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ANNA BOGHIGUIAN ZEICHNUNC AUS DER 5ER/E TIME OF CHANCE, 2022 pHoro: MARKUS rRErrER / couRrEsy oF rHE ARrrsr @ ANNA BocHrou'AN, KUNsTHAUS BREGENZ
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DAS LEBEN EINES AUSSENSEITERS, DEN DIE EINSAMKEIT ZUM DICHTER MACHTE
l C H B l N in Eminönü an den Landungsbrük-
ken. Im standigen Gewühl eines sich standig wan-
delnden Istanbul. Ganz allein. Auf den Spuren von
Sait Faik, ,,den die Einsamkeit zum Dichter mach-
te". Ich warte auf den Inseldampfer, so wie er zeit
seines Lebens auf den Inseldampfer gewarrer har.
Schon llngst srol3en die Dampfer keinen Rauch
mehr aus, der früher die Neue Moschee und ihre
Thuben einhüllte. Li.ngst fahren keine Kutschen
mehr über die Galatabrücke. Lö"ngst steht am Kai
kein Bettler mehı der ein Kaninchen mit.weichem
Fell und ioten Augen Glücksbrieföhen zupfen Iö3t.
Auch die \7asser-, Boza_ und Sorbetverköufer, die
Sesamkringelburschen und die Schuhputzer sind
verschwunden. A]l die Stra13enhandler sind plöz-
lich fort, auch die Lastentriger, da kann man lan-
ge suchen. Diese Bilder sind Vergangenheit, sind
zu sepiafarlenen Photos geworden. Das Istanbul
um mein Geburtsjahr herum. lebt nun in den Ge-
schichten von Sait Faik, mitsamt den verrul3ten
Steinbauten, den verlassenen Dö.chern, Mauern,
den buncen Einmastern mit gerefften Segeln, die
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das alles uerri,
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die Schwielen:
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am Goldenen Horn ankern, den griechischen Fi- den unverge8lichen Helden Sait Faiks die ,,alte" Sait Faik, als
schern, den Jungs, die unter der Brücke schlafen, Stadt, die dieses Adjektiv einmal mehr verdient, (Unter der Brı
und den engen Gassen. Ich erinnere mich an je- in meiner Vorstellung auf. Mir scheint, ich liebe ratur tat. Sein
nes Istanbul aus den auf Strohpapier gedruckten Istanbul ein bi8chen auch Sait Faiks wegen. Die Alemdağ'da Va
Zeitschrifren, die ich im einzigen Buchladen der Stadt, die in seinen Geschichren lebt, besreht nicht Alemdağ") erl
Provinzstadt meiner Kindheit vom Taschengeld ge- nur aus den Kellerbars und Botenjungenkneipen durch ihren u
kauft habe, an jene schwarzwei{3e Phantasiestadt, von Beyoğlu, den Schaufenstern, dem bunten, ver- wegen des frü
deren Kuppeln und Minarette durch krumme und führerischen Getriebe, vielmehr haben sich auch Alkohol und l
gerade Striche Gestalt annahmen und die mich bis die Roma, die au(erhalb des Mauerrings wohnen, rhose, andere:
in meine Tiiume verfolgte. Ein Zwitter aus \(asser die Dampfeç die Fischer, die braven Menschen der seinem Zıısam
und Luft, Stein und Feuer. Dazu kamen aus dem Randbezirke, die ihr Brot den Steinen abringen, in lose homosexu
Bücherschrank meines Vaters die Bücher von Sait mein Geddchtnis gegraben. Ebenso wie die kosmo- schichren nie<
Faik, deren Erstdrucke im Verlag Varlık erschienen politische Mischung, die seit byzantinischer Zeit auf der Suche
waren) die ich zu lesen versuchte, ohne sie rechr die eigentliche Bevölkerung der Stadt bildet. Ich waren faszinier
zu begreifen. Viel spiter, als InternatsschüIer im bin froh über das, was ich früher über diese Leu- zihler durch c
Galatasaray Lisesi, solke ich die 'Ş7-elt der einfachen te, insbesondere die Griechen, geschrieben habe. buls streifen li
Menschen in diesen Erzdhlungen entdecken. In Denn, mögen sie auch ,,Armenier sein oder Tiirhen in surreale Sitı
Sait Faiks Kurzgeschichten erscheinr Istanbul so- oder Mischlinge aus Tunesien, sie gehören auf jeden fe Einsamkeit
wohl als Ort des Jüngsten Gerichts wie auch als Fall zu den Istanbuler Tilrken". Sait Faik spricht nennt.
Hauptstadt der Einsamkeit und des Schmerzes. hier nicht von ethnischer Verschmelzung, sondern Der Schrift,
Jetzt, wo ich in einem gİnzlich anderen Istanbul er sieht ,,das andere" als das Eigene an, er akzeptiert die wir bisher
auf den Inseldampfer warte, taucht zusammen mir und liebt es. Ja, er verkllrt es geradezu. In ,,Yor- noch aus der .

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WINTER 2022
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gias Sradwiertel" lul3ert er als ,,einer der Ersten"
seine Sicht zu diesem Thema: ,,In der ansteigenden
Gasse drıingten sich Garnelenuerhıiufeı Elektriheı
Brotbticher Essiguerktiufer, Schreinerlehrlinge, Kell-
neı Friseure, Ahhordeon- und Kitaraspieler Schau-
spieler und Reuuestatistinnen, Sc hneiderge h i lfen und
Wrkaufer und ebenso uermischten sich die Religio-
nen und Bekennmisse, Türken, Russen, Armenier,
Griechen, Nestorianer, Araber, Roma, Franzosen,
Katholihen, Leuantiner, Kroaten, Serben, Bulgaren,
Perser, Tataren, Juden, Italiener, Maheser und wei-
teres Volk." 1
In seiner Aufzahlung kommen alle vor, sogar
Chinesen, was will man mehr! Doch am meisten
interessierten Sait Faik die Griechen. Sowohl in
Beyoğlu als auch auf der Insel Burgazada hat er
mit ihnen zusammengelebt, und in seinen 'Şü'er-
ken schliigt sich au8er ihrer persönlichen'Ş7'elt mit
ihren sozialen Problemen auch ihre gesproche-
ne Sprache nieder. In einer Epoche, als in unserer
Literatur der Anatolische Realismus dominierend
wurde, ruderre Sair Faik in die andere Richtung
und entwickelte eine giinzlich andere Strömung. Es
gibt Büchea die man viele Male liest, die einen in
schlafosen Nlchten begleiten, wenn man in der ei-
genen bitteren Innenwelt gefangen ist. Die Bücher
Sait Faiks gehörten zu dieser Art von Literaıur, die
ich in meiner Istanbuler Zeit zwischen Pubertöt
und jungem Erwachsenem immer wieder las. Da-
mals gab es hier kein anderes Restaurant aufier der
Brückenpfeilerkneipe tief im Fischmarkt, die auf
die trüben \7asser des Goldenen Horns schaute,
auf die alten Klhne, die darauf warteten, in der
\7erft verschrottet zu werden. Doch es gab Ang-
ler. Die gibt es auch jeut noch. Sie lassen ihre lan-
gen Angelschnüre von der Brücke baumeln _ ach,
was hei8t baumeln, sie werfen ihre Nylonschnüre
direkr in Richtung Meeı und ich halte vergeblich
nach einem Jungen Ausschau. Diesem Jungen aus
Sait Faiks Erzihlung Die Angel, die ihren Besitzer
fand. ,,Er hatte einen dünnen Hals, schmutzige, aber
schöne Finger und trug ei.ne abgerissene Mütze." 2 Er
war einer von den Jungs unter der Brücke, aber er
war kein Strolch. So wie der Meister seinen Stift
beherrscht und mit raschem Strich seine Umge-
bung festhilt, so wu8te auch er, welchen Fisch man
zu welcher Zeir wo und wie fing, doch dieses Ge-
heimnis teilte er mit niemandem. Nur der Autoı
der aus \7örtern einen Text erstellt, teilt seine Ein-
WINTER 2022
drücke mit uns.
,,Ganz ffinsichtlich hatte er schon einmal ge-
angelt. Wie er die Angel in der Hand ııog und den
Fisch, der schlie/İlich anbif, unaufgeregt herauszog,
das alles uerriet, da/İ er kein Anfıİnger war. Inner-
halb uon drei Minuten fing er zwei Fische (...) Ich
aber hatte lıingst in dem- Kiffeehaus am Kai, uor dem
die Schwielensalbe uerkaufi ıuird, meinen Tee be-
ITE stellt, Snrt und Papier herausgehoh und schrieb an
rneiner Erzöhlung. " \(ie viele Schriftsteller meiner
Generation stand auch ich unter dem Einffu8 von
<s die ,,alte" Sait Faik, als ich mit meiner Erzlhlung Köprüaltı
hr verdient, (Unter der Brücke) den ersten Schritt in die Lite-
ıt, ich liebe ratur tat. Seine letzten Geschichten in dem Band
wegen. Die Alemdağda Var Bir Yılan (,,Die Schlange auf dem
ıesteht nicht
Alemdağ") erschütterten uns zutiefst, nicht nur
ıgenkneipen durch ihren unvergleichlichen Stil, sondern auch
)unten, ver- wegen des frühen Todes des Autors aufgrund von
n sich auch Alkohol und Einsamkeit. Ja, er starb an Leberzir-
:gs wohnen,
rhose, andere nannten es Lungenversagen, doch zu
enschen der seinem Zusammenbruch trug auch eine hoffnungs-
ıbringen, in Iose homosexuelle Liebe bei, die sich in seinen Ge-
die kosmo-
schichten niederschlug.'W'ir jungen Schriftsteller
ıischer Zeit auf der Suche nach Erneuerung in der Literatur
bildet. Ich waren fasziniert von dem Autoıder seinen Ich_Er_
diese Leu- zlhler durch die mitternd.chtlichen StraBen Isran-
eben habe.
buls streifen li8t und die Menschen, die er trifft,
ıder 7lirhen in surreale Situationen versetzt, wobei er eine tie-
n auf ieden fe Einsamkeit schildert, die er ,,Melonenbitterheit"
aik spricht nennt.
ıg, sondern
Der Schriftsteller vertrat eine ethische Haltung,
: akzepriert
die wir bisher weder aus unserem sozialen Leben
ı. In ,,Yor- noch aus der Literatur kannten. Mit Einsamkeit
NEDIM GURsEL sA/I FAtK IN ]STANBt./t w 121
und Schmerz bezahlte er fur das nicht leicht zu iu- dich als ölterer Bruder. Du ıuirst es sonst dıin Lebtag
Bernde Bekenntnis zu sexueller Freizügigkeit, für bereuen."'
das Aufbegehren gegen konservative \(erte, gegen
Verbote, ,,Kirchengebote", wie er es nannte. In vie- BURCAZADA
Ien seiner Bücheı insbesondere in ,,Die Schlange
auf dem Alemdağ", schildert er die emotionale Bald werde ich mit dem Dampfer auf der Insel
'ü(elt eines zum Aul3enseitertum Verurteilten, der Burgazada landen und an die Tür des Hauses von
zwischen dem gesellschaftlichen Druck und seinem Sait Faik klopfen, das jetzt ein Museum ist. Auf
Begehren zerrieben wird. Eine Poetische, füchtige dieser Insel, die er einen ,,Punkt auf der Landhar-
\ü/elt, die mit der Stadt Istanbul zu einem Ganzen te" nannte und wohin er sich nach jeder Entrlu-
verschmilzt. Seine wachsende unerwiderte Liebe zu schung füchtete, brachte er ein universelles \7erk
einem griechischen Jüngling konnte er nicht direkt hervor. In der letzten Kurzgeschichte,4 die er vor
lul3ern, sondern nur, indem er das Bekenntnis dem seinem Tod schrieb, verabschiedete er sich von der
Erzöhler der Kurzgeschichten in de.: Mund legt. \(elt mit ,,Kalinichta" (,,Gute Nacht") in der Spra-
Auch ich bekenne, wie sehr mich diese kühnen Sit- che des Jünglings, um dessentwillen er umherirrte
ze beim erstmaligen Lesen aufivühlten, wie ich mit und sich die Leber ruinierte. Heutzutage können
einer Mischung aus Scham und Abscheu reagierte wir sowohl die Erneuerung besser verstehen, wel-
und da{3 diese Reaktion teils heute noch gilt. che die türkische Literatur ihm verdankt, als auch
,,Ich möchte mit den Burschen zum Fischen ge- unbefangener über seine freie Moral urteilen.
hen. Ich drehe durch, ıuenn ich abends beim Eisessen Endlich hat das \(arten ein Ende, und der
mit den Eismacherlehrlingen plaudere. Allein, ich bin Dampfer naht sich dem Anlegesteg. \Zir stürzen
nicht so naiu zu behaupten, ich würde nur mit ihnen uns darauf wie Janitscharen beim Sturm auf die
reden, um zu erfahren, wie man Eis herstellt. Daf Stadtmauern. An den \(ochenenden wollen alle
unsere Freundschafi darauf beruhe. Zu diesem Zhe- auf die Inseln. Besonders bei schönem'Ş7'etter fin-
ma werde ich überhaupt nichts sagen. Ich uıerde nur det man in diesen Frühlingstagen auf dem Damp-
dies sagen: Es bereitet mir Wrgnügen, mit ihnen zu fer keinen Platz. Nur mühsam erwische ich einen
schwıitzen." 3 Sitz auf dem hinteren Deck. Ich quetsche mich
Da es sich bei den Betreffenden nicht um Er- zwischen Frauen in schwarzer Burka und Ge-
wachsene handelt, würde ich gerne annehmen, das sichtsmaske und ihre dunkelhlutigen, schnurrbir-
,,Vergnügen" sei nicht über eine platonische Nei- tigen Gatten, die mit Ringen und Photoapparaten
gung hinausgegangen. Doch kann ich die \Tirkung bestückt sind. Kinder toben dazwischen' umher.
eines Satzes wie des folgenden einfach nicht au(er Alle sprechen Arabisch. Offensichtlich wollen sie
acht lassen: ,,Bei der Rüchfahrt uon Konstanza hülİte auf Büyükada, der Gro8en Insel, spazierengehen.
ich einen Schffiungen auf dem dunhlen Schffideck, Das sind arabische Touristen, die Frauen vollsrln-
soda/İ mir ganz schuıindelig wurde." dig verhüllt, die Manner modern gekleidet. Nicht
\(enn ich ,,\7irkung" sage, fdlle ich hier na- nur ihre Zdhne sind golden, sondern alles, was sie
türlich kein moralisches Urteil, auch verweise ich dabeihaben, sogar die teuren Photoapparate. Den
darauf, da13 solche Neigungen durch das Gesetz Inseldampfer besteigen heute keine alteingesesse-
'Ş7'enn
gebremst werden. der Autor derartige \7ün- nen Inselbewohner mehr, sondern reiche Araber.
sche thematisiert, geschieht das sowieso in einem Juden und Griechen, die einst die Mehrheit der
emotionalen Zusammenhang, und zumeist be- Sommerhausbewohner bildeten, sind lİngst weg-
gnügt er sich mit Andeutungen. Man kann sagen, gezogen und haben einen herrenlosen Ort zu-
dafJ er von Schriftstellern wie Oscar \Zilde oder rückgelassen. Die Nachfolger,
Andr6 Gide ermutigt wurde, seine Neigungen zu die sich ein Istanbul ohne die Nedim Cürsel
offenbaren, ohne von sich persönlich zu sprechen. ursprünglichen Besitzer vorstel- l'.:Tli"^o:'pyramides
Empreinte temps
Aufierdem gehörte Jean Genet, der damals noch Ien'könien, haben die st"dt :ıJl:ii"
nicht ins Türkische übersetzt war' zl7 den Auto_ der Jagd nach leichter Beute".,f
in o,,"nr ro.n,",
ren, die er im französischen Original las. Der Au- unverschlmter \7eise e-roberr.'s;l]i;jü,ir6*"n.p
tor selbst oder der Erzlhler in den Kurzgeschichten Nicht nur auf den Inseldamp-
fern sind sie jetzt, sondern in j'e- ffi,iij'İ",',
gibt dem Leser zwar genügend Hinweise auf seine
sexuelle ldentitit, seine Vorlieben. Doch bezeugen der Stra{3e der Stadt, und Istan-
^.-..,-,--,.-..
einzelne ihm Nahestehende, dal3 ihm das Bekannt- bul erlebt unter ihrer Herrschaft ftT::'J:,|.u}'o,ı,
werden dieser Neigungen nicht recht war. seine letzten Augenblicke vor oas Bitd des propheten
Der Schriftsteller beansprucht gegenüber einer dem grof3en Erdbeben. frıı+, aeıin zoıe
konservativen Moral eine Freiheit, die den herr- So wie die Fahrgisre haben En ttatie
schenden gesellschaftlichen Regeln widerspricht. auch die Dampfer sich verln- rharaux2olz, Empreintetemps
Aus seiner Sicht ist der Mensch ,,ein Verbotstier". dert. Ldngst gibt es keinen Rad- prdsent
Er klagt: ,,Sind nicht sogar die Mikroben uerboten? dampfer mehr, von dem Sait İtreintes dangereuses
Di.e Liebe? Wrboten! Und selbst das Essen und Tiin- Faik in einer der Kurzgeschich- Paris 2018, Le Passeur
ken ııird mtn uns noch uerbieten. So wie wir ans ten berichtet. Eigentlich war er Fülle, die wir trinken
gegenseitig uerboten sind. Ich hann dich nicht ein- nicht von den Dampfern faszi- l[o+, geı.lın zoo+
niert, sondern von den Passa-
fach küssen, nur weil ich Lust dazu habe, du schönes Halluzination in Konya
llxna! gieren. Zwischen der Insel Bur- [zs, aerlin zooo
Sait Faik sprach manchmal offen, meistens je- gazada und Eminönü pendelnd Licht und Schmerz
doch nur andeutungsweise über seine homosexu_ J.rchte er seine Protagonisten [ızs' aerlin zozo
ellen Neigungen, doch diejenigen aus seinem na- mit Hilfe seiner au(erordentli- La seconde vie de Mahomet
hen Umfeld, die über ihn schrieben, insbesondere chen Beobachtungsgabe. Doch Paris 2018, CNRS
nach seinem Tod, bemühten sich, dieses Thema zu es kam auch vor, da13 er Verall- Der Sohn des Hauptmanns
umschiffen. Deswegen, scheint mir, ist das Zeugnis gemeinerungen anstellte, dafJ Köln 2017' DuMont
von Naim Tirali, einem nahen Freund des Autors, er, auf der Seitenbank des Rad- Stadt der toten Dichter
von besonderer Bedeutung; dampfers bei einem Abendbrot, lll1o7' Berlin 2014
Harthdse F9.'] ı":"
,Ein, zwei Monate uor seinem Tbd nafen ıııir das rus ,,Roggenbrot und
uns am Thhsimplatz in der Konditorei Curnhu- fi;r uie/zighurzzş" bestand, den
|!|116' Berlin 2o17
riyet, wo jetzt nichts mehr los ist. Ich ııollte einen abstrakten Begriff,,Mensch" dis- Turquie libre' i'6cris ton nom
Witz machen, indern ich auf eine Schııöche ansPiel-
l . r l l Saint-Pourçain-sur-Sioule2018,
Kutterte. .ğr war nlcnt arm, cocn
begnügte er sich mit wenigem ..-- -
--
Bleu Autour
te, die auch den Anwesenden behannt war, und. uon
einem feschen Jüngling zu reden anfing, der zufiillig *ı! diJırı..,schen, die ihrLeien x:Iltii: ?H..j;,':;TH''
i.n dem dolmuş, rnit dem ich gehommen war, neben im SchweifJe ihres Angesichts present
mir gesessen hatte. (...) Sait wurde plötzlich uıütend, verdienen; er war begeistert von voyaqe en tran
sprang auf und ermahnte mich - obwohl er mir doch Simit, Sesamkringel, und Tee -
paiislozz, Actes sud
in Paris Zum selben Zhema das Herz ausgeschüttet besonders wenn noch Hartkise wein, Rose, Nachtigall
hane: 'Mach blo/( nicht so einen Fehler! hh erwıahne dazukam. Es gelang ihm sogar, |!ızı,aerl'nzoıs
122 re NEDlM GüRsE L SAIT FAtK IN ISTANBUL
Sait Faik eine Kurzgeschichte für
Geschichten aus lstanbul Tiio zu v.if"sr.r. Der Dampfer
Tiirich 2012, Manesse Verlag
Ein Lastkahn namens Leben war vermutllch Cıer geelgnetste
ort, in Gedanken zu Versinken'
7(ırich 1996, Unionsverlag
Ein Punkt auf der Landkarte taume zu spiffıen'
Frankfurt/M 1991, Dagyeli Auf dem Achterdeck, wo zwi-
Der samowar schen den stehenden Menschen
Frankfurt/M 1993, DIPA ,heine Nadel zu Boden fallen
Verschollene gesucht hönnte", ist meine Aussicht lük_
Frankfurt/M ıss:, oıpn { kenhaft. Dennoch erkenne ich
links den Galata-Turm und die
weil3en Schiffe, die vor Tophane ankern, ebenso
wie die Einfahrt zum Bosporus mit den hİBlichen
Gebluden, die sich an den Kai lehnen, als würden
sie gleich zusammenbrechen. Genau gegenüber
erhebt sich der Mödchenturm, deı seinem Na-
men entsprechend seine Figur prlsentiert wie ein
blütenwei8es Mldchen. Zur Rechten mache ich
die kleinen kupfernen Kuppeln des Tophapı Sarayı
und des Kubbealtı aus, die aus dem Grün hervor-
sprie8en. Die spitzen, harten Minarette der Hagia
Sophia und der Sultan-Ahmet-Moschee mu8 ich
nicht eigens suchen, sie stechen in den Himmel,
da( es mich in der Seele schmerzt.
Vor uns liegt das Marmaiameer mit seinen In-
seln Kınalı, Burgazada, Heybeli und Büyükada und
noch weiter dahinter den Inseln Sivri und Yassı.
Die Inseln mit dem Namen Kaşık und Sedef die
in mehreren Kurzgeschichten Sait Faiks vorkom-
men, zöhle ich nicht mit. Da sie sehr klein sind,
sieht man sie vom Deck aus nicht. Eigentlich sieht
man gar keine Insel, wenn man sich nicht über die
Reling hlngt, doch ich wei8, da13 bald, nach einer
Stunde etwa, der Dampfer bei ihnen vorfdhrt und
sie bis Büyükada aufgereiht erscheinen, sich prii-
sentierend wie bei einer Brautschau.
\Vir nehmen Fahrt auf, wie immer begleitet
von Möwen. Die Fremden, die nicht wissen, da8
in Istanbul keine Seefahrt ohne Möwen stattfin-
det, lauschen begeistert ihrem Geschrei. Die Mö-
ANZEICE
(Eıne neue Generatİon wıılan die Macht.
Doch wİrd dİese Generatİon dİe Polİtİk veröndern?ıı
H annah F rİedrİch, 3sat Kulturzeİt
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ırTİE
E ldeale nicht aufgeben.
seiten I Gebunden € z4'- | lsBN
335 9783-4c,6-7912g-9
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E WINTER 2022
dieses wen aber sausen umher fast wie die Kinder auf dem Nlihe. Dieser Zustand würde dann uielleicht aner-
Deck. Oder sie tauchen ins \Tasser ein und wieder kannt als Dienst, fun dır nutzlose Mann zu leisten
auf. Danach überlassen sie ihre ausgestreckten Flü_
gel dem \7ind und schweben ruhig durch die Luft.
imstande war."
\7enn ein Stück Brot geworfen wird, stürzen sie ügrRFLüsSlCER MENsCH
sich darauf. Die Passagiere sind nicht mehr die al-
ten, doch die Möwen sind gleichgeblieben, ebenso Mit diesem nutzlosen Mann, der splter als Buchti-
wie das fischreiche Meer. Bedri Rahmi EyüboğIu rcl zıı Ein überflüssiger Mensch mııtiert, identifiziert
schreibt in einer Erinnerung an Sait Faik von ei- sich der Schriftstelleı das ist der Künstler selbst.
nem Möwenmassaker: Von ihm erwartet man wie von jedem Individu-
,,Als es dunkel ııurde, war es ni'cht so leicht, auf um eine Funkdon in der Gesellschaft. Dabei war
Siuriada zu landen. Bei Sonnenuntergdng hehrten in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts, in der
Taasende uon Möwen unter fürchterlichem Gehrei- Sair Faik lebte, die ZahI derer, die mit Literatur ih-
'S7'ohl
sche auf die Insel zurüch. Am Strand fanden wir ren Lebensunterhalt verdienten, sehr gering.
uien filnf tote Möwen nebeneinander liegen. Sait deshalb stand in dem PaB, den er ein letztes Mal
I
untersuchte sie: 'Sie müssen gestern ersclıossen worden beantragte, um zur Behandlung ins Ausland zu
sein. Gestern sind uiele Frerrıde hierhergehommen. reisen, in der Sparte ,,Beruf'das 'üZort ,,heiner". In
Sie haben ihre Pistolen ausprobiert. Diese Sch ... den Augen des Staates verfügte Sait Faik über keine I
kerle. ,,Arbeitshrafi", so als hitte ein anderer seine wun-
Sait Faik lll3t in ,,Das Laubengrab" den Er-
l
derbaren Geschichten geschrieben. Er wurde als ei- i
zihler unkommentiert berichten, da( er mit gro- ner der ,,überfüssigen Menschen" bezeichnet, aber I
Bem Appetit Möweneier von den Klippen der In- aus seinem Verhalten wird deutlich, da13 er diese
sel Burgazada verspeist habe, doch in Son Kuşlar Bezeichnung nicht akzeptierte. Sonst würde der
I
(,,Die letzten Vögel") rechnet der Autor mit Kon- Erzöhler nicht Meister Mercan zurufen: ,,Wir sind i'
sranrin Efendi ab, der Erlenzeisige jagt. Sowohl die auch Werhtıitige. Wir schreiben, ha!" Aııch wlren wir
Möwen in ,,Das Laubengrab" wie die von Sivria- sonst wohl kaum Zeugen des folgenden Gesprlchs
da müssen sich in mein Gedlchtnis eingegraben zwischen dem Erzihler und Vater Bileyici in ,,Kopf I
haben, Ihre ,,Sturzfl'üge wie Kampffiieger" ebenso und Flasche".
wie ihre gellenden Schreie. Die Schreie der realen ,,-'Was arbeitest du?'fiagte er
t
f
Möwen, die meinen Dampfer begleiten, ihr Tau- 'Ich arbeite nicht.'
chen nach Brotstücken, mischen sich mit den Mö-
I
Er schaute ıirgerlich.
wen aus den Erzlhlungen. Offenbar fürchten sich _ 'Lungerst du etııa faul herum? Lieber Gott! b
r
t
Sauber und ordentlich blst du ja. Egal' Lüg nicht.
İ
die Möwen vor dem Menschen. Doch lebte einst İ
ı
ein Schriftsteller in dieser Stadt, der sie aufmerk- Sag, was filr eine Arbeit machst du??' I
sam beobachtet, sie geliebt und ihren Tod betrau- 'Ich arbeite, doch das gih nicht als Arbeit.'" 6 li
ert hat. Den Tod einer dieser Möwen hat er folgen_ Sait Faik lebte vom Erbe seines Vaters. Da er t
t
derma8en beschrieben: mit seiner Mutter allein war, also nicht verheiratet, t
,,An ei'nem Aprilabend lag eine Möwe auf dem mu{3te er nicht für Kinder sorgen. Er war aber auch İ
İ
Rüchen und benıühte sich noch immer zu sterben. Ein nicht verschwenderisch, kannte keinen Überflu8.
ı
İ
Hauch aon Trauer durchzog mein Inneres. Ich konn- Er lebte wie ,,die kleinen Leute", mischte sich un- f
te sie nicht allein lassen. So nahm ters Volk und gab nur soviel aus wie dieses. In KIei- ı
ich den Kopf der Möwe i'n rneine dung und Einrichtung strebte er nicht nach Luxus.
I
Hıinde, holte eine Handuoll Meer- Er hatte auch kein Konto in der Schweiz. Auf Pho- t
wasser und ntiufehe es auf ihren tos, besonders auf dem schönen Photo mit seinem
Schnabel. Sie schüttelte hrampf- Hund Arap, das ihn mit dem breitkrempigen Hut, ANNA BOGHIG
hart den Kopf, Zitterte einmal. der Sonnenbrille in der Hand und den Kunststoff-
Und ıuar tot." 5 schuhen mit gelösten Schnürsenkeln an den Fü(en
Der Fischer Kalafat, den der zeigt, das in einem Fischerboot aufgenommen wur- aufseine Insel, ı
Tod der Möwe kaltgelassen hat, de, sieht eİ zwar nicht gewöhnlich aus, aber wie vitd"t durch Mor,
Derzeit sitzen so viele und sein Gehilfe Sotiri, die am einer von uns. ein Mensch, der
junge Abgeordnete wie Abend am Strand ein Feuer ent- Andererseits verdiente er mit seinen Kurzge- ein Fisch im Ş7a
nıe zuvor im Bundestag. zünden, um Muscheln zu ko- schichten durchaus etwas. Für die Veröffentlichung delte die Zek m
chen, bemerken, da8 der Dich- seiner Geschichten bei Varlık bekam er für die da- in der Menge de
lhre Generation steht
ter doch nützlich ist, nachdem malige Zeh ordentlich Geld. Genauer gesag ge- ne Geschichten s
vor immensen Heraus- nen anderen Ort
sie ihn erst einmal für unnütz, in lang es ihm, dem für seine Knauserigkeit bekann-
forderungen. Schnell ihren \7orten als einen ,,überflüs- ten Verleger pro Kurzgeschichte ,,ftınf Scheinchen" ne endlosen \(an
müssen sie schwerwie- den Schriftsteller
gende Rıchtungsent-
sigen Menschen" bezeichnet und
verachtet haben. (,,Bist du Dich-
abzuknöpfen, wie er selbst sagt. In einem Interview
formulierte er folgenderma8en: in Virklichk
scheidungen treffen, ter oder was fi.ir'n Schei/İ?") Der ,,Da ich das Schreiben als Arbeit ansah, beschlo/İ in Şişli und auf
@ aber wollen dabei ihre Künstler soll ihnen vom Tod der ich, keinem anderen Beruf nachzugehen. Wie gesagt. kleidete Villa in
Möwe erzdhlen, soll ihnen dazu Mein Entschlu/İ stand fest, allein uom Schreiben zu und die Hunde i
Wird ihnen dieser Spagat verhelfen, Geftihle zu verspüren, leben. Fische zu fangen, im Kaffeehaus zu sitzen, ne- rettender Zweig.
gelingen? einander nlherzukommen und ben rnir mein geliebter Hund, Menschen hennenzu- nirgends ,,daheiı
gemeinsam sich zu freuen oder Iernen, in Beyoğlu auf und ab zu streifen, zıuischen- schrieb, die gedr
<WeiB alles über die zu trauern. durch zu trinken, eine Geschichte zu schreiben; kurz mer grö3er werd
Neuen im Bundestag ,,Würde dieser Mann etwa und gut, ungebunden den ganzen Thgfaul berumzu- er immer einsan
und so viel mehr.>> nicht arbeiten? Dasitzen and höngen, so ınacht mir das Leben Spa/İ, das nenne ich schichten verliel
Micl<y Beİsenherz, über die Felsen nachdenhen? Die Leben. " und die Hunde.
Apoko lypse a). F i lterkoffee Er war das Opfe
Möıue war gestorben. Würde er '{/ar das Leben für Sait Faik wirklich so, wie er
sie betrachten und uns Mörchen es hier schildert? Das glaube ich nicht. Bis heute umsonsr sind di
erzrihlen? wurde nicht analysiert, was der Grund war für sei- auf dem Alemda
Denen, die am hellen Tag so nen Mü(iggang, für sein ungeregeltes, zerstreutes Einsamkeit durc.
in der Nacht,
redeten, würde ich Leben. Man hat kaum darüber nachgedacht, was Vorkimpfer noc
wenn Baumstrünke und' Ge- in der Zeir passierte, als seine Eltern getrennt leb- Er war auch kein
strüpp brannten und andererseits ten, welche Erschütterung das Leben des Kindes er denn sonst w1
der Wind das Meer brallen llelİ Sait Faik dadurch erfuhı welche Auswirkungen der seinen ,,MüI3igga
und die Möwen immer noch ıuie harte, autoritire Charakter seiner Mutter hatte. Es perte Einsamkeir
ıuahnsinnig schrien, ein Lied, wurde versucht, seine Schüchternheit und sogar sei- Schreiben wa
eine Totenhlage fİir die Möıuen ne Faulheit mit dem Gezeitenwechsel in der Künst- wenn er sich wir
anstimmen. Die Fischer würden lerseele zu erkllren. Dabei war Sait Faik deprimiert seiner kurzen Ze
eingehüllt sein uon Trauer, einem wie jeder Künstleı der seine Neigungen nicht frei nicht wenige Reç
lWItıIITİııaIErııfimE
Schaudern, einern Gefühl uon ausleben kann. Und er floh in den Alkohol oder Sicht des Sraates
 WINTER 2022

ın uielleicht aner-
z Mann zu leisten

NSCH
spöter als Buchti-
tiert, identifiziert
: Künstler selbst.
jedem individu-
chaft. Dabei war
hunderts, in der
mir Literatur ih-
:hr gering. \7ohl
r ein letztes Mal
ins Ausland zu
Vort,,keiner". In
t Faik über keine
lerer seine wun-
Er wurde als ei-
bezeichnet, aber
:h, daB er diese
onst würde der
rsfen: ,,Wir sind
Auch wö.ren wir
nden Gespröchs
)ileyici in,,Kopf

,rı? Lieber Gott!

IgaL Lüg nicht.

's
Arbeit."'6
s Vaters. Da er
cht verheiratet,
r war aber auch
inen überflul3.
ıischte sich un_
dieses. In Klei-
;ht nach Luxus.
ıweiz. Auf Pho-
oto mit seinem
:rempigen Hur,
ANNA BOGHIGUIAN ZEICHNUNG AUS DER SER/E TIME OF CHANCE, 2022 pHoro: MARKUS rRErrER / couRrEsy oF rHE ARlsr o ANNA BocHrcurAN, KUNsTHAUs BRECENz
len Kunststofr
ı an den FüBen
:nommen wur-' auf seine Insel, wenn die Gesellschaft seine Kreati- nicht als Arbeit. Auch aus Sicht des Volkes nicht. Selbstaufgabe nicht nachzugeben. Dieses Dilemma
aus, aber wie vitlt durch Moralvorschriften einschrönkte. Er war Verfolgen wir den Dialog zwischen dem Erzdhler wird ihn wohl oder übel zur Auslöschung führen,
ein Mensch, der sich im Getümmel wohlfühlte wie und Vater Bileyci in ,,Kopf und Flasche" weiter: zum Selbstmord, was keiner bemerkt.
einen Kurzge- ein Fisch im \[asser: scheu und einsam. Er vertrö- ,,- 'hh arbeite, aber das gih nicht als Arbeit.' ,,Dann steige ich eines Tages in einen Bosporus-
lröffentlichung delte die Zeit mit gewöhnlichen Menschen, die er Dampfer und setze mich ganz hinten auf eine Banh.
-'Bringt das Geld ein?'
ı er für die da- in der Menge der Gro(stadt fand, über die er sei- -'Es bringt mir das Zigarettengeld.' Zwischen Bebek und Arnauuthöy stehe ich auf sehe
uer gesagr ge- ne Geschichten schrieb, denn er hatte sowieso kei- - 'Hast du etwas uln deinem Vater geerbt?' mich um, und ıuenn heiner da ist, Iasse ich mich ein-
igkeir bekann- nen anderen Ort, kein Heim, keine Zufucht. Sei- - 'So in etud.; nun la/İ es gut sein, mein Lieber. fach ins Wasser fallen."
8
ıf Scheinchen" ne endlosen \7anderungen durch BeyoğIu brachten Warum willst du unbedingt ııissen, ıuelclıen Beruf ich Schon bald werde ich im Sait-Faih-Museum
nem Interview den Schriftsteiler an kein Ziel. ausübe?' den nutzlosen Pa( sehen, der diesem ,,iiberflüssi_
In Virklichkeit hatte er sogar eine 'Wohnung - '\Veil du wie ein Studierter wirhst."'7 gen Menschen" ausgestellt wurde, wo in der Spalte
rnsah, beschlof in Şişli und auf der Insel Burgazada eine holzver- Meiner Ansicht nach ist es nicht gerechtfertigr, lirr ,,Beruf das 'Wort ,,heiner" steht. Ich wei8, da8
:n. Wie gesagt. kleidete Viila in einem Garten, wo seine Mutter diesen ,,überflüssigen Menschen" auf eine Spielart man im Museum diesen PaB für eines der wichtig_
ı Schreiben zu und die Hunde ihn erwarteten, doch das war kein des Künstlers zu reduzieren. Hier handelt es sich sten Dokumente hllt, wes\ü'egen er in einer eige-
: zu sitzen, ne- rettender Zweig. Das hielt ihn nicht. Er fühlte sich um einen ,,Flaneur", wie die Franzosen sagen, ei- nen Vitrine ausgestellt ist. Sogar der Autor, der sich
ben hennenzu- nirgends,,daheim". \7lhrend er Kurzgeschichten nen Spazierginger. Es ist auch nicht verwunder- im Leben über \feniges grimte, abgesehen vom
fen, zwischen- schrieb, die gedruckt wurden, wodurch er eine im- lich, da( Yusuf Atılgan bald nach Sait Faiks Tod Tod, nahm die Pa8angelegenheit übel und klagte
chreiben; kurz mer gröBer werdende Leserschaft erreichte, wurde seinen ersten Roman ,,Der Mülilggıinger" nannte; in in seinem Artikel ,,Im zwanzigsten Jahr der Schrift-
faul berumzu- er immer einsamer. Auch die Helden seiner Ge- jenen Jahren zerbrachen sich viele den Kopf über stellerei":
"Allerhand!
Sie haben auf jenem oftziel-
das nenne ich schichten verlieBen ihn. Und auch seine Mutter den ,,Mü{3iggang". Der ,,überflüssige Mensch" in len Papier in der Spahe Beruf'heinen' geschrieben.
und die Hunde. Er war ganz allein. Er war verliebt. Sait Faiks gleichnamiger Geschichte begnügt sich Auf türkisch betrübt rnich das nicht so sehr (dafiir
ich so, wie er Er war das Opfer einer unerwiderten Liebe. Nicht damit, seine Umgebung zu beobachten. Er knüpft gibt es einen Grund). Doch das Dohument hat auch
ht. Bis heute umsonst sind die Erzöhlungen in ,,Eine Schlange keine engen Beziehungen zu den Bewohnern seines einenfranzösischen Teil. Da/İ sie dort 'sans profession'
d war für sei- auf dem Alerndağ" so eindrucksvoll, so vöIlig von kosmopolitischen Viertels, aber er grollt der Masse, eingetragen haben, neibt mir das BIut zum Ko?f' I

)s,zerstreutes Einsamkeit durchdrungen. Sait Faik war weder ein die er ,, Trambahnstra/İenmensclıen" nennt, und der Ich muB diesen PaB also unbedingt sehen. Doch
gedacht, was Vorkimpfer noch ein traditioneller Schriftsteller. Stadt. Er fürchtet sie sogar. noch bin ich aufdem \(eg, aufdem Achterdeck des
getrennr leb- Er war auch kein Bohemien. \(enn Sie fragen, was Mehr noch als dem von \(alter Benjamin ent- Dampfers, zusammen mit den Möwen.
ı des Kindes er denn sonst war, dann kann ich sagen, er stellte deckten Flaneur gleicht er gewissermafien dem Gibt es noch die brutalen Kaufleute wie
l
irkungen der seinen ,,Mü(iggang" zur Schau, er war die verkör- ,,Untergrundmenschen" bei Dostojewski, der sich in Konstantin Efendi, die Leimruren in den Klippen
rter hattö. Es perte Einsamkeit. sein Schneckenhaus zurückzieht. Auch wenn ihm von Burgazada auswerfen, um aus den Erlenzeisigen
ınd sogar sei- Schreiben war für Sait Faik eine Arbeit, selbst das kein Vergnügen bereitet, fühlt er sich so in Si- kleine Fleischstückchen für den Pilau DJ gewinnen?
n der Künst- wenn er sich wie ein Tagedieb benahm. \(dhrend cherheit. Um die Angst vor der Stadt zu besiegen, Sait Faik erschuf als erster in unserer Literatur eine
k deprimiert seiner kurzen Zeft als Gerichtsreporter brachte er versucht er einerseits, auf Solidaritit im Stadwier- Figur mit Umweltbewu8tsein, einen, der die rei
en nicht frei nicht wenige Reportagen zusammen. Doch aus der tel gründende Beziehungen herzustellen, anderer- chen Inselbewohner für das Sterben der Vögel und
ılkohol oder Sicht des Staates oder des Bürgertums galt sein Tun seits bemüht er sich, dem Impuls der persönlichen der Natur verantı,vortlich macht. Dieser Schriftstel-
124 re NEDlM GüRsE L SAIT FAlK IN ISTANBIJL
ANZEICE
ler kann schon in den 1940er Jahren sagen: ,Die
Weh uerrindert sich, Freunde. Eines Tages werdet ihr
im Herbst die braunen Flecken der VögeI nicht mehr
Ku nsted ition am Himrnel sehen. Eines Thges uıerdet ihr auch am
Wegesrand nicht mehr die dunkelgrünen Haare un-
serer Mutter Erdı sehen. Das wird nicht schlimm fİjr
uns sein, sondern filr euch, Kinder. Wir haben uns
sa'ttgesehen anVögeln und Grünzeug. Für euch wird es
So leben
schlimm ııerden. Das latk euch gesagt sein."
Ja, nicht nur Istanbul hat sich verİndert, die gan-
\7elt verindert sich. Die ZııgvögeI kommen nun
tı
ze
w ir j e tz t nicht mehr auf die Insel Burgazada. Immerhin blieb
die Insel Saic Faiks von den unguten Auswirkungen
des Massentourismus verschont, und die ungebil-
deten, lauten, schwarz verschleierten arabischen
Touristen kommen auch nicht hierher. Ihr ZieI
ist die GrofJe Insel. Und so berrete ich Burgazada
mit einigen wenigen Passagieren, ohne Drlngelei,
in Gedanken an Sait Faiks Geschichten und deren
Aİ Weiwei Helden, die Freude und Leid zugleich verbreiten.
Und direkt am Ausgang des Anlegers begegnet mir
die kleine Statue des Schriftstellers.
John Baldessari Er wirkt ein wenig widersprüchlich zwischen
den Hennablüten mit seiner langen dünnen Kra-
Monica Bonvicini watte, die ihm nicht steht und die er aul3er in der
kurzen Zeit als Reporter niemals getragen hat, mit
seinem braunen Jackett, den zerzausten Haaren
Olafur Eliasson und den grol3en Augen. Angelehnt an die kleine
Platane in seinem Rücken mustert er die Damp-
fer. So wie er seine Freunde begrüBte, die er auf
Leiko lkemura die Insel einlud, würde er auch mich erwarten, den
Hut auf dem Kopf, das Hemd am Rücken vom
\7ind gebliht, mit der schwarzen Sonnenbrille,
llja und Emilia den beiden Hunden und Sandalen an den FüBen.
Zgm ,,Willhommen!" würde er seine Sonnenbrille
Kabakow abnehmen und mich mit seinen hervorquellenden,
fischblauen Augen anlecheln. Mir ist bewu{Jt, daB
ich mit meiner Ankunft hier die lü/elt von Sait Faik
Robert Longo betreten habe, und ich spüre, da{3 ich die Phanta-
siereise, die ich am Deck des Dampfers mit seinen
Tobias Rehberger Helden begonnen habe, auf Bu rgazada fortsetze.
Hinter dem Ortskern erblicke ich einen anstei-
genden Pfad. Der \Veg wird so steil, dal3 ich vor ei-
Daniel Richter ner orthodoxen Kirche verschnaufen mu{3, ehe ich
das Haus erreiche, wo der Dichter nach seiner Dia-
gnose Leberzirrhose mit seiner Mutter bei ,,Didt
Rosemarİe Trockel und frischer Luft" gelebt hat. Ich gehöre weder zu
den Liebespaaren noch zu den frommen alten grie-
chischen Mütterchen, welche die Bönke gegenüber
der Kirche besetzt halten, dennoch lasse ich mich
auf einer nieder, und mir scheint, wenn ich durch
Künstler für ihr Gitter auf den Kirchplatz schaue, ich sihe den
,,Popen". Den schwarzen Hut hat er auf die Knie
Lettre lnternational gelegt, und wlhrend er mich mit seinen gllnzen-
den schwarzen Augen anschaut, streicht er sich den
schwarzen Bart. Folgenderma8en schüttete er sei-
nem Nachbarn Sait Faik das Herz aus:
,,Wenn es sich ergibt, trinke ich auch Wein, und
10 Originalgraphiken nicht wenig (...) Wenn ich junge MEdchen sah, habe
ich gewiehert ıuie ein Fohlen (...) Warum auch nicht?
50x70 cm Nur ııeil ich Pfarrer bın? Mıch zieht es eben hin zu
allem Schönen. Zu schönen Mıidchen, guten Weinen,
Auflage 30, nummeriert zu Bliumen, Blumen, Vögeln, zu allem, wenn es nur
ı-
scllon xst. '
signiert, in Leinenmappe Der Pope redete wie ein \feiser, der von der
Natur und besonders der Erde begeistert ist. Und
12.5oo,_ € ,zgı.7% MwSt. nachdem er über Fruchtbarkeit und Kreativitlt ge-
predigt hatte, begann er mit seiner tiefen Stimme
Broschüre auf Anfrage eine der erhabensten, eindrucksvollsten orthodo-
xen Hymnen zu singen, so da8 vom Glockenturm
bis zu den Dlchern der umstehenden Hö.user al-
les zu zittern anfing, wie bei einem Erdbeben. In
seinen golddurchwirkten Gewd.ndern sang er der
Erde seinen Hymnus. So wie der Fischer Antimos,
T. +49 30 308 70462 der tlglich zum Fischen hinausfuhı dem Meer sein
Lied sang, so sang der Pope nicht von Paradies und
lettre@lettre.de Hölle, sondern Von der Natur und von der \(elt,
nicht der jenseitigen, sondern von dieser \(elt.
www.lettre.de Und im vollen Bewul3tsein, dal3 es ihn das Leben
kosten würde, schüttete er unter den Kiefern den
eiskalten Raki Glas um GIas in sich hinein. \(ie in
der Erzlhlung gab er sich der Ausschweifung hin,
WINTER 2022
und ihm war bewu8t, da8 er der Sucht rettungslos
verfallen war.
In rVirklichkeit ist der orthodoxe Pfarrer
schon lange gestorben, offiziell an Zirrhose, doch
eigentlich verlie8 er diese \7elt, weil er das ver-
letzende Gerede nicht ertragen konnte, und so
wurde er mit der Erde vereint. Seine Stimme aber
blieb in Erinnerung. Sie widerhallt noch immer in
dem Garten, den er umgrub, um der Mutter des
Schriftstellers Makbule Hanırn zu helfen, weshalb
er manchmal bei ihr anklopfte, sie klingt nach auf
den Tieppen und in den Zimmern, die ich nun
Schritt für Schritt durchwandere. Das Sait-Faih-
Museam begleitet von einem orthodoxen Hymnus
zu durchschreiten erscheint mir recht passend.
Das Museum mitsamt den persönlichen Ge-
genstanden des Autors, den Photographien, den
auf Tafeln geschriebenen Texten und dem Archiv
will ich nicht im Derail schildern, nur da8 mich
wlhrend meines Besuchs der Hymnus des Popen
begleitete. Vielleicht hören Interessierte eines Ta_
ges diesen Hymnus, wenn der Museumsbesuch
mit Hintergrundmusik unterlegt wird. Sait Faik
zog in dieses Haus ein, das die Familie Abasıyanık
1938 gekauft hatte, um der Anziehungskraft von
Beyoğlu zu entgehen, der unausweichlichen Ver-
führung zu Alkohol und Nachtleben. Er gab sogar
das Schreiben auf, doch als er Zeuge einer Unge-
rechdgkeit beim Streit von Fischern um die An-
teile am Fang wurde, verwarf er seinen Entschlul3
und grifferneut zu Stift und Papier.
Auf der Insel streifte er mit den Hunden um-
heı fuhr zum Fischen hinaus, schloI3 im Kaffee-
haus Freundschaft mit den Menschen aus dem
Volk, spielte Bridge im Club, und vor allem zog
er sein Schreibheft aus Strohpapier hervor, das er
stets dabeihatte, um mit Bleistift in alter Schrift
seine Geschichten aufzuschreiben, die wir heute
noch gerne lesen. Lange habe ich ihn mir einsam
vorgestellt, in der Menge von Beyoğlu, den Hut
auf dem Kopf und den Kragen seines beschichte-
ten Regenmantels hochgeklappt, und auch auf den
einsamen \7egen der Insel wandernd. Vielleicht
war er ja, wie engste Freunde sagten, launisch und
streitsüchtig, fluchte und schimpfte, aber ebenso
wohl wird er herzlich, überschwenglich gewesen
sein. Sein Aul3eres pa&rc zu seinem Charakter, es
wirkte lİssig, Iiederlich.
Einerseits floh er vor den Menschen, zugleich
konnte er es ohne sie nicht aushalten. Er war ein
eigenartiger Mensch, schüchtern und reizbar. Der
Autor wurde von einer grol3en Leserschaft wegen
seiner Darstellung des,,überflüssigen Menschen"
zunehmend wertgeschdtzt, doch er starb, ohne dal3
er seinen Ruhm llnger genie8en konnte. Im Mai
bei Regenwetter, als die Baume blühten. Und ich
setze mich in das Kaffeehaus neben der Dampfer-
anlegestelle, wo auch er einst gesessen hat, aufs
Meer geschaut, Karten gespielt und \7ein getrun-
ken, stlndig Zigaretten geraucht, seine Geschichten
geschrieben und die Schiffspassagiere betrachtet hat
Inzwischen ist es so langsam dunkel geworden.
Der Pope hat seinen Hymnus llngst beendet. Ehe
er in die Erde zurückkehrte, hat er mit Kalinichta
ins ohr gefüstert. Auch von mir ein Kalinichta,
Meister Sait! S
AUs DEM TüRKlscHEN VoN BAR8ARA YURTDAs
1 Cürsel hat Sait Faik zuerst in der Ausgabe des Verlags Varlık ve Bilgi
Yayınevi gelesen. Er zitiert frei nach der Ausgabe von Vadık. Heute sind die
Werke Sait Faiks bei lş Bankasl KültürYayınları veröffentlicht. (A. d. Ü.)
2 zitiert nach Sait Faik Abasıyanık, ceschichten aus lstanbul, aus
dem Türkischen von Cerhard Meier, Zürich 2012, Manesse, s. 300
3 Alemdağ'da var Bir Ylan (,,Die Schlange auf dem Alemdağ"),
lstanbuI '1954, Varlık
4
5
Kalinichta in Az Şekerli (,,Leicht Cezuckerl"),varhk, 1954
Sivriada Ceceleri (,,Nöchte auf Sivriada"), Son Kuşlar (,,Die Ietzten
Vögel"), Varlık' 1952
6
7
Kafa ve Şişe (,,Kopf und Flasche") in Alemdğda Var Bir Yılan,
Siehe Anm. 12
s. Anm. 4
8 Siehe Anm. 2, a. a. O., S. 139
9 Siehe Anm. 2, a. a. o., S. 153 İ.