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Prof. Dr. Wolfgang Kersting


Philosophisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
WS 2008/2009
Vorlesung: Einführung in die Wirtschaftsethik

Über Sozialstaat und Gerechtigkeit (4.2.09)

1.
Die beiden bekanntesten sozialstaatskritischen Argumente stammen von Friedrich August von
Hayek. Das eine besagt, daß eine normative Sozialstaatsbegründung scheitern müsse, da das
hier zuständige Legitimationskonzept, der Begriff der sozialen oder distributiven Gerechtigkeit
bedeutungsleer, eine semantische Luftspiegelung sei, bestens geeignet daher für die
ideologische Absicht, dem staatssozialistischen Programm die Weihen menschenrechtlicher
Folgerichtigkeit zu verleihen. Der Begriff der Gerechtigkeit sei ausschließlich auf Handlungen
anwendbar, auf das also, was in der Verantwortung der Individuen liegt. Die Grenzen einer
sinnvollen Verwendung des Gerechtigkeitsbegriff fallen mit den Grenzen des sinnvollerweise
Intendierbaren zusammen. Damit scheiden gesellschaftliche Gesamtzustände,
Verteilungsprofile als Anwendungsgebiete des Gerechtigkeitsbegriffs aus. Den Gesamtzustände
und Verteilungszustände sind nicht planbar; sie sind das unintendierte und unintendierbare
Resultat unzähliger sich vernetzender Tauschhandlungen und Interaktionen.

Das zweite Argument bietet hiervon eine Variante. Die Entwicklung und Gestaltung komplexer
Systeme ist nicht steuerbar; komplexe Systeme - wie Markt und Demokratie es sind - müssen
sich selbst überlassen bleiben; die politische Steuerung muß sich mit der Etablierung einer
Verfassung begnügen, die durch geeignete Koordinationsregeln und Prozeßnormen für
öffentliche Entscheidungen die inneren Reibungsverluste dieser Systeme möglichst gering zu
halten versucht. Die selbstgesetzliche Entwicklungsdynamik dieser Systeme jedoch in eine
Richtung zu zwingen, ihre Evolution ethisch zu kontrollieren, ihre Entwicklungsoffenheit
teleokratisch zu schließen, führt notwendigerweise zu einem Kollaps des Gesamtsystems.
Wenn hochinterdepente Handlungszusammenhänge einem teleokratischen Regiment
unterworfen werden, wird die systemeigene Leistungsfähigkeit zerstört, werden auch die
normativen freiheitsrechtlichen Grundlagen von Markt und Demokratie unterhöhlt.
Teleokratische Orientierungen in der Politik sind das Produkt einer planerischen Hybris, die
sich über alle epistemologische Defizienz des Menschen hinwegsetzt und Effizienz und Moral
gleichermaßen vernichtet.

Es ist nicht sonderlich schwierig, auf diese Einwände zu antworten. Es ist weder historisch
noch systematisch richtig, daß das Prädikat der Gerechtigkeit ausschließlich auf Handlungen
anwendbar ist; im Gegenteil, in Platons Politeia, dem ersten gerechtigkeitsphilosophischen
Text in der Geschichte der Philosophie, wird Gerechtigkeit ausdrücklich als Systemprädikat
2
eingeführt. Und seitdem hat bis auf Hayek niemand Anstand daran genommen,
gesellschaftliche, also menschengemachte Ordnungen beliebiger Größe und Art
gerechtigkeitsethisch zu bewerten. Richtig ist durchaus, daß es eine enge Verbindung zwischen
der sinnvollen Verwendung des Gerechtigkeitsprädikats und dem Bereich menschlicher – sei es
individuell-privater, sei es kollektiv-politischer – Verantwortung gibt. Richtig ist weiterhin, daß
dem menschlichen Handeln epistemologische Grenzen gezogen sind, daß es vermessen ist,
endzustandsorientiert zu planen, daß die Auswirkungen teleokratischer Zukunftsbestimmung
auf komplexe Systeme unvorhersehbar sind, daß sich das Gestalten von Systemen daher auf die
Rahmenbedingung des individuellen Handelns beschränken sollte. Daher wäre in der Tat ein
Gerechtigkeitskonzept als unvernünftig abzulehnen, daß den Anspruch erheben würde,
Kriterien für die moralische Vermessung von Gesamtverteilungszuständen zu entwickeln und
damit Orientierung für die Gestaltung einer moralisch beanstandungslosen Verteilung zu geben.
Aber wo steht geschrieben, daß Gerechtigkeitspolitik endzustandsorientiert sein muß, daß
Sozialpolitik teleologisch ausgerichtet zu sein hat? Wird die Gerechtigkeitspolitik von dieser –
in der Tat unerträglichen – Last der teleokratischen Engführung, der vollständigen Verlaufs-
und Ergebnisplanung befreit, dann kann sie sich auf den Bereich der Rahmenbedingungen
individuellen Handelns konzentrieren. Dieser steht der politischen Gestaltung offen; hier ist der
genuine Bereich der politischen Verantwortung. Und hier findet auch die soziale oder
distributive Gerechtigkeit ihren Ort. Nur dann verfängt die Hayeksche Polemik, wenn man
soziale Gerechtigkeit als Prädikat zur Bewertung von Endzuständen naturwüchsig sich
entwickelnder komplexer Tausch- und Interaktionssysteme versteht. Aber niemand ist darauf
festgelegt, den Gerechtigkeitsbegriff so zu verstehen.

2.

Hayeks Argument fällt sofort in sich zusammen, wenn wir die Betrachtungsrichtung umkehren,
uns von den Verteilungsergebnissen des Marktes abwenden und uns den
Marktzugangsbedingungen, der Achillesferse aller Marktradikalen, zuwenden. Wenn wir
staatliche Interventionen zur Korrektur der Verteilungsergebnisse ablehnen, so müssen wir
nicht zugleich auch staatliche Interventionen zum Zwecke der Gestaltung der
Marktzugangsbedingungen ablehnen. Und wenn es in der Tat unsinnig ist, einen
sozialgerechten Zustand dadurch zu definieren, daß er zu jedem Zeitpunkt einer gerechte
Verteilung hervorbringt, so ist es doch keineswegs unsinnig, eine staatliche Ordnung dann als
sozialgerecht zu bezeichnen, wenn sie durch die Bereitstellung von geeigneten Einrichtungen
und Maßnahmen dafür sorgt, daß die Unterschiedlichkeit der Marktzugangsvoraussetzungen
der einzelnen Individuen ausgeglichen, zumindest signifikant minimiert wird.

Die geschichtliche Entwicklung des politischen Bewußtseins in unserem Kulturbereich ist


charakterisiert durch ein wachsendes Verständnis der Wichtigkeit institutioneller
Lebensvoraussetzungen. Der Anspruch an die konstitutionellen Rahmenbedingungen
individueller Lebensplanung ist in der individualistischen Moderne darum stetig gestiegen: vom
Sicherheitsstaat über den Rechts- und Verfassungsstaat zum Sozialstaat ging der Weg. Hinter
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dieser Ausweitung steht die Einsicht, daß selbstbestimmte und eigenverantwortliche
Lebensgestaltung, daß die Wahrnehmung des Freiheitsrechts an materielle Voraussetzungen
gebunden ist. Nicht nur die Diktatur kann das Freiheitsrecht zur Makulatur machen. Auch im
Zustand der ökonomischen Mittellosigkeit verliert das Freiheitsrecht seinen Wert. Damit wird
aber aus der Grammatik unserer ethisch-politischen Selbstverständigung das
menschenrechtliche Herzstück herausgebrochen. Selbstverfügung, Selbstbestimmung, ein
Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen verlangt mehr als Existenzgarantie, als die
Sicherung der Möglichkeit, am Leben zu bleiben. Selbstbestimmung verlangt den Besitz
materieller Ressourcen, verlangt Optionen und Alternativen. Ein Leben, das nur den Geleisen
der Not und Mittellosigkeit folgt, findet ohne Eigenbeteiligung statt. Hinreichender
Ressourcenbesitz besitzt offenkundig den Rang einer freiheitsermöglichenden Bedingung,
hinreichender Ressourcenbesitz ist Voraussetzung von Recht, personaler Würde und
bürgerlicher Existenz. Zumindest dann gilt dieser Ermöglichungszusammenhang zwischen dem
immateriellen Zentralgut des Rechts und einem materiellen Zentralgut hinreichenden
Ressourcenbesitzes, wenn wir das Recht nicht nur im Lichte des status negativus, als
Abwehrrecht betrachten, sondern uns auf die in den normativ-individualistischen Begriff der
Menschenrechtsordnung eingelassene normative Leitvorstellung einer eigenverantwortlichen,
zur selbstbestimmten Lebensführung fähigen Person beziehen. Angesichts dieser operationalen
Abhängigkeit des Freiheitsrechts von hinreichendem materiellen Güterbesitz muß eine
menschenrechtsbegründete und darum gerechte Ordnung auch Vorkehrungen gegen
Mittellosigkeit treffen und eine zumindest basale Versorgung mit einem Ersatzeinkommen im
Falle wie auch immer verursachter Erwerbsunfähigkeit sicherstellen. Die menschenrechtliche
Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit treibt offenkundig aus sich selbst eine freiheitsrechtliche
Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit hervor. Denn menschenrechtlich verbürgte Freiheit ist
immer von zwei Voraussetzungen abhängig: nicht nur von dauerhafter, verläßlicher
Gewaltabwesenheit, sondern eben auch von hinreichendem Mittelbesitz. Und da die Erfüllung
beider Voraussetzungen von einander kausal unabhängig ist, muß die Institutionalisierung des
menschenrechtlichen Egalitarismus, muß die Gerechtigkeit auch für die Erfüllung beider
Voraussetzungen gesondert Sorge tragen. Daher muß die staatliche Gerechtigkeitsordnung auch
durch Umverteilung Mittel bereitstellen, um den Mittellosen und Selbstversorgungsunfähigen
die erforderlichen Ressourcen für ein an der Gesellschaft teilhabendes Leben zu verschaffen.

3.

Um das Tätigkeitsprofil dieses freiheitsrechtlich begründeten Sozialstaats genauer zu


bestimmen, bediene ich mich des Begriffs der transzendentalen Güter. Transzendentale Güter
erweisen sich aus der Perspektive des menschlichen Individuums als grundlegende
Lebensvoraussetzungen. Dazu zählen: zuallererst das Gut aller Güter, das Leben selbst; sodann,
mit abnehmender Dringlichkeit, die Güter: körperliche Unversehrtheit, Sicherheit, Gesundheit,
daseinssichernde Grundversorgung mit Lebensmitteln, Wohnung und Kleidung,
Handlungsfähigkeit, gesellschaftliche Teilhabe usf. Von Gütern dieser Art gilt allgemein, daß
sie nicht alles sind, alles aber ohne sie nichts ist. Ihr gesicherter Besitz ist für die Menschen
4
notwendig, damit sie ihre unterschiedlichen Lebensprojekte überhaupt mit einer Aussicht auf
Minimalerfolg angehen, verfolgen und ausbauen können. Diese Güter werden nicht um ihrer
selbst willen angestrebt, sondern nur als unerläßliche Ermöglichungsbedingungen für ein
gelingendes, sich in Nebensächlichkeiten zerstreuendes Leben. Güter dieser Art stellen also
universelle Präferenzen dar; ein jeder hat diese Präferenzen, denn sie müssen erfüllt sein, damit
er ein Leben im Horizont seiner individuellen Präferenzen führen kann. In Zeiten der
Normalität bleiben diese Grundgüter unauffällig; denn dann sind wir uns ihres Besitzes sicher
und vergessen in der Routine des ruhigen Lebensalltags ihren Wert. Wenn sie uns jedoch knapp
werden und wir darum in existentielle Grenzsituationen und Notlagen geraten, bilden sie den
einzigen Inhalt unserer Sorge; alle anderen Interessen verblassen dann, der Erwerb und
Wiedererwerb der transzendentalen Güter wird dann zum ausschließlichen Ziel unseres
Handelns.

Es ist ersichtlich, daß wir mit diesen transzendentalen Gütern ein vorzügliches Mittel an der
Hand, um die Gerechtigkeit von Gesellschaften zu untersuchen: eine Gesellschaft, die keine
egalitaristische Grundversorgung an transzendentalen Gütern ermöglicht, verdient sicherlich
nicht das Prädikat einer gerechten und wohlgeordneten Gesellschaft. Denn die
menschenrechtliche Gleichheit impliziert den gleichen Anspruch eines jeden Individuums auf
gleiche Versorgung mit diesen transzendentalen Gütern. Eine gleiche Versorgung mit diesen
Gütern ist aber nur dann möglich, wenn diese Güter nicht ausschließlich der Verteilungsräson
des Marktes überlassen werden. Denn der Markt verteilt diese universell begehrten Güter nach
Maßgabe der individuellen Finanzkraft. Folglich muß die Produktion und Distribution dieser
Güter dem Markt ganz oder teilweise entzogen und der Allgemeinheit überantwortet werden.
Zumindest aber muß der Staat dann in die Bresche springen, wenn individuelle Bedarfslagen
entstehen, die durch eigene Kraft nicht befriedigt werden können. Ob der Staat also
ausschließlich oder in Zusammenarbeit mit dem Markt diese generell begehrten Lebenschancen
bereitstellt, hängt von der Art des Gutes ab. Immer aber bleibt er die Instanz, die
letztverantwortlich für die Gleichversorgung aufzukommen hat.

4.

Aber ist das eine erschöpfende Beschreibung staatlicher Gerechtigkeit? Muß die durch den
Staat ins Werk zu setzende Gerechtigkeit nicht über eine gleiche und unparteiliche Versorgung
der Bürger mit allseits begehrten immateriellen und materiellen Lebensvoraussetzungen
hinausreichen?

Menschen sind endlich, und das heißt: das Gelingen menschlichen Lebens ist abhängig von
Voraussetzungen. Zu diesen Voraussetzungen zählen aber nicht nur die strukturellen und
institutionellen Gegebenheiten unseres kulturellen und politischen Lebenszusammenhangs, zu
ihnen zählen auch die Eigenschaften, die die Menschen an sich und in sich vorfinden. Diese
sind teils genetisch formiert, teils Auswirkungen von sozialer Herkunft und Erziehung.
Ersichtlich wird der Markt–, Sozial– und Lebenserfolg der Individuen wesentlich durch die
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Qualität ihrer Ressourcenausstattung bestimmt. Diese aber ist höchst unterschiedlich. Der eine
hat bei der Lotterie der Natur das große Los gezogen und ist bei der Verteilung der natürlichen
Fähigkeiten mit Talent, Begabung und Durchsetzungskraft überreich ausgestattet worden, der
andere hat hingegen nur eine Niete erwischt und muß sich sein ganzes Leben lang mit einer
überaus ärmlichen Fähigkeitenausstattung abmühen. Und nicht nur das natürliche Schicksal
verteilt die Startbedingungen ungleich; auch das Sozialschicksal ist zu den Menschen nicht fair.
Der eine findet in seiner Familie die beste Ausgangssituation vor; einer behüteten Kindheit
folgt eine erfolgreiche Karriere. Der andere ist zeitlebens von den Narben der sozialen
Verwahrlosung gezeichnet und kommt keinen Schritt voran. Man wird aber nun nicht sagen
können, daß der genetisch oder sozial Benachteiligte seine Benachteiligung verdient hätte;
ebensowenig, daß der genetisch oder sozial Bevorzugte seine Bevorzugung verdient hätte. Man
wird vielmehr sagen müssen, daß das eine so unverdient ist wie das andere. Man wird sagen
müssen, daß bei den Verteilungsentscheidungen des Natur- und Sozialschicksals blinder Zufall
gewaltet hat.

Wenn aber die Voraussetzungen der Arbeits– und Lebenskarriere unverdient sind, sind auch die
Erträge, die auf dem Markt durch Einsatz dieser genetisch–sozialen Basisressourcen
erwirtschaftet werden, unverdient. Eine um eine gerechte Verteilung der kooperativ erarbeiteten
Erträge bemühte Gesellschaft, so könnte man meinen, darf sich nicht dem Diktat der Natur und
des Zufalls unterwerfen. Aufgabe eines gesellschaftlichen Verteilungssystem würde es darum
sein, die natürliche Verteilungswillkür hinsichtlich der Begabungen, Talente und Fähigkeiten
als auch die Zufälligkeit der sozialen Startpositionen auf der Grundlage wohlbegründeter
Gerechtigkeitsregeln zu korrigieren. Und das heißt: durch entsprechende Umverteilung die
Benachteiligten zu entschädigen. Der Sozialstaat würde sich dann als eine Art
Schicksalskorrektur, als gerechtigkeitsethische Zweitschöpfung verstehen, der die blinden
Verteilungen des Zufalls revidiert.

Sicherlich ist eine ungleiche Versorgung mit transzendentalen Gütern, mit allgemein begehrten
und allgemein notwendigen materiellen und immateriellen Voraussetzungen individueller
Lebensführung ein Gerechtigkeitsskandal. Aber selbst wenn durch entsprechendes
sozialstaatliches Engagement eine Situation gleicher Grundgüterversorgung geschaffen ist,
bleibt doch die Ungleichheit bestehen, die durch die Unterschiedlichkeit der genetischen
Ausstattung und der Sozialisationssituation verursacht sind. Sind Natur und Familie ein
Gerechtigkeitsrisiko, auf das sozialstaatlich reagiert werden muß? Muß der Sozialstaat dafür
sorgen, daß die sei es von Natur aus, sei es aufgrund der Familiensituation, sei es gar aufgrund
einer konzertierten Aktion beider bevorzugt sind und daher über bessere Voraussetzungen für
ihren Weg ins Leben verfügen als andere, dazu gezwungen werden müssen, die weniger
Schicksalsbegünstigten zu entschädigen? Denn schließlich haben sie sich ihre bessere
Ressourcenausstattung nicht hart erarbeitet, sie ist ihnen vielmehr unverdientermaßen
zugefallen. Ebensowenig haben die anderen sich etwas zu schulden kommen lassen, so daß es
erlaubt wäre, ihre schlechteren genetisch-sozialen Startbedingungen als verdiente Strafe
anzusehen.
6

5.

Wir haben es hier mit zwei unterschiedlichen Lesarten von Chancengerechtigkeit zu tun, mit
einer Gerechtigkeit der flachen Chancengleichheit und einer Gerechtigkeit der tiefen
Chancengleichheit. Während die flache Chancengerechtigkeit sich um die Etablierung eines
egalitären Systems der institutionellen Rahmenbedingungen individueller Lebensführung
bemüht, geht es der tiefen Chancengerechtigkeit um einen Ausgleich der sozio-ökonomischen
Auswirkungen der unterschiedlichen genetisch-sozialen Ressourcenausstattung der Individuen.
Sozialstaatspolitik wird in diesem letzten Fall zu einer Politik des individuellen
Schicksalsausgleichs. Das hat aber bedenkliche Konsequenzen. Dem Anwalt tiefer
Chancengerechtigkeit muß jedes technische Mittel recht, die Zivilisation der Gleichheit
voranzutreiben. Daher wird er zu einem Alliierten der Biopolitik werden müssen. Denn in dem
Maße, in dem die Kapazitätslandkarte unserer Gene unter die Kontrolle einer manipulativen
Technik gerät, in dem Maße mehren sich die Aussichten, die Herrschaft des genetischen Zufalls
zu beenden, in dem Maße können Ausgleichsprogramme ins Auge gefaßt werden, um den
gerechtigkeitsprekären Unterschied zwischen den genetisch Vermögenden und den genetischen
Habenichtsen zu egalisieren.

Zur Erläuterung möchte ich einen Blick auf das Ressourcengleichheitsprinzip werfen, das der
amerikanische Rechtsphilosoph in die Diskussion eingeführt hat. Es besagt: Es gibt unverdiente
und daher kompensationspflichtige Ungleichheiten; und es gibt verdiente und daher
kompensationsunbedürftige Ungleichheiten. Unverdiente und daher kompensationspflichte
Ungleichheiten werden durch Begabungsunterschiede verursacht; verdiente und
kompensationsunbedürfte Ungleichheiten hingegen verdanken sich unterschiedlicher
Anstrengung. Ein gerechtes Verteilungsmuster muß diesem Unterschied gerecht werden, muß
"endowment-insensitive" und "ambition-sensitive" sein, muß die Leistung sich ungehindert
entfalten lassen und alle damit verbundenen Ungleichheitsfolgen tolerieren, jedoch die
Begabungsunterschiede durch geeigneten Kompensationen und Handicaps neutralisieren. 1
Diese Doppelforderung nach einem zugleich 'begabungs-unempfindlichen' und 'leistungs-
empfindlichen' Verteilungsmuster ist offenkundig der gerechtigkeitstheoretische Ausdruck des
menschlichen Schicksals, selbstbestimmt handeln zu können, aber dabei immer unter
vorgegebenen Bedingungen handeln zu müssen. Ihr nachzukommen setzt eine diffizile
diskriminatorische Ätiologie voraus, mit der wir das komplexe Kausalitätsgeflecht unseres
Lebens entwirren und die einzelnen Ursachenstränge identifizieren können, um zuverlässig
herauszufinden, „which aspects of any person’s economic position flow from his choices and
which from advantages and disadvantages that were not matters of choice“. 2 Allerdings
verfügen wir nicht über solche kausalanalytische Kompetenz. In der Theorie läßt sich der

1
Vgl. Ronald Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge, Mass.: Harvard
University Press 2002.
2
Ronald Dworkin, A Matter of Principle, Cambridge, Mass.: Havard University Press 1985, S. 208.
7
energetisch-produktive Kern der Subjektivität mühelose von den Einflüssen der natürlichen
Umstände trennen, in der Wirklichkeit jedoch kommt man mit diesem simplen
subjektivitätsmetaphysischen Dualismus nicht weit. Bei der Ermittlung der für den
individuellen Lebensverlauf verantwortlichen Faktoren stoßen wir auf eine zwar typologisch zu
ordnende, empirisch jedoch unentwirrbare Gemengelage von Ursachen. Die Trennbarkeit von
reiner Leistungssubjektivität und vorfindlichen genetischen und sozialen Umständen ist
illusionär. Kein individuelles Entscheidungsprogramm, keine subjektive Präferenzordnung,
keine persönliche Ethik des guten Lebens, die nicht auch in den vorgegebenen Mustern der
natürlichen Umstände wurzeln, die jeder Mensch in Gestalt seiner genetischen und körperlichen
Verfassung an und in sich selbst vorfindet. Selbst Stimmungsprofile, optimistische
Einstellungen, Durchsetzungsvermögen und das Ausmaß an Risikobereitschaft, alles
Leistungsfermente, sind auf natürliche Verteilungen zurückzuführen: die Auswirkungen der
Lotterie der Natur bestimmen das gesamte Entscheidungsarsenal und Verhaltensrepertoire der
Individuen. Eine trennscharfe Sortierung der illegitimen und legitimen Ungleichheitsursachen
ist damit ebenso unmöglich wie eine genaue Bestimmung des Redistributionsausmaßes.

Der folgende Einwand wiegt aber noch viel schwerer. Die Egalitaristen wollen, daß die
Leistung ihren Lohn empfängt- darin zeigt sich ihr liberales Erbe. Sie wollen aber auch die
gerechtigkeitstheoretische Neutralisierung aller vorgegebenen Ungleichheiten, die die Subjekte
in ihrer unterschiedlichen Natur, in ihren unterschiedlichen sozialen Startpositionen und auch
noch während des Verlaufs der Lebenskarrieren vorfinden. Daher müssen sie auf die illusionäre
Idee verfallen, einen selbstverantwortlichen abstrakten Persönlichkeitskern aus der Hülle seiner
natürlichen und sozialen Vorgegebenheiten herauszuschälen. Alles das, was in dem starken
Sinne kontingent ist, daß es auch in anderer Form um uns und in uns vorgefunden werden
könnte, wird damit der politisch-egalitären Bewirtschaftung unterstellt, wird zum Gegenstand
steuerpolitischer Abschöpfung oder kompensatorischer Zuwendung. Aber wir sperren uns
dagegen, daß unsere Begabungen und Fertigkeiten uns nicht zugesprochen werden, und
betrachten es als eine Form von Enteignung, wenn sie lediglich als von uns nur treuhänderisch
verwaltete Gemeinschaftsressourcen angesehen werden, deren Ertrag gänzlich zur
gerechtigkeitsstaatlichen Verteilungsdisposition steht. All das, was die Theorie der
Verteilungsgerechtigkeit als natürlich und sozial Zufälliges, Willkürliches und Kontingentes
der gerechtigkeitspolitischen Egalisierung überantwortet, das macht uns aus, das prägt unseren
Charakter, unsere Persönlichkeit, unsere Identität, all das sind wir. Ich kann doch nicht darum
einen Anspruch auf staatliche Transferleistungen erheben, weil ich ich bin, und kein Anderer,
Erfolgreicherer, mit besseren natürlichen und sozialen Startvoraussetzungen Ausgestatteter.

Aber genau das meinen die Egalitaristen; genau darin sehen sie die Aufgabe der Gerechtigkeit:
die Verteilungsentscheidungen des Zufalls, des Glücks zu korrigieren, die
Verteilungsergebnisse der genetischen Lotterie zu rektifizieren, die Natur zu berichtigen: "The
concern of distributive justice is to compensate individuals for misfortune. Some people are
blessed with good luck, some are cursed with bad luck, and it is the responsibility of society -
all of us regarded collectively - to alter the distribution of goods and evils that arises from the
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jumble of lotteries that constitutes human life as we know it ... Distributive justice stipulates
that the lucky should transfer some or all of their gains due to luck to the unlucky". 3

Welch merkwürdige Blüten dieser Versuch, den kompensationspflichtigen Anteil günstiger


Umstände von den kompensationsfreien Auswirkungen der eigenen Leistung zu unterscheiden,
treiben kann, zeigt die von Roemer mitgeteilte Diskussion zwischen ihm und Brian Barry über
die Frage, ob bei einem " type of child whom we shall call "Asian"", der sich durch großen
schulischen Fleiß und großen karrierepolitischen Erfolg auszeichnet, der aber auch aufgrund
des Ehrgeizes der Eltern unter starkem Leistungsdruck gestellt worden ist und infolge der
autoritätsfixierten asiatischen Lebensweise die ihm auferlegten Leistungspflichten sich zu eigen
macht, das "Asian" zu den redistributiv zu bewirtschaftenden Umständen gehört oder nicht.
"The issue, then, is whether to include "Asian" as an element of circumstance. If we do not,
then the fact that Asian children work harder in school will be attributed to their autonomous
effort rather than to a cultural circumstance, and they will be more rewarded than they would be
if we factor out the effect of familial pressure on their behaviour". 4 Während Barry den
asiatischen Kindern den Lohn für ihre Mühe belassen möchte, unterwirft sie der Advokat einer
radikalen equal-opportunity-policy Roemer einer entsprechenden Besteuerung, da die nicht-
asiatischen Kinder nicht die Chance hatten, in einem derart leistungsfreundlichen und
karrierepolitisch ertragreichen Milieu aufzuwachsen und arbeiten zu lernen, und dafür zu
entschädigen sind. Denn es geht darum, "to level the playing field among individuals who
compete for positions", um die Ungleichheitsfolgen auf zurechenbare Ursachen zu reduzieren
und die Ungleichheitsauswirkungen der Umstände auszugleichen. Die Implikation ist
entlarvend: Eine Theorie, die zu dem Ergebnis kommen kann, daß das Asiatisch-Sein aus
gerechtigkeitsethischen Gründen steuerpflichtig ist, kann wohl nicht richtig sein.

Wie weit mag der Egalitarismus der Lebenserfolgsressource, die wir selbst sind, gehen?
Schönheit, zumal in einer so äußerlichkeitskultischen Gesellschaft wie der unsrigen, ist eine
soziale Macht. Muß nicht angesichts der überaus kläglichen Ergebnisse der natürlichen
Ästhetiklotterie einerseits und der unleugbaren Startvorteile der Schönen andererseits der
Egalitarist revoltieren? Eine Schönheitssteuer einführen oder freie Kosmetik oder freies
Hanteltraining für alle einschlägig Bedürftigen? 1960 hat L.P.Hartley in London ein Buch mit
dem schönen Titel Facial Justice veröffentlicht. Es berichtet von dem Gerechtigkeitsskandal
der Schönheit, von dem unverdienten guten Aussehen, dem Wettbewerbsvorteil der angenehm
geschnittenen Zügen, von der benachteiligenden Häßlichkeit und der marginalisierenden
Unansehnlichkeit. Und es berichtet von der "Antlitz-Gleichmachungs-Behörde" und ihrem
Egalisierungsprogramm, das durch die Entwicklung einer risikolosen und unaufwendigen
Gesichtschirurgie ermöglicht wurde und erlaubte, die blinde natürliche Verteilung ästhetischer
Eigenschaften durch Gesichtsplastiken der ausgleichenden Gerechtigkeit zu überformen, so daß

3
Zit. nach Elizabeth Anderson, "What is the Point of Equality", Ethics 109, 1999, S. 298f
4
John E. Roemer, Equality of Opportunity, Cambridge, Mass.: Havard University Press, S. 22
9
nur noch ästhetische Durchschnittlichkeitsvarianten existierten und die körperliche
Individualität sich auf eine karrierepolitisch neutrale Mediokritätsvariation beschränkte.

Es ist ersichtlich, daß durch die Ausdehnung des Prinzips der Chancengleichheit und
Chancengerechtigkeit auf den Bereich der natürlichen und sozialen Prägung der Sozialstaat sich
in eine totalitäre Bürokratie verwandeln muß. Das rechtsstaatliche Grundprinzip: die legitime
Zuständigkeit staatlichen Eingriffshandelns endet an der Haut der Menschen, hat mutatis
mutandis auch für den Sozialstaats Gültigkeit. Die genetische und soziale Konditionierung
menschlichen Lebens ist kein legitimer Gegenstand sozialstaatlichen Ausgleichhandelns. Wir
sind Personen, die ein selbstverantwortliches Leben zu führen das Recht haben; und der Staat
ist als Institution der Institutionen mit der Aufgabe betraut, ein System der institutionellen
Sicherung der Chancengleichheit zu etablieren. Wir sind jedoch keine Lebenserfolgsressourcen,
die durch Sozialstaatshandeln egalisiert werden müssen. Entsprechend ist auch die Ungleichheit
als gerechtigkeitsethisch unbedenklich zu akzeptieren, die im Rahmen eines Systems der
Chancengleichheit durch die unterschiedlichen genetischen und sozialen Prägungen produziert
wird.

Erst dann ist der Sozialstaat aus Gerechtigkeitsgründen zum Handeln aufgerufen, wenn auf der
einen Seite die Vermutung empirisch plausibel ist, daß sich die Sozialisationsstandards in
Familien eines bestimmten sozialen Typus auf die Lebenschancen der Kinder nachteilig
auswirken könnten, und auf der anderen Seite es technisch möglich ist, durch geeignete
Institutionen diesen negativen Selektionseffekt zu kompensieren und damit die
Autonomiechancen der Kinder zu verbessern. Ein gutes Beispiel für solch eine
emanzipatorische Gerechtigkeitspolitik ist die Reform der Ausbildungssysteme in den sechziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts Sie zielte darauf, die familienbedingte Chancenungleichheit
auf dem Gebiet der Ausbildung und schulischen Erziehung zu korrigieren und den Verlauf der
Lebenskarrieren weitgehend von den Familienprägungen unabhängig zu machen, die von
externen Interessen regiert wurden und sich weder an den Wünschen und Träumen der Kinder
noch an ihren vorhandenen Begabungspotentialen orientierten. Diese kompensatorische
Pädagogik verstand sich als eine Art Befreiungsarmee, die das Begabungspotential der Kinder
aus der klassengesellschaftlichen Unterdrückung befreien wollte. Und sie zeigte eine
beachtliche Konsequenz; sie begnügte sich nicht mit der Errichtung offener
Bildungsinstitutionen, sondern marschierte in die Familien selbst ein, verlegte deren
Orientierungsentscheidung für die Ausbildungskarrieren der Kinder von der Familie nach
außen, in den gesellschaftlich neutralen Raum und erschuf Orientierungsstufen und
Gesamtschulen. Daß diese autonomieförderlichen Sozialinvestitionen im Laufe der Zeit immer
spärlicher wurden, weil aufgrund er Finanzierungskrise des Sozialstaats die gesetzlich
festgezurrten konsumtiven Ausgaben den Etat auffraßen und für sozialinvestive Aufgaben
keine Mittel mehr übrig ließen, spricht nicht gegen die Legitimität eines sozialinvestitiven
Sozialstaats, sondern belegt nur die durch falsche Priorisierungen erzeugte innere finanzielle
und ethische Unausgewogenheit der gegenwärtigen Verfassung unserer sozialstaatlichen
Systeme.
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Es liegt auf der Hand, daß ein Sozialstaat der Chancengerechtigkeit in hohem Maße ein
Sozialstaat der Sozialinvestitionen ist. Ist es die legitimationsentscheidende Aufgabe des
Staates, für die Voraussetzungen einer selbstbestimmten Lebensführung seiner Bürger zu
sorgen, dann darf er sich nicht mit Umverteilung begnügen. Der freiheitsrechtliche Sozialstaat
ist um die Ermöglichung der Wahrnehmung des Freiheitsrechts, ist um die Ermöglichung
selbstbestimmter Lebensführung bemüht. Sein Hauptziel ist die Minimierung von
Autonomierisiken, nicht die Erträglichmachung der Folgen manifesten Autonomieverlustes.
Daher ist der freiheitsrechtliche Sozialstaat nicht auf das Versicherungsprinzip zu reduzieren,
das ihn in komfortabler Nachträglichkeit verharren und auf den Versicherungsfall warten läßt.
Daher zeigt sich seine Leistungsstärke auch nicht an dem Niveau der Versorgung, mit der die
Ertragseinbußen eingetretener Unselbständigkeit kompensiert werden, sondern an dem Ausmaß
seiner autonomiepolitischer Kreativität, seiner institutioneller Phantasie. Aus
freiheitsrechtlicher Perspektive ist der Sozialstaat vordringlich ein Ermöglicher, der Vorsorge
für die Freiheit trifft, kein Reparaturunternehmen, das Benachteiligungsschäden flickt.

6.

Arbeitslosigkeit ist aus der Perspektive der Chancengleichheit ein besonders gravierendes
Gerechtigkeitsproblem. Gerade wenn wir bürgerliche Solidarität verstehen als kollektive
Ermöglichung gleicher Chancen für eine selbstbestimmte Lebensführung, wenn wir den
Sozialstaat nicht als konzeptlose Umverteilungsmaschinerie betrachten, sondern als ein
sozialinvestives Unternehmen, das die Rahmenbedingungen für einen egalitären Zugang zu den
Bedingungen eines Lebens mit Eigenbeteiligung sichert, muß eine Arbeitslosigkeitsquote, die
jeden zehnten, in manchen Gegenden unseres Landen gar jeden fünften Bewerber den Zutritt
zum Arbeitsmarkt verwehrt, gerechtigkeitsethisch als besonders schmerzlich betrachtet werden.
Arbeitslosigkeit ist ein vielfältiges Übel. Trivialerweise ist mit dem Verlust der Arbeit auch der
Verlust an persönlichem Einkommen verbunden. Aber Einkommenslosigkeit ist nur eine
Arbeitslosigkeitsfolge unter anderen, etwa dem Makel der Unselbständigkeit und Abhängigkeit;
oder der sozialen Depravierung; der zeitdehnenden Unbeschäftigtheit, dem Verlust des Korsetts
aus Pflichten und Routinen und der damit verknüpften Entstrukturierung des Lebens, dem
Wegfall aller zeit- und alltagspolitisch heilsamen Zäsuren, der Zäsuren zwischen Arbeit und
Pause etwa, zwischen Arbeitszeit und Freizeit, Arbeitstag und Feiertag, Arbeit und Urlaub.
Weiterhin bedeutet Arbeitslosigkeit wachsender Selbstzweifel, überdies den Verlust des
vertrauten sozialen Milieus, das Zerreißen bewährter Kommunikationsbeziehungen und den
Schwund sozialen Urvertrauens. Arbeitslosigkeit, insbesondere dauerhafte Arbeitslosigkeit
führt zur sozialen Marginalisierung und zum Anerkennungsverlust. Da aber Fremdanerkennung
und Selbstanerkennung miteinander verknüpft sind, entfaltet die arbeitslosigkeitsbedingte
Exklusion ihre eigene fatale Dialektik innerhalb der inneren Befindlichkeit des
Dauerarbeitslosen. Er gerät in eine lebensethische Abwärtsspirale, er internalisiert seine
Entwertung, wird mutlos, verliert zunehmend alle Antriebskraft zur selbsttätigen
Lebensgestaltung.
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Die hier vorgetragene Begründung der gerechtigkeitsethischen Unzulässigkeit der


Arbeitslosigkeit mit Hilfe des freiheitsrechtlich verankerten Prinzips der Chancengerechtigkeit
hat den Vorzug, von der Annahme eines genuinen und normativ eigenständigen Rechtes auf
Arbeit unabhängig zu sein. Ein Vorzug ist dies darum, weil ein Recht auf Arbeit in vielerlei
Hinsicht ein höchst problematisches Institut ist. Ist das Recht auf Arbeit ein Recht, das wie
andere grundlegendere Recht auf, einklagbare Ansprüche gegenüber anderen begründet, dann
führt ein Recht auf Arbeit zur Verpflichtung des Staates, dieses Recht zu verwirklichen. Die
staatliche Verwirklichung eines Rechtes auf Arbeit führt aber zur entweder direkten oder
indirekten Zerstörung einer freiheitlichen Gesellschaft. Denn entweder muß der Staat die
Wirtschaft zwingen, Arbeitsplätze für alle bereitzustellen, was zu einer völligen Mißachtung
der Freiheits- und Eigentumsrechte der Bürger führt, oder er muß die Arbeitsverteilung selbst in
die Hände nehmen, was zur Transformation der Marktwirtschaft in eine Planwirtschaft führt.
Aber ein Recht auf Arbeit würde nicht nur die Verletzung fundamentaler Freiheits- und
Eigentumsrechte implizieren, es wäre auch moralisch kontraproduktiv. Denn eine politisch
zugewiesene Arbeit mit dann notwendig marktunabhängiger Entlohnung wird nicht in dem
Maße Quelle von Selbstwertgefühl und nicht in dem gleichen Maße Ermöglichungsbedingung
lebensethischer Selbstständigkeit sein können wie die unter freiwillig angebotene, unter
Kompetitionsbedingungen erworbene und nach Marktgesetzen entlohnte Arbeit. Will man diese
rechtliche und moralische Konfliktstruktur des Rechts auf Arbeit dadurch beseitigen, daß man
ihm nur eine nachgeordneten Verbindlichkeit einräumt, dann wird die Rede von einem Recht
auf Arbeit zu einer Metapher. Dann besagt Recht auf Arbeit nichts anderes als: einen
Arbeitsplatz zu besitzen ist moralisch vorzugswürdig und gerechtigkeitsethisch gefordert; dann
besagt Recht auf Arbeit nichts anderes als: die Politik ist verpflichtet,
Beschäftigungshindernisse abzubauen und mit arbeitsmarktpolitischer Phantasie die Arbeit zu
mehren. Das aber ist eben das, was auch das Prinzip der Chancengerechtigkeit als
arbeitsmarktpolitische Basisverpflichtung des Sozialstaats freilegt.

7.
Was aber nun folgt aus solch einer Basisverpflichtung? Was muß der Sozialstaat der
Chancengerechtigkeit tun? Diese Frage ist nicht schwer zu beantworten: der Sozialstaat muß
der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit politische Priorität einräumen. Was aber heißt das?
Welche Möglichkeiten stehen ihm zur Verfügung? Und kann bei alldem die
Gerechtigkeitstheorie Orientierung bieten? Läßt sich also etwa aus dem Prinzip der
Chancengerechtigkeit nicht nur die gerechtigkeitsethische Notwendigkeit der
Vollbeschäftigung ableiten, sondern auch ein Katalog der Mittel, um dieses notwendige Ziel zu
erreichen oder zumindest den Abstand zwischen ungerechtem Ist-Zustand und gerechtem Soll-
Zustand zu verringern?

Wählen wir die Sprache der politischen Ökonomie, um die allgemeine Gerechtigkeitspflicht des
Staates zu beschreiben, dann können wir sagen, daß der Staat immer dann tätig werden muß,
wenn der Markt bei der Verteilung gerechtigkeitsrelevanter Güter versagt, wenn er eine
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eklatante Ungleichverteilung produziert, wo die Gerechtigkeit Gleichverteilung verlangt.
Aber was für das öffentliche Gut der Gesundheitsversorgung, was für Sicherheit und
diskriminierungsfreien Zugang zu allen gesellschaftlichen und politischen Ämtern, Posten und
Beschäftigungsmöglichkeiten gilt, gilt nicht für die Vollbeschäftigung. Arbeitslosigkeit ein
gerechtigkeitsethisches Spezialproblem, denn die Arbeitslosigkeit kann nicht unmittelbar
dadurch staatliche Initiative beseitigt werden – jedenfalls nicht im Rahmen einer
marktwirtschaftlichen Demokratie, die aus den gleichen gerechtigkeitsethischen Gründen nicht
zur Disposition steht, aus denen Chancengerechtigkeit eine beschäftigungsproduktive
Arbeitsmarktpolitik verlangt. Erwerbsarbeit ist kein öffentliches Gut. Der Sozialstaat kann
daher Arbeitslosigkeit nur dadurch mindern, daß er die arbeitsmarktpolitischen
Rahmenbedingungen so verändert, daß mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, daß Anreize
entstehen, das Arbeitsangebot zu erhöhen. Zusätzlich kann er durch Umschulungsangebote die
arbeitsmarktpolitische Attraktivität der Arbeitslosen verbessern. Und vielleicht auch durch
partielle Übernahme der Arbeitskosten – also durch eine politische Verbilligung des
Angebotspreises der Arbeit – die Wirtschaft zu einer offensiveren Einstellungspolitik
veranlassen.

8.

Hier ist aber allein von Wichtigkeit, ob diese Instrumente empirisch wirkungsvoll sind, ob sie
unter den gegebenen Bedingungen das Ziel der Erhöhung des Beschäftigungsniveaus erreichen.
Und diese Frage hat nichts mit Gerechtigkeit, und alles mit Ökonomie zu tun. Dem Prinzip der
Chancengerechtigkeit ist kein arbeitsmarktpolitischer Algorithmus zu entnehmen, mit dessen
Hilfe etablierte und geplante arbeitsmarktpolitische Maßnahmen entwickelt oder bereits
entwickelte gerechtigkeitsethisch überprüft werden können. Es kann nicht mehr als allgemeine
normative Orientierung bieten. Alles ist geboten, was zu einer Ausweiterung des
Arbeitsangebots und damit zu einer gerechteren Verteilung des Gutes Arbeit führt. Daher ist es
geboten, die Zugangsbedingungen zu dem kapitalistischen Arbeitsmarkt zu verbessern, indem
die herrschenden Beschäftigungshindernisse abgebaut werden, durch Senkung der
Lohnnebenkosten und durch Lockerung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen. Daher ist es
auch geboten, einen zweiten, subventionierten, von den Marktgesetzen entlasteten Arbeitsmarkt
aufzubauen – allerdings nur dann, wenn sichergestellt ist, daß dies beschäftigungspolitisch
wirksam ist und nicht zu Mitnahmeeffekten und Lohndumping führt. Und ebenfalls ist es
geboten, die Bildung von Beschäftigungsgesellschaften zu unterstützen, in denen Arbeitslose
marktfähig gehalten werden. Wenn das Ziel bekannt ist, muß man sich nur noch um die Mittel
bemühen. Und von arbeitsmarktpolitischen Mitteln ist zu verlangen, was von jedem Mittel zu
verlangen ist: sie müssen effektiv sein, sich als nützlich für die Erreichung des Ziels erweisen.
Daher bilden solche arbeitsmarktpolitischen Instrumente wie der Kombi-Lohn, der
Mindestlohn, der Ein-Euro-Job, die diversen Maßnahmen zur Verbesserung der Einstellung
älterer Arbeitsnehmer kein Gerechtigkeitsproblem, sondern nur ein Klugheitsproblem. Klugheit
ist vonnöten, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden, Phantasie, um neue Wege zu finden, und
Mut, um neue Wege zu beschreiten. Klugheit, Phantasie und Mut setzten Wissen voraus,
13
Wissen um die Systemzusammenhänge des sozialrechtlichen und arbeitsrechtlichen
Regelwerks, das die arbeitsmarktrechtlichen Prozesse bestimmt, Wissen um den
Zusammenhang von Lohn, Produktivität und Arbeitsangebot, Wissen um die Auswirkungen
sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Maßnahmen auf die Produktivitätsentwicklung und
damit auf das Arbeitsangebot, und vor allem ein konzeptionelles Gesamtkonzept, das der sich
bereits über Dekaden erstreckenden Stückwerkpolitik ein Ende bereitet und die kaum noch
überschaubare Fülle offenkundig weitgehend undurchdachter Rezepte nicht noch weiter
anwachsen läßt.

Aber dieser Übergang von der Gerechtigkeit zur Klugheit erleichtert die Situation nicht im
mindesten. Denn Klugheitsprobleme sind viel schwieriger zu lösen als Gerechtigkeitsprobleme,
zumal wenn es sich um kluge arbeitsmarktpolitische Lösungen innerhalb der ungemein
komplexen, von niemandem überschaubaren, durch machtvoll organisierte Interessen
beherrschten Wirklichkeit des gegenwärtigen Sozialstaats handelt. Die Empfehlungen der
wirtschaftlichen Klugheit zur Verbesserung des Beschäftigungsniveaus sind bekannt. Jedes
einschlägige Sachbuch wiederholt sie von neuem; jeden dritten Tag können wir sie in den
Wirtschaftsseiten unserer besseren Tageszeitungen lesen: Senkung der Lohnnebenkosten,
Modernisierung der Arbeitsmarktverfassung, Modernisierung der Tarifpolitik. Auch die
Modernisierung der Arbeitsverwaltung gehört zu den immer wieder erhobenen Forderungen.
Das Subsidiaritätsprinzip verlangt, Problemlösungen nur dann auf eine höhere Ebene zu
verlagern, einer zentraleren Bürokratie zu überantworten, wenn die Probleme nicht mehr auf
lokaler Ebene effizient angegangen werden können. Daher muß die Idee der zentralen
staatlichen Arbeitsvermittlung aufgegeben werden. Die Arbeitsvermittlung ist teils zu
privatisieren, teils auf der Gemeinde- und Landkreisebene anzusiedeln. Dort besteht ein weit
größeres Interesse an einer vernünftigen Verwendung der Mittel als in einer leviathanischen
Zentralbehörde, die durch ihr eigenes Gewicht zur Unbeweglichkeit verurteilt ist und an einer
sachlichen Problembehandlung durch Selbsterhaltungsdringlichkeiten gehindert wird,
Selbsterhaltungsdringlichkeiten prägen natürlich auch das politische Handeln und verhindern
strukturelle, auf langfristige Systemänderung zielende Reformen in Demokratien immer dann,
wenn sie Schlechterstellungen bestimmter Klientengruppen mit sich bringen. Die Angst, daß
der Wähler Kommoditätseinbußen bestraft, läßt den an seiner Machterhaltung primär
interessierten Politiker zurückschrecken. So macht das wiederum aus anderen Gründen rational
und moralisch vorzugswürdige System demokratischer Machterringung es unmöglich, daß sich
die Klugheit entwickeln kann, die zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit auf dem
Arbeitsmarkt erforderlich ist. Die jeweils privaten Klugheitsstrategien der wiederwahlbesorgten
Politiker – das ist das Rationalitätsdilemma demokratischer wohlfahrtsstaatlicher
Gesellschaften – verhindern die Entwicklung kluger Gemeinwohlstrategien.
Die Kritik vieler Wirtschaftswissenschaftler an den wachstumshemmenden – und darum auch
beschäftigungswachstumshemmenden Auswirkungen zu hoher Steuern, zu hoher
Sozialversicherungsabgaben, arbeitsrechtlicher Verkrustung, tarifpolitischer
Unverantwortlichkeit und undifferenzierten Flächentarifverträgen pflegen von den
Sozialstaatskonservativen, den Anhängern des wohlfahrtsstaatlichen status-quo als
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kapitalistisches Lamentieren, als ewige Litanei des Neoliberalismus verhöhnt zu werden.
Jedoch ist das nicht sonderlich ernstzunehmen. Seriöser, weil eben nicht von finanziellen und
machtpolitischen Besitzstandswahrungsinteressen gefärbt, ist der Einwand, daß der
arbeitsmarktpolitische Versuch, durch Steuer- und Abgabensenkung einerseits und
arbeitsrechtliche Flexibilisierungsmaßnahmen andererseits das Beschäftigungsniveau zu
erhöhen, auch gerechtigkeitsethisch bedenkliche Folgen haben könnte, da es den sozialen
Versicherungsschutzes mindern, die Rechte der Arbeitnehmer schwächen und die Sozialmacht
der Funktionäre des Kapitals stärken würde. Denn die Vermehrung der Arbeit würde
vordringlich in den unteren Lohnbereichen stattfinden, in denen nicht genug verdient werden
könnte, um ein hinreichendes Auskommen zu haben. Kurzum: Mehr Chancengerechtigkeit
durch Arbeitsvermehrung würde zur Amerikanisierung der sozialstaatlichen Arbeitswelt
führen; die money without job-Situation würde durch eine job-without-money-Situation
abgelöst, die Ungleichheit würde vergrößert und das Gerechtigkeitsniveau des Sozialstaats
verringert. Objektiver Hintergrund dieser Bedenken ist die Tatsache, daß sozialstaatliche
Gerechtigkeit unterschiedliche Leistungen umfaßt und rivalisierenden Ansprüchen ausgesetzt
ist. Sie droht darum in eine interne Dialektik verwickelt zu werden, die den Sozialstaat dazu
verdammt, durch Verwirklichung von Gerechtigkeit auf einem Gebiet unvermeidlicherweise
Ungerechtigkeit auf einem anderen zu produzieren. Wenn die Finanzierung der sozialen
Sicherungssysteme zu einer Belastung des Arbeitsmarktes führt, dann ist die Verknappung der
Chance Erwerbsarbeit und das damit verbundene Gerechtigkeitsrisiko selbst Folge der
Gerechtigkeit. Dieses durch entsprechende arbeitsmarktpolitische Entlastungsmaßnahmen zu
korrigieren hat hinwiederum negative Folgen für das sozialstaatliches Versorgungsniveau und
den arbeitsrechtlichen Schutzumfang.

Natürlich läßt sich aus dem Konzept sozialstaatlicher Gerechtigkeit weder die Höhe des
sozialstaatlichen Versorgungsniveaus noch der Umfang des arbeitsrechtlichen Schutzes
ableiten. Die empirische Konkretisierung der allgemeinen normativen Zielvorgaben ist eine
Angelegenheit der politischen Verhandlung, der geschickten Ausbalancierung der staatlichen
Leistungspflichten im allgemeinen und der rivalisierenden Gerechtigkeitserwartungen der
einzelnen Sozialstaatssegmente im besonderen. – Mir ging es hier nur um zweierlei. Einmal
wollte ich die Gerechtigkeitsphilosophie vor überzogenen Erwartungen schützen – und damit
auch der schamlosen und unerträglichen Instrumentalisierung dieses nahezu zivilreligiöse
Qualität besitzenden Großwortes unserer politisch-kulturellen Selbstverständigung im
Verteilungsgezänk des sozialstaatlichen Alltags entgegenwirken. Die epistemologische
Reichweite der Gerechtigkeitsprinzipien ist begrenzt. Die Chancengerechtigkeit ist sicherlich
eine plausible Explikation sozialstaatlicher Gerechtigkeit. Und es ist sicherlich auch zu
verteidigen, daß Chancengerechtigkeit sich auf den Bereich der Erwerbsarbeit erstreckt. Aber
für die Gestaltung einer produktiven Arbeitsmarktpolitik vermag Chancengerechtigkeit keine
zusätzlichen normative Kriterien bereitzustellen. Zum anderen wollte ich auf die nicht nur
politische, sondern vor allem auch moralische Komplexität sozialstaatlicher Wirklichkeit
aufmerksam machen. Ihren Grund hat diese moralische Komplexität in dem Umstand, daß der
entwickelte Sozialstaat im Schnittpunkt rivalisierender normativer Erwartungen liegt, die alle
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gleichermaßen legitime Facetten sozialstaatlicher Gerechtigkeit abbilden, jedoch nicht
zugleich konfliktfrei erfüllt werden können.

9.

Die bisherigen Ausführungen machen zwei Voraussetzungen: zum einen, daß Arbeit ein
lebensethisches Gut ist, zum anderen, daß es grundsätzlich möglich ist, Arbeitslosigkeit
signifikant zu senken, ein signifikant höheres Beschäftigungsniveau empirisch zu erreichen.
Beide Voraussetzungen sind gerechtigkeitsethisch unerläßlich: nur wenn Arbeit ein Gut und
kein Übel ist, kann das Prinzip der Chancengerechtigkeit für eine moralische Vermessung der
gesellschaftlichen Arbeitsverteilung herangezogen und Arbeitslosigkeit als
Gerechtigkeitsskandal kritisiert werden. Nur wenn das Erwerbsarbeitsangebot signifikant
gehoben werden kann, ist die Verringerung der Arbeitslosigkeit ein sinnvolles
gerechtigkeitsethisches Gebot. Denn sinnvolle Gebote sind generell nur solche Gebote, die
empirisch erfüllbar sein. Ein Sollen, dem kein Können entspricht, ist nicht mehr als eine leere
Geste. Wenn der Gesellschaft die Arbeit ausgehen sollte, stößt die Forderung ihrer gerechteren
Verteilung ins Leere.

Beide Voraussetzungen sind bestreitbar und auch bestritten worden. Für seinen Lebensunterhalt
arbeiten und sich den Gesetze von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage unterwerfen zu
müssen, ist für Paul Lafargue einfach menschenunwürdig. Erwerbsarbeit führt zur geistigen und
charakterlichen Verelendung, ist ein Mittel der Herrschenden, die Massen unter Kontrolle zu
halten, die Leidenschaften zu disziplinieren und den Geist zu veröden. Wie sein
Schwiegervater, der zu diesem Romantizismus der verhäßlichenden Lohnarbeit die
entsprechende politik-ökonomische Entfremdungstheorie geliefert hat, wie Karl Marx ist Paul
Lafargue jedoch kein Prediger des Nichtstuns. Zwar klagt er ein Recht auf Faulheit ein, meint
aber damit selbstbestimmte, sinnvolle, ihren Zweck in sich selbst tragende Tätigkeit, eine solch
befriedigende, erfüllende Tätigkeit also, wie sie auch dem zum Menschen gewordenen
Proletarier im sozialistischen Paradies möglich sein wird. Die heutigen Jünger Lafargues sind
die 'glücklichen Arbeitslosen'. Indem sie sich selbst als 'glücklich' bezeichnen, wollen sie das
bürgerliche Arbeitsethos delegitimieren, wollen sie die in ihm begründete Werthierarchie
umstülpen. Die Theorie hilft ihnen, sich die Folgen psychologisch-moralischer
Selbstinferiorisierung zu ersparen, die nach der Auskunft vieler empirischer Studien mit dem
Verlust des Arbeitsplatzes, insbesondere mit dauerhafter Arbeitslosigkeit in der Regel, wenn
auch nicht gesetzmäßig, verbunden sind. Arbeitslosigkeit als Selbstbestimmungschance, so
lautet ihre Botschaft. Diese Botschaft kann freilich nur darum verkündet werden, weil diese
Selbstbestimmung in einem dicht geknüpften wohlfahrtsstaatlichen Netz stattfindet und die
Versorgung gesichert ist. Wenn man das Arbeitseinkommen durch ein Transfereinkommen
ersetzen kann, kann man die zur freien Verfügung zurückgegebene Zeit für selbstbestimmte
Tätigkeit nutzen. Und wenn man seine Ansprüche zurückschreibt, mit dem Joch der
Erwerbsarbeit auch die Konsumverpflichtung abschüttelt, kann man mit den sozialstaatlichen
Zahlungen gut auskommen. Warum sich also nicht in der Arbeitslosigkeit einrichten? Warum
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nicht all die Kosten der Umschulung, Arbeitsvermittlung und Lohnsubventionierung sparen
und jedem Bürger ein garantiertes und bedingungsloses Grundeinkommen zur Verfügung
stellen, auseichend, um bescheiden leben zu können. Damit könnte der Arbeitsmarkt
vollständig entpolitisiert werden, darüber hinaus würden auch die unterschiedlichen
sozialstaatlichen Versorgungsleistungen überflüssig werden, keine Sozialhilfe, keine
Arbeitslosengeld, kein Wohngeld. Jeder bekommt mit jedem Monatsanfang sein
Bürgereinkommen ausgezahlt und kann sich auf dieser Grundlage ein eigenes Leben aufbauen.
Sollte er darüber hinaus arbeiten wollen, dann muß er sich den politisch und rechtlich
gereinigten Mechanismen des Arbeitsmarktes anvertrauen, einen Arbeitsvertrag schließen und
seinen Lohn versteuern.

Freilich hier meldet sich sofort ein Einwand, den man als das Argument der menschlichen
Schwäche bezeichnen kann. Jeder, der einmal auf einem Schulausflug war, hat erlebt, daß es
immer einige gab, die mit ihrem Taschengeld nicht haushalten konnten, die bereits nach
wenigen Tagen kein Geld mehr hatten. D.h. es muß immer damit gerechnet werden, daß ein
nicht geringer Teil mit dem Bürgergeld nicht auskommt, es nicht auf verantwortliche Weise
verwendet, keine Versicherungspolicen kauft, nicht in eine Alterssicherung investiert. Sollen
wir diese irrationalen, bildungsfernen, ganz im konsumistischen Hier und Jetzt lebenden
Mitbürger die Folgen ihres Handelns und Unterlassens spüren lassen? Sollen wir sie
verhungern lassen? Sollen wir ihnen die medizinische Versorgung vorenthalten? Sollen wir sie
im Elend umkommen lassen? Natürlich nicht. Aber das führt dann dazu, daß sich der
erwünschte Effekt des Bürgergelds nicht einstellt, daß keine Emanzipation von sozialstaatlich-
obrigkeitlicher Versorgung erfolgt. Denn es müssen wieder soziale Auffangstationen errichtet
werden; es entsteht wieder ein kleiner Sozialstaat, der kein kleiner bleiben wird. Denn zum
einen werden die Politiker sich die Möglichkeit nicht nehmen lassen, mit seinem Ausbau ihr
Stimmenkonto zu verbessern; und zum anderen wird dieser Ausbau nötig sein, weil seine
schiere Existenz ausreicht, um das Ausmaß kostenfreier Selbstverantwortungslosigkeit
anwachsen zu lassen. Wenn wieder die staatlichen Auffangpositionen warten, werden auch
diejenigen dem präsentischen Konsumismus den Vorzug geben, die ohne derartige Fangzäune
ein Selbstverantwortlichkeitsmanagement entwickelt hätten.

Aber lassen wir diese Überlegungen einmal beiseite: Man darf nicht übersehen, daß sich
Bürgergeld und Mindesteinkommen kategorial von den bekannten sozialstaatlichen
Transferzahlungen unterscheiden. Diese sind eingebettet in ein variables Bündel
arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, die durch Senkung der Lohnnebenkosten, politische
Verbilligung des Angebotspreises der Arbeit durch Kombilohn, Absenkung der
Zumutbarkeitsbarrieren und Reduktion der Arbeitslosenhilfe Wirtschaftsunternehmen zur
Schaffung von Arbeitsplätzen veranlassen wollen. Sie sind also integriert in ein
beschäftigungspolitisches Programm und bekräftigen das laboristische Paradigma der
Erwerbsarbeit, bekräftigen damit auch die der Erwerbsarbeit zukommende lebensethische
Bedeutung. Bürgergeld und Mindesteinkommen hingegen stehen quer zu dieser
beschäftigungspolitischen Programmatik, negieren auch die ethische Vorzugswürdigkeit der
17
Erwerbsarbeit. Ob ein solches Bürgergeld, Existenzgeld, Mindesteinkommen in
ausreichender Höhe überaus finanzierbar ist, ist umstritten. Die Anhänger dieser
Grundeinkommensidee sind optimistisch und legen Berechnungen vor. Die Vertreter des
gegnerischen Lagers hingegen kommen zu einem entgegengesetzten Ergebnis, erachten ein
bedingungsloses Grundeinkommen für sowohl ökonomisch als auch moralisch verhängnisvoll.
Wer recht hat, ob die Befürworter, die Gegner, beide oder beide nicht, kann hier nicht erörtert
werden. Lassen wir also die Finanzierungsfrage des Bürgergeldes beiseite und konzentrieren
uns auf seine moralische Statur. – Wenn der Gesellschaft die Arbeit ausgehen sollte, wenn
selbst bei mutiger Befolgung aller wirtschaftlichen Rezepte für Beschäftigungswachstum kein
merkliches Absenken der Arbeitslosigkeit erreicht werden kann, ist die Einführung eines
Bürgergeldes eine bedenkenswerte Strategie. Sie entschärft das Gerechtigkeitsproblem der
Arbeitsverteilung in beträchtlichem Maße. In ihm materialisiert sich ein von dieser Situation
erzwungenes Umdenken. Ist Arbeit nicht mehr in ausreichendem Maße vorhanden, um sie
gerecht zu verteilen, muß die Bewertung der Arbeit einer ethischen Revision unterzogen
werden. Erwerbsarbeit kann dann nicht mehr zu den lebensethischen Basischancen gehören,
deren egalitäre Verteilung das Prinzip der Chancengerechtigkeit verlangt. Erwerbsarbeit verliert
vielmehr seinen lebensethischen Normcharakter. Entsprechend kann auch das die Zeit der
Beschäftigungslosigkeit überbrückende sozialstaatliche Ersatzeinkommen nicht mehr als
Ausnahme, Überbrückungsregelung, Provisorium verstanden werden. Das gesellschaftliche
Leben verliert mit der knapp bleibenden Erwerbsarbeit seine organisierende Mitte und muß sich
neu definieren. Der kulturell paradigmatische Charakter der Erwerbsarbeit verschwindet, sie zu
wird zu einer Option, der keinerlei besondere ethische Qualität zukommen. Der Wert der
Erwerbsarbeit ist ausschließlich nur noch ein ökonomischer. In steter Harmonie mit dem
Produktivitätsstand erwirtschaftet sie die Ressourcen, die zur Finanzierung des Bürgergeldes
erforderlich sind. Die anderen Tätigkeitsarten, die im Lichte des laboristischen Paradigmas als
untergeordnet betrachtet wurden, weil in ihnen aufgrund ihres Nicht-Lohnarbeitscharakters kein
gesellschaftlicher Anerkennungsgewinn erwirtschaftet werden konnte, werden jetzt der
Lohnarbeit gleichgestellt. Der Erwerbsarbeitslose wird nicht mehr sozial und ethisch
stigmatisiert; in jeder Tätigkeit– in der Arbeit fürs Gemeinwesen, in der Familienarbeit – kann
gleichermaßen gesellschaftliche Anerkennung erworben werden. Nicht mehr der Lohn, sondern
die Erfüllung der der Tätigkeit immanenten Gelingensnormen bestimmt das Ausmaß der
gesellschaftlichen Anerkennung. Die ethische Entwertung der Lohnarbeit ermöglicht damit die
ethische Aufwertung der Tätigkeiten, denen bislang unter dem Bann des Paradigmas der
Erwerbsarbeit die gebührende Anerkennung versagt wurde.

Man sollte das Ausmaß dieser ethischen Revision nicht unterschätzen. Sie verlangt eine völlige
Verkehrung der herrschenden moralischen Auffassungen und damit der Grundprinzipien
unserer sozio-kulturellen Selbstverständigung. Denn unsere moralischen Auffassung, daß der
Erwerbsarbeit genuine ethische Qualität zukommt, ist keine Internalisierung kapitalistischer
Systemimperative, sondern entstammt der abendländisch-christlichen Überlieferung. Es gehört
zu den Fundamenten unseres Gerechtigkeitsempfindens, daß es die Pflicht jedes Menschen ist,
für die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu arbeiten. Arbeiten zu müssen, ist unser
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anthropologisches Schicksal, die Besiegelung unserer postlapsarischen Endlichkeit. Eine
Schlaraffenlandexistenz, Konsum ohne Arbeit, gehört zu den Phantasmagorien, mit denen wir
unseren Abstand zum Unendlichen veranschaulichen. Und insofern dieser Tausch von Arbeit
und Konsum, von Anstrengung und Entlohnung unsere Gerechtigkeitsvorstellung prägt, ist
auch deutlich, daß unsere Gerechtigkeit eine menschliche, Endlichkeit spiegelnde ist und nicht
die bedrohlich-unbegreifliche des Hofmannsthalschen Engels. Aber genau diese unser unserer
Gerechtigkeitssemantik eingeschriebene Reziprozität von Arbeit und Bedürfnisbefriedigung
wird zerstört, wenn jeder Bürger ein gegenleistungsfreies und existenzsicherndes
Grundeinkommen erhält und die Erwerbsarbeit zu einem ethisch indifferenten Zeitvertreib
wird.

Die ethischen Barrieren sind also hoch. Gleichwohl mag der Idee des Grundeinkommens die
Zukunft gehören. Wenn sich das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen läßt, wenn unserer
Gesellschaft die Arbeit ausgeht, wird die beschäftigungspolitische Funktion des Sozialstaats
obsolet. Dann muß aber auch die Gerechtigkeitstheorie von allen beschäftigungspolitischen
Bezügen entkoppelt werden. Arbeitsplätze können dann nicht mehr zu den gerecht, und das
heißt: egalitär zu verteilenden Lebenschancen gehören. Die sozialstaatliche Gerechtigkeit muß
die Orientierung an der Korrelation von Erwerbsarbeit und Lohn aufgeben. Damit fällt auch die
Aufgabe fort, im Falle arbeitslosigkeitsbedingter Störungen für Lohnersatz zu sorgen. Die
Versorgungsaufgabe verläßt den Schatten des laboristischen Paradigmas und wird politisiert.
Aus den Lohnersatzzahlungen der Sozialhilfe und des Arbeitslosengeldes wird dann ein
allgemeines Bürgereinkommen.

Ob es dazu kommen wird, ob alle beschäftigungspolitischen Anstrengungen, die


Arbeitslosigkeit signifikant zu senken, ergebnislos bleiben, wird die Zukunft zeigen. Noch
glauben wir, beschäftigungspolitisch optimistisch sein zu dürfen. Noch glauben wir, die
Arbeitslosigkeit senken und mehr Arbeitsplätze schaffen und dadurch auch der
Gerechtigkeitsforderung einer egalitären Verteilung fundamentaler Lebenschancen zumindest
annäherungsweise entsprechen zu können.

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