Bossaan, Phinomenologisches Denken in Philosophie und Payehnttic 181
mit ihr das Leben selbst gefithrdet. Die Schizophrenic zeigt beispiels-
weise trotz aller Vehemenz eines Riickordnungswillens, welcher in
diesem ProzeB zu erkennen ist, cas Bild einer solchen verfehlten Ord-
nung [45]. Das Dasein ist mifigltickt (Sz1uast), Der Proze® der Selbst-
erkenntnis ist abgebrochen, der Mensch ist verriickt geworden, das
heiBe: entordnet,
3. Ich
Solche Fragen fihren unmittelbar zurtick auf die Struesur des welt-
habenden Subjekts, Auch hier finden wir das Prinzip der Ordnung
ler. Fir den Bereich des phinomenologischen Denkens mu auf
Husssnis Lehre vom ego hingewiesen werden, Diese Lebre ist nicht nur
cals Lebre vow reinen ego zu versteben, sondern sie trégt in sich die Magfichkeit
ciner Erbellang transeendentaler Bennftseinsstrukturen, Yn dem Sinne ist
es durchaus angebracht, der Strung der konstituierenden Funktion
ines bestimmten egologischen Momentes nachzugehen und 2u priifen,
in welcher Weise dadurch ein miBglicktes Dasein zustandekommt. Wir
meinen, daB egologische Explikationen des Prozesses des Welthabens
des Subjekts Ordnungsstérangen erhellen kénnen und somit die Struk-
tur des Ich, das als krankhaftes angesprochen wird,
4. Die Metapher der Rawmlichkeit
Welt, Ordnung und Ich sind als phiinomenologische ‘Themen, wie
sie andeutenderweise besprochen wurden, nur zu erhellen mit Hilfe
ciner bestimmten Metapher, niimlich der der Raumlichkeit.
‘Huss tiberlegte bereits im zweiten Band seiner Ideen, ob nicht
in einem metaphorischen Sinn von der Riumlichkeit die Rede ist, wenn.
von der menschlichen Psyche gesprochen wird. Brnswancens Theorie
der anthtopologischen Proportion, in der et Dascinsformen wie Ver-
stiegenheit, Verschrobenheit und Manieriertheit ordnete, ist nur ver-
stiindlich auf Grund des Gebrauchs derselben Metapher. Auch Szivasts
Unterscheidung in geglticktes und miBglicktes Dasein, von BrNswAN-
xn erweitert, ist nur auf dem Hintergeand dieser Metapher miglich.
So BInswaNcens groB angelegtes Werk tiber die Liebe: auch hier spielt
die Metapher der Riumlichkeit eine iberwiegende Rolle, Aus Sanrnts
Erdrterungen ist sie ebenfalls nicht wegzudenken, Wir miissen uns in
diesem Zusammenhang nur damit begniigen, auf den metaphorischen
Charakter jenes Begriffes der psychischen Riumlichkeit hinzuweisen,
Es ist jedoch nicht abertricben, wenn man sagt, daB getadezu jedeBnotxatan, Phinomenologisches Denken in Philosophie und Peychiatie
anthropologische und phiinomenologische Betrachtung mit ihr zu tan
hat (60 2.B, auch Puusswens Exzentrizititstheorie (46)). Immer wieder
und in vielerlei Gestalt tritt in Schilderangen von Krankheitsfillen die
liberragende Bedeutung jener Raumlichkeit hervor. Die Selbstschilde-
rung der Welt des geistig Frkrankten lebt geradeza vom metaphori-
schen Gebrauch jenes Riiumlichkeit. Im Sinne des phiinomenologischen
Denkens in der Psychiatrie miiBte man fragen: was ist psychische Ritum-
lichkeit ~ kann man, kann besonders der Kranke, die menschliche
Psyche diberhaupt nus als (manchmal ihn beingstigende) Raumlichkeit
auffassen ~ aber was ist das fiir ein Raum, in dem man sich diese Ritum-
lichkeit denkt?
1. Die Ive der Hypostasis
Wichtig fir phinomenologisch-psychopathologische Fragestel-
Jungen erscheint uns auch die Idee der Hypostasis. Sie ist am deutlich-
sten klarzumachen an Hand von Sanrats Auseinandersetzungen ber
Gut (47). Die Interpretation fingt bereits an, wenn man ausgeht
von einem Satz aus Genets Gedichten: «... un mot vertigineux venu
du fond du monde abolit le bel ordre». Santa beschreibt den hypo-
statischen Vorgang, indem er seinen Ausgangspunkt nimmt in Genets
AusgestoBenheit aus der alltiglichen Umwelt und Mitwelt, Genet, als
Kleines Kind schon mifiachtet, baut sich eine cigene Welt mit eigenen
inneren Ordnungen auf, Darin wird es ihm unentbehtliches Bediitfnis,
etwas zu besitzen, Besitz ergreifen kann aber in seinem Fall nur heiBen
Diebstahl. Aber es ist keiner da, der es Diebstahl nennen kann, wenn
e s0 vorgeht, und daher ist es auch kein Diebstabl, Bis der andere
auftritt; ein Wort, das gesprochen wird, «venu du fond du mondeabolit
le bel ordre» [48].
Wie Gregor Samsa bei Karka findet Genet sich in einem Augen-
blick verwandelt: diesen Augenblick umscheeibt Sanrre als fnslant
fatal: «,..¥instant c'est Penveloppement réciproque et contradictoire
de avant par Paprés; on est encore ce quion va cesser d’étre et déja ce
qu’on va devenir; on vitsa mort, on meurt sa vies on se sent soi-méme
et un autre, éternel est présent dans un atome de durée; au sein de a
vie la plus peine on pressent qu’on fera plus que survivre, on a peur
de Pavenir, Crest le temps de 'angoisse et de Ihéroisme, du plaisic et
de la destruction...» [49].
‘Was ist passiert? Der kleine Genet spielt in der Ktiche, Plotalich
witd seine Binsamkeit spiirbar und, wie so oft geschah, er wird von
—
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|Brosxatay, Phinomenologsches Denken in Pilosophic wod Psychistrle 183
Angst befangen. Thn tiberkommt eine Att ‘Trance; keiner ist da, die
Dinge werden nur noch gespiegelt wie in einem lingst verlassenen Be-
‘wuBtsein, Eine Schublade laBt sich aufschieben, seine Hand bewegt sich
als ware sie cin fremdes Instrument ~ und da ist jemand hereingekom-
men, det dies alles sieht: mit anderen Augen [50]. Unter diesem Blick
entdeckt der Junge den Dieb: Jean Genet.
Das Fundament seines Lebens ist angegriffen, was Ordnung war
wird durch dieses Ereignis Unordnung, Oder wurde dadurch erst Ord-
nung geschaffen? Offentlich wird jetzt gesagt: Du bist cin Dieb. Nun
ist interessant 2u schen, was passiert: da dieses Ereignis cinmal statt-
gefunden hat, witd es Zweck und Hauptaufgabe seines Lebens sein,
diese Aussprache wahr zu machen, «S’il a du eceur... le coupable dé-
cide d’étre celui que le crime a fait de Ini», hei8t es im Journal [51].
Sanrnr schreibt dazu: «J'ai décidé d?étre ce que le erime a fait de moi
Dans cette proposition si simple en apparence, il y a «décider>. Mais il
y @ aussi cétrer» [52]. Faire und Eire: diese Dialektik, welche sich in
dem einmal stattgefundenen Ereignis manifestiert, laBt sich in den Be-
schreibungen Genets —his ins Mythische gesteigert —wiederfinden, Der
hypostatische Vorgang hat sich in dem Augenblick, als diese Dialektik
aufbrach, in Gang gesetzt — er kann nie mehr riickgingig gemacht
werden, Fir Sthne, Vergebung, Buff ist grundsitzlich kein Platz, Die
Vergangenheit nimmt Besitz auch vom zukiinftigen Leben, Dorthin
wird gelebt, wo schon einmal das Ziel angegeben wurde, Ja, Genet
betrachtet sich selbst jetzt nur noch in der Art und Weise, in der die
anderen ihn betrachtet haben ~ und immer noch betrachten, Er ist cin
Dich, daran ist nichts zu iindern,
6, Intersubjehstivitat :
Bs ist deutlich, daB die Idee der Hypostasis mit den vier voran-
gegangenen ‘Themen wesentlich verbunden ist: das Zusammenspiel
von Welthaben, Entordnen der Welt auf Grund einer bestimmten ezo-
logischen Situation, die nur verstindlich zu machen ist mit Hilfe dee
‘Metapher der Riumlichkeit, fibrt zu der Méglichkeit hypostatischer
Ereignisse. Von grofer Bedeutung wied hier wie bei den Ubrigen 'The-
men die Rolle der Intersubjektivitit ~ das kaum mu klirende Prinzip,
wwelches Welt und Mitwele schalft, aber von dem auch die Schasfung von
‘Welt und Mitwelt abhiingig ist. Gerade von dem phiinomenologisch
orientierten Denken in der Psychopathologie her ist ein wertvoller Bei-
trag zum Verstiindnis der Struktur menschlicher Intersubjektivitit zu
Yb 4 Bos oa) 4184. Bromxatan, Phiomenologisches Denken in Philosophie und Peyehiawie
exwarten, Das Durchleuchten bestimmter Abarten des intersubjektiven
GGeschehens kann 2u diesem Verstiindnis des gesunden Intersubjektiven
fahren, Dort, wo die Umtisse der Grenzen ersichtlich werden, wird
auch das Begrenzte erhellt.
Darum ist es nicht verwunderlich, wenn beispielsweise SAnrar in
«L’Btre et le Néant» Hussent, Huge und Hsrxecer auf das Mark
ihrer Philosophien prtift an Hand des Problems der Intersubjektivitit -
‘wie eben auch seine cigene Philosophie durch seine Lisung diescr Frage
au charakterisieren ist,
i
Beim Durchdenken der vorerwahnten Themen zeigt sich dem Phi-
losophen nun immet wieder, da8 er ihnen im Grunde allein nicht ge-
wachsen ist; denn er findet sich dabei auf bestimmte empirische Daten
angewiesen, die ihm die Psychopathologie zur Verfiigung stellen muB.
Immer wieder und in vielerlei Gestalt wird andererscits auch im Rah-
men der modernen psychopathologischen Forschung deutlich, wie
sehr die Psychopathologie auf philosophische Besinnung, bestimmter
Grundbegriffe angewiesen ist.
Das philosophische Denken ist aber heute auch ganzallgemein an
empirisches Material gebunden, Die Zeit bestimmter spekulativer Sy-
stembauten ist endgiiltig voriiber. Anthropologie, Philosophie, Kultur-
anthropologie, ja, alle Wissenschaften yom Menschen kénnen sich nut
aufeiner empirischen Basis behaupten. Diese, die ihnen 2u ihrer Wissen-
schaftlichkeit verhilft, ist jedoch zugleich ihr Gegenstand: det Mensch.
Darum mu8 man, wenn von phinomenologischen Themen in der
Psychiatrie oder von dem Einbruch des phinomenologischen Denkens
in die Psychopathologie die Rede ist, deutlich schen, da8 hier nicht nur
bestimmte philosophische ‘Themen in den Bezirk irgendeiner Grenz-
‘wissenschaft hineinkommen, sondern da@ es sich ~ ganz in Uberein-
stimmuing mitder Auflassung moderner Wissenschaftstheorien ~grund-
sitzlich um Interdependenzen handelt,
Phinomenologisches Denken heift philosophisches Denken, aber
im Bereich der Psychopathologie ist es nicht nur nicht unmdglich, son-
ern psychopathologisches Denken impliziert philosophisches Denken.
Man soll yor dieser Tatsache die Augen nicht schlieBen, Das Wort
i Phinomenologie kann viel verdecken, wie beispielsweise an Hand von
Jasons? Auffassung von Phiinomenologie sowie an Hand der moder-Bromnacan, Phisomenologlsches Denken in Philoophie und Psychiatrie 185
nen sogenannten phiinomenologischen Psychologien nachzuweisen
wire. Aber echte und wahthaftig gemeinte Phinomenologie lit sich
immer noch von Huss#nts Aufruf: «Zu den Sachen!» inspirieren, Die-
ser Aufraf ihre weit hinter philosophisch-idealistische oder realistische
Systeme; er verweist auf jene Empirie, ohne welche keine Philosophie
miglich ist: den Menschen [53].
Zusammenfassing
DerBinbruch des phinomenologischen Denkens in die Psychiatrie
ist bei Kant. Jaspers nachzuweisen. Er vollzieht sich mit einer fir jede
Phinomenologie charakteristischen instellungsinderung. Jasrens’
‘Auffasstung von Phinomenologie ist jedoch zu kritisieren: ih felt das
Ausgerichtetsein auf eine Wesensschau und sie bleibt reine Deskription,
Unter Hutxccers Binflu8 andert sich die phinomenologische 'The-
‘matik, Besondets ersichtlich wird dies bei BrvswaNoens Dascinsana-
lyse. Auch J.P, Sanrnes «psychanalyse existentielle» weist phiinomeno-
Jogisch wertvolle Momente auf.
Die phinomenologische ‘Thematik in der Psychopathologie ~ so
dic Themen; Welt, Ordnung, Ich, Réumlichkeit, Hypostasis, Intet-
subjektivitit — bietet die Méglichkeit einer materialen Philosophie, die
ohne Zusammenarbeit mit den Psychopathologen nicht denkbat wie.
Summary
‘The penetration of phenomenological thought in psychiatry can
be found in the works of Karr. Jasrmns. It is connected with a change
of view which is characteristic for every kind of phenomenology. But
‘Jaspxns’ conception of phenomenology could be critizised: his pheno-
‘menology lacks a genuine intention of ‘Wesensschau’ and therefore
remains purely descriptive. ‘The themes change under the influence of
‘Manriy Herorccrr. This becomes especially clear with BINsWANGERS
existential analysis (Dascinsanalyse), J.P.SanrRes existential psycho-
analysis (psychanalyse existentille) also proves to be of great pheno-
menological interest.
Phenomenological themes in psychiatry—such as: World, Order,
Me, the metapher of Space, Hypostasis, Intersubjectivity—create the
possibility ofa material philosophy which could not be realized without
the co-operation of philosophers and psychiatrists,186 Brozxasax, Phinomenologisches Denken in Philosophie und Psychiatrie
Résumé
La pénétration du pensée phénoménologique dans la psychiatrie
se manifeste chez KARL JasPERS, Bille est lie avec une changement de
vue charactéristique pour chaque gente de phénoménologic. Mais
Jaspers’ conception de phénoménologie pourrait étre critisée: elle
manque l'intention sincére qui méne 4 une ‘Wesensschaw’ et pour cette
raison reste purement descriptive, Sous Pinfluence de Mantis He1p-
EGGER les thémes phénoménologiques changent, C'est évidemment le
cas chez analyse existenticlle (Daseinsanalyse) de BinswaNGEr. La
psychanalyse existentielle de J.P.Sanrre est aussi d'un grand intérét
pour Ia pensée phénoménologique.
Des thémes phénoménologiques dans Ia psychiatrie - Monde,
Ordre, Moi, Espace, Hypostase, Intersubjectivité — nous donnent la
possibilité c’une philosophie matérielle qui n’est pas bien réalisable sans
tune coopération entre philosophes et psychiatres.
um
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