2-stimmiger Renaissance-
Kontrapunkt
0
Kontrapunkt 01 –
2-stimmiger Renaissance-Kontrapunkt
GESAMTINHALTSVERZEICHNIS Seite
A. Kontrapunkt – Allgemeines 3
I. contrapunctus simplex 29
1
A. Kontrapunkt – Allgemeines
INHALTSVERZEICHNIS Seite
Tonsystem
1. Tonsystem, dargestellt als Quintenreihe 9
2. Tonsystem, dargestellt in Form von sich überlappenden Hexachorden 9
3. Tonsystem, dargestellt im System der Modi 11
4. Tonsystem, dargestellt im System der Oktav-, Quint- und Quartgattungen 13
2. Mensuren
a. System der französischen Ars nova 15
b. System der italienischen Trecentonotation 19
3. tactus 20
2
Kontrapunkt 01/02 – Renaissance-Kontrapunkt
A. Kontrapunkt – Allgemeines
2Dazu der absolut grundlegende Aufsatz von Sebastian Kiefer: Hören, Schreiben, Sehen. Denken, in:
Christoph Herndler/Florian Neuner, Der unfaßbare Klang. Notationskonzepte heute, Wien 2014
4
gleichen Umständen reproduzieren läßt; während also das wissenschaftliche Denken darauf
zielt, aus dem unbekannten Objekt ein Bekanntes zu machen, zielen wissenschaftliche
Verfahrensweisen in der Musik gerade darauf, mit ihrer Hilfe etwas dem Komponisten und
dem Hörer gleichermaßen Unbekanntes in die Welt zu setzen.
Das Notationssystem, das mensurale System und der Kontrapunkt bilden
zusammengenommen ein Ganzes, aber miteinander kein kohärentes System. Denn sie
hängen zwar, sachlich betrachtet, unauflöslich miteinander zusammen, werden aber
getrennt, d.h. in separaten Traktaten und Lehrwerken behandelt und stehen deshalb z.T.
unverbunden nebeneinander. Eine systematische Darstellung der verschiedenen
Dissonanzformen im mehrstimmigen Satz sowie ihr Verhältnis zu Konsonanzen z.B. setzt
verschiedene Notenwerte, d.h. den diminuierten Satz voraus und ist deshalb essentiell auf
die Mensurations- und tactus-Lehre verwiesen – die Kontrapunktlehre hingegen handelt
ursprünglich nur vom contrapunctus simplex, d.h. den ametrischen Note-gegen-Note-Satz,
für den klare Regeln aufgestellt werden, während der contrapunctus diminutus nur allmählich
mit einbezogen wird und das Regelsystem dafür lückenhaft bleibt.3
Im Kontrapunkt stehen einerseits sachlich zusammengehörige Teile unvermittelt
nebeneinander, andere wiederum enthalten in sich einen systematischen Widerspruch.
Auf dem Gebiet der Mensuren z.B. bleibt der Widerspruch zwischen einem rational
konzipierten System und einer Notation in Ligaturen (verbundenen Notenwerten) und mit
einer Vielzahl an Imperfektions- und Alterationsmöglichkeiten einzelner Werte sowie der
damit zusammenhängende Widerspruch zwischen einem im Ansatz rational konzipierten
System, das zu komplizierten und unüberschaubaren Verzweigungen führt, ein ungelöstes
Problem. Im Kontrapunkt wiederum führt die im 16.Jahrhundert zur Regel gewordene 4-
Stimmigkeit zum Widerspruch zwischen einem Satz, in dem der Ténor zwar noch strukturelle
Hauptstimme, aber nicht mehr Fundamentstimme ist. Beide Widersprüche sind zugleich
Ansatzpunkte dafür, daß sowohl das System der Mensuren als auch das des
Kontrapunktsatzes sich auflöst und in ein anderes System übergeht, das wiederum von
neuen Widersprüchen gekennzeichnet ist.
Die hohe Allgemeingültigkeit der kontrapunktischen Methode und des darauf basierenden
Regelkanons zeigt sich daran, daß er bereits zu seiner Zeit, d.h. zur Zeit der sogenannten
„franko-flämischen Polyphonie“ des 15. und 16.Jahrhunderts örtlich eine universelle, d.h.
internationale Erscheinung war. Aber auch zeitlich-geschichtlich betrachtet ist das
kontrapunktische Denken von universellem Charakter: denn obwohl es ursprünglich einer mit
distinkten Tonhöhen operierenden musikalischen Praxis entstammt, ist es daran nicht
gebunden, sondern weist als Methodik weit darüber hinaus in die unmittelbare Gegenwart. In
der Musik des 20.und des 21.Jahrhunderts kehren jene elementaren Fragestellungen, die
mittels der kontrapunktischen Methode erforscht werden, wieder – mehr noch: sie stellen
sich überhaupt erst ganz grundsätzlich in einer Kunst, die grundsätzlich nicht mehr auf der
Basis a priori gegebener Grundlagen oder mit Allgemeinheit und Notwendigkeit geltender
Gesetzmäßigkeiten operiert, sondern deren Anspruch es ist, vermittels rationaler,
konstruktiver Verfahren fortwährend ihre eigenen Grundlagen erst zu schaffen. In diesem
„Geist der Freiheit“, der den Kontrapunkt durchherrscht, besteht dessen genuiner Bezug zur
Neuen Musik des 20. und 21.Jahrhunderts; und deshalb ist der Kontrapunkt des 15. und
16.Jahrhunderts – als praktisch ausgerichtete Theorie und in sich theoretische Praxis – eine
unmittelbar aktuelle Angelegenheit. Über Dufay und Josquin zu sprechen heißt Fragen des
gegenwärtigen Komponierens zu verhandeln, auch wenn von ihnen nicht direkt die Rede ist.
Die Herangehensweise an den Kontrapunkt in diesem Skriptum ist also sowohl bewußt
„historisch“ wie bewußt „unhistorisch“ – erst dadurch, daß man den Kontrapunkt gleichsam
„distanzlos“ als etwas betrachtet, was uns in der Gegenwart unmittelbar betrifft, wird zugleich
die immense Distanz deutlich, die uns von der Musik des 15. und 16.Jahrhunderts trennt.
Satztechniken
Note gegen Note freie Mehrstimmigkeit
Volentibus introduci
(13.Jhdt.) contrapunctus cantus fractibilis
Tinctoris 1477 contrapunctus simplex contrapunctus diminutus/floridus
Zarlino 1558 contrappunto semplice contrappunto diminuito
Bernhard 1660 contrapunctus aequalis contrapunctus inaequalis
Stile
stylus ecclesiasticus stylus cubicularis (Madrigale,
Stimmen und Instrumente)
stylus scenicus seu theatralis
Stile
stylus antiquus stylus modernus
stylus a capella
6
A.II. Tonsystem und mensurales System
1. Tonsystem, dargestellt als Quintenreihe
Das Tonsystem des europäischen Mittelalters und der Renaissance ist heptatonisch: es
besteht aus 7 Tönen bzw. Stufen. Es wird gemäß dem pythagoräischen System gebildet,
indem man von einem zentralen Ton aus in reinen Quinten nach unten und oben
fortschreitet. Der Ton „d“ gilt (und zwar noch bis weit ins 18.Jahrhundert!) als Zentrum des
Tonsystems; auch die Modi werden von dem auf d beginnenden Modus, dem Dorischen aus
gezählt.
Eine Stufe taucht dabei doppelt auf: die dritte Quinte über bzw. die vierte Quinte unter dem d
erscheint einmal als „h“, einmal als „b“. Mit dieser Doppelstufe besteht das Tonsystem
genaugenommen aus 7 (+ 1) Tönen.
| | regulärer Bereich
| | transponierter Bereich
Diese 7 (+1) Töne gelten als essentielle Töne bzw. die Stammtöne. In der Praxis werden aus
diesem Ton-Vorrat zwei Tonbereiche à jeweils 7 Töne herausgenommen: der reguläre
Bereich von F bis h´´ und der (im Quintraum nach unten) transponierte Bereich von B bis e´´.
Je nachdem, in welchem Bereich man sich bewegt, gilt entweder das „b quadratum“ (h) oder
das „b rotundum“ (b) als akzidentelle (chromatisch erzeugte) Tonstufe!
Innerhalb eines Bereichs sind alle Stammtöne frei verfügbar: mit ihnen können grundsätzlich
alle melodischen wie harmonischen Intervalle gebildet werden.
Hinzu kommen die akzidentiellen („zufälligen) Töne, die durch Alterationen einzelner
Tonstufen, d.h. durch die Setzung von die Akzidenzien (d.h. Vorzeichen) zustandekommen.
Akzidenzien werden entweder „propter necessitatem“ (aus Notwendigkeit, etwa zur
Vermeidung des Tritonus) oder „propter pulchritudinem“ (aus Gründen der Schönheit, etwa
um eine perfekte Konsonanz in einer Stimme mit einem Halbtonschritt zu erreichen) gesetzt.
Sie zählen nicht den Stammtönen, sondern gehören zum Bereich der „musica ficta“ bzw.
„musica falsa“ (der artifiziell erzeugten Musik) und werden nicht systematisch notiert, aber
gewohnheitsmäßig praktiziert.
7
Das Tonsystem kann im Quintenraum zweimal im Quintenschema nach unten „verschoben“,
d.h. transponiert werden. Zusammen mit den gewohnheitsmäßig verwendeten Akzidentien
ergeben sich folgende Tonbereiche:
8
2. Tonsystem, dargestellt in Form von sich überlappenden Hexachorden
Das System der Hexachorde ist eine Erfindung von Guido von Arezzo. Der Tonraum wird
hier strukturiert in 3 im Quartabstand aufeinander folgende und derart ineinander
verschränkte sowie ab der Oktave auf derselben Tonstufe sich wiederholende Hexachorde,
d.h. Sechstongruppen von jeweils identischem Aufbau: jeweils zwei Ganztonschritte
umschließen einen mittleren Halbtonschritt.
Diese Einteilung hat sowohl eine pragmatische als auch eine theoretisch-spekulative
Dimension. Pragmatisch betrachtet ist das Hexachord-System eine Hilfestellung für Sänger,
um sich den Umfang von Melodien und die Intervallqualitäten besser merken zu können.
Zum einen entspricht der hexachordale Rahmen dem Ambitus vieler gregorianischer
Melodien und auch den ihnen nachgebildeten Linien im mehrstimmigen Satz, der sehr oft
eine (große oder kleine) Sexte beträgt. Übersteigt eine Melodie den Sexten-Rahmen, ist eine
„mutatio“, d.h. ein Wechsel in den nächsten Hexachord erforderlich; dazu werden Tonstufen,
die zwei Hexachorden angehören, umgedeutet.
Der symmetrische Aufbau der Hexachorde Ganzton/Ganzton – Halbton – Ganzton/Ganzton
ermöglicht die systematische Darstellung von Intervallen innerhalb eines Hexachords: über
mi und unter fa steht der Halbtonschritt; über und unter re sowie über und unter sol befinden
sich Ganztonschritte; über re und über mi ergibt sich eine kleine Terz, über ut und über fa
eine große Terz. Auch Intervalle zwischen benachbarten Hexachorden lassen sich auf diese
Weise systematisch darstellen: die Beziehung „mi-mi“ ergibt entweder eine Quarte (zwischen
1. und 2. sowie 2. und 3.Hexachord) oder eine Quinte (zwischen 2. und 4.Hexachord).
In theoretischer Hinsicht ist das System der Hexachorde eine Darstellung des Tonsystems,
aus dem hervorgeht, daß h und das b verschiedenen Hexachorden und damit verschiedenen
Tonbereichen angehört. Mit dem System läßt sich auf diese Weise das auch für den
Kontrapunktsatz verbindliche Verbot des „mi contra fa“ begründen, durch das zwei Intervalle
ausgeschlossen werden:
1) Das „mi“ im 1.Hexachord gegen das „fa“ im 3.Hexachord ergibt die Relation B durum
(bzw. quadratum) gegen B molle (bzw. rotundum), die weder im Zusammenklang (dieselbe
Tonstufe alteriert und nicht alteriert) noch melodisch (d.h. als chromatische Linie) gebraucht
werden dürfen: „mi contra fa – diabolus in musica“!
9
2) Verbot des Tritonus und der verminderten Quinte
Das „mi“ im 1.Hexachord gegen das „fa“ im 2.Hexachord (sowie das „fa“ im 2.Hexachord
gegen das „mi“ im 3.Hexachord) ergibt die Relation B durum, d.h. h gegen f (bzw. f gegen h),
d.h. die „falsche Quinte“ und den Tritonus, die weder im Zusammenklang noch melodisch
gebraucht werden dürfen: „mi contra fa – diabolus in musica“!
Die mi-fa-Relation in der Mitte eines jeden Hexachords bezeichnet die „natürlichen“ (d.h. im
Tonsystem selbst enthaltenen) Halbtonschritte zwischen e und f sowie h und c. Alle anderen
Halbtonschritte befinden sich außerhalb des Systems, d.h. sind akzidentiell und müssen
daher künstlich erzeugt werden. Chromatik bedeutet demnach die artifizielle Herstellung
einer mi-fa-Relation auf anderen Stufen; ein „cis“ z.B. ist ein „mi fictum“ in Bezug auf ein
nachfolgendes d, ein „as“ ein „fa fictum“ in Bezug auf ein nachfolgendes g.
Die sogenannte „Guidonische Hand“ war vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit ein
Hilfsmittel zur Orientierung im Tonsystem; sie diente als Anschauungsobjekt und als
Gedächtnisstütze. Jedem Fingerglied ist dabei eine bestimmte Tonstufe des
Hexachordsystems zugeordnet. Die Hand als Anschauungsobjekt taucht schon vor Guidos
Zeit in einigen Schriften auf; die endgültige Form findet man jedoch erst ab dem 12.
Jahrhundert.
4
Zu dieser spekulativen Dimension der Hexachordlehre siehe Johannes Menke, Kontrapunkt I,
Laaber 2015, S.21ff.
10
3. Tonsystem, dargestellt im System der 4 (später 6) Modi
11
Die Modi sind keine „Tonarten“ im Sinne von Dur und moll, im strengen Sinne handelt es
sich bei ihnen nicht einmal um „Oktav-Skalen“: denn zum einen sind die einzelnen Tonstufen
grundsätzlich variabel (im dorischen etwa wird das h sehr oft zum b tiefalteriert – deswegen
ist es auch falsch, dorisch als „moll mit erhöhter 6.Stufe“ zu bezeichnen!); zum anderen sind
die einzelnen Töne nicht funktional bzw. funktionsharmonisch als „Stufen“ bestimmt: sie
fungieren nicht als „Grundtöne“ von Akkorden!
Vielmehr sind die Modi systematisierte, abstrahierte Abbildungen von einstimmigen
gregorianischen Melodien mit typischen Umfängen, typischen Schluß- und Rezitationstönen
sowie chrakteristischen Melodieformeln. Die Oktave ist der ungefähre Tonraum, in dem sich
Choralmelodien bewegen; dabei werden 2 Arten unterschieden: die authentischen Melodien,
die sich in einem Tonraum über der Finalis bewegen und die plagalen, die sich um die
Finalis herumbewegen. Die authentischen Modi gelten als die ursprünglichen bzw. primären,
die plagalen als die abgeleiteten bzw. sekundären. Die einzelnen Modi unterscheiden sich
durch ihre Haupttöne: die Finalis und den Ténor – sowie durch typische melodische Muster,
die den „Charakter“ oder den „Affekt“ eines Modus prägen: im authentisch Dorischen etwa
die beiden Sprünge von d zur Quinte und dann zur Septime 1-5-7, im authentisch
Phrygischen der Sprung zur Quinte und zur Sexte 1-5-6, die auch umgekehrt als „expressive
Wendung“ 1-6-5 auftreten kann. Diese Charakteristika sind auch für die Melodiebildung im
mehrstimmigen kontrapunktischen Satz bedeutsam.
Jeder einzelne Modus verfügt außerdem über bestimmte typische Stufen, in die am Ende
oder vorübergehend im Laufe eines Stückes kadenziert wird; jede dieser Stufen wird mit
einem (gegebenenfalls künstlich zu erzeugenden, d.h. akzidentiellen) „mi“ oder „fa“ erreicht.
Diese Stufen sind ihrer Rangfolge nach:
1. 2. 3.
Protus (I., II.Modus) d a f
Deuterus (III., IV.Modus) e a c/g
Protus (V., VI.Modus) f c a
Protus (VII., VIII.Modus) g d c
Ebenso wie den Tonstufen werden auch den Modi aufgrund ihrer spezifischen
Charakteristika in der Tradition platonischen Ethos-Lehre bestimmte Affektwirkungen
zugeschrieben.5
5
Menke, Kontrapunkt, a.a.O., S.42ff.
12
4. Tonsystem, dargestellt im System der Oktav-, Quint- und Quartgattungen
Die Strukturierung des Tonraums in 7 Oktavgattungen, die entweder aus einer tieferen
Quart- und höheren Quintgattung (links) oder aus einer tieferen Quint- und höheren
Quartgattung (rechts) zusammengesetzt sind, veranschaulicht einerseits den Ambitus sowie
den Aufbau der Modi und damit den unterschiedlichen Rang der authentischen und plagalen
Formen.
Darüberhinaus sind in dieser Darstellung die beiden Quintgattungen zu erkennen, die im
System der Hexachorde nicht vorkommen: die 2. und 3. Quintgattung („mi-mi“) und („fa-fa“),
die beide den Tritonus enthalten.
13
System der Zeitbeziehungen
Das mensurale System ist von seiner Grundkonzeption her sowohl ein Notationssystem: die
Festlegung eines Systems abstrakter Zeichen für die Dauer von Klängen und von Pausen –
als auch ein Mensurationssystem: die mathematische Bestimmung, d.h. Messung ihres
relativen Wertverhältnisses. Im ursprünglich französischen System der ars nova, das sich
seit dem 14.Jahrhundert international durchsetzt, kann von der Longa bis zur Semiminima
ein jeder Notenwert gleichberechtigt gedrittelt oder halbiert werden – während der längste
Notenwert (die Maxima) stets 2-teilig ist und auch die kürzeren Notenwerte ab der
Semiminima stets 2-teilig sind. Auch für das Verhältnis der Notenwerte zueinander existiert
bis zur Ebene der Minima jeweils ein Begriff: für die musikalische Praxis sind dabei die vier
verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten von tempus und prolatio ausschlaggebend. Das
heißt, daß der Wert der einzelnen Note nicht von vornherein feststeht, sondern sich aus der
jeweiligen Mensur, d.h. dem jeweils festgelegten Verhältnis von tempus und prolatio ergibt.
Maxima
oder
↓Maximodus ↓Maximodus
Longa
↓Modus ↓Modus ↓Modus oder
Brevis
↓Tempus
↓Tempus ↓Tempus
Semibrevis
↓Prolatio ↓Prolatio
Minima
Semiminima
Fusa
Semifusa
14
2. Mensuren
a. System der französischen Ars nova (nach Philippe de Vitry und Johannes de
Muris, um 1320)
Das Verhältnis von tempus und prolatio wird durch ein Mensurzeichen festgelegt, das im
musikalischen Verlauf wechseln kann.
In moderner Übertragung
9 9 9
/ | \ tempus perfectum 8 4 2
3 3 3
/ | \ tempus perfectum 4 2 1
6 6 6
/ \ tempus imperfectum 8 4 2
2 2 2
/ \ tempus imperfectum 4 2 1
15
Charakteristisch für das mensurale System musikalischer Zeitbeziehungen ist der
Widerspruch zwischen System und Notation: während das System für sich genommen
logisch kohärent strukturiert ist, erfolgt die Notation bei dreizeitigen Mensuren grundsätzlich
stets noch in der Notation der „ars antiqua“, die durch Alterationen und Imperfektionen
gekennzeichnet ist. Das hat zur Folge, daß gleich aussehende Noten unterschiedliche Werte
und unterschiedliche Notenzeichen gleiche Werte aufweisen können. Bei den zweizeitigen
Mensuren hingegen tritt dieses Problem nicht auf.6
Brevis, Semibrevis und Minima können demnach in der Übertragung folgende Werte
annehmen:
Als Beispiel für die einfachere Notationsweise bei 2-zeitigen Mensuren ist nachfolgend ein
Ausschnitt aus dem „Gloria“ von Machauts „Messe des Nostre Dame“ vorgestellt. Der
Vergleich des Originals mit der Übertragung läßt erkennen, daß jeder Notenform des
Originals ein unveränderelicher Wert entspricht. Dadurch macht auch die Aufzeichnung
komplizierterer rhythmischer Bildungen wie etwa Synkopen keine Schwierigkeiten.
6
Text und Notenbeispiele stammen aus dem Aufsatz von Hartmut Möller, Die modernen Musiker des
14.Jahrhunderts, in: Funkkolleg Musikgeschichte Band 2, Weinheim/Basel/Mainz 1987, S.75f.
16
Die wesentlich einfachere und eindeutigere Notationsweise bei den zweizweitigen Mensuren
mag dazu beigetragen haben, daß im Laufe des 16.Jahrhunderts das tempus imperfectum
das tempus perfectum verdrängt und dreizeitige Mensuren nur noch als “proportio tripla”
vorkommen: damit wird die 2er-Mensur zur Regel und die 3er-Mensur zur Ausnahme, was
bereits die neue un dbis heute gültige 2-(4-, 8-, 16- etc.)zeitige Teilung der Notenwerte
vorwegnimmt.7
7
Möller, a.a.O., S.75; Thomas Daniel, Kontrapunkt, Köln 2003, S.60ff.
17
Außer durch Mensurzeichen kann die mensurale Metrik noch durch Proportionszeichen oder
durch die Färbung von Notengruppen verändert werden. Eine „3“ zeigt an, daß alle
Notenwerte nur noch 1/3, eine „2“, daß alle Werte nur noch die Hälfte ihres bisherigen Werts
betragen sollen; im ersten Fall resultiert eine Beschleunigung im triolischen Maßstab, im
zweiten Fall eine Verdoppelung des Tempos. Das Zeichen zeigt an, daß 3 Noten die Zeit
von zweien einnehmen.
Die jeweilige Bedeutung von Proportionszeichen und Colorierungen hängt jedoch ab von der
jeweiligen Grundmensur, auf die sie sich beziehen und ist deshalb nicht mit letzter Sicherheit
zu bestimmen.
In einem t.perf.cum prol.min. (Bsp.a) bewirkt die Colorierung bzw. Vorschrift 3/2 eine
hemiolische Dehnung, ebenso die Colorierung im t.imp.cum prol.mai. (Bsp.b). Im t.imp.cum
prol.min. (Bsp. c und d) bewirkt die Colorierung der Semibrevis eine Triole; die Folge von
colorierter SB mit Minima wurde offenbar als Punktierung ausgeführt.
Das folgende Beispiel ist ein nach ca. 1350 entstandenes Rondeau von Baude Cordier, in
dem extrem manieristische Notation mit komplexer Rhythmik einhergeht, die durch
Proportionszeichen und Colorierungen angezeigt wird8:
Baude Cordier, Belle bonne sage Umschrift und Übertragung in moderne Notenwerte
Möglich sind im mensuralen System aber auch nicht exakt proportionale Wechsel von Tempi
und Rhythmen: das Tempoverhältnis von Verhältnis von Pavane und Gaillarde ist z.B. eine
noch immer umstrittene Frage.9
8
Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Mensural_notation
9
Carl Dahlhaus, Die Tactus- und Proportionenlehre des 15. bis 17. Jahrhunderts, in: Frieder Zaminer
(Hrsg.), Geschichte der Musiktheorie Band 6, Darmsttadt 1987, S. 333 – 361
18
b. System der italienischen Trecentonotation (nach Marchettus von Padua, um 1319)
Die Trecentonotation ist, neben der Notation auf 6 Linien, das bestimmende Merkmal einer
Sonderentwicklung, die die Ars nova im Italien des 14.Jahrhunderts nahm. Bis auf die
Bestimmung der Notwenwerte ist die Art der Teilung dem Mensuralsystem der französischen
ars nova sehr ähnlich.
Die eigenständige Tradition Italiens endet mit Beginn des 15.Jahrhunderts – dann setzt sich
auch hier das französische Mensuralsystem durch.
19
3. tactus
↓ ↑
positio/thesis levatio/arsis
Die Bezugseinheit, d.h. der Notenwert, auf den der tactus ausgeführt wird, ist normalerweise
die Semibrevis („tactus maior“); wird die Bewegung auf die Minima ausgeführt, ergibt sich
der „tactus minor“, ist seine Bezugseinheit die Brevis, resultiert der „tactus alla breve“. In
zweizeitigen Mensuren (tempus imperfectum) wird die Dirigierbewegung mit gleichlangen
Bewegungen, d.h. als „tactus aequalis“ ausgeführt:
„tactus major“
↓↑
„tactus minor“
↓↑
20
ˉ
ˉ ˉ
ˉ ˇ ˉ ˇ
ˉ ˇ ˉ ˇ ˉ ˇ ˉ ˇ
Bei dreizeitigen Mensuren (tempus perfectum) werden die Bewegungen im Verhältnis 2:1 als
tactus inaequalis bzw. tactus proportionatus ausgeführt:
.
↓__ ↑
2 : 1
Da der erste Schlag zwei Semibreven umfaßt und der zweite nur eine, ergibt sich eine
quantitative und qualitative Differenz, die den ersten Schlag länger und schwerer erscheinen
läßt als den zweiten und deshalb bereits „metrisch“ wirkt – zumal die Folge von Brevis und
Semibrevis auch oft ein rhythmisches Muster darstellt. Andererseits sind die metrischen
Gewichtungen bei kleineren Notenwerten oft unklarer als in den zweizeitigen Mensuren: da
die zweite Semibrevis im ersten tactus-Schlag „aufgeht“, kann z.B. die dritte Semibrevis je
nach Kontext schwerer oder leichter erscheinen. Für das tempus perfectum ergibt sich in
etwa folgende Übersicht:
ˉ ˉ
ˉ ˇ
( )
ˉ
ˉ ˇ ˉ ˇ
( )/( )
ˇ ˉ ˇ
ˉ ˇ ˉ ˇ ˉ ˇ ˇ
( )/( )
ˉ ˇ ˉ ˇ ˉ ˇ
21
A.III Von Ciconia bis Orlando di Lasso –
Frankoflämische Komponisten in Italien
(Auswahl der wichtigsten mit einigen Daten)
Marchettus von Padua keine Daten, etwa 1280-1340, war primär Theoretiker (Lucidarium
1317, Pomerium 1321-26); Magister puerorum am Dom und Magister an der
„Artistenfakultät“ (Artes liberales) der Universität Padua; komponierte eine Motette zur
Einweihung der Scrovegni-Kapelle mit den berühmten Giotto-Fresken.
Johannes Ciconia ("Storch"), ca.1335 Lüttich - 1411 Padua; der erste von zahlreichen
"Niederländern" der franko-flämischen Schule in Italien. Er war Canonicus in Cesena, Lüttich
und Padua; Magister an der Fakultät der "Artes liberales" der Universität Padua; von ihm
stammen die Traktate NOVA MUSICA und DE PROPORTIONIBUS. Kompositorisch
verbindet er französische und norditalienische Einflüsse in der Endphase der Ars Nova/Ars
subtilior und begründet darüber hinaus umwälzende Neuerungen, die stilprägend für viele
Jahrhunderte wurden (z. B. die formbildende Synkopendissonanz und die motettische "fuga"
des durchimitierenden Stils.) O PADUA, SIDUS PRECLARUM entstand kurz vor 1400 und
war der herzoglichen Familie Carrara gewidmet. Padua wird gerühmt als "hell leuchtender
Stern, herrliches Maß aller Tugend"; "Zur Ehre gereicht dir dein strenges Gesetz, die
Wahrhaftigkeit deiner Philosophie, die Vielzahl deiner Künstler, die Erhabenheit deiner
Dichtung". Für das Selbstbewußtsein Ciconias spricht, daß er seinen eigenen Namen am
Schluß erwähnt: "Die Kunde deines Ruhms dringt weit hinaus in alle Welt, erschallt in den
lieblichen Klängen des Johannes Ciconia. Amen." Kleiner Ausblick: 1406 wird Padua von
Venedig erobert; und was tut man als kluger Komponist? Man schreibt sofort eine
Huldigungsmotette VENECIE MUNDI SPLENDOR - Venedig, Glanz der Welt.
Guillaume Dufay ca.1400 - 1474 Cambrai (dort später Pfründe); im Dienste der Malatesta
auch in Patras (Griechenland); Priesterweihe Bologna; päpstliche Kapelle Rom;
Kapellmeister Savoyen (burgundischer Hof); Florenz (Domweihmotette!), Ferrara;
Freundschaften u.a. Brunelleschi, Donatello, Binchois; „Artist“ (d.h.Wissenschaftler),
Musiker-Sänger-Komponist + Theologe+Jurist mit Höchstbezahlung. Meister des
klangsinnlichen "cantilena"– Satztypus (3stimmig mit Oberstimmen-Dominanz) und
unterschiedlicher Fauxbourdon-Techniken.
Gilles Binchois ca.1400 Mons (Ausbildung Cambrai wie Dufay) - 1460 Soignie; als
Soldat beim Herzog von Suffolk durch Europa, burgundische Hofkapelle; „Vater der
Fröhlichkeit“.
Adrian Willaert ca.1480 Brügge – 1562 Venedig; Jurist, „Artist“, Komponist; im Dienste der
d‘Este in Ferrara und Mailand, dann Markuskapellmeister in Venedig; BEGRÜNDER DER
VENEZIANISCHEN SCHULE (seine Schüler u.a. C.de Rore, A.Gabrieli, Vicentino, Zarlino),
schulebildend sowohl musikalisch wie theoretisch (Chromatik, venezianische Mehrchörigkeit
= coro spezzato, „modale Beantwortung“ bei der fuga, erster großer Madrigalist).
Nicolas Gombert ca. 1495 in La Gorgue bei Lille (unsicher); † um 1560 in Tournai; der
Musiktheoretiker Hermann Finck berichtet in seiner Practica musica (1556), daß Gombert ein
Schüler von Josquin Desprez († 1521) gewesen sei. Sänger in der Hofkapelle Kaiser Karl
V.s; mit der er sich bis 1529 in Toledo, Sevilla, Granada, Valladolid, Valencia und Madrid
aufhielt, weil die Kapelle den Kaiser auf dessen Reisen begleitete. Berühmt für seine
Schreibweise, die sich im Gegensatz zu Josquin auszeichnet durch melodisch weit
ausgreifende Linien ohne prägnante Gliederung, weder rhythmisch noch durch Pausen noch
durch klare Kadenzen: Finck: „er vermeidet Pausen.“ In Verbindung mit einer reichen
Imitationskunst wird der Gegensatz zwischen Haupt- und Nebenstimmen, aber auch
zwischen musikalischem soggetto und freien Kontrapunktstimmen fast ganz aufgehoben.
Orlando di Lasso 1532 Mons – 1594 München; „letzter Niederländer“; bei den Gonzaga in
Sizilien und Mailand, Rom (Lateran), Neapel, Antwerpen, Hofkapellmeister in München.
Zusammenfassung aller „niederländischen“ Phänomene einschließlich der chromatischen
und „modulatorischen“ Experimente; für Burmeister (Musica poetica) größtes Vorbild auch
bei musikalisch-rhetorischen „figurae“; u. a. 40 Messen, 500 Motetten, 200 Madrigale, 250
Lieder und Chansons; Begründer der deutschsprachigen Liedmotette.
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A.IV. Literaturliste Kontrapunkt Renaissance
Kontrapunktlehre – Gesamtdarstellungen und besondere Aspekte
Apel, Willi: Die Notation der polyphonen Musik, Leipzig 1962
Apfel, Ernst: Geschichte der Kompositionslehre (3 Bde.), Wilhelmshaven 1981
Besseler, Heinrich, Aufsätze zur Musikästhetik und Musikgeschichte, Leipzig 1978; enthält
u.a. folgende Aufsätze:
Ars antiqua
Ars nova (diese beiden Aufsätze entsprechen den Eintragungen in der alten MGG)
Alte Musik und Gegenwart
Guillaume Dufay
Niederländische Musik
Umgangsmusik und Darbietungsmusik im 16.Jahrhundert
Blume, Fredrich: „Renaissance“, (= Eintrage aus der alten MGG), in: Epochen der
Musikgeschichte in Einzeldarstellungen, Kassel 1974
The Cambridge History of Western Music Theory (Hrsg. Thomas Christensen), Chicago
2002, enthält u.a. folgende Aufsätze:
Fuller, Sarah, Organum – discantus – contrapunctus in the middle ages, S.477 – 502
Schubert, Peter, Counterpoint pedagogy in the Renaissance, S.503 – 533
Cohen, Albert, Performance theory, S.534 – 553
Daniel, Thomas: Kontrapunkt. Eine Satzlehre zur Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts,
Köln 1997
ders., Zweistimmiger Kontrapunkt, Köln/Dohr 2002
de la Motte, Diether: Kontrapunkt, Kassel 1981
Eberlein, Roland: Die Entstehung der tonalen Klangsyntax, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New
York/Paris/Wien 1994
Froebe, Folker: Kontrapunkt, in: Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft, hg. von
Helga de la Motte-Haber, Christian Utz u.a., Laaber 2010.
Funkkolleg Musik, Weinheim/Basel/Mainz 1977, daraus:
Band 2, enthält:
Möllers, Christian: Polyphone und homophone Satztechniken, S.73 – 113
Band 3, enthält:
Kühn, Hellmuth: Die Motette, S.11 – 55
Funkkolleg Musikgeschichte. Europäische Musik vom 12. – 20.Jahrhundert,
Weinheim/Basel/Mainz 1987, daraus:
Band 2, enthält:
Möller, Hartmut: Die Schriftlichkeit der Musik und ihre Folgen, S.11 – 45
Möller, Hartmut: Die modernen Musiker des 14.Jahrhunderts, S.46 – 100
Band 3, enthält:
Zimmermann, Michael: Johannes Tinctoris und der Beginn der Neuzeit, S.11 – 56
Hucke, Helmut: Die Messe als Kunstwerk, S.57 – 92
Band 4, enthält:
Leopold, Silke: Kontrapunkt und Textausdruck, 1987, S.11 - 45
24
Gauldin, Robert: A practical approach to sixteenth-century counterpoint, Illinois 1985
Kiefer, Sebastian: Hören, Schreiben, Sehen. Denken, in: Christoph Herndler/Florian Neuner,
Der unfaßbare Klang. Notationskonzepte heute, Wien 2014
Menke, Johannes: Kontrapunkt I: Die Musik der Renaissance, Laaber 2015
Metzger, Heinz-Klaus/Riehn, Rainer: Geschichte der Musik als Gegenwart. Hans-Heinrich
Eggebrecht und Matthias Spahlinger im Gespräch, München 2000
Meyer, Ernst Hermann: Musik der Renaissance – Auflärung – Klassik, Leipzig 1979, enthält
u.a. folgende Aufsätze:
Klangsinnlichkeit, Terzengesang und Kantilenenmelodik. Ein Beitrag zum Renaissance-
Problem in der spätmittelalterlichen englischen Musik
Zur Musik der Reformationszeit
Instrumentale Tanskomposition und Volksmusik in Deutschland um 1600
Besseler, Heinrich/Gülke Peter, Das Schriftbild der mehrstimmigen Musik, Leipzig 1981
Eggebrecht, Hans Heinrich: Machauts Motette Nr.9, in: ders., Sinn und Gehalt. Aufsätze zur
musikalischen Analyse, Wilhelmshaven 1979, S.34 – 81
Thein, Wolfgang, Musikalischer Satz und Textdarbietung im Werk von Johannes Ockeghem,
Tutzing 1992
26
B. Kontrapunkt 01 – 2-stimmiger Satz,
systematische Darstellung
I. contrapunctus simplex
INHALTSVERZEICHNIS Seite
I 1. Allgemeines – Stimmendisposition 29
I 2. Intervallklassen
Kontrapunktische Regeln
Perfekte Konsonanzen 35
Imperfekte Konsonanzen 37
27
Einleitung: Begriff und Funktion des c.p. simplex
Der sogenannte c.p.diminutus beschreibt die kompositorische Realität: einen kunstfertigen
musikalischen Satz, während der c.p. simplex eine methodische Abstraktion zu Lehrzwecken
darstellt; in der kontrapunktischen Systematik hingegen wird das Verhältnis umgekehrt: hier
erscheint der c.p. simplex – der ein vertikales Note-gegen-Note, d.h. Punkt-für-Punkt-
genaues Messen von (intervallisch bestimmten) Zusammenklängen und
Klangfortschreitungen ermöglicht – als „fundamentum“ des musikalischen Satzes, der
c.p.diminutus hingegen als sekundäre „Ableitung“.
Der c.p. simplex beruht auf einer mehrfachen Abstraktion: abstrahiert wird vom
kompositorischen Zusammenhang, aus dem einzelne Momente herausgeschnitten, isoliert
und für sich genommen systematisch betrachtet, gemessen und auf diese Weise bestimmt
werden. Zum Zwecke dieses vertikalen Messens wird weiterhin der (historisch bereits
entwickelte) 3- und 4-stimmige Satz auf eine elementare 2-Stimmigkeit reduziert. Und
ebenfalls wird von jedwedem Metrum und von rhythmischen Gestalten abstrahiert: ein jeder
Zusammenklang hat hier gleiches Gewicht, der Unterschied von schweren und leichten bzw.
betonten und unbetonten Zeiteinheiten ist aufgehoben. Trotzdem ergibt der c.p. simplex
keinen „homophonen“ Satz, denn „Homophonie“ – als vorwiegend rhythmische
Gleichschaltung verschiedener Stimmen und damit als Variante von Mehrstimmigkeit – setzt
ein Metrum und verschiedene Notenwerte voraus.
Der c.p. simplex erfüllt eine doppelte Funktion: er ist zum einen eine Einführung ins
Komponieren, das von dem auf einer „cartella“ skizzierten „Note-gegen-Note“-Satz bis zur
vollausgereiften diminuierten bzw. colorierten Komposition fortschreitet. Und es ist
umgekehrt eine Analysemethode, um den strukturierenden „Hintergrund“, den Gerüstsatz
einer Komposition durch methodische Abstraktion, d.h. durch Weglassen von „Colorationen“
bzw. „Diminutionen“ erfassen zu können.10 Bei einer solchen analytischen Reduktion
resultiert mitunter ein an bestimmten Stellen „fehlerhafter“ c.p. simplex mit Quint- und/oder
Oktavparallelen11: es kann dies als Hinweis genommen werden, daß bestimmte
Stimmfortschreitungen genuin dem „diminuierten“ Satz, d.h. der mit verschiedenen
Notenwerten operierenden kompositorischen Realität angehören und von einem c.p. simplex
nicht ohne weiteres erfaßt werden können.12
Man darf deshalb die Unterscheidung von c.p. simplex und diminutus auf keinen Fall mit
einer strikt einzuhaltenden Chronologie des Schaffens verwechseln: das Komponieren eines
sinnvollen Intervallsatzes ist kein „Zusammenstückeln“ von lauter isolierten Punkten – so wie
auch das adäquate Hören von Musik keines „von Ton zu Ton“ sein kann. Der c.p.simplex
(und die c.p.-Lehre war für lange Zeit nur eine Demonstration des „Note-gegen-Note-
Satzes!) ist vor allen Dingen eine Methode der Selbstanalyse: das, was man komponiert hat,
distanziert betrachten und nach einem auf Wahrnehmung basierenden, intervallisch
ausgerichteten Regelsystem vertikal „Punkt-für Punkt“, aber auch „Punkt-zu-einem-
entfernten-Punkt“ abtasten und kontrollieren zu können. Die Kontrapunkt-Methode soll dazu
dienen, das eigene musikalische Vorstellungsvermögen ausschöpfen und ein
Selbstbewußtsein von dem, was einem „vorschwebt“ und was man aufschreibt, entwickeln
zu können. Übungen im c.p.simplex haben die Funktion, diese Fähigkeiten unabhängig von
den eigenen Kompositionsversuchen, aber auf sie bezogen, zu schulen; sie haben ihren
Zweck erfüllt, wenn die Regularien des einfachen Kontrapunkts vom Lernenden produktiv
vergessen worden sind und in selbstverständliche Praxis übergegangen sind.
10 Johannes Menke, Kontrapunkt I. Die Musik der Renaissance, Laaber 2015, S.71ff.
11 Menke, Kontrapunkt I, a.a.O. S.74f.
12 Dazu: Menke, Kontrapunkt I,a.a.O., S.183 und S.211; Heinrich Schenkers Analysemethode beruht
systematisch darauf, Kompositionen zur „Decolorieren“ auf ihr tragendes Gerüst zu reduzieren.
28
I.1. Allgemeines – Stimmendisposition
Allgemeines
In einem mehrstimmigen musikalischen Satz kann das Verhältnis der Stimmen zueinander
einerseits nach ihrer Bewegungsrichtung, andererseits nach dem Grad ihrer melodisch-
rhythmisch bestimmten Individualisierung unterschieden werden.
a. Im musikalischen Satz kann es nur drei Bewegungsarten geben: die gerade Bewegung
(bzw. Bewegung in dieselbe Richtung) mit dem Sonderfall der Parallelbewegung, die
Gegenbewegung und die Seitenbewegung.
Für die Bestimmung der melodischen Fortschreitung ist es zunächst nur relevant, zwei
elementare Unterscheidungen vorzunehmen: einerseits zwischen den direkten
Melodieintervallen („von Ton zu Ton“) und den indirekten, genauer: den Rahmenintervallen
(Anfang und Ende eines „Bewegungszuges“) – und andererseits bei den direkten
Melodieintervallen zwischen den Schritten (d.h. Sekundabständen) und Sprüngen (alle
Melodieintervalle ab der kleinen Terz).
3 6 10
Statt der 5-6-Verbindung ist auch eine Gegenbewegung mit melodischem Terzsprung in
einer Stimme möglich: dabei entsteht der typische Wechsel von einer 3 zu einer 6 – eine
Intervallverbindung, die auch im höherstimmigen Satz von großer Bedeutung ist:
etc.
3 – 6
29
Seitenbewegung
5 – 6 – 5 – 6 etc. 6– 5– 6–5
30
Stimmendisposition
Ein mehrstimmiger Kontrapunktsatz ist disponiert als die Ergänzung einer Hauptstimme, des
Ténors, zu einem 2-stimmigen Ténor-Discantus-Gerüst, das im höherstimmigen Satz dann
mit weiteren Zusatzstimmen versehen wird.
Ténor bezeichnet die systematische/funktional bestimmte Bedeutung einer Stimme als
Hauptstimme eines mehrstimmigen Satzes:
1. sie „trägt“ bzw. „hält“ (tenere) ursprünglich den c.f., über den weitere Stimmen
hinzukomponiert werden.
2. sie ist der Ausgangspunkt eines Komponierens, in dem die Stimmen „konzentrisch“
entworfen werden.13
3. sie ist die Stimme, in Bezug zu welcher die intervallischen Zusammenklänge der
hinzutretenden Stimmen „punctus contra punctum“ gemessen werden
4. sie bildet zusammen mit der zweiten Stimme, dem Discantus, ein 2-stimmiges Gerüst, das
auch die Grundlage des höherstimmigen Kontrapunktsatzes darstellt. Die Zusammenklänge
und Fortschreitungen zwischen Ténor und Diskant gelten als primäre Intervallbeziehungen
und deshalb gelten für sie die strengsten Regeln. Ein höherstimmiger Kontrapunktsatz soll
idealerweise auf einen 2-stimmigen Gerüstsatz reduzierbar sein, der für sich genommen als
sinnvoll bestehen könnte.
5. sie gibt – im Zusammenwirken mit dem Discantus – Auskunft über den Modus einer
Komposition.
6. sie ist im 2- und zunächst auch höherstimmigen Satz die tiefste und damit fundierende
Stimme – das ändert sich, sobald ab dem späten 15. Jahrhundert ein contraténor regelmäßig
unter dem Ténor geführt wird. Umgekehrt ist der Discantus auch im höherstimmigen Satz in
der Regel die Oberstimme.
Der generelle Ambitus einer jeden Stimme beträgt ca. eine Undezime; zusammen mit den
gebräuchlichen Schlüsseln ergibt sich folgendes Bild:
Der generelle Ambitus, der bei jeder Stimme ca. eine Undezime beträgt, wird aber in einer
konkreten Komposition auf eine dem jeweiligen Modus entsprechende Oktave beschränkt.
Im 2-stimmigen Satz, der aus dem Stimmenpaar Ténor-Diskant besteht, entspricht die
Oktave gleichermaßen in beiden Stimmen derjenigen einem authentischen oder plagalen
Modus, d.h. der Modus ist durch das Stimmenpaar eindeutig festgelegt.
Der Abstand zwischen den Stimmen beträgt im 2-stimmigen Satz in der Regel eine Oktave,
maximal aber eine Dezime.
Innerhalb jeder Klasse gibt es darüberhinaus noch spezielle Abstufungen: der „Unisonus“,
d.h. die Prime repräsentiert als absolute Verschmelzung zweier Töne das Prinzip der
vollkommenen Identität (ein und derselbe Ton in zwei Stimmen) und rangiert daher noch vor
der Oktave (der gleiche Ton in zwei Stimmen); die Quinte hingegen verkörpert die
hochgradige Verschmelzung von zwei verschiedenen Tönen.
In der Klasse der imperfekten Konsonanzen rangieren die Terzen als hochwertige vor den
Sexten als minderwertigen Zusammenklängen – mit eindeutigen Auswirkungen auf die Art
und Häufigkeit ihres Gebrauchs. So werden Terzen im Laufe des 16.Jahrhunderts
schlußfähig, Sexten nicht; Terzen können in größerer Anzahl parallelgeführt werden,
während mehr als drei parallele Sexten die absolute Ausnahme darstellen; Terzen können
im höherstimmigen Satz als primäre Intervalle fungieren, während Sexten davon so gut wie
ausgeschlossen sind. Bei den Terzen gilt die große Terz als konsonanter als die kleine,
ebenso bei den Sexten.
M.a.W.: ein jedes Intervall hat seine eigene, unverwechselbare Qualität, d.h. die Vorstellung
der „Intervallumkehrung“ bzw. der Komplementärintervalle ist dem kontrapunktischen
Denken vollkommen fremd! Ebensowenig werden größere, d.h. oktavüberschreitende
14 Zu den Intervallklassen: Menke, Kontrapunkt I, a.a.O:, S.75 – 79; Thomas Daniel, Kontrapunkt, Köln
2003, S.45ff., Peter Revers, Satz, S.41ff., Komtrapunkt im 14.Jahrhundert, in: Walter Salmen/Norbert
J. Schneider, Der musikalische Satz, Rum/Innsbruck 1987, S.41ff. Zur Geschichte der Intervallklassen
sehr ausführlich: Roland Eberlein, Die entstehung der tonalen Klangsyntax, Frankfurt
a.M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien, S.57ff.
32
Intervalle auf eine „Grundform“ zurückgeführt: eine Dezime gilt als eigenständiges Intervall,
nicht als „oktavierte Terz“:
Einen Sonderfall unter den Intervallen stellt die Quarte da, die aufgrund ihres einfachen
Schwingungsverhältnisses zu den Konsonanzen zählen müßte, aber im Laufe des
14.Jahrhunderts zur Dissonanz abgewertet wird. Sie ist im 2-stimmigen c.p. simplex
verboten und erst ab dem 3-stimmigen Satz als sekundäres Intervall erlaubt.
Die Klassifikation der Intervalle nach ihren Qualitäten bedeutet keine Festschreibung
isolierter und statischer Gegebenheiten, sondern impliziert eine sehr dynamische Auffassung
von musikalischer Dramaturgie bzw. musikalischem Zusammenhang: die perfekten
Konsonanzen fungieren als Ruheintervalle, von denen die musikalische Bewegung ihren
Ausgangspunkt nimmt und denen die Bewegung wiederum entgegenstrebt; sie ruhen in sich,
sind daher nicht fortsetzungsbedürftig und können nur auf eine ganz bestimmte Art erreicht
werden. Für ihre formale Plazierung sowie für ihre Einführung und Fortsetzung gelten daher
besonders strenge Regeln.
Die imperfekten Konsonanzen wiederum sind als Bewegungsintervalle charakterisiert: als
„unvollkommene“, d.h. instabile und daher laufend fortsetzungsbedürftige Intervalle halten
sie die Musik im Fluß. Sie führen von den Ruheintervallen weg und „streben“ ihnen
wiederum „zu“: sie vermitteln zwischen den Ruhepolen. Für den Gebrauch imperfekter
Konsonanzen gelten die am wenigsten strengen Regeln.
Die Dissonanzen schließlich dienen zur zusätzlichen Spannungserzeugung; ihr Gebrauch
wird im sich konstituierenden Kontrapunktsatz des 15.Jahrhunderts sukzessive
zurückgedrängt; dabei werden die verschiedenen Dissonanzformen ebenfalls systematisch
klassifiziert und ihr Gebrauch auf ganz bestimmte formale Orte bzw. Situationen
eingeschränkt. Dissonanzhäufungen finden sich charakteristischerweise kurz vor der finalen
Kadenz einer Musik: Spannung wird gesteigert, um die endgültige Auflösung zu einem
Ereignis zu machen. Die Einführung und die Auflösung von Dissonanzen ist ähnlich streng
reglementiert wie die Behandlung perfekter Konsonanzen.
Das Zusammenspiel der verschiedenen Intervallqualitäten und damit die Dramaturgie des
Kontrapunktsatzes kann exemplarisch an den Kadenzen gezeigt werden: sie stellen eine Art
„Mikrodramaturgie“ des Kontrapunktsatzes auf kleinstem Raum dar.
Wurde bis zum 13.Jahrhundert nur zwischen Konsonanzen und Dissonanzen, d.h. den
mathematisch einfachen (1:2:3:4) und den mathematisch komplizierten Intervallen
unterschieden, so ist die Einführung einer mittleren Intervallklasse der „imperfekten
33
Konsonanzen“ eine genuine Errungenschaft des Kontrapunkts. Und in ihr zeigt sich
exemplarisch die Modernität des kontrapunktischen Denkens. Denn die Intervallklasse der
„imperfekten Konsonanzen“ ist, wie Carl Dahlhaus dargelegt hat, eine „poietisch
unentbehrliche, aber theoretisch unbegründbare Kategorie. Daß Terzen und Sexten zwar
nicht unmittelbar, aber indirekt in Quinten und Oktaven aufgelöst werden mußten… war eine
kompositionstechnische Grundregel, die es möglich machte, durch Zusammenklänge
musikalischen Konnex und Fortgang zu erzielen (…) Sie erfüllte im Tonsatz des
14.Jahrhunderts eine Zusammenhang bildende Funktion“. Daß die imperfekten
Konsonanzen als „unselbständig“ galten; daß sie der selbständigen, in sich ruhenden Einheit
der perfekten Konsonanzen „zustreben“, erscheint als Erfüllung und Bekräftigung der
metaphysischen Tradition. Aber gerade, indem sie affirmiert und erfüllt wird, wird sie zugleich
unterminiert – denn durch die Einführung der mittleren „imperfekten Konsonanzen“ wird die
übergreifende musikalische Einheit, wie sie durch die perfekten Konsonanzen verkörpert
wird, nun als eine in sich vermittelte Einheit konzipiert: als Einheit, die sich nur vermittels der
Nicht-Einheit realisiert. Zwischen den konsonanten Ruheintervallen und den dissonanten
Spannungsintervallen vermitteln die imperfekt konsonanten Bewegungsintervalle: erst durch
die – im Sinne der Kontrapunktlehre – Entgegensetzung von Intervallen und deren
anschließende „Auflösung“ konstituiert sich überhaupt musikalische Harmonie; ihre Einheit
ist keine fraglose Gegebenheit mehr, sie wird als in sich widersprüchlich gedacht.15
Die Art und Weise, wie die Fortschreitungsregeln von imperfekten zu perfekten
Konsonanzen begründet wird, macht deutlich, wie die Kriterien und Kategorien, nach bzw.
mit denen Musik beurteilt wird, sich seit dem Hochmittelalter entscheidend verändert haben.
Die Regel, daß eine Stimme die perfekte Konsonanz mit einem Halbtonschritt erreichen muß
– daß also vor der Oktave die große Sexte, vor der Quinte die große Terz zu setzen und die
entsprechenden Töne beim Singen zu alterieren sind – wird bereits um 1300 von Marchettus
von Padua der „Schönheit“ wegen (pulchritudo) postuliert.16 Und die ebenfalls seit dem
14.Jahrhundert vorgenommene Abwertung der Quarte zu einer (im 2-stimmigen Satz
auflösungsbedürftigen) Dissonanz folgt denselben Kriterien. Ein Intervall, das dem bislang
unangefochtenen pythagoreischen Tetraktys angehört und deshalb als mathematisch
einfaches Intervall auch als konsonant zu gelten hat, wird nun als dissonant eingestuft: und
zwar aufgrund seines eigenartig schwebenden, uneindeutigen, unsteten Klangcharakters,
d.h. aufgrund der Hörerfahrung. Wiederum ist es der Eindruck, den ein Phänomen im
menschlichen Subjekt hinterläßt, d.h. die Erfahrung für eine bestimmte Kategorisierung
ausschlaggebend – nicht der Rang, den es in einer ontologisch sanktionierten Ordnung
einnimmt.
Die Dramaturgie des Kontrapunktsatzes richtet sich implizit gegen die mathematisch-
metaphysische Musiktheorie und die wenig entwicklungsfähige musikalische Praxis, die sie
erlaubt: die improvisatorische Organumspraxis, die auf der starren Dichotomie zwischen
Konsonanz und Dissonanz beruht und deshalb die Parallelführung von Oktaven, Quinten
und Quarten bevorzugt. Demgegenüber sollen die besonders strengen Regeln, die für die
Behandlung von Oktaven und Quinten aufgestellt wurden, die Kunstfertigkeit des Satzes und
die Individualisierung der einzelnen Stimmen sicherstellen: Parallelführung der Stimmen in
perfekten Intervallen klingt zwar gut, führt aber zur Unselbständigkeit der Stimmen und ist
außerdem eine allzu bequeme Art der Mehrstimmigkeit.
Obwohl der Kontrapunktsatz hauptsächlich Vokalmusik umfaßt, deren formaler Verlauf durch
den Text vorgegeben ist, entwickelt sich in der c.p.-Lehre durch Erfahrung und in Anlehnung
an die antike Rhetorik allmählich ein Sensorium und ein Bewußtsein für musikalische Form:
die Unterscheidung von exordium, media pars und finis ist der erste Ansatz einer spezifisch
musikbezogenen Formenlehre.17
15 Carl Dahlhaus, Harmonie und Harmonietypen, in: Gesammelte Schriften Band 2, Laaber 2004,
S.173ff.
16 Menke, Kontrapunkt I, a.a.O., S.92ff.; Eberlein, Klangsyntax, a.a.O., S.55ff.
17 Siehe Menke, Kontrapunkt I, S.259ff.
34
Kontrapunktische Regeln
Perfekte Konsonanzen
Für die Behandlung perfekter Konsonanzen bestehen die strengsten Regeln. Die wichtigste
Vorschrift lautet: die Parallelbewegung perfekter Konsonanzen ist im 2- und im
höherstimmigen Kontrapunktsatz, im einfachen und diminuierten Kontrapunkt ausnahmslos
verboten.
8– 8 1 – 1 5–5
10 – 8 6 – 5
Als herausgehobene Ruheintervalle, als Klänge, die das Ziel musikalischer Bewegung
darstellen und daher die Bewegung anhalten, können perfekte Konsonanzen können nur auf
ganz bestimmte Arten erreicht werden:
6– 8 3 – 1 10 – 8 3– 5
6 –5 6– 5
35
Für die Weiterführung perfekter Konsonanzen gelten weniger strenge Regeln: sie können
fortgeführt werden
a. zu einer anderen perfekten in sprungweiser Seitenbewegung in der Folge 8-5 bzw. 5-8.
Formal betrachtet sind diese Intervallfolgen sind typisch für 2-stimmige Eröffnungen – im
musikalischen Verlauf sollte man sie hingegen vermeiden! Generell werden kaum mehr als 2
perfekte Konsonanzen hintereinander gesetzt, da sonst die Musik nicht in Fluß kommt.
5– 8 8– 5 8 –5 5– 8
Die Fortschreitung 8-12 bzw. 12-8 ist ebenfalls möglich, aber im 2-stimmigen Satz
ungewöhnlich: denn zum einen ist die Verbindung zweier großer Intervalle mit einem
melodischen Quintsprung eine expressive Geste; und zum andern liegt sie an der Grenze
des Stimmabstands im 2-stimmigen Satz.
5 –3 5– 3 8– 3
Sogenannte „Antiparallelen“, d.h. das Fortschreiten von einer perfekten Konsonanz zu einer
Oktavierung derselben in sprungweiser Gegenbewegung (5-12 oder 8-15 bzw. umgekehrt)
klingen für sich genommen „leer“ und scheiden daher im 2-stimmigen Satz c.p.simplex als
Fortschreitung von vornherein aus; im diminuierten Kontrapunkt kann die ungünstige
Wirkung dieser Fortschreitung allerdings aufgefangen werden. Im höherstimmigen
Kontrapunkt kommen „Antiparallelen“ auch nicht diminuiert vor.18
5 – 12 1 – 8 15 – 8 12 – 5
18
Daniel, Kontrapunkt, a.a.O., S.177 und Menke, Kontrapunkt I, a.a.O., S.90f.
36
Imperfekte Konsonanzen
3 – 6 6 – 3
3 – 6 6 – 3
In jedem Fall muß bei dieser Bewegung darauf geachtet werden, daß sie keine falsche nicht-
harmonischen Relationen („Querstände“) ergeben; ausgeschlossen sind also:
b. In Gegenbewegung ist die Fortführung von Terzen zu Sexten (und umgekehrt) schritt-/
terzsprungweise möglich, d.h. wiederum durch die Intervallfolge 3-6/6-3:
6– 3 6 – 3 3 – 6 3 – 6
37
c. In Seitenbewegung ist wiederum die schrittweise Verbindung 5-6 möglich;
5 – 6 5 –6
sprungweise können 3-6, 6-3 sowie 6-10/10-6 miteinander verbunden werden. Die
letzgenannte Verbindung befindet sich wiederum an den Grenzen des Stimmabstands und
ist im 2-stimmigen Satz eine expressive Geste, weshalb sie dort nicht häufig anzutreffen ist.
3 – 6 – 3 – 6 – 3 6 – 10 – 6 – 10 – 6
Im 2-stimmigen und ametrischen c.p. simplex gelten daher sehr einfache Regeln:
38
I.3. Fortschreitungsmodelle im 2-stimmigen Satz
Die Klausellehre ist ursprünglich kein Gegenstand der Kontrapunktlehre, wird aber im Laufe
des 16.Jahrhunderts in den Regelkanon aufgenommen (bei Gallus Dressler oder Gioseffo
Zarlino). Die Klausellehre hat exemplarische Bedeutung für den Kontrapunkt insgesamt: am
melodischen, harmonisch-intervallischen und formalen Aufbau von Kadenzen läßt sich
beispielhaft die Ästhetik bzw. Dramaturgie des gesamten kontrapunktischen Intervallsatzes
studieren: harmonisch gesehen fungieren die imperfekten Konsonanzen als
Bewegungsintervalle, durch die Musik in Fluß gehalten wird – imperfekte Zusammenklänge
sind fortsetzungsbedürftig, ihre Imperfektheit gibt den Anstoß zur Fortsetzung der
Bewegung. Die perfekten Konsonanzen hingegen ruhen in sich und verlangen von sich aus
keinerlei Fortsetzung: sie repräsentieren die Ruheintervalle, von denen die Bewegung ihren
Ausgangspunkt nimmt ausgeht und denen sie wiederum entgegenstrebt. Als
herausgehobene Klänge können perfekte Konsonanzen deshalb melodisch nur auf eine
ganz bestimmte Art erreicht werden: durch eine Sekundbewegung der beiden
Gerüststimmen Ténor und Diskant, wobei eine Stimme den Ton des perfekten Intervalls „der
Schönheit wegen“ leittönig, d.h. durch einen Halbtonschritt erreicht. Dissonanzen wiederum
werden nach Bewegungsart und rhythmischer Struktur klassifiziert und ihr Gebrauch
reglementiert: bei musikalischer Bewegung kommt es zu typischerweise zu unbetonten
Durchgangs- und Wechselnoten-Dissonanzen – während der Gebrauch auffälliger, d.h.
betonter Synkopen-Dissonanzen auf die Situation der Kadenz und der Kadenzvorbereitung
beschränkt wird.
mi-Klausel
Finalis Finalis
39
Im 2-stimmigen Kontrapunktsatz wird der Ténor bzw. der Cantus durch eine Gegenstimme,
den sog. „Discantus“ – in der 2-stimmigen Kadenz wird somit die Ténorklausel durch eine
Diskantklausel ergänzt. Diese besteht in einem steigenden Sekundschritt in die Finalis des
jeweiligen Modus. Abhängig vom Modus besteht dieser entweder in einem Ganz- oder
Halbtonschritt; um den Halbtonanschluß in den Schlußton zu gewährleisten, wird der
Halbtonschritt in bestimmten Modi durch Erhöhung des ersten Tons der Klausel „künstlich“
erzeugt. Nur im phrygischen Modus ist aufgrund der mi-Klausel im Ténor keine Alteration
notwendig.
phrygisch
Finalis Finalis
Im 2-stimmigen Satz wird in einer Kadenz eine Ténor- mit einer Diskantklausel kombiniert.
Dadurch ergibt sich von der PU zur U die typische kadenzielle Klangfortschreitung von einer
6, die sich in Gegenbewegung und in einer Stimme leittönig zur 8 weiterbewegt bzw. sich in
die 8 „auflöst“.
Der leittönige Halbtonschritt liegt dabei überwiegend in der Diskantklausel; wenn aber der
Modus über keinen „natürlichen“ (d.h. durch das Tonsystem selbst gegebenen) Leitton
verfügt wie im Dorischen und Mixolydischen, wird die 7.Stufe erhöht, d.h. zu einem mi fictum.
Die Ausnahme ist auch hier das Phrygische, in dem bereits die Ténorklausel eine mi-Klausel
ist – und die Diskantklausel daher ein Ganztonschritt. Grundlegend werden daher die
Leitton-Kadenz und die mi-Kadenz unterschieden
Leitton-Kadenz mi-Kadenz
6 – 8 6 – 8
PU U PU U
40
Die Klauseln sind benannt nach der Stimme, in der sie typischerweise vorkommen. Sie sind
jedoch zwischen den Stimmen vertauschbar, so daß die Ténorklausel im Sopran und die
Diskantklausel im Ténor liegt. Dadurch ergeben sich von der PU zur U die Formen 10-8
sowie 3-1. NB: Es handelt sich dabei nicht um eine „Umkehrung“ von Intervallen: das
Phänomen der „Komplementärintervalle“ ist dem Kontrapunktsatz völlig fremd! Der
Klauseltausch ist vielmehr eine Erscheinungsform des generellen Stimmtauschs bzw. des
doppelten oder mehrfachen Kontrapunkts.
Getauschte Klauseln:
Leitton-Kadenz mi-Kadenz
3 – 1 10 – 8 3 – 1 10 – 8
PU U PU U PU U PU U
Im 14. und frühen 15.Jahrhundert gebräuchlich ist ebenfalls die Kadenz in die Quinte mit der
3-5-Progression; auch hier wird die perfekte Konsonanz in Gegenbewegung sowie mit
Halbtonanschluß in einer Stimme erreicht. Diese Kadenzform ist bereits im 15.Jahrhundert
veraltet.
Leitton-Kadenz mi-Kadenz
3 – 5 10 – 12 3 – 5 10 – 12
PU U PU U PU U PU U
Auf der Antepenultima steht in aller Regel ebenso eine imperfekte Konsonanz; perfekte
Konsonanzen sind aber nicht ausgeschlossen. Typische Antepenultima-Wendungen sind:
Leitton-Kadenz
8 – 6 – 8 6 – 6 – 8 5– 6 – 8 10 – 6 – 8 3 – 6 – 8
APU PU U APU PU U APU PU U APU PU U APU PU U
mi-Kadenz
8 – 6 – 8 6 – 6 – 8 5– 6 – 8 10 – 6 – 8 3 – 6 – 8
APU PU U APU PU U APU PU U APU PU U APU PU U
41
b. Fortschreitungsmodelle II: Bewegungsmodelle
Für den simultanen Anfang zweier Stimmen gilt eine einfache Regel: es sollen nicht mehr als
zwei perfekte Konsonanzen hintereinander folgen (8-5/5-8), weil ansonsten die Musik nicht in
Gang kommt. Bereits der zweite Klang kann aber eine imperfekte Konsonanz sein.
42
43
B. Kontrapunkt 01 – 2-stimmiger Satz,
systematische Darstellung
INHALTSVERZEICHNIS Seite
44
II.3.c. Typische Verschränkungen diminuierter Gestalten
im 2-stimmigen Satz. Modelle und Besonderheiten
II.4.a. Allgemeines 91
II.4.b. Beobachtungen und Regeln
Tonhöhen 93
Rhythmik, Metrik, Textierung 98
45
II.1. Allgemeine Aspekte der Diminution
Der Begriff der „Diminution“ meint einen sowohl metrischen als auch melodischen Vorgang:
in metrischer Hinsicht die (proportionale) Aufteilung und Verkleinerung von größeren
Notenwerten, melodisch die Ausfüllung größerer Intervalle (Rahmenintervalle), die sich durch
die einzelnen Bewegungszüge selbst wiederum ergeben.
Im diminuierten Satz entsteht überhaupt erst „Polyphonie“ in einem qualifizierten Sinne:
durch die Individualisierung aufeinander bezogener Stimmen, die mittels Diminution ein
eigenständiges melodisches und rhythmisches Profil erhalten. Eigenständiges rhythmisches
Profil erhalten Stimmen, wenn sie sich vorwiegend rhythmisch entkoppelt bzw. versetzt
bewegen; die Seitenbewegung, die dadurch zustandekommt, ist deshalb generell die
übergreifende und in vielen Details die dominierende Bewegungsart in einem polyphonen
Satz. Eigenständiges melodisches Profil erhalten Stimmen, indem sie charakteristische
Bewegungsformen ausprägen, die sich graphisch als Figuren bzw. Kurven darstellen lassen.
Rhythmik und Melodik stützen sich dabei gegenseitig: ein rhythmisches Muster fungiert als
Mittel, um einer Tonfolge eine Gestalt zu verleihen – und umgekehrt erscheint eine
melodische Prägung als Mittel, um einem Rhythmus eine Richtung zu geben
In einem diminuierten polyphonen Satz wird jede einzelne musikalische Kategorie an sich
selbst und im Verhältnis zu anderen Kategorien mehrdeutig: durch die Diminution wird in
melodischer Hinsicht die Unterscheidung von direkten und indirekten melodischen
Intervallen, d.h. von unmittelbar aufeinander folgenden und Rahmen- bzw. Gerüstintervallen
relevant – bei den Tondauern die Unterscheidung von Grund- und Gestaltdauern, Hinter-
und Vordergrund. Auch die Bewegungsarten werden mehrdeutig und gehen im diminuierten
Satz ineinander über: Bewegungszüge können z.B. im Ganzen als Gegenbewegung, aber
harmonisch-kontrapunktisch (Punkt für Punkt) im einzelnen als Seitenbewegung strukturiert
sein und außerdem Momente der geraden Bewegung ausprägen.
46
II.2. Techniken der Diminution20
Aus einem Traktat von Pietro Pontio, in dem die Techniken der Diminution exemplarisch an
einem Modell dargestellt werden:
20
Der Ausschnitt stammt aus: Johannes Menke, Kontrapunkt I, Laaber 2015, S.179ff.
47
Zu beachten ist bei der zeitlichen Diminution, daß bestimmte rhythmische Bildungen
untypisch und andere aufgrund der Gegebenheiten des mensuralen Systems ganz
unmöglich sind. Folgende Regeln lassen sich verallgemeinernd formulieren21:
+ Es können nur längere Notenwerte um einen kürzeren verlängert werden, nie umgekehrt!
+ Ein jeder Notenwert kann nur um den nächstkleineren Wert verlängert werden, nicht um
den übernächsten, d.h. es gibt keine fünf- und keine siebenzeitigen Notenwerte!
In der c.p.-Lehre wurde ursprünglich und für lange Zeit nur zwischen zwei Gestalten des
mehrstimmigen Satzes unterschieden: dem einfachen Note-gegen-Note-Kontrapunkt, d.h.
dem c.p. simplex und dem c.p. diminutus (auch coloratus, floridus); Gegenstand der
kontrapunktischen Didaktik war dabei zunächst nur der simplex – der c.p. diminutus wurde
49
erst allmählich einbezogen und dann bereits gegen Ende des 16.Jahrhunderts aus
didaktischen Erwägungen in „Gattungen“ eingeteilt22. In dieser Einteilung manifestiert sich –
ohne daß es den Autoren im einzelnen bewußt gewesen wäre – der Übergang vom alten,
d.h. intervallisch und mensural geprägten hin zum modernen tonal und (akzentstufen-
)taktbestimmten Kontrapunktsatz. Anfang des 18.Jahrhunderts ist die tonale und
takmetrische Anverwandlung des Kontrapunkts abgeschlossen: in seinem 1725
erschienenen „Gradus ad Parnassum“ fixiert und systematisiert Johann Joseph Fux die
Ergebnisse dieser Entwicklung. Sein „Gattungskontrapunkt“ in 5 Schritten dokumentiert in
erster Linie die Diminutionstechniken des barocken Kontrapunktsatzes; für die Erkenntnis
des Renaissance-Kontrapunkts ist sein System hingegen nur sehr bedingt von Nutzen.
Rhythmische Muster
N.B. Punktierte Figuren, bei denen der kurze Wert an erster und die gedehnte Note an
zweiter Stelle steht (im 18.Jahrhundert als „lombardischer Rhythmus“ eine
Modeerscheinung) kommen in der mensuralen Metrik nicht vor. Diese ist – nach antiker
Tradition – eine quantitierende Metrik, bei der die Länge und das Gewicht eines Klangs
zusammenstimmen müssen; eine kurze Note auf einer schweren Zeit widerspricht diesem
Prinzip, wäre demnach „gegenmetrisch“.
Synkope
51
aa. Konsonanter Satz
+ bei sprungweise parallel geführten imperfekten Konsonanzen mit SB und M ist die
terzweise Verbindung von Terzen gebräuchlich.
Formal ist diese Verbindung entweder nach einem Beginn in perfekten Konsonanzen oder
auch im musikalischen Fluß gebräuchlich; satztechnisch ist sie häufig mit einem Kanon
verknüpft.
3 – 3 3– 3
+ „verdeckte Parallelen“
„Verdeckte Parallelen“ sind Fortschreitungen in gerader Bewegung von einer imperfekten zu
einer perfekten Konsonanz oder Verbindungen zweier perfekter Konsonanzen, bei denen
erst eine Diminution die verbotene Parallelbewegung offensichtlich werden ließe.24 Sie
werden im Kontrapunktsatz des späten 16.Jahrhunderts eher gemieden; im frühen
16.Jahrhundert sind sie hingegen häufig anzutreffen, bei Josquin sind sie geradezu eine
Stileigentümlichkeit.
Folgende Beobachtungen lassen sich machen und in Regeln fassen:
+ es handelt sich bei verdeckten Parallelen um ein einmaliges Ereignis, das nicht in
derselben Richtung fortgesetzt werden kann.
+ Die melodische Sprungbewegung, die sich bei der Fortschreitung in einer Stimme ergibt,
liegt bevorzugt in der Unterstimme.25
+ die Bewegung geht zumeist von einer 3 oder 10, äußerst selten von einer 6 aus.
5– 8 10 – 8 10 – 8
23 Dazu: Thomas Daniel, Kontrapunkt, Köln 1997, S.187ff., Diether de la Motte, Kontrapunkt,
Kassel/Basel/London, S.76ff.; Menke, Kontrapunkt, a.a.O., S.87ff.
24 Über verdeckte Parallelen sehr gut: Daniel, Kontrapunkt, a.a.O., S.177ff.; auch: Menke,
52
Die 5-8 und 10-8-Fortschreitung wirkt kadenziell: wie ein reduzierter 4-stimmiger Satz mit
Ténor- bzw. Sopranklausel über einer Baßklausel (d.h. Quintfall oder Quartsprung).
Auch eine Häufung verdeckter Parallelen ist bei Josquin nicht untypisch:
3–5–8–5 3–8–5
3 –5 8 –5
Diese Wendung taucht auf der Position der APU als Vorbereitung der Kadenzsynkope auf…
3–5 6–8
… oder am Ende der Kadenz, als Absprung aus der Ténorklausel in die Ultima: eine (sehr
auffällige und nicht sehr häufige) Variante einer „cadenza sfuggita“.
3–5
Gegenbewegung
+ bei Gegenbewegung in SB und M werden typischerweise Schritte und Terzsprünge
kombiniert, so daß sich kontrapunktisch 3-6/6-3- sowie 5-6/6-5-Fortschreitungen ergeben:
3–10 5 – 10 10 – 5
…oder eine
Synkope
Die konsonante Synkope ist ein vorwiegend rhythmisches Phänomen. Sie tritt in erster Linie
als als 6-5-Bewegung auf; der synkopierte Ton kann aufgrund seines konsonanten
Charakters auch sprungweise abwärts weitergeführt werden.
6–5 8–6
Konsonante Synkopen treten auch als in Form versetzter Terzen in Terzsprüngen auf:
5 –3 – 5 –3
Die konsonante Synkope wird auch aufwärts in Form einer sequenzartig verlaufenden
5-6-Synkopenkette („congeries“) gebraucht: es ergeben sich dadurch indirekte
Quintparallelen auf den relativ schweren Mensurpositionen.
5 –6 5 –6 5 –6 etc.
54
+ sprungweise Seitenbewegung
Mit schritt- oder sprungweiser Seitenbewegung lassen sich Quint- oder Oktavparallelen
„verstecken“, so daß sich indirekte Parallelen27 unterschiedlichen Charakters ergeben:
a) b) c) b) a) c)
a) c) a) c)
27Thomas Daniel wendet sich – zurecht – gegen den gebräuchlichen Begriff „Akzentparallelen“, da
der tactus des 16.Jahrhundert keine immanenten „Akzente“ oder „Schwerpunkte“ kennt (Daniel,
Kontrapunkt, a.a.O., S.179f.).
55
bb. Dissonanzen
Ebenso wie die Klassifizierung der Intervalle ist die ebenfalls an der Wahrnehmung
orientierte Klassifizierung und Systematisierung verschiedener Dissonanzformen eine
genuine Leistung der Kontrapunkt-Lehre. Sie wird das erste Mal bei Tinctoris 1477
vorgenommen, der zwischen den beiden Gestalten Transitus und Syncopatio unterscheidet.
Die Bezugsstimme kann außerdem ihren Ton entweder rhythmisch versetzt oder
homorhythmisch mit der Oberstimme wiederholen; im zweiten Fall wird der flüchtige
Charakter des Transitus aufgehoben und sein dissonanter Charakter verschärft.
(NB. Alle möglichen Verhaltensweisen einer Bezugsstimme können prinzipiell auf andere
dissonanzhaltige Figuren (Wechselnote und Synkope) übertragen werden!
Dem flüchtigen Charakter der Transitus-Bewegung entsprechend ist der typische Notenwert
von Durchgängen die Semiminima (SM), nicht die Minima (M). Der Fux´sche
Gattungskontrapunkt, bei der der Durchgang im Rahmen der „2.Gattung“ (2:1, d.h. 2 Halbe
gegen eine Ganze) behandelt werden, verfehlt deshalb die kompositorische Realität des
16.Jahrhunderts. Durchgänge in rhythmisch gleichmäßigen Halben29 werden zwar
theoretisch behandelt, sind aber der am seltensten anzutreffende Typus eines Durchgangs.
Wenn er auftaucht, dann wird er in aller Regel eröffnet von einer gedehnten (d.h.
punktierten) SB mit anschließender Durchgangs-M; es handelt sich dabei um die am
häufigsten gebrauchte Durchgangs-Figur mit M.
28 Dazu: Oliver Schwab-Felisch, Wie totalitär ist die Schichtenlehre Heinrich Schenkers, in: Clemens
Kühn/John Leigh, Systeme der Musiktheorie, Dresden 2009, S.35ff.
29 Bei de la Motte firmiert diese Durchgangsbewegung als „Typ 3“ (de la Motte, Kontrapunkt, a.a.O.,
S.79ff.
56
Für Durchgänge mit M ergeben sich also folgende typische Figuren:
Tr
Auf elementarer Ebene wird mit einer Transitus-Bewegung, egal in welche Richtung sie
verläuft, eine Terz diminuiert bzw.umgekehrt formuliert: die einfache Transitusbewegung
ergibt eine Terz als Rahmenintervall.
Dementsprechend kommen je nach Lage und Bewegungsrichtung folgende
Anfangsintervalle in Frage:
In der Oberstimme
Transitus abwärts: Transitus aufwärts:
3 (bzw. 10), 5 (bzw.12) und 8 3 (bzw.10), 6 und 8
In der Unterstimme
Transitus abwärts:
1 (bzw. 8), 3 und 6
(x)
Transitus abwärts:
3 (bzw. 10), 5 (bzw. 12) und 8
(x)
10 – 9 – 8 8 – 7 –6 12–11
(auch 3 – 2 – 1) (auch 5–4)
30Bei de la Motte ist diese Gestalt als „Typ 2“ gekennzeichnet (de la Motte, Kontrapunkt, a.a.O.,
S.78f.
57
2. Gleichmäßig verlaufende M (Muster 2)
Tr Tr
(x) 3–Trit.
6–v5 (x)
Einer gleichmäßigen Tr-Bewegung in M geht in der Regel eine unauffälligere Tr-Figur vom
Typ 1 voraus:
3–4 6–7
Nach ihrer rhythmischen „Auskomponierung“ kann man drei Kadenzarten unterscheiden: die
„cadenza semplice“, die „cadenza composta“ und (ab dem 3-stimmigen Satz) die „cadenza
doppia“. In der „cadenza semplice“ (bzw. „clausula simplex“) bewegen sich die Stimmen
homophon, in der „cadenza composta“ wird eine Syncopatio und damit eine betonte
Dissonanz in die Kadenz eingeführt. NB: Die Bedeutung und Rangfolge der Kadenzen
erscheint in der kompositorischen Praxis umgekehrt als in der Kontrapunkt-Lehre: in der
Praxis ist die synkopierte Kadenz seit Johannes Ciconia (d.h. Ende 14.Jahrhunderts) die
Norm, die einfache Kadenz dagegen die Ausnahme – während in der Theorie die einfache
Kadenz als „Grundlage“ und die synkopierte als „Erweiterung“ bzw. „Ableitung“ behandelt
wird. Alle Kadenzen können grundsätzlich auch noch weiter diminuiert werden.
Eine Syncopatio ist (im Gegensatz zur einfachen konsonanten Synkope) sowohl ein
melodisches, harmonisches und rhythmisches Phänomen. Man kann daran vier
verschiedene Momente unterscheiden:
1. Eine syncopatio ist in der Regel vorbereitet: der dissonante Ton liegt bereits in einer
Stimme und wird dadurch dissonant, daß die andere Stimme sich bewegt. Die Stimme, die
sich bewegt und dadurch in der anderen die Dissonanz bewirkt, heißt (nach Artusis
systematischer Dissonanzlehre aus dem Jahr 1598) agens-, die Stimme, die liegenbleibt und
deren Ton dissonant gemacht wird, heißt patiens-Stimme.
2. Die Dissonanz tritt auf einer schweren Zählzeit ein: der Penultima (PU) einer Kadenz...
3.… und wird auf der nachfolgenden leichten Zählzeit aufgelöst.
4. Durch den Eintritt der Dissonanz auf einer schweren Zählzeit ergibt sich auch eine
„rhythmische Dissonanz“ (H.Berlioz), d.h. eine synkopische Betonungsverschiebung.
Prinzipiell können beide Stimmen in der Rolle des „agente“ bzw. „patiente“ auftreten: „agiert“
die Unterstimme und „erleidet“ die Oberstimme die Dissonanz, dann spricht man (wieder
nach Artusi) von einer Supersyncopatio, die eine 6-7-6-Fortschreitung ergibt; agiert
umgekehrt die Oberstimme und liegt die Dissonanz in der Unterstimme, dann hat man es mit
einer Subsyncopatio mit der Intervallfolge 3-2-3 zu tun.
Unter dem (formalen) Gesichtspunkt der Kadenz betrachtet ergeben sich die beiden
typischen synkopischen Kadenzformeln, einmal mit regulär gesetzten, einmal mit
vertauschten Klauseln; sie gelten für alle Modi und werden im folgenden daher ohne
Schlüssel dargestellt:
agens patiens
7–6 – 8 2–3 – 1
PU U PU U
59
Eine Quartsynkope hingegen kann nur als Supersyncopatio, d.h. mit der Dissonanz in der
Oberstimme auftreten, d.h. ein Stimmtausch ist hier ausgeschlossen:
4–3
NB: eine dissonante Syncopatio kann (im Gegensatz zu einer konsonanten Synkope)
Stimme nur in Abwärtsbewegung erreicht und aufgelöst werden, d.h.: es gibt keine
Aufwärtssynkopen:
Nach Artusis Resolutionslehre von Ende des 16.Jahrhunderts kann die Bezugsstimme bei
der Auflösung der Synkopendissonanz auch in die jeweils andere imperfekte Konsonanz
springen: dadurch resultieren 7-3 und 2-6-Verbindungen.32 Das Modell, das sich dadurch
ergibt, ist, vor allem wenn es zu einer Syncopatiokette verlängert wird, die Urform der
barocken Quintfallsequenz:
6–7–3 3–2–6
Die auf der PU eintretende Synkopendissonanz wird durch ebenfalls relativ formelhafte,
standardisierte harmonisch-melodische Wendungen auf der Antepenultima (APU)
vorbereitet; dabei wird der synkopierte Ton meist schrittweise, manchmal auch sprungweise
erreicht. Häufig tritt bereits auf der APU eine vorletzte Synkopendissonanz (↓) ein:
6 – 6 – 7– 6 – 8 7– 6– 7 – 6 – 8 10 – 6 –7– 6 – 8 3 –6 – 7– 6 – 8
APU PU U APU PU U APU PU U APU PU U
3– 3– 2– 3 – 1 2 – 3– 2 – 3 – 1 6–3–2– 3 – 1 6– 3–2– 3 – 1
APU PU U APU PU U APU PU U APU PU U
7 – 6 – 7– 6 – 7– 6 – 8
APU PU U
Gebräuchlich ist auch die Dehnung der PU im Ténor auf 2/3 der Mensur, wodurch die
Synkopendissonanz auf die zweite, durch die Ténorbewegung betonte Semibrevis entfällt –
ein Hinweis darauf, daß im t.perf. bereits die SB sich metrisch verhalten:
bzw.
6 – 7 – 6 – 8 5 – 7 – 6 – 8
APU PU U APU PU U
Syncopationes emanzipieren sich nach ca. 1550 zunehmend von ihrem traditionellen Ort,
der Kadenz und durchdringen den musikalischen Verlauf; dabei werden sie so
abgeschwächt, daß sie nicht mehr als Kadenz erscheinen. (Dazu ausführlicher in Kapitel II.3.
über die „cadenza sfuggita“!)
61
II.3.a. Diminution mit schwarzen Noten (Semiminima und Fusa)
Rhythmische Muster
+ im Tempus imperfectum
Ausgeschlossen ist die Folge eines SM-Paares mit nachfolgender M am Beginn oder in der
Mitte einer Mensureinheit, denn es widerspricht der Anforderung, daß Länge und Gewicht
von Noten koordiniert sein müssen, auf einer schweren M also auch eine längere Note zu
stehen hat:
Nicht nur möglich, sondern ausgesprochen typisch hingegen ist ein betontes SM-Paar mit
nachfolgender SB-Synkope im Zusammenhang von Kadenzen:
In dieser Konstellation bildet die lange SB-Synkope ein Gegengewicht zum das metrisch
„falsch“ plazierten SM-Paar, fängt es gewissermaßen auf; sehr oft ist das SM-Paar aber
auch der Abschluß einer längeren SM-Bewegung Außerdem sind solche „gegemetrischen“
Rhythmen typisch für die Kadenz und bilden ein rhythmisches Äquivalent zur
Dissonanzhäufung bei Kadenzen.
63
aa. Konsonanter Satz
3 3 3 3 3 6 6 6 6 6
3333 3
+ Parallelsprünge mit SM
sind wiederum auf terzweise springende Terzen beschränkt, rhythmisch in einer punktierten
Figur oder in einem Paar von 2 SM. Es handelt sich dabei um ein Einzelereignis
5 – 8 3–8–5
…oder die perfekte Konsonanz wird in einer Stimme aus einer SM-Bewegung heraus
erreicht – wobei die SM-Bewegung am Anfang oder am Ende häufig dissonant ist. Es ist dies
eine Eigentümlichkeit der Musik in der 1. Hälfte des 16.Jahrhunderts:
34Daniel, Kontrapunkt, a.a.O, S.187; de la Motte, Kontrapunkt, a.a.O., S.76; Menke, Kontrapunkt,
a.a.O., S.87
64
Gerade Bewegung und Gegenbewegung
+ Simultansprünge
a. bei homorhythmischer SM-Bewegung in beiden Stimmen sind in Gegenbewegung nur
simultane Terzsprünge üblich. Ein solcher „Stimmtausch“ (d.h. Austausch der Töne zwischen
den beiden Stimmen) ergibt einen Wechsel der imperfekten Konsonanz zwischen 6 und 10.
Ein Wechsel zwischen 3 und 10 ergibt einen melodischen Quart- und Quintsprung. Formal
stehen Simultansprünge üblicherweise am Ende einer Phrase in Viertelbewegung.
6 – 10 6 – 10
3 –10
10 – 5 5 – 10 3 – 10 5–3
10 – 5
Seitenbewegung
+ schrittweise Seitenbewegung mit konsonanten Intervallen ergibt einen konsonanten
Transitus mit der bekannten 6-5- bzw. 5-6-Bewegung:
6–5
+ sprungweise Seitenbewegung mit SM erfolgt am häufigsten mit Terzen, ist aber auch bis
zur Oktave möglich. Solche Sprünge sind herausgehobene Ereignisse, die innerhalb von
Bewegungszügen nur an bestimmten Stellen und formal nur an bestimmten Orten
vorkommen. Sprungfiguren werden behandelt im Kapitel II.3.d.
65
bb. Dissonanzen
Transitus II
Für Transitus-Bewegungen ist die SM der typischste Notenwert: auf dieser metrischen
Ebene kommt der „flüchtige“ und „leichte“ Charakter der Bewegung adäquat zur Geltung. Bei
einer Transitus-Bewegung in Vierteln müssen die Zusammenklänge auf den Minimae einer
Mensureinheit konsonieren – oder anders ausgedrückt: es können Transitus-
Bewegungszüge in Halben vorkommen, aber sie müssen auf Minima-Ebene konsonant
gehalten werden; dissonante M-Durchgänge sind mit Vierteln ausgeschlossen!
Ansonsten gelten die gleichen Regeln wie bereits beim M-Transitus.
Die gedehnte M mit SM-Transitus ist die häufigste Durchgangsfigur.35 Man als proportionale
Halbierung und damit Beschleunigung der punktierten Figur mit weißen Noten auffassen. Bei
dieser Figur wird wiederum im Rahmenintervall eine 3 ausgefüllt – das ergibt wiederum
folgende Anfangsintervalle:
In der Oberstimme
Transitus aufwärts: 3 (bzw. 10), 6 und 8 (bzw. 1)
3 – 4–5 10–9–8 8–9–10 6 – 7 –(12)
In der Unterstimme
Transitus abwärts: 3, 5 und 8
3 – 4 –(3) 6 – 7– 8 8–7
35Sie firmiert bei de la Motte als „Typ 1“ (de la Motte, Kontrapunkt, a.a.O., S.77f.); zum Transitus
auch: Daniel, Kontrapunkt, a.a.O., S.193ff.; Menke, Kontrapunkt, a.a.O., S.190ff.
66
Transitus aufwärts: 1 bzw. 8, 3 und 6
10 – 9–(6) 5–4–3 8 –7
Kettenbildung
10 – 9 – 8 – 7– 6 – 5 8 – 7 – 6 – 5– 4–3
Bei dieser rhythmischen Gestalt wird melodisch eine Quinte diminuiert, was die folgenden
Ausgangsintervalle ermöglicht:
In der Oberstimme
Transitus aufwärts
Transitus abwärts
In der Unterstimme
Transitus abwärts
Transitus aufwärts
67
3. Gruppe von 4 SM (Muster 3)
Einer Transitus-Bewegung mit 4 gleichmäßigen SM kann zum einen ebenfalls als Ausfüllung
einer melodischen Quinte auftreten. In diesem Fall ergeben sich die gleichen
Ausgangsklänge wie bei dem rhythmischen Muster 2:
In der Oberstimme
Transitus aufwärts
Transitus abwärts
In der Unterstimme
Transitus abwärts
Transitus aufwärts
68
Beide Bewegungsmuster können jedoch auch als Ausfüllung einer melodischen Quarte oder
auch zweier Terzen aufgefaßt werden. Das hängt vom Verhalten der Bezugsstimme ab:
wenn diese sich bewegt, dann gliedert sie den Bewegungszug der Tranistus-Stimme und
läßt deren ersten Teil entweder als Quart- oder Terzzug erscheinen.
3 – 4–6–7–6 8 – 7–5–4–3
3 – 4–6–7–6 8 – 7–5–4–3
6–5–6–5–3
69
4. „nota cambiata“36
Die aus vier Noten bestehende „cambiata“-Figur diminuiert intervallisch eine Quarte; nimmt
man den Zielton der Figur hinzu, dann ergibt sich die Diminution eines Sekundschritts.
Rhythmisch tritt die Cambiata in allen bekannten rhythmischen Gestalten auf, von ihrer
metrischen Position sowohl auf schwerer Minima als auch synkopisch versetzt.. NB. Bei
allen rhythmischen Gestalten ist die dissonante 7 bzw. 4 immer kurz, d.h. eine SM lang!
a) b) c) (versetzt) d)
8–7–5–6– 8
3–4–6–5– 8 3–4–6–5– 8
Die „cambiata“ ist im gesamten 16.Jahrhundert eine sehr typische Figur; sie wird besonders
in ihrer punktierten Gestalt (Typ b. bzw. c.) gerne im musikalischen Verlauf als
Sequenzmodell oder kanonisch versetzt gebraucht:
In der Oberstimme ist die Cambiata mit den Anfangsintervallen 6 oder 8 möglich; mit der 5,
wenn die Bezugsstimme sich beim dritten Ton bewegt.
6 8
In der Unterstimme erfordert die Cambiata die Anfangsintervalle 3 und 5; mit 6 bei
entsprechendem Wechsel der Bezugsstimme.
3 5
36Zur nota cambiata: Daniel, Kontrapunkt, a.a.O., S.124ff.; Menke, Kontrapunkt, a.a.O., S.200ff. sowie
de la Motte, Kontrapunkt, a.a.O., S.108f.
70
5. Irregulärer Transitus bzw. Transitus inversus37
Der „Transitus inversus“, d.h. der schwere Durchgang mit SM tritt grundsätzlich nur in
Abwärtsbewegung auf. Intervallisch diminuiert er eine Quarte, rhythmisch ist er in zwei
Gestalten möglich:
+ in einem daktylischen Rhythmus mit unterschiedlichen Längen der langen ersten Note –
wobei die Figur mit einfacher oder gedehnter SB viel häufiger anzutreffen ist als jene mit M.
Im Regelfall steht dabei die Dissonanz auf der ersten SM:
8 – 7–6 10 – 9–8
12 – 11–10 5 –4–3
In einer Variante, die bei Josquin bisweilen anzutreffen ist, liegt die Dissonanz auf der
zweiten SM: diese Konstellation ist nur vom Ausgangsintervall 6 (Oberstimme) und 5
(Unterstimme) möglich. Dieser umgekehrte Durchgang entspricht einer regulären
Wechselnote, die aber nicht zum Ausgangston zurückkehrt.
6–5–4!
5–6–7!
+ als „Transitus inversus“ innerhalb einer Gruppe von 4 SM, deren dritte dissonant ist. Diese
Bewegung geht, wenn sie in der Oberstimme stattfindet, ebenfalls von einer 6 und in der
Unterstimme von einer 5 aus.
6 –5– 4– 3
Eine bei Josquin Desprez sehr häufig anzutreffende Figur ist ein Transitus in daktylischem
Rhythmus (Muster 4):
Folgende Konstellationen sind möglich – und je nach Situation zeigt diese Figur
unterschiedliche Facetten.
a.
Transitus regularis, dessen dissonante Note zunächst „in der Luft hängen bleibt“, aber
nachträglich, d.h. nach dem Rücksprung aufgelöst wird.
b.
Der Durchgang ist hier ein „Transitus inversus“, der nach dem Rücksprung weiterhin in
Abwärtsrichtung mit einer Art unvollständiger „nota cambiata“ fortgesetzt wird – es ergibt sich
eine Figur, die auf „eckige“ Weise einen Quartrahmen diminuiert und hier als soggetto eines
Kanons durchgeführt wird.
c.
Der „Transitus inversus“ mit Rücksprung wird hier für sich genommen als autonome Figur
behandelt – im Zusammenhang aber eingesetzt als Unterbrechung einer aufsteigenden
Melodielinie, die ihren Aufstieg zum Oktavton nach dem Rücksprung fortsetzt.
38 Diese Art der Dissonanz wird behandelt bei de la Motte, Kontrapunkt, a.a.O., S.107f.
72
Wechselnote I
Wechselnotenbewegungen treten überhaupt erst auf der Ebene der SM auf. Es handelt sich
bei der Wechselnote ebenso wie beim Transitus um eine schrittweise erreichte Nebennote,
die aber, anders als der Transitus, wieder im Gegenschritt zur Hauptnote zurückkehrt: es
ergibt sich von der Figur her eine „Pendel-“ bzw. „Drehbewegung“, eine „Krümmung“ oder
„Delle“ einer melodischen Kurve. Sie ist ebenso wie der Transitus von „leichtem“ und
„flüchtigen“ Charakter – aber im Gegensatz zur Durchgangsbewegung prägt sie keinen
eigenständigen Bewegungszug aus, sondern erscheint von vornherein eher als eine
„Figuration“, als „Ornament“ oder „Coloration“, die einem anderen Bewegungszug: einem
Transitus oder einer Syncopatio untergeordnet ist.
Wechselnoten können als untere oder obere Wechselnote auftreten, wobei die untere
Wechselnote eindeutig dominiert, vermutlich, weil sie als weniger auffällig empfunden wurde.
In jedem Fall wird durch eine Wechselnotenbewegung eine Tonwiederholung diminuiert.
Formal gesehen stehen Wechselnotenfiguren nie am Anfang, sondern treten während des
Verlaufs als auch im Zusammenhang mit Kadenzen auf.39
1. Untere Wechselnote
Die untere Wechselnote tritt entweder in konsonanter Gestalt (als 6-5-6 oder 5-6-5-
Bewegung) oder in dissonanter Gestalt als 3-2-3-, 5-4-5- oder 8-7-8-Bewegung auf.
Folgende rhythmische Muster sind üblich, wobei die die Wechselnote z.T. an verschiedenen
Stellen einer rhythmischen Gestalt plaziert sein kann:
a.
Die Wechselnote innerhalb einer punktierten Figur erscheint als Eröffnung einer aufwärts
führenden Transitus-Bewegung im Terzrahmen:
3–2–3 8–7– 8
5–6–(6)
b.
Hier bildet die Wechselnote den Abschluß einer von der punktierten M ausgehenden
Transitus-Bewegung abwärts (wiederum im Terzrahmen) und ist durch die Identität der
Richtung „organischer“ eingebunden:
3–4–3
5–4–(5) 6–7–8
39 Zur Wechselnote: Daniel, a.a.O., S.198ff.; Menke, a.a.O., S.197f.; de la Motte, a.a.O., S.102ff.
73
Gruppe von 4 SM (Muster 3)
a.
Die Wechselnotenbewegung am Beginn einer Gruppe von 4 SM mit Zielton läßt sich als
Diminution der häufigsten Transitus-Gestalt (punktierte M mit SM) auffassen (oft prägt auch
die Bezugsstimme den punktierten Rhythmus aus wie in Bsp.1). Die Gruppe erscheint
dadurch insgesamt sehr „figural“. Melodisch wird durch die Bewegung eine Terz ausgefüllt:
3–2–3 8–7–8 5–4 – 5
3–4–3 10–9
b.
Steht die Wechselnote am Ende einer Transitus-Bewegung in SM, dominiert der Charakter
der Passage, auch dadurch, daß durch sie bereits zu Beginn der Terzrahmen ausgefüllt wird:
3–2–3 5–4–(3)
6–7– 6
Der folgende Ausschnitt aus einem Chanson befindet sich an der Grenze des im
16.Jahrhundert üblichen Dissonanzgebrauchs:
5–4–(3) 8–7–(5)
5–4– 5
6–7 –6
74
2. Obere Wechselnote
Obere Wechselnoten können ebenfalls konsonant (wiederum in 5-6/6-5-Fortschreitung) oder
dissonant sein (3-4-3 bzw. 3-2-3) sein. Sie stehen üblicherweise entweder am Ende einer
Aufwärtsbewegung, die melodisch eine Umkehrung der Figuren 1b. bzw. 3b. darstellt – oder
am Ende einer längeren Aufwärtsbewegung in SM:
3. „umgekehrte“ Wechselnote
a. durch Umkehrung des Konsonanz-/Dissonanz-Verhältnisses in der Bewegung: die
Wechselnote ist konsonant, die erste Hauptnote hingegen dissonant. Solche Wechselnoten
sind eine Stileigentümlichkeit von Josquin Desprez!
9–8–(10) 4–3–(3)
b. durch Umkehrung der Position in der Mensureinheit, so daß die Wechselnote auf einer
relativ schweren Minima zu stehen kommt. Eine solche „umgekehrte Wechselnote“
entspricht einem Transitus inversus, nur daß nach der Dissonanz zur Hauptnote
zurückgekehrt wird.
5–4–5
5–6–5
75
Syncopatio II mit Portamento bzw. Anticipatio40
Ein Portamento bzw. eine Anticipatio ist die Vorwegnahme eines längeren konsonanten
Tons durch eine vorausgehende kurze SM, wodurch sich eine Tonwiederholung ergibt. Bei
dem konsonanten Ton, der vorweggenommen wird, handelt es sich typischerweise um den
synkopisch verschobenen Ton der patiens-Stimme einer Syncopatio.
Ein Portamento ist demnach typischerweise eine weitere Dimunution einer Syncopatio und
tritt deshalb zumeist auf der APU oder PU – oder auch gehäuft auf beiden Positionen! –
einer synkopierten Kadenz auf. Bei a) und b) wird der synkopische PU-Ton
vorweggenommen, bei c) der Auflösungston der Synkope, d.h. der Leitton der
Sopranklausel:
a) b) c)
Bei einer im 16.Jahrhundert bereits veralteten (aber wegen der „Altertümlichkeit“ manchmal
noch gebrauchten) Kadenzformel verläßt die Oberstimme den mit Portamento erreichten
Leitton schrittweise, um dann in die Finalis zu springen:
Außerhalb der Kadenz wird das Portamento bei sequenzartig verlängerten Synkopen
eingesetzt, dann zumeist als weniger kadenziell wirkende 4-3-Synkope:
40 Zum Portemanto: Daniel, Kontrapunkt, a.a.O., S.117f.; Menke, Kontrapunkt, a.a.O., S.198f.
76
Diminution mit Fusa
Fusae, d.h. Achtelnoten tauchen nie als Einzelwert, sondern immer als Paar auf. Ein Fusa-
Paar diminuiert eine leichte SM, d.h : es erscheint nie auf einer M, sondern stets danach.41
Es ergeben sich entweder sehr leichte ornamentale („schleifer“- oder „schlenker“-artige)
Durchgangs- oder Wechselnotenbewegungen, die stilistisch eher für Palestrina und Lasso
charakteristisch sind denn für Josquin. Formal erscheinen Fusa-Diminutionen sowohl im
musikalischen Verlauf als auch in Kadenzen, nicht hingegen in Anfängen.
abwärts
aufwärts
5–6–7 10–11–12
41
Daniel, Kontrapunkt, a.a.O., S.118ff.;
77
1.b. Syncopatio III: Syncopatio, mit Wechselnote coloriert
Typ 1
Wenn eine mit einem Fusa-Paar diminuierte punktierte Figur in Abwärtsbewegung nicht
linear fortgesetzt, sondern zum zweiten Ton der Bewegung zurückführt, dann ergibt sich eine
Wechselnotenbewegung, mit der eine übergeordnete (im Verhältnis der längeren Noten
begründete) Schrittbewegung abwärts coloriert wird.
Diese Figur erscheint typischerweise innerhalb einer (übergeordneten) 7-6 oder 2-3-
Syncopatio – und zwar in beiden Stimmen synkopisch versetzt, wodurch sich der
charakteristische Komplementärrhythmus ergibt. Es handelt sich um eine sehr gebräuchliche
Kadenzformel.
Außerhalb der Kadenz taucht diese Figur entweder ebenfalls in synkopierter Gestalt auf
dann zumeist als Quartsynkope; die Fortführung der Synkopendissonanz klingt zumeist ein
wenig nach cadenza sfuggita:
4–3–2-3 4–3–2–3
Gebräuchlich ist die Figur auch nicht synkopiert, etwa in folgenden Konstellationen:
3– 2–1–(3) 10 – 9–8–(10)
Typ 2
Beim zweiten Typ handelt es sich eher um die „klassische“ Wechselnote: denn coloriert wird
hier unmittelbar eine Tonwiederholung; wenn man den folgenden Ton hinzunimmt, ergibt
sich im übergeordneten Bewegungszug die Colorierung eines Sekundschrittes aufwärts.
Die Figur ist sowohl auf der PU einer Kadenz als auch im Verlauf anzutreffen:
78
2. Gruppe von 4 SM, die letzte mit Fusa diminuiert (Muster 3)
Figur 1
… diminuiert mit SM-Portamento und F-Wechselnote einen Quartrahmen, ist auch in einer
Variante ohne Portamento gebräuchlich: dadurch ergibt sich eine lineare Abwärtsbewegung,
die einen Quintrahmen ausfüllt. Diese Figur ist in beiden Varianten entweder mit 4
freistehenden SM oder mit gedehnter erster Note (d.h. punktierter M) anzutreffen:
3– 2–1 – 2 – 3 6–7–8– 7 – 6
Die Figur ist mit und ohne Portamento auch außerhalb von Kadenzen in folgenden
Konstellationen üblich:
3–2–1–(3)
Wird die Figur mit Quartrahmen linear fortgesetzt, ergibt sich eine Transitus-Variante:
6 – 5 – 4–3–(3) 6 – 5 – 4–3–(3)
79
Figur 2
… erscheint gewissermaßen als eine mit SM-Portamento und F-Wechselnote diminuierte
„große“ Wechselnote. Auch außerhalb des kadenziellen Zusammenhangs entfaltet die Figur
eine kadenzielle Wirkung:
Figur 1
10 1 6
Figur 2
5–4–5 5–4–5 3–2–1
3 3 3
5 3–4–3 10–11–10
Diminuierte Figuren lassen sich auch umgekehrt „decolorieren“: entfernt man aus Figur 1 das
Fusa-Paar, dann ergibt sich eine „Drehfigur“ mit Terzsprung am Ende, die zusammen mit der
„Wechselnotenfigur“ zu den häufigsten SM-Bewegungen mit Terzsprung zählt:
80
3. Gedehnte M mit nachfolgender Gruppe von 2 oder 4 SM (Muster 2)
Welche SM in dieser rhythmischen Konstellation mit einem Fusa-Paar diminuiert wird, hängt
ab von der metrischen Plazierung im Zusammenwirken mit der melodischen
Bewegungsrichtung. Das Fusa-Paar kann entweder eine Wechselnote oder ein Transitus
sein. Es ergeben sich zwei Möglichkeiten:
+ ist die Figur (immer im tempus imperfectum) direkt auf dem Auf- oder Niederschlag
plaziert, dann ergibt sich die Gliederung: punktierte Figur plus nachfolgende SM-Gruppe und
es wird entweder die zur punktierten M gehörige SM oder die letzte M der nachfolgenden 2er
oder 4er-Gruppe diminuiert:
8– 7–8 (5)–4–3–(5)
+ ist die Figur auf einer leichten M, d.h. synkopisch nach dem Auf- oder Niederschlag
plaziert, dann ist die Gliederung: 4er Gruppe mit gedehnter erster Note (punktierte M) plus
nachfolgende Gruppe. Diminuiert wird dann entweder die letzte M der nachfolgenden
Gruppe oder die letzte M in der (virtuellen) 4er-Gruppe, deren erste Note durch den Punkt
der punktierten M repräsentiert wird.
3– 4–5 (6)–5–4–(6)
81
II.3.c. Typische Kombinationen der Figuren im 2-stimmigen Satz
Wie bereits im Abschnitt II.1. erwähnt, gehen in einem mehrstimmigen diminuierten Satz die
Bewegungsarten ineinander über und werden dadurch mehrdeutig: durch die rhythmisch
versetzte Fortbewegung der einzelnen Stimmen dominiert im einzelnen die Seitenbewegung
– die aber wiederum eingebunden ist in Bewegungszüge, die entgegengesetzt oder gerade
bzw. parallel verlaufen. Die folgenden Ausschnitte sollen einen Eindruck von der
Mehrdeutigkeit 2-stimmiger Bewegungszüge vermitteln; sie stammen aus Werken von
Josquin.
1)
2)
3)
82
Dissonanzverschärfung
Unauffällige, flüchtige, leichte Durchgangs- und Wechselnotendissonanzen können durch
das Verhalten der Bezugsstimme verschärft werden. Folgende Konstellationen sind typisch:
a) 9–8 b) 4–3
a) Eine umgekehrte Wechselnote wird durch eine simultan erfolgende Tonwiederholung der
Bezugsstimme akzentuiert.
b) Ein tranistus inversus wird durch einen regulären Durchgang der Gegenstimme dissonant
gemacht und akzentuiert
c) 4–3 d) 9–7–6
c) Eine umgekehrte Wechselnote der Oberstimme trifft mit einem regulärem Durchgang der
Unterstimme zusammen
d) Ein umgekehrter Durchgang der Oberstimme trifft mit einem regulärem Durchgang der
Unterstimme zusammen; mit dem vorherigen Durchgangston ergibt sich die 9-7-
Fortschreitung.
e) f)
7–8 7–9–10
e) Eine umgekehrte Wechselnote der Unterstimme trifft mit einem regulärem Durchgang der
Oberstimme zusammen
f) Eine umgekehrte Wechselnote der Unterstimme trifft mit einem regulärem Durchgang der
Oberstimme zusammen; mit dem vorherigen Durchgangston ergibt sich hier die 7-9-
Fortschreitung
↓↓
9-7
Die Kombination einer umgekehrten Durchgangsfigur der Oberstimme mit der
Wechselnotenfigur in der Unterstimme (im Rahmen eines Kanons) ergibt wiederum eine
dissonante 9-7-Fortschreitung.NB. Wie dieses Beispiel zeigt, können auf der Ebene der SM
Figuren zusammen dissonieren, wenn jede einzelne sich regelgerecht verhält!
83
Mit Fusa
4-3 5–7-8
In beiden Fällen wird Fusa-Coloration durch einen regulären SM-Transitus der Gegenstimme
dissonant gemacht und akzentuiert.
„Konsonantmachung“
Dissonante Durchgänge oder Wechselnoten können andererseits durch eine schritt- oder
sprungsweise Bewegung der Bezugsstimme konsonant gemacht werden; konsonante
Wechselnoten sind bei Lasso stiltypisch.42 Der charakteristische Bewegungszug der
Passage bzw. der Drehfigur bleibt erhalten, während die Dissonanzwirkung aufgehoben
wird. Folgende Konstellationen sind üblich:
a) b) c)
Der reguläre Durchgang der Unterstimme und der irreguläre Durchgang der Oberstimme (1)
– beim zweiten Mal (2) mit vertauschten Stimmen – sind so kombiniert, daß sie sich in
Gegenbewegung gegenseitig konsonant machen. Bei (3) geschieht die Konsonantmachung
des Durchgangstons der Oberstimme durch einen (Terz-)Sprung der Unterstimme; es
resultiert eine Parallelbewegung in Sexten.
a) b)
a) und b) Die Wechselnote der Oberstimme wird durch den Durchgang der Unterstimme
konsonant gemacht.
3 – 7– 8– 7 – 6 6–7– 7–8–7 – 6
APU PU U APU PU U
getauscht
Durch die Punktierung der ersten Note und die Beschleunigung der Durchgangsbewegung
auf ein F-Paar kann der dissonante Transitus inversus wiederum konsonant gemacht
werden:
Die folgenden diminuierten Kadenzformeln für die Sopran- und Ténorklausel sind beliebig
miteinander kombinierbar; schwere Durchgänge sind mit einem * gekennzeichnet45:
43 Roland Eberlein, Die Entstehung der tonalen Klangsyntax, Frankfurt a.M. 1994, S.187ff.
44 Daniel, Kontrapunkt, a.a.O, S.214ff.
45 Menke, Kontrapunkt, a.a.O, S.209
85
Die Kadenzsynkope wird auf der APU gerne mit einer auffälligen „Gegensprung“-Figur
eingeleitet, die je nach Modus und je nach Situation bis hin zu einem zweimaligen
Oktavsprung reichen kann.
Rhythmisch betrachtet ist die Gegensprungfigur die einzige Figur, bei der ausnahmsweise
kurze Werte (2 SM) auf einer schweren Zeit (der ersten M) stehen können: die rhythmische
Stauung, ebenfalls eine „rhythmische Dissonanz“ ist in der Kadenz gerade erwünscht.
Nichtsdestotrotz stehen die beiden Viertel der Gegensprungfigur oft nicht isoliert, sondern
bilden den Abschluß einer vorangehenden Bewegung in Vierteln.
86
cadenza sfuggita
Eine Kadenz ist eine Art Formel, mit der eine musikalische Bewegung insgesamt beendet
wird (Schlußkadenz); darüberhinaus ist sie das wichtigste formale Gliederungsmittel, mit
dessen Hilfe Anfang und Ende bestimmter Abschnitte markiert werden (Binnenkadenzen).
Da eine Kadenz aber in jedem Fall eine starke Schlußwirkung entfaltet, ist es bei
Binnenkadenzen üblich, die Schlußwirkung abzuschwächen: dadurch entstehen
verschiedene Varianten einer „geflohenen Kadenz“, der sogenannten „cadenza sfuggita“.
Diese „Kadenzflucht“ verbreitet sich vor allem in der 2.Hälfte des 16.Jahrhunderts, wo die
Syncopatio von ihrem angestammten Ort – der Kadenz – losgelöst wird und zunehmend in
den musikalischen Verlauf eindringt und dabei so verändert wird, daß sie nicht mehr
kadenziell wirkt, sondern nur noch als dissonante rhythmische Belebung wahrgenommen
wird.
Das einfachste Mittel für eine Schwächung der Kadenz ist, bei der 6-8 oder 3-1-Bewegung
etwa im dorischen und mixolydischen Modus in einer Stimme keinen Halbtonschritt zu
setzen. Die hauptsächlichen Strategien betreffen aber die Veränderung der Ténor- oder der
Sopranklausel.
a) Ténorklausel
Die Ténorklausel wird einfach abgebrochen, d.h. die Finalis ausgelassen; die Ténorklausel
kann in der Unter- oder Oberstimme liegen. Die Stimme, in der die Ténorklausel liegt, kann
Die Ténorklausel kann auch einfach ohne Pause in einen anderen Ton als die Finalis
abbiegen. Ein Absprung ist dabei viel viel häufiger anzutreffen, wenn die Ténorklausel in der
Unterstimme liegt:
Die abspringende Ténorklausel in der Oberstimme wirkt hingegen viel auffälliger und ist
daher nur selten anzutreffen:
87
b) Sopranklausel
Eine Sopranklausel kann in der Kadenz „abbiegen“, indem sie statt in die Finalis aufwärts
einen Sekundschritt abwärts geht; auch wirkt die Variante mit getauschten Klauseln am
stärksten, da hier, modern gesprochen eine Art „Trugschluß“ entsteht. Voraussetzung für die
„abgebogene Sopranklausel“ ist, daß der Ton der PU nicht leittönig verändert wird!
Ein Absprung aus der Sopranklausel hingegen ist, da wiederum sehr auffällig, sehr selten
anzutreffen:
Generell läßt sich beobachten: geflohene Kadenzen mit Pausen wirken nach wie vor eher
kadenziell gliedernd, da die Pause als Unterbrechung des Verlaufs erscheint. Die
abgebogenen und abspringenden Klauseln hingegen schwächen die Kadenz nachhaltiger,
wahren dafür aber einen kontinuierlichen musikalischen Fluß.
Ein Kompendium der Kadenzflucht-Techniken stammt von Gioseffo Zarlino46:
In der auf der nächsten Seite folgenden Tabelle sind die im Kontrapunkt des späten 15. und
des 16.Jahrhunderts gebräuchlichen Diminutionsfiguren aufgeführt47; es werden hier noch
einmal die bereits besprochenen Figuren mit Schritten zusammengefaßt und um die Figuren
mit einem Sprung bzw. mit mehreren Sprüngen ergänzt.
Besonders häufige und in verschiedenen Situationen verwendbare Figuren sind am rechten
Rand der Seite unter dem von Johannes Menke geprägten Begriff „Joker-Figuren“ (man
könnte auch sagen: „Allerweltsfiguren“) aufgeführt.
Alle Figuren sind anhand des Rahmenintervalls, das sie jeweils diminuieren, geordnet; da
manche Figuren doppeldeutig sind, tauchen sie zweimal auf.
Alle Figuren sind einstimmig aufgeführt; Noten, die im mehrstimmigen Satz eine Dissonanz
ergeben können, sind mit folgenden Abkürzungen markiert:
P = Portamento
Ein Pfeil → zeigt an, daß die betreffende Figur auch um eine Minima (halbe Note)
versetzt beginnen kann.
47Die Übersicht orientiert sich an jener im Kontrapunkt-Buch von Johannes Menke auf den Seiten
204ff.
89
90
II.4. Melodiebildung und Textierung
II.4.a. Allgemeines
Das Schreiben von 1-stimmigen Melodien ist kein Bestandteil der Kontrapunktlehre – und
zwar mit Grund, denn die Einstimmigkeit ist kein „fundierendes“ Moment eines
mehrstimmigen Satzes und damit weder sachlich noch historisch eine Voraussetzung für
das Schreiben eines Kontrapunktsatzes. Aber das heißt natürlich keineswegs, daß es auf
Melodien und die Fähigkeit, Melodien zu erfinden, überhaupt nicht ankäme: „Kontrapunkt“ ist
eine Methode, Zusammenklänge an jedem Punkt „messend“ kontrollieren zu können – aber
das, was gemessen wird, sind selbstverständlich horizontale Linien. Diese Linien sind aber
ganz anders geartet als jene, die wir selbstverständlich mit dem Begriff „Melodie“ verbinden
würden.
Die Eigenart der modalen Melodiebildung kann man sich am besten dadurch annähern,
indem man sich klarmacht, was modale Melodien nicht sind. Zwischen modal geprägten
Melodien und tonalen Melodien besteht nämlich ein grundlegender Unterschied, den man
sich anhand einer simplen Erfahrungstatsache vor Augen führen kann: tonal bestimmte
Melodien kann man sich relativ spontan und leicht merken, während es einem schwer fällt,
Melodien aus einem Kontrapunkt-Satz im Gedächtnis zu behalten – selbst dann, wenn die
Melodien prägnant sind. Und Entsprechendes gilt auch für das Erfinden von Melodien, das
einem im einen Fall relativ leicht von der Hand geht, im anderen Fall einen oft vor
Schwierigkeiten stellt.
Der Grund dafür ist, daß die Art unseres Beziehens in beiden Fällen anders funktioniert:
tonales Hören bedeutet im Kern, daß wir alles, was wir hören, im strengen Sinne
„zurechthören“: indem wir das Ganze der Musik und alle Details – Melodik, Harmonik,
Rhythmik, Lautstärken etc. – aktiv-unbewußt auf ein selbstverständlich vorausgesetztes,
tonales und metrisches Zentrum beziehen. Ein einzelner Ton ist im tonalen Satz kein
einzelner Ton, sondern wird als Repräsentant eines Dreiklangs aufgefaßt; auch ein Intervall
steht im tonalen Satz nicht für sich, sondern wird entweder (im Zusammenklang) als
„unvollständiger Dreiklang“ aufgefaßt – oder (im Nacheinander) als virtuelle
Akkordforschreitung und mit metrischen Schwerpunkten zurechtgehört. Dieses aktiv-
unbewußte Beziehen kann nur deshalb relativ selbstverständlich und reibungslos
funktionieren, weil tonale Musik tatsächlich so komponiert ist, daß in ihr alle Details sofort
aufs tonale Ganze verweisen, d.h. auf einen bestimmten Grundton und damit eine
Grundtonart hin funktional ausgerichtet sind.
Dementsprechend stehen auch tonal geprägte Melodien nie für sich, sondern sind von
vornherein zum einen als Bestandteil eines Dreiklangsgerüsts bestimmt, das durch die
Melodietöne entweder direkt zum Ausdruck gebracht oder durch Sekundschritte
„umschrieben“ bzw. „ausgefüllt“ wird. Zum anderen bewegen sich tonal geprägte Melodien
innerhalb eines metrischen Gerüsts mit wiederkehrenden Taktschwerpunkten und periodisch
gegliederten formalen Abschnitten. Weil das musikalische Detail, d.h. die aus dem
Zusammenhang gerissene Melodie auf diese Weise den ganzen, um ein harmonisch-
metrisches Zentrum herum angeordneten Zusammenhang in sich enthält und widerspiegelt,
erscheint uns auch eine einstimmige und unbegleitete Melodie bereits „sinnvoll“. Weil das
(unvollständige) Detail von vornherein dem Ganzen untergeordnet ist und es dadurch
repräsentiert, können wir dieses Ganze mit einiger Sicherheit daraus „ablesen“ und es im
Sinne des Ganzen vervollständigen (indem wir eine passende Begleitung dazu erfinden, eine
halbe Phrase vervollständigen etc.).
91
Unsere scheinbar „spontane“, „unwillkürliche“ und fast automatisch einrastende Art
musikalischen Beziehens funktioniert nur deshalb, weil in tonaler Musik alle Details um ein
Zentrum herum angeordnet sind, auf das sie sich funktional beziehen lassen; und dieses
funktionale Gefüge prägt Gesetzmäßigkeiten aus, die wir unbewußt und unwillkürlich
voraussetzen, wenn wir tonale Musik hören.
Aber eben diese besondere Art des musikalischen Beziehens ist im Kontrapunktsatz nicht
möglich – denn dieser verfügt über kein organisierendes Zentrum, das einem beim Hören
sofort „eingehen“ würde; und weil ein solches Zentrum fehlt, erscheint die Art der
musikalischen Beziehungen auch nicht „gesetzmäßig“ und daher versagt der Versuch, sie
aus einem Detail spontan herauszuhören. Ein Kontrapunktsatz ist vielmehr regelbasiert, d.h.
er gründet sich auf bewußt formulierte Regeln, die aber keine gleichsam „berechenbaren“
oder voraussehbaren Gesetzmäßigkeiten begründen, weder im Ganzen noch in den Details.
D.h. einer modalen Melodie hört und merkt man grundsätzlich den Kontext nicht an, in dem
sie steht; sie erscheint uns (anders als eine tonale Melodie) wirklich „aus dem
Zusammenhang gerissen“ – aber eben so, daß sie erst im (Satz-)Zusammenhang „sinnvoll“
wird. Diesen Zusammenhang müssen wir aber (unter Anwendung der gesetzten Regeln) erst
bewußt rekonstruieren oder erschaffen, er steht nicht scheinbar selbstverständlich fest wie
ein tonaler „Grundton“ oder eine „Tonika“. Oder anders ausgedrückt: eine modale Melodie
liefert die Begleitung bzw. den harmonischen und satztechnischen Kontext, in dem sie steht,
nicht „von sich aus“ mit.
92
II.4.b. Beobachtungen und Regeln
Ebenso wie eine tonale Melodie erfahren wir auch eine aus dem Zusammenhang
genommene 1-stimmige modale Melodien grundsätzlich nicht als einen Haufen von Tönen,
sondern als ein Ganzes, d.h. als eine gegliederte Phrase mit einem qualitativen Anfang und
Schluß sowie internen Gliederungspunkten, die wiederum Anfang und Ende von kleineren
Abschnitten markieren. Die melodische Phrase kann man sich am besten graphisch, d.h. als
„Kurve“ vorstellen. Die Eigenart dieser Kurve entsteht grundsätzlich durch das
Zusammenwirken eines Tonhöhenverlaufs mit einem charakteristischen Rhythmus.
aa. Tonhöhen
Unter dem Gesichtspunkt der Tonhöhen betrachtet, bewegen sich auch modale Melodien
innerhalb eines bestimmten Rahmenintervalls bzw. eines bestimmten Gesamt-Ambitus, der
eine Quinte, eine Sexte, eine Oktave oder auch (maximal) eine Duodezime umfassen kann.
Zumal bei längeren melodischen Phrasen wird aber nicht andauernd der gesamte Ambitus
ausgefüllt – vielmehr prägen bestimmte Abschnitte einen kleineren Teil-Ambitus aus, der in
anderen Abschnitten entweder durch einen anderen Ambitus ersetzt oder zum Gesamt-
Ambitus erweitert wird.
Innerhalb des Ambitus verfügt eine melodische Phrase zumeist über einen
charakteristischen „Hochton“, der in der Regel mit dem obersten Ton des Rahmenintervalls
zusammenfällt. Kleinere Abschnitte der Melodie mit einem kleineren Ambitus können
ihrerseits einen eigenen, untergeordneten „Hochton“ aufweisen.
Der konkrete Tonhöhenverlauf einer Melodie ist weiterhin durch die Gegebenheiten des
modalen Tonsystems von vornherein wie durch ein „Hintergrundraster“ bestimmt. Zu diesen
Gegebenheiten zählen: die Gliederungen des Tonsystems in Hexachorde, in Modi und in
Quart-/Quintgattungen.
Je nach Modus und seiner konkreten Ausprägung (authentisch oder plagal) gibt es in jeder
Melodie bestimmte Haupt- bzw. Gerüst- bzw. Attraktionstöne, die entweder immer wieder
angesteuert werden oder um die eine Melodie sich herum bewegt: das sind zunächst vor
allem die jeweilige Finalis und die jeweilige Repercussa. Hinzu kommen je nach Modus
weitere herausgehobene Töne, die sich einerseits durch die Tonqualitäten gemäß der
hexachordalen Gliederung des Tonsystems ergeben – und andererseits dadurch, daß sich
modale Melodien eng an alte melodische Formeln des gregorianischen Chorals anlehnen: so
kommt z.B. als melodischer Sextensprung nur derjenige in die kleine Sexte (e-c) in Frage –
und dieser Sextensprung kann wiederum nur im phrygischen Modus vorkommen, weil die
beiden Töne hier nicht irgendwelche Töne sind, sondern die Bedeutung von Finalis und
Repercussa aufweisen. Im Dorischen wiederum spielt der 7.Ton des Modus eine melodisch
herausgehobene Rolle, weil der 6.Ton (das ´h´) wegen einer möglichen Tritonus-Kollision
vermieden wird.48 Aufgrund dieser Gegebenheiten weisen modale Melodien bei aller
Individualität eine relativ hohe Formelhaftigkeit auf.49
Grundsätzlich regeln die verschiedenen Intervallqualitäten und die in ihnen implizierte
Dramaturgie nicht nur kontrapunktische Zusammenklänge, sondern auch die Bildung von
Melodien. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß das Rahmenintervall einer ges amten
Phrase, eines Abschnitts oder eines einzelnen Bewegungszuges bestimmend dafür ist, wie
sich eine Melodie in einen mehrstimmigen Kontext einfügen kann – und umgekehrt.50 Beim
melodischen Gebrauch der Intervalle kommen aber weitere einfache und grundlegende
Bestimmungen hinzu: zum einen die Unterscheidung der Intervalle nach
Formelhaftigkeit wird ausführlich erörtert bei Daniel, Kontrapunkt, a.a.O., S.134 – 141, bei de la Motte,
Kontrapunkt, a.a.O., S.118ff. sowie bei Menke, Kontrapunkt I, a.a.O., S.222ff.
93
Tonwiederholungen, Schritten und Sprüngen, die (Aufwärts- oder Abwärts)-Richtung aller
Intervalle sowie die Unterscheidung von direkten und indirekten bzw. übergeordneten
Intervallen, d.h. von Intervallbeziehungen über mehrere Töne hinweg.51
+ (Sekund-)Schritte garantieren (ästhetisch) den Fluß und (pragmatisch) die Singbarkeit von
Melodien – Sprünge hingegen (alle Intervalle ab der kl.3) sorgen für das nötige „Profil“ einer
Melodie und bringen Spannung in eine melodische Kurve – Tonwiederholungen halten im
Gegenzug die Kurve einer Melodie flach und bringen Ruhe ins Spiel. Schritte repräsentieren
gewissermaßen die Grundlage bzw. das Allgemeine einer Melodie, Sprünge und
Tonwiederholungen jeweils ein besonderes Moment und bedürfen daher besonderer
Aufmerksamkeit und Regulierung.
51Dazu die Ausführungen in diesem Skriptum auf den S.30 und 47 über den Unterschied von direkten
und indirekten Intervallen sowie die Ausführungen auf S.50 über das Zusammenspiel von
Rahmenintervall eines Bewegungszungs/einer Figure und dem dafür erforderlichen Anfangsintervall.
94
Behandlung von Sprüngen
+ Der typische Notenwert für Sprünge ist die M (halbe Note), auch größere Notenwerte sind
üblich. Sprünge in SM hingegen sind selten.
+ Die beiden Töne eines Sprungs bilden zumeist das Rahmenintervall bzw. den Ambitus der
gesamten Melodie bzw. markieren einen Teilambitus eines Abschnitts. Sehr oft wird in einer
Melodie ein bestimmter Tonraum zweimal exponiert: einmal durch einen Sprung der
Rahmentöne, der dann durch Sekundschritte ausgefüllt wird – oder umgekehrt: ein Tonraum
wird zuerst in Sekunden „abgeschritten“ und dann durch einen Sprung markiert:
+ Sprünge lassen sich nach ihrer Größe klassifizieren in kleinere Sprünge – Terz, Quart,
Quint – und größere Sprünge – ab der Sexte. Aus bereits genannten Gründen ist ein
Sextensprung nur als kl.6 aufwärts möglich – alle anderen Intervalle sind in jeder Richtung
möglich und üblich.
Der „Ausgleich“ von Sprüngen in schrittweiser Gegenrichtung wird erst ab der Quarte
praktiziert, erst ab der Sexte ist er verbindliche Vorschrift. Dieser Differenzierung liegt die
Erfahrung zugrunde, daß eine melodische Gegenrichtung je nach Größe des zuvor gehörten
Sprungsintervalls unterschiedliche Charaktere ausprägt: bei der 4 und auch noch der 5 wirkt
sie eher wie eine „Ausfüllung“ des Sprungs (oder umgekehrt: der Sprung wirkt wie eine
Kenntlichmachung eines Rahmens). Ab der Sexte wirkt eine melodische Gegenrichtung
tatsächlich wie ein „Ausgleich“ eines großen Sprungs; das Intervall wird in aller Regel auch
nicht zur Gänze durch Schritte ausgefüllt. Bei „Gegensprungfiguren“ (zwei Sprünge im
selben Intervall nach unten und dann nach oben) gibt es keinen Ausgleich, denn hier ist
gerade die „gezackte“ Bewegung ästhetisch gewollt!
+ Bei zwei direkt aufeinander folgenden Sprüngen in eine Richtung kommt es ganz auf die
konkrete Richtung an: aufwärts gilt die Reihenfolge größeres/kleineres Intervall, abwärts
kleineres/größeres Intervall:52
Bei zwei Sprüngen in die gleiche Richtung sollten aber „Dreiklangsbrechungen“ möglichst
vermieden werden:
Eine Häufung von Sprüngen diskutiert Thomas Daniel in seinem Kontrapunkt-Buch anhand
einer Melodie von Palestrina sehr ausführlich: Daniel, Kontrapunkt, S.102f.
*Nicht falsch, aber nur in (zumeist textlich begründeten!) Ausnahmefällen gebräuchlich sind
„Pendelmelodik“ und sequenzartig strukturierte Melodik: beide verletzten auf ihre Art das
Gebot der „varietas“ – die Pendelmelodik durch Statik, Sequenzen durch Berechenbarkeit.
Auf der Ebene der Viertelbewegung hingegen ist Pendelmelodik durchaus anzutreffen.
oder, bei schrittweiser Bewegung, durch geschickte Rhythmisierung, d.h. indem man den
beiden kritischen Tönen unterschiedliches metrisches Gewicht und damit unterschiedliche
Funktionen zuweist – und dadurch die Aufmerksamkeit auf andere Töne lenkt:54
Die einzige Ausnahme sind synkopische Bildungen mit einer SB auf leichter Zeit:
+ Verlängerungen von Notenwerten sind unterhalb Ebene der SB nur als Folge lang-kurz
möglich, d.h. SB-M (Ganze-Halbe), nicht umgekehrt:
Oberhalb der SB ist, wie bereits erwähnt, auch die Umkehrung möglich, also sowohl regulär
B-SB (Doppelganze-Ganze) als auch SB-B:
Modale Melodien weisen manchmal eine relativ einheitliche Bewegungsart auf, d.h. es
dominieren in einem ganzen Satz oder in einem Abschnitt entweder M (weiße Noten) oder
SM (schwarze Noten). Ist die Bewegung insgesamt eher uneinheitlich und wechseln
Bewegungsarten schneller ab, dann sind Melodien sehr oft als progressive Beschleunigung
bzw. Verdichtung und Verlangsamung bzw. Entflechtung angelegt. D.h. kleinere Notenwerte
werden schrittweise eingeführt („Schneeballeffekt“) und auch schrittweise wieder verlassen:
Eine Anfangsmelodie beginnt mindestens mit einer Semibrevis, oft auch mit einer Brevis,
aber nicht mit einer Minima. Außerdem beginnen Anfangsmelodien nicht mit einem
synkopierten Rhythmus – ein zweites oder drittes soggetto einer Motette z.B. kann aber
genau so beginnen:
56Siehe dazu die Ausführungen über die Eigenart der mensuralen Rhythmikhomaas im Kapitel II.2.
dieses Skriptums sowie bei Thomas Daniel, Kontrapunkt, a.a.O., S.47ff. sowie über metrische Aspekte
der Melodik auf S.107ff.
98
Das quantitative Metrum und die darauf beruhenden Rhythmen sind abgeleitet vom
(griechischen) Vers- bzw. Sprachmetrum, das ebenfalls modellhafte Folgen
längerer/schwerer und kürzerer/leichter Silben ausprägt. Die mensurale Metrik und Rhythmik
ist deshalb nicht „autonom musikalisch“, sondern steht in unmittelbarem Zusammenhang mit
der Frage, wie ein Text musikalisch vorgetragen, „deklamiert“ wird; zumal in diesem
speziellen Sinne ist jeder Kontrapunktsatz essentiell vokal konzipiert, selbst wenn er
instrumental ausgeführt wird.
Syllabisch gesetzte Tonwiederholungen dienen der Textverständlichkeit und sind deshalb oft
mit homophoner Satztechnik gekoppelt. Der kürzeste Notenwert für syllabische
Textvertonung ist die Minima. Einzige Ausnahme ist eine SM nach einer punktierten M: diese
muß auf eine betonte Silbe fallen und danach müssen noch zwei unbetonte Silben folgen mit
SM:
*Auf der Ebene der SM und F sind Silbenwechsel nur am Beginn einer Gruppe von
schwarzen Noten auf schwerer Zeit möglich – nie nach einer Punktierung oder innerhalb
einer Gruppe:
99
+ Nach einer Gruppe schwarzer Noten kann ein Silbenwechsel erst auf der übernächsten
weißen Note erfolgen:
Auf oder direkt nach einem Paar Fusae kann kein Silbenwechsel erfolgen:
Beginnend mit dem Ende des 15.Jahrhunderts wird über die korrekte Textdeklamation
hinaus die Textausdeutung mithilfe musikalischer Mittel zunehmend bedeutsam. Es bilden
sich melodische, rhythmische, harmonische und satztechnische Stilmittel heraus, die Musik
gewinnt einen zunehmend rhetorischen und expressiven Charakter. Josquin kann als der
erste große „Ausdrucksmusiker“ gesehen werden, wie Diether de la Motte in seinem
Kontrapunkt-Buch sehr gut herausgearbeitet hat (de la Motte, S.122ff.).
Diese „rhetorische“ Konzeption von Musik wird theoretisch in der deutschen Tradition der
„musica poetica“ reflektiert. Der Terminus „poetica“ bezieht sich auf eine zentrale Kategorie
des Aristoteles: „poiesis“, d.h. das Hervorbringen, Erzeugen eines (Kunst-)Werks. Die
„musica poetica“ ist eine selbständige Disziplin, die die Kontrapunktlehre zwar voraussetzt,
aber weit darüber hinausgeht: eine Art Kompositionslehre, die – immer in Anlehnung an die
Kunst der Rhetorik – Elemente der Gattungslehre, der Formenlehre und eine Lehre über den
Gebrauch textausdeutender musikalischer Stilmittel in sich vereint. Die musica poetica in der
Verbindung mit dem Kontrapunkt ist sehr gut dargestellt bei: Menke, Kontrapunkt, a.a.O,
S.253ff.
100
II.3.c. Beispiele zu Melodik, Rhythmik und Textierung57
bei Josquin Desprez:
1.
2.
3.
bei Palestrina:
1
2.
3.
4.
57Weitere instruktive Beispiele zum Zusammenspiel von Melodik, Rhythmik und Textierung, drunter
eines von Heinrich Isaac, findet sich bei: Menke, Kontrapunkt, a.a.O., S.219ff.
101
II.3.d. Melodische Initialmodelle, geordnet nach Modi
1.Modus
2.Modus
3.Modus
4.Modus
5.Modus
6.Modus
7.Modus
8.Modus
9.Modus
10.Modus
11.Modus
12.Modus
102
II.5. Satztechniken – Satzmodelle
a. Kanon
Das griechische Wort Kanon bedeutet „Maßstab“, „Vorschrift“, „Anweisung“ oder „Regel“.
Tinctoris definiert den musikalischen Kanon 1495 folgendermaßen: „Canon est regula
volontatem compositoris sub obscuritate quadem ostendens“ („Ein Kanon ist eine Regel
nach dem Willen des Komponisten, die unter Verborgenheit auf etwas hinweist.“).58 Die
kanonische Organisation des musikalischen Satzes wird (ebenso wie die Kadenzsynkope)
gegen Ende des 14.Jahrhunderts von Johannes Ciconia in die Musik eingeführt.
Musikalisch hat der Kanon zunächst und vor allem eine gewissermaßen ästhetisch-
metaphysische Bedeutung: eine mit kanonischen Verfahrensweisen komponierte Musik ist
nach dem Prinzip der Selbstähnlichkeit organisiert. Denn die Stimmen eines mehrstimmigen
Satzes sind im Kanon nach bestimmten Kriterien aus einer Stimme abgeleitet; derart wird ein
Maximum an Zusammenhang und Zusammenhalt erzeugt, obwohl die Stimmen sich
polyphon zueinander verhalten und etwa bei komplexeren Formen wie Proportions-, Spiegel-
oder Krebskanon sich stark voneinander unterscheiden können. Wie die weiteren Stimmen
aus einer Stimme abzuleiten sind und wann sie einsetzen – gleichzeitig oder nacheinander –
wird durch eine wörtliche Anweisung und/oder durch Zeichen vorgegeben.
Ein Kanon ist deshalb nicht identisch mit der Satztechnik der Imitation – zwar schreiben viele
Kanons tatsächlich eine Imitation (d.h. einen versetzten Eintritt der Stimmen) vor, aber
andere Kanons werden als Simultankanon realisiert; der 3-stimmige Fauxbourdonsatz etwa
(eine Stimme wird konsequent mit parallelen Quarten und Terzen begleitet) ist ursprünglich
eine Kanonvorschrift.
Wird ein Kanon satztechnisch als Imitation realisiert, dann entsteht ein strenger Kanon
(fuga/imitatio legata bei Zarlino). Dessen Hauptstimme wird guida oder dux, die imitierenden
Stimmen werden conseguente oder comes genannt. Meist imitiert die conseguente die
guida in den perfekten Intervallen 1, 8, 5 und 4. Der Eintritt der conseguente wird durch ein
besonderes Zeichen, die presa, angezeigt – das Ende der Imitation durch die coronata
(Fermate). Bei der Realisierung eines Kanons in mehreren Stimmen kann die Einführung von
Vorzeichen (musica ficta) zur Gestaltung von Klauseln oder zur Vermeidung von Tritoni
notwendig sein.
Zur praktischen Vorgehensweise: zunächst wird der einstimmige Beginn der guida in die
conseguente übertragen und in der guida-Stimme kontrapunktiert. Dieser Kontrapunkt wird
dann wiederum in die conseguente übertragen und in der ersten Stimme kontrapunktiert
usw.usf.; dabei ist auf eine sinnvolle melodische Kontinuität zu achten.
Die Hauptschwierigkeit besteht in der Einführung von Klauseln innerhalb eines strengen
Kanons, denn beide Klauseln (Ténor- und Sopranklausel im 2-stimmigen Satz) müssen
Bestandteil der Hauptstimme sein.
Neben der notengetreuen Imitation einer Hauptstimme bestehen aber, wie gesagt, viele
andere Möglichkeiten, eine conseguente aus einer Hauptstimme abzuleiten: in einem canon
per motu contrario wird die Richtung der guida konsequent umgekehrt, im Krebskanon
wird die Hauptstimme in der conseguente rückwärts realisiert, im Spiegelkrebskanon wird
beides miteinander verbunden. Im Proportionskanon wird jeder Notenwert des Originals
proportional vergrößert (per augmentationem) oder verkleinert (per diminutionem). Bei
Proportionskanons beginnen die Stimmen fast ausnahmslos gleichzeitig.
Beispiel 2:
Der folgende Kanon aus Josquins Missa l´homme armé (Benedictus) ist auf 2 Systemen zu
realisieren. Was besagt das zweifache Mensurzeichen? Wo weicht die Textierung von
derjenigen bei Palestrina ab?
Der Proportions- bzw.Mensurkanon, bei denen 2 oder mehr Stimmen die gleichen Tonhöhen
in unterschiedlichen Mensuren und damit Geschwindigkeiten vortragen, verliert seit dem
Spätwerk von Josquin, d.h. seit etwa 1510, im selben Maße an Bedeutung, in dem der
„durchimitierende Stil“, d.h. der Kanon mit rhythmisch-melodisch gleichen Stimmen zum
satztechnischen Standard wird. Diese Entwicklung geht einher mit der abnehmenden
Bedeutung eigenständiger 3er-Mensuren zugunsten des tempus imperfectum.59
60Das hier abgebildete Beispiel stammt aus: Menke, Kontrapunkt, a.a.O., S.195; das ganze auf S.190
beginnende Kapitel zur Diminution sowie zur kanonischen Versetzung von Diminution ist äußerst
lesenswert!
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b. Imitation
Beisp.4:
61Zur Fuga sehr ausführlich und gut: Menke, Kontrapunkt, a.a.O., S.279ff.; die dort abgebildeten
Bicinien von Pietro Pontio sind ein Kompendium eines 2-stimmigen durchimitierten Satzes! Zur Fuga
auch: Daniel, Kontrapunkt, a.a.O., S.232ff.
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c. Doppelter Kontrapunkt
Der „contrappunto doppio“ findet bei Vicentino (1555) und Zarlino Erwähnung als
Wiederholung eines 2-stimmigen Abschnitts mit vertauschten Stimmen. Bedingung für eine
Stimmvertauschung ist, daß die (harmonischen) Intervalle ihre Qualität behalten und durch
die Vertauschung keine verbotenen Fortschreitungen entstehen. Als Versetzungsintervalle
sind die Oktave, die Dezime und die Duodezime am häufigsten; so entsteht der
doppelte Kontrapunkt der Oktave, der Dezime und der Duodezime.
Jede Vertauschung von Stimmen wirft Probleme auf und zwingt zu satztechnischen
Einschränkungen: da im doppelten Kontrapunkt der Oktave Quinten zu Quarten werden,
dürfen im Satz keine Quinten vorkommen; im doppelten Kontrapunkt der Duodezime dürfen
keine Sexten vorkommen, da diese in der Vertauschung zu Quarten bzw. Septimen würden.
Beim doppelten Kontrapunkt in der Dezime sind zwar keine Beschränkungen notwendig –
dafür ist das Problem hier, daß alle perfekten Konsonanzen zu imperfekten werden und
umgekehrt, d.h. die Intervalle ihre Qualität ändern.
Der doppelte Kontrapunkt ist im 16.Jahrhundert kaum verbreitet, da eine Wiederholung mit
vertauschten Stimmen eine formale Korrespondenz schafft, die dem varietas-Prinzip
widerspricht. Im barocken Kontrapunkt hingegen ist die Stimmvertauschung im mehrfachen
gerade wegen dieser formbildenden, d.h. sequenziellen Qualität ausgesprochen stiltypisch.
Deshalb wird die Vertauschbarkeit der Stimmen auch erst im 17.Jahrhundert erforscht und
systematisiert. Die „Super-Matrix“ des italienischen Musiktheoretikers Silvio Picerli etwa ist
so organisiert, daß man aus der untersten horizontalen Reihe das Versetzungsintervall
auswählt und die Zahlen- (d.h. Intervall-)Reihe, die von diesem Intervall vertikal nach oben
hochführt, mit der letzten vertikal aufwärts führenden Reihe vergleicht; so erhält man für
jedes Intervall dasjenige, das sich bei einem Stimmtausch ergibt.62
62 Die erste Tabelle stammt aus Thomas Daniel, Kontrapunkt, a.a.O., S. 236: die Matrix des
italienischen Theoretikers Silverio Picerli ist abgedruckt in Johannes Menke, Kontrapunkt II, Laaber
2017, S.157
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In der folgenden Motette von Lasso läßt sich die Technik des doppelten Kontrapunkts im
ersten Abschnitt exemplarisch beobachten:
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II.6. Bicinium und Motette
Ein Bicinium ist eine 2-stimmige, zumeist vokale Komposition. Der seit ca. 1540
gebräuchliche Begriff wird zum einen in satztechnischer Bedeutung verwendet: dann
bezeichnet er jede Art eines 2-stimmigen Kontrapunktsatzes: sowohl eigenständige Stücke
als auch 2-stimmige Sätze aus ansonsten , höcherstimmigen Kompositionen. (In Messen
z.B. ist seit Josquin vor allem das Benedictus ein Bicinium.)
„Bicinium“ bezeichnet zum anderen eine kompositorische Gattung: eine kurze 2-stimmige
Komposition – entweder über einem cantus firmus oder frei gestaltet – mit einem weniger
ästhetischen als vielmehr didaktischen Anspruch, die entsprechend zu Unterrichtszwecken
eingesetzt wird. Bicinien erscheinen in der Regel in größeren Sammlungen, die systematisch
geordnet sind: z.B. durch alle Tonarten führen und/oder bestimmte Arten der Melodiebildung
und der Imitation vorführen.
Die Motette des späten 15. sowie des 16.Jahrhunderts ist – im Gegensatz zur Motette des
späten Mittelalters und der Frührenaissance – eine vorwiegend geistlich geprägte Gattung.
Formal ist die Motette textgebunden: eine Texteinheit entspricht einem musikalischen
soggetto, das in der anderen Stimme imitiert wird; anschließend werden beide Stimmen in
freiem Kontrapunkt bis zu einer Klausel weitergeführt. Auf dem Weg zur Klausel kann die
Texteinheit ganz oder teilweise wiederholt werden, z.B:
Das erste soggetto beginnt mit längeren Notenwerten auf schwerer Zeit – die nachfolgenden
soggetti enthalten in der Regel kürzere Notenwerte (meistens M) und beginnen meistens auf
leichter Zeit. Der erste Notenwert des ersten soggettos kann bei der Imitation verkürzt
werden, um den musikalischen Fluß in Gang zu bringen, d.h. eine punktierte SB wird zur
einfachen SB, eine SB zur M).
Imitiert werden zumindest die ersten vier Noten eines soggettos; das Imitationsintervall ist
beim ersten soggetto eine perfekte Konsonanz (1, 8 oder 5) – es ergibt sich damit eine
intervallgleiche Imitation (fuga sciolta). Bei den anderen soggetti kann die Imitation prinzipiell
in allen Intervallen erfolgen (imitatio sciolta); oft wird das soggetto dabei mehrmals in
verschiedenen Imitaitonsintervallen gebracht.
Die Binnenklauseln werden auf den für den jeweiligen Modus typischen Kadenzstufen
ausgeführt. Klauseln gliedern und unterbrechen den musikalischen Fluß, daher ist es wichtig
zu beachten: an den „Nahtstellen“ einer Klausel zum Einsatz des nächsten soggettos darf
keine Pause entstehen. Entweder die Stimme, in der die Ténorklausel liegt, schließt mit nur
einer Minima ab und geht sofort mit dem nächsten soggetto weiter (Beisp.1) – oder sie
benutzt eine Variante einer cadenza sfuggita: statt des Zieltons erscheint eine Pause und
nach ein oder zwei M setzt die Stimme mit dem neuen soggetto ein (Bsp.2a bis c sowie 3b);
oder die Ténorklausel springt „trugschlüssig“ ab und fährt nahtlos mit dem neuen soggetto
fort (3b). Die Diskantklausel wird, wie bereits im Kapitel über Klauseln erwähnt, fast immer
regulär in eine SB aufgelöst.
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C. Vom discantus zum Kontrapunkt –
historisch-systematische Darstellung
(Auszüge aus einem Skriptum von Alexander Stankovski)
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