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Die moderne Sexualforschung entstand sog. „sexuellen Zwischenstufen“1. Dieses er sich in zahlreichen weiteren gesell-
um 1900 in Berlin. Verschiedene nieder- Konzept konterkarierte die dogmati- schaftspolitischen Debatten, stets auf
gelassene Ärzte unterschiedlicher Dis- schen Lehren aller „abrahamitischen der Seite der politischen Linken. Für die
ziplinen wirkten daran mit, aber einer Offenbarungsreligionen“2 . Auch war Nazis war Hirschfeld der ideale, propa-
von ihnen ragt bis heute heraus: Mag- diese Idee unvereinbar mit den Idealen gandistisch nutzbare Repräsentant des
nus Hirschfeld (1868–1935; . Abb. 1; einer auf der Verherrlichung männlich- halluzinierten „Weltjudentums“: Jude,
[1, 2]). Er kombinierte medizinische militärischer Tugenden beruhenden Ge- homosexuell, unmännlich, sozialistisch,
Forschungen mit gesamtgesellschaftli- sellschaftsordnung. Hirschfeld verfolgte international tätig. 1933 plünderten SA-
chen Reformplänen. Bis heute gilt er zeittypische Konzepte, die heute der Horden Hirschfelds Institut, verfolg-
als Vater der homosexuellen Emanzi- Hauch von Eugenik und seltsam anmu- ten seine Mitstreiter und verbrannten
pationsbewegung, weil er im Mai 1897 tender Analogieschlüsse vom Tierreich seine Bücher. Hirschfeld, der sich auf
gemeinsam mit dem Verleger Max Spohr auf den Menschen umweht. So glaubte einer Weltreise befand, kehrte nicht
(1850–1905), dem Beamten Eduard Hirschfeld aus der künstlichen Zucht „in- nach Deutschland zurück und ließ sich
Oberg (1858–1917) und dem Offizier tersexueller“ Nachtfalter (Lymantria dis- in Nizza nieder. Hier starb er an sei-
Franz Josef v. Bülow (1861–1915) das par L) sowie der „Vermännlichung“ von nem 67. Geburtstag 1935. Teile seiner
„Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ Labortieren mittels Testistransplantation Forschungen wurden im Dritten Reich
(WHK) gründete, welches das Ziel ver- eine Endogenität der menschlichen Ho-
trat, das gleichgeschlechtliche Begehren mosexualität ableiten zu können [5, 6].
zu entkriminalisieren. Hierzu initiierte 1919 gründete er mit Stiftungsgeldern
das WHK eine Reihe von Petitionen an in Berlin das „Institut für Sexualwissen-
die gesetzgebenden Körperschaften des schaft“ als weltweit erstes unabhängiges
zweiten deutschen Kaiserreichs. Die- Forschungsinstitut. Er organisierte zahl-
se wurden zwar alle verworfen, jedoch reiche Tagungen und schuf mit der
gelang es Hirschfeld, zahlreiche Ärzte, Ju- von ihm dominierten „Weltliga für Se-
risten, Sozial- und Kulturwissenschaftler xualreform“ ein Forum, das sich für
sowie Personen des öffentlichen Lebens eine umfängliche Entkriminalisierung
für eine Abschaffung des § 175 zu gewin- und Entpathologisierung von sexuel-
nen. Dadurch löste er in Deutschland len Variationen und Verhaltensweisen
eine umfängliche Debatte über sexuelle einsetzte. Hirschfelds Forschungen und
und soziale Diskriminierung aus und sozialpolitischen Anstrengungen gingen
stimulierte die Sexualforschung in allen längst über die Forderung nach der
wissenschaftlichen Disziplinen. Hirsch- Entkriminalisierung des homosexuel-
feld vertrat die Idee, die sexuelle Ver- len Begehrens hinaus: Abtreibung war
anlagung eines Menschen sei angeboren für ihn ebenso ein relevantes Thema
– eine „Verführung“ zur Homosexuali- wie die Gewährung von „Transvesti-
tät schlicht unmöglich. Darüber hinaus tenscheinen“ durch die Kriminalpolizei
bezweifelte er, dass es eine strikte Tren- für Personen, die sich im falschen Ge-
nung der Geschlechter in biologischer schlecht wähnten. Daneben engagierte
und psychischer Hinsicht gebe. Vielmehr
existierten unzählige Abstufungen zwi- Abb. 1 8 Magnus Hirschfeld an seinem
1 [3, S. 596].
schen Männern und Frauen, die von ihm Schreibtisch (1926). (Aus [4] mit freundl. Ge-
2
[4, S. 15]. nehmigung)
stellen: „Testifortan“ und „Praejaculin“ sie könnten mithilfe ihrer Operationen Nemesis
[12]. Mit ersterem erlangten die beiden homosexuelle Männer in Heterosexuelle
Ärzte sogar literarischen Ruhm. Der verwandeln(und theoretischumgekehrt) Nach dem Ende des Nationalsozialis-
Schriftsteller Alfred Döblin (1878–1957) [17]. Ein Nebeneffekt ihrer Forschungen mus wollten die an den Verbrechen
setzte der Arznei und ihren Erfindern war die Theorie, wonach die „Pubertäts- des Regimes beteiligten Ärzte für ihre
1929 in seinem Roman „Berlin Alexan- drüse“ über den Alterungsprozess eines Handlungen keine Verantwortung über-
derplatz“ ein Denkmal.5 Wenige Jahre Menschen entschied. Infolgedessen er- nehmen. In ihrem Bestreben, die eigenen
später präsentierte Schapiro eine weitere klärte Steinach 1920, dass eine Sterilisa- Verwicklungen zu verwischen, tilgten sie
Untersuchung mit 600 Patienten, die an tionsoperation – von ihm „Vasoligatur“ auch mögliche Mentoren des eigenen
Ejaculatio praecox litten. Hier machte er genannt – bei Männern Jugend und Po- Tuns aus der Geschichte. Außerdem
deutlich, dass Hormonpräparate am bes- tenz erhalten könne [18]. Den Eingriff entwickelte sich die Forschung wei-
ten wirkten, wenn eine „erhöhte seelische perfektionierte Lichtenstern und ermög- ter. Hirschfelds Zwischenstufentheorie
Bereitschaft für psychosexuelle Assozia- lichte so einer ganzen Generation von veraltete und wurde seitens der west-
tionen“ seitens des Patienten bestand – aufstrebenden Urologen und urologisch deutschen Sexualforscher nicht mehr
mithin eine Psychotherapie parallel zur arbeitenden Chirurgen eine lukrative verfolgt. Von den Beziehungen zwischen
hormonellen Behandlung durchgeführt Einnahmequelle. Die von Hirschfeld Hirschfeld und der Urologie blieb v. a.
wurde.6 Schapiro beeinflusste noch in ursprünglich intendierte Beweisführung das „Testifortan“, das als häufig ver-
anderer Hinsicht die urologische Pra- zur Angeborenheit der Homosexualität ordnetes Potenzmittel in wechselnden
xis: Er initiierte eine Hormontherapie scheiterte im Laufe der 1920er-Jahre. Zusammensetzungen bis 1989 auf dem
anstelle eines chirurgischen Eingriffs Der Wiener Urologe Oswald Schwarz Markt blieb. In Österreich bewahrte der
beim Vorliegen einer Lageanomalie des (1883–1949) nutzte dies zu einer Funda- an der Universität Wien lehrende Uro-
Hodens [14]. mentalkritik an Hirschfelds Zwischen- loge Rudolf Chwalla (1900–1966) das
stufenlehre und betonte, dass der Sinn Erbe Steinachs und verfocht weiterhin
Eine kleine Operation und ihre der menschlichen Sexualität vorrangig die These, wonach die Vasoligatur ein
verheerenden Konsequenzen in der Fortpflanzung begründet sei.8 Die nützlicher Eingriff sei [21, 22]. Die lang-
von Steinach und Lichtenstern im Wind- fristigen Folgen des Eingriffs wurden
Jedoch übte Magnus Hirschfeld noch in schatten Hirschfelds in die Diskussion erst Jahrzehnte später beleuchtet [23].
anderer Hinsicht Einfluss auf die Ar- eingebrachte These von der einfachen Bernhard Schapiro führte seine Arbeit
beitsweise der deutschen Urologen aus. Verjüngung des männlichen Organismus bis zu seinem Tod in Israel fort.
In seinem Bemühen, die Angeborenheit ermunterte zahlreiche Ärzte, die Tech-
der Homosexualität zu beweisen, um so nik der Sterilisierung zu erlernen und Korrespondenzadresse
die Unrechtmäßigkeit einer Bestrafung problemlos in der Praxis anzuwenden.
Prof. Dr. phil. F. G. Mildenberger
zu untermauern, hatte sich Hirschfeld Als jedoch 1934 die Nationalsozialisten
Institut für Geschichte der Medizin der Robert
etwa 1914 mit dem Wiener Anatom Eu- das „Gesetz zur Verhütung erbkran- Bosch Stiftung
gen Steinach (1861–1944) verbündet, der ken Nachwuchses“ in Kraft setzten und Straußweg 17, 70184 Stuttgart, Deutschland
mittels der Überpflanzung von Ovarien damit die Zwangssterilisierung von als Mildenberger@europa-uni.de
bzw. Hoden an Ratten und Meerschwein- „geisteskrank“ eingestuften Patienten
chen künstlich „Vermännlichung“ bzw. legalisierten, wurde Steinachs „Vasoli-
„Verweiblichung“ auslöste. Als Schlüs- gatur“ als „Samenleitersperroperation“ Einhaltung ethischer Richtlinien
selmoment im tierischen (bzw. mensch- von dem Urologen Hans Boeminghaus
lichen) Organismus zur Steuerung der (1893–1979) als ideale Maßnahme zur Interessenkonflikt. F.G. Mildenberger gibt an, dass
Entwicklung von Geschlechtsmerkma- Umsetzung der nationalsozialistischen kein Interessenkonflikt besteht.
len bzw. sexuellen Verhaltens benannte Politik empfohlen.9 Der in Wien lehrende
Dieser Beitrag beinhaltet keine vom Autor durchge-
Steinach eine von ihm in den Leydig- Robert Lichtenstern hielt gleichwohl an führten Studien an Menschen oder Tieren.
Zwischenzellen angenommene „Puber- der Idee der Verjüngungsoperation fest
tätsdrüse“ [16]. Im Ersten Weltkrieg und ignorierte die Instrumentalisierung
unternahm der Wiener Urologe Robert seines Lebenswerks durch deutschen Literatur
Lichtenstern (1874–1952) im Auftrag Kollegen [20].
Steinachs erste Hodentransplantationen 1. Sigusch V (2008) Geschichte der Sexualwissen-
schaft. Campus, Frankfurt a.M.
am Menschen.7 1918 schließlich ver- 2. Herzer M (2017) Magnus Hirschfeld und seine Zeit.
kündeten Steinach und Lichtenstern, DeGruyter, Berlin
3. Hirschfeld M (1926) Geschlechtskunde auf Grund
dreißigjähriger Forschung und Erfahrung bearbei-
5 tet. Bd. I. Püttmann, Stuttgart
[13, S. 37]. 4. Bauer JE (1998) Der Tod Adams. Geschichtsphi-
6 [15, S. 1355]. 8 [2, S. 306]. losophische Thesen zur Sexualemanzipation im
7 9
Werk Magnus Hirschfelds. In: Herzer M (Hrsg)
[5, S. 306]. [19, S. 13].