Auch im Werk von Yong-Baek Lee wird ein „Drama“ aufgeführt, „in dem das Ich
bloß ein flüchtiger Punkt unter anderen wäre, der seine Begrenzung verliert“.34
Der Körper verliert seine Grenze und verschwindet im Bild. Er wird nämlich zu
einem Teil des Bildes. Es bedeutet allerdings nicht den Verlust des Körpers. Der
Körper des Soldaten wird zwar vom Bild verschluckt, aber er überwindet es durch
seine Bewegung. Die Bewegung des Soldaten bewältigt die Unterdrückung des Bil-
des und bringt eine ikonische Differenz hervor. Durch diese visuelle Veränderung
und das Vogelgezwitscher nimmt der Betrachter den Körper des Soldaten und des-
sen Bewegung wahr. Durch dieses Spiel, dass der Körper sich wiederholt verbirgt
und zeigt, wird das spannungsvolle Verhältnis zwischen Körper und Bild insze-
niert. Das Bild möchte zwar den Körper unterdrücken und verschleiern, aber der
Körper zeigt seine Lebendigkeit durch die Bewegung. In Anlehnung an Jacques
Lacan kann diese Präsentation des Körpers als eine Durchdringung des Realen
ins Symbolische bezeichnet werden. Das Symbolische, das durch den Signifi kant
gebildet ist, wird ausschließlich des Bereichs, der nicht symbolisiert wird, konsti-
tuiert. Das heißt: Es konstituiert unsere Realität, indem es das Reale von dem von
ihm vorgestellten Bereich ausschließt. Das Reale bleibt aber immer da,35 und es ist
schon vor dem Erscheinen des Subjekts da gewesen. Dieser Exzess, der durch Sym-
bolisierung ausgeschlossen ist, ergibt einen Unruhe-Effekt für das Subjekt. Denn

30 Caillois (1987).
31 Lacan (1978), S. 103.
32 Angerer (2001), S. 177; siehe auch Caillois (1987).
33 Caillois (1987), S. 72 (kursive Hervorhebung im Original).
34 Taussig (1997), S. 44.
35 Lacan (1986a), S. 24.

72
Vergegenwärtigungskraft des Körpers

er zeigt sich ununterbrochen durch das Phantasma im Alltag oder die psychopa-
thische Halluzination.36 Bei seiner Koexistenz mit dem Symbolischen bedroht das
Reale dieses kontinuierlich.
In der Videoinstallation von Yong-Baek Lee ist die Bewegung des Körpers als
das Reale zu verstehen, das als eine halluzinative Form ins Symbolische durch-
dringt. Der Körper ist im Prinzip eine primitive Realität des Subjekts. Diese Reali-
tät verwandelt sich in ein Objekt unserer Erkenntnis, indem sie von der Ordnung
des Symbolischen neu organisiert wird. Auch in diesem Werk wird der Körper, in
dem die symbolische Ordnung eingeschrieben ist, in die Ordnung des Anderen
eingegliedert, um mit dem Außen zu kommunizieren. Er wird aber in der symbo-
lischen Ordnung von Camouflage aus der Sicht verschwinden. Er wird nur durch
das Vogelgezwitscher und die visuelle Differenz, die durch die unregelmäßige
Bewegung entstanden ist, wahrgenommen. Der Betrachter betrachtet seinerseits
das Vogelgezwitscher und die ikonische Figuration als ein Anzeichen, mit dem das
Bild sich selbst offenbaren will, oder er könnte annehmen, dass eine interaktive
Verbindung zwischen seiner Bewegung und der des Soldaten besteht. Dies ist aber
ein Missverständnis. Das geschlossene System dieser Videoinstallation kommuni-
ziert mit dem Betrachter nicht physikalisch. Der Betrachter überzeugt sich freilich
fest davon, dass dieses Werk in der ästhetischen Beziehung ununterbrochen sich
selbst zeigen möchte und ihn anspricht.
Dieses Werk beruht auf diesem Missverständnis. Angesichts der Verlegenheit,
die Camouflage verursacht, betrachtet der Betrachter die Differenz, die im Bild
entsteht, nicht als einen Zufall, sondern als „the return“37 oder „the answer of the
real“ und versucht, mit dem Bild ästhetisch zu interagieren. In diesem Moment
fungiert die Bewegung des Soldaten „not as something that resists symbolization,
as a meaningless leftover that cannot be integrated into the symbolic universe, but,
in the contrary, as its last support“. Slavoj Žižek stellt fest, „for things to have mea-
ning, this meaning must be confirmed by some contingent piece of the real that
can be read as a ‚sign‘“ und dieses Zeichen beziehe sich auf „the answer of the real“.
In dieser Videoinstallation stützt und belebt die Bewegung des Körpers als ein Zei-
chen und als das Reale das Bild.
Wie bereits erwähnt, besteht dieses Werk in der ikonischen Figuration, die durch
die Bewegung des Körpers entstanden ist. Anfänglich betrachtet der Betrachter es
als ein Nichts und als etwas, das sich im Stillstand befindet. Aber die kurze Verle-
genheit weicht dadurch bald einem Gefühl der Erleichterung, dass die Bewegung
des Körpers mithilfe der ikonischen Differenz und des Vogelgezwitschers erkenn-
bar wird. Wir können durch diese ikonische Figuration ein Ding im Bild wahr-
nehmen. In diesem Zusammenhang erklärt Gottfried Boehm die Entstehung des
Bildes mithilfe der Zeitlichkeit.38

36 Siehe Žižek (1991).


37 Ibid., S. 32.
38 Vgl. Boehm (1987).

73
Körper als Bild

„Zur Logik des visuellen Kontrastes gehört es, ein Gefälle zu schaffen, das die
gesamte Sichtbarkeit des Bildes mit einem dem Betrachter zugeneigten Über-
hang versieht. Wenn von der Beweglichkeit der ,figura‘, wenn vom Prozess der
Figuration die Rede ist, dann verdanken sie sich eben dieser Wirksamkeit des
Kontrastes. Figuration meint, kurz gesagt, ein visuelles Hervortreten von Etwas,
eine auf Dauer gestellte Genese, in der ein Dargestelltes plastische Greifbarkeit
gewinnt, sich räumlich und bewegungsmäßig ausdifferenziert.“39

Wie Erich Auerbach figura, dem Stammwort von Figuration, die Beweglichkeit
zugeschrieben hat,40 nehmen wir die Figuration im Bild mit der Zeit wahr. In die-
ser Videoinstallation verkörpert das Bild durch die Bewegung des Körpers eine
Form. Das heißt: Eine Veränderung findet im Abstand zwischen zwei Punkten der
Zeit statt. Diese Veränderung oder Entstehung der Figuration befreit den Betrach-
ter von der Verlegenheit und erfüllt seine Erwartung. Dieses Werk besteht näm-
lich in der spannungsvollen Beziehung „zwischen Bildförmigkeit und Beweglich-
keit“.41 Das Bild oszilliert zwischen Kinesis und Stasis und durch diese Oszillation
verwandelt sich das festgehaltene oder tote Bild als das performative lebendige Bild.
Um es anders auszudrücken: Das Bild entsteht durch die Bewegung des Körpers,
so wird ihm die Bedeutung beigemessen. Nun können wir das Wort, etwa Genese
oder Prozess, auf das Bild anwenden. Die Figuration im Bild dient als Beweis für
die warburgsche These, dass das Bild innere Energie in sich enthält.42 Diese innere
Energie entsteht allerdings aus der Bewegung des Körpers.43 Dank der Aura des
Körpers wird die statische Camouflage als ein Bild der konstituierenden Zeit wie-
dergeboren. In der spannungsvollen Beziehung zwischen diesen beiden konstitu-
iert der Körper das Bild und stützt dieses.
Das Bild, das einen ikonoklastischen Impuls in sich enthält, schluckt den Kör-
per. Das Bild scheint zwar sein eigenes Leben zu behaupten, aber die Lebendigkeit
des Bildes wird de facto vom Körper aufrechterhalten. Die Bewegung des Körpers
belebt das Bild und lässt es mit dem Betrachter kommunizieren. Im sich zeigenden
oder verbergenden Spiel der Camouflage nehmen wir das Bild durch den Körper
wahr und vice versa. Der Körper dient im Bild als das Reale. Er wird zwar in die
Ordnung des Bildes integriert, aber er animiert das Bild dadurch, seine Leben-
digkeit plötzlich zu offenbaren. Die intrinsische Energie des Körpers wird als die
Lebendigkeit des Bildes sublimiert. Zu diesem Zeitpunkt der Körperbewegung
kreuzen sich die Bildwerdung des Körpers und die Einkörperung des Bildes. Die

39 Ibid., S. 36.
40 Auerbach (1967).
41 Boehm (2007b), S. 34.
42 Vgl. über das „bewegte Beiwerk“ Warburg (1998), S. 5.
43 Über diese Relation siehe Alberti (2000b), II. 41–43, S. 269–273; Hier bezeichnet er motus et
sensus als wichtige Funktionen des Lebens. Er glaubte, dass die menschliche Bewegung ein
äußeres Zeichen der Seele sei, und der Körper sei mithin für ihn als ein Medium für die Re-
flexion und Projektion der Seelenbewegung zu verstehen. Siehe Patz (1986), S. 283.

74
Lebende Bilder

Lebendigkeit des Bildes wird zu einem Merkmal dieser Begegnung von Körper
und Bild.

3.3 Lebende Bilder

Die umgekehrte Beziehung zwischen Körper und Bild ist auch in den History Por-
traits von Cindy Sherman zu sehen. In dieser Fotoserie hat Cindy Sherman die
Meisterwerke vom 15. Jahrhundert in Florenz bis zum 19. Jahrhundert in Paris mit
ihrem Körper neu interpretiert.44 Auff ällig ist, dass die drei Bedeutungsebenen,
also die Gemälde der alten Meister als Original, der inszenierte Körper von Cindy
Sherman und das Foto als ein Medium, sich überlagern. In dieser Serie wird der
Körper von Cindy Sherman nicht nur zum bloßen Objekt der Repräsentation, son-
dern zu einem Bild. Sie hat sich mit Stoff resten und Requisiten vom Flohmarkt
an der Porta Portese in Rom geschmückt und verkleidet. Diese Verkleidung ver-
ändert ihren verharrenden Körper vor der Kamera als ein Bild, etwa als tableau
vivant. Tableau vivant ist eine Figur und zugleich ein Gebilde, die vom Körper dar-
gestellt werden. Bei dieser Art Bildpraxis wird der Körper dadurch zum Bild, dass
er posiert, nicht sich bewegt.45 Auch der Körper von Cindy Sherman verharrt vor
der Kamera und hält einen Augenblick fest. Ihr Körper wird nicht zum Bild über
den Körper, sondern zum Bild des Körpers, insofern er ein Bild, etwa eine Figur im
alten Gemälde, nachahmt. Er ersetzt das Bild und wird dessen Vertreter. Das heißt:
Er wird selbst zum Bildmedium.
Diese tableau-vivant-Attitüde46 erregte um 1790 im europäischen Klassizismus
Aufmerksamkeit.47 Lady Hamilton brachte damals durch die mimetische Darstel-
lung der antiken Skulpturen und Gemälde tableau vivant als ein Gesellschaftsspiel
in Mode.48 Als Goethe 1787 auf seiner italienischen Reise dies zum ersten Mal sah,
war er offenbar sehr beeindruckt. Er hielt seinen Eindruck am 16. März 1787 in sei-
nem Tagebuch wie folgt fest.

„Sie ist sehr schön und wohlgebaut. Er [= der Ritter Hamilton] hat ihr ein grie-
chisch Gewand machen lassen, das sie treffl ich kleidet; dazu löst sie ihr Haar auf,

44 Zur Auseinandersetzung über diese Serie siehe Schneider (1995).


45 In dieser Hinsicht stellen Sabine Folie und Michael Glasmeier fest; „In der Frühzeit der Foto-
graphie, als die Bürger in inszenierten Posen stehend oder sitzend von Studiodekorationen
länger verharren mussten, kommt der ,fotographische Akt‘ dem des tableau vivant gleich.“
Folie und Glasmeier (2002), S. 31.
46 In der Tat ist ein lebendes Bild als eine Erscheinungsform zu verstehen, die Zeiten und Re-
gionen überschreitet. Wie Philine Hellas nachwiesen hat, ist der Terminus „lebendes Bild“
bereits explizit im Quattro- und Cinquecento verwendet worden. Hellas (1999), S. 3; siehe
auch Kinderman (1969), S. 217–219 sowie Jooss (1999).
47 Siehe Miller (2002); vgl. über den ästhetischen und moralischen Aspekt von tableau vivant
Folie und Glasmeier (2002).
48 Siehe Itterschagen (1999).

75
Körper als Bild

nimmt ein paar Schals und macht eine Abwechslung von Stellungen, Gebärden,
Mienen etc., dass man zuletzt wirklich meint, man träume. Man schaut, was so
viele tausend Künstler gerne geleistet hätten, hier ganz fertig in Bewegung und
überraschender Abwechslung.“49

Tableau vivant ist das Körperbild über den Bildkörper. Es ahmt die Kunst nach,
wie diese die Natur nachahmt. Um es anders auszudrücken: Der Körper ahmt
das Bild, als seine Imitation, nach und wird damit selbst zum Bild. Wie Goethe
schreibt, verändert die Körperinszenierung von Lady Hamilton ihren Körper als
ein perfektes Bild. Hier wird der lebende Körper zwar zum Material der Kunst50,
aber darüber hinaus wird er in die neue Bedeutungsebene eingegliedert. Norbert
Miller schreibt:

„Attitüde und lebendes Bild meinen dabei jeweils  – über die Wiedergabe des
Figurenumrisses oder des Bildsujets hinaus  – die genaue Verlebendigung der
vom Kunstwerk vorgegebenen, bedeutungsvollen Lebenssituation, respektive
des in den Augenblick abbrevierten Seelenzustandes der Einzelfigur.“51

Und weiter:

„Es stand wohl, bewusst oder unbewusst, hinter dieser Form der ‚natürlichen
Bildnerei‘ (Goethe) die Absicht, die Gestalten der sterbenden Niobe oder der
büßenden Magdalena, die Gruppe mit dem Tod der Kleopatra oder der Ver-
wandlung der Daphne kurzfristig (gleichsam das Wunder des Pygmalion wie-
derholend) zum Leben erwecken zu lassen, um […] in der szenischen Bühnen-
auferstehung für den einen Augenblick spielerisch die Bereiche von Kunst und
Leben zu sinnverwirrender Deckung zu bringen.“52

Hier ist tableau vivant als eine Hervorbringung der künstlerischen Mimesis und
zugleich als ein lebendes Wesen zu begreifen. Wie bei der Videoinstallation von
Yong-Baek Lee knüpft die Bildwerdung des Körpers in dem tableau vivant sich
an die Lebendigkeit des Bildes. Der Terminus „Lebendes Bild“ trägt aber einen
Widerspruch in sich. In dem anthropologischen Sinne ist das Bild als ewiger Stell-
vertreter des ephemeren Lebens zu verstehen. Deshalb hat die Dauerhaft igkeit den
traditionellen Kunstgattungen, etwa Architektur, Bildhauerei, Malerei u. a., als
wichtiger Kanon gedient. In diesem Kontext nimmt das ephemere lebende Bild,
das tableau vivant, wie Philine Helas gezeigt hat, „eine fast absurde Position“ ein.53

49 Goethe (1978), S. 209 (Anm. d. Verf.).


50 Jooss (2004), S. 276.
51 Miller (2002), S. 206.
52 Ibid. (Klammersetzung im Original); Goethe (1903), S. 183.
53 Helas (1999), S. 2.

76
Lebende Bilder

Das heißt: Hier ergibt sich die außergewöhnliche Koexistenz vom kurzen Leben
und der ewigen Kunst durch die Kreuzung von Körper und Bild.
Tableau vivant verdankt die Vergegenwärtigungskraft dem realen Körper, auch
wenn sie nicht ewig ist.54 Wie die Kunst dem toten Körper das Leben verleiht,
belebt der Körper beim tableau vivant die Kunst. So entsteht im tableau vivant
der Kreislauf des Lebens zwischen Körper und Bild. Der Körper wird zum Bild
und das Bild verkörpert durch den Körper die Lebendigkeit. Dieser Kreislauf des
Lebens umschließt sowohl die Reproduktion des gemalten Bildes in die reale Drei-
dimensionalität, in den lebendigen Körper,55 als auch die Dimension der Einbil-
dungskraft des Betrachters, der den darstellenden Körper in der Relation mit dem
Original als lebendes Bild betrachtet. Sabine Folie und Michael Glasmeier stel-
len fest, dass ein perfektes tableau vivant „durch eigenartige Zwittersituationen“56
bestimmt wird. Indem sie die Körperinszenierung von Lily Bart aus The House of
Mirth von Edith Wharton beobachten, achten sie auf das Interesse der Autorin an
der „unterschiedlichen Mentalität zwischen sentimentalem Kunstgenuss und dem
gierigen Männerblick auf den weiblichen Körper“. Wie Lily Bart als Darstellerin
ihre Rolle und sich selbst gleichzeitig ausdrückt,57 koexistieren bei dem tableau
vivant die Einbildungskraft des Betrachters, die Darstellerin als ein lebendes Bild
zu betrachten, und der Blick auf ihren realen Körper.
In den History Portraits von Cindy Sherman geschieht ironischerweise das
Grenzspiel zwischen Sein und Schein bzw. Wirklichkeit und Imagination. Nor-
bert Miller stellt fest: „Die Attitüde hat […] den Charakter einer Probe aufs Exem-
pel.“58 Sofern das Kunstwerk durch die Nachahmung der Natur deren Erschei-
nung oder Wirkungen erkennen lässt, müsse vice versa die Darstellung im tableau
vivant „die Stimmigkeit oder Unstimmigkeit des artistischen Vorgehens nachwei-
sen können“. Die Inszenierung von Sherman behindert aber das Erkennen oder
die Identifizierung des Originals. Ihre Vorlagen sind zwar bekannt, aber Sher-
mans Darstellungen werden nicht richtig zugeordnet. Es geht um das Gedächtnis
des Betrachters, das Cindy Sherman mit Absicht zu erobern versucht. Wie Arthur
C. Danto zu Recht feststellt, durchdringen ihre Fotos „den Raum zwischen dem,
was wir wahrnehmen, und den Bildern zur Erinnerung“.59 Die hier inszenierten

54 Horst Bredekamp, Das lebende Bild, Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Wis-
senskünste II – Bilder jenseits des Bildes“, 2004, http://netzspannung.org/cat/servlet/Cat-
Servlet?cmd=document&subCommand=show&forward=/netzkollektor/output/player.
xml&lang=de&entryId=123423&streamId=125128 (Stand vom 12.09.2009).
55 Über lebende Bilder als Reproduktionsform siehe Reissberger (2002), S. 202–203.
56 Folie und Glasmeier (2002), S. 11 ff.
57 Wharton beschreibt den Auft ritt Lilys als Sir Joshua Reynolds Mrs. Lloyd: „She had shown
her artistic intelligence in selecting a type so like her own that she should embody the person
represented without ceasing to be herself. It was as though she had stepped, not out of, but
into, Reynolds’s canvas, banishing the phantom of his dead beauty by the beams of her living
grace.“ Wharton (1994), S. 138–139.
58 Miller (2002), S. 207 f.
59 Danto (1991), S. 11.

77
Körper als Bild

Abb. 23: Cindy Sherman, History Portraits:


Untitled #216, 1989.

Fotos verursachen und vermitteln das wechselseitige Spiel zwischen der Gegen-
wart des Betrachters und einem Zeitpunkt in seinem Gedächtnis. Die Fotos von
Cindy Sherman sind mittlerweile zum opaken Medium geworden, das im Prinzip
gegen das tableau vivant stößt.60
Im Medium Fotografie findet sich das tableau vivant de facto aufgehoben.61
Denn sie macht den Körper wieder zum Bild und verleiht diesem das ewige Leben.
Shermans Fotografien sind aber, Arthur Danto zufolge, als Performance zu verste-
hen.62 Das heißt: In ihren Werken richtet die Opakheit der Fotografie die Gedan-
ken des Betrachters nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart. Hier
spielt die Prothese eine wichtige Rolle. Richten wir unseren Blick auf ihr Foto,
auf dem Cindy Sherman sich selbst als Mätresse des französischen Königs als
Madonna, etwa die Figur im Gemälde von Jean Fouquet, inszeniert (1989) (Abb. 23).
Hier treffen wir aber das Unheimliche dank der Prothese, die die Künstlichkeit

60 Das Foto ist althergebracht als ein transparentes Medium zu begreifen, das das nicht von
Menschenhand gemachte Bild erzeugt. Aber in diesem Werk repräsentiert das Foto den Kör-
per von Cindy Sherman nicht transparent. Es geht zwar zunächst um Shermans Körperin-
szenierung, aber diese Situation ist als ein Paradox des herkömmlichen Verständnisses über
die Fotografie zu verstehen.
61 Folie (2002), S. 31.
62 Er schreibt: „Eine Performancekünstlerin benutzt bezeichnenderweise die eigene Person,
um eine Vergangenheit hinter die Verteidigungslinien ihres Publikum zu bringen und durch
ihre lebendige Gegenwart Triebe zu erreichen und freizusetzen, die auf einer Bewusstseins-
ebene wirken, der sonst nur der Traum Freiheiten gewährt“ Danto (1991), S. 11.

78
Prothese und Transfiguration

ihrer Pose verstärkt. Sherman hat zwar von der Figur im Gemälde den Körper und
das Gesicht ausgeliehen, aber sie hat nicht auf die Repräsentation gezielt. Wie in
diesem Werk zu sehen ist, ist die Referenz von Shermans Körper von der Prothese
der nackten Brust höchst ungewiss.63 Die Prothese verleiht der Fotografie einen
virtuellen und künstlichen Charakter und macht diese opak.
In den History Portraits kommt die Prothese strategisch zum Einsatz. Sie verhin-
dert, dass die Gegenwart des Werks den Zeitabstand überwindet und im mumifi-
zierten Gedächtnis verschwindet.64 Außerdem verhindert sie, dass der Körper von
Cindy Sherman ins bloße Objekt der Fotografie fällt. Die verschiedenen Körperin-
szenierungen von Cindy Sherman stellen sie nicht als eine alte Figur im Gemälde
dar, sondern sie tragen dazu bei, dass sie im Bild integriert wird, indem sie sich
ununterbrochen in den verschiedenen fotografischen Repräsentationen verän-
dert. Cindy Sherman hat de facto mithilfe der Medien, Fotografie und Prothese,
die Schwelle zwischen Leben und Bild erhöht. In diesem Werk ist der Körper von
Cindy Sherman nicht beleuchtet. Eher wird sie als Darstellerin zum lebenden Bild.
Der klassische Mechanismus der Bildpraxis, nämlich Abwesenheit und Präsenta-
tion des Körpers, verschwindet und der Körper von Cindy Sherman verwandelt
sich als ein autonomes Bild, das von dem Referenzsystem befreit ist. Nun wird ihr
Körper weder zum Objekt der Repräsentation noch zu deren Instrument, sondern
zum Cyborg, etwa zum Subjekt der Repräsentation. Dazu stellt Christa Schneider
fest: „Shermans Verkörperung multipler Identität ist reine Oberfläche, dahinter
ist keine bestimmte Person.“65 Wie der verschiedene Ausdruck des Gesichts, ver-
ändert die Prothese den Körper von Cindy Sherman zum Bild, indem sie diesem
den Ausdruck und das Leben verleiht. Das heißt: Sie macht ihren Körper nicht
zum toten Objekt, sondern zum lebendigen Gesicht und damit belebt sie das Bild.
In diesem Werk inszeniert die Prothese den kategorialen Sprung zwischen Körper
und Bild und charakterisiert damit Shermans Körper. Cindy Sherman als Cyborg
wandert nicht in den Fragmenten des Gedächtnisses, sondern regt die Einbil-
dungs- und Assoziationskraft des Betrachters an und kommuniziert mit ihm. Die
Prothese verleiht ihrem Körper neue Identität.66

3.4 Prothese und Transfiguration

Die Behauptung von Posthumanisten, dass der Mensch im Prinzip Cyborg sei,
wurzelt im Verständnis vom Menschen als einem Zwitterwesen. In der west-

63 Belting (2001), S. 112.


64 Vgl. Dubois (1998), S. 120.
65 Schneider (1995), S. 52. Shermans Bildpraxis mit der Prothese bezieht sich auf die römische
Maske, persona, die das Gesicht des Schauspielers im Gegensatz zum griechischen Masken-
begriff, prosopon, verdeckt.
66 In dieser Hinsicht stellt Bernard Stiegler fest: „The prosthesis is not a mere extension of the
human body; it is the constitution of this body qua ‘human’.“ Stiegler (1998), S. 152–153.

79
Körper als Bild

Abb. 24: Sandro Botticelli, Minerva und der


Kentaur, 207 × 148 cm, Uffizien, Florenz, um
1482/1483.

lichen Tradition war der Mensch als ein Mischwesen aus Tierischem und Gött-
lichem zu verstehen.67 Diese menschliche Doppelnatur ist von Minerva und der
Kentaur von Botticelli (ca.1480–1485) (Abb. 24) illustriert. In diesem Werk werden
die zwei Figuren, die jeweils als Minerva und Kentaur als Mischwesen identifiziert
sind, dargestellt. Dank der damaligen komplizierten politischen Situation eröff net
die Deutung der Beziehung dieser Figuren verschiedene Interpretationsmöglich-
keiten. In unserem Kontext sollte die neoplatonische Annäherung von Gombrich
unter anderen Interpretationen erwähnt werden. Gombrich zufolge symbolisiert
der Kentaur einen innerlichen Kampf von Menschen zwischen den unruhigen
Bewegungen des tierischen Instinkts und der Sehnsucht der Vernunft nach Gött-
lichem.68 Dieser Doppelnatur des Menschen ist Minerva als die reine göttliche
Weisheit gegenübergestellt. Sie bringt die Ruhe himmlischer Weisheit mit sich und
stillt den innerlichen Streit. Sie benutzt aber ihre Waffe nicht als Strafwerkzeug.
Stattdessen fasst sie den Kentauren sanft am Kopf, um seine quälende Rastlosig-
keit zu stillen und ihm den Weg zu weisen. Ihre Entscheidung knüpft sich an den
inneren Konflikt des Kentauren. Sein melancholischer Ausdruck ist nichts anderes
als die Reflexion des Bewusstseins über seine Existenz, die sich an die Göttlichen
richtet, aber an dem Körper festgehalten wird. Er widerstrebt ihr nicht, er überlässt
sich ihrer Führung.

67 Über den neuplatonischen Gedanken von Marsilio Ficino Kristeller (1923); siehe auch
Panofsky (1979) S. 189–191.
68 Gombrich (1986), S. 87-90.

80
Prothese und Transfiguration

Abb. 25: Umbo, Der Rasende Reporter, Foto-


montage, 28,2 × 20 cm, 1926.

In unserem Sinne übernimmt die Technologie, die sich im letzten Jahrhundert


rasch weiterentwickelte, die Rolle von Minerva. Darum geht es bei der Fotocol-
lage von Umbo (1926) (Abb.  25). In diesem Werk vertreibt die Hektik des rasen-
den Reporters als eines Mischwesens, das mit moderner Technologie ausgestattet
ist, die Melancholie des Kentauren. Der menschliche Körper oder Cyborg wird
von den vielen verschiedenen Mechanismen gestützt und ergänzt. Aus dem Kopf
wachsen Fotoapparate.69 Sein Rumpf besteht aus einer Schreibmaschine und die
Beine sind in ein Auto und ein Flugzeug eingebettet. Körper und Maschine bilden
eine neue Mixtur und damit verwandeln sie sich in einen „Superkörper“70, des-
sen Grenzen nicht mehr klar erkennbar sind. Diese utopische Bildpraxis wurde
nicht nur durch das Bauhaus-Experiment, sondern auch durch den italienischen
Futurismus geprägt. Filippo Tommaso Marinetti hat 1909 in Gründung und Mani-
fest des Futurismus die Stimme von dem „Aufbrüllen hungriger Autos“ wie folgt
beschrieben.

„Los, sagte ich, los, Freunde! Gehen wir! Endlich ist die Mythologie, ist das mys-
tische Ideal überwunden. Wir werden der Geburt des Kentauren beiwohnen,
und bald werden wir die ersten Engel fliegen sehen!“71

69 Vgl. über den Vergleich zwischen dem menschlichen Auge und demjenigen einer Kamera
Gropius (1956); der Bauhaus-Begründer hat hier eine Wissenschaft der Gestaltung für die
Spezies Mensch gefordert.
70 Wigley (2001), S. 66.
71 Marinetti (1966a), S. 24.

81
Körper als Bild

Abb. 26: Filippo Tommaso Marinetti, Auto-Portrait-Fotografie, um 1908.

Das Automobil, das hier Marinetti wie ein lebendiges Tier behandelt, ist ein Pro-
dukt von Menschen. Aber, wie Horst Bredekamp zeigt, unterscheidet sich das „von
allen Automaten zuvor, denen gemeinsam war, dass sie ein Ebenbild des Men-
schen oder des Tieres im Medium der Maschine abgaben, in seinem Zwittercha-
rakter“.72 Hier treffen wir also auf ein Mischwesen von Mensch und Maschine,
ähnlich wie der Kentaur von Botticelli als Verbindung von Mensch und Pferd
erscheint. Bredekamp zufolge ist die Auto-Portrait-Fotografie Marinettis (ca. 1908)
(Abb. 26) als ein visueller Beweis dieses neuen Kentauren zu sehen. In diesem Bild
vereinigt Marinetti sich mit der modernen Technik, wie er es in seinem utopischen
Traum erwartet hat. Wie Marshall McLuhan behauptet,73 wird das Auto zu seiner
Prothese und er wird auch zu einem Teil dieser Maschine. Diese Symbiose von
Mensch und Maschine stellte Marinetti zufrieden, auch wenn der physikalische
Tod begleitet wird. Dazu sagt er:

„Ich streckte mich in meinem Wagen wie ein Leichnam in der Bahre aus, aber
sogleich erwachte ich zu neuem Leben unter dem Steuerrad.“74

Er glaubte, dass durch die Verschmelzung mit der Maschine „nach dem Reich der
Lebewesen“ „das Reich der Maschinen“ beginnen wird, denn „durch Kenntnis
und Freundschaft der Materie, von der die Naturwissenschaft ler nur die physi-

72 Bredekamp (1999), S. 99 ff.


73 Vgl. über die Erweiterung des Körpers McLuhan (2002).
74 Ibid., S. 24.

82
Prothese und Transfiguration

Abb. 27: Orlan, La Réincarnation de Sainte Orlan,


Operationsvorbereitung, 21. November 1993,
New York, Courtesy of Orlan.

kalisch-chemischen Reaktionen kennen können, bereiten wir die Schöpfung des


mechanischen Menschen mit Ersatzteilen vor“.75 Deshalb bekommen wir
den transzendentalen Körper, der „vom Todesgedanken“ und sogar „vom Tod“
befreit ist. Hier ersetzt die Technologie die göttliche Kraft der Minerva, die den
Kentauren an seinen Haaren fasst. Das heißt: Die Ausstattung der Prothese oder
die Bildwerdung des Körpers in unserem Sinne knüpft sich an die Verleihung des
transzendentalen Körpers, dem das ewige Leben garantiert ist. Der Mensch, der
das Tierische und das Göttliche zusammen in sich enthält, träumt, wie Marinetti,
durch die Verschmelzung mit der Maschine von einem Aufstieg zum transzen-
dentalen Wesen. Die Bildwerdung des Körpers oder die Einkörperung des Bildes
ist deshalb als der grundlegende Impuls, der im Prinzip unserer Bildpraxis inne-
wohnt, zu verstehen.76
Dieser innere Impuls der Bildpraxis ist wiederholt im heutigen radikalen Kunst-
experiment zu entdecken. Darum geht es beim Körper oder Bild von Orlan (1993)
(Abb.  27). Sie hatte vor, durch zehnmalige Schönheitsoperation das Kinn von
Venus, die Nase von Psyche, die Augen von Diana, die Lippen von Europa, die
Stirn von Mona Lisa zu erwerben77, und seit 1990 setzte sie ihren Plan in die Tat
um. Bei der Operation verlor sie nicht das Bewusstsein, sondern las den Text und
sprach mit den entfernten Galerie-Besuchern. Damit ist diese Operation nicht als
geschlossenes Werk, sondern als Performance in progress zu begreifen. Der Kör-
per von Orlan wurde durch diese Performance verändert, aber diese künstlerische
Veränderung unterscheidet sich von der herkömmlichen Repräsentation, denn in

75 Marinetti (1966b), S. 170–171.


76 Zur kritischen Ansicht über diese Art Bildpraxis siehe Baudrillard (1993), S. 119; Er schreibt:
„The point when prostheses are introduced at a deeper level, when they are so completely
internalized that they infi ltrate the anonymous and the micro molecular core of the body,
when they impose themselves upon the body itself as the body’s ‘original’ model, burning
out all subsequent symbolic circuits in such a way that every body is now nothing but an in-
variant reproduction of the prosthesis: this point means the end of the body, the end of its
history, the end of its vicissitudes. It means that the individual is now nothing but a cance-
rous metastasis of his basic formula.“
77 Goodall (2000), S. 159.

83
Körper als Bild

Abb. 28: Giotto, Stigmatisation des Franziskus,


Altartafel aus Pisa, 314 × 162 cm, Musée du
Louvre, Paris, um 1300.

der Performance wird der Körper


vom Künstler nicht repräsentiert,
sondern präsentiert.78
Das Körperexperiment von Orlan,
die ihren Körper als Bildmedium
bietet, steht in der visuellen Analo-
gie zur Stigmatisierung des Hl. Fran-
ziskus (ca. 1300) (Abb.  28), der das
Bild Christi in seinem Körper ver-
körpert. Dieses Werk von Giotto
stellt ein unglaubliches Wunder dar,
das am Leichnam des Hl.  Franzis-
kus geschah. Ausgehend von der
Legende, dass wenige Tage nach
seinem Tod die fünf Wunden des
gekreuzigten Christus sich an sei-
nem Körper zeigten, hat der Künst-
ler dieses Werk geschaffen. Hier
wird der Körper Christi, der nicht
als Körper, sondern als ein Bild dar-
gestellt ist, mithilfe von Lichtstrah-
len in den Körper des Hl. Franziskus
übertragen. Damit trägt der Heilige
„an seinem Körper das Physische Abbild (effigiem) des Crucifi xus“.79 Das heißt:
In seinem Körper geschehen Bildwerdung und Einkörperung des Christus-Bildes
gleichzeitig.80 Durch diese Bildwerdung wird der Körper des Heiligen verklärt und
überschreitet die Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits.
Die Wunden Christi werden bei Orlan von den Körperteilen der Figuren aus
den Meisterwerken der berühmten Künstler ersetzt und das Wunder geschieht
chirurgisch. Die beiden haben aber gemeinsam, dass der Körper zum Medium des
Bildes wird und das Bild im Körper entsteht. Wie der Leichnam des Hl. Franzis-
kus durch die Bildwerdung des Körpers oder die Einkörperung des Bildes als ein
transzendentales Wesen wiedergeboren werden konnte, nimmt diese Art Bildpra-
xis auch am Körper von Orlan eine grundlegende Veränderung vor, die von der
klassischen Ordnung der Repräsentation abweicht. Orlan könnte zwar mithilfe
der Schönheitsoperation zur ersten Künstlerin werden, die den perfekten, schö-

78 Siehe Fischer-Lichte (2004), S. 130–160.


79 S. Bonaventura, Legenda maior, XIII; zitiert nach Belting (2006b), S. 21.
80 Ibid. S. 24.

84
Prothese und Transfiguration

nen, lebendigen Körper schafft, den bisher andere Künstler nicht zusammenset-
zen konnten.81 Aber ihr künstlerisches Ziel liegt woanders.82 Orlan wollte nämlich
durch die Veränderung ihres Gesichts eine neue Identität schaffen. Für sie ist die
Identität „fully achieved through the act of making or re-making one’s own body
according to one’s own will“.83 In diesem Kontext entschied sie sich, die Operation
zur „Invention of an I that refuses to take its identity from its corporeal form“ zu
machen, und bezeichnete es als La Réincarnation de Sainte-Orlan.84
In den bei den Schönheitsoperationen von ihr vorgelesenen Texten, etwa Radio
Theater von Antonin Astraud (1896–1948), To Have done with the Judgement of God,
aus dem der Begriff „der organlose Körper“ von Gilles Deleuze und Felix Guattari
philosophisch rekonfiguriert ist,85 ist der Einfluss von Artaud auf Orlans Perfor-
mance-Serie zu sehen.86 Artaud hat nach dem Körper, der von der Einschränkung
der Organismen befreit ist, begehrt und den Begriff von Gott und Dna, die uns
den physikalisch oder erblich eingeschränkten genetischen Charakterzug verlie-
hen, angegriffen. Außerdem hat er „the organs as separate body parts all func-
tioning in different ways, a machine, which worked against the unity of the body“
betrachtet87 und behauptet, dass man nur dadurch das Leiden des Humanen
abschaffen und einen angemessenen freien Zustand erreichen könne, dass man
den Körper „on the autopsy table to remark his anatomy“ legt.88 Orlan hat sich in
diesem Kontext auf den OP-Tisch gelegt, um sich selbst zu rekonfigurieren. Unter
Missachtung der organischen oder gottgegebenen Form ihres Aussehens verän-
dert sie den Körper je nach ihrem eigenen Willen.89 Für sie ist der Körper obsolet
und sie kämpft deshalb gegen Gott und Dna.90

81 Über compositio des Körpers als Bildbildpraxis siehe Fehrenbach (2005) und Mansfield
(2007), S. 135-168.
82 Ayers (2000), S.  180. Ihr Körperexperiment beschreibt Julie Clarke: „Orlan is not against
plastic surgery, but against the standards of beauty, against the dictates of dominant ideology
that impress themselves more and more on feminine and masculine flesh. She uses medical
and computer technologies to enter into a dialogue with the abject and as a vehicle to trans-
cend the body which is tied to its Dna.“ Clark (2000), S. 189.
83 Goodall (2000), S. 157 ff.
84 Bei dieser Heiligsprechung geht es um den zynischen Angriff auf das Christentum. Hier
wird nämlich ihre Aktion mit derjenigen von Heiligen abgeglichen.
85 Artaud schreibt, „when you will have made him a body without organs, / then you will have
delivered him from all his automatic reactions / and restored him to his true freedom.“ Ar-
taud (1976), S. 571; über ‚den organlosen Körper’ siehe Deleuze und Guattari (1974).
86 Bei einem Interview sagte Orlan: „I also use a lot of Artaud, because I am interested in the
concept that the body is obsolete.“ Sas (1995), S. 110.
87 Clarke (2000) S. 194.
88 Artaud (1976), S. 570.
89 Goodall (2000), S. 157.
90 Orlan spricht, „the body is Obsolete. I fight against God and Dna.“ Zitiert nach Rachel
Armstrong, Orlan, in: Mute magazine: Culture and Politics after the Net. http://www.meta-
mute.org/en/content/orlan (Stand vom 12.09.2009).

85
Körper als Bild

Abb. 29: Stelarc, Sitting/Swaying event for rock


suspension, Tamura Gallery, Tokyo, am 11. Mai
1980, Quelle: http://stelarc.org/?catID=20316

Durch Operation und Prothese wird ihr Körper als ein Bild transfiguriert. Sie
kämpft gegen Gott mithilfe des bildlichen Körpers, der von der körperlichen Ein-
schränkung befreit ist. Ihre Erklärung „Ceci est mon corps … ceci est mon logi-
ciel“91 deutet ihre Herausforderung gegen Gott und den vom Bild verdrängten
physikalischen Körper an. Ihr Körper wird je nach ihrem Willen verändert und
rekonstruiert, wie der Schauspieler auf der Bühne je nach seiner Rolle unterschied-
liche Kleidung und Maske trägt. Die Maske ist im Prinzip diejenige, die von einer
Mutterform, einem Gesicht, abgenommen ist, und zugleich wird sie als Bild eige-
ner Art etabliert.92 Indem sie als Zwischenform zwischen Abdruck und Abbild
diese beiden in sich vereint, verleiht sie einerseits dem Schauspieler das Gesicht
und andererseits verhüllt sie sein originales Gesicht.
Das Körperexperiment von Orlan unterscheidet sich aber von der Maske als
einer klassischen Bildpraxis. Ihr Gesicht ist anders als das virtuelle Bild, das die
Maske bietet.93 Wie das griechische Wort prosopon ist Orlans Gesicht oder die
Maske mit ihrer Persönlichkeit oder Identität gleichbedeutend. In diesem Zusam-
menhang ist die Veränderung des Körpers nichts anderes als die ihrer Persönlich-
keit. Für Orlan wird der Körper per se zum Bild und das Bild wird zum Körper.
Bei ihrem Werk geht es nicht um ein Bild über die Körperinszenierung. Orlan ver-
sucht vielmehr die direkte Rekonfiguration oder Veränderung des Körpers. Sie
gibt der Kunst ihren Körper hin wie der gekreuzigte Christus. Wie der Körper
Christi die Doppelnatur, das Menschliche und das Göttliche, in sich trägt, sollte
das transfigurierte Gesicht Orlans eine von ihren möglichen unzähligen Persön-
lichkeiten verkörpern. Wie die Inkarnation Christi wird ihr Körper mithilfe der

91 Sie hat ihre 7. Operation oder Performance als „Ceci est mon corps ... ceci est mon logiciel:
Omniprésence“ bezeichnet. Damit erklärt sie ihren Körper als Soft ware und parodiert zu-
gleich das Wort Christi beim letzten Abendmahl.
92 Belting (2005a), S. 74 ff.
93 Im Griechischen war der Begriff für Maske und Gesicht derselbe, während die Lateiner Mas-
ke und Gesicht begriffl ich trennten. Hans Belting zufolge hat das prosopon das Gesicht des
Schauspielers nicht verhüllt, sondern gezeigt. Dagegen verdeckt die römische Maske, die mit
dem Wort persona bezeichnet ist, dieses. Über den Maskenbegriff siehe ibid. S. 45–85; hier
S. 75.

86
Prothese und Transfiguration

Abb. 30: Stelarc, Event for Amplified Body/


Laser Eyes and Third Arm, Maki Gallery,
Tokyo, am 2. März 1986, Quelle: http://stelarc.
org/?catID=20316

Operation und Prothese zum Bild und damit ergibt sich die Reinkarnation ihrer
Identität oder Persönlichkeit.
Diese radikale Körperlichkeit oder die utopische Überwindung des Körpers ist
auch in den Werken von Stelarc zu sehen. Wie Orlan erwähnt, haben die beiden
Protagonisten den Diskurs gemeinsam, dass der Körper obsolet sei.94 Stelarc hat
mithilfe der Prothese, beispielsweise des dritten Arms oder Ohrs, die funktionale
Möglichkeit des Körpers erforscht, genau wo Orlan die Rekonfiguration des Kör-
pers versucht hat. Von 1976 bis 1988 hat er in Japan, Australien, Europa und Ame-
rika Suspension Events ausgeführt (Abb. 29). Er hat mithilfe von Kabeln, die seine
Haut durchbohrten, seinen Körper an einem Kran, Baum oder Stein aufgehängt
und damit die Überwindung der Parameter des Körpers physisch und symbolisch
gezeigt.95 In dieser Performance-Serie wird sein Körper mit dem Kabel durch-
bohrt, aber dadurch wird er in einen Raum erweitert oder integriert.
Bei Amplified Body, das von 1970 bis 1994 ausgeführt wurde (Abb. 30), geht es
auch um die Visualisierung der virtuellen Erweiterung des Körpers. In dieser Per-
formance hat Stelarc mithilfe von Parametern, etwa Gehirnwellen (EEG), Mus-
keln (EMG), Puls (Plethysmogramm) und Blutzirkulation (Doppler Flow Meter),
die Veränderung von Beleuchtung und Sound vorgenommen. Der Raum, der auf
seinen Rhythmus reagiert, ist nichts anderes als die Erweiterung seines Körpers.
Denn Stelarcs Körper verbindet sich mit dem Galerieraum virtuell und akustisch
und damit wird er als ein Raum erweitert und transformiert.96 Dementsprechend

94 Orlan spricht, „like the Australian artist Stelarc, I think that the body is obsolete. It is no
longer adequate for the current situation. We mutate at the rate of cockroaches, but we are
cockroaches whose memories are in computers, who pilot planes and drive cars that we have
conceived, although our bodies are not conceived for these speeds.“ Orlan (1996) S. 91; Ste-
larc hat in the Second International Symposium on Electronic Art (Sisea) in Groningen fest-
gestellt, „The body is obsolete. We are at the end of philosophy and human physiology.“
Aus seinem Text für Sisea, Prosthetics, Robotics and Remote Existence: Post-Evolutionary
Strategies, 1990; siehe auch Stelarc (2000b), S. 562.
95 Er schreibt: „My events are involved with transcending human parameters, including pain –
to manifest an all important concept.“ zitiert nach Paff rath (1984), S. 8.
96 Stelarc spricht: „If you imagine the body in a gallery space, the container for the body sounds
or body processes is no longer simply the humanoid shape of the body but the cuboid space
of the gallery. In a sense it’s a kind of sound aura. So you can think of amplifying body pro-

87
Körper als Bild

Abb. 31: Stelarc, Ping Body Performance as part of the Digital Aesthetics conference in Artspace,
Sydney, am 10. April 1996, Quelle: http://stelarc.org/?catID=20316

wird der Raum, in dem die Performance Stelarcs ausgeführt wird, zu seinem trans-
formierten Körper. Claudia Benthien hat diesen Raum als eine Art Mutterleib
begriffen.97 Ihr zufolge nimmt Stelarc eine doppelte Position ein. Im Zustand der
Entkörperlichung, des Nicht-Irdischen verwandle der Körper Selarcs sich sowohl
als Gebärende(r) als auch als Embryo. In unserem Sinne bringt der Künstler durch
Schmerz und Gefahr,98 wie bei dem Prozess der Entbindung, eine andere Art Kör-
per, d. h. „the body“ als ein Bild, hervor.
Stelarcs the body wurde in Fractal Flesh, Ping Body und Parasite Internet Per-
formance, die zwischen 1995 und 1998 ausgeführt wurden, aktualisiert. In dieser
Performance hat er seinen Körper an das Internet angeschlossen. Im Vergleich
zur technischen Komplexität ist der Mechanismus des Werks relativ einfach. Die
Benutzer choreografieren von verschiedenen Orten aus die Bewegung von Ste-
larcs Körpers mithilfe des Bildes auf dem Bildschirm (Abb.  31). Die Aktivität
der Benutzer wird über das Computer-System in das Muskel-Stimulations-Sys-
tem übertragen und diese Ausrüstung verursacht mithilfe der Elektrostimulation
die Bewegung von Stelarcs Körpers. In diesem Moment wird sein Körper nicht

cesses as expanding and transforming the human form in an architectural structure.“ Ibid.
S. 16.
97 Benthien (2001), S. 323–324.
98 Vgl. über den Schmerz als Bild und Kommunikationsgegenstand Meyer (2008).

88
Prothese und Transfiguration

Abb. 32: Abraham Bosse, Leviathan, Ausschnitt


aus Frontispiz des Leviathan von Thomas
Hobbes, Radierung, 1651.

durch seinen Willen99, sondern die kollektive Intelligenz100 im Internet fernge-


steuert. In der visuellen Analogie zu dem Staatskörper von Thomas Hobbes (1588–
1679)101 (Abb. 32) verwandelt der Körper Stelarcs sich in einen monströsen kollek-
tiven Körper, der den Naturzustand überwältigt. In diesem Zusammenhang sind
die Kabel, die in Suspension Performances die Haut Stelarcs durchbohrt haben,
in dieser Performance als eine visuelle Metapher von Informationen im Internet,
die seinen Körper durchbohren und rekonfigurieren, zu verstehen. Diese Analo-
gie erinnert uns an Andy Clarks Konzeption „the extended mind“, mit der er die
Grenze des Körpers mithilfe der technologischen Affordanz ausdehnt.102 Diese
Vision entfaltet sich aber „not in merely superficial sense of combining flesh and
wires, but in the more profound sense of being human-technology symbionts“.103
Wo genau endet der Mensch und beginnt die Welt? Stelarc erklärt the body:

“Imagine a body that can perform an action without memory, a body can take a
motion without knowing that it will carry it out, an action without any expec-
tation. […] Consider a body driven by multiple agents, remotely situated and
spatially separated. […] A problem no longer of having a split personality, but
rather a split physicality. […] In other words the body becomes a host for another
agent. Electronically coupled bodies could then extrude agency from one body
to another body in another place.”104

99 In dieser Hinsicht spricht Stelarc: „Je mehr Performance ich mache, desto weniger denke ich,
dass ich einen eigenen Geist oder einen Geist in einem metaphysischen Sinn besitze.“ Stelarc
(2000a), S. 122.
100 Lévy (1998b).
101 Vgl. Bredekamp (2003c).
102 Vgl. Clark (1998).
103 Clark (2004), S. 3.
104 Aus dem Dokumentarfi lm Stelarc / Psycho / Cyber von Tim Gruchy (1996); zitiert nach Goo-
dall (2000), S. 164.

89
Körper als Bild

Hier wird sein Körper komplett kontextualisiert. Das heißt, er wird „durch Tele-
Existenz und Telepräsenz zu einem simultanen, operationalen System modu-
liert“.105 Die Erweiterung des Körpers, die Stelarc inszeniert hat, knüpft sich para-
doxerweise an die Leere des Körpers. Wie das Bildmedium, das andere Dinge in
sich trägt, leert der Körper, der Stelarc als eine Person zeigte, sich selbst und ver-
körpert stattdessen die Informationen oder die kollektive Intelligenz.
Dies ist der Vorstellung von Hans Moravec, die Katherine Hayles als „antihu-
man“ kritisiert hat, entgegengesetzt.106 Er glaubte, dass der menschliche Geist, wie
die Daten, „aus seinem ursprünglichen biologischen Gehirn in künstliche Hard-
ware verpflanzt“ wird.107 Stelarcs Körper ist aber „stretched between what it never
was and what it can never hope to be – suspended between the prehuman and the
posthuman”.108 Wie Orlans Körper ein Bild war, das ihre Persönlichkeit reinkar-
niert, so wird Stelarcs the body auch als ein Repräsentant wiedergeboren. Sein Kör-
per hebt seine Grenze auf und verwandelt sich in ein Bild. Stelarc bezeichnet es als
phantom body.109 Durch die Bildwerdung werde das ewige Leben dem Körper, der
vergänglich und eingeschränkt war, verliehen.
Diese Bildpraxis Stelarcs, in der es um die Negation der Körpernegation geht,
zieht die Lehre aus den Vorgängern, die durch den Tod der Kunst ihren Körper
hingegeben haben. Aber wie kann man diese kühne Herausforderung Stelarcs
erklären, der ohne den Tod als Übergangsritual versucht, das gleiche Ziel zu errei-
chen? Hier soll das Geständnis von Machiko Kusahara, die den Schmerz ihres
Freundes vermutet, erwähnt werden.

“It was a strange experience to act as a sort of marionette operator manipulating


a real human – especially for me, since I have known Stelarc for many years.
Although Stelarc is an old friend, there was a strange absence of reality for me.
When I gave him electric shocks to jerk his limbs, it was like manipulating a
machine or a robot. It was hard to accept that I was causing him pain, even
though I saw his body writhe and jerk. There was, after all, no feeling of pain in
my side or my arm. […] I have no doubt that Stelarc would feel pain at the other

105 Uhlmann (2003), S. 49.


106 Hayles (1999), S. 287.
107 Moravec (1999), S. 265-266.
108 Massumi (2005), S. 176.
109 Er stellt fest: „Technologies are becoming better life support systems for our images than
for our bodies. Images are immortal. Bodies are emphemeral. The body fi nds it in-
creasingly difficult to match the expectations of its images. In the realm of multiplying and
morphing images, the physical body’s impotence is apparent. The body now performs
best as its image. Virtual Reality technology allows a transgression of boundaries bet-
ween male/female, human/machine, time/space. The self becomes situated beyond the skin.
Th is is not disconnecting or a splitting but an extruding of awareness. What it means to
be human is no longer being immersed in genetics memory but in being reconfigured in the
electromagnetic field of the circuit In the realm of the image.“ Stelrac (2000b), S. 576.

90
Prothese und Transfiguration

end of a cattle prod, but how do I know what he feels at the other end of a net-
work designed to insulate me from his pain?”110

Mithilfe der Prothese versucht Stelarc, seinen Körper als ein Trägersystem für Bild,
Information oder Geist zu verändern.111 Der Schmerz, den er in der Performance
erleidet oder erlitte, bestätigt aber die Tatsache, dass er trotz der Bildwerdung des
Körpers noch immer an seinen Körper gefesselt ist. Das heißt: Wenn der platoni-
sche Dualismus zumindest zu unseren Lebzeiten nicht gültig wäre, sollte unsere
Bildpraxis immer im Kontext der Koexistenz oder Ambivalenz von Körper und
Bild untersucht werden. Die Bildwerdung des Körpers kreuzt sich immer mit der
Einkörperung des Bildes, wie das Verhältnis zwischen Transfiguration und Inkar-
nation. Die Verklärung zeigt phänomenal das verkörperte Bild Gottes wiederum
im Körper. Ihr geht es um die Aufhebung der Grenze und zugleich um die Ambi-
valenz.112 Sie geschieht zeitlich vor dem Tode Christi, wie bei der Performance Ste-
larcs ohne Tod. Ihre Bewegungsrichtung ist mit der Inkarnation gekreuzt113, aber
sie beweist und ergänzt diese. Das Matthäus-Evangelium berichtet lebhaft von der
außergewöhnlichen Szene, die sich vor dem Auge von Petrus entfaltet, um den
fremden Körper Stelarcs in unserem Sinne zu beschreiben.

„Und nach sechs Tagen nahm Jesus zu sich Petrus und Jakobus und Johannes,
seinen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg. Und er wurde ver-
klärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider
wurden weiß wie das Licht.“114

Was hier Petrus beobachtet hat, ist, dass Christus im verklärten Leib als Einheit von
menschlichem Leib und göttlichem Geist wahrnehmbar in Erscheinung tritt.115
Die originale Bedeutung von „Verklärung“, die von Arthur C. Danto im Kon-
text der Kunst modifiziert wurde,116 können wir nun auf die Bildpraxis im Post-
human-Diskurs anwenden. Unser Körper wird durch solche Bildpraxis als ein Bild
verklärt. Cyborg lässt unseren Körper, der im Prinzip das Bild Gottes war, wie-
der als ein Bild wahrgenommen werden. Er zeigt gleichzeitig unser Urbild, das
Bild des gegenwärtigen Körpers und das künft ige Bild. Darum geht es bei Dürers

110 Kusahara (2000) S. 211.


111 Dazu kritisch siehe Belting (2002b) S. 35–36; Ihm zufolge dient das Plädoyer, der natürliche
Körper habe als Trägersystem für den Geist zu fungieren, dazu, „eine Zukunft virtueller
Körper zu entwerfen“. Dabei wird aber vergessen, dass „die Unterscheidung von Geist und
Körper eine alte platonische Position darstellt, deren selbstsicherer Dualismus angesichts der
neurobiologischen Forschung nur noch ein Lächeln hervorrufen kann.“
112 Vouga (2006) S. 28.
113 Kasten (2006) S. 31–32.
114 Matthäus 17:1–2.
115 Fischer-Lichte (2006) S. 165.
116 Danto (1981).

91
Körper als Bild

Abb. 33: Albrecht Dürer, Selbstbildnis im Pelz-


rock, Holz, 67,1 × 48,9 cm, 1500.

Selbstbildnis (1500) (Abb. 33). Hier wird Dürers Körper als ein Bild verklärt und
das Missverhältnis zwischen seinem Erscheinungskörper und der verschwunde-
nen Körperlichkeit verursacht ein Surplus der Referenz. Wie der Körper Christi als
Repräsentation der Göttlichkeit, so wird Dürers Körper in diesem Werk schließ-
lich in die Bildfrage verwickelt. Hans Belting behauptet, dass Bilder am Körper
älter als Bilder des Körpers waren.117 Für ihn ist der Körper „ein Sammelbegriff
für alles, was man an ihm festmachen und mit ihm darstellen kann“. In diesem
Zusammenhang soll die Behauptung von John Michael Krois, der die menschliche
Existenz nicht als Leib-Seele-Verhältnis, sondern als Leib-Bild-Verhältnis erklärt
hat, noch einmal erwähnt werden.118 Die Verklärung bezieht sich auf die phäno-
menale Realisierung solcher menschlichen Existenz. Das heißt: Der Körper zeigt
durch die Bildwerdung die Bildlichkeit, die er in sich enthält, phänomenal und
dadurch wird der ikonoklastische Charakter des Bildes im Körpermedium aktu-
alisiert. Der Körper wird zum Hauptbestandteil des Bildes und das Bild bekommt
das Leben vom Körper. Die Lebendigkeit des Bildes bezieht sich immer darauf,
dass das Verhältnis zwischen Körper und Bild in eine prekäre Spannung gerät.

117 Belting (2002b), S. 35 ff.


118 Krois (2001), S. 3.

92
4 Realität des Bildes – Telepresence Art

4.1 Posthuman und Telepräsenz

Telepräsenz ist ein typisches Symptom der Bildpraxis vom Menschen als Cyborg.
Der Mensch, der in dem Posthuman-Diskurs als „an amalgam, a collection of
heterogeneous components, a material-informational entity whose boundaries
undergo continuous construction and reconstruction“1 begriffen wird, erwei-
tert sich durch die Ausstattung der Prothese. Marshall McLuhan zufolge ist die
Technik in Bezug auf diese künstlerische Erweiterungstechnik als eine Organer-
weiterung und Organverstärkung zu verstehen und die elektronischen Medien
dienten ebenso dazu, das Zentralnervensystem und die Sinnesorgane zu exterio-
risieren.2 In dieser Hinsicht knüpft sich die Erweiterung des Körpers durch Pro-
these schließlich an „eine Neutralisierung von Raum- und Zeitunterschieden“.3
Das heißt: „Was räumlich entfernt liegt, rückt nah; was zeitlich nacheinander folgt,
wird gleichzeitig.“
Telepräsenz ist aus Distanz (Tele-) und Präsenz zusammengesetzt. Bei ihr geht
es nämlich um „a technology for a person to be present in some form in a dis-
tant place“.4 Sie fällt demnach mit der Vision von McLuhan vollkommen zusam-
men. Diese Technologie, die sowohl aus einer Schnittstelle zwischen Mensch und
Bild als auch aus einem Teleroboter besteht, der ferngesteuert ist, konstituiert den
Cyborg als Ganzes.5 Telepräsenz besteht, wie Oliver Grau zu Recht betont, aus
dem Amalgam dreier Technologien: Robotik, Telekommunikation und virtuelle
Realität.6
Telepräsenz fällt mit Telematik oder Telekommunikation zusammen, insofern
es bei ihr um die Frage nach Distanz und Interaktivität geht. Aber sie unterschei-
den sich aus folgendem Grund voneinander: Während Letztere sich mit der auto-
matisierten Kommunikation oder dem Austausch der Informationen beschäft igt,
geht es bei Telepräsenz um Präsentation und Aktion. In dieser Hinsicht erklärt
Telepräsenz sich als eine fortgeschrittene Form der Teleoperation, bei der es um
Fernsteuerung des autonomen Roboters geht. In der Tat beruht das Präsenzge-
fühl des Benutzers nicht nur auf der Fernsteuerung des Roboters, sondern auch

1 Hayles (1999), S. 3; siehe auch Haraway (2000).


2 McLuhan (1970), S. 52 sowie S. 62.
3 Krämer (1998a), S. 76.
4 Wilson (2002), S. 526.
5 Florian Rötzer zufolge befi ndet der Benutzer sich bei der Telepresence Art „in drei verschie-
denen Räumen: in dem Raum, dessen Mitte der eigene Körper aus Fleisch und Blut ist, in
demjenigen virtuellen, den man auf den Bildschirmen des Eye-Phones sieht, und in jenem
wiederum „wirklichen“, in dessen Zentrum der Roboter sich befi ndet.“ Rötzer (1998), S. 156.
6 Grau (2003), S. 278.

93
S.-C. Shin, Vom Simulacrum zum Bildwesen: Ikonoklasmus der virtuellen Kunst
© Springer-Verlag/Wien 2012
Realität des Bildes

auf einem Feedback-System. Allerdings ist der Erkenntnis- oder der Wahrneh-
mungsmoment der Telepräsenz von jenem der virtuellen Realität zu unterschei-
den. Denn während es bei der virtuellen Realität um Fiktum geht, basiert die Tele-
präsenz auf Datum. Genauer gesagt: Während es bei der virtuellen Realität um die
Technik geht, die eine latente Phantasie, die nicht wirklich ist, aktualisiert, bezieht
die Telepräsenz sich auf Präsentation und Aktion in einem entfernten physikali-
schen Ort oder Raum, der vorhanden ist oder sein wird, auch wenn dieser Raum
nicht erfahrbar oder nicht vorhanden war. Deshalb beziehen die beiden sich zwar
auf Faktum, aber sie sind aus folgendem Grund voneinander getrennt: Während
Erstere zwischen Faktum und Fiktum oszilliert, schwingt Letztere zwischen Fak-
tum und Datum.
Aber die phänomenale Unterscheidung zwischen den beiden ist subtil und
de facto fast unmöglich. Und sie nähern sich einander sogar an. Dies ist auf den
intrinsischen Widerspruch des Bildes bezogen, das in der Telepresence Art zwi-
schen dem Benutzer und dem Agenten vermittelt. Die ursprüngliche Funktion des
Bildes in der Telepresence Art, etwa als Repräsentation oder Index, hält das Bild
immer an der Relation mit der Wirklichkeit oder an der Frage nach der Wahr-
haft igkeit fest. Wenn das Bild in Bezug auf diesen Glauben als eine bloße Technik
oder Prothese, die sich auf die Erweiterung des Körpers bezieht, zu verstehen wäre,
könnte der Diskurs über Cyborg per se in die Telepresence Art verpflanzt werden
oder umgekehrt könnte Telepresence Art als eine repräsentative Form der Cyborg
Art vorgestellt werden. Das Bild als ein Medium oder ein willkürliches Zeichen
steht aber diesem Begehren des Körpers entgegen. Um es anders auszudrücken:
Im Zeitalter der Krise der Repräsentation, in der die Beziehung zwischen Bild und
dessen Objekt überall angezweifelt wird, diene der Bildgebrauch als ein kritisches
Moment gegen die Bildpraxis von Telepresence Art. Denn wenn das Bild löge,7 ver-
löre die Bildpraxis in der Telepresence Art, die im Bild begründet ist, ihre Bedeu-
tungsebene. In diesem Fall wird Telepresence Art per se zur virtuellen Realität.
Im Posthuman-Diskurs eröff net der Körper neue Möglichkeiten, sich einem
transzendentalen Wesen annähern zu können, anstatt seine Überlegenheit in der
Beziehung mit den Maschinen oder Tieren aufzugeben. Aber die Bildpraxis in der
Telepresence Art dient als ein kritisches Moment dieser utopischen Vorstellung.
Das Bild widerspricht dem Begehren des Körpers, der durch Instrumentalisierung
des Bildes die göttliche Macht verkörpern möchte, und stürzt die körperliche Ord-
nung um. Es vermittelt eher die Aktion des Betreibers und das Feedback, indem es
sich, wie die alte Bildpraxis im Zeitalter des Bildes8, zu einem Objekt des Glaubens
erklärt. Der Körper als Bild ist im Posthuman-Diskurs als Schnittstelle zwischen
Welt und Maschinen zu verstehen.9 Der Mechanismus der Telepresence Art geht
vom Bild als Schnittstelle zwischen Körper und Welt aus. Im Fall des Ersteren ist

7 Vgl. Liebert und Metten (2007).


8 Vgl. Belting (1990).
9 Rötzer (1998), S. 166.

94
Erweiterung des Körpers

das Bild als eine Prothese zur Erweiterung des Körpers zu verstehen. Im Fall der
Letzteren wird das Bild aber an sich zu einer Realität. Diese Differenz kann im
Cyborg, der in der Ambivalenz oder Verschmelzung von Körper und Bild besteht,
oder im Posthuman-Diskurs als ein kritisches Moment, das dem Humanen imma-
nent ist, verstanden werden. Wie begegnet der Mensch der Welt? Und in welcher
Verbindung steht er mit dieser? Das Bild, das wirkt, genau wo der Körper endet
und die Welt anfängt, besitzt den Schlüssel zum Verständnis der menschlichen
Existenz. In diesem Zusammenhang avanciert die Bildpraxis in der Telepresence
Art in Bezug auf die Vision McLuhans, etwa die Erweiterung des Körpers, zu einer
Kulturtechnik.
Die ikonische Differenz, die im Prinzip dem Bild immanent ist, ist schließlich
von der Bildpraxis im Körper auf die Ikonologie des Körpers bezogen. Wie kann
der Partizipant der Telepresence Art diese Art Bild-Lehre aufnehmen? Während
im letzten Kapitel die wechselseitige Beziehung zwischen Körper und Bild behan-
delt wurde, soll hier die dialektische Gegenüberstellung zwischen den beiden the-
matisiert werden. Es soll nämlich in diesem Kapitel der Bild-Diskurs im Körper
von dem kritischen Blick auf die Verschmelzung von Körper und Bild beleuchtet
werden. Das Bild behauptet de facto seine eigene Lebendigkeit, indem es im Kon-
text der Krise der Repräsentation den Mechanismus der Telepresence Art undurch-
lässig macht. Es bekämpft das Begehren des Körpers und täuscht ihn. Telepresence
Art ist in diesem ikonischen Kontrast zwischen Körper und Bild begründet. Sie
besteht nämlich in der Ungleichheit zwischen dem Menschen als Betreiber, dem
Bild als Medium und dem Roboter als Agenten in der Opazität des Informations-
austausches und in der epistemologischen Ungewissheit. Der Mensch instrumen-
talisiert das Bild wieder und wieder, um diese Unbestimmtheit zu entfernen. Im
Gegensatz dazu widerspricht das Bild solchem menschlichen Gebrauch, der das
Bild nur als ein Mittel begreift, und behauptet sein autonomes Leben. Die Bildpra-
xis der Telepresence Art besteht in diesem Zusammenstoß aus den gegenseitigen
Kräften oder dem ikonischen Kontrast.

4.2 Erweiterung des Körpers

Der Film von Spike Jonze Being John Malkovich (1999) setzt einen virtuellen Raum
im Stockwerk 7½ eines Bürogebäudes in Manhattan voraus. Dieser Raum, der
durch eine kleine Tür hinter einem Aktenschrank zugänglich ist, führt die Leute
in den Kopf des Schauspielers, John Malkovich, und dort können sie seinen Kör-
per und Geist für kurze Zeit, etwa 15 Minuten lang, unter Kontrolle haben. Die
Leute, die sich in seinem Körper befinden, steuern Malkovich als Agenten oder
Roboter, wie der Magier ihn hypnotisiert, und verschmelzen mit ihm. Diese fi l-
mische Vorstellung zeigt uns den Zielpunkt der Telepresence Art. Telepresence Art
als eine Kunstform bietet uns, wie virtuelle Realität, ein Präsenzgefühl in einem
anderen Ort oder Raum. Sie lädt die Teilnehmer de facto ein, „to experience inven-

95
Realität des Bildes

Abb. 34: Eduardo Kac, Rara Avis, interactive


telepresence work, Nexus Contemporary Art
Center in Atlanta, 1996,
Courtesy of Eduardo Kac.

ted remote worlds from perspectives and scales different than human, as perceived
through the sensorial apparatus of telerobots“.10
Rara Avis von Eduardo Kac (1996) (Abb. 34), das im Nexus Contemporary Art
Center in Atlanta inszeniert wurde, realisiert diese fi lmische Realität. Im Aus-
stellungsraum ist ein Vogelhaus aufgebaut und darin befinden sich 30 Zebrafin-
ken, ein großer tropischer Ara und ein Roboter, den er als Macowl (macaw + owl)
bezeichnet hat. Vor dem Vogelhaus liegt ein hmd, das den Betrachter ins Vogel-
haus führt. Mithilfe dieses hmd verkörpert der Betrachter den Blickpunkt von
Macowl. Er nimmt nämlich das Vogelhaus mithilfe der ccd-Kamera wahr, die
an den Augen des Teleroboters angeschlossen ist, und er kann sogar seinen eige-
nen Körper, der sich außerhalb des Vogelhauses befindet, beobachten. Der Blick
des Teleroboters wird von der Drehung des Kopfs vom Betrachter gesteuert und
damit wird der Betrachter in eine virtuelle Realität, die Macowl erzeugt, versetzt.
Hier werden Innen und Außen des Vogelhauses, Wirklichkeit und Virtualität und
das Selbst und das Andere miteinander verschmolzen und der Betrachter als ein
Cyborg konstituiert mit den anderen Vögeln ein Ökosystem im Vogelhaus.
Kac hat zwar das Ereignis, das im Vogelhaus geschieht, auf der Webseite gezeigt,
aber der Mechanismus dieser Installation ist im Prinzip auf die individualisierte
visuelle Erfahrung bezogen, wie etwa vor einem Jahrhundert Marinetti mithilfe

10 Eduardo Kac, Telepresence, http://www.ekac.org/Telepresence.art._94.html (Stand vom


12.09.2009).

96
Erweiterung des Körpers

von Radiophony die körperliche Sinneswahrnehmung erweitern wollte.11 In dieser


Installation überspringt der Betrachter die physikalische Distanz zum Telerobot.
Das Bild bringt nämlich sein Bewusstsein in einen anderen Ort oder Raum. Wird
der Betrachter de facto in seinen Agenten projiziert?12 Die starke visuelle Erfah-
rung, die das Bild bietet, lässt unseren Körper virtualisieren und in der Bildpraxis
der Telepresence Art stoßen mithin die Ideologie von der Überwindung des Kör-
pers und die Körperkonzeption als Ort der Bilderfahrung aufeinander. In diesem
Zusammenhang hat Abraham Moles betont, dass wir im Zeitalter der Telepräsenz
versuchen sollten „to establish an equivalence between ‚actual presence‘ and ‚vica-
rial presence‘“.13
Bei der Bilderfahrung wird unser Sehen immer „in einer Tast-Erfahrung
gedacht und empfunden“.14 In dieser Hinsicht behauptet John Michael Krois bei
der Auseinandersetzung mit der Ikon-Konzeption von Charles S. Peirce:
„Dies bedeutet für eine Bildtheorie, dass wir die Eigenart von Bildern nicht in
der Sichtbarkeit alleine zu suchen haben, sondern in der Verkörperung von sinn-
lichen Phänomenen in uns und in den Objekten, die wir Bilder nennen.“15
In der Tat dient für ihn die Tatsache, dass das Bild Unsichtbares zum Ausdruck
bringen kann – beispielsweise die Kälte von Yves Kleins Blau –, als ein Beweis für

11 Siehe La Radia: Futuristisches Manifest vom Oktober 1933 in: Malsch (1990), S.  224–228;
über die Ausdehnung der Sinne Weibel (1990), S. 34.
12 In dieser Hinsicht definiert Brenda Laurel Telepresence als „a medium that allows you to take
your body with you into some other environment. […] You get to take some subset of your
senses with you into another environment. And that environment may be a computer-gene-
rated environment, it may be a camera-originated environment, or it may be a combination
of the two.“ Zitiert nach Manovich (2000), S. 173.
13 Abraham A. Moles, Design and Immateriality: What of It in a Post-Industrial Society? In:
The Immaterial Society: Design, Culture and Technology in the Postmodern World, Marco
Diani (Hg.), Prentice-Hall, New Jersey 1992, S. 28, zitiert nach Eduardo Kac, Telepresence,
http://www.ekac.org/Telepresence.art._94.html (Stand vom 12.09.2009). In diesem Zusam-
menhang hat Katherine Hayles in der Auseinandersetzung über cyberspace festgestellt: „Mo-
ving into cyberspace binds subject and object positions together in a reflexive dynamic that
makes their identification problematic. The putative subject is the consciousness embodied
in a physical form, while the object is the puppet behind the screen. Since the flow of sensory
information goes in both directions, however, the puppet can also be seen as the originary
point for sensations. Along with many others who have experienced this technology, I found
this ambiguity one of cyberspace’s most disturbing and arresting features. Cyberspace repre-
sents a powerful challenge to the customary construction of the body’s boundaries, opening
them to transformative configurations that always bear the trace of the Other. The resulting
disorientation can function as a wedge to destabilize presuppositions about self and Other.“
Hayles (1993), S. 187.
14 Didi-Huberman (1999), S.  13; in diesem Zusammenhang hat Merleau-Ponty festgestellt:
„Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass jedes Sichtbare aus dem Berührbaren ge-
schnitzt ist, dass jedes taktile Sein gewissermaßen der Sichtbarkeit zugedacht ist und dass es
Übergreifen und Überschreiten nicht nur zwischen dem Berührten und dem Berührenden
gibt, sondern auch zwischen dem Berührbaren und dem Sichtbaren, das in das Berührbare
eingebettet ist.“ Merleau-Ponty (1994), S. 177.
15 Krois (2006), S. 174.

97
Realität des Bildes

Abb. 35: Paul Serman, Telematic Dreaming,


Kajaani Art Gallery und Telegalleria Helsinki,
1992, Courtesy of Paul Serman.

seine Behauptung, dass das Bild in der haptischen oder multisensorischen Bezie-
hung mit unserem Körper wahrgenommen werde.
Telematic Dreaming von Paul Serman (1992) (Abb. 35) basiert auf dieser hapti-
schen Wahrnehmung des Bildes. Diese Installation inszeniert mithilfe von Tele-
matik die Kommunikation zwischen den Teilnehmern, die voneinander physi-
kalisch entfernt sind. Paul Serman hat die zwei entfernten Orte, die Kajaani Art
Gallery und die Telegalleria in Helsinki, durch eine 2-mb-Isdn-Telefonleitung ver-
bunden und damit inszeniert er, dass der Teilnehmer das auf das Bett projizierte
Bild seines entfernten Partners sehen kann.
Mithilfe dieses Bildes reagieren die beiden Teilnehmer in Echtzeit aufeinander. Sie
können sich zwar nicht berühren, aber mithilfe des Bildes erzeugt diese Installa-
tion eine haptische Wahrnehmung. Der grundlegende Mechanismus der Telema-
tik vertreibt die Sorge von Abraham Moles um die Flucht des Körpers. Telematik
ist im Prinzip in der automatisierten Kommunikation zwischen den zwei physi-
kalisch entfernten Subjekten begründet. Anders als virtuelle Realität, die auf der
räumlichen Beziehung zwischen Betrachter und Bild beruht, ist Telematik auf die
Aktion und Reaktion zwischen den zwei voneinander entfernten Subjekten bezo-
gen. Es geht nämlich bei Telematik nicht um die Präsentation des Betrachters an
einem anderen Ort, sondern um die „Technik zum selbstbewegten Näherrücken
von Entferntem“.16 In dieser Art Bildpraxis ist der Körper demnach nicht als etwas,
das wir überwinden sollen, sondern als ein Ort, in dem das Ereignis, das Bild oder
die Wahrnehmung geschehen sind, zu verstehen.17
Während der Betrachter von Kacs Rara Avis die physikalische Distanz über-
springt und in den anderen Raum projiziert wurde, erlebt er in dieser Installa-
tion hier und jetzt die Präsentation seines Partners. Die Bewegung seines Partners,
die als Bild auf das Bett projiziert ist, erzeugt eine multisensorische Wahrneh-
mung und damit verbindet der visuelle Eindruck sich mit dem haptischen. Das
Bild als eine Schnittstelle inszeniert einen Looping-Effekt zwischen den beiden
Teilnehmern. In diesem Kreislauf geschieht ein unendlicher Austausch zwischen
den zwei Teilnehmern, genauer gesagt zwischen den Körpern der Teilnehmer und

16 Flusser (2002), S. 99.


17 Belting (2001), S. 57–86; vgl. Hansen (2006).

98
Erweiterung des Körpers

Abb. 36: ART+COM, Terravision, Interaktive Instal-


lation, 1995-1999, Courtesy of ART+COM.

deren virtueller Repräsentation. Um es anders auszudrücken: In dieser Installa-


tion lässt sich die Interaktion zwischen den zwei Teilnehmern durch die Sympa-
thie zwischen dem Körper und dessen Repräsentation bzw. zwischen Betrachter
und Bild ersetzen. Die fremde Intimität, die der Teilnehmer in diesem Werk fühlt,
ist darauf bezogen, dass er nicht den echten Körper seines Partners, sondern das
Bild als Schnittstelle, die die Distanz zwischen den beiden Teilnehmern aufrecht-
erhält oder abschafft, berührt. In diesem Zusammenhang lässt die Bildpraxis der
Telepresence Art sich auf die Beziehung zwischen Körper und Bild reduzieren.
In dieser Installation irritiert das Bild als Schnittstelle das Realitätsgefühl
des Betrachters, indem es die Wirklichkeit ersetzt und umgekehrt die körperli-
che Wahrnehmung verstärkt. Dies ist ein typisches Symptom der Telepresence
Art. In der Telepresence Art nimmt der Betrachter die Welt als ein Bild wahr. Aber
das Feedback-System des Bildes, das eine haptische Wahrnehmung erzeugt oder
auf die Bewegung des Betrachters perfekt reagiert, erodiert ununterbrochen die
Grundlage der physikalischen Präsenz des Betrachters. Wie kann man dann das
Gleichgewicht zwischen den Körpern für einen Ort der Wahrnehmung und der
starken Kraft des Bildes halten? Auff ällig ist, dass dieser Zusammenstoß der bei-
den in der utopischen Vision vom Cyborg oder des Posthuman-Diskurses immer
positiv begriffen wird.
Oliver Grau hat die visuelle Erfahrung in der Telepresence Art im Kontext der
Cybergnosis erklärt.18 Die alte Tradition von Gnosis, die auf die „Überwindung des
Körpers“ oder die „Seelenwanderung“ bezogen ist, werde in der heutigen Telepre-
sence Art wiederum aktualisiert. Ihm zufolge ist Terravision von Art+Com (1995-
1999) (Abb. 36) in dieser gnostischen Tradition oder in der utopischen Vision vom
Posthuman-Diskurs verwurzelt. Diese Installation repräsentiert die Oberfläche
der Erde mithilfe von topografischen Daten und Satellitenbildern. Der Betrachter
kann mithilfe des Bildes auf dem Bildschirm nicht nur die Erdoberfläche, sondern
auch deren Details oder verschiedene Informationen erblicken. Wie bei der visuel-
len Erfahrung des Panoramas, das Anfang des 19. Jahrhunderts in Mode war, kann
der Betrachter in dieser Installation dank des Feedback-Systems ins entrahmte
Bild hineingehen. Wenn das Panorama das erste technische Medium, das auf All-

18 Grau (2002), S. 46; siehe auch ders. (2003), S. 279–285.

99
Realität des Bildes

Abb. 37: Rafael Lozano-Hemmer, Vecto-


rial elevation, Relational Architecture 4,
Mexico City, 1999–2000, Courtesy of Rafael
Lozano-Hemmer.

sichtigkeit zielt, war,19 ist in dieser Installation eine technische Optimierung des
Phänomens zu sehen, das Paul Villio als „Panoramatische Apperzeption“ bezeich-
net hat. Wie die Beschreibung von Eric Davis, „Spinning the earth, you feel like
a god; plunging toward its surface, like a falling angel“,20 überschneidet sich das
Auge des Betrachters mit dem absoluten Blick des alles sehenden Gottes. In der
Tat wird der beschränkte Betrachterblickpunkt von Kacs Rara Avis hier von seiner
Einschränkung befreit und verkörpert die Eigenschaft des allgegenwärtigen Got-
tes. Der Betrachter kommt nämlich mithilfe des Bildes als Schnittstelle über sein
human-scale hinaus.
Könnte der Mensch wirklich seine raumzeitliche Einschränkung überwinden?
Die utopische Vision von posthumanistischen Diskursen, etwa die Erweiterung
des Körpers durch Ausstattung der Prothese und die Erhebung zum transzenden-
talen Wesen, ist auch in Vectorial Elevation von Rafael Lozano-Hemmer (1999–
2000) (Abb.  37) thematisiert. Der Teilnehmer, der in Terravision den schweben-
den oder allgegenwärtigen Blick Gottes verkörpert hat, zeigt in diesem Werk seine
göttliche und magische Kraft, das entfernte Objekt zu steuern – wie der Voodoo-
Schamane, der die Puppe zur Hand nimmt. Lozano-Hemmer hat 18 Scheinwerfer
um den Zócalo-Platz herum installiert und lässt den Teilnehmer diese über die
Webseite steuern. Der Server speichert den Befehl des Teilnehmers chronologisch
und verändert die Richtung des Lichtes alle sechs Sekunden. Die einfache Steue-
rung im virtuellen Raum bewirkt eine großangelegte Veränderung im wirklichen
Raum. Der Teilnehmer bewirkt im Web eine Veränderung der Realität und sieht
das Ereignis seiner Aktion in Form eines Fotos.
Die Veränderung der Lichtrichtung in dieser Installation steht in der visuellen
Analogie zur Lichtbrechung im Frontispiz von Athanasius Kirchers Ars Magna
lucis et umbrae (1646) (Abb. 38). Dieses Titelkupfer aus der Amsterdamer Edition
von 1671 thematisiert das komplizierte Netz aus Theologie, Optik, Erkenntnis-
theorie und Magie, wie bei der Bildpraxis in der Telepresence Art. Diese Bezie-
hung wird durch den virtuellen Rahmen visualisiert, der unter der Präsenz von
Jahve, dem Unsichtbaren und dem Unaussprechlichen, von der heiligen Autori-

19 Bolz (1993), S. 102 f; vgl. Oettermann (1980), S. 135.


20 Davis (1998), S. 305; zitiert nach Grau (2003), S. 288.

100
Erweiterung des Körpers

Abb. 38: Frontispiz von Athanasius Kirchers Ars


magna lucis et umbrae, 1646.

tät, der Vernunft, der weltlichen Autorität und dem Empfi ndungsvermögen gebil-
det wird. In diesem Rahmen stehen sich Apollo und Diana, die jeweils die Sonne
und den Schatten symbolisieren, gegenüber. Christlicher Apollo oder apollini-
scher Christus, dessen Haut „mit Symbolen der wissenschaft lichen und alche-
mistischen Annäherung an die Wirklichkeit“ 21 inkrustiert ist, befi ndet sich auf
der Wolke und wirft in die Welt den erkennenden Blick.22 Dieser Sehstrahl des
Erkennenden, der die Verbindung von Wissenschaft und Magie symbolisiert, wird
vom parabolischen Spiegel Dianas reflektiert und richtet sich auf die Welt. Oder
umgekehrt wird das Strahlenbündel des Weltlichen in sein Auge hinein reflektiert.
Im Garten ist eine Sonnenuhr zu sehen, also Messkunst durch Licht. Der andere
Strahl von Apollo richtet sich auf Platons Höhle, wo er reflektiert wird, und wird
durch ein Teleskop, also ein optisches Medium, in die sensus projiziert. Hier ist die
Interaktion zwischen dem Licht des Erkennenden, das die Welt beleuchtet, und
der menschlichen Technik, die dieses bricht und überträgt, als eine Allegorie der
technischen Vision des Jesuiten zu begreifen, der mithilfe der verschiedenen opti-
schen Medien das Wunder Gottes realisiert hat. Für Athanasius Kircher ist der
Gebrauch der optischen Medien nämlich auf die wissenschaft liche Vorführung
und den Erwerb der göttlichen Kraft bezogen.

21 Zielinski (2002), S. 158.


22 Über die theologisch verbrämte Epistemologie in diesem Bild Remmert (2005) S. 82.

101
Realität des Bildes

Abb. 39: Michelangelo, Die Bekehrung des


Paulus, Fresko in der Cappella Paolina der
Palazzi Pontifici, Vatikanstadt, 1542–1545.

In diesem Titelkupfer beteiligt sich Apollo auf der Wolke mithilfe seines Lichtes an
dem weltlichen Leben – wie der Teilnehmer in der Telepresence Art. Dieses gött-
liche Licht wird von der Heiligen Schrift so erklärt:
„Der allein Unsterblichkeit hat, der da wohnt in einem Licht, zu dem niemand
kommen kann, den kein Mensch gesehen hat noch sehen kann. Dem sei Ehre und
ewige Macht! Amen.“23
Dieses Licht, in dem Gott wohne, sei Quelle allen Lichtes und sei dem Men-
schen nicht zugänglich. Denn das sei, wie an anderer Stelle in der Bibel zu lesen ist,
von dem Wasserdunkel und den schwarzen, dicken Wolken verborgen.24 Aber das
Licht Gottes bohrt die Wolken und wirkt stark in der Welt, wie die Fernsteuerung
in der Telepresence Art. Auch Die Bekehrung des Paulus von Michelangelo (1542–
1545) (Abb. 39) visualisiert dieses Phänomen. In diesem Fresko wohnt die allgegen-
wärtige und allmächtige Macht Gottes im Lichterstrahl. Dieses Licht lässt Saulus
vom Pferd fallen, macht ihn blind und verändert seine Persönlichkeit.25
Diese Kraft des göttlichen Lichts inspirierte Athanasius Kircher zu seinem Expe-
riment. Er experimentierte mithilfe der laterna magica mit der Projektion des
Bildes (Abb.  40) und wollte damit nicht nur die erkenntnistheoretische, affek-
tive Wirkung des Lichtes, sondern auch die physikalische Veränderung, die das

23 1. Timotheus 6:16.
24 „Er macht Finsternis ringsum zu seinem Zelt; in schwarzen, dicken Wolken war er verbor-
gen.“ Psalm 18:12; vgl. über die Wolken als Medium Imorde (2004).
25 Die Apostelgeschichte berichtet diese Szene: „Als er [= Saulus] […] auf dem Wege war und in
die Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; und er fiel
auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Er
aber sprach: Herr, wer bist du? Der sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Steh auf und geh
in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst. Die Männer aber, die seine Gefährten
waren, standen sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden. Sau-
lus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen aufschlug, sah er nichts. Sie
nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus; und er konnte drei Tage
nicht sehen und aß nicht und trank nicht.“ Apostelgeschichte 9:3-9 (Anm. d. Verf.).

102
Erweiterung des Körpers

Abb. 40: Athanasius Kircher, Laterna


Magica, aus: Ars magna lucis et umbrae,
2. Auflage, Amsterdam 1671, S. 769.

Licht in der Realität verursachen kann, zeigen. In der Tat war er fasziniert von
der Geschichte des Archimedes.26 Dieser berühmte antike Physiker bewies die
physikalische Kraft des Lichtes, indem er mithilfe von Brennspiegeln die feindli-
che Flotte, die seine Heimatstadt Syrakus belagerte, in Brand gesetzt und versenkt
haben soll (Abb. 41). In dieser Anekdote optimiert das Licht Gottes mithilfe des
menschlichen optischen Apparats seine Wirkung und wirkt auf Distanz.
In diesem Zusammenhang ist die Metapher des Lichtes von Rafael Lozano-
Hemmer auch als eine Simulation zu verstehen, dass er seinerseits mithilfe der
Telematik die göttliche Kraft visualisiert hat. Das heißt: In dieser Installation wird
die Anweisung des Teilnehmers, die in Form des Lichtes visualisiert ist, ins „von
der mittelalterlichen Scholastik tradierte Paradigma Actio in distans, die Wirkung
auf Distanz“ 27 aufgenommen. Der Lichtstrahl von Lozano-Hemmer stellt mithilfe
der Technologie das übernatürliche Licht Gottes optisch dar. In der visuellen Ana-
logie zum göttlichen Lichtstrahl von Archimedes verursacht die diesseitige ein-
fache Aktion des Teilnehmers eine starke jenseitige Wirkung. In dieser Hinsicht
hat Lev Manovich behauptet, dass Telepresence in der Teleaktion bestehe.28 Ihm
zufolge ermöglicht uns Telepräsenz, mithilfe des Bilds oder Zeichens das Reprä-
sentierte zu berühren.29 Er spricht, in Anlehnung an Bruno Latour, dem reprä-
sentativen Bild eine Macht, die die Realität beeinflusst, zu und glaubt, dass der
Betreiber durch diese Repräsentation die Realität manipulieren kann.30 In die-
sem Glauben wird McLuhans Vision, etwa von der Erweiterung des Körpers in

26 Kircher (1646), S. 880–883.


27 Simmen (2002), S. 29.
28 Er stellt fest: „The essence of telepresence is that it is anti-presence. I do not have to be physi-
cally present in a location to affect reality at this location. A better term would be teleaction.
Acting over distance. In real time.“ Manovich (2001), S. 167.
29 Ibid., S. 167–168.
30 Siehe Latour (1986).

103
Realität des Bildes

Abb. 41: Athanasius Kircher, Versenken eines


Schiffes mit Hilfe einer Brennlinse, aus: Ars
magna lucis et umbrae, 1646, Iconismus XXX,
Folio 883.

der Telepresence Art mit dem Bild Gottes, der allgegenwärtig ist, überlagert und
verstärkt.
So wird die Behauptung von Jeannot Simmen, dass „der gefürchtete hor-
ror vacui“31 heutzutage durch „die ubiquitären Kommunikations-Sphären“ ver-
schwinde, gerechtfertigt. Das Vakuum steht seit der Antike und nicht zuletzt in
der scholastischen Naturphilosophie der allgegenwärtigen Macht Gottes unver-
söhnlich gegenüber. Die Entdeckung oder Erfi ndung der Nicht-Lokalität in der
heutigen Quantenmechanik versöhnt freilich die Konzeption des Vakuums und
die Theologie. Die unzähligen kleinen Vakuumräume zwischen den Elektronen
schaffen das Weltbild, das der Äther erfüllt hatte, ab,32 und die Quantenmecha-
nik zeigt in noch detaillierterer Form als die Lehre von der Gravitation oder vom
Elektromagnetismus, dass die unsichtbare Kraft überall wirkt und wirken kann.
In der Analogie zu diesem Naturphänomen rehabilitiert und verstärkt die heutige
telematische Technologie unseren Glauben sowohl durch vielfältige und stetige
Fernwirkung als auch durch die haptische Wahrnehmung. Gibt es unter den heu-
tigen Umständen, dass nämlich die nicht-lokale Wechselwirkung, die sogar mitt-
lerlos bei einer Entfernung von einem Millimeter oder von einer Million Kilome-
ter gleich wirkungsvoll ist, zu beobachten ist, überhaupt einen Grund, dass wir
die utopische Vision von der telematischen Interaktion und der Erweiterung des
Körpers nicht aufnehmen sollten? In der Telepresence Art verkörpern Wahrneh-
mung und Aktion des Betrachters mithilfe des Bildes die außerirdische Macht und
damit verbinden sich bei unserer Bildpraxis die mythische Kraft und die utopische
Vision der Elektrizität.33
So verschwindet in den Installationen von Art+Com und Lozano-Hemmer die
Distanz zwischen Mensch und Bild sowie zwischen Bild und Realität. Der Teil-
nehmer kann durch das Bild als Schnittstelle seine göttliche Kraft überall ausüben.
Für ihn ist das Bild als ein technischer Apparat oder ein Medium zu betrachten.
Das heißt: Das Bild wird zu seiner Prothese und sein Körper wird mit der Aus-

31 Simmen (2002), S. 39.


32 Söding (2002), S. 157–158.
33 Grau (2003), S. 281.

104
Bildliche Realität

stattung dieser Prothese als transzendentales Wesen wiedergeboren. Teleperzep-


tion und Teleaktion, die diese Vision konstituieren, beruhen freilich auf einem
primitiven Glauben. In der Telepresence Art dient das Bild als Schnittstelle zwi-
schen Betrachter und Welt. Das heißt: Der Betrachter kann nur sehen, was das
Bild zeigt. In dieser Installation, die in der Panoramatischen Apperzeption, die
die ästhetische Distanz abschafft, und im Referenzsystem zwischen Bild und des-
sen Objekt begründet ist, wird das Bild de facto zur Realität des Betrachters und
dessen Veränderung wird als die Veränderung der Realität aufgenommen. Um es
anders auszudrücken: In der Telepresence Art soll das Bild immer der Index der
Wirklichkeit sein. Aber wie kann man davon überzeugen, dass das Bild die Wahr-
heit spricht? Diese Frage verbindet die utopische Vision des Posthuman-Diskurses,
der im Cyborg oder in der Erweiterung des Körpers besteht, mit dem Bildglauben
in der Ära des Bildes.34 Wenn wir der Behauptung von Aby Warburg zustimmen,
dass Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt der Grundakt menschli-
cher Zivilisation sei,35 dann führt die heutige neue Technologie, die die Möglich-
keit der Distanznahme wieder zerstört,36 unsere Bildpraxis auf diese vor dem Zeit-
alter der Kunst zurück.

4.3 Bildliche Realität

Ist die Beziehung zwischen der bildlichen Repräsentation und der Wirklichkeit
in der Telepresence Art erklärbar? Und welche Wirkung übt die grundlegende
Ungewissheit, die dieser Art von Bildpraxis immanent ist, auf das Begehren des
Betrachters, der die göttliche Kraft verkörpern möchte, aus? Bei der Telepresence
Art kreuzen sich das körperliche Begehren, mithilfe der Prothese seine Beschrän-
kung zu überwinden, und die bildliche Realität, die dieses Begehren betrügt. Tele-
garden von Ken Goldberg (1995) (Abb. 42) thematisiert die kritische Theorie der
Telerobotik, die er als „tele-epistemology: the study of knowledge acquired at a dis-
tance“ bezeichnet.37 Goldberg installiert einen Miniaturgarten im Ars Electronica
Museum in Österreich und macht diesen den entfernten Teilnehmern zugänglich.
Die Teilnehmer im Web pflegen als Gärtner diesen Garten, indem sie mithilfe
eines Roboterarms säen und gießen. In diesem eingeschränkten Garten, in dem
die unzähligen anonymen Teilnehmer ohne Kommunikation miteinander tätig
sind, ist freilich das Präsenzgefühl oder die Konnektivität mit dem Teleroboter im
Prinzip nicht vorausgesetzt. Dieser Miniaturgarten überträgt mithilfe der Kamera,
mit der der Roboterarm ausgestattet ist, nur das statische Bild, falls eine Verän-
derung geschehen ist. Das heißt: Unter den Umständen, dass das sinnliche Feed-

34 Vgl. Belting (1990).


35 Warburg (2000), S. 3.
36 Assendorf (2002), S. 55.
37 Goldberg (2000), S. 3 (kursive Hervorhebung im Original).

105
Realität des Bildes

Abb. 42: Ken Goldberg, The Telegarden, 1995,


Courtesy of Ken Goldberg.

back und die räumliche Konnektivität ungewiss sind, ist es dem Teilnehmer nicht
erlaubt, das Ergebnis oder die Wirkung seiner Aktion zu bestätigen. Der Garten
existiert zwar und die Aktion des Teilnehmers übt Einfluss auf diesen aus, aber er
kann die Wirkung seiner Aktion nicht wahrnehmen. Das Bild ist in dieser Instal-
lation die einzige Schnittstelle, die Teilnehmer und Garten verbindet oder trennt.
Es betrügt aber den Teilnehmer. Denn es repräsentiert zwar die Wirklichkeit, aber
dessen Mechanismus weicht von der Erwartung des Teilnehmers ab. Wenn dieses