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Inhaltsübersicht
Cover & Impressum
Teil 1
Wie wir wirklich sind
1 Beharrlichkeit und Wandel
2 Verborgene Schätze
3 Gestatten: Ihr zweites Ich
4 Und was ist mit Wissen?
5 Und was ist mit Selbstkontrolle?
Teil 2
Die drei Grundlagen der Gewohnheitsbildung
6 Kontext
7 Wiederholung
8 Belohnung
9 Beständigkeit gewinnt
10 Alles unter Kontrolle
Teil 3
Sonderfälle, Chancen und die Welt um uns herum
11 Durchstarten und neu anfangen
12 Die Unverwüstlichkeit der Gewohnheit
13 Suchtkontexte
14 Mit Gewohnheit glücklich
15 Sie sind nicht allein
Nachwort
Wie Sie es vermeiden können, dauernd auf Ihr Handy zu
schauen
Anhang
Danksagung
Bildnachweise
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Buchnavigation
1. Inhaltsübersicht
2. Cover
3. Textanfang
4. Impressum
Teil 1
Cicero
Und das tat es auch. Zwei Wochen nach ihrem ersten Post
brachte sie uns auf den neuesten Stand: ein knappes Kilo
weniger. »Das ist doch ein toller Anfang!«
Doch dann: Stille.
Einen Monat später schrieb sie, dass sie weiterhin dran sei,
aber bisher ohne großen Erfolg. »Noch kann ich euch nicht von
verlorenen Kilos berichten.« Und das war für eine ganze Weile
ihr letzter Eintrag zu dem Thema.
Als ich mich sechs Monate später mit ihr traf, hatte sie
weiterhin kein einziges zusätzliches Gramm abgenommen. Das
Einzige, was sich verändert hatte, war, dass es nun in ihrem
Leben einen weiteren Misserfolg gab, über den sie sich grämen
konnte. Unangenehmerweise auch noch einen Misserfolg in aller
Öffentlichkeit. Wie bei so vielen Menschen, die versuchen, ihr
Verhalten zu verändern, endete die Sache auch bei meiner
Cousine damit, dass die Veränderung einfach nicht stattfand.
Und das, obwohl sie es sich so sehr wünschte, obwohl sie wild
entschlossen war und von ihren Freunden unterstützt wurde.
Man denkt, das müsste reichen, aber es reicht nicht.
Der erste Schritt zur Lösung des Problems ist das
Eingeständnis, dass wir keine vollständig rationalen Wesen sind.
Die Gründe, die unser Handeln antreiben, können
undurchsichtig sein. Es ist überraschend, was uns am Leben
erhält. Erst vor einiger Zeit haben Wissenschaftler begonnen, die
facettenreiche Natur des menschlichen Bewusstseins zu
entwirren und die daraus entstehenden Tendenzen und
Prioritäten zu identifizieren. Dadurch, dass wir sie verstehen,
können wir diese Einflüsse zwar nicht vollständig zum
Schweigen bringen, aber wir können uns, während wir handeln,
Rechenschaft über sie ablegen. Unser eigenes Verhalten
entspringt aus einer geheimnisvollen, tief verborgenen und
verleugneten Quelle der Irrationalität.
Was bringt die Veränderungsversuche meiner Cousine zum
Scheitern? Woran liegt es, dass auch wir anderen auf diesem
Gebiet immer wieder Niederlagen einstecken müssen? Die
Antwort ist, dass wir nicht wirklich verstehen, was unser
Verhalten antreibt. Und das Problem geht sogar noch weiter. Wir
müssen aufhören, unser rationales Ich zu überschätzen. Wir
müssen verstehen lernen, dass wir auch aus Anteilen bestehen,
die tiefer liegen. Wir können uns diese Anteile als voll
ausgebildete, alternative Ichs vorstellen, die nur darauf warten,
anerkannt zu werden – und für uns zu arbeiten.
Die Wissenschaft enthüllt nun langsam, warum wir bisher
nicht in der Lage waren, unser Verhalten zu verändern. Was
aber noch besser ist: Sie zeigt uns, wie wir dieses neue Wissen
nutzen können, um in unserem Leben planvoll eine dauerhafte
Veränderung herbeizuführen.
Unser Leben könnte ganz anders aussehen, wenn wir die neuere
Forschung darüber, wie, wann und warum Gewohnheiten
funktionieren, für uns nutzen würden. Aber für etwas, das so
wesentlich zum Menschsein dazugehört, widersprechen unsere
Gewohnheiten auf seltsame Weise der Intuition. Wie wir sehen
werden, ist ihre Verborgenheit ein wesentliches Merkmal der
Gewohnheit. Ihre Unsichtbarkeit unterstützt sie ganz wesentlich
bei dem, was sie tut: beharrlich bleiben – trotz unserer
bewussten Vorsätze zur Veränderung.
Unser bewusstes, wissendes Ich – der Teil unserer selbst, den
wir live erleben, wenn wir Entscheidungen treffen, Gefühle
ausdrücken oder unseren Willen einsetzen – ist der Teil, dem wir
jeden Tag begegnen. Zwar haben wir Menschen die Fähigkeit zur
Selbstbeobachtung, aber die schwierige philosophische Frage, ob
und wie wir unseren eigenen Wahrnehmungs- und
Kognitionsapparat dafür einsetzen können, uns selbst zu
untersuchen, bleibt. Letztendlich können wir nur die
erkennbaren Bereiche unserer Erfahrung erkennen.
Gewohnheiten arbeiten so reibungslos, dass wir selten auch
nur an sie denken. Die Welt der Gewohnheiten ist so in sich
abgeschlossen, dass es sinnvoll ist, sie als eine Art zweites Ich zu
betrachten – eine Seite von uns, die im Schatten des denkenden
Bewusstseins steht, das wir so gut kennen. Wer verstehen will,
wie dieser Teil genau funktioniert, braucht das gesamte Arsenal
der Psychologie und Neurowissenschaften.
Gelegentlich aber ziehen unsere Gewohnheiten doch bewusste
Gedanken auf sich: Nachdem wir den Vorsatz gefasst haben,
mehr mit unseren Kollegen zu sprechen, anstatt ihnen
Nachrichten zu schicken, löschen wir lieber die wütende E-Mail,
die wir ganz automatisch angefangen haben. Wenn wir ans
Wassersparen denken, machen wir schnell die Dusche aus. Wir
ermahnen uns selbst, unsere Handys wegzulegen, wenn wir mit
unseren Kindern am Abendbrottisch sitzen. Wir setzen unsere
kognitive Kontrolle, unsere Top-down-Verarbeitung ein, indem
wir unerwünschte Gewohnheiten durch bessere Absichten in
Schach halten.
Auf diese Art und Weise leben viele von uns. Wir führen unser
bewusstes, entscheidungsfähiges Ich gegen unsere
automatisierten Handlungen ins Feld. Weil wir aber von
schlechten Angewohnheiten durchdrungen sind, befinden wir
uns permanent in einer Art innerem Krieg.
Aber es gibt eine andere Möglichkeit.
Wir können unerwünschte Gewohnheiten verändern, indem
wir gute Gewohnheiten ausbilden, die mit unseren Zielen
übereinstimmen. Wenn unsere automatischen Handlungen
erwünschte Handlungen sind, dann befinden sich unsere
Gewohnheiten und Ziele in einem Gleichgewicht. Wir müssen
uns nicht mehr auf unseren Willen verlassen. Das ist das
Versprechen dieses Buches: das Verständnis, wie wir im Auf und
Ab des alltäglichen Lebens gute Gewohnheiten ausbilden
können, Gewohnheiten, die auf wirkungsvolle Weise mit uns
zusammenarbeiten, anstatt sich gegen uns zu richten.
In Wirklichkeit haben viele Ihrer guten Eigenschaften schon
jetzt den Charakter von Gewohnheiten. Vielleicht schließen Sie
automatisch die Tür ab, wenn Sie Ihr Haus verlassen? Oder
machen den Blinker an, wenn Sie die Spur wechseln oder
wenden? Wahrscheinlich geben Sie Ihren Kindern einen
Abschiedskuss, wenn sie zur Schule aufbrechen? Sie glauben
vielleicht, dass Sie sich so verhalten, weil Sie es sich
vorgenommen haben. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass
solche regelmäßig wiederholten Handlungen Gewohnheiten
sind. Gerade weil Gewohnheiten so effizient und unauffällig
funktionieren, haben wir das Gefühl, dass sie auf bewussten
Entscheidungen beruhen.
Wenn unsere Gewohnheiten und Ziele aufeinander
abgestimmt sind, arbeiten sie bei der Steuerung unserer
Handlungen problemlos zusammen. Meist merken wir das nicht
einmal. Wir handeln aus Gewohnheit, ohne dass wir es uns
vornehmen müssten.
Wie wir sehen werden, ist unser Gewohnheits-Ich in vielerlei
Hinsicht weniger beeindruckend als unser bewusstes, denkendes
Ich. Mit Sicherheit zieht es weniger Aufmerksamkeit auf sich.
Aber es arbeitet ausgesprochen effizient. Wir reagieren
gedankenlos auf Umweltreize, in einer Art Bottom-up-
Verarbeitung der Welt, wie wir sie vorfinden. Ins Büro gehen –
nachsehen, was anliegt. Eine leere Flasche in der Hand haben –
sie in den Müll werfen. Die Klingel hören – die Tür aufmachen.
Das ist der mühelose, gewohnheitsmäßige Weg, bei der
Verfolgung unserer Ziele beharrlich zu sein.
Welche Verhaltensweisen wollen Sie ändern? Vielleicht
möchten Sie regelmäßige Mahlzeiten mit der Familie einführen?
Eine offenere Kommunikationsweise mit Ihren Angestellten
pflegen? Geld für die Rente oder das Studium Ihrer Kinder
beiseitelegen? Öfter die kulturellen Angebote in Ihrer Umgebung
wahrnehmen? All diese Dinge können in den Teil Ihres Lebens
integriert werden, der sich aus gewohnheitsmäßigem Verhalten
speist. Sie können zu etwas werden, das Sie automatisch tun.
Denn anders als bewusste Entscheidungen können
Gewohnheiten auf eine ganz besondere Weise für Sie arbeiten.
2 Verborgene Schätze
Samuel Johnson
–
Mit dem, was wir nicht über Gewohnheiten wissen, sind schon
Bücher gefüllt worden: Geschichtsbücher,
wirtschaftswissenschaftliche Texte, Gesundheitsratgeber,
Handbücher über die Ehe und viele der persönlichen
Tagebücher, die in unseren Schubladen liegen – alle voll mit den
historischen, wissenschaftlichen und persönlichen
Missverständnissen darüber, warum wir so beharrlich bei dem
bleiben, was wir tun. Internetblogs und Bestseller enthalten
scheinbar plausible, aber weitgehend unwissenschaftliche
Ratschläge darüber, wie man Erfolg versprechende
Arbeitsgewohnheiten, gesunde Essgewohnheiten, beglückende
Gewohnheiten in der Ehe, gute Gewohnheiten als Eltern und
kluge Gewohnheiten im Umgang mit Geld entwickeln kann. Nur
äußerst selten gehen sie auf die wichtigste Eigenschaft von
Gewohnheiten ein: dass sie außerhalb unserer bewussten
Wahrnehmung ablaufen.
Wir bemerken nur selten, dass wir aus Gewohnheit gehandelt
haben. Normalerweise sehen wir nur solche Gewohnheiten, die
wir nicht gutheißen – wir geben (mal wieder) zu viel Geld im
Einkaufszentrum aus, knabbern an den Nägeln, glotzen mitten in
der Nacht eine Folge unserer Lieblingsserie nach der anderen,
obwohl wir am nächsten Morgen früh aufstehen müssen. Was
wir ebenfalls wahrnehmen, sind die nervigen Gewohnheiten von
anderen, und wir wünschen uns, sie würden sich ihr Verhalten
bewusster vor Augen führen. Vielleicht kommt eine Kollegin
notorisch zu spät zu Sitzungen, nimmt ihre Mahlzeiten
geräuschvoll am Schreibtisch ein oder räumt in den
Gemeinschaftsbereichen ihren Kram nicht weg. Solche
unerwünschten Gewohnheiten bei uns selbst und anderen
bemerken wir, weil sie unseren aktuellen Zielen in die Quere
kommen. Dass Google für den Suchbegriff »bad habits« aktuell
291 Millionen Treffer ausspuckt, aber nur 265 Millionen für
»good habits«, zeigt vielleicht schon, wie viel größer die
Aufmerksamkeit für unerwünschte Gewohnheiten ist. Schlechte
Gewohnheiten werden bemerkt.
Doch die Gewohnheiten, die man registriert – vor allem die
unerwünschten –, sind nicht die wichtigsten in unserem Leben.
Jene Gewohnheiten dagegen, die in Wirklichkeit unser Verhalten
lenken, bleiben weitgehend unentdeckt. Erinnern Sie sich?
43 Prozent. Wenn ich Sie in diesem Augenblick bitten würde, all
Ihre Gewohnheiten aufzuzählen, würden sie auch nur
annähernd diesen Prozentsatz Ihrer täglichen Handlungen
erreichen? Keine Chance.
Das liegt übrigens nicht nur daran, dass wir es häufig nicht
schaffen, unsere verborgenen Gewohnheiten in den Blick zu
bekommen, sondern auch daran, dass unser bewusstes Ich in
vielen Fällen auf jene Gewohnheiten Anspruch erhebt, die wir
bemerken und für gut befinden. Wir gehen davon aus, dass wir
unseren Kindern jeden Abend vorlesen, weil wir sie lieb haben.
Dass wir im Supermarkt immer als Erstes die Sonderangebote
durchgehen, liegt unserer Meinung nach daran, dass wir Geld
sparen möchten. Wir glauben, dass wir uns aus
Sicherheitserwägungen jedes Mal anschnallen, wenn wir uns ins
Auto setzen.
Psychologen nennen dieses übertriebene Vertrauen in unsere
eigenen Gedanken, Gefühle und Absichten introspektive Illusion.
[13] Sie ist eine Art kognitive Verzerrung, die uns den Umfang, in
dem unsere Handlungen von inneren Zuständen abhängen,
überschätzen lässt. Wir stecken bis über beide Ohren in unseren
eigenen Empfindungen, Gefühlen und Gedanken. Diese alles
beherrschenden inneren Erfahrungen beeinträchtigen unsere
Fähigkeit, andere mögliche Einflüsse auf unser Verhalten zu
erkennen, vor allem unbewusste Einflüsse, wie zum Beispiel
unsere Gewohnheiten. Das Resultat ist, dass wir uns allzu sicher
sind, stets gezielt und absichtsvoll zu agieren. Dass das
Phänomen der Gewohnheit für uns ein so großes Geheimnis ist,
liegt mit großer Wahrscheinlichkeit auch daran. Wir befriedigen
unsere Neugier über uns selbst durch die Einbildung, dass wir
tun, was wir tun, weil wir es nun einmal tun wollen. Das ist
schmeichelhaft und gibt uns ein Gefühl von Handlungsfähigkeit –
aber es ist falsch.
Introspektive Illusion ist messbar. In einer Studie baten
Forscher ihre Testpersonen, durch ein Ladengeschäft zu
schlendern und dabei aus vier identischen Paar Nylonstrümpfen
das hochwertigste Paar herauszusuchen. [14] Angesichts der
Tatsache, dass die Strümpfe identisch waren, sollte die Aufgabe
eigentlich unlösbar sein. Trotzdem sahen sich die Konsumenten
die Paare genau an und verglichen sie miteinander. Am Ende
entschieden sich durchschnittlich viermal mehr Testpersonen
für die am weitesten rechts hängenden Strümpfe als für die am
weitesten links hängenden. Sie gaben viele verschiedene Gründe
für ihre Entscheidung an, aber niemand erwähnte die Position
der Strümpfe. Wenn sie direkt gefragt wurden, bestritten so gut
wie alle, dass der Ort, an dem die Waren positioniert waren, ihre
Entscheidung beeinflusst hatte. Nach Aussage der Forscher
waren viele der Dementis von »einem etwas besorgten Blick in
Richtung des Interviewers begleitet, als ob die Testperson das
Gefühl hätte, die Frage nicht richtig verstanden oder es mit
einem Verrückten zu tun zu haben«. [15] Die Wissenschaftler
vermuteten, dass die jeweilige Wahl darauf beruhte, dass
»Konsumenten die Angewohnheit haben, ›sich umzusehen‹, das
heißt, die Entscheidung für ein gleich zu Anfang entdecktes
Kleidungsstück auf der linken Seite zugunsten eines später
entdeckten Kleidungsstückes auf der rechten Seite zu
verschieben«. [16] Zwar zeigten die Testpersonen keinerlei
Bewusstsein von dieser Angewohnheit, aber sie handelten
danach. Indem sie das taten, standen sie ohne eine eindeutige
Erklärung für ihre Entscheidung da. Und für das bewusste Ich
ergibt es nun einmal Sinn, davon auszugehen, dass es seine
Auswahl auf der Grundlage von Kriterien wie Aussehen und
Materialbeschaffenheit des jeweiligen Artikels getroffen hat.
Gewohnheiten sind nicht die einzigen unbewussten Einflüsse,
die wir ignorieren, wenn wir unser Verhalten erklären. Wie sich
herausstellte, übersehen Studierende sogar ihren Wunsch, Geld
zu verdienen, wenn er nicht ganz vorn in ihrem Bewusstsein ist.
In einem Experiment sollten einige Studierende den Text eines
Kommilitonen lesen, in dem er über seine Pläne berichtete, zu
Geld zu kommen. In einem späteren Teil des Experiments
mussten sich die Testpersonen dann zwischen zwei Ratespielen
entscheiden, eins mit dem Titel »Amerikanische Politik«, das
andere mit dem Titel »Amerikanische Regierung«. In einer der
beiden Anleitungen waren Geldscheine abgebildet. Es stellte sich
heraus, dass die Studierenden, die zu Anfang den Text über das
Geldverdienen gelesen hatten, eher dazu tendierten, das Spiel
auszuwählen, in dem die Geldscheine abgebildet waren. Es
schien, als hätte die ursprüngliche Erinnerung an das Thema
Geld ihre spätere Entscheidung für eines der beiden Spiele
gelenkt. Rational war das nicht. Denn Geld konnte gar nicht
verdient werden, egal, welches Spiel man auswählte. Aber, das
zeigt schon die Weißer-Bär-Studie von Daniel Wegner, wir
können im Vorfeld so eingestimmt werden, dass wir uns auf fast
alles fixieren – und Geld ist sicherlich eine wesentlich
verführerischere Vorstellung als weiße Bären. Am
interessantesten war, dass es den Studierenden größtenteils
nicht bewusst war, was ihre Entscheidung beeinflusst hatte. Sie
gaben kein verstärktes Interesse an Geld zu Protokoll, nachdem
sie den Text ihres Kommilitonen gelesen hatten. Und als sie eine
Liste mit möglichen Gründen für ihre Entscheidung für eines der
beiden Spiele aufstellen sollten, bescheinigten sie dem Wunsch,
Geld zu verdienen, und den abgebildeten Geldscheinen die
geringste Wichtigkeit. Dagegen behaupteten sie, dass der
wichtigste Faktor ihr Interesse am Thema des jeweiligen Spiels
sei, Politik beziehungsweise Regierung. Auch hier spielte also das
bewusste Ich die unbewussten Einflüsse, die auf seine
Handlungen einwirkten, herunter. Unsere Annahmen darüber,
was Einfluss auf unsere Entscheidungen hat, schmeicheln vor
allem unserem bewussten Ich.
Dass wir unsere bewusste Erfahrung dermaßen überbewerten,
hat eine gewisse Logik. Viele unserer Gewohnheiten sind
sinnvoll, und es könnte schließlich sein, dass wir uns nach
gründlichem Nachdenken genauso verhalten würden.
Beispielsweise ist die Angewohnheit, vor einer Kaufentscheidung
die jeweiligen Artikel der Reihe nach zu vergleichen, durchaus
sinnvoll. Und wenn die Artikel von identischer Qualität sind, gibt
es keinen Grund, sie noch einmal von vorn zu begutachten. Es
ergibt einfach Sinn, den letzten Artikel zu nehmen, den wir uns
angesehen haben. Rationale Erklärungen für unsere Handlungen
zu erfinden, wo wir eigentlich nur unbewussten Gewohnheiten
folgen, ist dagegen illusionär.
Es gibt noch eine weitere Erklärung für die Überbewertung des
Anteils unserer bewussten und absichtsvollen Handlungen. Auf
diese Weise können wir unsere Entscheidungen nämlich
bejahen. Sie erscheinen uns sinnvoll. Wir stellen uns einfach vor,
dass der letzte Artikel, den wir uns angesehen haben, nun einmal
eine schönere Farbe, besseres Material oder eine höhere Qualität
hatte, und müssen deshalb unsere Entscheidung nicht
hinterfragen. Oder wir fixieren uns auf einen im Grunde
unwichtigen Unterschied (Politik versus Regierung) und sind aus
diesem Grund zufrieden mit unserer Wahl.
Aber das Ganze hat auch einen entscheidenden Nachteil. Wenn
unser lautes, geltungsbedürftiges Bewusstsein die ganze
Anerkennung für die Aktionen unseres bescheidenen
Gewohnheits-Ichs für sich beansprucht, werden wir niemals
lernen, wie wir diese verborgene Ressource nutzen können.
Unsere Gewohnheiten sind dann wie stille Partner, voller
Energie, aber ohne dass sie jemals aufgefordert würden, ihr
volles Potenzial zu entfalten. Die Einmischungen unseres
bewussten Ichs verhindern, dass wir Gewohnheiten zu unserem
eigenen Vorteil nutzen.
Bis hierher haben wir die Gewohnheiten des Wählens und des
Autofahrens untersucht. Dies sind konkrete, fassbare
Handlungen, die wir sehen und verstehen können. Dass sie so oft
wiederholt werden können, bis sie zu bleibenden Gewohnheiten
werden, ist unmittelbar einsichtig. Aber was ist mit schwerer zu
fassenden, unklareren Tätigkeiten, wie zum Beispiel dem
künstlerischen Schaffen? Können auch sie von
gewohnheitsmäßiger Beharrlichkeit profitieren?
Eine hochinteressante Studie gewann 45 professionelle
Komikerinnen und Komiker, die alle auf dem großen
Comedyfestival »SketchFest« auftraten, als Testpersonen. [23] Sie
bekamen den Anfang einer Comedyszene ausgehändigt und
hatten vier Minuten Zeit, so viele Fortsetzungen zu erfinden wie
möglich. Ein Beispiel: »Vier Personen stehen hysterisch lachend
auf der Bühne. Zwei von ihnen klatschen ab, und sofort hören
alle auf zu lachen. Jemand sagt: ____________.«
Die Komikerinnen und Komiker produzierten innerhalb der
vier Minuten jeweils etwa sechs lustige Fortsetzungen (»Und so
kam es, dass die Pattex-Brüder an den Handflächen verbunden
sind«). Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten daraufhin
einschätzen, wie viele lustige Enden sie noch produzieren
könnten, wenn sie vier weitere Minuten zur Verfügung hätten.
Ihre bewussten Ichs rechneten mit weniger Ergebnissen, nämlich
im Durchschnitt mit fünf zusätzlichen Fortsetzungen.
Die Komiker bekamen dann noch einmal vier Minuten Zeit,
und am Ende war die Anzahl der Fortsetzungen 20 Prozent
höher, als sie geschätzt hatten. Offensichtlich hatten sie der
Beharrlichkeit nicht genug zugetraut. Sie waren es gewohnt, im
kreativen Bereich beharrlich zu sein, blieben bei der Sache und
brachten mehr Ideen hervor, als sie erwartet hatten. Ihre
Erwartungen und Wünsche selbst spielten dabei keine Rolle. Mit
großer, auf Gewohnheit basierender Beharrlichkeit produzierten
sie weiterhin erfolgreich Ideen, trotz ihrer deutlich
pessimistischeren Erwartungen.
Das gleiche Muster zeigte sich in anderen Studien mit
kreativen Aufgaben. Wie die Komiker unterschätzten auch die
Studierenden die Macht der Beharrlichkeit. Wenn sie einige
Minuten lang an einer Aufgabe gearbeitet hatten und dann
einschätzen sollten, wie produktiv sie wären, wenn sie ein paar
weitere Minuten Zeit bekommen würden, rechneten sie für die
zweite kurze Arbeitsphase mit weniger Ergebnissen. Nun war es
aber erstaunlicherweise so, dass die Studierenden, wenn sie dazu
aufgefordert wurden, die jeweilige Aufgabe weiterzubearbeiten,
nicht nur mehr Ergebnisse produzierten, als sie vorhergesagt
hatten, sondern auch kreativere. Dem Urteil von unabhängigen
Prüfern zufolge, die die Ergebnisse später lasen, waren die Ideen,
die am Ende dieser zweiten Arbeitsphase produziert wurden,
von höherer Qualität – also kreativer – als diejenigen, auf die die
Studierenden zu Anfang gekommen waren. Die Beharrlichkeit
nutzte sich also nicht ab, wenn sie zum Einsatz kam. Sie
produzierte einfach weiter Ergebnisse. Es ist klar, woher die
Fehleinschätzung der Komiker und Studiernden kommt:
Schließlich wissen wir alle, dass sich unsere kognitive Kontrolle
mit der Zeit sehr wohl erschöpft. Solange wir unser Verhalten
gedanklich kontrollieren und auf diese Weise Entscheidungen
treffen, werden wir irgendwann müde. Unsere Aufmerksamkeit
ebbt ab, und unsere Motivation schwindet. Aber der Teil unseres
Ichs, in dem die Beharrlichkeit wohnt, ist aus einem vollkommen
anderen Holz geschnitzt. Und genau das können wir für uns
nutzen.
Wir können also den Sog unserer tief sitzenden, solide
arbeitenden Gewohnheit mit unseren bewussten Absichten und
langfristigen Zielen in Übereinstimmung bringen und damit die
43 Prozent weitaus besser zum Einsatz bringen als bisher.
3 Gestatten: Ihr zweites Ich
William James
–
Es geht bei alldem nicht nur um Bequemlichkeit. Die einfachen
kognitiven Mechanismen der Gewohnheit können in
Katastrophen lebensrettend und beim Football spielentscheidend
sein.
In einer klassischen Studie mit 26 Feuerwehrhauptleuten
wurde untersucht, auf welche Weise sie schwierige
Brandsituationen angepackt hatten. [40] Sämtliche Hauptleute
waren äußerst routiniert, im Durchschnitt hatten sie 23 Jahre
Berufserfahrung. Sie erzählten von verschiedenen Vorfällen,
unter anderem von Feuern in Wohnhäusern, in Hotels, in
Geschäftsräumen und in einer Ölraffinerie. Es gibt sehr viele
verschiedene Möglichkeiten, ein Feuer zu bekämpfen, und die
Forscherinnen und Forscher wollten herausfinden, wie
Feuerwehrleute die Optionen gegeneinander abwägen und sich
für eine von ihnen entscheiden. Überlegten sie zum Beispiel,
bevor sie ein Gebäude von vorne betraten, ob es andere,
möglicherweise sicherere Zugänge geben könnte? Identifizierten
sie, bevor sie den Wasserstrahl auf ein bestimmtes Ziel richteten,
andere Ziele, bei denen das Löschen möglicherweise effektiver
war? Man hatte einen detaillierten Zeitstrahl ausgearbeitet, um
die Entscheidungspunkte während der Rettungs- und
Bergungsoperationen genau zu kennzeichnen.
Die Interviews zeigten, dass die Fälle, in denen die
Feuerwehrleute nachdachten, äußerst selten waren. Die Forscher
entdeckten nur wenige Punkte, an denen überhaupt
Entscheidungen getroffen wurden. Sie schrieben: »In nahezu
keinem Fall berichtete [einer der Feuerwehrhauptleute] davon,
eine Entscheidung im Sinne einer Abwägung zwischen zwei oder
mehr Optionen getroffen zu haben.« [41] Selbst wenn sie
gezwungen wurden, ihre Entscheidungen zu begründen,
verteidigten die Feuerwehrleute ihre jeweilige Aktion nicht
gegenüber alternativen Handlungsmöglichkeiten.
Stattdessen handelten diese erfahrenen Männer und Frauen
fast vollständig, ohne nachzudenken. Sie identifizierten eine
Reihe von Hinweisen beziehungsweise Eigenschaften der
Situation, denen sie bei früheren Feuern immer wieder begegnet
waren. Solche Standardhinweise waren zum Beispiel der Aufbau
des Gebäudes, die Farbe, die Menge und die Giftigkeit des
Rauchs, die Schnelligkeit, mit der sich die Gesamtsituation
veränderte, sowie die Windgeschwindigkeit und -richtung. Diese
Hinweise lösten, basierend auf früheren Erfahrungen,
unmittelbar eine Vorstellung aus, was getan werden musste, und
genau das taten die Feuerwehrleute dann einfach. Im
Forschungsbericht heißt es: »Man entschied sich für eine der
Optionen, ohne dass im Nachhinein jemals über eine bewusste
Abwägung, Auswertung oder Analyse berichtet wurde. In den
meisten Fällen lösten [die Hinweise] umgehend die Einsicht aus,
was getan werden musste, und genau das wurde getan.« [42]
Es sah so aus, als reagierten die Feuerwehrleute, indem sie
automatisch und kleinschrittig ihr Gedächtnis befragten. Genau
darauf schienen sie sich zu verlassen. In ihren Köpfen
verwandelten sich die dramatischen und belastenden
Situationen einfach in das Zusammenspiel von Hinweisen und
Reaktionen. Wenn es um Leben und Tod ging, gab die
Gewohnheit den Weg vor.
Feuerwehr und Football ähneln sich insofern, als sie beide
gefährliche Berufe sind, in denen körperlich starke und sehr
talentierte Menschen arbeiten. Davon abgesehen gibt es aber
wenige Gemeinsamkeiten. Zumindest dachte ich das, bis ich mit
Clay Helton, dem Head Coach des Footballteams der University of
Southern California, über seine Trainingsziele sprach. [43] Helton
sagte: »Das Ganze dreht sich eigentlich darum, Unsicherheiten
auszuschalten – Entscheidungen zu treffen. Unsicherheit führt zu
Zögern, und wer zögert, verliert. Oder wird sogar verletzt.«
Weiter sagte Helton: »Jedes Mal, wenn ein junger Mann bei
einem Spiel unsicher ist, wird ihn das langsamer machen, weil er
Zweifel hat. Man möchte, dass die Spieler sagen: ›Ich habe dieses
Szenario so oft durchgespielt, dass ich mein [bewusstes] Ich da
raushalte. Ich weiß genau, was zu tun ist, einfach aufgrund von
Erfahrung und Wiederholung.‹ Ich erzähle dazu immer die
Geschichte von Michael Phelps, dem Olympiaschwimmer. Sein
Trainer füllte ihm im letzten Teil des Trainings jedes Mal die
Schwimmbrille mit Wasser – nur zur Sicherheit. Wenn er
während eines Wettkampfes einmal nichts mehr sehen könnte,
würde er nicht in Panik oder Unsicherheit geraten. Er hat es
tausendmal geübt, bei jedem Training.
Wir denken uns im Training alle möglichen Widrigkeiten aus«,
erklärte der Coach weiter. »Ob es nun die Attacke eines Läufers
ist, ob man plötzlich von einer Tasche getroffen oder von einem
Arm niedergedrückt wird oder ob ein Defensivspieler versucht,
einen am Trikot festzuhalten. Wer sagen kann: ›Das kratzt mich
überhaupt nicht, mein Trainer hat das 172 Millionen Mal mit mir
geübt‹, der schaltet alles, was um ihn herum passiert, weg und
konzentriert sich auf das Wichtigste, nämlich darauf, zu
erkennen, wie die Abwehr organisiert ist und wohin der Ball
geht. Er kann sagen: ›Genau dafür habe ich trainiert.‹«
Die gedanklichen Prozesse der Feuerwehrleute und der Spieler
in Heltons Mannschaft ähneln sich erstaunlich. Beide Gruppen
konzentrieren sich auf das Wiedererkennen bestimmter
Hinweise und haben durch intensives Training die richtige
Reaktion gelernt. Auch inmitten von Panik und Rauch oder bei
der Attacke eines 130 Kilogramm schweren Defensivspielers
können sie die entsprechenden Hinweise entschlüsseln.
Schmächtig und unscheinbar, wie sie uns vorkommt, ist die
Gewohnheit in Wirklichkeit eine Quelle von Stärke und Kraft.
4 Und was ist mit Wissen?
Wie viele Portionen Obst oder Gemüse sollte man täglich essen?
Sie wissen es bestimmt: fünf. Die Zahl stammt aus einer der
bekanntesten staatlichen Gesundheitskampagnen, die jemals
lanciert wurden.
Der clevere Direktor des kalifornischen
Gesundheitsministeriums, Ken Kizer, hatte sie im Jahr 1988 im
Blick auf die heimischen Obst- und Gemüseplantagen initiiert.
Die kalifornischen Farmer, die etwa die Hälfte der in den USA
produzierten Obst-, Nuss- und Gemüsevorräte anbauten, waren
auf der Suche nach neuen Märkten, als sie im
Gesundheitsministerium einen eifrigen Vertreter ihrer
Interessen fanden. Zur gleichen Zeit häuften sich die
wissenschaftlichen Beweise, dass unser Lebensstil in vielerlei
Hinsicht das Krebsrisiko erhöhte. Nennen wir es eine glückliche
Ehe zwischen Wissenschaft und Kommerz.
Kizer zufolge zeigte sich »Mitte, Ende der 1970er-Jahre immer
deutlicher, dass unsere Ernährung bei der Vermeidung von
Krebs, Herzerkrankungen und anderen gesundheitlichen
Problemen eine wichtige Rolle spielte«. [45] Ein hochkarätiges
wissenschaftliches Gutachten stellte im Jahr 1981 fest, dass
Übergewicht und Tabakkonsum das Krebsrisiko deutlich
erhöhen. [46] Selbst damals war sich die Forschung einig:
Ausschlaggebend für das Risiko, an Krebs zu erkranken, waren
die allgemeine Ernährungsqualität und ob man rauchte.
Über das Essen von Obst und Gemüse gab es zu dieser Zeit
jedoch sehr unterschiedliche Meinungen und nur wenige
belastbare Zahlen. Aber Kizer ließ sich davon nicht abschrecken.
Er brachte das National Cancer Institute (NCI) dazu, eine
Kooperation mit der kalifornischen Agrarindustrie einzugehen,
die dann in die Gründung einer Stiftung mündete, der Produce
for Better Health Foundation. Gemeinsam entwarfen sie eine
Kampagne, die sich »5 A Day for Better Health« (»Fünf am Tag
für deine Gesundheit«) nannte. Wie schon oft in den
vorangegangenen Jahrzehnten wurde Kalifornien zum Vorreiter:
Die Idee verbreitete sich landes- und schließlich weltweit. Am
Ende wurde sie sogar von der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) aufgegriffen.
In den Worten des NCI: Die Zahl Fünf war unmissverständlich,
einprägsam und umsetzbar. Sie blieb hängen. Außerdem hatten
die Initiatoren das Glück, dass die Zahl sogar ungefähr stimmte:
Eine zusammenfassende Auswertung verschiedener Studien
stellte im Jahr 2014 fest, dass sich die Sterblichkeit mit jeder
weiteren täglich konsumierten Portion Obst oder Gemüse
geringfügig verkleinerte – bis hin zu ungefähr fünf Portionen.
[47] Weiteres Obst und Gemüse zu sich zu nehmen senkte das
Krebsrisiko nicht weiter.
Der anfängliche Optimismus bezüglich der Kampagne war
groß. Journalisten wurden mit Informationen versorgt. Man
entwarf Werbefilme mit niedlichen Cartoons und eingängigen
Melodien. Supermärkte kennzeichneten Waren aus geprüfter
Produktion mit Aufklebern und Schildchen. Schulklassen gingen
gemeinsam in Supermärkte. Eine landesweite »Fünf am Tag«-
Woche sollte die Botschaft weiterverbreiten. Rezeptbüchlein
wurden verteilt. Und der Aufwand lohnte sich. Allen verfügbaren
Erhebungen zufolge wurde die Bildungskampagne ein
erstaunlicher Erfolg. Im August 1991, direkt vor Beginn der
Kampagne, hatten das NCI und die Obst- und Gemüsebauern eine
Telefonumfrage durchgeführt. Etwa 8 Prozent der
Amerikanerinnen und Amerikaner wussten, dass man pro Tag
mindestens fünf Portionen Obst oder Gemüse essen sollte. [48]
Im Jahr 1997 sahen die Ergebnisse vollkommen anders aus:
39 Prozent der Amerikaner kannten die »Fünf am Tag«-
Empfehlung. Auf eine solche Kampagne wäre jeder
Politikberater stolz.
Aber dieses Buch handelt nicht von Bildungskampagnen und
Marketingstrategien. Es ist ein Buch darüber, wie man sein
Leben verändert. Entsprechend ist die interessante Frage: Wie
handelten die Leute? Der Zweck der Kampagne bestand darin,
Menschen dazu zu bringen, mehr Obst und Gemüse zu essen.
Gelang das?
In der Anfangsphase der Kampagne, zwischen 1988 und 1994,
aßen etwa 11 Prozent der Amerikaner ihre täglichen fünf
Portionen Obst oder Gemüse. [49] Beinahe ein Jahrzehnt später …
waren es noch immer 11 Prozent. Ein Bewusstseinswandel hatte
tatsächlich stattgefunden – eine Verhaltensänderung jedoch
nicht.
Die US-Regierung reagierte darauf, indem sie die Ansprüche
höherschraubte. Vielleicht waren fünf Portionen Obst oder
Gemüse zu wenig? Heute lautet die empfohlene Zahl »so viel wie
möglich«. Entsprechend heißt die Kampagne seit 2007 »fruits &
veggies – more matters«, und inzwischen wurde der ganze
September zum »Obst und Gemüse – je mehr, desto besser«-
Monat deklariert.
[2]
[3]
–
Benennen Sie die Tiere in der folgenden Bildreihe. Das ist leicht,
oder? Man blickt einfach auf die Tiere und sagt, wie sie heißen.
Bei so einfachen Bildern kann man sich kaum irren.
Wahrscheinlich sind Sie der Meinung, dass Sie zur Identifikation
der Tiere lediglich die Bilder anschauen müssen. Der
geschriebene Name steht nur zur Sicherheit da. Eine
Herausforderung ist das höchstens für Kinder.
[4]
[5]
Die Welt ist komplizierter als der Testraum eines Labors, und
ihre Verlockungen sind oft verführerischer als ein einzelnes
Marshmallow. Wir müssen uns genauer ansehen, was im
richtigen Leben als Selbstkontrolle durchgehen würde, damit wir
verstehen, was sie wirklich ist und wie sie erfolgreich eingesetzt
werden kann.
Lassen Sie uns mit einem Selbsteinschätzungstest beginnen.
June Tangney, Roy Baumeister und Angie Boon haben eine
Selbstauskunftsskala entwickelt, um die Selbstkontrolle von uns
allen zu erfassen. [73] Diese häufig eingesetzte Skala testet ihrer
Auskunft nach unsere »Fähigkeit, uns über innere Impulse
hinwegzusetzen oder sie zu verändern und unerwünschte
Verhaltenstendenzen zu unterbrechen und zu unterlassen«.
Die in dem Selbsttest gestellten Fragen lassen sich in zwei
Hauptgruppen unterteilen. Eine konzentriert sich auf
Selbstdisziplin (bzw. ihren Mangel): »Ich bin gut darin,
Versuchungen zu widerstehen« und »Wenn etwas schlecht für
mich ist, lehne ich es ab« beziehungsweise »Ich bin faul« und
»Ich platze immer gleich mit dem heraus, was mich gerade
bewegt«. Die andere Gruppe von Fragen handelt von der
Fähigkeit, wichtige praktische Ziele zu erreichen (auf welchem
Weg auch immer): »Ich ernähre mich gesund«, »Ich halte
Ordnung« und »Ich bin pünktlich«.
Tausende von wissenschaftlichen Untersuchungen haben mit
dieser Skala gearbeitet. Ähnlich wie der Marshmallow-Test
(jedenfalls der, in dem die jeweilige Verlockung sichtbar ist) zeigt
sie, dass Menschen mit einer guten Selbstkontrolle im Leben
erfolgreicher sind als andere.
An der Universität bekommen Studierende, die beim Thema
Selbstkontrolle gut abschneiden, bessere Noten. [74]
Was Partnerschaften angeht, fangen Menschen, die auf der
Skala höher abschneiden, mit geringerer Wahrscheinlichkeit
Streit an. [75] Selbst die perfekteste Partnerin kommt ab und an
zu spät zu einer Verabredung, vergisst ein Versprechen oder
missachtet die Bedürfnisse von anderen. Menschen, die auf der
Skala höher abschneiden, werden in solchen Situationen nicht
wütend, sondern können ihrem Gegenüber verzeihen.
Eltern mit einer besseren kognitiven Kontrolle lassen ihren
Kindern auf verlässlichere Art und Weise Unterstützung und
Fürsorge zukommen. Wenn Kinder verrücktspielen, was sie
manchmal unweigerlich tun – sie sind trotzig, pfeifen auf die
Ratschläge ihrer Eltern oder verhalten sich einfach mürrisch und
feindselig –, können Eltern auf sehr unterschiedliche Weise
reagieren. Wer als Vater oder Mutter eine bessere
Kontrollfähigkeit besitzt, ist besser in der Lage, flexibel zu
reagieren und dafür zu sorgen, dass die Situation nicht
eskalierte. [76] Sie können ihren Kindern dabei helfen, mit ihren
Gefühlen umzugehen und aus frustrierenden Situationen zu
lernen.
Menschen, die bei dem Test besser abschneiden, haben eine
höhere Kreditwürdigkeit und legen mehr Geld für die Rente
zurück, wie Untersuchungen aus Schweden zeigen. Sie
begleichen ihre Kreditkartenschulden und behalten ihre
Ausgaben im Auge. [77]
Wer auf der Skala weiter oben landet, ist außerdem auch
gesünder und schlanker. Bei einer Studie, die Menschen in der
Schweiz über vier Jahre begleitete, ernährten sich die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit besserer Selbstkontrolle
gesünder, aßen seltener mehr, als sie brauchten, und schafften es
besser, das empfohlene Gewicht zu halten. [78]
[7]
Unsere Studie stellte die gängige Meinung auf den Kopf. Wir
glauben gemeinhin, dass Gesundheit, Glück und Erfolg mithilfe
von Überlegung und Willenskraft zu erreichen sind. Eigentlich
müsste der Genuss verbotener Süßigkeiten (wie M&M’S und
Marshmallows) die Handlung sein, die kaum Nachdenken
erfordert. Doch wenn man die richtigen Gewohnheiten hat, ist
das Gegenteil der Fall. Gerade dann, wenn man aufhört zu
denken, dass man von seinen Plänen und Zielen abkommen
könnte.
Wenn Sie wissen, wie man Gewohnheiten etabliert, dann kann
vernünftiges Handeln gewissermaßen zu Ihrer
Standardentscheidung werden. Und Ihr besseres Ich, Ihre
Gewohnheit, hat immer dann das Sagen, wenn Sie nicht
nachdenken.
Samuel Beckett
Mit Magie hat das nichts zu tun: Je teurer die Zigaretten werden,
desto weniger können wir sie uns leisten.
Welche Auswirkungen die Umgebung auf das Rauchen hat,
wird besonders deutlich, wenn man die zusätzlichen Gesetze
betrachtet, die verabschiedet wurden. Wir haben schon gesehen,
dass die Tabakindustrie ab 1970 im Fernsehen keine Werbung
mehr schalten durfte. Aber das war noch längst nicht alles.
Läden dürfen in fast allen Bundesstaaten ebenfalls keine
Zigarettenwerbung mehr machen oder die Packungen so
auslegen, dass die Kunden sie sich selbst nehmen können. Die
Käufer müssen einen Angestellten bitten, ihnen eine der
Packungen zu geben, die hinter dem Schalter aufgestellt sind.
Wir haben alle schon in einer Warteschlange gestanden und
mit angehört, wie jemand ungeschickt versuchte, der
Verkäuferin zu erklären, was er haben will: »Eine Schachtel
Camel Blues … Nein, die nicht, die 99er … Nein, nicht die, gleich
über denen – die 99er Lights.« Bei jedem Zigarettenkauf so
agieren zu müssen wird zu einem weiteren Hindernis.
Aber reichen solche Veränderungen tatsächlich aus, um den
Konsum von etwas, das so süchtig macht wie Zigaretten,
drastisch zu senken? Von Nikotin wird man so schnell abhängig,
kann es wirklich sein, dass ein paar Unbequemlichkeiten
dagegen ankommen?
In einer Studie mit 475 Rauchern in Washington, D. C., die
gerade aktiv versuchten aufzuhören, wurde untersucht, welchen
Einfluss bestimmte Umweltreize, die mit Tabak zu tun hatten,
auf ihren Vorsatz hatten. [112] In dem Monat, in dem die Studie
lief, berichteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer jeden
Abend, wie groß an diesem Tag ihr Verlangen nach einer
Zigarette gewesen war. Wie zu erwarten, wurden viele von ihnen
rückfällig und begannen an einem der Tage, an denen ihr
Verlangen besonders groß war, wieder mit dem Rauchen. Diese
Art von sehnsüchtiger Gier kann unser Bewusstsein komplett
ausfüllen und unsere Entscheidungen vollständig bestimmen.
Aber das war nicht das Neue an dieser Studie. Die angehenden
Nichtraucher waren damit einverstanden, dass ihr jeweiliger
Standort über ihre Mobiltelefone nachverfolgt wurde. Die
Umgebung von D. C. ist mit einer Geocodierung versehen, sodass
die Forscher sagen konnten, wann die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer sich in der Nähe von Läden befanden, in denen
Tabak verkauft wurde. Die Studienteilnehmer besuchten diese
Läden aus ganz unterschiedlichen Gründen, unter anderem, um
zu tanken, Lebensmittel einzukaufen oder eben sich eine
Schachtel Zigaretten zu holen.
Wenn Sie so ticken wie die allermeisten Menschen, dann
stellen Sie sich einen Rückfall etwa so vor: Nach einem langen
Kampf greifen Sie irgendwann doch zur Zigarette. Das Verlangen
ist immer stärker geworden … bis Sie den Kampf schließlich
verloren haben. Die Forscher hatten erwartet, dass so ein
Rückfall immer dann auftreten würde, wenn das Verlangen mit
einer Kaufmöglichkeit zusammenträfe. Man muss nur die beiden
Seiten vertauschen, und schon hat man die Rückfallvorstellung
meiner Cousine, die so gerne mehr Sport treiben würde: Ihr
Wille zum Joggen wird kleiner und kleiner und verliert
schließlich den Kampf gegen ihren Wunsch, sich einfach nur
auszuruhen. Diese Vorstellungen klingen überzeugend, aber sie
beschreiben unser Festhalten an Gewohnheitshandlungen nicht
adäquat. Eigentlich beschreiben sie nur, wie wir auf temporäre
Versuchungen reagieren.
Was das Rauchen betrifft, funktionierte der Rückfall in
Wirklichkeit wie folgt: Die Probanden betraten einen Laden,
wobei sie nach eigener Aussage keinerlei Sehnsucht nach einer
Zigarette verspürten. Das bedeutet, dass sie als Antwort auf die
Frage »Wie dringend möchten Sie in diesem Augenblick
rauchen?« die Null beziehungsweise »überhaupt nicht«
angekreuzt hatten. Wenn in dem Laden jedoch Zigaretten
verkauft wurden, waren die angehenden Nichtraucher
bestimmten, ihnen sehr vertrauten Kaufanreizen ausgesetzt.
Vielleicht waren sie Zeuge, wie jemand anders eine Schachtel
kaufte. Vielleicht entdeckten sie ihre Lieblingsmarke an ihrem
normalen Platz hinter dem Tresen. Allein diese Reize führten zum
Rückfall, und die Probanden verließen den Laden mit einer
Schachtel Zigaretten in der Hand. Und fingen wieder an zu
rauchen.
Die Konsequenzen für die Nichtrauchergesetzgebung sind klar:
Wir brauchen Gesetze, die Kaufanreize an der Kasse
eindämmen. Keine Zigarettenautomaten mehr, an denen man
sich beim Betreten eines Restaurants eine Schachtel ziehen kann.
Keine Werbung, bei der auf Bildschirmen Zigaretten gezeigt
werden. Keine Bars, in denen die anderen Leute rauchen. Trotz
des enormen Suchtpotenzials von Nikotin spielen bei der Frage,
ob wir rauchen oder nicht, die Auslösereize in unserer täglichen
Umgebung eine enorme Rolle. Der Kontext erleichtert oder
erschwert das Rauchen auf eine Weise, die unser bewusstes Ich
nicht versteht. Wenn man die Rauchumgebung stört, stört man
das Rauchen. Wenn wir uns gegen die Verheerungen des
Tabakmissbrauchs zur Wehr setzen wollen, sollten wir es
vermeiden, sein stärkstes Bollwerk, die Sucht, frontal anzugehen;
viel besser ist es, an der Flanke anzugreifen und der
Abhängigkeit den Weg abzuschneiden.
Die Eindämmung des Rauchens war ein erstaunlicher Erfolg.
Wir können viel daraus lernen.
Ein Teil des Drucks, dem wir ausgesetzt sind, kommt aus
unserem eigenen Innern, in Gestalt unserer Ziele, Gefühle und
Einstellungen. Das ist der Teil unserer Welt, unserer
Lebensräume, der uns als Individuen widerspiegelt. Wenn Sie
zum Beispiel anfangen wollen, mehr zu schlafen, dann ist dieser
Wunsch eine Kraft, die Sie dazu antreibt, früh ins Bett zu gehen
und alle Bildschirme aus dem Schlafzimmer zu verbannen.
Wenn Sie eines Abends beschließen, dass Sie heute bis spät in die
Nacht arbeiten müssen, dann ist das im Blick auf Ihren
Nachtschlaf eine Gegenkraft: etwas, das Sie wachhält.
Nach Lewin produzieren nun auch die Kontexte, in denen wir
uns befinden (und die er »Umgebungen« nannte), Kräfte, die auf
unser Verhalten einwirken.
Kontext meint alles in der Sie umgebenden Welt – abgesehen
von Ihnen selbst. Es schließt den Ort ein, an dem Sie sich
befinden, die Menschen, mit denen Sie zusammen sind, die
jeweilige Tageszeit und die Handlung, die Sie schon ausgeführt
haben. Sogar Ihr Mobiltelefon ist ein Kontext, der sowohl einen
physischen als auch einen virtuellen Raum außerhalb Ihrer
selbst repräsentiert. Dies sind die äußeren Kräfte, die unsere
Handlungen antreiben oder ihnen widerstreben. Nach Lewins
berühmter Gleichung ist Verhalten (B für behavior) also eine
Funktion der Person und des Kontextes/der Umgebung (E für
environment). Formal würde man das so notieren: B = f (P,E).
Widerstrebende Kräfte sind eine Art Reibung, die Handeln
erschwert oder ganz verhindert. In unserem materiellen Leben
spielt Reibung eine große Rolle – wenn wir beim Autofahren auf
die Bremse treten, ein Streichholz anzünden oder die Straße
entlanglaufen, verlassen wir uns auf Reibung. Sie kommt auch
im ökonomischen Denken vor. Wirtschaftswissenschaftler
beklagen die durch Zeit, Aufwand und Kosten entstehenden
Reibungsverluste zwischen Produzenten und Konsumenten,
durch die sich Transaktionen verlangsamen und Ineffizienz
entsteht.
Lewin nutzte diese Kraftfeld-Prinzipien, um zu erklären, wann
wir unser Verhalten verändern. In seiner Terminologie sind
Nichtrauchergesetze widerstrebende Kräfte, die die Reibung für
das Rauchen vergrößern. Aber andere Aspekte unseres Kontexts
können das Rauchen auch antreiben, indem sie die Reibung
reduzieren. Sie sehen vielleicht, wie andere sich eine Zigarette
anstecken, was Sie daran erinnert, dass Sie schon eine Weile lang
nicht mehr geraucht haben. Ob eine äußere Kraft eine
widerstrebende oder antreibende Wirkung hat, also für Reibung
sorgt oder sie beseitigt, hängt davon ab, um welches Verhalten
und welche Kräfte es geht.
Wir können uns unser Leben als eigenständiges Kraftfeld
vorstellen. Ja, von einigen dieser Kräfte sind wir selbst die Quelle,
aber der Kontext um uns herum entfaltet ebenfalls eine große
Macht beim Antreiben oder Hemmen von Handlungen. Im Alltag
nutzen wir bewusst die Vorteile von Reibungsreduzierern. Wir
wissen, dass es leichter ist, Geld zu sparen, wenn wir einen
Dauerauftrag von unserem Konto auf ein Sparkonto einrichten.
Obwohl es am Anfang wehtut, bemerken wir irgendwann nicht
mehr, dass wir weniger Gehalt in der Tasche haben. Indem wir
eine antreibende Kraft automatisieren, legen wir von jedem
Gehalt, das uns ausgezahlt wird, einen Teil zurück.
Die werbenden Appelle gehören zu den am deutlichsten
sichtbaren Kräften in unserem alltäglichen Kontext. Eine
klassische antreibende Kraft, die erdacht wurde, um die Reibung
beim Kauf zu reduzieren, ist die Frage: »Möchten Sie Pommes
dazu?« Diese einfache Nachfrage, die beim Kauf von Fast Food
immer am Ende einer Bestellung kommt, führt dazu, dass wir
mehr Frittiertes essen. Denn es kommt vor, dass wir uns dabei
ertappen, wie wir Ja sagen, ohne dass wir das eigentlich
vorgehabt hatten.
Antreibende Kräfte sind auch für das exzessive Glotzen von
Netflix- oder Hulu-Serien verantwortlich, denn die nächste Folge
beginnt, ohne dass man auch nur einen einzigen Muskel
bewegen oder eine bewusste Entscheidung treffen müsste. Der
Medienkontext treibt uns einfach weiter zur nächsten Folge.
Einzelhändler schaffen immer neue Kräfte, die uns zum
Kaufen antreiben, indem sie Schnittstellen zwischen digitalen
und physischen Verkaufsräumen schaffen. Als Käufer kann man
einen Artikel, den man online gesehen hat, sofort kaufen und ihn
dann im nahe gelegenen Laden abholen. Die antreibenden Kräfte
verbinden die Bequemlichkeiten des Onlineshoppings mit seinen
sofortigen Kaufmöglichkeiten mit der vorteilhaften Möglichkeit,
die Transportkosten einzusparen. Die Ladenbesitzer profitieren
dabei sowohl von Ihrem unmittelbaren Onlinekaufimpuls als
auch davon, dass Sie möglicherweise weitere Artikel kaufen,
wenn Sie zum Abholen in den Laden kommen. Inzwischen gibt
es für das Aussuchen und Kaufen über die unterschiedlichsten
Kanäle sogar einen Namen: kanalübergreifendes Geschäftsmodell
oder Omnichannel Retail.
Mitfahrunternehmen wie Uber oder Lyft basieren auf dem
Prinzip der niedrigen Reibung. Wie Professor M. Keith Chen, der
ehemalige Leiter der Wirtschaftsforschungsabteilung bei Uber,
mir erklärte, [114] sollte »es ein Produkt werden, bei dem man
nur einen einzigen Knopf drücken muss. Wenn man die App
öffnet, weiß das GPS Ihres Smartphones sofort, wo Sie sich
befinden … Sie müssen noch nicht einmal selbst darüber
nachdenken. Sagen Sie einfach per Knopfdruck: ›Ich brauche
eine Mitfahrgelegenheit.‹ Das Auto kommt, Sie steigen ein, Sie
sagen dem Fahrer, wohin Sie müssen, Sie steigen aus, ohne mit
Bargeld hantieren zu müssen. Das war die ursprüngliche App.
Man sah nie irgendeinen Preis.«
Weiter sagte er: »Alle nannten das ›reibungslos‹, das war ein
sehr beliebter Begriff im Silicon Valley. Es soll wie Zauberei
aussehen. Und für die frühen Nutzer war es Zauberei. Ich kann
einen Knopf auf meinem Telefon bedienen, und plötzlich hält
neben mir jemand und bringt mich, wohin ich will? Das ist
unglaublich.«
Aber die temporären Preisaufschläge veränderten alles. »Aus
der Perspektive der Fahrgäste war das psychologisch falsch«,
sagte Chen. »Es wirkte wie eine Strafe. Es machte das
reibungslose Muster kaputt. ›O Mann, da erscheint dann plötzlich
ein roter, blinkender Pfeil, und ich muss mich plötzlich fragen:
›1,6-mal der normale Preis? Was passiert hier?‹« Uber änderte
also seine Preispolitik. »Heute sehen die Fahrgäste nur den
Gesamtpreis. Der lächerlich hohe Aufschlag wird nicht mehr
angezeigt. Nun heißt es bloß: ›Hey, Sie wollen von A nach B
kommen, das macht dann 11,64 Dollar.‹«
Lewins Entdeckungen über Kontexte als Kraftfelder haben
mehr Einfluss, als er jemals erwartet hätte. Er hatte antreibende
und widerstrebende Einflüsse erkannt, die wir zu unserem
Vorteil nutzen können.
Es gibt wohl kaum einen Kontexteinfluss, den wir besser in
unser Leben einbauen können als simple räumliche Nähe. Nähe
bestimmt über die äußeren Kräfte, denen wir ausgesetzt sind,
wir lassen uns auf das, was in unserer Nähe ist, besser ein und
neigen dazu, das, was weiter weg ist, zu ignorieren.
Kontrollierte Laborexperimente unterstreichen die Wichtigkeit
der räumlichen Nähe für das, was wir essen. Stellen Sie sich vor,
Sie kommen in eine Laborküche, um an einem Geschmackstest
teilzunehmen. Der Interviewer begleitet Sie nach drinnen und
verlässt dann den Raum, indem er sagt: »Ich komme gleich mit
ein paar Fragebögen wieder. Ach so, das Essen ist für Sie, falls Sie
etwas mögen.« Es gibt zwei Schüsseln, eine ist voll mit
gebuttertem Popcorn. In der anderen sind geschnittene Äpfel. Sie
werden für sechs Minuten allein gelassen.
An einem Tag steht die Schüssel mit Popcorn in Reichweite auf
dem Tisch, etwa dreißig Zentimeter von Ihnen entfernt, während
die Apfelscheiben auf einer Anrichte stehen – gut sichtbar, aber
um etwas davon zu essen, müssten Sie aufstehen. An einem
anderen Tag, an dem Sie wegen der Studie im Labor sind, stehen
die Äpfel auf dem Tisch und das Popcorn auf der Anrichte.
Was tun Sie also? Sie dürfen alles essen, und es erscheint
logisch, dass Sie von dem, was Sie wirklich wollen (vermutlich
Popcorn), mehr essen, egal, wo die entsprechende Schüssel steht.
Aber hier haben wir wieder so einen Fall, in dem unser
Bauchgefühl einfach nicht stimmt. [115] Wie viel mehr Popcorn
würden Sie essen, wenn Sie nicht aufstehen müssten, um es sich
zu nehmen? Laut Studie: sehr viel mehr. Die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer aßen etwa 50 Kalorien, wenn die Äpfel in
Reichweite standen, aber etwa dreimal so viel, wenn die Schüssel
mit Popcorn auf dem Tisch stand. In dieser Studie war die
Reibung etwas ganz Einfaches – räumliche Entfernung. Den
kalorienreichen Snack auch nur ein bisschen außer Reichweite
zu stellen erzeugte beträchtliche Reibung. Die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer konnten das Popcorn noch immer sehen und
riechen, aber die Entfernung war ausreichend, um sie vom Essen
abzuhalten.
Genau diese Reibung konnte ich bei einer Fachkonferenz zum
Thema Gewohnheit, die ich jedes Jahr im Sommer veranstalte, in
der Praxis beobachten. In einem Jahr nahmen besonders viele
Europäer teil. Ich bat um zusätzliches Obst, weil ich beobachtet
hatte, dass es in Europa viel lieber gegessen wird als in Amerika.
Der Caterer brachte daraufhin mehr Früchte, stellte sie aber in
einer Kiste an den Rand des Tisches, und die Leute mussten sich
strecken, um sich ein Stück Obst zu nehmen. Als mir das klar
wurde, stellte ich das Obst so hin, dass man leicht herankommen
konnte. Es war sofort weg, einschließlich der überreifen
Bananen.
Dieselbe Art von Reibung durch Entfernung ist sehr
einflussreich, wenn wir uns in einer Cafeteria oder an einem
Büfett etwas zu essen kaufen. In Studien, bei denen man den
Platz, an dem die einzelnen Lebensmittel stehen, variierte,
bevorzugten die Probanden die sichtbareren und besser
erreichbaren Speisen. [116] Indem sie den Nachtisch ganz ans
Ende stellen (anstatt an den Anfang) und dafür sorgen, dass die
gesunden Lebensmittel besser zu sehen sind, können
Restaurants also durchaus beeinflussen, was die Leute essen.
Lebensmittelläden arbeiten längst mit dieser Form des
äußeren Drucks, der uns bei jedem Einkauf fest im Griff hat.
Nicht umsonst heißt es: Aus den Augen, aus dem Sinn. Wenn wir
uns bücken oder strecken müssen, ist es viel
unwahrscheinlicher, dass wir uns überhaupt für die Ware
interessieren. Wir alle haben uns an Lebensmittelgeschäfte
gewöhnt, in denen am Ende jedes Ganges Werbung platziert ist
und Grundnahrungsmittel wie Fleisch und Milch sich im
hinteren Teil des Ladens befinden, damit man erst durch
sämtliche Gänge laufen muss (und dabei die Waren anschaut, die
auf Augenhöhe platziert sind). Den gleichen Effekt haben die
verlockenden Süßigkeiten und Zeitschriften, denen man beim
Warten an der Kasse ausgesetzt ist. Können Sie sich einen
Supermarkt vorstellen, in dem Milch und Fleisch gleich am
Anfang stehen, die billigsten Waren einen Platz auf Augenhöhe
bekommen und der im Kassenbereich Äpfel anbietet? Der
Hauptzweck eines solchen Ladens wäre jedenfalls nicht der
Profit (der erreicht wird, indem man Sie und Ihre schlechtesten
Impulse ausnutzt), sondern Ihre Gesundheit und Ihr
Wohlbefinden (indem man sich an Ihren guten Vorsätzen
orientiert).
Es gäbe gute Gründe für einen solchen Laden. Stadtbewohner
essen tendenziell mehr Obst und Gemüse, je näher sie an einem
Supermarkt wohnen. [117] Das gilt besonders für
Lebensmittelgeschäfte, die Obst und Gemüse mehr Regalplatz
einräumen. [118] Auch Wochenmärkte von örtlichen Bauern sind
dafür ein gutes Beispiel. [119] Im Sommer 2010 baute das
Zentrum für nachhaltige Lebensmittel in Austin, Texas,
temporäre Marktstände in ärmeren Stadtvierteln auf, in denen
man normalerweise nicht so leicht Zugang zu frischem Obst und
Gemüse hatte. Die Forscher versuchten nicht, die Einwohner
über Gesundheitsthemen aufzuklären oder auch nur Werbung
für die Stände zu machen. Sie beobachteten einfach nur die
Auswirkungen der größeren räumlichen Nähe.
Einige Wochen bevor die Studie begann, hatten die Forscher
alle Gegenden genauer unter die Lupe genommen, die innerhalb
von knapp einem Kilometer vom Ort der geplanten Marktstände
lagen. Nur etwa 5 Prozent der Einwohner gaben zu Protokoll,
schon einmal auf einem Wochenmarkt eingekauft zu haben. Im
Durchschnitt aßen diese Leute ungefähr 3,5 Portionen Obst und
Gemüse am Tag. Die Stände wurden dann neben Schulen und
Stadtteilzentren aufgestellt, an denen auch Lebensmittelkarten
verteilt wurden (mit denen man unter anderem auf den
Wochenmärkten einkaufen konnte).
Zwei Monate später hatte beinahe ein Viertel der Einwohner,
die anfangs kontaktiert worden waren, an einem dieser Stände
eingekauft. Viel wichtiger aber war, dass sich der tatsächliche
Obstverzehr verdoppelt hatte und die Einwohner auch etwas
mehr grünen Salat aßen, genau wie Gemüse und Tomaten (für
frische Salsa, schließlich waren wir in Texas). Im Schnitt
steigerten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Umfrage
ihren Konsum von frischem Obst und Gemüse um etwa
10 Prozent, auf über vier Portionen. Die Läden in unserer
unmittelbaren Nachbarschaft könnten offenbar viel für die
Gesundheitsvorsorge tun.
Kann etwas so Simples wie räumliche Nähe die Leute auch
dazu bringen, mehr Sport zu treiben? Zwischen Februar und
März 2017 sah sich eine Firma, die auf Datenanalyse spezialisiert
ist, diese Frage genauer an, indem sie die Handydaten von 7,5
Millionen Geräten auswertete (ja, unsere Telefone werden
ständig auf diese und andere Weise angezapft, auch wenn uns
das erst langsam ins Bewusstsein dringt). Bei Menschen, die ein
Mobiltelefon besaßen, wurde geschaut, wie weit sie es zu dem
Fitnessstudio hatten, bei dem sie angemeldet waren. [120] Leute,
die eine mittlere Entfernung von sechs Kilometern zur Halle
zurücklegen mussten, gingen fünfmal im Monat oder öfter zum
Sport. Diejenigen, die acht Kilometer zurücklegen mussten,
gingen nur einmal im Monat. Diese scheinbar kleine Differenz –
zwei Kilometer – trennte die, die eine feste Sportgewohnheit
hatten, von denen, die nur selten ins Fitnessstudio gingen.
Unserer bewussten Überlegung erscheint eine so kurze Distanz
als ausschlaggebende Grenze unlogisch. Aber die zwei Kilometer
hatten nun einmal einen ganz entscheidenden Einfluss darauf,
ob Menschen sich angewöhnt hatten, regelmäßig Sport zu
treiben.
Räumliche Entfernung könnte sogar Auswirkungen darauf
haben, mit wem Sie Freundschaft schließen. Eine klassische
Studie von 1950 wertete die Freundschaften aus, die sich unter
260 verheirateten Veteranen in einem Studentenheim des
Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelt hatten.
[121] Am Anfang des Semesters wurden den Teilnehmerinnen
und Teilnehmern per Zufallsprinzip ihre Apartments in den
kleinen, zweistöckigen Häuserblocks zugewiesen. Die Forscher
maßen die Entfernung zwischen den Wohnungstüren. Dann
verfolgten sie, wer sich mit wem anfreundete.
Mit wem sich die Studierenden bekannt machten und mit wem
sie Freundschaften schlossen, hing dabei nicht im Geringsten
vom Zufall ab. Es gab eine sehr viel höhere Wahrscheinlichkeit,
dass sie sich mit den Nachbarn anfreundeten, mit denen sie Tür
an Tür oder auf einem gemeinsamen Korridor wohnten, als mit
Nachbarn aus einem anderen Stockwerk. Die Bewohner von
Wohnungen, die durch die geringe Entfernung von nur fünfzig
Metern voneinander entfernt lebten, wurden dagegen niemals
Freunde. Das Ganze ging so weit, dass die Leute, die in einem
Apartment lebten, das am Ende eines Korridors lag, weniger
beliebt waren, weil sie weniger Leute trafen, die an ihrer
Wohnung vorbeiliefen. Die einzigen Studierenden, die sich mit
Leuten von anderen Fluren anfreundeten, waren die, die in der
Nähe der Treppenhäuser wohnten.
Wenn man darüber nachdenkt, kann man aus dieser Studie
schließen, wie wir äußere Kräfte zu unserem sozialen Vorteil
nutzen können. Wenn Sie gerade dabei sind, in eine andere Stadt
zu ziehen, und neue Leute treffen wollen, dann können Sie sich
dabei sowohl von antreibenden als auch von widerstrebenden
Kräften helfen lassen. Eine Wohnung, die nahe an einem
gemeinschaftlich genutzten Eingang liegt, wird Sie auf natürliche
Weise mit anderen in Kontakt bringen. In einem neuen Job kann
die Wahl eines zentral gelegenen Schreibtisches (vielleicht sogar
in der Nähe der Kaffeeküche) Reibung reduzieren, wenn es um
das Kennenlernen von Kolleginnen und Kollegen geht. Falls Sie
Kinder haben, reduzieren diese auf ganz natürliche Weise
Reibung, indem sie Sie über ihre Schulaktivitäten mit dem
Stadtviertel in Kontakt bringen. Sie können sich diese Kräfte wie
eine Art »Strömung« vorstellen, die Sie zu den erwünschten
Erfahrungen hin- und von den unerwünschten wegtreibt. [122]
Die Reibung, für die andere Menschen sorgen können, ist auch
bei dem schon fast fanatischen Bekenntnis zur körperlichen
Fitness Thema, das unter den Kadetten von Militärakademien
üblich ist. Etwa 35 000 Kadetten der U. S. Air Force Academy
wurden zufällig ausgelost, um in Gruppen zusammenzuleben,
wodurch sie eine natürliche Versuchsanordnung bildeten, in der
sie sich nicht ausgesucht hatten, mit wem sie ein Zimmer teilten.
[125] Faulere Kadetten konnten also nicht beschließen, mit
gleichgesinnten zusammenzuleben. Wegen der Zufälligkeit, mit
der sie zusammengewürfelt worden waren, waren in einigen
Einheiten Kadetten, die in der Highschool höhere Fitnesswerte
erreicht hatten, und in anderen welche, die dort schlechter
abgeschnitten hatten – obwohl insgesamt natürlich alle ziemlich
fit waren.
Die Studierenden verbrachten den Großteil ihrer Zeit im
Kontakt mit den dreißig anderen Kadetten ihrer Einheit. Sie
lebten in nebeneinanderliegenden Schlafräumen, aßen
zusammen, lernten zusammen. Und im Laufe der ersten beiden
Jahre war es tatsächlich so, dass die Studierenden mit
niedrigeren Fitnesswerten, sobald sie in die Academy
aufgenommen worden waren, die Fitness der anderen Mitglieder
ihrer Einheit beeinträchtigten. Das heißt, es war
wahrscheinlicher, dass Kadetten durch den halbjährlichen
Fitnesstest fielen, wenn sie in einer Einheit waren, in der die
durchschnittlichen Fitnesswerte aus der Highschool niedrig
waren.
Wahrscheinlich ahmten die Kadetten sich gegenseitig in ihren
Work-out-Programmen nach. Als Gruppe trainierten sie
entweder hart oder relativ entspannt. Es ist davon auszugehen,
dass hier externe Kräfte am Werk waren und nicht Konkurrenz,
eine bestimmte Form der Anführerschaft oder andere
Gruppendynamiken, denn der Einfluss von anderen ging meist
nur in eine Richtung: Weniger fitte Kameraden zogen die
Testergebnisse der gesamten Einheit nach unten, während die
fitteren Kadetten die Testergebnisse ihrer Gruppe nicht im
selben Ausmaß erhöhten. Mit der Möglichkeit, sich weniger
sportlichen Kameraden bei sitzenden Tätigkeiten anzuschließen,
indem vielleicht ein Film angeschaut oder Videospiele gespielt
wurden, kamen soziale Kräfte zum Tragen. Ihre extrem
sportlichen Freunde auf einen 16-Kilometer-Lauf zu begleiten
war für Kadetten, die selbst nicht so fit waren, einfach sehr viel
schwieriger.
Lewin wusste um die Wichtigkeit sowohl der Person als auch des
Kontextes, in dem sie lebt. Aber wenn es darum geht, unser
eigenes Verhalten zu verstehen, sind wir nicht immer so
einsichtsvoll. Wir neigen dazu zu unterschätzen, wie sehr unsere
Handlungen von den Kontexten um uns herum beeinflusst
werden. Stattdessen haben wir oft ausschließlich
Aufmerksamkeit für den Prozess unserer inneren
Entscheidungsfindung. Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben,
nennt man das weitverbreitete Gefühl, alles selbst in der Hand
zu haben, introspektive Illusion.
Was genau taten Sie, als Sie zum letzten Mal versucht haben,
Ihr Verhalten zu verändern? Wahrscheinlich dachten Sie
darüber nach, was Sie falsch machten und warum Sie es ändern
wollten. Sie konzentrierten sich auf Ihren Wunsch, auf der Arbeit
erfolgreich zu sein, eine glückliche Ehe zu führen oder finanziell
auf sicheren Füßen zu stehen. Sie verhielten sich so, als wären
Ihre Wünsche am Ruder.
Der Glaube an den freien Willen hat viele Vorteile. Er gibt uns
das Vertrauen, dass wir die Herausforderungen des Lebens
meistern können. Aber er verführt uns auch dazu, den
machtvollen Einfluss der von uns bewohnten physischen und
sozialen Welt zu übersehen. Unsere starken inneren Vorsätze
machen uns blind für die Reibung, die von unserer alltäglichen
äußeren Umgebung ausgeht – wir sehen nicht, dass unsere
Umgebung manche Handlungen erleichtert und andere
erschwert. Der Glaube, dass unser willentliches Ich am Ruder
sitzt, kann dabei zum Selbstbetrug werden: Wir vergessen
beinahe, dass wir einen Körper haben und dass dieser Körper in
einem Raum existiert, der von unseren alltäglichen Kontexten
durchdrungen und beeinflusst ist. Man könnte glatt übersehen,
dass das eigene Ich aus so viel mehr besteht als aus Klugheit.
Um zu erkennen, wie die introspektive Illusion arbeitet, führen
Sie sich am besten ein Experiment vor Augen, das an einer
kanadischen Universität mit 289 Studierenden aus dualen
Studiengängen gemacht wurde. [126] Alle gaben den starken
Vorsatz zu Protokoll, im Laufe des Semesters Geld zu sparen. Das
durchschnittliche Sparziel betrug mehr als 5000 Dollar, etwa ein
Drittel des Gesamteinkommens.
Kurz bevor das Studium begann, wurde den Studierenden
angeboten, an einem Programm teilzunehmen, das das Sparen
erleichtern sollte, indem Einnahmen und Ausgaben genau
festgehalten wurden. Nachdem sie eine Einführung in das
Programm erhalten hatten, sollten die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer einschätzen, ob es ihnen dabei helfen könnte, ihr
Sparziel zu erreichen. Die einhellige Antwort war Nein, das
könnte es nicht. Dabei hatte eigentlich niemand Zweifel an der
Nützlichkeit des Programms. Die Studierenden gaben vielmehr
an, dass es anderen sicher helfen würde, aber ihnen selbst nun
einmal nicht.
Trotz ihrer Zweifel wurden einige der Studierenden von den
Forscherinnen und Forschern für das Geldsparprogramm
angemeldet. Am Ende des Semesters hatten 68 Prozent von
denen, die an dem Programm teilnahmen, ihre Sparziele
erreicht. Von denen, die nicht an dem Programm teilgenommen
und es allein versucht hatten, erreichten nur 57 Prozent ihr Ziel.
Diese Differenz mag nicht besonders groß erscheinen, aber für
diejenigen, die ihr Studium allein finanzieren müssen, kann es
der Unterschied ums Ganze sein. Indem die betreffenden
Studierenden aus der Studie den Einfluss ihrer ursprünglichen
Vorsätze überschätzten, ließen sie die Gelegenheit, die Hilfe eines
solchen Programms anzunehmen, jedoch verstreichen.
Das Unterschätzen des Einflusses unserer Umwelt betrifft
manchmal noch Wichtigeres als innovative Programme zum
Geldsparen. Selbst wenn nämlich solche äußeren Kräfte sehr
stark und gut zu erkennen sind, können wir der introspektiven
Illusion zum Opfer fallen, wie eine Studie mit Studierenden aus
Stanford zeigt, die zufällig nach Paaren zusammengewürfelt
wurden, um ein Wissensspiel zu spielen. [127] Einer der beiden
wurde zufällig ausgewählt, der »Frager« zu sein: Er durfte
seinem Partner schwierige Fragen aus einem Wissensgebiet
stellen, mit dem er oder sie sich sehr gut auskannte, das
Gegenüber aber nicht, zum Beispiel: »Wofür stehen die Initialen
W. H. im Namen [des Dichters] W. H. Auden?« oder »Wie heißt
der längste Gletscher der Welt?« Das Gegenüber, das zufällig für
die Rolle des »Kandidaten« ausgesucht worden war, versuchte,
die Frage zu beantworten. Im Durchschnitt schafften es nur vier
von zehn dieser Studierenden, die schwierigen Fragen richtig zu
beantworten.
Die Spielregeln bevorzugten eindeutig diejenigen, die die
Fragen stellten, und ließen sie klug aussehen. Weil sie versuchen
mussten, Fragen zu beantworten, die sich um das Spezialwissen
des Fragers drehten, waren umgekehrt die Kandidaten
offensichtlich schwer im Nachteil. Dennoch beeinflusste die
ungleiche Rollenverteilung die Selbsteinschätzung der
Mitspielenden.
Am Ende der Studie, als die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
ihre eigene Allgemeinbildung und die ihres Spielpartners
einschätzen sollten, glaubten die Frager nämlich, dass sie
insgesamt besser informiert seien als ihr jeweiliges Gegenüber.
Überraschenderweise waren aber besonders die Kandidaten
Opfer der introspektiven Illusion. Sie hatten versucht, die Fragen
richtig zu beantworten, und waren daran gescheitert. Ihre
bewusste Erfahrung sah so aus, dass sie sich, nun ja, dumm
fühlten. Ihre Einschätzung bezog sich auf diese inneren Gefühle,
und sie gaben der Tatsache, dass die Spielregeln ihre jeweiligen
Partner klar bevorzugten und sie selbst benachteiligten, viel zu
wenig Gewicht. Weil sie wussten, dass die Fragen auf dem
persönlichen Weltwissen des Fragers beruhten, hätten sich die
Kandidaten eigentlich ganz leicht selbst entlasten können. Aber
sie taten es nicht. Sie erkannten die sichtbar wirkenden äußeren
Kräfte einer hochgradig ungerechten Situation nicht an und
fühlten sich stattdessen unzulänglich.
Wir neigen selbst dann dazu, den Einfluss der uns
umgebenden Kontexte zu übersehen, wenn wir uns in unserem
Verhalten und unserer Selbsteinschätzung auf sie beziehen. Es ist
also kein Wunder, dass wir, sobald wir versuchen, uns zu
ändern, auf unsere Willenskraft und unsere Motivation
zurückgreifen. Wir merken nicht, wie sehr unsere Handlungen
von unserer Umgebung angetrieben werden und wie groß der
Druck ist, den die Außenwelt auf uns ausübt. Aber unsere
Gewohnheiten merken es durchaus.
Anstatt sich selbst zu geißeln, wenn Sie daran scheitern, mit
purer Willenskraft gesünder, reicher oder klüger zu werden,
sollten Sie lieber Ihre Küche umräumen. Besorgen Sie sich eine
Obstschüssel. Stellen Sie sie gut sichtbar hin. Laufen Sie den
etwas längeren Weg zum Büro, um nicht an dem Laden mit den
Riesenfrappuccinos vorbeizukommen. Gehen Sie Ihrem
Kollegen, der immer Brownies mitbringt, aus dem Weg.
Vergeben Sie sich als Erstes selbst, und fangen Sie dann an, Ihr
Leben zu vereinfachen, indem Sie sich die Kontexte ansehen, in
denen Sie leben. Bei der Bildung von Gewohnheiten geht es nicht
darum, wie groß Ihre Willenskraft theoretisch ist; es geht nicht
um die Herausforderung. Und auch nicht um den Stolz, sich
gegen alle Widerstände eine gute Gewohnheit erkämpft zu
haben. Beseitigen Sie die Reibung, bringen Sie die passenden
antreibenden Kräfte zum Einsatz, und lassen Sie die guten
Gewohnheiten einfach in Ihr Leben einrollen.
7 Wiederholung
Reggie Jackson
–
Vielleicht müssen Sie dringend anfangen zu sparen. Ansonsten
ist Ihre Zahlungsfähigkeit ernsthaft in Gefahr. Gestern kam
schon die zweite Mahnung von der Kreditkartenfirma. Sie
dachten eigentlich, Sie hätten den geforderten Mindestbetrag
bezahlt, doch nein, das haben Sie offenbar nicht. Ihnen fällt auf,
dass Sie beim Abbezahlen Ihrer Schulden Rückschritte machen.
Es werden nicht weniger, sondern mehr. Und dann ist da noch
die Arztrechnung vom letzten Jahr, als Sie sich das Handgelenk
gebrochen hatten, die Sie fast komplett bezahlt haben …
jedenfalls so ziemlich. Das Krankenhaus hat schon mehrmals
gedroht, Ihren Fall einem Inkassounternehmen zu übergeben.
Und was ist eigentlich aus Ihrem guten Vorsatz fürs neue Jahr
geworden, in die betriebliche Altersvorsorge Ihrer Firma
einzuzahlen? Bisher haben Sie damit noch nicht angefangen.
Wenn Sie es wirklich tun, heißt das, dass ein weiterer Betrag von
Ihrem Gehalt abgezogen wird und Sie mit noch weniger
auskommen müssen als sowieso schon. Das Geld scheint Ihnen
einfach durch die Finger zu fließen: ein 5-Dollar-Kaffee hier, ein
Mittagessen für 12 Dollar da. Und wenn Sie mit Ihren Freunden
ausgehen, kann das schon einmal 80 Dollar kosten.
Es ist also Zeit, dass Sie Verantwortung für Ihre eigenen
Finanzen übernehmen und überlegen, wie Sie Geld für Notfälle
wie Arztrechnungen oder neue Reifen beiseitelegen könnten. Sie
wollen jetzt endlich diese Kreditkartenschulden loswerden und
anfangen, für die Rente zu sparen.
Anfangs fühlt es sich aufregend an. Sie sind stolz auf Ihren
neuen Verantwortungssinn. Sie bringen sich einen
Kaffeebehälter von zu Hause mit, um von nun an den
Firmenkaffee zu trinken. Schon mal 5 Dollar jeden Morgen
gespart!
Sie könnten sich auch Brote schmieren und sie im Essensraum
der Firma essen. Aber Sie beschließen schnell, dass Sandwiches
mit Erdnussbutter auf Dauer ziemlich deprimierend sind. Und
Sie vermissen es, mit Ihrer gewohnten Essensgruppe in der
Mittagspause nach draußen zu gehen.
Auf dem Nachhauseweg halten Sie beim Supermarkt und
versuchen, Ihre Mahlzeiten zu planen. Schinken und Schweizer
Käse sind schon mal eine Verbesserung, aber dann vergessen Sie,
Senf zu kaufen. Am nächsten Tag gibt es dann also schlechten
Kaffee und trockenes Sandwich.
Als das Wochenende kommt, entdecken Sie einen Film in
einem kostenlosen Freiluftkino. Aber niemand möchte Sie
begleiten, weil alle den Film längst gesehen haben. Müssen Sie
sich angesichts Ihres neuen Budgets nun auch noch einen neuen
Freundeskreis suchen? Sie fühlen sich wie ausgestoßen.
Wann übernimmt die Gewohnheit, damit das Ganze nicht
mehr so wehtut? Wo endet die Hölle der Entsagung und
Selbstverleugnung, wann kommt das Sparen automatisch?
Wann geschieht das Wunder?
–
Oder vielleicht besteht Ihre Herausforderung darin, dass Sie
etwas am Familienabendessen ändern müssen. Ihre Kinder
werden größer, und Sie bekommen weniger von ihrem Leben
mit. Sie werden einen Plan machen, der es Ihnen allen
ermöglicht, regelmäßig zusammen zu essen. Sie gleichen die
Kalender ab. Finden ein paar Abende, an denen alle zu Hause
sein können und an denen Sie Informationen austauschen und
sich gegenseitig von Ihrem Tag erzählen können.
Sie beschließen, dass es keine Ablenkung geben darf, wenn
Gespräche möglich sein sollen. Alle Handys werden ausgestellt.
Kein Fernseher, der im Hintergrund läuft. Kein Essen zwischen
Tür und Angel.
Beim ersten Mal ist es harte Arbeit. Als das Essen fertig ist,
müssen Sie jeden einzeln zum Tisch treiben. Niemand findet es
gut, dass die Handys ausgestellt sind. Ihr Partner unterstützt
Ihren Plan eher halbherzig, und von Ihren Kindern werden Sie
lediglich wütend angestarrt.
Dieses erste Abendessen macht das Familienleben tatsächlich
erst einmal weniger erfreulich. Sie haben ein oder zwei schlecht
gelaunte Kinder und einen etwas ratlosen Ehepartner am Tisch
sitzen. Das einzig wirkliche Gespräch dreht sich um das Thema
»Andere Eltern zwingen ihre Kinder nicht zu so was!«. Okay, Sie
hatten ja gar nicht erwartet, dass Sie alle sich sofort in Familie
Ingalls aus Unsere kleine Farm verwandeln, aber das hat wirklich
keinen Spaß gemacht.
Trotzdem bleiben Sie dran, motiviert von Untersuchungen
über die vielen Vorteile des gemeinsamen Essens. Kinder, die
beim Essen regelmäßig mit ihren Eltern kommunizieren, lassen
sich seltener auf gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen ein,
sind besser in der Schule, und bei ihnen besteht eine geringere
Wahrscheinlichkeit, dass sie übergewichtig werden. [128]
Natürlich können Sie nicht sicher sein, dass Sie das alles durch
institutionalisierte Familienmahlzeiten erreichen, aber die
Untersuchungen beflügeln Sie irgendwie.
Sie beharren auf Abendessen Nummer 2. Wieder erzählen die
Kinder keinen Ton, was Sie ziemlich stresst. Sie bringen ein paar
Themen ein, von denen Sie eigentlich dachten, dass die anderen
sie interessant fänden. (Sie haben dafür heute Morgen extra
Radio gehört.) Trotz Ihrer brillanten Konversationsversuche:
keine Reaktion.
Abendessen Nummer 3 war schwer zu planen, weil erst einmal
ein Abend gefunden werden musste, an dem alle Zeit hatten.
Sämtliche Beilagen gleichzeitig fertig zu bekommen hat diesmal
auch ziemlich Stress gemacht. Sobald alle endlich sitzen, sehen
Sie in lauter bockige, wütende Gesichter. Die Sache wird langsam
wirklich anstrengend.
Sie müssen Ihre ganze Entschlossenheit aufbringen, die noch
übrig ist, damit Abendessen Nummer 4 überhaupt stattfindet.
Inzwischen haben die Kinder einen Weg gefunden, während des
Essens so zu kommunizieren, dass die Eltern ausgeschlossen
sind. Sie müssen sich immer und immer wieder daran erinnern,
warum Sie das Ganze überhaupt machen.
Die Umsetzung Ihres wundervollen Plans scheint nicht
einfacher zu werden. Okay, manchmal beteiligt sich eins der
Kinder inzwischen kurz am Gespräch, aber danach wird aus
Protest wieder geschwiegen. Niemand hilft Ihnen.
Wann geschieht endlich das Wunder?
Thomas Edison
Unser Gehirn sieht oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wir
werden immer wieder von neuen Auslösereizen in Beschlag
genommen und können am Ende die großen Zusammenhänge,
die Welt als Ganzes, nicht mehr richtig erkennen. Einen Großteil
unseres Lebens verbringen wir in einer Art surrealer Landschaft
aus riesigen Auslösereizen, die die Proportionen der
darunterliegenden Realität zum Verschwimmen bringen.
Das folgende fantastische Gemälde von René Magritte
illustriert das Phänomen der Gewohnheitsreize (Les valeurs
personnelles / Die persönlichen Werte, 1952). Denn der Einfluss
der Reize, die unsere Gewohnheiten aktivieren, ist gigantisch. Ein
Morgen in Ihrem Schlafzimmer? Der Rasierpinsel, die Seife, das
Glas und der Kamm sind von immenser Bedeutung. Im Vergleich
dazu schrumpft das Bett. Heute wäre vielleicht noch Ihr Telefon
auf dem Nachttisch zu sehen, dessen Alarm laut piept. Zeit zum
Aufwachen. Ihr Bewusstsein registriert nichts anderes (jedenfalls
nicht bis zum ersten Kaffee).
[8]
–
Die Vorteile von Beständigkeit und Stabilität kann man an den
Leistungen von Menschen beobachten, die in einer bestimmten
Sache außergewöhnlich gut sind. Haben Sie sich jemals gefragt,
wie Musikerinnen und Musiker es schaffen, lange Musikstücke
aus dem Gedächtnis zu spielen, sodass sie sie fehlerlos im
Konzert aufführen können? Möglich wird dies durch effektives
Auswendiglernen und jahrelanges engagiertes Üben. Aber diese
Menschen starren beim Üben durchaus nicht nur aufs
Notenblatt. Versierte Musiker basteln sich beim Üben stabile
Reize in ihre Partituren. Dieser Vorgang ähnelt dem, bei dem
man lernt, sich in einer fremden Stadt zurechtzufinden: Man
zeichnet sich ganz persönliche mentale Karten, indem man
besonders auf Straßenschilder und bestimmte Gebäude achtet.
Ich konnte mit Tania Lisboa, einer professionellen Cellistin, die
außerdem Research Fellow am Royal College of Music in London
ist, länger darüber sprechen, wie sie Musikstücke einstudiert.
[183] Sie antwortete: »Vor allem junge Studierende üben [ein
Stück] vom Anfang bis zum Ende, vom Anfang bis zum Ende,
vom Anfang bis zum Ende. Ziemlich mechanisch. Wenn sie sich
verspielen, können sie nicht einfach mittendrin wieder
anfangen. Sie sind nicht in der Lage, die Abfolge von
Einzelhandlungen zu unterbrechen. Deshalb müssen sie zum
Anfang zurück und von vorne beginnen.« Anfängerinnen und
Anfänger machen es also anscheinend so, dass sie eine Partitur
in ihrem Kopf zusammensetzen und dann einfach das ganze
Stück spielen. Abgesehen vom Anfang und vom Ende gibt es
keine Reize. Das ist ungefähr so, als wenn man Sie nach der
vierten Ziffer Ihrer Telefonnummer fragte. Um sie nennen zu
können, müssten Sie die ganze Zahlensequenz von vorne
aufsagen.
Unser Gedächtnis kann uns täuschen, und wir Menschen sind
nur allzu labil und ablenkbar (davon abgesehen, dass das
Publikum in klassischen Konzerten extrem viel hustet). Aber
professionelle Musikerinnen und Musiker bleiben nicht stecken,
wenn sie kurz rauskommen oder eine Gedächtnislücke haben.
Sie setzen sich innerhalb der Partitur stabile Reize. »Auch geübte
Musiker üben ein Stück vom Anfang bis zum Ende«, sagte mir
Lisboa, »aber sie arbeiten gleichzeitig abschnittsweise. Denn
auch Teilstücke haben einen Anfang und ein Ende – man übt also
vom Beginn einer Phrase bis zum Ende dieser Phrase.« Dabei
sind ganz unterschiedliche Reize denkbar: Sie können etwas mit
dem Ausdruck zu tun haben, denn es gibt traurige und fröhliche
Passagen, oder sie beziehen sich auf Tempowechsel oder
verschiedene Bogenstriche oder Fingertechniken. »Indem man
abschnittsweise übt, strukturiert man das Stück und schafft
dadurch Stützpunkte für die Erinnerung. Während des Spielens
befindet man sich auf Autopilot, aber man hat diese
Anhaltspunkte. Solche Punkte«, sagte Lisboa, »bringen einen
zurück ins Spiel, zurück zu den einzelnen Handlungen, die man
braucht, um ein Musikstück aufzuführen und die musikalische
Idee zu vermitteln.«
Professionelle Musiker und Musikerinnen haben also
anscheinend gelernt, kleinere Abschnitte aus Kontexten und
Reaktionen zusammenzusetzen. Es wirkt sich nicht auf ihr Spiel
aus, wenn andere Musiker einen Fehler machen oder das
Publikum nicht aufhört zu husten. Sogar in der Musik sind also
Kontextreize nützlich. Durch sie kann das Spielen der Phrase, die
im Laufe des Stücks als Nächstes kommt, automatisch getriggert
werden.
Wenn wir erst einmal in die richtige Richtung blicken, müssen wir
nur noch weiterlaufen.
Joseph Goldstein
–
Mise en place funktioniert gut für Köche, aber kann diese
Methode auch Ihnen und mir helfen, die Reibung zu
kontrollieren, die unser eigenes Verhalten beeinflusst? Die
Forscherin Angela Duckworth und ihre Kolleginnen und
Kollegen baten an der University of Pennsylvania eine Gruppe
von Studierenden im Grundstudium, ihre Lernziele für die Uni
aufzulisten, zum Beispiel: »Jeden Abend eine Stunde Französisch
üben« oder »Alle Hausaufgaben immer schon einen Tag vorher
fertig haben«. [197] Einige dieser Studierenden wurden
angewiesen, ihren Arbeitsplatz eine Woche lang so umzurüsten,
dass die Möglichkeiten zur Ablenkung möglichst gering waren,
damit das jeweilige Ziel besser erreicht werden konnte. Diese
Studierenden veränderten die externen Kräfte, die in ihren
Kontexten wirkten, indem sie sich Erinnerungen oder Wecker
stellten und indem sie Online-Apps installierten, die ablenkende
Seiten wie Facebook blockierten, oder indem sie sich einen
Arbeitsplatz in der Bibliothek reservierten. So wurden
antreibende Kräfte in Gang gesetzt und widerstrebende Kräfte
beseitigt. Eine zweite Gruppe von Studierenden sollte sich
einfach auf ihre Willenskraft und ihre Fähigkeit, Versuchungen
zu widerstehen, verlassen. Und das ist genau die Art und Weise,
in der die meisten von uns erst einmal versuchen würden, eine
Sache anzupacken.
Am Ende der Woche vergaben die Studierenden Punkte auf
einer Skala von 1 (extrem schlecht) bis 5 (extrem gut), um zu
kennzeichnen, wie erfolgreich sie beim Erreichen ihrer Uni-Ziele
gewesen waren. Durchschnittlich waren alle Studierenden
ziemlich erfolgreich, aber die, die ihre situativen Kontexte
bewusst kontrollierten, schnitten einen halben Punkt besser ab
als die, die versuchten, sich einfach per Selbstkontrolle
durchzubeißen.
Situative Selbstkontrolle [198] wirkt erst einmal wie ein
indirekter Ansatz: Anstatt das anzupassen, worauf es wirklich
ankommt, nämlich unser eigenes Verhalten, verändern wir
unsere Umgebung. Genau wie den angehenden Köchen (und
meiner Cousine auf Facebook) liegt es uns intuitiv viel näher, die
Situation direkt anzugehen und an einer neuen Lösung zu
arbeiten, und die Studierenden in der oben erwähnten Studie
hatten eine ähnliche Tendenz. [199] Als man Schülerinnen und
Schüler einer Highschool fragte, wie sie in letzter Zeit ein
Problem, das die Selbstkontrolle betraf (meistens
zwischenmenschliche Konflikte oder schulische
Herausforderungen), gelöst hatten, ging es in den meisten
Antworten in irgendeiner Weise um Selbstveränderung:
38 Prozent sagten, dass sie versucht hatten, ihre Denkweise zu
verändern, indem sie sich zum Beispiel die Vor- und Nachteile
von Hausaufgaben bewusst machten und sich dadurch zu
motivieren versuchten. 24 Prozent sagten, dass sie sich
angestrengt hatten, ihre Handlungen zu verändern, zum Beispiel
indem sie per Selbstkontrolle versuchten, es einem Mitschüler,
über den sie sich geärgert hatten, nicht heimzuzahlen. Nur
16 Prozent sagten, dass sie sich bemüht hatten, etwas an einer
gegebenen Situation zu verändern, und nur 12 Prozent hatten
ihrer eigenen Aussage nach versucht, eine vollkommen neue
Situation zu schaffen.
Vielleicht wünschen Sie sich eine glücklichere Beziehung zu
Ihrem Ehe- oder Lebenspartner? Wenn Sie sich auf Motivation
und Selbstkontrolle verlassen, werden Sie vielleicht Ihren Impuls
unterdrücken, einen kritischen Kommentar abzugeben, wenn
Ihr Gegenüber etwas tut, was Sie irritiert, und stattdessen
versuchen, Wärme und Wertschätzung auszudrücken. Oder Sie
möchten aufhören, im Büro die Arbeit vor sich herzuschieben?
Wenn Sie sich auf den gleichen Ansatz verlassen, werden Sie
vielleicht den Impuls zügeln, Ihre sozialen Medien zu checken
oder mit Ihrer überaus gesprächigen Kollegin zu schwatzen. Wir
setzen uns klare Ziele und versuchen dann mit viel Aufwand,
unsere Handlungen zu kontrollieren, um diese Ziele zu
erreichen.
Aber Verhaltensänderungen durch Selbstkontrolle sind nicht
so erfolgreich wie Verhaltensänderungen durch die bewusste
Anpassung von Kontexten, wie Studierende an der University of
Pennsylvania feststellten. Selbst wenn es genauso erfolgreich
wäre (was es nicht ist), macht das Kontrollieren der eigenen
Handlungen einfach keinen Spaß. Es bedeutet, dass wir ständig
unsere eigenen Wünsche bekämpfen müssen. Es bedeutet, dass
wir unendlich wachsam sein und uns immer wieder zerknirscht
davon abhalten müssen, das zu tun, was uns in den Kopf kommt.
Wir müssen zu einer Art Branddecke auf unserem eigenen
Genuss werden.
Die Studierenden, die bei der Studie mitmachten und ihre
Arbeitsplätze veränderten, waren nicht in diesem unglücklichen
Zustand des Kriegs mit sich selbst. Nachdem sie ihre physische
und soziale Umgebung so eingerichtet hatten, dass die
Versuchung, sich abzulenken, beseitigt war, empfanden die
Studierenden ihrer eigenen Aussage nach keine nennenswerten
unerwünschten Gelüste. Zwischen den Möglichkeiten, mit
Freunden einen Film zu schauen oder für einen Test zu lernen,
waren sie schon deshalb nicht hin- und hergerissen, weil sie sich
selbst einen Bibliothekstag verordnet hatten, wo eine solche
Versuchung gar nicht existierte. Sie mussten sich nicht bewusst
dazu zwingen, das Richtige zu tun. Stattdessen taten sie das, was
in ihrer Umgebung am einfachsten war – lernen. Sie mussten
sich weder selbst beherrschen noch ihre Bedürfnisse verleugnen.
Sie brauchten sich nicht in eine Branddecke zu verwandeln, weil
es kein Feuer gab, das gelöscht werden musste.
Ich habe zwölf Jahre lang einen Honda Civic Hybrid gefahren,
der zu den ersten dieser Fahrzeuge gehörte. Ich war richtig stolz
auf meinen Wagen und wollte ihn unter keinen Umständen
loswerden. Aber mein Mann überzeugte mich irgendwann, dass
ich ein sichereres Auto brauchte. Mein neues Auto piept
warnend, wann immer ich einem Hindernis zu nahe komme. Der
Kollisionsentdeckungsmechanismus ist eine Art Reibung.
Zuerst hat mich das Piepen genervt. Ich beschwerte mich viel
über dieses Auto, vor allem bei meinem Mann. Aber irgendwann
gewöhnte ich mich daran, und jetzt höre ich es nicht einmal
mehr. Beim letzten Mal, als ich mir ein Mietauto nahm, fehlte das
Warnsystem, was mir aber nicht auffiel, bis ich beim
Rückwärtsausparken gegen eine Steinmauer fuhr. Weil die
warnenden Reize, an die ich mich so gewöhnt hatte, nicht da
waren, hatte ich plötzlich eine ziemliche Delle in der Stoßstange.
Das irritierende Piepen sorgte für nützliche Reibung, die mir, als
sie fehlte, eine ziemlich hohe Reparaturrechnung bescherte.
Wenn sie sich einmal etabliert haben, wirken die jeweiligen
Kräfte in unserer Umgebung weiterhin als Reize, die uns dazu
bringen, unsere Ziele zu erreichen. Wir können sie ignorieren
oder sie als selbstverständlich betrachten, auf jeden Fall
automatisieren sie unser Verhalten auch dann noch, wenn wir
sie längst vergessen haben. Trotzdem wird die wichtige Rolle, die
solche Kräfte für unser Verhalten spielen, von vielen Menschen
geleugnet. Sie bleiben lieber im Schützengraben und kämpfen
um ihre Motivation und Selbstkontrolle.
Erinnern Sie sich an das Ziel, die ganze Familie zum Abendessen
zusammenzubringen – zum Reden, zum Austausch, um Nähe
herzustellen? Heute ist das Ihre gewohnte Realität. Sie
etablierten die vier Grundsteine der Gewohnheit, indem Sie
1. einen stabilen Kontext schufen (einen Abend die Woche,
pünktlich um 18:30 Uhr);
2. Reibung reduzierten (mit Ihnen als der treibenden Kraft,
die die widerstrebenden Kräfte beseitigte, indem Sie
zunächst selbst kochten und auch den anschließenden
Abwasch übernahmen);
3. Belohnungen bereithielten (indem Sie an diesen Abenden
die Lieblingsessen der einzelnen Familienmitglieder
kochten und Ihren Kindern erlaubten, Freunde einzuladen,
wenn sie Lust hatten);
4. das gemeinsame Essen wiederholten, bis es sich
automatisiert hatte (und das selbst dann, als Ihre gesamte
Familie drauf und dran war, ein für alle Mal gegen Ihre
kluge Idee zu rebellieren).
Warren Buffett
–
Um derartige Unterbrechungen und Erneuerungen selbst zu
erleben, sind wir nicht auf Gewerkschaften angewiesen. Große
Lebensereignisse – ein neuer Job, ein Umzug, eine Hochzeit, die
Geburt von Kindern – haben den gleichen Effekt, und zwar jedes
Mal aufs Neue. Sie berauben uns unserer Gewohnheitsreize und
machen der Vorhersagbarkeit des Lebens ein Ende. In Kapitel 10
haben wir gesehen, dass Kontextveränderungen ein guter
Anfang sind, wenn man versuchen möchte, im eigenen Leben
etwas zu verändern. Wenn uns die vertrauten Auslösereize nicht
mehr die Richtung vorgeben, sind wir plötzlich zum Nachdenken
gezwungen und müssen völlig neue Entscheidungen treffen. In
der Praxis ist es aber sehr schwierig, ganz bestimmte Reize
bewusst aus unserem Alltag zu entfernen, was der Grund dafür
ist, warum äußere Unterbrechungen so wertvoll sind. Sie rütteln
alles durcheinander, und einen Moment lang wirbeln sämtliche
Verhaltensweisen – diejenigen, die auf Gewohnheit beruhen,
aber auch die anderen – durch die Luft und warten darauf, dass
Sie ihnen zeigen, an welchen Platz sie gehören.
Es stimmt natürlich: Große Lebenseinschnitte sind
anstrengend und sorgen für erhebliche Unsicherheit. Aber sie
bieten auch die Chance, sich selbst neu zu erfinden und sein
Leben neu zu sortieren. Wir haben plötzlich die Freiheit, neue
Verhaltensweisen einzuüben, ohne dass uns fest verankerte
Reize und eingeschliffene Reaktionen den Weg verbauen. Eine
Unterbrechung zwingt uns zum Denken. Frische Entscheidungen
sorgen für neue Verhaltensweisen – von denen einige vielleicht
viel besser funktionieren als die alten.
Unser Leben ist voll mit Gewohnheiten. Manche sind uns
bewusst, andere nicht; einige haben ihre Nützlichkeit längst
verloren, arbeiten aber weiter, oft außerhalb unseres Sichtfeldes
und unseres Bewusstseins. Größere Einschnitte im Leben
beinhalten die Chance, das Gewohnheits-Ich zu entrümpeln und
dadurch Platz für neue, bessere Gewohnheiten zu schaffen.
Vielleicht sind Sie jeden Freitagabend mit Freunden von der
Arbeit ausgegangen, um gemeinsam etwas zu essen und zu
trinken. Am Anfang hat es Spaß gemacht, Sie haben sich jedes
Mal auf diesen Abend gefreut. Aber in letzter Zeit ist Ihnen
aufgefallen, dass die Gespräche immer um die gleichen Themen
kreisen. Sie können die Geschichten, die Ihre Kollegin über ihren
Sohn erzählt, nicht mehr hören, geschweige denn das übliche
Gemecker über die letzten Neuerungen im Büro. Das Ganze geht
so weit, dass Sie jede Woche das gleiche Essen bestellen, weil Sie
die Speisekarte längst einmal durchprobiert haben. Was als
schöner Wochenendauftakt begann, fühlt sich nun an wie eine
lästige Pflicht.
Oder vielleicht lieben Sie es, dabei zuzusehen, wie die Sonne
über dem See vor Ihrem Haus untergeht. Sie finden, dass das
eine wunderschöne Art ist, den Tag zu beenden. Also machen Sie
es sich zur Gewohnheit, jeden Abend auf der Terrasse zu sitzen,
um den Sonnenuntergang zu genießen. Aber mit der Zeit wird
das ganze Schauspiel etwas weniger aufregend, und Ihre
Gewohnheit bekommt etwas Gezwungenes. Ihr Partner oder Ihre
Partnerin setzt sich schon lange nicht mehr dazu, und Sie haben
sich dabei ertappt, dass Sie die ganze Zeit darüber nachdenken,
was Sie jetzt alles tun könnten. Die Sonne untergehen zu sehen
fühlt sich plötzlich wie eine Pflicht an. Auch gute Gewohnheiten
können zum Trott werden.
Einem heute wenig bekannten französischen Philosophen aus
dem 19. Jahrhundert, Félix Ravaisson, ist es gelungen, für dieses
Phänomen einen anschaulichen Begriff zu finden. Er nannte es
das doppelte Gesetz der Gewohnheit. [210] Im Großen und Ganzen
ist damit Folgendes gemeint: Wiederholung stärkt unsere
Tendenz, etwas zu tun, aber sie schwächt auch unser Gefühl für
diese Handlung. Mit anderen Worten, wir gewöhnen uns. Es ist
ein komplexer und trügerischer Prozess, der uns die Kraft
rauben und das Gefühl der Sinnhaftigkeit nehmen kann.
Manches tun wir auch dann noch, wenn es seine Bedeutung für
uns längst verloren hat. Zwar können wir diese Dynamik für uns
nutzen, wenn wir neue Gewohnheiten ausbilden möchten, weil
sie durch die Wiederholung ihre Mühseligkeit verlieren. Aber
diese Medaille hat zwei Seiten.
So ist Gewöhnung (Habituation) einer der Gründe, warum wir
so schnell das Interesse an den materiellen Dingen verlieren, die
wir uns gekauft haben (obwohl wir uns sicher waren, dass uns
diese oder jene Sache endlich glücklich machen würde).
Natürlich fanden Sie es toll, auf Ihrem neuen Sofa zu sitzen,
nachdem es geliefert worden war, und es dem nächsten Besuch
zu zeigen fühlte sich gut an. Aber danach? Wahrscheinlich
bemerken Sie das schöne Sofa kaum noch. Es hat sich einfach
nahtlos in Ihre abendlichen Gewohnheiten eingefügt. Es gehört
im wörtlichen Sinne zum Mobiliar Ihres Lebens. Sie lassen sich
draufplumpsen, um fernzusehen oder im Internet zu surfen.
Gewöhnung tritt auch in zwischenmenschlichen Beziehungen
auf. Bestimmte Leute auf der Arbeit grüßen Sie regelmäßig, Sie
holen Ihre Kinder von der Schule ab und fragen sie, wie ihr Tag
war, und vielleicht melden Sie sich regelmäßig per Telefon oder
Textnachricht bei bestimmten Verwandten. Sie schaffen dadurch
soziale Wechselwirkungen: Andere Menschen werden zum
Auslösereiz für Ihre Handlungen, und umgekehrt lösen auch Sie
bei anderen Menschen Reaktionen aus. »Wie war dein
Wochenende?« – »Schön, und deins?« Oder: »Wie war es in der
Schule?« – »Ganz okay, Mama.« Mit der Zeit denken Sie über
solche Interaktionen immer weniger nach. Sie tun einfach das,
was Sie immer tun.
Auch langjährige Ehen sind von solchen stabilen
zwischenmenschlichen Interaktionen geprägt. Indem die
Ehepartner immer wieder die gleichen Dinge miteinander
erleben, denken sie immer weniger über ihr Verhalten nach. Sie
stehen zusammen auf, essen gemeinsam und unterstützen sich
gegenseitig, ohne sich noch viele Gedanken darüber zu machen.
Sie müssen sich nicht fragen, wie ihr Ehepartner wohl reagiert.
Sie wissen es einfach aus Erfahrung. Und während Ravaissons
doppeltes Gesetz sich geltend macht, lassen die Gefühle langsam
nach. [211] Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ehepartner
irgendwann feststellen, dass die Leidenschaft, die sie am Anfang
ihrer Beziehung füreinander gefühlt haben, verschwunden ist.
Weil die Handlungen sich stärker automatisieren, muss das Paar
weniger nachdenken, und die Gefühle flauen ab.
Was in Bezug auf Ihr neues Sofa zwar schade, aber
hinnehmbar ist, kann in einer Ehe zu einem unhaltbaren
Zustand werden. Es ist nicht okay, sich einfach nur an die
Gegenwart des Partners zu gewöhnen.
In glücklichen Ehen können Unterbrechungen die romantische
Intimität, die sich mit der Zeit immer besser versteckt hat,
manchmal wieder herbeizaubern. Eine kurze räumliche
Trennung ist eine solche temporäre Unterbrechung. Vielleicht
müssen Sie auf eine Dienstreise oder Ihre Eltern besuchen. Auch
kleine Konflikte oder Streits können eine Art Unterbrechung
darstellen, jedenfalls solange sie nicht unlösbar sind. [212] Solche
Veränderungen beflügeln die Ehepartner, über Gefühle zu
sprechen und das eigene Verhalten zu verändern. Sie denken
über den geliebten Menschen und die Beziehung zu ihm neu
nach. Das führt umgekehrt dazu, dass beide Partner anfangen,
über die Grundlagen ihrer Beziehung nachzudenken – darüber,
was ursprünglich überhaupt dazu geführt hat, dass sie sich
aufeinander eingelassen haben. Wie wahrscheinlich für die
meisten von uns war es Liebe. Dazu kommt, dass viele Paare,
wenn sie sich nach einer Trennung wiedersehen oder sich nach
einem Konflikt versöhnen, einander ihre Zuneigung besonders
deutlich zeigen – eine Zuneigung, die auch deshalb so stark
empfunden wird, weil sie sich so selten zeigt. Wenn man sich in
einer glücklichen Partnerschaft befindet, kann man aus dieser
Erkenntnis lernen. Wir können durch neue Unternehmungen
kleine Unterbrechungen schaffen (ein Segelkurs, eine Bridge-
Runde, ein Lesekreis?), die uns inspirieren, in der Partnerschaft
Neues auszuprobieren, über unsere Gefühle zu sprechen und das
Gefühl romantischer Intimität zu vertiefen. Auch ein Streit kann
diese Dynamik auslösen, aber warum nicht die schlechten
Gefühle überspringen und stattdessen gleich zusammen einen
Kochkurs besuchen?
In unglücklichen Partnerschaften haben kleine Störungen
dagegen häufig nicht diese positiven Effekte. Partner, die es
schwer miteinander haben, verstricken sich in destruktiven
Teufelskreisen, die selbst dann eine Eigendynamik gewinnen,
wenn beide Partner es gern anders machen würden. Vielleicht
können sie die schädlichen Muster sogar erkennen, aber sie
wissen nicht, wie sie sie verändern sollen. Auch an solche
Gefühle kann man sich gewöhnen, und es ist möglich, dass
Menschen, die in unglücklichen Partnerschaften leben, die
scheinbar giftigen Interaktionen noch nicht einmal als besonders
anstrengend oder traurig erleben. Vielleicht haben Sie schon
einmal Paare erlebt, die ganz offensichtlich wütend und gehässig
aufeinander reagieren, aber diese Gefühle selbst kaum noch zu
spüren scheinen. Sie haben sich mit der Zeit einfach daran
gewöhnt. Eine kleine Störung wie eine räumliche Trennung, ein
kurzer Konflikt, ein neues Erlebnis können solche Paare in sehr
unterschiedliche Richtungen treiben. Entweder sie fühlen sich
plötzlich frei, ihre problematischen Beziehungsmuster
anzugehen, oder sie trennen sich für immer.
Unterbrechungen der Gewohnheit bringen uns aus dem Trott,
indem sie die darunterliegenden Schichten aufdecken und uns
zeigen, warum wir tun, was wir tun, und warum wir gehen,
wohin wir gehen. Das Leben wird intensiver, wenn wir nicht
mehr auf Autopilot gestellt sind. Aber es wird auch weniger
vorhersehbar: Unser bewusstes Ich sitzt am Ruder, wir denken
nach, wägen verschiedene Optionen ab und versuchen
herauszubekommen, wie wir am besten an unser jeweiliges Ziel
gelangen. Aber Unterbrechungen zerstören auch alte Muster und
bringen, indem sie uns zum Nachdenken zwingen, unsere
Gewohnheiten wieder mit unseren Zielen und Plänen in
Übereinstimmung.
Für die meisten von uns ist der wöchentliche Großeinkauf eine
Effizienzübung. Als man 275 Kunden mit elektronischen Geräten
ausstattete, die ihren Weg durch den Supermarkt
nachverfolgten, stellte sich heraus, dass sie im Schnitt nur
37 Prozent der gesamten Ladenfläche abliefen. [214] Die meisten
Käufer hielten sich in genau den Gängen auf, in denen sie etwas
kaufen wollten, und sparten sich den Rest. Einkaufen ist eine
lästige Pflicht, und wir wollen den Laden auf dem einfachsten
und schnellsten Weg wieder verlassen.
Unterbrechungen dieser Routine treten immer dann auf, wenn
Läden ihre Waren umsortieren. Was geschieht, wenn Obst und
Gemüse die Plätze tauschen, wenn Backwaren dort zu finden
sind, wo normalerweise das Müsli steht, und Fleisch und Salat
die Regale wechseln, ist wissenschaftlich genau evaluiert
worden. [215] In einem solchen Fall müssen die Käuferinnen und
Käufer innehalten und darüber nachdenken, was sie einkaufen
wollten und wo es zu finden sein könnte. Wenn sich die
Anordnung der Waren verändert, kommen die Kunden mit
Produkten in Kontakt, die sie normalerweise nicht sehen oder
kaufen. Sie können ihren eingeschliffenen Mustern nicht mehr
folgen. In der entsprechenden Studie wurde geschätzt, dass sich
auf diese Weise die ungeplanten Ausgaben pro Kunde um
7 Prozent erhöhen könnten. Trotz der ohnehin schon sehr
ausgeklügelten Produktpräsentation von Supermärkten kann
also Gewohnheitsunterbrechung den Umsatz erhöhen. Aber
Veränderungen können die Kunden auch irritieren, vor allem
die über Fünzigjährigen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit die
Geduld verlieren, wenn sie das, was sie kaufen wollen, nicht
finden. [216] Einzelhändler, die den Kunden auf diese Weise
mehr Geld aus dem Portemonnaie ziehen wollen, lassen sich also
auf ein Vabanquespiel ein.
Der Einkauf kann auch durch Veränderungen des
Verpackungsdesigns gestört werden. Eine radikal neue
Verpackung erschwert es erheblich, ein Produkt als das
wiederzuerkennen, das wir regelmäßig gekauft haben. Im Jahr
2009 veränderte zum Beispiel die Firma Tropicana auf ihrem
Orangensaft das Bild von der Orange mit dem Strohhalm. In dem
neuen Design sah man einfach ein Glas mit Orangensaft und die
sehr auffällige Aufschrift »100 % Orangen, pur und natürlich«.
Die Konsumenten brachten daraufhin ihre Missbilligung
überraschend lautstark zum Ausdruck. Ganz offensichtlich
fingen sie an nachzudenken: »Was soll eigentlich ›pur und
natürlich‹ bedeuten?«, »Schmeckt das noch genauso wie mein
guter alter O-Saft?«, »Vielleicht probiere ich mal eine neue Marke
aus?« Der Umsatzverlust für Tropicana wurde auf etwa 30
Millionen Dollar geschätzt [217] – nur weil die Firma beschlossen
hatte, eine vermeintlich positive Eigenschaft gut sichtbar auf ihr
Produkt zu schreiben.
Obwohl sich Unterbrechungen am Markt sehr viel häufiger
negativ als positiv auswirken, kennt jeder den Sog von neuen
Produkten, die angeblich der letzte Schrei sind. Wir leben
schließlich in der Ära des iPhones, und die Nachrichten
berichten regelmäßig von der dramatisch inszenierten
Neueinführung eines bahnbrechend neuen technischen
Endgeräts. Bei Neueinführungen von Produkten ist das in
Wirklichkeit aber alles andere als die Regel, denn neue Produkte
sind oft sehr schwierig zu etablieren. Dass es Apple jedes Mal,
wenn die Firma ein neues Gerät herausbringt, gelingt, für lange
Warteschlangen begeisterter Kunden zu sorgen, ist ein
erstaunlicher Erfolg – und widerspricht der Art und Weise, in der
die meisten von uns einer neuen Ware am Markt begegnen.
Wenn wir für die Benutzung neuer Produkte unser Verhalten
ändern müssen, stellen auch sie Unterbrechungen dar. Im Jahr
2001 war der Personal Transporter von Segway ein genuin neues
Produkt, das von erfahrenen Investoren wie Jeff Bezos von
Amazon beworben wurde. [218] Steve Jobs sagte voraus, dass die
Städte der Zukunft ganz anders geplant werden würden, damit
sie für ihre flächendeckende Verwendung geeignet wären. Im
Jahr 2004 hatte man jedoch erst 10 000 Stück verkauft – das
Schicksal des Segway als kleines Nischenprodukt war besiegelt.
Vergleichen Sie das mit der unmittelbaren Beliebtheit des E-
Scooters! Im Gegensatz zum Segway stellte er aber auch lediglich
eine neue Produktstufe dar, die bekannten Tretroller für Kinder
waren einfach in eine motorisierte Version für Erwachsene
verwandelt worden. Der Wert des E-Scooter-Verleihers Bird stieg
sprunghaft an: von 300 Millionen Dollar im März 2018 auf
1 Milliarde Dollar im Mai desselben Jahres und auf 2 Milliarden
Dollar bis Ende Juni. [219] Andere Beförderungsunternehmen
wie Uber und Lyft führten ihre eigenen E-Tretroller ein.
Angesichts der Tatsache, dass E-Scooter ganze fünfzehn Jahre
später auf dem Markt erschienen, könnte man meinen, dass der
unterschiedliche Erfolg der Produkte etwas mit Timing zu tun
hatte. Aber die Forschung zeigt, dass sich Konsumenten mit dem
Kauf von Produkten, die wirklich neu sind, nun einmal sehr viel
schwerer tun: Wenn man sie fragt, behaupten sie zwar, dass sie
ein solches Produkt kaufen würden, aber die Wahrscheinlichkeit
ist in Wirklichkeit gering. [220] Wir wissen einfach nicht, was uns
dieses neue Produkt nützt, und diese Unsicherheit führt dazu,
dass wir den Kauf immer wieder überdenken. Das macht unser
Verhalten schwer vorhersagbar.
–
Einschneidende Lebensveränderungen haben die Tendenz, sich
anzuschleichen. Aber je nachdem, wie wir auf die Veränderung
reagieren, sind wir ihr nicht vollständig ausgeliefert. Wenn wir
einmal verstanden haben, wie Unterbrechungen funktionieren,
können wir ihre Dynamik gezielt nutzen, indem wir die von uns
geschätzten, nützlichen Gewohnheiten bewahren und die
unerwünschten verändern.
Diese Art von Bewahrung kann verschiedene Formen
annehmen, wie eine Studie mit Studierenden der Texas A&M
University nahelegt, die von anderen Universitäten dorthin
gewechselt waren. [224] Leona Tam, Melissa Witt und ich
kontaktierten diese Studierenden, einen Monat bevor und einen
Monat nachdem sie umgezogen waren, um zu evaluieren, welche
Auswirkungen der Umzug auf ihre Alltagsgewohnheiten gehabt
hatte, unter anderem auf ihr Sport- und Fernsehverhalten. Einige
Studierende hatten, als wir sie vor ihrem Umzug kontaktierten,
auf diesen Gebieten starke Gewohnheiten ausgebildet. Zwei
Monate später gaben die meisten dieser Studierenden zu
Protokoll, dass sie durch die Unterbrechung des Umzugs nicht
mehr regelmäßig Sport trieben oder fernsahen. Aber nicht alle
gaben ihre Gewohnheiten auf. Bei einigen Studierenden waren
die spezifischen Kontexte, in denen sie Sport trieben oder
fernsahen, auch nach dem Umzug die gleichen geblieben. Was
die Sportgewohnheiten anging, konnten sie zum Beispiel
weiterhin ein bestimmtes Fitnesscenter besuchen oder auf ihrem
gewohnten Sportplatz laufen gehen. Ihre Fernsehgewohnheiten
behielten sie bei, wenn sie zum Beispiel weiterhin ein Gerät in
ihrem Schlafzimmer stehen hatten. Wenn die Auslösereize auf
diese Weise stabil blieben, wurden die Gewohnheiten
beibehalten. Obwohl wir nicht sagen konnten, ob die
Studierenden die neuen Kontexte bewusst so gestaltet hatten,
dass alles beim Alten blieb, oder ob sie eher zufällig in ähnliche
Umgebungen gestolpert waren, war das Ergebnis deutlich: Wo
die Reize stabil blieben, wurden Gewohnheiten beibehalten.
Nicht alle Gewohnheiten sind es wert, bewahrt zu werden. Am
Sport wollen die meisten von uns festhalten, aber Fernsehen ist
für Studierende eher weniger nützlich. Das Endergebnis war für
beides das gleiche: Veränderungen in den Kontexten, die diese
Verhaltensweise betrafen, störte ihre Gewohnheiten, während
Stabilität der Kontexte diese Gewohnheiten bewahrte, und zwar
unabhängig davon, dass die eine Gewohnheit gesund und die
andere reine Zeitverschwendung war. Diese Erkenntnis sollte
Ihnen inzwischen vertraut sein – der Gewohnheitsmechanismus
unterscheidet nicht zwischen Handlungen, die für uns nützlich,
und solchen, die für uns schädlich sind.
An unseren Umzugsstudierenden zeigte sich noch ein weiterer
Weg, Gewohnheiten zu bewahren – ein Weg, der unserem
bewussten Ich sehr vertraut ist: Sie führten ihre Intentionen
gezielt aus. Auch ohne die vertrauten Reize aus dem alten College
konnten die Studierenden beschließen, weiter Sport zu treiben
oder fernzusehen. In den neuen Kontexten griff ein Teil der
Studierenden auf den bewussten Willen zurück. Sie wollten sich
in ihrem neuen Zuhause eine neue Gewohnheit zu eigen machen
und mussten sich dafür wieder anstrengen.
Indem wir Reize besser verstehen lernen, können wir gute
Gewohnheiten sogar dann beibehalten, wenn unser Leben
gerade richtig durcheinandergeschüttelt wird. Aber manchmal
suchen wir ja auch die Veränderung. Wir können uns selbst
unterbrechen, indem wir unsere Lebenskontexte verändern. Und
das tun wir! Jedes Jahr ziehen etwa 11 Prozent der
Amerikanerinnen und Amerikaner um, [225] was bedeutet, dass
die meisten von uns nur etwa elf Jahre an ein und demselben Ort
leben. [226] Unsere Arbeitsstelle wechseln wir sogar noch öfter:
im Durchschnitt alle vier Jahre. [227] Jede solcher
einschneidenden Veränderungen ist eine Möglichkeit, schlechte
Angewohnheiten über Bord zu werfen und andere, die dringend
etwas Licht und Luft brauchen, wieder aufzufrischen. Wenn wir
uns eine Veränderung wünschen, sind Unterbrechungen überaus
willkommen. Vielleicht wollen wir mit dem Rauchen aufhören,
unsere Arbeitsstelle kündigen und uns beruflich umorientieren
oder aus einer missbräuchlichen Beziehung ausbrechen. In
solchen Fällen ist es möglich, sich eine Störung zunutze zu
machen. Eine Begleiterscheinung unserer neuen Fähigkeit, gute
Gewohnheiten auch in schwierigen Zeiten beizubehalten und zu
bewahren, ist, dass wir diese Zeiten auch dazu nutzen können,
mit alten, unerwünschten Gewohnheiten aufzuräumen.
Können Sie sich daran erinnern, als Sie Ihr Leben das letzte
Mal radikal verändert haben? Wie haben Sie das hinbekommen?
War es pure Entschlossenheit, oder ist Ihnen ein Kontextwechsel
zu Hilfe gekommen?
Oder gab es vielleicht auch einmal eine Zeit in Ihrem Leben, in
der Sie es nicht geschafft haben, eine dringend notwendige
Veränderung herbeizuführen? Haben Sie den Mut verloren und
fanden es zu schwierig und kompliziert, all die Dinge zu
verändern, die verändert werden mussten?
Genau diese Fragen haben Forscherinnen und Forscher 119
Erwachsenen von der Harvard Extension School gestellt. [228]
Für Kiefer und Zypresse ist der Sturm eine gute Gelegenheit zu
zeigen, wie stark sie sind.
Ho Chi Minh
Und Sie müssen einen Weg finden, mit einem stressigen Erlebnis
umzugehen. Gewohnheiten können da ungeheuer hilfreich sein.
Nachdem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der skizzierten
Studie ohne Belohnung Formen ausgewählt hatten, wurden sie in
einer nächsten Phase des Experiments wieder belohnt, wenn sie
die richtige Form auswählten. Die Studierenden, die keinem
Stress ausgesetzt worden waren, verinnerlichten diese erneute
Veränderung schnell und schalteten um: Sie hörten auf, nach
neuen, eventuell belohnten Formen zu suchen (explore) und
gingen wieder dazu über, die Gewohnheit zu nutzen (exploit), die
sie zu einem früheren Zeitpunkt eingeübt hatten. Nach einer
Phase des Experimentierens half ihnen ihre
Anpassungsfähigkeit, wieder zur richtigen Strategie
zurückzufinden. Dagegen hatten die Studierenden, die Stress
ausgesetzt worden waren, die ganze Zeit an der ersten Strategie
festgehalten. Sie fuhren einfach mit dem gewohnten Verhalten
fort und bekamen nun wieder eine Belohnung dafür.
Es mag sein, dass wir die Vorstellungskraft und Initiative der
nicht gestressten Studierenden bewundern. Natürlich möchten
wir alle so geistesgegenwärtig sein, uns immer wieder an unsere
Umgebung anzupassen und neue Strategien auszuprobieren.
Aber unser Leben ist nun einmal nicht stressfrei, und aus der
Perspektive der Gewohnheit liefert die andere Gruppe die
wichtigere Erkenntnis. Trotz aller Störungen, trotz Stress, trotz
unzuverlässiger Belohnungen behielten deren Mitglieder ihre
einmal etablierte Gewohnheit bei. Die Gewohnheit ließ sie nicht
im Stich, als ihr Gehirn von Schmerz und Scham geflutet war.
Ihre Gewohnheit erwies sich als hartnäckig. Sie ging mit ihnen
durch dick und dünn.
Stellen Sie sich nun Ihre ganz persönliche Eiswasser-Situation
vor: Ihre gesundheitlichen Ängste, einen beruflichen Rückschlag,
Beziehungsstress. Anstatt in einem Labor bestimmte Formen auf
einem Computerbildschirm ausfindig machen zu müssen, haben
Sie gute Gewohnheiten ausgebildet, die Ihnen helfen, Ihr Leben
zusammenzuhalten, während Sie mit einer hochkomplexen
Stresssituation umgehen. Es ist genau die Art von harter Arbeit,
die Ihr zweites Ich im Hintergrund übernehmen kann. Und wie
wir in diesem Kapitel gesehen haben, ist es möglich, dass diese
Arbeit selbst dann getan wird, wenn die bewussteren Bereiche
unseres Gehirns unter Stress stehen. Das ist eine sehr gute
Botschaft. Im Blick auf die nächste schwierige Phase in Ihrem
Leben sollte Sie das optimistisch stimmen. Sie können sich
darauf verlassen, dass Ihre Gewohnheiten und die Anteile Ihres
Ichs, die von Ihnen auf bestimmte langfristige Ziele
programmiert wurden, am Ball bleiben werden. Ihre nützlichen
Gewohnheiten ackern stoisch weiter und kümmern sich nicht
um die täglichen Dramen. In dieser Konstellation wird
Gewohnheit mehr als das robuste Hintergrundsystem, das dafür
sorgt, dass wir trotz der vielen Probleme, die auf uns einprasseln,
handlungsfähig bleiben. Sie ist genau das, wofür beide Teile
unseres Ichs sich entschieden haben.
–
Vor ein paar Jahren hatte ich eine professionelle Radsportlerin
als Nachbarin. Sie war unglaublich schnell. An den Tagen, an
denen sie ausruhte und ihren Puls niedrig halten musste, fuhren
wir manchmal gemeinsam. Wenn ich dabei war, nahm sie eins
ihrer Tourenräder, kein Rennrad.
Zu Beginn unserer Fahrradtouren ließen wir es locker
angehen, es machte Spaß. Wir erzählten einander das Neueste
aus unseren Familien. Das dauerte etwa eine Stunde. Sobald wir
uns auf den Heimweg machten, steigerte sie plötzlich ihr Tempo.
Schon bald war sie so weit vor mir, dass es nicht mehr möglich
war, sich zu unterhalten. Sie war wieder im Rennmodus. Als ich
sie fragte, wie das kam, erklärte sie mir, dass sie beim ersten Teil
unserer Fahrradtour bewusst versuchte, langsam zu fahren.
Schließlich war der Pausentag ein wichtiger Teil ihres Trainings.
Aber im Laufe unserer Radtour wurde diese bewusste
Anstrengung, bei meinem Tempo zu bleiben, einfach zu viel für
sie. Ihre Beine wurden automatisch schneller. Mental war sie
einfach zu müde, um sich meinem Tempo anzupassen. Die Ironie
daran war, dass die körperliche Anstrengung sich durch ihr
Verhalten vergrößerte, aber dadurch, dass sie es gewohnt war,
fiel ihr das Schnellfahren leichter.
Bei Müdigkeit und Stress ist es sehr wahrscheinlich, in
schlechte Gewohnheiten zurückzufallen. Wir haben das alle
schon bei uns selbst erlebt. Wenn wir zu spät zu einer
Verabredung sind, drücken wir immer wieder auf den
Fahrstuhlknopf, als ob das irgendetwas helfen würde. Wenn wir
uns beeilen müssen, um unser Ziel zu erreichen, drücken wir an
der Ampel immer wieder den Knopf, damit sie endlich grün wird
und wir über die Straße können. Wenn wir frustriert in einem
Stau stecken, hupen wir wie verrückt, obwohl wir genau wissen,
dass die anderen genauso feststecken wie wir. Unter Druck
handeln wir aus Gewohnheit, unabhängig davon, ob dieses
Verhalten nützlich oder schädlich ist oder einfach überhaupt
keine Auswirkungen hat. Der Gewohnheitsmechanismus
unterscheidet nicht zwischen Reaktionen, die in der aktuellen
Situation hilfreich sind, und solchen, die es nicht sind.
In einem Experiment, das untersuchen wollte, wie Stress und
Müdigkeit gute und schlechte Gewohnheiten ausnutzen,
berichteten Studierende von der Business School an der
University of California, Los Angeles von ihren Morgenritualen.
[239] Sieben Wochen lang gaben sie zu Protokoll, was sie zum
Frühstück aßen und welche Teile der Zeitung sie lasen, bevor sie
sich auf den Weg zum Unterricht machten. Von diesen Wochen
waren zwei besonders anstrengend, weil die Studierenden hier
diverse Prüfungen ablegen mussten.
Die Prüfungswochen sorgten dafür, dass die Studierenden sich
verstärkt auf ihre Gewohnheiten verließen. Studierende, die die
starke Gewohnheit hatten, besonders gesunde Nahrungsmittel
zum Frühstück zu essen, zum Beispiel Brei oder Müsli oder
gesunde Riegel, behielten diese Gewohnheit während der
Prüfungen mit größerer Wahrscheinlichkeit bei. Bei denjenigen,
die sich angewöhnt hatten, etwas Ungesundes zum Frühstück zu
essen, zum Beispiel süße Teilchen, Pancakes oder French Toast,
und dazu Kaffee mit Zucker tranken, war es genauso. Das Gleiche
galt für die Zeitungslesegewohnheiten. Studierende, die die
Gewohnheit hatten, die anspruchsvolleren Teile der Zeitung zu
lesen, etwa den Außenpolitikteil, lasen während der
Prüfungswoche sogar mit größerer Wahrscheinlichkeit genau
diesen gewohnten Teil der Zeitung. Und diejenigen, die sich
angewöhnt hatten, die unterhaltsameren, einfacheren Teile der
Zeitung zu lesen, wie zum Beispiel die Ratgeberkolumne, blieben
ebenfalls bei ihrer Gewohnheit. Bei Studierenden ohne starke
Frühstücks- oder Zeitungsgewohnheiten war während der
Prüfungswochen ein solcher Gewohnheitsschub nicht zu
beobachten.
Der Zuwachs beim Lesen überrascht. Während der
Prüfungswochen lernten die Studierenden höchstwahrscheinlich
mehr als sonst und hatten eigentlich weniger Zeit, Zeitung zu
lesen. Dennoch war die Wahrscheinlichkeit größer, dass die
Studierenden lasen, was sie normalerweise lasen. Wenn man
daran denkt, wie Stress unsere Gewohnheiten beeinflusst, ist das
andererseits auch logisch. Während der Prüfungswochen waren
die Studierenden weniger in der Lage, bewusste Entscheidungen
darüber zu treffen, was sie lasen. Bei Studierenden, die
normalerweise die Wirtschaftsnachrichten lasen, gab es zum
Beispiel eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass sie sich daran
erinnerten, eine bestimmte Geschichte aus dem Lokalteil lesen
zu wollen, die sie interessierte. Das Ergebnis war, dass sie
seltener von ihrer normalen Lektüre abwichen. Sie wachten auf
und lasen den Wirtschaftsteil, so wie sie es immer taten, und
grübelten nebenbei wahrscheinlich schon über das Lernen und
über die drohenden Prüfungen nach.
Ein direkterer Beweis für die Stärkung von Gewohnheiten
unter Stress findet sich in einer Studie, in der Studierende der
Duke University vier erwünschte Verhaltensweisen
identifizieren sollten, die sie sich gern zu eigen machen würden,
um ein wichtiges Ziel zu erreichen. Außerdem sollten sie vier
unerwünschte Verhaltensweisen nennen, die sie gern vermeiden
würden. [240] Sich zum Beispiel sofort nach dem Abendessen an
die Hausaufgaben zu setzen war ein erwünschtes Verhalten, um
gute Zensuren zu bekommen, wohingegen das Spielen von
Videospielen eine unerwünschte Verhaltensweise war. Die
Studierenden gaben außerdem zu Protokoll, wie stark die
jeweiligen Verhaltensweisen bei ihnen ausgeprägt waren, indem
sie aufschrieben, wie oft sie sie in der Vergangenheit am selben
Ort ausgeführt hatten. Die Studie dauerte vier Tage. Am Ende
jedes Tages berichteten die Studierenden, ob sie die aufgelisteten
Handlungen ausgeführt hatten (ja/nein).
An zwei Tagen der Studie wurden zusätzlich die kognitiven
Ressourcen der Studierenden angezapft. Man wies sie an, ihre
nicht dominante Hand zu nutzen, um einfache Handlungen
auszuführen, wie zum Beispiel ihr Mobiltelefon für einen Anruf
zu benutzen, eine Computermaus zu bedienen oder Türen zu
öffnen. Dies war mental anstrengend, weil die Studierenden den
Impuls unterdrücken mussten, ihre dominante Hand zu
benutzen, und sich stattdessen daran erinnern mussten, dass sie
die andere Hand nehmen sollten. Um sicherzustellen, dass sie
den Anweisungen folgten, hatten die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer einen Vertrag unterschrieben und für sich selbst
kleine Erinnerungsstützen geschaffen.
An den zwei Tagen, an denen die Studierenden ihre nicht
dominante Hand benutzten, zeigten sie öfter
gewohnheitsmäßiges Handeln – sowohl erwünschte Handlungen,
die auf ein Ziel gerichtet waren, als auch unerwünschte, die
dieses Ziel unterliefen – als an den anderen beiden Tagen der
Studie. Die Studierenden, die von dem durchgängigen Bemühen,
ihre nicht dominante Hand zu benutzen, müde waren, wurden
zwar von ihren schlechten Angewohnheiten geplagt, profitierten
aber gleichzeitig auch von ihren guten Gewohnheiten. Mentale
Müdigkeit, genau wie Stress, gibt dem Gewohnheitshandeln
einen Schub, wodurch die begrenzte Kapazität unserer
bewussten Gedanken genauso deutlich wird wie die
Unverwüstlichkeit unserer Gewohnheiten.
[11]
Eine gute Freundin von mir ist praktizierende Katholikin, die mit
ihrem Glauben sehr glücklich ist. Sie empfindet die Rituale des
Kirchenbesuchs und die Teilnahme an einem großen
Gottesdienst als erhebend und tröstlich. Die Regelmäßigkeit der
heiligen Feiertage, der Orte und Objekte sorgen für Struktur. Die
Gesten, die Musik, das Abendmahl und der Geruch von
Weihrauch stehen für die symbolische und emotionale
Bedeutung der Liturgie. »Denn es ist das Ritual, d. h. der Komplex
heiliger Handlungen, in dessen Rahmen sich (…) die
Überzeugung herausbildet, dass religiöse Vorstellungen mit der
Wirklichkeit übereinstimmen (…).« [306] Dieses berühmte Zitat
des Anthropologen Clifford Geertz skizziert eindrucksvoll die
spirituelle Bedeutung von Ritualen.
Alle Rituale gründen in Wiederholung und streng festgelegten
Handlungssequenzen. [307] In einem wichtigen Aspekt jedoch
unterscheiden sie sich von Gewohnheiten. Bei Ritualen gibt es
keine direkte und unmittelbare Belohnung. Stattdessen muss
eine Bedeutung erfunden und auf das Ritual übertragen werden.
Wir erheben unsere Gläser, um jemandem Glück zu wünschen,
blasen die Kerzen auf einem Geburtstagskuchen aus und tragen
bei akademischen Abschlüssen Hüte und Roben. Sich für ein Lied
still zu erheben, im Kerzenschein zu singen oder zeremonielle
Kleidung zu tragen stellt eine Wertschätzung dar und bekräftigt
unsere Überzeugung, dass etwas Bedeutungsvolles stattfindet –
die Respektbezeugung für ein Land, die Feier eines neuen Jahres
oder einer akademischen Leistung.
Rituale sind eine universelle menschliche Praktik. Native
Americans, vor allem aus dem Südwesten der USA, vollziehen
Regenzeremonien. Aus Japan kennen wir die Kunst der
Teezeremonie. Die Azteken führten Menschenopfer auf ihren
Pyramiden durch. Für den unbeteiligten Zuschauer wirken diese
Rituale nicht besonders rational (und nicht alle sind
wünschenswert). Doch die Forschung hat längst entdeckt, dass
sie durchaus eine Logik haben, vor allem in Zeiten von Angst und
Unsicherheit. Wiederholung trägt ihre eigene Belohnung in sich –
was vielleicht für die Sechsjährige, die zum vierzehnten Mal den
Animationsfilm Vaiana gesehen hat, völlig selbstverständlich
klingt.
Betrachten wir das Leben eines Spitzenathleten, in dem so viel
auf dem Spiel steht und der Druck so immens ist. Sämtliche
Sportler, die an der Spitze einer Sportart stehen, haben
hervorragende Fähigkeiten. Bei ihnen allen geht es um enorm
viel Geld und Ruhm – und um ihr Talent. Für einen Sieg braucht
man viel Selbstvertrauen und ein bisschen Glück. Es ist deshalb
kein Wunder, dass es im Sport massenhaft abergläubische
Rituale gibt. Die Sportler brauchen diese Rituale, um in einer
hochgradig unvorhersehbaren Situation das Gefühl zu haben,
selbst noch über ein wenig Kontrolle zu verfügen.
Vor dreißig Jahren galten lange, schlabbrige Basketballshorts
weder als besonders schick noch als funktional. Sie kamen auf,
als Michael Jordan ein extralanges Chicago-Bulls-Trikot tragen
musste, um das Outfit der University of North Carolina zu
verdecken, das er als »Glücksbringer« darunter trug. Heutzutage
sind diese Shorts allgegenwärtig. So schnell kann aus einem
abergläubischen Ritual ein Modetrend werden! In diesem Fall
war erst die Wiederholung da, und die ganze Bedeutung kam viel
später dazu. Wiederholung hat die Macht, so etwas zu bewirken.
Inzwischen lassen sich zahlreiche professionelle Football- oder
Eishockeyspieler Glücksbärte wachsen. Offenbar begann dieser
Trend mit dem schwedischen Tennisstar Björn Borg, der
mehrmals Wimbledon gewann, nachdem er sich nicht rasiert
(und immer das gleiche Fila-Shirt getragen) hatte. Er holte
insgesamt fünfmal in Folge den Titel.
Angesichts des großen Drucks, unter dem die Athleten stehen,
ist es nicht verwunderlich, dass sie an solche skurrilen
Handlungen glauben. 80 Prozent der Profisportler haben ein
abergläubisches Ritual, das sie durchführen, bevor sie aufs
Spielfeld gehen: In einer Studie reichten diese Rituale vom Essen
von genau vier Pancakes bis dazu, vor dem Spiel mindestens
einmal irgendwo die Zahl 13 entdecken zu müssen. [308]
Manchmal fühle ich mich so: Ich stehe am Ufer eines schnell
dahinfließenden Flusses und höre den Schrei eines ertrinkenden
Mannes. Ich springe in den Fluss, schlinge meine Arme um ihn,
ziehe ihn ans Ufer und beginne mit der künstlichen Beatmung.
Genau in dem Augenblick, in dem er wieder zu Luft kommt, höre
ich noch einen Hilfeschrei. Ich springe ins Wasser, schwimme,
kriege ihn zu fassen, ziehe ihn ans Ufer, beginne mit der
künstlichen Beatmung, und gerade, als er zu atmen anfängt, noch
ein Hilfeschrei. Also zurück in den Fluss, schwimmen, ziehen,
beatmen, Luft und noch ein Schrei. Wieder und wieder, endlos,
immer der gleiche Ablauf. Wissen Sie, ich bin so beschäftigt mit
Reinspringen, Rausziehen und Beatmen, dass ich keine Zeit habe
nachzusehen, wer zum Teufel dort oben am Fluss steht und all die
Leute ins Wasser schubst.
Wenn Sie mich fragen würden, was Sie tun können, um mehr
Sport zu treiben, wären Sie mittlerweile wahrscheinlich schon
auf die bekannte Predigt vorbereitet: darüber, wie Sie zur
Ermöglichung eines regelmäßigen Trainings antreibende Kräfte
in Gang setzen und widerstrebende Kräfte beseitigen müssen.
Zusätzlich rechnen Sie wahrscheinlich noch mit einem kleinen
Vortrag über die Wichtigkeit von Belohnungen. Sie erwarten,
dass ich Ihnen erkläre, wie Sie persönlich, unter Ihren ganz
individuellen Lebensbedingungen, eine Sportgewohnheit
ausbilden können. Dieser Ansatz ist in gewisser Hinsicht wirklich
gut. Aber auch die Standardoptionen, die in unserer
gemeinsamen Umgebung existieren, sind insofern wichtig, als sie
antreibende und widerstrebende Kräfte auslösen.
An bestimmten Orten in den USA treiben die Menschen mehr
Sport als an anderen. Mehr als 25 Prozent der Einwohner von
Colorado, Alaska und Washington, D. C., hielten sich im Jahr 2014
an die Regierungsempfehlung, 150 Minuten in der Woche
Herzkreislauftraining und zweimal wöchentlich Krafttraining zu
machen. [323] Es ist unter diesen Umständen kein Wunder, dass
die Einwohnerinnen und Einwohner von Colorado und Alaska
im Vergleich zum Rest der USA am seltensten an Diabetes Typ II
erkranken, in Colorado zusätzlich auch am seltensten an
Bluthochdruck. [324] Und Washington, D. C., lag bei beiden
Aspekten nicht weit zurück.
Die Sportstatistiken in Tennessee und West Virginia sahen
dagegen vollkommen anders aus: Nur 13 Prozent der dortigen
Einwohnerinnen und Einwohner trieben regelmäßig Sport. In
einigen Staaten versuchten es die Leute noch nicht einmal – ein
Drittel der Bewohner von Alabama, Louisiana und Mississippi
machten überhaupt keinen Sport. In der Folge wiesen diese
Staaten einige der höchsten Krankheitsraten auf. Sie waren
allesamt unter den Top Ten bezüglich Diabetes Typ II und
Bluthochdruck.
Woraus besteht die magische Zutat, die gesunde von
ungesunden Staaten unterscheidet? Eine Antwort lautet: aus
Menschen, die sich entschieden haben, dort zu leben. Menschen,
die sich gern bewegen, ziehen in Staaten wie Colorado oder
Alaska, die Bilder vom Skifahren, Klettern und Kanufahren
heraufbeschwören und in denen man einfach gut an der frischen
Luft sein kann. Das Image von Washington, D. C., ist aktiv und
urban, mit Fußgängern, Radfahrern und Joggern. Im Gegensatz
dazu wecken Louisiana und West Virginia nicht gerade
Assoziationen von einem aktiven Lebenswandel. Die Menschen,
die sich hier wohlfühlen, sind wahrscheinlich eher ruhige und
etwas bequeme Typen. Man sollte niemals den Hang der
Menschen unterschätzen, sich selbst freiwillig in Schubladen zu
sortieren.
Aber auch lokale Programme, die örtliche Kultur und Politik,
die in ihrer Gesamtheit Einfluss auf das Verhalten der
Einwohner haben, sind Teil der Antwort. So ist zum Beispiel in
Colorado und Alaska die Outdoor- und Freizeitindustrie ein
wichtiger Wirtschaftsfaktor. Und dann ist da noch das Verhalten
Ihrer Nachbarn. Wenn Sie in einem dieser Staaten leben, ist es
sehr wahrscheinlich, dass Sie von Ihren Nachbarn zum
gemeinsamen Joggen aufgefordert werden; Ihre Kinder fahren
mit dem Fahrrad zum Fußball, und zum Supermarkt gehen die
meisten Einwohner zu Fuß. An einem gewissen Punkt wird
Gruppenzwang tatsächlich wirksam. Doch selbst wenn das noch
nicht der Fall ist, wählen Sie Ihre Aktivitäten nun einmal aus
einem ganz bestimmten Angebot aus. Wenn Sie an einem Ort mit
ruhigeren Nachbarn leben, ist es wahrscheinlicher, dass Sie zum
Essen oder Kartenspielen zusammenkommen, als dass Sie in der
Hofeinfahrt gemeinsam Körbe werfen.
Aber die wissenschaftliche Analyse ist natürlich nicht alles.
Was wirklich interessant daran ist, ist die Frage, was passieren
würde, wenn Sie in einen dieser bewegungsfreundlichen
Bundesstaaten umziehen würden. Kann etwas, das Ihre
Wohnumgebung betrifft, tatsächlich Ihre eigene Fitness und
Gesundheit beeinflussen? Kann das wirklich einfach … nun ja …
wie durch Zauberhand geschehen? Würden Sie tatsächlich
abnehmen?
Natürlich kann ich nicht vorhersagen, wie es jedem Einzelnen
von Ihnen ergehen würde. Das ist der Nachteil, wenn man über
soziale Strategien nachdenkt und darüber, welche Standards
unsere gemeinsame Umgebung prägen. Schlüsse lassen sich nur
über Durchschnittseffekte ziehen – also über größere Gruppen
von Menschen. Doch sehen wir uns zum Beispiel einmal an, was
mit einigen von den Menschen geschah, die den Hurrikan
Katrina überlebten, jenen Sturm, der im August 2005 New
Orleans verwüstete. [325] Die Evakuierung und Neuansiedlung
von 280 von ihnen wurde wissenschaftlich begleitet. Es handelte
sich bei diesen Menschen fast durchweg um junge Frauen mit
ihren Kindern. Keine von ihnen hatte Einfluss darauf, wo sie
schließlich mit ihren Kindern untergebracht wurde. Ihre
Wohnorte richteten sich komplett nach Zufällen: wo es beim
Evakuieren einen Stau gab, welche Notunterkünfte in der
Umgebung überfüllt waren etc. Weil diese Menschen sich nicht
selbst aussuchen konnten, wo sie lebten, können wir an ihnen
beobachten, ob und wie sie von ihrer räumlichen Umgebung
beeinflusst wurden, und zwar unabhängig davon, ob sie gern
Sport trieben oder zu Fuß gingen.
Die meisten Evakuierten wurden aus New Orleans in weniger
städtische und weitläufigere Gemeinden gebracht, in denen die
Bevölkerungsdichte niedriger und die meisten Ziele zu Fuß nicht
zu erreichen waren. Als man sie sieben bis neunzehn Monate
später kontaktierte, war ihr Gewicht durchschnittlich um
5 Prozent gestiegen. Sie wogen im Schnitt etwa vier Kilo mehr!
Einige Evakuierte wurden aber auch an Orte gebracht, die
ebenso dicht besiedelt und fußgängerfreundlich waren wie New
Orleans. Sie nahmen im Durchschnitt überhaupt nicht zu.
Diese Studie ist deshalb wichtig, weil sie einen einzelnen
Faktor, der unsere Gesundheit und Fitness beeinflusst, isoliert
betrachtet. Die magische Zutat in dieser Studie bestand in der
Möglichkeit, sich in der eigenen Wohnumgebung zu Fuß
fortzubewegen. Und ob das der Fall ist, hängt im Wesentlichen
von der Politik ab: Hat ihre Stadt Gehwege gebaut, die es
ermöglichen, zum Supermarkt zu laufen und auch alle anderen
alltäglichen Aufgaben zu Fuß zu erledigen? Keine Frage, ein
Gehweg in einer ländlichen Gegend hat nicht die gleichen Effekte
wie ein Fitnessstudio. Aber eine Gemeinde, in der man sich gut
zu Fuß bewegen kann, ermöglicht Training auch dann, wenn
man es einmal nicht zum Sport schafft – und das selbst für die
Menschen, die nie Sport treiben. Gehwege verändern unsere
Umgebung so, dass gesundes Verhalten zum Standard wird.
Auch die Frage, welche Verkehrsmittel wir für größere
Strecken nutzen, also letztlich: wie wir tagtäglich zur Arbeit
kommen, wirkt sich auf unsere Gesundheit aus. In einer Studie
wurden 4000 britische Pendler über zwei Jahre begleitet, um die
Auswirkungen von Verkehrsmittelwechseln zu analysieren. [326]
Einige Autofahrer wechselten zu aktiveren
Fortbewegungsmitteln: Sie benutzten den Zug, den Bus oder das
Fahrrad oder gingen zu Fuß. Ihr Body-Mass-Index (BMI)
reduzierte sich dadurch durchschnittlich um 0,32 Punkte (was
etwa einem Kilogramm entsprach). Auch die Entfernung spielte
eine Rolle. Lange Arbeitswege von mehr als dreißig Minuten
reduzierten den BMI um durchschnittlich 2,25 Punkte (etwa
sechs Kilo). Wenn Menschen, die vorher aktiv zur Arbeit
gekommen waren, zu Beginn der Studie auf das Auto umstiegen,
erhöhte sich ihr BMI um durchschnittlich 0,34 Punkte (etwa ein
Kilo). Wir wissen nicht, aus welchen Gründen diese Menschen
ihre Gewohnheiten bezüglich des Verkehrsmittels änderten.
Vielleicht waren sie umgezogen, und die Entfernung zum
nächsten Bahnhof hatte sich geändert, oder sie hatten einen
neuen Job angefangen. Wir können davon ausgehen, dass die
Menschen mit dem höchsten Übergewicht wahrscheinlich die
geringste Neigung hatten, auf ein aktives Verkehrsmittel
umzusteigen. Aber das ist nicht der Punkt. Im Schnitt nahmen
die Menschen zu, wenn sie aufs Auto umstiegen, und ab, wenn
sie sich entschlossen, den Weg zur Arbeit mit öffentlichen
Verkehrsmitteln, dem Fahrrad oder zu Fuß zurückzulegen.
Die eigentliche Frage lautet also: »Würden die Leute
tatsächlich aktivere Fortbewegungsmittel wählen, wenn sie
häufiger die Möglichkeit dazu hätten?« Für die meisten
Amerikanerinnen und Amerikaner ist Autofahren die einfachste
und vertrauteste erschwingliche Option. Autos sind so
weitverbreitet, dass allein die Vorstellung, sich auf andere Weise
fortzubewegen, den meisten von uns Schwierigkeiten macht.
In Santa Monica, Kalifornien, wo ich lebe, wird etwa die Hälfte
aller Autofahrten für Kurzstrecken unter fünf Kilometern
genutzt. Um die große Verkehrsbelastung in den Griff zu
bekommen, wurden im Jahr 2017 E-Scooter eingeführt, die man
nach einem ähnlichen Prinzip ausleihen kann wie
Mietfahrräder. Auf einer Smartphone-App wird einem angezeigt,
wo der nächste Scooter steht, und im Jahr 2018 betrugen die
Kosten nur 1 Dollar pro Fahrt plus 0,15 Dollar pro Minute. Die
Idee dahinter ist, wie Francie Stefan, die Mobilitätsbeauftragte
von Santa Monica, erklärte, das Transportsystem so vielfältig zu
machen wie unser Ökosystem. Die Vormachtstellung des Autos in
den Vereinigten Staaten sei wie eine Monokultur. Sie sagte, sie
wolle »eine Vielfalt verschiedener Möglichkeiten anbieten, die
langfristig nebeneinander bestehen können«. [327] Doch das
System hat noch die eine oder andere Macke, vor allem was die
Sicherheit betrifft. So ist zum Beispiel unklar, ob die E-Scooter-
Fahrer Helme tragen müssen, außerdem sind auf den Gehwegen
schon Fußgänger angefahren worden. Und manchmal verstopfen
die abgestellten E-Scooter auch Fußwege und Einfahrten.
Andere Städte, andere Arten von aktiven
Fortbewegungsmitteln: Portland, Washington, D. C., Minneapolis,
Chicago, San Francisco und Philadelphia bauen seit einiger Zeit
ihr Radwegesystem aus. Entsprechend ist in diesen Städten die
Zahl der Fahrradfahrer in den letzten Jahren gestiegen. [328]
[12]
Das, was als Standardoption Einfluss auf uns alle nimmt, wird
erst mit der Zeit sichtbar. »Wer sich nicht an die Vergangenheit
erinnern kann, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.« Dieses oft
wiederholte Zitat des Philosophen George Santayana hat
wahrscheinlich nirgends eine so große Gültigkeit wie bei der
Frage, wie viel wir essen.
Die US-amerikanische Landwirtschaftspolitik änderte sich in
den 1970er-Jahren, etwa zur selben Zeit, in der die Epidemie des
Übergewichts anfing, um sich zu greifen. Nachdem die Preise für
Grundnahrungsmittel in historisch nie gesehener Weise
angestiegen waren, kam es zu massiven Protesten, woraufhin die
Regierung das System der Landwirtschaftshilfen auf eine Weise
veränderte, die die Überproduktion beförderte. Politisch
betrachtet war die Änderung dieser Gesetzgebung ein Erfolg –
seither ist der Preis von Nahrungsmitteln nie wieder ein
politisches Thema gewesen. Doch die Veränderungen wurden
zur Gefahr für unsere Gesundheit. Seit Mitte der 1970er-Jahre
hatten die Bauern einen Anreiz, pro Person und Tag 500 Kalorien
mehr zu produzieren. [333] 200 Kalorien davon landeten
tatsächlich auf unseren Tellern, der Rest wurde anderweitig
verwendet. Die Nahrungsmittelindustrie wuchs, und wir
Amerikaner machten es ihr nach.
Unsere Mahlzeiten sind sehr viel größer geworden. In den
vergangenen zwanzig Jahren haben sich laut National Institute
of Health die Portionsgrößen in Restaurants verdoppelt oder
sogar verdreifacht. [334] Ein normal großer Bagel hatte früher
140 Kalorien und einen Durchmesser von etwa 7,5 Zentimetern,
heute enthält er 350 Kalorien und hat einen Durchmesser von
rund 15 Zentimetern. Eine Portion Spaghetti bestand aus einem
Cup (ca. 240 Milliliter Volumen) mit Soße und drei kleinen
Fleischbällchen, zusammen etwa 500 Kalorien. Heute? Sind es
zwei Cups voll Soße mit drei großen Fleischbällchen, insgesamt
mehr als 1000 Kalorien. Ein Putensandwich hatte früher etwa
320 Kalorien, heute haut es mit fast 820 Kalorien rein. Die
Überdimensionierung von Portionsgrößen ist beim Fast Food
besonders ausgeprägt. Eine Grafik der Centers for Disease
Control and Prevention zeigt, um wie viel eine durchschnittliche
Fast-Food-Mahlzeit sich mit der Zeit vergrößert hat. Seit den
1950er-Jahren haben sich die Pommesbeilagen verdreifacht, die
Größe der Burger hat sich vervierfacht, die der Softdrinks
versechsfacht.
[13]
Und was in den Restaurants auf den Tisch kommt, das essen wir
auch. Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, sind Portionsgrößen
genauso große Einflussfaktoren wie die Verfügbarkeit von
Alkohol in unserem Stadtviertel. Wenn das Vielessen erleichtert
wird, indem Portions- und Packungsgrößen wachsen, dann
nehmen wir auch mehr zu uns. Schließlich ist es ja schon auf
unserem Teller. [335] Und wenn wir erst einmal mehr essen,
dann gefällt es uns irgendwann, und unser Körper passt sich so
an, dass der gesteigerte Konsum zur Norm wird.
Das mit den Portionsgrößen ist heimtückisch, aber durch
genaues Auswählen von Restaurants und die bewusste
Entscheidung, öfter zu Hause zu essen, ist es für jeden von uns
möglich, auf Dauer weniger zu essen. Wir können selbst
entscheiden, welche Packungsgrößen wir im Supermarkt kaufen.
Die Umstände, die weiter oben am Fluss herrschen, wirken sich
nur statistisch aus. Sie müssen nicht zum Teil jener Kräfte
werden, die unsere ganz persönliche Umgebung prägen.
Eine etwas umfassendere Lösung, die aber auch mehr Ecken
und Kanten hat als das inoffizielle Anstoßen von Entscheidungen
(Nudging), ist eine Steuergesetzgebung, die so konzipiert ist, dass
der Konsum von Lebensmitteln mit leeren Kalorien
eingeschränkt wird. In zwei Gesetzesinitiativen wurde die
Erhebung von Steuern auf gezuckerte Getränke beschlossen: In
Berkeley, Kalifornien, wurde pro 0,03 Liter Süßgetränk eine
Steuer von 1 Cent erhoben, und in Mexiko verabschiedete man
im Jahr 2014 ein Gesetz, das pro Liter Süßgetränk 1 Peso Steuern
festlegte. Beide Steuern sind so hoch, dass die Konsumenten sie
an der Kasse spüren.
In den Vereinigten Staaten sind Steuern schon immer ein
äußerst kontroverses Thema. Den Bürgerinnen und Bürgern ist
ein freundlicher Nudge, der ihnen das Gefühl gibt, selbst
entscheiden zu können, sehr viel lieber. Aber Steuern haben in
diesem Fall einen entscheidenden Vorteil. Sie machen die
frühere schlechte Angewohnheit nicht nur reibungsvoller,
sondern signalisieren auch, dass sich die gesamte Umgebung
gewandelt hat. Die Botschaft lautet: Wir als Gemeinschaft finden
dieses Verhalten nicht mehr gut. Wir versuchen gemeinsam,
dieses Verhalten einzudämmen. Als soziale Wesen sind wir
Menschen für solche Reize überaus empfänglich. Wenn sich
soziale Standards ändern, springen die meisten Menschen früher
oder später auf den Zug auf.
Die Hersteller von Softdrinks argumentierten, dass sich die
Kunden ihre Kalorien in diesem Fall anderswo suchen würden.
So verlautbarte der Pressesprecher der American Beverage
Association (der Interessengemeinschaft der Softdrinkhersteller),
William Dermody: »Steuern und Verbote und Einschränkungen
können das Verhalten, das zu Übergewicht führt, nicht
ändern.« [336] Doch wie wir wissen, funktionierten Steuern bei
der Kontrolle des Tabakkonsums hervorragend. Durch die
Besteuerung von Zigaretten, durch Rauchverbote an öffentlichen
Orten und durch Werbeauflagen wurde das Rauchen um die
Hälfte reduziert.
In Berkeley jedenfalls ist der Verkauf von gesüßten Getränken
ein Jahr nach der Einführung der Steuer um 10 Prozent
zurückgegangen. [337] Die Einwohner der Stadt kauften von nun
an einfach andere Getränke. Die Verkäufe von nicht besteuerten
Getränken wuchsen um 4 Prozent, und vor allem der Verkauf
von Wasser steigerte sich um 16 Prozent.
In Mexiko waren gesüßte Getränke vor der Besteuerung für
10 Prozent der täglich konsumierten Kalorien verantwortlich.
[338] Vor allem Softdrinks erfreuten sich hier großer Beliebtheit.
In den zwei Jahren, die auf die Einführung der Steuer folgten,
verringerte sich der Konsum um 8 Prozent. Auch die Einwohner
Mexikos kauften stattdessen andere Getränke. Der Verkauf von
nicht besteuerten Getränken steigerte sich um 2 Prozent. Wie
man sich denken kann, traf die Steuer die Ärmsten besonders
hart, wodurch ihr Konsum um 12 Prozent gesenkt wurde,
während die reicheren Leute ihren Konsum nur um 5 Prozent
senkten. Im Jahr 2014 verabschiedete Mexiko darüber hinaus
eine Steuer von 8 Prozent auf »nicht notwendige energiereiche
Lebensmittel«. Auch das funktionierte. Der Verkauf von dieser
Art von Junkfood reduzierte sich in den ersten beiden Jahren um
6 Prozent. [339]
Ob diese Art von Steuern sich tatsächlich auf das
Körpergewicht von Menschen auswirken, bleibt abzuwarten.
Können sie ein Ansatz sein, um das Problem des Übergewichts in
den Griff zu bekommen, so wie sie tatsächlich dazu beigetragen
haben, Krankheiten einzudämmen, die mit dem Rauchen
zusammenhängen? Bisher wissen wir lediglich, dass durch
Steuern die Verkäufe zurückgehen. Das ist zwar eine erste
Antwort, aber die gesundheitlichen Auswirkungen dieses
Rückgangs müssen erst noch analysiert werden.
Dieses Buch handelt von dem, was wir alle jeden Tag viele
Stunden lang tun. Ein Großteil unseres Lebens fließt durch unser
Gewohnheits-Ich. Dieser Teil unseres Ichs ist etwas behäbiger als
das bewusste Verstehen. Er braucht ein wenig, um in Gang zu
kommen, aber dann ist er ziemlich unverwüstlich. Dieser Teil
von uns ähnelt einem starken, verlässlichen Arbeiter: Er lässt
sich nicht unterkriegen, ist stets bereit. Er neigt jedoch dazu, sich
ausschließlich auf das zu konzentrieren, was direkt vor ihm liegt.
Es gibt also Raum für ein bewusstes Ich – für den Teil von Ihnen,
der dieses Buch liest, der ein paar Pfund abnehmen, ein wenig
Geld beiseitelegen oder den eigenen Arbeitstag produktiver
gestalten möchte. Es ist dieses Ich, das die Ziele festlegt. Und
dann müssen Sie nur noch die Werkzeuge zur
Gewohnheitsbildung richtig anwenden, die in diesem Buch
vorgestellt wurden, um in Ihrem alltäglichen Umfeld genau
solche Kontexte zu etablieren, die den passenden Antrieb, die
passende Reibung und die passenden Belohnungen bereithalten.
Ihr neues, von Gewohnheit durchdrungenes Leben wird aus
zwei Gründen ein besseres Leben sein. Erstens: Sie werden
insgesamt mehr schaffen.
Der zweite Grund jedoch ist mindestens genauso wichtig, und
ich habe versucht, ihn in diesem Buch hervorzuheben: Sie
werden zu einer unkomplizierteren und ganzheitlicheren
Lebensweise finden.
Wir alle leben schon immer nach unseren Gewohnheiten. Die
meisten von uns sind sich dessen einfach nur nicht bewusst. Und
genau aus diesem Grund ignorieren wir einen großen Teil
unserer Persönlichkeit und lassen die Frage, warum wir tun, was
wir tun, unbeantwortet. Davon abgesehen, dass wir für all die
vielen Möglichkeiten, die Dinge sinnvoller anzugehen, blind sind.
Sein Leben ausschließlich auf Motivation und Willenskraft zu
stützen ist aufreibend und unergiebig. Man enttäuscht sich nur
immer wieder selbst. Man hat haufenweise Ziele und Vorsätze
und muss zusehen, wie sie immer größer und unerreichbarer
werden. Ideal und Wirklichkeit klaffen immer weiter
auseinander, und Sie werden diese Lücke als schmählichen
Beweis für Ihre Kraftlosigkeit und Charakterschwäche
interpretieren.
Aber das stimmt nicht.
Wenn Sie Ihr Gewohnheits-Ich in Ihr Leben integrieren,
können Sie erkennen, wie gut Sie auch ohne die an der
Oberfläche sichtbaren Impulse und Wünsche funktionieren.
Denn unter dieser Oberfläche gibt es etwas. Und dieses Etwas
können Sie für sich arbeiten lassen.
Die Prinzipien, die Sie hier kennengelernt haben, machen es
Ihnen leichter, Gewohnheiten in all ihren unterschiedlichen
Formen zu erkennen. Schlechte Gewohnheiten sind nun keine
peinlichen Abgründe mehr, sie werden stattdessen zu lösbaren
Herausforderungen, die nur darauf warten, erkannt und in
Angriff genommen zu werden. Und auch gute Gewohnheiten
sind nun nicht mehr der Widerschein irgendeines
geheimnisvollen, essenziellen Charakters, sondern können als
das erkannt werden, was sie sind. Besser noch: Sie geben sich als
Muster zu erkennen, auf denen sich andere, neuere und bessere
Gewohnheiten aufbauen lassen.
Darüber hinaus führt ein Verständnis von Gewohnheit dazu,
die Mühsal von Verhaltensänderungen zu reduzieren. Denn die
Überbrückung der Diskrepanz zwischen ständigem Scheitern
und nachhaltiger Veränderung hat mit individueller
Hartnäckigkeit und Entschlossenheit nichts zu tun. Es geht hier
nicht darum, ob man ein wertvoller Mensch ist. Selbst Menschen
mit bewundernswerter Ausdauer können scheitern. Stattdessen
kann man die Diskrepanz Schritt für Schritt überwinden, indem
man zum Beispiel alltägliche Kontexte so organisiert, dass sie
Handlungen fördern, mit denen man seine langfristigen Ziele
erreichen kann und die gleichzeitig Spaß machen. Genauso
gehen all die besonders erfolgreichen Menschen mit ihrer
angeblich so großen »Selbstkontrolle« die Dinge schon immer an.
Und genauso können auch Sie sich von geeigneten Kontextreizen
unterstützen lassen. Sie können bestimmte Handlungen so oft
wiederholen, dass sich neue Gewohnheiten bilden, die dann zum
vertrauten Standardverhalten werden. Sie können
Gewohnheiten etablieren, die selbst dann noch funktionieren,
wenn sie schon lange nicht mehr belohnt werden.
Ein gut gelebtes Gewohnheitsleben verspricht nicht mehr und
nicht weniger als das.
Wie Sie es vermeiden können,
dauernd auf Ihr Handy zu
schauen
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[81] Ebenda.
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[85] Ruth Umoh, »Bill Gates Said He Had to Quit This Common
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[87] Umoh, »Bill Gates Said He Had to Quit This Common Bad
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[147] Ebenda.
[165] Erol Ozcelik, Nergiz Ercil Cagiltay und Nese Sahin Ozcelik,
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[188] Ebenda.
[201] Ebenda.
[202] Ebenda.
[203] Michelle R. vanDellen et al., »In Good Company: Managing
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[212] Ebenda.
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[238] Ebenda.
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[247] Ebenda.
[272] Ebenda.
[282] Ebenda.
[302] Ebenda.
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