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Institut Integriert Studieren

Universität Linz

Assistierende Technologien
und
Barrierefreiheit

573.003
(KV, 2St/3ECTS)

a.Univ.Prof. Dr. Klaus Miesenberger


www.integriert-studieren.jku.at
klaus.miesenberger@jku.at
Barrierefreie Systementwicklung

Inhaltsverzeichnis
1. Zielsetzung der Lehrveranstaltung ....................................................................................................................... 4
2. Vorwort................................................................................................................................................................. 5
3. Begriff und Konzept von Design ........................................................................................................................... 7
Dimensionen von Design .......................................................................................................................................... 7
Reduktion und Eindimensionalität ............................................................................................................................. 8
Design for All ............................................................................................................................................................ 9
Literatur................................................................................................................................................................... 11
4. Design for All und eAccessibility ........................................................................................................................ 12
Das Potential der IKT für Design for All .................................................................................................................. 13
Technik: Wahlmöglichkeit und Wahlverpflichtung ................................................................................................... 15
Die integrative Grundstruktur von IKT und AT ........................................................................................................ 17
Vielfalt und Konvergenz von IKT und AT ................................................................................................................ 20
Weitere Beispiele: ................................................................................................................................................... 25
ATMs – Automatic Teller Machines (Automaten) ............................................................................................... 25
Umgebungssteuerung ........................................................................................................................................ 26
Konvergenz mit dem „Mainstream“ ......................................................................................................................... 27
Verallgemeinerung: „Be- und Enthinderung“ durch Technik ................................................................................... 28
Literatur................................................................................................................................................................... 31
5. Grundsätze von Design for All ........................................................................................................................... 33
Diversifizierung ....................................................................................................................................................... 33
Nutzen für Alle ........................................................................................................................................................ 34
Prinzipien des „Design for All“................................................................................................................................. 36
Design for All = Accessibility + Usability ................................................................................................................. 38
User Centred Design – End User Involvement ....................................................................................................... 38
Vom "Patienten" zum "Klienten", von "Almosen" zum "Marktpotential" ................................................................... 39
Interdisziplinparität .................................................................................................................................................. 40
Literatur................................................................................................................................................................... 41
6. Gründe: Warum „Design for All“ ......................................................................................................................... 42
Ethische und moralische Bedeutung ...................................................................................................................... 42
Politische und rechtliche Gründe ............................................................................................................................ 43
USA [4]............................................................................................................................................................... 43
EU ...................................................................................................................................................................... 44
Österreich [7] ..................................................................................................................................................... 45
Statistik/Demographie von Behinderung ................................................................................................................. 45
Volks/Sozialwirtschaftliche Gründe ......................................................................................................................... 46
Betriebswirtschaftliche Gründe ............................................................................................................................... 46
Literatur................................................................................................................................................................... 48
7. Barrierefreiheit - Wie? ........................................................................................................................................ 50
Bewusstseinsbildung .............................................................................................................................................. 50
Bildung .................................................................................................................................................................... 50
Gesetzliche Einflussnahme..................................................................................................................................... 50
Anreiz und Druck .................................................................................................................................................... 50
8. Definition von Behinderung ................................................................................................................................ 51
Definition ................................................................................................................................................................. 51
Kategorien von Behinderungen .............................................................................................................................. 58
Statistik ................................................................................................................................................................... 58
Sehbehinderung und Blindheit ........................................................................................................................... 61
Hörbehinderung und Gehörlosigkeit .................................................................................................................. 61
Mobilitäts- und Motorische Behinderungen ........................................................................................................ 61
Chronische Erkrankungen.................................................................................................................................. 62
Literatur................................................................................................................................................................... 62
9. Definition von Assistierenden Technologien ...................................................................................................... 63
Definition von AT .................................................................................................................................................... 63
Kategorien von AT .................................................................................................................................................. 64
Wirkungsweisen von AT [vgl.: 1] ............................................................................................................................. 66
Verstärkende Hilfsmittel ..................................................................................................................................... 66
Einfügende Hilfsmittel ........................................................................................................................................ 67
Substituierende (ersetzende) Hilfsmittel............................................................................................................. 67
Literatur................................................................................................................................................................... 68
10. AT für Menschen mit Sehbehinderungen ...................................................................................................... 69
Arten von Sehbehinderungen ................................................................................................................................. 69
Kurz- / Weitsichtigkeit:........................................................................................................................................ 70
Gesichtsfeldausfall: ............................................................................................................................................ 70
Farbsinn-Störungen ........................................................................................................................................... 72
Linsentrübung: Grauer Star (Katarakt) ............................................................................................................... 72
Barrierefreie Systementwicklung

Augeninnendruckfehler: Grüner Star (Glaukom) ................................................................................................ 73


Methoden ................................................................................................................................................................ 73
Exkurs Vergrößerungsprogramm ............................................................................................................................ 75
Literatur................................................................................................................................................................... 76
11. AT für blinde Menschen ................................................................................................................................ 77
Methoden ................................................................................................................................................................ 77
Exkurs: Braille-Display, Sprachausgabe und Screenreader ................................................................................... 78
Braille ................................................................................................................................................................. 78
Das Braille-Display: Grundbegriffe ..................................................................................................................... 79
Arbeiten mit Sprachausgabe .............................................................................................................................. 80
Sprachausgabe vs. Braille-Display .................................................................................................................... 83
Arbeiten mit dem Screenreader ......................................................................................................................... 83
Literatur................................................................................................................................................................... 84
12. AT für Menschen mit Hörbehinderungen....................................................................................................... 85
Arten von Hörbehinderungen .................................................................................................................................. 85
Methoden ................................................................................................................................................................ 87
Ersatz für nichtsprachliche akustische Signale: Licht/Vibrationssignal/Funkanlagen (substituierende AT) ........ 89
Ersatz für sprachliche akustische Signale (substituierende AT) ......................................................................... 90
Akustische Verstärkung sprachlicher Signale (augmentative AT) ...................................................................... 90
Cochlear Implantat (insertierende AT) [vgl.: 4] ................................................................................................... 91
Gebärdenerkennung .......................................................................................................................................... 92
Gebärdenschrift ................................................................................................................................................. 92
Gebärdenanimation ........................................................................................................................................... 92
Spracherkennung [vgl.: 9] .................................................................................................................................. 93
Untertitelung....................................................................................................................................................... 94
Literatur................................................................................................................................................................... 95
13. AT für Menschen mit Mobilitätsbehinderungen ............................................................................................. 96
Arten von Mobilitätsbehinderungen [vgl.: 1] ............................................................................................................ 96
Tetraplegie ......................................................................................................................................................... 96
Infantile Cerebralparese ..................................................................................................................................... 96
Schädelhirntrauma ............................................................................................................................................. 97
Insult .................................................................................................................................................................. 97
Muskelerkrankungen .......................................................................................................................................... 98
Multiple Sklerose ................................................................................................................................................ 98
Methoden ................................................................................................................................................................ 98
Ausstattung des Arbeitsplatzes .......................................................................................................................... 99
Tastaturalternativen ........................................................................................................................................... 99
Mausalternativen .............................................................................................................................................. 100
Eingabebeschleunigung ................................................................................................................................... 101
Literatur................................................................................................................................................................. 101
14. AT für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen .................................................................................. 102
Arten von kognitiven Beeinträchtigungen ............................................................................................................. 102
Methoden .............................................................................................................................................................. 102
Literatur................................................................................................................................................................. 104
15. AT für Menschen mit Sprach/Sprechbehinderungen ................................................................................... 106
Definition und Eingrenzung ................................................................................................................................... 106
Bedeutung der Sprache ........................................................................................................................................ 107
Arten von Sprach/Sprechbehinderungen .............................................................................................................. 109
Methoden .............................................................................................................................................................. 110
Körpereigene Kommunikationsformen ............................................................................................................. 111
Nichtelektronische Hilfsmittel ........................................................................................................................... 111
Symbolsammlungen [ 9]................................................................................................................................... 112
Symbolsysteme ................................................................................................................................................ 114
Elektronische Hilfsmittel ................................................................................................................................... 117
Literatur................................................................................................................................................................. 122

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Barrierefreie Systementwicklung

1. Zielsetzung der Lehrveranstaltung

Diese Lehrveranstaltung vermittelt eine Grundverständnis des neuen und


modernen Grundprinzips Design for All (D4All) für die Gestaltung der
Lebenswelt in einer Grundhaltung, die auf eine möglichst breite Nutzbarkeit
für alle und das vermeiden des Ausschließens von BürgerInnen wegen
Beeinträchtigungen oder Behinderungen abzielt.
Dies gilt verstärkt für die Informations- und Kommunikationstechnologie
(IKT), die in allen Bereichen der Lebenswelt Einsatz findet und dabei
weitreichende Möglichkeiten der Integration von Menschen mit
Behinderungen schafft. Voraussetzung dafür, dass Menschen mit
Behinderungen an der Informationsgesellschaft mit Ihren Assistierenden
Technologien teilnehmen können, ist die barrierefreie Gestaltung allgemeiner
IKT Systeme – eben „Design for All“, was für IKT auch als „eInclusion“ oder
„eAccessibility“ bezeichnet wird.
Wir möchten in dieser LVA Bewusstsein schaffen und ein Verständnis
entwickeln für die Universalität dieses Grundprinzips und für die Wichtigkeit
von D4All als Grundhaltung schaffenden und gestaltenden Handelns
(„Design“) und seine Auswirkung auf die Lebensqualität und Möglichkeit der
Anteilnahme möglichst aller MitbürgerInnen („for all“). Dies wird für das
gestaltende Handeln aller im Umfeld IKT von entscheidender Bedeutung für
eine offene und barrierefreie Gesellschaft.
Dabei wird offensichtlich werden, welche Bedeutung D4All für die Nutzung
Assistierender Technologien (AT) hat und wie sehr Integration, Inklusion
bzw. die Teilnahme und –habe an der Gesellschaft von einer für allen
offenen Gestaltung der Lebenswelt abhängen.
Aufbauend auf der Diskussion von D4All im Allgemeinen, wo wir die
Bedeutung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien
herausstreichen werden, werden wir in der Folge auf AT für Menschen mit
Behinderungen vor allem am Human-Computer-Interface (HCI) eingehen.
Diese zu kennen, ihre Funktionsweise zu verstehen, soll helfen, eine
inklusive Grundhaltung als Software- und Systementwickler und Designer zu
entwickeln.
Aufbauend auf dieser Lehrveranstaltung werden vom Institut weitere
Lehrveranstaltungen angeboten, die sich im Detail mit barrierefreiem Entwurf
und barrierefreier Gestaltung von Websystemen und Softwareentwicklung
auseinandersetzen.
Die Qualität der Lehrveranstaltung liegt demnach nicht primär im Vermitteln
von faktischem Wissen, sondern im Entwickeln eines veränderten
Verständnisses und einer veränderten Grundhaltung, die die Praxis des
Arbeitens mit IKT leitet und die Anliegen aller NutzerInnen vertritt.

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Barrierefreie Systementwicklung

2. Vorwort
Design for All (D4All) ist ein modernes Konzept für die Gestaltung einer für möglichst
alle Menschen zugänglichen Lebenswelt: physische Objekte, Produkte, Abläufe,
Information, Interaktion, ..., ob real oder virtuell, sollen so gestaltet werden, dass sie
von einem möglichst großen BenutzerInnenkreis unabhängig von ihren
Voraussetzungen gut benutzt werden können.

Es rückt dabei die Verantwortung der Gesellschaft und der Gestaltenden – der
„Designer“ - in den Mittelpunkt: Es ist Teil ihrer Verantwortung, dass Menschen mit
unterschiedlichsten Ansprüchen und Bedürfnissen an der Lebenswelt teilnehmen
können bzw. von der Nutzung nicht ausgeschlossen werden bzw. in der Nutzung nicht
behindert werden.

D4All ist demnach sehr eng mit einem modernen Begriff von Behinderung verbunden,
in dem Behinderung nicht mehr alleine ein dem Individuum zuzuschreibendes
Phänomen ist, sondern ein durch das gestaltende Handeln der Menschen und der
Gesellschaft konstruiertes Phänomen ist. Die Aktivität des „Behinderns“, der
„Behinderer“ wird mit thematisiert:

Behinderung ist z.B. nicht alleine das „Nicht Gehen Können“, sondern das
Gestalten von Gebäuden, dass man Höhenunterschiede nur über Stufen
bewältigen kann, Türen nur mit großer Kraft öffnen kann, ….
Behinderung ist z.B. nicht das „Nicht Sehen Können“, sondern die
Gestaltung von digitalen Büchern in einer Art, dass sie eben nur visuell
wahrgenommen werden können.

Die Qualität des gestaltenden Handelns ist zu messen, wie gut die Ergebnisse von
einer möglichst breiten NutzerInnenschicht verwendet werden können, unabhängig von
ihren Voraussetzungen.

In Kapitel 3 werden wir uns mit den Begriffen und Konzepten von Design und Design
for All auseinander setzen. Design stellt nicht alleine auf die Nutzbarkeit oder
Bedienbarkeit ab. Design ist ein komplexer Prozess und ein in unterschiedlichsten
Bereichen verwendetes Konzept, welches stark mit künstlerischen, ästhetischen und
psychologischen Aspekten verwoben ist. Die unmittelbare Nutzbarkeit und
Bedienbarkeit für möglichst viele ist oft nur mittelbar von Bedeutung und so können
Widersprüche zwischen den Anforderungen der Nutzbarkeit und anderen Ansprüchen
an das Design entstehen – vor allem für Gruppen wie Menschen mit Behinderungen.
Durch eine Begriffsbestimmung von Design und D4All möchten wir den Gebrauch und
auch Missbrauch von Design andiskutieren, was nicht zuletzt dazu führen kann, dass
Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen „behindert“ werden, weil das
Design nicht ihren Bedürfnissen entspricht. „Design for All“ verlangt eine breite
Nutzbarkeit als Prämisse für das gestaltendes Handeln. Welche ästhetischen,
künstlerischen, psychologischen oder sonstigen Aspekte auch immer Berücksichtigung
finden sollten, sollte dies vor allem im Bereich der Gestaltung öffentlicher und
allgemein zugänglicher Bereiche nach der Prämisse geschehen, dass möglichst keine
BürgerInnen von der Nutzung ausgeschlossen sind.

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Barrierefreie Systementwicklung

Wir werden in Kapitel 4 das Potential der IKT und seine universelle Bedeutung für
Design for All in der Informationsgesellschaft, für eAccessibility beispielhaft
herausstreichen. IKT wird selbst zu einer universellen AT bzw. die barrierefreie
Gestaltung von IKT-Systemen wird zur Voraussetzung, dass AT mit den Systemen
interagieren kann und so Barrierefreiheit realisiert werden kann. Wir werden den
Zusammenhang und das Zusammenspiel von AT/IKT und Lebenswelt analysieren und
dabei die herausragende Bedeutung der Mensch-Maschine-Kommunikation (MMK)
oder Human-Computer Interaction (HCI) unterstreichen. Vor allem durch IKT wird
Design for All zu einem zentralem Konzept der Informationsgesellschaft und wird die
Rolle und die Verantwortung des Gestaltens der Lebenswelt, des Designs
offensichtlich.

Auf diesem, rund um IKT entworfenen Verständnis wollen wir in Kapitel 5 Grundsätze
und Prinzipien des Design for All diskutieren. Wir wollen zeigen, wie sehr die
Orientierung an den Bedürfnissen „extremer“ Gruppen von NutzerInnen zu einer
allgemein besser nutzbaren Gesellschaft beiträgt. Dies zeigen vor allem auch viele
Erfindungen, die aus der Arbeit für Menschen mit Behinderungen entsprungen sind.

Kapitel 6 diskutiert, warum D4All wichtig ist, nicht nur, aber vor allem auch für
Menschen mit Behinderungen. Wir geben Argumente für die a) ethisch-moralische, b)
politisch-rechtliche, c) sozial-ökonomische und d) betriebswirtschaftliche Bedeutung
von D4All.

Kapitel 7 zeigt auf, wie und in welchen Bereichen Design for All vorangetrieben
werden soll – von der Bildung bis zu den Gesetzen -.

Mit diesem Fundament gehen wir in den Kapitel 8 kurz auf eine Definition von
Behinderung, ohne medizinische Details, ein. Das Wissen über Fähigkeiten und
Fertigkeiten bzw. Beeinträchtigungen von Menschen mit Behinderungen verdeutlicht
die Wichtigkeit von Assistierenden Technologien, die wir in Kapitel 9 definitorisch
abgrenzen möchten.

In den Kapiteln 10 – 15 auf assistierende Technologien einzelner Gruppen von


Menschen mit Behinderungen ein, wobei der Schwerpunkt auf HCI basierten Systemen
liegt.

Anmerkung: Dies ist eine Lernunterlage. Es handelt sich um keine


abgeschlossene, publikationsreife Abhandlung über das Thema. Demnach
können a) Fehler vorkommen, b) Inhalte sich ändern im Laufe des
Semesters, c) die Vorträge unterschiedliche Schwerpunkte des Skriptums
aufgreifen. Die Unterlage soll demnach die akademische Fähigkeit zum
selbständigen Weiterdenken bzw. –suchen schulen und zu entsprechenden
eigenständigen Aktivitäten einladen. Die Übung im Rahmen der KV und die
parallel angebotenen Seminare werden so ausgerichtet sein, dass die Inhalte
über einzelne ATs und Konzepte der Vorlesung im Eigenstudium erweitert
werden und Seminararbeiten erstellt werden sollen, die in einem Wiki als
Nachschlagewerk zusammengefasst werden: Wir beginnen nicht von vorne,
sondern bauen auf, was in den letzten Semestern erstellt wurde!
ACHTUNG: Angegebene / weiterführende Literatur gibt es in Institutsbibliothek.

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Barrierefreie Systementwicklung

3. Begriff und Konzept von Design


„Design“ bedeutet Entwurf, Gestaltung, Formgebung von Produkten, ob dies nun
physikalische oder virtuelle Objekte, Informationen, Interaktionen, Gefühle,
Einstellungen ... sind. Design versucht Produkte neu zu entwerfen oder Vorgefundenes
neu zu organisieren und zu strukturieren, um Ziele und Zwecke besser zu erreichen.

Design ist untrennbar mit dem Anspruch des Unterstützens oder Befriedigens der
Bedürfnisse der NutzerInnen verbunden. Bedürfnisse können sich auf die
physische/physikalische („gegenständliche“ Bedürfnisse, praktische Funktionalität,
Zweckdienlichkeit) oder die psychische (Gefühls/Psyche- und Sozialstruktur, Ästhetik)
beziehen. Design will aber nicht nur physische Bedürfnisse befriedigen, sondern auch
psychologischen, ästhetischen Ansprüchen genügen.

Dimensionen von Design

Der Bezug auf Ästhetik und Kunst unterscheidet Design von der technischen
Konstruktion. Der Bezug auf Zweckdienlichkeit, Funktionalität und Nützlichkeit
unterscheidet Design von der freien Kunst. Das Zusammenspiel beider Komponenten,
zweckdienlich/nützlicher Konstruktion und freier, kreativer Kunst zeichnet geglücktes
Design aus.

In der Literatur werden demnach zumindest drei Bereiche von Funktionen von Design
unterschieden:

● praktische Funktion – Erfüllung der Aufgabenstellung, Ergonomie,


Gebrauchtunterstützung

● ästhetische Funktion - Einfachheit, leichte Bedienbarkeit, Verständlichkeit,


BenutzerInnenführung, „überzeugend“, lehrreich, metaphernhaft, strukturierend

● symbolische/semantische/persuasive Funktion – für die Psyche: Zugehörigkeit,


Affektivität, Stimmung, Beeinflussung, Befreiung

Dies zeigt, dass Design kein in sich abgeschlossenes Feld ist, sondern interdisziplinär
und auf unterschiedlichste Bereiche bezogen. Design als praktisches Fach lässt sich
schwer theoretisch „einfangen“, weil es handwerklich-konstruktive als auch künstlerisch-
ästhetische Elemente umfasst, vor allem „Intuition und Spontaneität“ von zentraler
Bedeutung sind. So gibt es eine sehr bunte Praxis, aber keine handlungsleitende
Theorie und dies führt zu unterschiedlichsten Auffassungen und Interpretationen.

So wird Design in unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen unterschiedlich


gesehen, z.B.:

● Im Englischen, aus dem der Begriff Design abgeleitet wird, steht das Gestalten
und Entwerfen im Mittelpunkt, man betont das technische und konstruktive
Moment.

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Barrierefreie Systementwicklung

● Das Französische wie das Spanische stellt bei Design ganz besonders auf den
Aspekt des „Entwurfes“, des Vorläufigen und Erprobenden ab.

● Im Deutschen wird bei Design der künstlerische, kreative Aspekt betont,


bezeichnet eine Gruppe, eine „Szene“ im Kreativbereich

Sieht man vom Aspekt des Vorläufigen, des Entwurfes ab, so sind es zwei
Dimensionen, die an diesen Nuancen in der Auffassung von Design deutlich
auszumachen sind, die zu sehr unterschiedlichen Auffassungen von Bedeutung und
Verantwortung im Gestaltungsprozess führen:

● Design kann als ein „add on“, als „Nebenfach“ verstanden werden, dass sich mit
der ästhetischen Ausgestaltung der „eigentlichen“ Produkte beschäftigt. In
diesem Sinne hat sie letzten Endes auch nicht die Verantwortung für die
Konstruktion und Nutzbarkeit zu tragen. Design ist wertneutral und vorläufig und
dient vor allem ästhetischen und affektiven „Sekundareffekten“.

● Im anderen Extrem umfasst und verantwortet der Design Prozess den gesamten
gestaltenden, planenden und konstruktiven Bereich und damit auch alle Aspekte
der Nutzbarkeit und Verständlichkeit.

Reduktion und Eindimensionalität

Viele Probleme der Nutzbarkeit, wie heute verstärkt kritisiert wird, ergeben sich aus der
Tatsache, dass Design auf die Frage ästhetischer, affektiver und persuasiver Aspekte
reduziert wird, die vor allem von der Werbebranche gefordert werden. Fragen der
Nutzbarkeit, Anwendbarkeit, … werden oft wegen der überwältigenden Bedeutung des
Marketing nachgeordnet oder davon getrennt behandelt. Schlechte Nutzbarkeit oder
Barrieren können aus rigiden oder unreflektierten Vorgaben solcher ästhetischer
Ansprüche entstehen.

Design for All stellt Funktionalität, Nutzbarkeit, Bedienbarkeit und Nützlichkeit von
Produkten in den Mittelpunkt. Sie sind Vorbedingung für ästhetische, psychologische
oder sonstige Anforderungen, ohne die ein Produkt sein Ziel nicht erreichen kann bzw.
die geweckten Erwartungen nicht erfüllen wird. Damit stehen die Bedürfnisse der
NutzerInnen im Mittelpunkt, aus denen heraus Funktionalität und
Interaktionsmöglichkeiten definiert werden. Damit ist folglich wichtig, nach Möglichkeit
möglichst viele Bedürfnisse der NutzerInnen entsprechen zu können, weil dies den
Kreis der potentiellen NutzerInnen erhöht. Design for All ist damit eine logische
Konsequenz nutzerInnenorientierten Desings.

Die Problematik eines vom Gesamten des Gestaltens losgelösten ästhetischen und
psychologischen Gestaltens primär nach Gesetzen des Marketings erfährt heute ganz
allgemein verstärkte Kritik. Design sei „zur Hure des Marketing“1 geworden, das primär

1
) Ausspruch eines Professors der Kunstuniversität Linz

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Barrierefreie Systementwicklung

dazu diene, Menschen zu verführen, als ihnen zu dienen. Ein solcher losgelöster
Marketing-Ansatz pervertiert den doppelt emanzipatorischen Charakter des Designs:

a) Design setzt sich zum Ziel, Dinge so zu gestalten, dass Menschen von
Abhängigkeiten von und Problemen mit der physikalischen/physischen Umwelt
befreit werden, dass sie effiziente Werkzeuge zur Überwindung von eigenen und
umweltbedingten Grenzen an die Hand bekommen. Tritt diese Funktionalität
wegen anderer Ansprüche in den Hintergrund oder geht sie vollkommen
verloren, erzeugen Produkte oft mehr Probleme als sie zur Überwindung
beitragen.
b) Design setzt sich zum Ziel, mittels psychologisch-ästhetischer Elemente
Gefallen, Gefühle, Affekte, Aufmerksamkeit für Produkte zu erzeugen oder zu
unterstützen. Wird dies aber losgelöst vom Gesamtdesign nur zum „Verführen“
eingesetzt, ist dies das Gegenteil des emanzipatorischen Interesses von
Psychologie und Ästhetik, nämlich Menschen von ungewollten psychischen und
sozialen Problemen und Abhängigkeiten zu befreien. Es werden meist
unbewusst ungewollte Abhängigkeiten erzeugt.

Wir können hier nicht umfassend auf diese Problemstellung eingehen. Es sollte aber
klar werden, wie sehr Design mit unterschiedlichen Ansprüchen, vor allem auch
wirtschaftlichen konfrontiert wird und so die Anforderungen der Nützlichkeit,
Bedienbarkeit und Zweckdienlichkeit oft in den Hintergrund geraten.

Dem Wunsch eines umfassenden Zuganges zum Design stehen oft Interessen externer
Personen oder Gruppen im Wege. Design ist, im Gegensatz zu freier Kunst, meist ein
Handeln im Auftrag. Diese Interessen können eben dazu führen, dass Funktionalität
und Ästhetik ungleich gewichtet werden. Ein Verständnis des umfassenden Konzeptes
von Design ist daher von zentraler Bedeutung und er führt auch unmittelbar(er) zum
Konzept des Design for All.

Design for All

Das Konzept Design for All entspringt obiger Diskussion folgend einem umfassenden
Designbegriff. Design for All stellt auf Nutzbarkeit und Funktionalität als Prämisse des
Designs für eine möglichst breite NutzerInnenschicht ab. Ästhetisch, künstlerische
Ansprüche sollen dabei beachtet und nicht verletzt werden, jedoch eben immer unter
der Prämisse einer offenen und demokratischen Gestaltung im Sinne eines Zuganges
für möglichst alle NutzerInnen. Möglichst umfassende Nutzbarkeit bei gleichzeitig
hohem, möglichst ungehindertem ästhetisch-künstlerischen Niveau ist der ohne Zweifel
hohe Anspruch und schwierige Spagat, dem sich Design for All widmet.

Obiger Darstellung folgend ist gut verständlich, dass „Design for All“ vor allem im
Englischen Sprachraum sich entwickelte2. Das im anglo-amerikanischen vorzufindende
umfassendere Verständnis von Design fördert auch das unmittelbarer sich
verantwortlich Fühlen für Konsequenzen des gestaltenden Handeln. Es widersetzt sich
2
) Natürlich ist für die Entstehung des Konzepts Design for All primär die Bürgerrechtsbewegung von
Minderheiten verantwortlich, die aber eben auch im angloamerikanischen Raum entstand.

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Barrierefreie Systementwicklung

einem Auflösen von unterschiedlichen Aspekten des Designprozesses, dass einem


Verschieben/Abschieben von Verantwortlichkeiten Vorschub leistet.

Dies soll in keinem Fall interpretiert werden, als würde D4All sich gegen ästhetisches,
künstlerisches Gestalten richten – im Gegenteil: es ist von entscheidender Bedeutung
für den Nutzen und das Wohlbefinden der NutzerInnen. Es darf aber nicht die Aspekte
der Nutzbarkeit und Zweckdienlichkeit, des effizienten Werkzeuggebrauchs für
möglichst alle NutzerInnen überlagern oder verdecken.

Eine Architektur, die aus ästhetischen Gründen viele Aspekte der Nützlichkeit
vernachlässigt, verfehlt genauso ihr Ziel wie eine Architektur, die durch reine
Zweckorientierung ästhetische und künstlerische Elemente vernachlässigt. Dies gilt für
alle Bereiche des Designs.

Der Begriff „Design for All“ kommt, wie die Begriffe „Accessibility“ oder „Barrierefreiheit“,
aus der Architektur. Hier werden die positiven oder negativen Konsequenzen des
gestaltenden Handelns für Gruppen von NutzerInnen sehr schnell nachvollziehbar:
Behindertengerechtes Bauen, mit dem Design for All in diesem Bereich verkürzend oft
gleichgesetzt wird, nutzt nicht alleine der Gruppe von RollstuhlfahrerInnen, sie führt zu
höherer Nutzbarkeit für ältere Menschen, für LieferantInnen, MitarbeiterInnen, ...., weil
gesundheitsschädigende oder gefährliche Aktivitäten vermieden werden können.
Wegen der allgemeinen Wichtigkeit von barrierefreiem Bauen für die Gesellschaft
schreiben seit einigen Jahrzehnten Baunormen (z.B. ÖN1600/1601) Barrierefreiheit –
zumindest für öffentliche Gebäude vor. Darauf kommen wir noch näher zurück.

Um Gebäude von öffentlichem Interesse (z.B. Schulen, Behörden, Betriebsstätten)


auch für Menschen mit Mobilitätsbehinderungen zugänglich zu machen, wurden
zunächst zusätzliche Rampen angebracht. Diese befanden (und befinden) sich oftmals
an Seiten- oder Hintereingängen und sind zudem in einer Weise ausgeschildert, die
eine Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen mit sich bringt. Design for All
versucht von Vornherein die unterschiedlichen Mobilitätsanforderungen der Gebäude-
BenutzerInnen zu berücksichtigt und somit eine Rampe harmonisch in den
Eingangsbereich integriert oder der gesamte Haupteingang als Rampe gestaltet. Keine
Umwege, keine nachträglichen (teuren) Kompromisse, keine Stigmatisierung!

Ist die Wortwurzel primär auf Objekte der physischen Umgebung gerichtet, so tritt
heute vor allem die soziale Dimension von D4All oder Barrierefreiheit in den
Mittelpunkt, da es um einen „schwellenlosen und stufenfreien“ Zugang der verbauten
Umgebung ebenso betrifft, wie die gedanklich akzeptierte Gleichstellung aller
Menschen in jedem Alter, mit oder ohne Behinderungen oder besonderen Fähigkeiten.

Aus der Architektur heraus wurde der Begriff auf unterschiedlichste Bereiche
angewandt, wo ebenso offensichtlich wird, dass das gestaltende Handeln, das Design,
entscheidend wird für die Möglichkeit der Nutzung unterschiedlicher Gruppen.
Menschen mit Behinderungen sind hier wiederum jene Gruppe, die die „extremsten“
Anforderungen an die Nutzbarkeit stellen, was aber nicht zur Verkürzung und zum
Missverständnis führen darf, Design for All wäre Design für Menschen mit
Behinderungen.

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Barrierefreie Systementwicklung

Definition: „Universal design is the design of products and environments to be


usable by all people, to the greatest extent possible, without the need for
adaptation or specialized design. The intent of universal design is to simplify life
for everyone by making products, communications, and the built environment
more usable by as many people as possible at little or no extra cost. Universal
design benefits people of all ages and abilities.“ [1]

Design und Design for All ist demnach sehr stark von den Möglichkeiten einer offenen
und barrierefreien Gestaltung abhängig. Dies ist im Bauwesen seit Jahrzehnten
offensichtlich. Für andere Bereiche ist diese Möglichkeit der Barrierefreiheit noch neuer
und entsteht oft erst mit der Entwicklung neuer Werkzeuge, die eine immer mehr von
den individuellen Bedingungen unabhängige Nutzung ermöglichen (siehe Potential
IKT/AT).

D4All ist somit ein Konzept, das individuelle Wünsche und persönliche Anforderungen
berücksichtigt, ohne gleichzeitig neue Hindernisse aufzubauen. "Barrierefrei" ist
vorausschauend, berücksichtigt den Lebensablauf potentieller NutzerInnen in den
unterschiedlichsten Situationen.

Literatur
[1] The Centre for Universal Design,
http://www.design.ncsu.edu:8120/cud/univ_design/ud.htm
[2] Miesenberger, K.: Best Practice in Design for All, in: Stephanidis (ed.): The Universal
Access Handbook, CRC Press, Boca Raton 2009

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4. Design for All und eAccessibility

Zielsetzung dieses Kapitels ist es, die Teilnehmenden an das Thema


Assistierende Technologien heranzuführen. Sie verstehen die integrative
Grundtendenz von IKT, wie IKT zur Grundlage von AT wird und allgemeine
IKT mit spezieller IKT oder AT die Lebenswelt von Menschen mit
Behinderung revolutionieren kann und damit ein großes Potential bietet. Sie
verstehen, auf welchen Grundprinzipien der IKT und der MMK dies beruht.
Die Teilnehmenden erkennen die Konvergenz von allgemeinen und
speziellen, behinderungsspezifischen Anforderungen an die IKT und wie dies
zu einem veränderten Bild von Behinderung in der Gesellschaft beiträgt.
Darin erkennen sie die Bedeutung von und die Verantwortung für
Barrierefreiheit. Auf Grundlage dieses Bewusstseins entwickeln sie ein
Selbstverständnis für die Anwendung von Assistierenden Technologien, die
Berücksichtigung der Anforderung von Menschen mit Behinderungen in der
Gestaltung von allgemeinen Systemen. Sie sind in der Lage, die
Notwendigkeit von Barrierefreiheit zu begründen und zu erklären.

IKT ermöglicht eine bisher nicht gekannte Flexibilität und Anpassbarkeit der Bedienung
von Systemen, die wegen der Universalität des Einsatzes von IKT in nahezu alle
Lebensbereiche eindringt. So gewinnt das Prinzip D4All auch universelle Gültigkeit.
IKT wird damit zu einem universellen Integrationswerkzeug bzw. zu einer universellen
Assistierenden Technologie. Darauf kommen wir in Kapitel 5 nähre zu sprechen.

So wurde das Konzept des Design for All, das auch in der Produktergonomie / Industrial
Design Verbreitung gefunden hat, in den 90er Jahren auf die Gestaltung von Mensch-
Computer-Schnittstellen übertragen. Beispielhaft sei die Arbeitsgruppe um Constantine
Stephanidis (ICS-FORTH, Griechenland) erwähnt, die entsprechende Richtlinien für
Software Accessibility erarbeitete. [1] Ziel ist die Entwicklung von Mensch-Computer
Schnittstellen, die von Vornherein ohne spezielle zusätzliche (Hardware- oder Software-
basierte) Hilfsmittel nutzbar sind für einen Benutzerkreis mit den unterschiedlichsten
Voraussetzungen, Fähigkeiten, Präferenzen oder Bedürfnissen. Paradebeispiel dafür
sind neben barrierefreiem Web-Design auch barrierefreies Softwaredesign und
Consumner-Electonic Accessibility.

Entsprechend entwickeln sich, vergleichbar mit den Baunormen, Richtlinien und


Standards für eAccessibility wie ISO 9241, ISO 13407, DIN 66234 oder eben die Web
Accessibility Initiative (WAI) Richtlinien des World-Wide-Web Konsortiums [2].

Wiederum ist heraus zu streichen, dass Design for All nicht mit Design für Menschen
mit Behinderung gleichzusetzen ist; so nützen z.B. Tastatur-Shortcuts nicht nur
Menschen mit motorischen Behinderungen, die eine Maus nicht bedienen können,
sondern auch geübten NutzerInnen bei der beschleunigten Bedienung von Software.
Vergrößerungsoptionen in Web-Browsern erlauben nicht nur für Menschen mit
Sehbehinderungen zu kleine Schriftgrößen auf gut lesbare Maße zu bringen. Optische
Warnhinweise unterstützen nicht nur Menschen mit Hörproblemen, sondern erlauben
generell die Benutzung in einem Umfeld, in dem Warntöne störend (z.B. Bibliothek)
oder nicht wahrnehmbar (z.B. laute Fabrikhalle) wären.

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Barrierefreie Systementwicklung

Alle NutzerInnen sind eben in bestimmten Kontexten von Beeinträchtigungen betroffen,


wie z.B. der Autofahrer eben „funktionell“ blind ist für die Bedienung von Geräten wie
Mobiltelefon, Autoradio, GPS, etc., weil er den Blick auf den Verkehr konzentrieren
muss (sollte). Spracheingabe, Sprach geführte Menüs, gute („blinde“) Tastbarkeit von
Bedienelementen, … kommt der Verkehrssicherheit entgegen.

Das Potential der IKT für Design for All

Die zentrale Fragestellung, der wir uns in diesem Kapitel stellen, ist:

Worin liegt das epochale Potential von AT für Menschen mit Behinderungen,
dass sich aus der revolutionären Entwicklung der IKT ergibt?

In der Beantwortung dieser Frage wollen wir Verständnis und Verantwortung für die
Bedeutung von Barrierefreiheit von IKT für Menschen mit Behinderung entwickeln.

Wir werden das Thema AT primär aus dem Blickwinkel der neuen Informations- und
Kommunikationstechnologien (IKT) oder, weil heute stark konvergierend bzw.
verschmelzend, Computertechnologie nähern, denn

 das Potential der IKT ist Grundlage für


 das Potential der IKT und AT für Menschen mit Behinderungen, woraus sich
 das Potential des Internets für Menschen mit Behinderung ergibt und damit
 die Disziplin „Design for All“ entwickelt.

Diese Verflechtung von allgemeiner und spezieller Technologie zu erörtern, ist


Grundvoraussetzung, um die Wirkungsweise moderner Assistierender Technologien
(AT) zu verstehen, die heute durchwegs mit IKT durchsetzt sind.

IKT dringt in nahezu alle Bereiche unserer Gesellschaft ein, führt zum Übergang in die
so genannte "Informations- oder Wissensgesellschaft". Der Umgang mit IKT ist als
allgemeine Kulturtechnik anerkannt und dringt in die Aus- und Weiterbildungscurricula
bzw. in den Fächerkanon als Querschnittsmaterie ein.

In dieser weitreichenden durch IKT ausgelösten Um- und Neugestaltung nahezu aller
Bereiche der Lebenswelt liegen Anknüpfungspunkte für die Teilhabe von Menschen mit
Behinderung an der Lebenswelt mittels AT, denn es gilt grundsätzlich:

1) Zu allen Bereiche, in denen IKT zum Einsatz kommt – und damit nahezu
überall –, können Menschen mit Behinderungen mittels AT selbständig(er)en
und selbstgesteuert(er)en Zugang finden.

Dies gilt aber nur unter der Voraussetzung (und daher das Attribut „grundsätzlich“):

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Barrierefreie Systementwicklung

2) IKT basierte Systeme müssen Grundsätze und Standards des


barrierefreien Zugangs und Designs befolgen (z.B. WAI-Richtlinien für Web
Anwendungen, Baunormen, Softwareaccessibility Richtlinien)

Durch diese beiden Fakten, a) die Universalität der IKT einerseits und b) die epochalen
Chancen dieser Technologien für Menschen mit Behinderungen andererseits, wird
offensichtlich, dass das Gelingen der Integration von Menschen mit Behinderungen, die
Realisierung von Chancengleichheit (engl.: "equality") in der Gesellschaft für
Menschen mit Behinderungen in immer größerem Maße von der Qualität der IKT, also
von "e-Quality", d.h. der Qualität von IKT-Systemen in Bezug auf die Berücksichtigung
von NutzerInnenanforderungen dieser Zielgruppen abhängt. Diese Bedeutung und die
Verantwortung in der Gestaltung von IKT-Systemen kann mit der Gegenüberstellung
von
equality = e-Quality [3, 24]

zum Ausdruck gebracht werden: Die Teilnahme aller Gruppen an der


Informationsgesellschaft, die Vermeidung des „digital divide“, was in den Begriffen
„Accessibility“ und „Design for All“ zum Ausdruck kommt, wird zu einer zentralen
Herausforderung für die Integration. Integration, Rehabilitation, Therapie, ... haben ein
universelles Werkzeug, ein „Integrationswerkzeug“ an die Hand bekommen, dass es mit
dementsprechender Qualität zu nutzen gilt.

Das 21. Jahrhundert ist ohne Zweifel die Ära der Informations- oder
Wissensgesellschaft.
Demnach ist Barrierefreiheit für alle – einschließlich für Menschen mit
Behinderungen – ein zentrales Menschenrecht des 21. Jahrhunderts.

Barrierefreiheit in der Praxis, ja überhaupt ein Verstehen des Anliegens der Integraiton,
hinkt aber hinterher. Barrierefreiheit wird noch nicht entsprechend professionell in der
alltäglichen Arbeit und vor allem auch in der Ausbildung aufgegriffen. Behinderung wird
als etwas „Externes“, durch Spezial- oder Sondereinrichtungen zu Erledigendes
verstanden. Behinderung auch als Verantwortungsbereich der alltäglichen Praxis in der
Gestaltung von IKT durchsetzten Systemen zu verstehen und zu sehen, liegt uns meist
fern.

Andererseits tun sich auch die Fachbereiche des Behindertenwesens schwer, aus ihren
traditionellen Bahnen heraus zu treten und sich diesen neuen Herausforderungen zu
stellen. Es scheinen noch immer Vorbehalte und Vorwürfe gegen die Anwendung dieser
Möglichkeiten aus Zeiten der industriellen Revolution aktiv zu sein, dass Technik, die
technische Entwicklung, die (Über)Technisierung der Lebenswelt mit ein Hauptgrund für
ganz bestimmte ökonomische und soziale Entwicklungen sind, die auch haupt- oder
mitverantwortlich für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen sind. Vom
„Mainstream“ externalisiert und in Spezial(Sonder)bereichen ausgestattet, tut man sich
schwer mit diesen neuen Herausforderungen und vor allem der Geschwindigkeit ihres
Auftretens. [4]

Es steht außer Zweifel, dass diese Tendenzen der technischen und wirtschaftlichen
Optimierung oft zu ausgrenzenden Tendenzen geführt haben und noch immer führen.
Dies ist wohl z.T. eine der Technik selbst, als auch dem Prozess ihrer Anwendung

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Barrierefreie Systementwicklung

immanentes negatives Qualitätskriterium. Es ist aber ebenso, wie wir nun näher
betrachten werden, offensichtlich, dass neue IKT und AT von einer grundlegend
anderen Tendenz sind, im Grunde der Idee der Integration von Menschen mit
Behinderung entsprechen und diese fördern. [vgl.: 5]

Das Potential der IKT und der AT für die Zielgruppen sollten uns aber motivieren, uns
der Herausforderung zu stellen.

Technik: Wahlmöglichkeit und Wahlverpflichtung

Wir werden versuchen, diese grundlegend neue Qualität der IKT, diese grundlegende
integrative Tendenz, im Gegensatz zu der häufig ausgrenzenden Tendenz traditioneller
technischer Anwendungen, zu verdeutlichen. Dies wollen wir an einem einfachen
Beispiel, dem Buch bzw. dem Buch- oder allgemein dem Druckwesen nachvollziehen:


Inhalt
Steuerung
Darstellung

Abb. 1: Inflexibilität des Mediums Buch durch Bindung von Inhalt, Steuerung und Darstellung [3, 4, 6, 24]

Die zentrale Eigenschaft des Mediums Buch – oder aller gedruckter Information -, wie
Abb. 1 zeigt, ist die Bindung und Fixierung von drei Bereichen der Interaktion: Inhalt,
Darstellung und Handhabung sind an die medialen Qualitäten des Buches gebunden.
Die Nutzung der Inhalte ist an die Eignung der Darstellung für und die Möglichkeit der
Handhabung durch die NutzerInnen gebunden. Kann jemand
 die Darstellung nicht nutzen (z.B. Menschen mit Sehbehinderungen) oder
 die Steuerungsmechanismen wie Halten, Umblättern, etc. nicht durchführen, wie
Menschen mit motorischen Problemen,
 den Text nicht oder nur schlecht verstehen (z.B. kognitive beeinträchtige
Menschen, MigrantInnen),
 …
ist er z.T. oder vollständig von der Nutzung ausgeschlossen bzw. auf Unterstützung
oder Alternativen angewiesen.

Dies führt traditionell dazu, dass diese speziellen Bedürfnisse in speziellen


Umgebungen ("Parallelstrukturen") behandelt werden, was zu einer Tendenz der

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Barrierefreie Systementwicklung

Ausgrenzung in abgeschlossene Lebenswelten, „Sonderbereiche“ führt, wie sie aus


Schule, Bildung und Beruf wohl bekannt sind.

Traditioneller Technik oder Technologie ist eine ausgrenzende,


aussondernde Tendenz immanent. Sie ist nicht in der Lage, auf besondere
individuelle Bedürfnisse einzugehen und grenzt, sobald sie allgemein
anerkannt, weit verbreitet und ihre Nutzung obligatorisch ist, all jene, die
diese Technologie nicht nutzen können, aus.

Die Gutenbergsche Revolution ist ohne Zweifel ein Grundpfeiler der Aufklärung und der
modernen Entwicklung unserer Gesellschaft – diese zentrale Bedeutung wollen wir
nicht im Geringsten anzweifeln. Die universelle Verbreitung des Buches bringt Lesen
und "Belesen-Sein", breite Bildung und Wissenschaft und die moderne Gesellschaft
hervor. Die Nutzung des Werkzeuges Buch oder gedruckter Information wird zur
universellen Anforderung und schafft damit neue soziale Strukturen. Es entsteht eine
Vielfalt von neuen Chancen und Wahlmöglichkeiten.

Aber gleichzeitig sind mit dem Buch, weil es die Abläufe in der Gesellschaft verändert
und determiniert, Erwartungen und Wahlverpflichtungen verbunden. [7 S.48] Und wer
eben diesen Erwartungen nicht entsprechen kann, wird von jenen Bereichen, wo
gedruckte Information notwendig ist, tendenziell ausgegrenzt und benachteiligt. „Print
Disability“ als Ausdruck für Probleme im Umgang mit gedruckten Medien ist demnach in
vielen Aspekten eine Folge der Gutenbergeschen Revolution.

Diese Tendenz des gleichzeitigen Erzeugens von Wahlmöglichkeiten und


Wahlverpflichtungen gilt nicht alleine für das Buch oder den Druck, sondern für jedes
Werkzeug im breitesten Sinn, dass in der Gesellschaft Anwendung und Bedeutung
findet: Werkzeuge sind immer unmittelbar mit Verhaltenserwartungen und
Wertsetzungen verbunden, die die Lebenswelt strukturieren und determinieren. Sie
schaffen Wahlmöglichkeiten, aber immer auch Wahlverpflichtungen und erzeugen dabei
gleichzeitig, wegen Zugänglichkeitsproblemen, Ausgrenzungen. Jedem Werkzeug ist
ein Handlungsmodell und damit handlungsleitendes Wissen immanent. Jedes
Werkzeug enthält Folgen von Anweisungen, die vorgeben, wie das Gerät zu bedienen
ist und welche Qualifikationen und Fähigkeiten von den NutzerInnen gefordert sind.
Werkzeuge sind "pregnant symbols of themselves." [8; S.18] Einmal eingeführt und als
Teil der Lebenswelt anerkannt, entstehen als Konsequenz soziale Reglementierungen
und Strukturen. Wie die Werkzeuge gestaltet wurden, so wollen sie auch erlernt und
bedient werden, und so will sie auch die Gesellschaft verwendet sehen.

Jeder ‘Technisierung’ im Sinne einer immer breiteren Anwendung von Werkzeugen


jeglicher Art kann sich dialektisch als 'Entlastung' im Sinne der Möglichkeit zu besseren
Entfaltung, aber gleichzeitig auch als 'Kolonialisierung' im Sinne des Vorgebens immer
rigiderer und unausweichlicherer Verhaltenserwartungen erweisen. “Diese
gegenläufigen Tendenzen durchkreuzen sich. In einigen Zusammenhängen eröffnen
sich Spielräume für einen selbst bestimmten Lebensstil. In anderen treten die den
Geräten und Anlagen inhärente Handlungszwänge in den Vordergrund. Wieder andere
werden von den Werkzeugen nicht betroffen. In vielen Fällen kommt es, manchmal erst
im Generationenabstand, zur Habitualisierung von vorgeschriebenen Handhabungen
und Umgangsstilen”. [7; S.44]

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Barrierefreie Systementwicklung

Mit dem Buchdruck wird immer breitere Wissensvermittlung möglich. Mit der Schrift und
dem Buchdruck wurden Werkzeuge der Entlastung des Geistes und der
Wissensvermittlung gewonnen. Mit dem Fortschreiten der Verbreitung dieser
Werkzeuge wurden entsprechende Erwartungen des ‘Belesen-’ und damit einer
speziellen Form des ‘Gebildetseins’ hervorgebracht. Die Entlastung durch den
leichteren Zugang zu Bildung folgerte für gewisse Menschen mit Behinderung eine
Kollonialisierung, weil sie die Erwartungen dieser bestimmten Form des Gebildetseins
in vielen Bereichen nicht erfüllen können, eben weil die lebensweltlichen Einrichtungen,
vor allem jene der Bildung, an die Schriftlichkeit und damit an den Druck und an das
Buch gebunden sind.

Diese Gegensätzlichkeit zwischen dem Anspruch auf selbst bestimmte


Lebensorganisation, die technisch-effizienter Werkzeuge für die ‘Entlastung’ braucht
und entwickelt, und einer durch Technisierung erst erzeugten oder verstärkten
Okkupation der Lebenswelt mit oft rigiden Sachgesetzlichkeiten, die als Entmündigung
empfunden werden, kennzeichnet die allgemeine Lebenswelt und in einem viel
stärkeren Maße die Lebenswelt von Menschen mit Behinderungen.

Die integrative Grundstruktur von IKT und AT

Warum ist IKT keine Evolution im beschriebenen Sinne der technischen Entwicklung?
Was ist grundlegend anders bei IKT, das man von einer Revolution spricht bzw. von
epochalen Chancen von IKT/AT für Menschen mit Behinderungen?

Das folgende Schema versucht zu zeigen, worin diese veränderte Qualität von IKT und
AT liegt: Das wesentliche Merkmal der IKT ist die Auflösung der Bindung der Ebenen
Inhalt, Steuerung und Darstellung an der Mensch-Maschine-Schnittstelle (MMS):

Inhalt/Prozess

Steuerung Steuerung

Darstellung Darstellung Darstellung

Abb. 2: Auflösung der Bindung von Inhalt, Steuerung und Darstellung: Multimedialität und Multimodalität
[3, 4, 6, 24]

Es ist das Wesentliche von „Information“ und damit von IKT, dass sie mit
„Metainformationen“, mit Beschreibungen von Objekten und Prozessen arbeitet, die
grundsätzlich unabhängig von der Form der Darstellung und der Handhabung sind. IKT
zeichnet sich demnach durch Multimedialität der Darstellung und Multimodalität der
Bedienungsschnittstellen aus.

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Barrierefreie Systementwicklung

Um beim Beispiel Buch zu bleiben: Bei einem elektronischen Dokument werden erst in
dem Moment, in dem auf ein Dokument zugegriffen wird mit IKT und AT, die medialen
Qualitäten (Darstellung) und die Modalitäten der Steuerung (Handhabung) des
Dokuments realisiert. Durch diese Trennung entsteht die Möglichkeit, auf ein und
dasselbe Dokument auf unterschiedlichste Art und Weise zuzugreifen, sie auf
unterschiedlichste Weise zu medialisieren und zu handhaben.

Die folgenden Prinzipien oder Grundeigenschaften der IKT werden daraus zur
treibenden Kraft des informationstechnischen und lebensweltlichen Wandels [vgl.: 4, 5]:

 Die schon erwähnten Prinzipien der Flexibilität, der Multimedialität und


Multimodaliät erlauben einen flexiblen Zugang und Umgang mit Systemen.

 Wie bekannt und schon erwähnt, gilt dies natürlich nicht nur für das Buch oder
gedruckte Dokumente, sondern für alle Bereiche, wo IKT eingesetzt wird. IKT ist
„dokumentenbasiert“, weil Prozesse mittels (formal)sprachlicher Modelle gefasst,
automatisiert und damit grundsätzlich unabhängig von der Art des Zugangs und
der Art der Handhabung über standardisierte Schnittstellen genutzt werden
können. Diese Universalität der IKT ist die zentrale Triebkraft der IKT
Revolution.

 Anstatt der Gestaltung einer starren, an „durchschnittlichen“ NutzerInnen


orientierten BenutzerInnenschnittstelle („Interface“), tritt die Anpassung an und
die Optimierung für die Nutzbarkeit für den Einzelnen in seiner jeweiligen
Situation und mit seinen jeweiligen Voraussetzungen bzw. Schnittstellengeräten
in den Mittelpunkt. Individualisierbarkeit, Anpassbarkeit - Adaptivität
unterstützen die Akzeptanz und die Nutzbarkeit der Systeme.

 Eine weitere wichtige Eigenschaft der IKT darf dabei nicht außer Acht bleiben:
Die Art und Weise der Interaktion mit unterschiedlichsten Systemen und
Prozessen verwendet gleich bleibende Strukturen, Muster und Werkzeuge.
Nutzerkonstanz und Standardisierung der MMK machen es den NutzerInnen
leichter, die Systeme in unterschiedlichsten und neuen Bereichen zu verwenden.
Egal ob ich ein Dokument lese, Termine verwalte, eine Maschine steuere, …, die
BenutzerInnenschnittstelle verwendet immer die gleichen Prinzipien (vgl. LVA
Interaktionsdesign). Für AT bedeutet dies: Ist einmal der Zugang zur
standardisierten MMK mittels AT ermöglicht, trainiert und vertraut, kann dies auf
unterschiedlichste Bereiche angewandt werden.

Diese Eigenschaften der IKT sind auch der Ausgangspunkt der Adaptierung der MMK
durch AT und für den breiten Einsatz von IKT in allen Bereichen der AT. In der MMK
konvergieren die Anliegen a) der allgemeinen nutzergerechten und b) der speziellen
integrativen Gestaltung lebensweltlicher Prozesse in der Informationsgesellschaft. So
wie IKT zum universellen Werkzeug der Informationsgesellschaft wird, so werden IKT
und AT und vor allem die behinderungsgerechte Gestaltung der MMK zum universellen
Integrationswerkzeug.

Diese Analyse zeigt, dass die MMK die Nutzung ein und derselben Werkzeuge und
damit die integrative Teilnahme an der Gesellschaft fördert. Es besteht daher nicht

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Barrierefreie Systementwicklung

mehr in dem Maße die schier unausweichliche ausgrenzende Tendenz oder


Notwendigkeit zu parallelen Strukturen und damit parallelen Lebenswelten. IKT und AT
zeichnen sich durch eine bisher nicht gekannte Tendenz zu einer offenen und breiten
Gestaltung der Interaktion und Kommunikation mit den allgemeinen Systemen und
damit der allgemeinen Lebenswelt aus.

Durch dieses Beispiel soll verdeutlicht werden, dass durch IKT und AT erstmals die
Möglichkeit besteht, dass Menschen mit Behinderungen, die, um die Gedanken von
Habermas wieder aufzunehmen, traditionell immer mehr kolonialisiert wurden von
technischen Entwicklungen
a) erstmals viel mehr an der Entlastung durch ein neues Werkzeug teilnehmen und
b) in der Um- und Neugestaltung der Lebenswelt eine Entlastung traditionell
kolonialisierter Bereiche vollziehen können, wie z.B. eben der Verbreitung von
Wissen durch Buchdruck und dem folgenden sozialen Strukturen.

Dies bezieht sich, wie gesagt, nicht nur auf gedruckte Information, sondern auf alle
Bereiche der Lebenswelt, wo Prozesse mittels (formal)sprachlicher Modelle
beschrieben, automatisiert und damit unabhängig vom sinnlichen Zugang genutzt
werden können.

Dies kann nur lebenspraktisch wirksam werden, wenn die allgemeinen IKT Systeme so
gestaltet sind, dass spezielle IKT und AT mit diesen zusammenarbeiten kann. Dies ist
eine in der allgemeinen, am Durchschnitt der Nutzer orientierten Entwicklung immer
gefährdete Möglichkeit, die eine Verankerung einer sozial-integrative Grundhaltung
notwendig macht, wo diese breite Verantwortung in der Gestaltung von Systemen
verstanden und umgesetzt wird. Dies zu vermitteln und zu etablieren ist mit eine
Aufgabe von ExpertInnen im Bereich Assistierender Technologien.

Wir sollten uns des Untertons und des möglichen Vorwurfs der Technisierung oder
zumindest der technischen Dominanz für die Lebenswelt von Menschen mit
Behinderungen oder für das Praxisfeld Integration bewusst sein, der in diese Aussagen
hineininterpretiert werden könnte. Es geht nicht um eine „Technisierung von
Behinderung“, sondern um eine integrative Gestaltung lebensweltlicher Strukturen und
Prozesse, die eben immer mehr von neuer IKT durchsetzt sind; damit tritt eine neue
Aufgabe und Verantwortung der traditionellen Einrichtungen für Menschen mit
Behinderungen in den Vordergrund, integrative Prozesse mittels IKT und AT um und
neu zu gestalten, sich nicht „nach innen“, sondern nach „außen“ zu orientieren, um
mitzuwirken und einzufordern, dass immer mehr Bereiche der Lebenswelt zugänglich,
„barrierefrei“ gestaltet werden.

Dies ist eine neue und noch ungewohnte Rolle für traditionelle Einrichtungen. Die
Umorientierung verzögert sich oder scheitert oft wegen der Vorurteile sozial-integrativer
Bereiche gegenüber Technik und Technologie und der ungewohnten Rolle, sich nach
außen zu orientieren. Der Mensch mit Behinderung ist nicht mehr alleine der Zielpunkt
des Handelns; er agiert selbst bestimmter und unabhängiger. Er ist mittelbar über das
Einwirken auf die allgemeine Lebenswelt das Ziel, um ihm weitgehende Selbständigkeit
und Unabhängigkeit zu ermöglichen. So schreitet die Transformation der Grundhaltung
in der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen nur langsam voran, wo
Behinderung nicht alleine als individuelles Problem, sondern vor allem auch als ein
durch die Gesellschaft gestaltetes Phänomen verstanden wird.

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Barrierefreie Systementwicklung

Dies scheitert aber auch, weil es an Know-How in der Praxis fehlt und so – nach
vielleicht anfänglicher Euphorie - Enttäuschung und Frustration erzeugt wird. Dafür sind
ExpertInnen in Barrierefreiheit gefragt.

Darin liegt die epochale Chance der IKT und AT, zu einer Transformation der
Lebenswelt von Menschen mit Behinderungen im Übergang in die
Informationsgesellschaft beizutragen durch
 bessere Überwindung der physischen Grenzen und Einschränkungen im
Umgang mit lebensweltlichen Prozessen durch neue, effiziente Werkzeuge
 bei gleichzeitiger Überwindung sozialer Grenzen durch die Verstärkung der
Interaktion und Kommunikation und damit der Teilnahme an ein und derselben
allgemeinen Lebenswelt.

Integration ist unbestreitbar ein fernes, schwer erreichbares und ständig gefährdetes
Ziel. Sie ist – nicht zuletzt wegen IKT und AT - eine historische Ausnahmen und daher
 immer gefährdet und
 beständig zu reflektieren.

Integration wird in unserem Alltagsdenken noch immer mehr als Almosen interpretiert,
das man sich nur unter bestimmten Umständen leisten könne. Ein integratives
Verständnis in der allgemeinen Gestaltung der Lebenswelt ist noch immer die
Ausnahme. Integration ist mit vielen Vorurteilen, Emotionen und Traditionen konfrontiert
– im Spezialbereich als auch in der allgemeinen Lebenswelt.

Ohne integratives Denken, ohne Verständnis für Design for All als Fundament unseres
Alltagsdenkens, sind wir in unserer Arbeit für Barrierefreiheit der Gefahr des Zweifels
und des opportunistischen Nachgebens gegenüber den Sachgesetzlichkeiten einer
verdinglichten Behinderung ausgesetzt. Ein solches ‘unteilbar integratives Denken’ ist
Grundlage für den Einsatz von Technologie für Menschen mit Behinderungen und
Barrierefreiheit. Es ist ein radikal anderes Denken, wo wir mit all unserem Handeln im
Netzwerk der Lebenswelt für Behinderung mitverantwortlich sind.

Vielfalt und Konvergenz von IKT und AT

Es besteht eine beeindruckende Vielfalt an neuer, IKT basierter AT, wie wir sie in
diesem Lehrgang darstellen werden. Diese explodierende Vielfalt basiert auf den
obigen Prinzipien der Flexibilität, Universalität, Adaptivität und Standardisierung.

Was wir hier, in Weiterführung obigen Beispieles, verdeutlichen wollen, ist die
Konvergenz von AT mit dem "mainstream". Es handelt sich bei all diesen Systemen im
eigentlichen nicht mehr um "Spezialanwendungen" für Menschen mit Behinderungen,
sondern um unterschiedliche Zugänge zu ein und demselben System mittels
unterschiedlicher MMK. Wohl ist die MMK für Menschen mit Behinderungen adaptiert
mittels spezieller AT. Aber so wie jeder NutzerIn für sich in Anspruch nimmt, dass
Systeme seinen Bedürfnissen entsprechend gestaltet werden, so sind auch die

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Barrierefreie Systementwicklung

Anforderungen von Menschen mit Behinderungen Teil dieser erweiterten


BenutzerInnenanforderungen.

Wir erwarten heute, dass wir mit unterschiedlichsten Endgeräten (PC, Mobiltelefon,
PDA, …) in unterschiedlichsten Situationen auf Systeme zugreifen und sie nutzen
können. Die Funktionalität und die Inhalte sind aber immer dieselben. Dass dies auch
Menschen mit Behinderungen erwarten, ist demnach „nichts besonderes“.
"Accessibility" konvergiert mit dem allgemeinen Anspruch der "Usability" für einen
möglichst breiten NutzerInnenkreis.

Auf das Beispiel Buch oder „print disability“ angewandt: Die Gestaltung von
Dokumenten für unterschiedlichste Zielgruppen – die Individualisierung – ist eine
allgemeine Anforderung an den Umgang mit Dokumenten und den Publikationsprozess,
wie das folgende Schema zu Ausdruck bringt: Aus ein und derselben digitalen Basis,
die mit „Metadaten“, die die Struktur und die Interaktionsmechanismen beschreiben,
angereichert ist, werden über Konvertierungsroutinen unterschiedliche Versionen für
z.B.
 Druck
 eBook
 online Book
 Audio Book

aber auch
 Braille
 Adaptierter Druck
 …

erstellt.

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Barrierefreie Systementwicklung

Abb. 3: Moderner Publikationsprozess, der die Anforderungen von


Menschen mit Behinderungen als integralen Bestandteil darstellt [4, 5]

Versionen für Menschen mit Behinderungen erscheinen als eine Version von individuell
angepassten Dokumenten. Die allgemeine Anforderung der NutzerInnen,
unterschiedlichste Formate zu erhalten, konvergiert mit den Anforderungen der
Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen. Grundsätzlich sind alternative
Versionen von Dokumenten Teil des allgemeinen Publikationsprozesses.

Exkurs [4]:
<H1> z.B. ist die Meta-Beschreibung der Überschrift der ersten Ebene. Die konkrete
Darstellung (Layout) und Umsetzung als Steuerungselement (Navigation) dieser Meta-
Information kann auf unterschiedlichste Weise erfolgen:

<H1> Das ist eine Überschrift der ersten Ebene


Das ist eine Überschrift der ersten Ebene
Das ist eine Überschrift der ersten Ebene
Menschen mit Sehbehinderungen wünschen z.B. eine vergrößerte Darstellung mit
größeren Abständen von Buchstaben, Worten, Zeilen und Absätzen, um sich besser
orientieren zu können. Der Einzug erleichtert ihm das Auffinden im Text, die
Invertierung macht die Zeichen leichter erkennbar und reduziert die Blendung. Eine
bessere Nutzung und eine langsameres Ermüden des Auges werden unterstützt.
Ebenso können sich blinde Menschen nicht bloß den Text zugänglich machen, sondern
das Layout, dass bisher mühsam herausgefiltert bzw. umgearbeitet bzw. selbst gesucht
werden musste, in der abstrakten Beschreibung selbst als semantische Information

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Barrierefreie Systementwicklung

erkennen bzw. mit entsprechenden Editierwerkzeugen ihren Wünschen entsprechend


darstellen. Beispielsweise könnte eine der drei folgenden Methoden der strukturellen
Interpretation einer Auszeichnung der ersten Überschriftenebene gewählt werden:
 Die abstrakte Notation <H1> wird weiter verwendet

<H1> Das ist eine Ueberschrift der ersten Ebene


<H1> Das ist eine Überschrift der ersten Ebene

 Die abstrakte Notation wird als andere, geläufigere Notation z.B. /ü1 interpretiert)

/ü1 Das ist eine UEberschrift der ersten Ebene


/ü1 Das ist eine Überschrift der ersten Ebene

 Die abstrakte Notation wird als ein räumlich erkennbares Layoutelement, z.B. als
negativer Erstzeileneinzug interpretiert

Das ist eine UEberschrift der ersten Ebene


Das ist eine Überschrift der ersten Ebene

 Die abstrakte Notation wird als


Nummerierungssystem und mit einer Ausrichtung
nach dem rechten Rand räumlich erkennbar
interpretiert)

1) Das ist eine UEberschrift der


ersten Ebene
1) Das ist eine Überschrift der ersten Ebene

Dies sind sehr einfache Beispiele zur


Veranschaulichung, wie Layout und Struktur
voneinander getrennt werden und so eine
Individualisierung ermöglichen – dies wird bei Web-
Inhalten als CSS wiederkehren. In der nächsten Stufe
Abb. 4: "Quick Tips" für die Gestaltung
zugänglicher WWW-Seiten [10] des elektronischen Publizierens können statische
Verweise (Inhaltsverzeichnis, Fußnoten, Marginalien,
Stichwörter, ...) mittels Hyperlinks in dynamische,
durch den Computer unterstützte Interaktionen umgesetzt werden. Nachteile des
Bildschirms für die Realisierung von Medien führten zu diesen Entwicklungen. Für
Menschen mit Behinderungen sind dies effiziente Werkzeuge für die Navigation.

Moderner Umgang mit Dokumenten ist ein gutes Beispiel für die Auflösung dieser
„Parallelwelten“ oder Sonderbereiche durch die Konvergenz des Interesses an der
Digitalisierung oder digitalen Verfügbarkeit von Dokumenten für Menschen mit
Behinderungen. Es zeigt die integrative Grundtendenz der IKT und der AT.

Wohl zentralster Ausdruck dieser Entwicklung sind die Bemühungen um die World Wide
Web (WWW) Zugänglichkeit. Nutzbarkeit für alle ist ein grundlegendes Prinzip des
WWW. "The power of the Web is in its universality. Access by everyone regardless of
disability is an essential aspect." [9] Informationen im Internet sollen so gestaltet
werden, das sie mittels der speziellen MMK für Menschen mit Behinderungen bedient

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Barrierefreie Systementwicklung

werden kann. Weil dies als grundlegendes Recht erkannt wird, sind in vielen Ländern
bereits entsprechende Bestimmungen, vor allem für den Bereich öffentlicher
Informationen, in Kraft [10].

Wurde das Digitalisieren und Aufbereiten von Dokumenten für


blinde und sehbehinderte Menschen und andere Menschen mit
Behinderungen in den 90er Jahren noch als exotisch eingestuft,
so ist es heute ein gleiches Anliegen wie in einer Vielzahl von
Digitalisierungsbemühungen für unterschiedlichste Zwecke in
Kultur, Wirtschaft und Verwaltung. Der Zugang für Menschen
mit Behinderungen erfordert nicht mehr notwendiger Weise
eine „Parallelproduktion" mit all ihren Nachteilen (z.B. nur 1-2 %
der gedruckten Dokumente werden je in Braille oder über
Sprache verfügbar!). Die Einhaltung von grundlegenden Regeln Abb. 5: 2% der gedruckent
des strukturierten Designs von Dokumenten ermöglicht über Information zugänglich für
die spezielle MMK den Zugriff auf die Dokumente. blinde Menschen [12]

Zugänglichkeit und Nutzbarkeit für möglichst viele NutzerInnen unter den


verschiedensten Voraussetzungen und Umständen sind keine spezielle Anforderung für
Menschen mit Behinderungen, sondern integrales
Prinzip und Qualitätskriterium von Systemen in
technischer, sozialer aber auch ökonomischer
Hinsicht. Die Berücksichtigung des „extra ordinary
user“ führt zu allgemein für alle besser nutzbare
Systemen. Was so einfach ist, dass es ein Mensch mit
kognitiven Problemen versteht, so gut strukturiert ist,
dass man blind darin navigieren kann, so gut
bedienbar ist, dass man mit einen Mundstab gut
zurechtkommt, so gut multimedial unterstützt ist, dass
man den Text nicht lesen oder hören muss, ..., das
wird allgemein leicht und effizient zu nutzen sein und
besser seine Ziele erreichen.

Abb. 5: Motto und Logo der Diese Grundtendenz, um es zu wiederholen, gilt aber
ICCHP 2006 [13] nicht nur für das Buch, sondern für alle Bereiche, in
denen IKT zu Einsatz kommt. IKT ist
„dokumentbasiert“; IKT nutzt immer eine abstrakte Beschreibung von Prozessen (als
Dokumente: Computerprogramme, Daten, … sind immer als „files“, als Dokumente
abgelegt!). Auf all diese Dokumente kann grundsätzlich eine für unterschiedlichste
NutzerInnen optimierte Sicht realisiert werden. Auch für Menschen mit Behinderungen,
wenn, ja wenn Richtlinien der Barrierefreiheit beachtet werden, damit AT mit den
Systemen interagieren kann.

Das folgende Schema versucht diese allgemeine Qualität der IKT zu zeigen: Alle
Bereiche und Systeme, in denen IKT zum Einsatz kommt, sollten nach den Prinzipien
der Barrierefreiheit (eAccessibility, Design for All) gestaltet werden, damit AT mit diesen
Systemen effizient interagieren kann und „equality“ auf Basis von „e-Quality“ realisiert
werden kann. [6]

Seite 24
Barrierefreie Systementwicklung

eAccessibility, Design
for All equality = e-Quality
e-publishing
e-government
e-business
e-health
e-learning
e-libraries Assistive Technologies
e-care (AT)
smart house /
environment
adaptive, wareabel,
pervasive, ubiquitous,
...
virtual, augmented ...
Reality
sensor technology
advanced displays
speech technology
...

Abb. 5: Die Universalität der IKT und damit der Möglichkeit der Integrationsunterstützung durch AT [6]

Weitere Beispiele:

ATMs – Automatic Teller Machines (Automaten)

1) 2)

Seite 25
Barrierefreie Systementwicklung

3) 4)

Abb. 6: Automaten – flexible Alternativen: 1) Texttelephonie, 2) Internet PC, 3) Digitales TV, 4)


Mobiltelephon/mobile computing [13]

Analysiert man die Entwicklung von Services, die auf persönlicher Betreuung beruhten
und immer mehr automatisiert wurden, so sieht man, wie die Interfaces zu diesen
Services immer stärker flexibilisiert werden. Heute werden solche Services auf
Grundlage der Nutzung moderner IKT über unterschiedlichste Endgeräte nach
unterschiedlichsten Kriterien basierend an individuelle und situationsabhängige
Bedingungen angepaßt. (NutzerInnenprofil, Endgeräteprofil, Zeit/Ortsprofil, …). Dies gilt
für Geldautomaten genauso wie für Fahrscheinautomaten und für alle anderen Arten
solcher Geräte. Die angesprochene Flexibilisierung eröffnet auch für Menschen mit
Behinderung entsprechende Anknüpfungspunkte.

Umgebungssteuerung

Türe
n
Rolläde
n
Bet
tLich
t
GSM /
GPRS
Telefo
n

Hilferu
f
Fernsehe
rVideorecorde
r
Emai
l
Notitzbloc
k Kalende
r uvm Stereoanlag
. e

Abb. 7: Umgebungssteuerung mittels für Menschen mit Behinderungen adaptiertem PDA [14,
15,16]

Seite 26
Barrierefreie Systementwicklung

Ein weiteres Beispiel, das analog diskutiert werden kann, sind „Smart Homes“ oder
„Smart Environments“, die für Menschen mit Behinderungen unter dem Titel
„Umgebungssteuerung“, „Assisitve Home“ oder „Assistive Environments“ diskutiert
werden.

Das Interface zu unterschiedlichsten Geräten in der Umgebung (alle Geräte, die eine
Fernbedienung anbieten) wird auf die MMK gebracht und so können Menschen mit
Behinderungen mit der für sie gewohnten MMK diese Funktionen steuern – selbständig
und unabhängig. Ist dies in der Abbildung vor allem für Menschen mit
Mobilitätsbehinderungen dargestellt, nutzt es aber auch vielen weiteren Gruppen von
Menschen mit Behinderungen und vor allem auch älteren Menschen. Es sollte nicht
außer Acht bleiben, dass die Entwicklungen im Bereich „Embeded Systems“ und
„Pervasive Computing“, die in alle Bereiche der Umwelt „Intelligenz“ oder besser
Interkationsmöglichkeiten einbauen, eine Vielzahl neuer Möglichkeiten der
Unterstützung von Menschen mit Behinderungen mit sich bringen.

Konvergenz mit dem „Mainstream“

Die folgende Graphik versucht zusammenfassend darzustellen, wie in der IKT


Entwicklung für unterschiedliche Gruppen von Menschen mit Behinderungen
Möglichkeiten der Nutzung allgemeiner Systeme entstehen. Es sind dies nicht mehr
Spezialsysteme für Menschen mit Behinderungen, sondern Systeme, die unmittelbar an
den „Mainstream“ anknüpfen und mit diesem interagieren.

Diese Konvergenz ist die zentrale Herausforderung der Barrierefreiheit, sowohl in


technischer, aber auch in rechtlicher, pädagogischer, sozialer und politischer Hinsicht.
Dieses veränderte Verständnis von Technologie im Mainstream zu verankern als
„Design for All“ und „eAccessibility“ ist Aufgabe der eInclusion.

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Barrierefreie Systementwicklung

Mobile and
Braille printers Screen Accessible pervasive
Visual and keyboards readers web sites Access
e

Control
TTY and TDD Closed Speech to systems
captioning Text (trading, first
Hearing / responders)
Speech

Mobile,
Specialized Voice Hands free
wearable and
input devices Interaction access
Mobility hands free,
VoiceXML
User tailored
Flexible interactivity
interaction
Cognitive/ modes
Learning

1980's 1990's 2000's


IBM – Accessibility Center © 2002

Abb. 8: Der Drang zum Mainstream: die Flexibilisierung der Interaktion eröffnet immer neue
Möglichkeiten der Interaktion mit Systemen [17]

Verallgemeinerung: „Be- und Enthinderung“ durch Technik

Wir werden, um das Kapitel abzurunden und die Umfassendheit des Themas IKT und
AT für Menschen mit Behinderungen zu diskutieren, nochmals näher auf den
Gegensatz zwischen euphorischer Technikgläubigkeit wegen der epochalen
Möglichkeiten der IKT und AT einerseits und der sozialutopischen Technikfeindlichkeit
wegen der historischen Faktizität und Verantwortung der Technik/Wirtschaft/Industrie
für ausgrenzende Tendenzen in der Gesellschaft eingehen.

Obige Diskussionen verdeutlichen, dass es noch nie ein Werkzeug vor der modernen
IKT und AT gegeben hat, welches gleichzeitig Möglichkeiten
 der "Enthinderung" von Abhängigkeiten wegen der physischen Einschränkungen
einerseits und
 der Auflösung ausgrenzender sozialer Strukturen wegen der Ermöglichung und
Stützung der Interaktion und Kommunikation andererseits
eröffnet hat.

Individuelle Entfaltung ist angewiesen auf die Vergesellschaftung mit ihren


Rollenerwartungen und sozialen Normen. Das Individuum wird sich nicht ohne weiteres
aus der sozialen Situation der Behinderung befreien können, auch wenn ihm eine Fülle
von technischen Möglichkeiten zur Verfügung steht. Ebenso werden die Versuche zur
sozialen Integration in einer modernen, technischen Gesellschaft oft nur erfolgreich sein
können, wenn Mittel zu einer möglichst gleichwertigen und selbst bestimmten
Anteilnahme und entsprechenden Beiträgen zur Verfügung stehen.

Seite 28
Barrierefreie Systementwicklung

IKT, AT und sozial-integrative Bemühungen widersprechen sich daher nicht, im


Gegenteil; sie ergänzen und stützen sich in ihrer humanen und offenen Grundstruktur.
Daraus ist aber auch klar abzuleiten, dass, wenn die Rahmenbedingungen, die
Infrastruktur und vor allem Know-how und Kompetenz in der Anwendung nicht
vorhanden sind, Integration leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird. Zeigt in solchen
unvorbereiteten Situationen die Technik nicht den erwarteten kausalen, ableitbaren
Erfolg, so werden sich viele enttäuscht abwenden und beiderseits ihre kurzschlüssigen
Folgerungen ziehen: Auf
a) der technokratischen Bezugsebene, dass Integration trotz aller Technik eben
nicht möglich und Segregation notwendig sei, und auf
b) der anderen, sozial-utopischen Bezugsebene, dass die Technik und das
technische Weltbild der sozialen Integration widersprechen und eben nur zu
Segregation führen könnten.

Das eine wie das andere sind Prophezeiungen, die man in der Verkürzung der Situation
selbst erfüllt. Die Kompensation des physischen Mangels durch technische Systeme
kann nicht per se das soziale Phänomen Behinderung „lösen“, aber es kann Anstöße
und vor allem Werkzeuge zur Umsetzung integrativer Konzepte an die Hand geben und
versteinerte Denkmuster auflösen. Das Vorenthalten technischer Möglichkeiten führt zu
fahrlässiger Vernachlässigung von Chancen der Verbesserung der Integration, wie
auch eine kurzsichtige Technisierung der Lebenswelt von Menschen mit Behinderungen
zur Ausgrenzung führt. Umfassendes ‘Etwas-aus-sich-Machen’, umfassende
Emanzipation, die über den bloß technischen Fortschritt und die zweckrationale
Anwendung von Werkzeugen hinausgeht, ist nur eingebunden in den sozialen Kontext
möglich. Beide Aspekte widmen sich der Unterstützung der Integration. Was aber aus
technisch-ökonomischer Sicht notwendig und richtig erscheint, wird nicht selten aus
sozial-integrativer Sicht als contra produktiv, Behinderung erzeugend bzw. verfestigend
bezeichnet. Es wird mehr als 'Abfallprodukt' einer selbst für ‘Behinderungen’
verantwortlichen Technokratie bewertet. Umgekehrt werden die Forderungen und
Anliegen der sozialen Integration wegen der Tatsache technischer und ökonomischer
Effizienz oft als utopisch und weltfremd bezeichnet. Das Resultat ist oft eine nicht an
den Bedürfnissen der NutzerInnen orientierte Technik wie auch eine nicht auf den
Einsatz für die Technik vorbereitete Praxis.

IN DIESEM ANSCHEINENDEN GEGENSATZ SIND DIE AT-EXPERTINNEN DIE


VERMITTLERINNEN.

IKT und AT verändern Fragestellungen und Ausgangsbedingungen: Es ist nicht mehr


zu fragen, was NutzerInnen können, sondern primär, warum die Lebenswelt so gestaltet
wurde, dass er an bestimmten Prozessen nicht teilnehmen kann, und wie wir die Welt
gestalten können, dass dies möglich ist. Integration ist kein Almosen, sondern Anspruch
gleichberechtigter BürgerInnen auf Entfaltung. Und eben dies ermöglicht die moderne
IKT und AT, weil sie die Teilhabe an ein- und denselben Strukturen ermöglicht.

Man ist nicht behindert – Man wird behindert!

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Barrierefreie Systementwicklung

„Die Begriffe von Normalität und Abnormalität [und damit von Behinderung;
Ann. d. Autors] verlieren ihren Sinn als Eigenschaft von Individuen.“ [18,
S.42]

Behinderung ist nicht mehr alleine Ausdruck individueller Befindlichkeit und


Behinderung, sondern Ausdruck der offenen, barrierefreien Gestaltung der
Lebenswelt, des Zustandes der Gesellschaft im Umgang mit den
Anforderungen aller BürgerInnen an eine offene Gesellschaft.

War dies früher ein theoretisches, oft als sozial-utopisch bewertetes


Ansinnen, entstehen durch IKT und AT und in der revolutionären Um- und
Neugestaltung der Lebenswelt dafür die Chancen, die Werkzeuge und
damit auch die Verantwortung.

Behinderung kann nicht mehr einfach „externalisiert“ werden, sondern


Barrierefreiheit wird zu einem zentralen Anliegen einer offenen und
demokratischen Gesellschaft. Diese Bedeutung ist bei den ExpertInnen der
Praxis wohl noch zuwenig bewusst. Es ist ein Faktum, dass die Curricula,
die Ausbildung und die Praxis hier enormen Aufholbedarf haben. Das
Bewusstsein und die Verantwortung in der Gestaltung der Lebenswelt ist
alles andere als selbstverständlich. Es steht außer Diskussion, dass diese
technischen Entwicklungen in einer extremen Schnelligkeit vorangehen,
die die Praxis nicht einfach macht. Die epochalen Chancen für
unterschiedliche Zielgruppen machen eine Veränderung der Praxis aber
unerlässlich.

"Computer is not about computing anymore. It is about living.“ [19]

IKT stützt nicht bloß unsere handwerklichen Aktivitäten. IKT und AT sind
Kommunikations-, Interaktions- und Denkwerkzeuge. Sie sind in Bereiche
vorgedrungen, wo ihre Qualitäten sich nicht mehr bloß auf ihre
Unterstützung oder Automatisierung von Prozessen sondern vor allem
auch auf den Dialog, die Interaktion, die Intuition und die Kommunikation
beziehen. So werden nicht alleine Zugänglichkeit ("accessibility") und
Nutzbarkeit/Anwendbarkeit ("usability") für die Überwindung individueller
Grenzen, sondern vor allem auch das Überwinden sozialer Grenzen
unterstützt. In diesem "Enthindern" der Interaktion und Kommunikation sind
IKT und AT zutiefst sozial integrative Werkzeuge. Der Einsatz von IKT und
AT ist demnach nicht alleine ein Zeichen für die "handwerkliche", sondern
auch die sozial-integrative Qualität. Das Um- und Neugestalten von
Systemen und Zusammenhängen in der Gesellschaft löst
Transformationsprozesse aus, die zutiefst unser Welt- und
Menschenverständnis verändern.

Die Interessen von Menschen mit Behinderungen konvergieren in der


Informationsgesellschaft mit den allgemeinen Anforderungen an
Universalität und Flexibilität des Zuganges zu Information und
Kommunikation. Die Anwendung von Technik hat, vor allem gefördert
durch die IKT Revolution, einen paradigmatischen Wandel vollzogen, der
in den folgenden beiden Zitaten zum Ausdruck kommt:

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Barrierefreie Systementwicklung

“Science Finds, Industry Applies, Man Conforms.” [20]


“People Propose, Science Studies, Technology Conforms.” [21]

Technik hat sich gewandelt. Mussten sich früher Menschen an die rigiden technischen
Vorgänge anpassen, so passen sich technische Systeme heute immer besser den
Bedürfnissen der NutzerInnen an – dazu hat nicht zuletzt IKT entscheidend
beigetragen. Dieser Wandel fördert auch einen paradigmatischen Wechsel im
Grundverständnis im Umgang mit Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft.

“Der Umgang mit dem PC könnte in die Tiefengrammatik des lebensweltlichen


Hintergrundes eingreifen und paradigmatische Sichtweisen, ja Modelle der
Weltauslegung verändern.” [8; S.45]

Und in genau diesem Sinne verändert IKT und AT das Verständnis von Behinderung
und tradierter Muster und Normen in der Gesellschaft weg von der Segregation hin zur
Integration, Ermöglichung der Teilnahme und Teilhabe durch Barrierefreiheit.

Als Anzeichen der beginnenden Veränderung dieses Grundverständnisses seien hier


die „Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities”
der UNO erwähnt, die in vielem auf die Möglichkeit der Nutzung neuer Technologien
und die Notwendigkeit der Barrierefreiheit abstellen. [vgl.: 22, 23]

Literatur
[1] Stephanidis, C. (ed.): Universal Access In HCI – Towards and Information Society for All,
Lawrence Erlbaum, London 2001
[2] Web Accessibility Initiative of the World-Wide-Web Konsortiums: www.w3c.org/WAI
[3] Miesenberger, K.: „equality = e-quality" 'design for all' und 'accessibility' als Grundlage
für eine demokratische, offene und inklusive Gesellschaft, in: Feyerer, E.; Pammer, W. (Hrsg.):
Qual-I-tät und Integration, Beiträge zum 8. PraktikerInnenforum, Universitätsverlag Rudolf
Trauner, Linz 2004
[4] Miesenberger, K.: Informatik für Sehgeschädigte, Soziale Aufgabenstellung einer
technischen Disziplin, Dissertation, Universität Linz, 1998
[5] Miesenberger, K.: Applied Computer Science for Blind and Visually Handicapped People
- Information Technology Enabling Integration at University, Universität Linz, 2001
[6] Darzentas, J., Miesenberger, K.: Design for All in Information Technology: a Universal
Concern (Keynote), in: Andersen, K., V., Debenham, J., Wagner, R. (eds.): Database and
Expert Systems Applications, 16th Internaitonal Conference, DEXA 2005, Copenhagen,
Denmark, August 2005, Proceedings, Springer LCNS 3588, Berlin/Heidelberg 2005, pp. 406 –
420
[7] Habermas, J.: Texte und Kontexte, suhrkamp, Frankfurt am Main 1991
[8] Weizenbaum, J.: Computer Power and Human Reason, Penguin Books, St. Ives 1993
[9] Tim Berners-Lee, Director Wold Wide Web Consortium (W3C),
http://www.w3c.org/WAI
[10] Hammerschmid, R., Miesenberger, K., Stöger, B.: Harmonisation of the Copyright Law
throughout the European Union – A Challenge for All Print Disabled People, in: Miesenberger,
K., Klaus, J., Zagler, W. (eds): Computers Helping People with Special Needs - 8th International
Conference, ICCHP, Linz, Austria, July 2002, Proceedings, Springer Heidelberg, 2002
[11] Miesenberger K., Burger, F.: Secure Distribution System for Publications in Electronic
Form, in: Klaus, J., Auff, E., Kremser, W., Zagler, W., L. (Eds): Interdisciplinary Aspects on

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Barrierefreie Systementwicklung

Computers Helping People with Special Needs, 5th International Conference, ICCHP ´96,
Oldenbourg, Wien, München 1996
[12] www.icchp.org
[13] http://www.stakes.fi/include/
[14] Nussbaum, G.; Miesenberger, K.: SmartX – Enabling Traditional Environmental Control
to Use Standard HCI, in: Miesenberger, K.; Klaus, J.; Zagler, W.; Burger, D.: Computers
Helping People with Special Needs, 9th International Conference, ICCHP 2004, Paris, July
2004, Springer Heidelberg 2004
[15] Stöger, B., Miesenberger, K.: Digitale Signatur via Smart Card: Eine Chance für blinde
Menschen, in: Wimmer, M. (Ed.): e|Gov Days: State-of-the-art 2004, OCG, Wien, 2004
[16] Nussbaum, G., Miesenberger, K.: SmartX open source, in: Pruski, A., Knops, H. (eds.):
Assisitve Technology: From Virtuality to Reality, Proceedings AAATE 2005, IOS Press,
Amsterdam 2005
[17] IBM Accessibility Centre, www.ibm.com/able/
[18] Watzlawick, P.: Wie wirklich ist die Wirklichkeit, Piper, München 1990
[19] Negroponte, N.: Beeing Digital, Alfred A. Knopf, 1995
[20] Motto der Weltausstellung 1933, Chicago
[21] Norman, D., A.: Things That Make Us Smart: Defending Human Attributes in the Age of
the Machine, Addison Wesley Publishing Company, 1991
[22] UNO: The Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with
Disabilities, http://www.un.org/esa/socdev/enable/dissre00.htm
[23] Miesenberger, K.: Best Practice in Design for All, in: Stephanidis (ed.): The Universal
Access Handbook, CRC Press, Boca Raton 2009
[24] Miesenberger, K.: „equality = e-quality” - Wie Chancengleichheit (equality) in der
Informationsgesellschaft von Barrierefreiheit als Qualitätsmerkmal neuer Technologien (e-
Quality) abhängt, in: Bretterebner-Ziegerhofer, A.: Lebenswerte Lebenswelten, Ringvorlesung,
Graz 2008

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Barrierefreie Systementwicklung

5. Grundsätze von Design for All


Ziel des Kapitels ist es, den Teilnehmenden grundlegende Prinzipien des
Fachbereiches AT näher zu bringen und die Bedeutung ihrer Berücksichtigung in der
Praxis, vor allem auch bei der Gestaltung barrierefreier Informationssysteme, näher zu
bringen.

Das Bisherige sollte uns soweit für das Thema sensibilisiert haben, dass die folgenden
Grundsätze schlüssig aus dem bereits Dargestellten ergeben.

Es sind Grundprinzipien einer Praxis, in der Behinderung eben nicht als rein
individuelles Problem oder als „Sonderbereich“, sondern primär als Anforderung an die
Gestaltung einer für alle offene Lebenswelt gesehen wird. Man ist eben nicht behindert
– man wird behindert, durch alltägliche Barrieren in der Lebenswelt.

Diversifizierung

Design for All zielt darauf ab, die Nutzbarkeit und die
Akzeptanz von IKT-Produkten zu erhöhen, indem bereits
während des Entwicklungsprozesses (proaktiv) möglichst
vielfältige Anforderungen, eben auch jene von Menschen mit
Behinderungen, berücksichtigt werden. Diese Vielfalt der
Anforderungen basiert auf

 der Heterogenität von BenutzerInnengruppen (z.B. in


Bezug auf Alter, Erfahrungsgrad, Fähigkeiten,
Fertigkeiten, Bedürfnisse, Präferenzen, Beeinträchtigungen, Emotionen,
Wünsche, Behinderungen oder kulturellen Hintergrund

 unterschiedliche Nutzungskontexte (Zeit, Ort)


 unterschiedliche Modalitäten der Nutzung (Fahren und Telefonieren)
 unterschiedliche Endgeräte für die Nutzung

Nur so kann sich das Potential der diskutierten Prinzipien der IKT (Flexibilität,
Adaptivität, Universalität, Standardisierung) entfalten.

„Design for All“ ist Ausdruck der Tendenz, sich von der
beschrieben Anforderung der Anpassung an die Systeme
durch die Menschen weg zu bewegen. Die Systeme
sollten sich so gut als möglich an die NutzerInnen
anpassen. „Design for All“ stellt nicht einen
„durchschnittlich vermessenen“ Menschen, einen
„Idealtypen einer Nutzerin / eines Nutzers“ in den
Mittelpunkt, sondern die Vielfalt, die „Diversität“, die durch
die Systeme unterstützt werden soll.

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Barrierefreie Systementwicklung

„Design for All“ nähert sich an die Systemgestaltung von den Anforderungen „extremer“
NutzerInnen, um die beste allgemeine Nutzbarkeit für den breitest möglichen
NutzerInnenkreis in unterschiedlichsten Nutzungskontexten zu garantieren.

Genau dies ist auch die Anforderung durch die AT Praxis, was sich nicht als
behinderungsspezifisches Design versteht, sondern als modernes Design, dass die
Anforderungen aller NutzerInnen berücksichtigt.

Nutzen für Alle

„Design for All“ geht dabei von dem Selbstverständnis aus, dass dies keine exklusive
Fokussierung auf einzelne, spezielle NutzerInnen ist, sondern das „Design for All“ allen
NutzerInnen zu Vorteil gereicht.

Ein einfaches Beispiel ist das vermeiden von Stufen, von dem nicht zuletzt auch
LieferantInnen und Eltern mit Kinderwagen profitieren. Studien der
Krankenversicherungen belegen, wie positiv sich „Design For All“ allein in diesem
Bereich auf die Reduktion von Verletzungen und Krankenständen auswirkt.
Entsprechend wird auch die Bedienung von Geräten und Webseiten für alle vereinfacht,
wenn man entsprechende Kriterien des „Design for All“ berücksichtigt.

Ein weiteres Indiz und Beispiel sind Gebrauchsgegenstände, deren Design und
Entwicklung zuerst auf Menschen mit Behinderungen fokussierte, die aber in der Folge
allgemeine Verbreitung fanden. Hier seien als Beispiele angeführt:

 Fernbedienungen (ursprünglich entwickelt für


Menschen mit Mobilitätsproblemen und ältere
Menschen)

 Schreibmaschine (erfunden 1808 von Pellegrino


Turri für seine blinde Freundin Countess Carolina
Fantoni da Fivizzono – er wollte, dass sie lesbare
Liebesbriefe schreiben kann)

 Telefon (eine von vielen Erfindungen von Alexander


Graham Bell, um seine Arbeit mit gehörlosen und
schwerhörigen Menschen zu verbessern)

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Barrierefreie Systementwicklung

 Transistor (entwickelt von Bardeen, um kleinere,


verlässlichere und energiesparende Hörgeräte zu
entwickeln – Nobelpreis für Physik 1956)

 Einhebelwasserhähne (ursprünglich für


mobilitsätsbehinderte und ältere Menschen
entwickelt)

 Ergonomische Tastatur (ursprünglich für Menschen


mit spastischen Lähmungen und chronischen
Handschmerzen entwickelt)

 Symbolsysteme (ursprünglich für Menschen mit


kognitiven Problemen bzw. nicht lesende Menschen
entwickelt

 Bildschirmeinstellungen (ursprünglich für Menschen


mit Sehbehinderungen entwickelt)

 Tastatureinstellungen (ursprünglich für Menschen


mit Mobilitätsbehinderungen entwickelt)

 Sprachinterfaces (ursprünglich für Menschen mit


Sehbehinderungen entwickelt)

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Barrierefreie Systementwicklung

 Scanner und OCR (ursprünglich für Menschen mit


Sehbehinderungen entwickelt)

 Wortvorhersage (ursprünglich entwickelt für


Menschen, die nicht mit der Tastatur schreiben
konnten)

Umgekehrt wird, was nicht gut und an den Bedürfnissen


der NutzerInnen und ihrem jeweiligen Benutzungskontext
sich orientiert, für verschiedene NutzerInnen in
verschiedenen Situationen zum Problem werden.

Was so gut strukturiert ist, dass man „blind“ darin


navigieren kann, so gut steuerbar, dass man es mit nur
einem Finger bedienen kann, so einfach, dass es
Menschen mit kognitiven Problemen verstehen, …, das
wird auch allgemein besser nutzbar und besser
Abb. 9: Donald Norman. The
akzeptiert. design of everyday thing

Finden Sie Argumente und Beispiele gegen das Missverständnis:


- „Design for All“ ist gleich „Design für behinderte Menschen“

Prinzipien des „Design for All“

Am Centre for Universal Design wurden in Kooperation von DesignerInnen,


TechnikerInnen Prinzipien entwickelt, die „Design for All“ ausmachen [1]. Sie sind so
allgemein formuliert, dass sie auf IKT und AT Design angewandt werden können:

1. Chancengleichheit in der Nutzung

„Das Design ist für jeden benutzbar und erschwinglich.“

 gleiche Benutzungsmöglichkeit, wenn möglich


identisch, wenn nicht möglich äquivalente
Alternativen
 Vermeiden von Ausgrenzung und Stigmatisierung.
 Privatsphäre, Sicherheit, Verlässlichkeit für alle

2. Flexibilität in der Nutzung

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Barrierefreie Systementwicklung

„Das Design unterstützt möglichst viele individuelle


Präferenzen und Fähigkeiten.“

 Wahlmöglichkeit in der Handhabung


 Rechts/LinkshänderInnen Unterstützung
 Genauigkeit und Präszissionsanpassung
 Geschwindigkeitsanpassung

3. Einfach und intuitiv

„Das Design sollte so leicht verständlich sein als möglich,


unabhängig von Erfahrungen, Wissen, Sprachekenntnisse
und Konzentration.“

 Vermeiden von unnötiger Komplexität


 Erwartungs- und intuitionskonform
 Unterstützung unterschiedlicher Sprach- und
Lesekenntnisse
 Anordnung nach Bedeutung der Information
 Effektives Feedback und Orientierung nach Aktivitäten

4. Wahrnehmbare Information

„Das Design kommuniziert die notwendige Information


effektiv, unabhängig von der Umgebung und den
sensorischen Fähigkeiten.“

 Äquivalente, redundante Alternativen (bildlich,


verbal, taktil)
 Zureichender Kontrast und Abheben wichtiger
Information von der Umgebung
 Maximieren der Lesbarkeit wichtiger Information
 Differenzierung von Elementen, Anleitung und Richtung vorgeben
 Kompatibilität mit AT für Sinnesbehinderungen

5. Fehlertoleranz

„Das Design minimiert Zufälle und vermeidet ungünstige


Folgen fehlerhafter oder nicht gewollter Bedienung.“

 Anordnung, um Zufall Fehler zu vermeiden (nach


Häufigkeit der Nutzung und Fehleranfälligkeit)
 Warnungen für Zufall und Fehler.
 Sicherheits/Wiederherstell- Mechanismen
 Vermeiden von unaufmerksamer Nutzung wenn Aufmerksamkeit notwendig ist

6. Geringe physische Anstrengung

„Das Design kann effizient und komfortable mit einem Minimum an Anstrengung
bedient werden.“

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Barrierefreie Systementwicklung

 Beibehaltung der Körperhaltung


 Geringe Kraftanstrengung
 Minimieren von Wiederholungen.
 Gleichmäßige Anstrengung

7. Größe und Platz in der Nutzung

„Zureichende Größe und Platz für Annäherung, Erreichen, Anpassen und Nutzen
unabhängig von Größe, Haltung oder Mobilität.“

 Gute Sicht auf wichtige Elemente für stehende


und sitzende NutzerInnen
 Komfortable Annäherung für stehende und
sitzende NutzerInnen
 Anpassung an Hand und Griffgröße
 Genug Platz für AT

Design for All = Accessibility + Usability

“Design for All” kann zusammenfassend als Disziplin bezeichnet werden, die die
Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen und die allgemeinen Anforderungen
an eine gute Nutzbarkeit von Systemen, Produkten und Services integriert.

 Usability ist das klassisches Konzept für effektive, effiziente und befriedigende
Nutzung von Systemen im jeweiligen Kontext
 Accessibility ist das Konzept der Diversifikation für eine Nutzbarkeit
unabhängig von temporären oder überdauernden körperlichen
Beeinträchtigungen

User Centred Design – End User Involvement

User centred Design fordert, im gesamten Prozess der Entwicklung und


Implementierung von Systemen, Produkten und Services NutzerInnen einzubeziehen,
um nicht nur „angenommene“ Bedingungen, sondern die tatsächlichen zu
berücksichtigen. Nur eine solche Rückbindung an die EndnutzerInnen kann garantieren,
dass der tatsächliche Kontext der Nutzung Berücksichtigung findet und die
Zugänglichkeit und Nutzbarkeit garantiert wird.

User Centred Design fordert: Weg von den Annahmen: Fragen, Testen, Verifizieren!

Dies gilt im Besonderen für das Design von AT und IKT für Menschen mit
Behinderungen, deren spezifischer Kontext sehr oft von Annahmen von

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Barrierefreie Systementwicklung

„FürsprecherInnen“ durchzogen ist, die oft nicht den tatsächlichen Bedingungen


entsprechen.

Das Prinzip des User Centred Designs und damit des User Involvements fordert die
unmittelbare Rückbindung und Einbindung der NutzerInnengruppe. User Centred
Design fordert die Einbindung der Zielgruppen in allen Phasen der Entwicklung und
Einführung von Produkten:

 NutzerInnenanalyse
 Aktivitätsanalyse
 Produktanalyse
 Kontextanalyse
 Produktumgebung,
Anwendungskontext
 Funktionale Spezifikation
 Usability Evaluation

Dementsprechend ist die Iteration


zwischen den verschiedenen Schritten
der Entwicklung von entscheidender
Bedeutung, um beständig das Feed-
back der NutzerInnen einbeziehen zu
können.

„Usability Studies“ und Labors bieten


allgemein solche Dienstleistungen an.
Dementsprechend stehen
entsprechende Verfahren zur Verfügung,
die die Umsetzung dieses Prinzips
unterstützen. Hier sind Beispiele, die
Design for All und eAccessibility in den
Mittelpunkt stellen: Abb. 10: The UserFit Method [2]

 IS4ALL: http://is4all.ics.forth.gr/
 Include, Userfit: http://www.stakes.fi/include/1-0.htm

Für die Anwendung von AT gewinnt dies hohe Bedeutung.

Vom "Patienten" zum "Klienten", von "Almosen" zum


"Marktpotential"

Entsprechend dem Prinzip der NutzerInnenorientierung und der sich verändernden


Sichtweise auf Menschen mit Behinderungen (Einleitung) verändert sich auch die
grundlegende Beziehungsstruktur für die Entwicklung und Anwendung von Systemen,
Produkten und Services.

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Barrierefreie Systementwicklung

In der traditionellen Sicht wurden Menschen mit Behinderungen als PatientInnen und
daher eher als „Objekte“ gesehen und behandelt. Es wurden Ihnen, der klinischen
Umgebung ähnlich, rigide Strukturen vorgeschrieben von ExpertInnen. Unterstützung,
Systeme, Produkte und Services erscheinen darin mehr als „Almosen“, die man sich
leistet oder auch nicht. Die Geschichte lehrt uns eindringlich, wie labil dieses Verhältnis
ist und zwischen Versorgung und Behütung bzw. Ausgrenzung und sogar Vernichtung
schwankt. Die Rolle des Menschen mit Behinderung wird darin primär auf die eines
„Almosenempfängers“ und nicht die eines selbst bestimmten Individuums, für den man
die Voraussetzungen für die selbst bestimmte Teilnahme an und den Beitrag zur
Gesellschaft ermöglicht.

Demnach waren Menschen mit Behinderungen nicht die „KundInnen“, die „am Markt“
die von Ihnen gewünschten Produkte nachfragen, sondern „Sekundarempfänger“ von
Systemen, Services und Produkten, die von Dritten als gut oder angemessen bewertet
werden und dabei Gefahr laufen, von eigenen oder anderen Faktoren auszugehen.
Menschen mit Behinderungen werden oft zum Objekt und können nicht selbst bestimmt
agieren.

Eine solche traditionelle Herangehensweise erscheint aus heutiger Sicht als verletzend
und herablassend. Die Integrationsbewegung ist demnach eine vielen anderen folgende
Emanzipationsbewegung und BürgerInnenrechtsbewegung unserer Gesellschaft.
Dieser Wandel, die Emanzipation von Menschen mit Behinderungen von einer Ihnen
aufoktruierten Lebenswelt ändert diesen Zusammenhang. Menschen mit
Behinderungen werden
 Von PatientInnen zu KlientInnen
 Von Almosenempfängern zu KundInnen
 Von abhängig zu selbst bestimmt Agierenden („ independent living“)
Es stehen nicht mehr die „Behinderungen“ im Mittelpunkt, sondern die Fähigkeiten und
Fertigkeiten, die es zu fördern und realisieren gilt, damit ein selbstbestimmtes Leben mit
entsprechenden Rechten und Pflichten in der Gesellschaft möglich wird.

Demnach ist Barrierefreiheit als Anforderung von MarktteilnehmerInnen zu verstehen,


die Ihre Bedürfnisse reklamieren. Dass Menschen mit Behinderungen und ältere
Menschen ein erhebliches Markpotential darstellen, wird im Kapitel „Behinderung“
besprochen werden.

Interdisziplinparität

Aus dem Dargelegten wird offensichtlich, dass die Anwendung von AT interdisziplinäres
Wissen verlangt, wie die folgende Graphik veranschaulichen möchte. Sie bringt
wiederum die Fokussierung auf die NutzerInnen als Ausgangspunkt des Agierens zum
Ausdruck. Die Komplexität der Anforderungen, die an das Design und die Gestaltung
von Systemen, Produkten und Services gestellt werden, zeigt auch die Bedeutung des
Managements und der Organisation, um diesen modernen Ansprüchen gerecht werden
zu können.

Aber eben diese Komplexität und Umfassendheit ist die spannende Herausforderung
und zeichnet letztendlich gutes Design aus.

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Barrierefreie Systementwicklung

Mensch
Medizin/
Reha

Technik
User Rehatech/
AT

Soziales/
Umfeld
Integration

Abb.11: AT und interdisziplinäres Umfeld [vgl.: 3]

Literatur
[1] The Centre for Universal Design,
http://www.design.ncsu.edu:8120/cud/univ_design/ud.htm
[2] www.stakes.fi/include/1-0.htm
[3] http://www.telemate.org/

Seite 41
Barrierefreie Systementwicklung

6. Gründe: Warum „Design for All“


„Design for All“ begründet sich nicht alleine, wie angesprochen, über die Anforderungen
von Menschen mit Behinderungen, sondern hat allgemeine Gründe [1]:
 ethische/politische: eine für alle offene, chancengleiche Gesellschaft
 soziale: Integration, Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit als Ansprüche und
Grundrechte aller Menschen
 sozial-wirtschaftliche: Beitrag zum Erwerbsleben, Effizienz in der Versorgung in
einer alternden und von Behinderung betroffenen Bevölkerung als Notwendigkeit
zur Erhaltung des Sozialsystems
 betriebswirtschaftliche: größeres Marktpotential (vor allem in einer alternden
Gesellschaft)

Ethische und moralische Bedeutung

Eine offene und demokratische Gesellschaft sieht es als eines seiner wichtigsten
Fundamente, jedem, unabhängig von seinen Voraussetzungen die Möglichkeit zur
Entfaltung und Verwirklichung in der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Integration von
Menschen mit Behinderung in alle Bereiche der Gesellschaft ist damit eine logische
Anwendung dieses ethischen Grundsatzes, der in den Menschenrechten verankert ist.
Integration ist eine, wenn auch späte aber dennoch nicht unwichtigere
Emanzipationsbewegung, die aus diesem Fundament erwächst. Sie fordert, wie im
Kapitel „Einleitung“ diskutiert, die Gesellschaft so um- oder neu zu gestalten, dass
diskriminierende Barrieren abgebaut oder vermieden werden.

Der Übergang in die Informations- oder Wissensgesellschaft setzt einen


Transformationsprozess der Gesellschaft in Gang, der in der Lage ist, tradierte
Verhaltensmuster zu überwinden, weil die Möglichkeiten der IKT und AT [2, 3]

 auf einem veränderten Grundprinzip beruhen, nämlich der Anpassung der


Lebenswelt an unterschiedlichste Bedürfnisse der NutzerInnen in
unterschiedlichsten Situationen, was mit der Anforderung der Integration
konvergiert und damit ein verändertes, integratives Bild von Menschen mit
Behinderungen fordern und fördern
 ein universelles „Integrationswerkzeug“ zur Verfügung stellen, die erstmals in
vielen Bereichen die selbst bestimmte und selbst gesteuerte Teilnahme und
Teilhabe an der Lebenswelt ermöglichen.

Aus diesen grundsätzlichen Möglichkeiten folgert die ethische und moralische


Verantwortung, diese Chancen der IKT und AT zu nutzen und die Lebenswelt so
barrierefrei zu gestalten, dass Menschen mit Behinderungen vermittels IKT und AT an
ihr teilnehmen können. Die immer stärkere Offensichtlichkeit der Möglichkeit der
Integration durch IKT und AT und die ethisch-moralische Betroffenheit steigern somit
auch die Akzeptanz der Integration und damit der Barrierefreiheit als ein Grundrecht –
und nicht als ein Almosen.

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Barrierefreie Systementwicklung

Politische und rechtliche Gründe

Die ethischen und moralischen Fundamente, gemeinsam mit den angedeuteten


statistischen Daten fordern entsprechende politische und rechtliche
Rahmenbedingungen, die den Anspruch auf und die Rahmenbedingungen der
Integration in der Gesellschaft verankern.

USA [4]

Ausgangspunkt und Vorreiter war und ist die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die
in den 1960er Jahren („Independent Living Movement“), den Bürgerrechtsbewegungen
der Frauen und der afroamerikanischen Bevölkerung folgend, die Gesetzgebung und
damit die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entscheidend veränderte.

Dieser Start, vor der IKT und AT Revolution zeigt auch, dass Integration, die
gleichberechtigte Anteilnahme an der Gesellschaft, grundsätzlich unabhängig von
Technik ist, eine zutiefst gesellschaftliches Problem. Die IKT und AT Revolution hat
durch ihre Handwerkszeuge und die allgemeinen Veränderungsprozesse die Integration
entscheidend unterstützt.

Diese neue Gesetzgebung verbieten die Diskriminierung von Menschen mit


Behinderungen im öffentlichen Bereich, vor allem im Zugang zur öffentlichen Bildung,
Gebäuden, Telekommunikation, Arbeitsmarkt und Transport. Bereits zu dieser Zeit
wurde der Begriff der Barrierefreiheit, der zuerst in der Architektur und im Bauwesen für
Menschen mit Mobilitätsbehinderungen verankert wurde, auf immer weitere Bereiche
der Gestaltung der Lebenswelt ausgedehnt.

Zuerst wurde erreicht, dass entsprechende Normen (z.B. A 117.1 — Making Buildings
Accessible to and Usable by the Physically Handicapped) entwickelt, die zwar vorerst
nicht einklagbar waren, die aber von der Gesetzgebung in der Folge als Grundlage
verwendet wurden.

1966 waren es bereits 30 Bundesstaaten, 1973 49 Bundesstaaten, die


Antidiskriminierungsgesetze verabschiedet hatten, die in den 80ern zu einheitlichen
Standards - Uniform Federal Accessibility Standard (UFAS) – entwicketl wurden.

● The Architectural Barriers Act of 1968

● Die Section 504 of the Rehabilitation Act of 1973 (das erste


BürgerInnenrechtsgesetz für Menschen mit Behinderungen, das Diskriminierung
im öffentlichen Bereich unter Strafe stellt

● Der Education for Handicapped Children Act of 1975, heute Individuals with
Disabilities Education Act, or IDEA)

● Der Fair Housing Amendments Act of 1988 (Brrierefreie Wohnungen im öffentlich


geförderten Wohnungsbau)

Seite 43
Barrierefreie Systementwicklung

● Der Americans with Disabilities Act of 1990 (ADA), die wohl wichtigste und am
weitesten reichende gesetzliche Änderung, die die unterschiedlichen Gesetzte
zusammenführte und Diskriminierung in weiten Bereichen der Gesellschaft unter
Strafe stellt, vor allem auch im Bereich der öffentlichen Beschaffung, womit auch
alle Bereiche der Wirtschaft betroffen waren, wo die öffentliche Hand der größte
Kunde war und ist.

● Der Telecommunications Act of 1996 hatte entscheidenden Einfluss auf die


Gestaltung der heute allgegenwärtigen ICT, die Interfaces für AT und damit die
Teilnahme von Menschen mit Behinderungen an den damit unterstützten
Prozessen gewährleisten muss

● Die Section 508 of the Rehabilitation Act of 1998 regelt heute viele Bereiche der
barrierefreien Informationstechnik

Schritt für Schritt entwickelten sich daraus US weite Gesetze, die Barrierefreiheit in
immer weiteren Bereichen zu einem einklagbaren Recht machten

Diese Bestimmungen waren und sind Vorbild für vergleichbare Entwicklungen in der
gesamten Welt.

EU

In Europa war die Situation in den meisten Ländern durch das Prinzip der sozialen
Fürsorge geprägt, wodurch nicht diese Dynamik wie die Bürgerrechtsbewegung in den
USA entstand. Mit zeitlicher Verzögerung werden in Europa vergleichbare
Bestimmungen etabliert. Jene Länder, die wie Amerika, einen starken
Bürgerrechtsbezug haben wie z.B. England, waren und sind hier Vorreiter.

Eine sehr wichtige Rolle spielt die europäische Integrationsbewegung und die EU, die
mit entsprechenden Direktiven die Änderungen bzw. Harmonisierungen nationaler
Gesetzgebungen verlangt. Nur einige seien erwähnt:

● Die EU-Rats Resulution "eAccessibility - improving the access of people with


disabilities to the Knowledge Based Society” (doc. 5165/03, 2-3 Dec 2002) [5] ist
die entscheidende Richtlinie, die zur Umsetzung von nationalen Gesetzen zur
Barrierefreiheit des Web führt. Entsprechende Gesetze sind bereits in
verschiedenen Ländern Europas umgesetzt worden. In Österreich existieren
entsprechende Bestimmungen im eGovernment Gesetz. Weitere Bestimmungen
werden aus dem Gleichstellungsgesetz (siehe weiter unten) folgen.

Diesem Grundverständnis folgend hat die EU im 6. und 7. Rahmenprogramm eInclusion


als ein zentrales Thema, sowohl als Schwerpunkt als auch als Querschnittsanforderung
im Bereich IST (Information Society Technology) verankert mit derzeit folgenden
Schwerpunkten [6]:

● Nutzbarkeit/Adaptierbarkeit/Personalisierbarkeit neuer IKT für einen


größtmöglichen Kreis

● Interface zu AT

Seite 44
Barrierefreie Systementwicklung

● Verbesserung der Zugänglichkeit der Lebenswelt mittels neuer IKT (AT)

● Neue AT zur Überwindung von Einschränkungen in der physischen,


senorischen, kognitiven, kulturellen Aktivität: Behinderung, Altern, Migration, ...
(IKT zur Vermeindung des digital divide)

Österreich [7]

Die Situation in Österreich kann man wohl am besten zusammenfassen: Spät – aber
dafür nur halbherzig. So findet sich folgender Absatz in der Bundesverfassung

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die


Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die
Gleichbehandlung von behinderten Menschen in allen Bereichen des
täglichen Lebens zu gewährleisten.“
Diese zwar positive gemeinte Bestimmung führt noch zu keinem entsprechenden
Rechtsanspruch und wird daher oft als „zahnlos“ bezeichnet.

Im eGovernmentgesetz finden sich konkrete Bestimmungen zur Barrierefreiheit, die bei


neuen Web-Systemen bereits jetzt konkrete Anforderungen wirksam machen und ab
dem Jahr 2008 auf alle öffentlichen Web-Systeme Anwendung finden.

Erst im Sommer 2005 wurde im Nationalrat das Gleichstellungsgesetz


(Behindertengleichstellungsgesetz – BGStG) beschlossen, dass mit Beginn 2006 in
Kraft treten wird. Dieses Gesetz, das viele positive Aspekte mit sich bringt (z.B.
Anerkennung der Gebärdensprache), wird von Behindertenverbänden kritisiert, weil der
für viele Bereiche geforderte einklagbare Rechtsanspruch auf Gleichstellung
abgeschwächt wurde und entsprechende Instrumentarien der Durchsetzung fehlten.

Für weitere Rahmenbedingungen in der EU und in Österreich wird auch die


Lehrveranstaltung „Rechtliches Rahmenbedingungen“ verwiesen, wo die für die Praxis
relevanten Bestimmungen diskutiert werden.

Statistik/Demographie von Behinderung

Die gute Nachricht der Demographie: Wir werden immer älter!

Die schlechte Nachricht der Demographie: Alter ist mit Behinderung verbunden!

Dementsprechend wird Barrierefreiheit und Design for All immer wichtiger. Natürlich ist
das Grundrecht auf Zugänglichkeit, Teilnahme und Partizipation grundsätzlich
unabhängig von Zahlen und gilt allgemein für jeden immer und überall. Dennoch
erreicht Barrierefreiheit eine andere Dimension, wenn man bedenkt, dass ca. 30% der
Bevölkerung davon betroffen sein können. Dies ist sozial/volkswirtschaftlich aber auch
betriebswirtschaftlich von immer größerer Bedeutung.

Seite 45
Barrierefreie Systementwicklung

Die demographischen Daten werden weiter unten bei der Definition von Behinderungen
(Kapitel 8) wiedergegeben!

Volks/Sozialwirtschaftliche Gründe

Die demographischen Daten stellen eine klare Herausforderung an volkswirtschaftliche


und sozialwirtschaftliche Entwicklung. Um Menschen überhaupt in den
Leistungserstellungsprozess zu bringen oder länger darin zu halten und durch
entsprechende Systeme, Produkte und Services die Kosten des Sozialsystems im Griff
zu behalten, sind Bereiche, zu denen IKT und AT und Barrierefreiheit entscheidend
beitragen können. Die folgende Darstellung erläutert diese Wirkung:

Mehr Menschen können unabhängig, selbst bestimmt und länger eigenverantwortlich


agieren und sind weniger auf Unterstützung und fremde Hilfe angewiesen. Es entsteht
in der Bevölkerungspyramide ein positiver Druck „nach oben“: Mehr Menschen haben
keine Probleme, weniger Adaptierungen, weniger AT und vor allem persönliche
Assistenz. Dies ist ein wichtiger Beitrag zur Erhaltung des sozialen Gefüges.

Schlecht Schlecht

Pers. Pers.
Assistenz Assistenz
Fähigkeiten / Fertigkeiten

Fähigkeiten / Fertigkeiten

AT
AT
Adaptierungen

Adaptierungen

Ohne Probleme
Ohne Probleme

Gut Gut

Abb. 14: Knut Nordby: The Usability Pyramide [8]

Betriebswirtschaftliche Gründe

Wir haben ein wichtiges Argument schon angesprochen, das indirekt wirtschaftlich zum
Tragen kommt:

 Politische Rahmenbedingungen: Gesetzliche Rahmenbedingungen formen


auch entsprechende wirtschaftliche Rahmenbedingungen, vor allem wenn man
mit der öffentlichen Hand in wirtschaftlichen Beziehungen steht.

Darüber hinaus gewinnt Barrierefreiheit aus direkten wirtschaftlichen Überlegungen an


Bedeutung:

Seite 46
Barrierefreie Systementwicklung

 CSR – Corporate Social Responsibility: Die Erhaltung des sozialen Gefüges


wird als allgemeine Aufgabe der Gesellschaft verstanden und der Beitrag zum
Erhalt bzw. zur Stützung des sozialen Gefüges wird zu einem Faktor, der im
Wirtschaftsprozess positiv bewertet wird. Investitionen in CSR werden als immer
wichtiger werdender Faktor der Public Relations in einer immer mehr durch
Informations- und Werbungsüberflutung gekennzeichneten Wirtschaft gesehen.
Aktivitäten in CSR schaffen positive Aufmerksamkeit und positives Image. Dies
waren traditionell karitative Aktivitäten. Bei einem durch ein integratives, auf
Bürgerrechten basierendes Verständnis gewinnt Barrierefreiheit - der eigenen
Produkte bzw. die Unterstützung entsprechender Aktivitäten - eine immer
größere Bedeutung und wird zum Faktor für die Kaufentscheidung. Ein wichtiger
Aspekt wird dabei für die Wirtschaft schlagend: Wenn, unabhängig von den
Problemen bei der Festlegung genauer Zahlen, ca. 15 – 20% der Bevölkerung
von Behinderung betroffen sind, bedeutet dies, wenn man die familiären und
sonstigen sozialen Geflechte mitberücksichtigt, dass mehr als die doppelte
Prozentzahl grundsätzlich über dieses Thema ansprechbar ist. CSR – nicht nur
karitativ sondern auch als Barrierefreiheit der eigenen Produkte – kann zum
wirtschaftlichen Erfolg beitragen.

 Größerer Markt, Konvergenz: Ebenfalls angesprochen wurde bereits die


zunehmende Größe der Zielgruppe von Menschen, die ihre speziellen
Bedürfnisse in den Produkten befriedigt sehen möchten. Je besser die Produkte
die Möglichkeiten der Flexibilisierung (siehe Prinzipien Kapitel Einleitung) nutzen,
desto größer ist die Zielgruppe, die mit den Produkten angesprochen werden
können. Eine Orientierung an einem durchschnittlichen oder idealen Typ von
NutzerInnen wird nicht mehr ausreichen. Es gibt eine sich verstärkende Tendenz,
dass NutzerInnen sich nicht mehr für Ihre speziellen Bedürfnisse schämen und
sich stigmatisiert fühlen, Produkte eher nicht nutzen als spezielle Produkte für
„alte“ Menschen oder Menschen mit Behinderungen. NutzerInnen vertreten ihre
Bedürfnisse und formulieren sie als Anforderungen an den Markt. Dies führt und
wird verstärkt führen zu Produkten, die Barrierefreiheit und breite Nutzbarkeit als
Erfolgsfaktor sehen.
So zeigt z.B. eine Marktstudien, dass 30% der FTSE 100 Unternehmen, der
jeweils 100 größten Unternehmen an den großen Börsen der Welt, konkret ältere
und Menschen mit Behinderungen bei der Produktentwicklung als Zielgruppe
berücksichtigen bzw. versuchen sich aktiv in diesem Marktsegment oder in
dieser Kundenschicht zu platzieren. 29% glauben, dass die Alterung der
Bevölkerung einen bedeutenden Einfluss auf ihren Unternehmenserfolg haben
wird. Diese Prozentsätze sind, nachdem sie in den 90er Jahren erstmals
erhoben wurden und bei unter 10% lagen, stark im Steigen begriffen – ein klares
Zeichen für die Etablierung von Barrierefreiheit als Wirtschaftsfaktor.
Es gibt eine Vielzahl von Produkten, deren spezielle Funktionalität zum
allgemeinen Standard wurde. (Siehe Kapitel „Grundsätze des Design for All /
Nutzern für Alle“). Ein weiteres Beispiel mit Folgen für ein Unternehmen:
Oxo International brachte 1990 eine Produktserie “Grips kitchen utensils” auf den
Markt, dass auf vor allem ältere Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen
in der Handhabung von Küchenwerkzeugen (z.B. wegen Arthritis) aufweisen. Die
Produkte wurden zu einem allgemeinen „Schlager“, weil sie allgemein die
ergonomischen Anforderungen und die Nutzbarkeit besser erfüllten.
Grundprinzip der Produkte ist, ergonomisch geformte Griffe (groß, verstellbarer

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Barrierefreie Systementwicklung

Winkel, …) anzubieten. Die Firma wuchs von 1990 – 1995 pro Jahr um 40 – 50
%. Mehr und mehr Firmen folgen diesem Beispiel, Produktdesign nach extremen
Anforderungen auszurichten, die letztendlich in unterschiedlichsten Situationen
positiv bewertet werden. [9]

 Globalisierung: Ein weiterer wichtiger Faktor, der die Entwicklung des


Wirtschaftsfaktors AT und Barrierefreiheit fördert, ist die Internationalisierung und
Globalisierung. Auf den Österreichischen Markt beschränkt werden Produkte
oder Aktivitäten für Gruppen von Menschen mit Behinderungen oft als „nicht
rentabel“ eingestuft. Betrachtet man aber einen internationalen oder globalen
Markt, ändert sich das Bild und macht AT und Barrierefreiheit zu einer
interessanten Nische. Ebenso wie die Berücksichtigung der Bedürfnisse von
Menschen mit Behinderungen wird die Berücksichtigung und Adaptierung and
lokale, soziale, … Bedingungen durch die Flexibilität der IKT und AT unterstützt.

Die hier andiskutierten Gründe unterstreichen den angesprochenen


Transformationsprozess in der Gesellschaft, der Barrierefreiheit zu einem mit der
allgemeinen gesellschaftlichen, sozialen, demographischen, politischen, rechtlichen und
wirtschaftlichen Entwicklung konvergierenden Phänomen machen.

Literatur
[1] Darzentas, J., Miesenberger, K.: Design for All in Information Technology: a Universal
Concern (Keynote), in: Andersen, K., V., Debenham, J., Wagner, R. (eds.): Database and
Expert Systems Applications, 16th Internaitonal Conference, DEXA 2005, Copenhagen,
Denmark, August 2005, Proceedings, Springer LCNS 3588, Berlin/Heidelberg 2005, pp. 406 –
420
[2] Miesenberger, K.: „equality = e-quality" 'design for all' und 'accessibility' als Grundlage
für eine demokratische, offene und inklusive Gesellschaft, in: Feyerer, E.; Pammer, W. (Hrsg.):
Qual-I-tät und Integration, Beiträge zum 8. PraktikerInnenforum, Universitätsverlag Rudolf
Trauner, Linz 2004
[3] Miesenberger, K.: Informatik für Sehgeschädigte, Soziale Aufgabenstellung einer
technischen Disziplin, Dissertation, Universität Linz, 1998
[4] Welch, P. and Palames, C. (1995). A brief history of disability rights legislation in the
United States. In Welch, P. (Ed.), Strategies for teaching universal design. Boston, MA:
Adaptive Environments Center
[5] http://register.consilium.eu.int/pdf/en/03/st05/st05165en03.pdf
[6] http://www.einclusion-eu.org/
[7] www.gleichstellung.at

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Barrierefreie Systementwicklung

[8] Nordby, K.: The Usability Pyramide,


http://www.etsi.org/cce/proceedings/ppt/6_2%20nordby%20visualsupport.ppt
[9] http://www.aging-parents-and-elder-
care.com/Pages/Daily_Living_KitchUtens_1.html

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Barrierefreie Systementwicklung

7. Barrierefreiheit - Wie?
Wie kann man Barrierefreiheit erreichen? Im Englischen spricht man allgemein von
● Pull-Maßnahmen: Anreize für die Umsetzung von Barrierefreiheit
● Push-Maßnahmen: Gesetze, Regelungen und Strafen für diskriminierendes
Verhalten.

Allgemein werden Aktivitäten auf den folgenden Ebenen unternommen, um D4All


umzusetzen, die sowohl Pull- und Push-Charakter haben können:

Bewusstseinsbildung
Informationskampagnen und Aktivitäten auf unterschiedlichsten Ebenen sollen dafür
sorgen, dass D4All greift. Sie erscheinen sowohl für die Realisierung von Gesetzen als
auch für deren Umsetzung, parallel zu Strafen, als unabdingbar. Entscheidend ist, dass
Bewusstseinsbildung nicht punktuell und auf bestimmte Schichten abzielt, sondern
ständig und möglichst breit gemacht wird, damit D4All eben gesellschaftlicher
Grundkonsens werden kann. Anschauliche Materialien und Beispiele und Darstellung
der weitreichenden Konsequenzen von Barrieren sollten verfügbar sein.

Bildung
Das grundsätzliche Verständnis für das Anliegen und die grundsätzliche Bereitschaft
zur Unterstützung erfordert Information über Richtlinien, Techniken und
Vorgehensweisen, um Barrieren zu vermeiden. D4All sollte und muss Eingang in
allgemein Curricula finden und mit Aus- und Fortbildungsmaßnahmen begleitet werden.
Hier sind, neben Anschaulichkeit und Affektivität, Genauigkeit und Regelkonformität von
entscheidender Bedeutung.

Gesetzliche Einflussnahme
Barrieren sind kein „Kavaliersdelikt“, sondern schränken Individuen und Gruppen in
ihren Grund- und Menschenrechten ein. Es ist notwendig, dass betroffene Menschen
nicht in die Rolle der Bittsteller gedrängt werden, sondern Möglichkeiten an die Hand
bekommen, Ihre Rechte durchzusetzen. Wie oben angegeben, sind entsprechende
Regelungen im Entstehen und werden weitreichende Folgen nach sich ziehen, im
Bewußtsein, in der Bildung, in der Umsetzung.

Anreiz und Druck


Die Umsetzung der Gesetze wird durch Anreize (Förderungen, Steuererleichterungen,
...) und Druckmittel erfolgen. Dabei ist der Erhalt eines positiven Bewusstseins zu D4All
sehr wichtig, um den gesellschaftlichen Grundkonsens nicht zu gefährden und D4All als
gesamtgesellschaftlichen Vorteil wirksam werden zu lassen.

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Barrierefreie Systementwicklung

8. Definition von Behinderung


Als Einstieg in den Themenkomplex Assistierende Technologien werden wir uns mit der
Definition und den Arten von Behinderungen auseinandersetzen. Naturgemäß
verzichten wir auf medizinische Details. Es geht uns um eine grundsätzliche
Gliederung, die für die Diskussion der Assistierenden Technologien wichtig wird.

Behinderung ist von anderen Bereichen, vor allem von Krankheiten, die wohl in den
Auswirkungen ähnlich sein können, klar zu unterscheiden, um dem Phänomen gerecht
zu werden zu können. Behinderung zeichnet sich durch zwei wichtige Charakteristika
aus: sie ist

 an/überdauernd, d.h. sie stellt eine tief greifende und endgültige Anforderung zur
Um- und Neuorientierung des Lebens dar und hat damit Auswirkungen auf alle
Lebensbereiche und
 sie unterliegt einer besonderen soziale Situation, einer „Verbesonderung“, die mit
Stigmatisierung, Ausgrenzung, vor geformten Sichtweisen und weiteren soziale
Effekten verbunden ist, die, wegen der Offensichtlichkeit der Behinderung,
unumgänglich und schwer durch das Individuum selbst beeinflusst werden
können.

Wegen dieser Besonderheiten ist es notwendig, in der Definition und Darstellung von
Behinderungen mit besonderer Rücksicht auf die Betroffenen zu agieren.

Behinderung und AT kann man dementsprechend unterscheiden von:


a) (sozial)medizinischen Bereich :
 Prävention
 Diagnostik
 Therapie
b) Rehabilitationsbereich (Nachbehandlung, Wiederherstellung der „Normalität)

Behinderung zeichnet sich eben durch die Tatsache aus, dass die Herstellung der
„Normalität“ nicht mehr möglich ist und damit dementsprechend unterstützende,
integrative Maßnahmen notwendig werden, um Funktionalität z.T. oder vollständig
wieder herzustellen oder die Auswirkungen der Behinderung zu reduzieren und
Teilnahme (Integration) durch Alternative Lösungen möglich zu machen.

Definition

Darin kommt bereits die Schwierigkeit der Definition zum Ausdruck und wir wollen uns
daher in Schritten an eine Definition heranbewegen.

„Wir widmen den Behinderungen viel zu viel Aufmerksamkeit


und beachten viel zu wenig, was intakt oder erhalten geblieben
war. Um einen anderen Ausdruck zu gebrauchen: Wir waren zu
sehr auf „Defektologie“ fixiert ...
Unsere Tests, unsere Ansätze und „Bewertungen“ sind geradezu

Seite 51
Barrierefreie Systementwicklung

unzulänglich ... sie zeigen uns nur die Mängel ... nicht die
Fähigkeiten; sie führen uns Puzzles und Schemata vor, während
es doch darauf ankommt, Musik, Geschichten und Spiele zu
begreifen und zu erkennen, wie ein Mensch sich spontan auf seine
eigene, natürliche Weise beträgt.“
[1]

Wir können diesem Zitat folgend an das Phänomen Behinderung grundsätzlich unter
zwei Betrachtungsweisen herangehen, als

a) ein individuelles, defizit(schadens)orientiertes Problem, das vom Betroffenen


selbst zu verantworten ist und jede Unterstützung mehr oder minder als
„Almosen“ erscheint, oder als
b) ein soziales, fähigkeitenorientiertes Phänomen, das durch die Gestaltung der
Lebenswelt, durch die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Menschen mit
Behinderungen in der allgemeinen Gestaltung der Lebenswelt, gekennzeichnet
ist; hier erscheint Unterstützung als ein gleichberechtigter Anspruch von
BürgerInnen mit Behinderungen auf einen barrierefreien Zugang zur Lebenswelt
und Behinderung als „Diskriminierung“.

Exkurs [vgl.: 2]: Nach GUSTAVSON 97 [3] können wir drei Ansätze der
Definition von Behinderung unterscheiden, die auch als Entwicklungsschritte
verstanden werden können (, die wir zu obigen zwei zusammenfassen):
 Individuum-Mangel-zentrierter Ansatz (epidemological approach):
Behinderung ist dabei ein dem Individuum zurechenbare Erscheinung,
deren Behandlung man an den Mängeln gegenüber einer anscheinend
objektiven, 'normalen' Lebenswelt definiert und gestaltet. Dem isolierten
Mangel wird in nach dementsprechend ausgerichteten („Besonderen“)
Einrichtungen am effizientesten entsprochen. Die Gestaltung der
allgemeinen Umwelt bleibt dabei un-thematisiert. Unterstützung erscheint
als „Almosen“.
 Umweltbezogener Ansatz (adaptability approach): Behinderung wird in
einem systemischen Zusammenhang gestellt. Sie ist das Ergebnis der
Interaktion des Individuums mit seiner Umgebung. Ziel ist dabei, die
Interaktionsmöglichkeiten des Individuums zu optimieren. Behinderung
bleibt ein individuelles Problem, wird aber nicht mehr alleine im
„Sonderbereich“ betrachtet, sondern auch im Bezug auf die allgemeine
Lebenswelt. Die „Normalisierung“, die Anpassung des Individuums an
eine anscheinend nicht veränderbare Umwelt steht im Mittelpunkt. IKT
und AT werden oft als Mittel zur Normalisierung verstanden, die aber an
ihre Grenzen stoßen, wenn die Umwelt nicht entsprechen barrierefrei
gestaltet ist. Letztendlich werden auch IKT und AT noch immer als
„Almosen“ verstanden.
 Sozial-konstruktivistischer Ansatz (social constructionist oder social
meaning approach): Die Emanzipationsbewegung von Menschen mit
Behinderungen führt zu einer Definition von Behinderung als ein durch
die Gesellschaft, durch das alltägliche gestaltende Handeln
hervorgebrachtes Konstrukt. Behinderung liegt im Verantwortungsbereich

Seite 52
Barrierefreie Systementwicklung

aller, stellt den Anspruch auf eine barrierefreie Gestaltung der


Lebenswelt. Jede Barriere, wie zweckrational (Kosten, Aufwand,
Schwierigkeit) sie auch begründet sein mag, ist aktives Gestalten, das
„behindert“. Integration ist demnach kein Almosen mehr, sondern
Anspruch gleichberechtigter BürgerInnen.

Damit bewegen wir uns weg von einem allgemeinen, landläufigen Verständnis von
Behinderung, wie es in den meisten Enzyklopädien vorkommt, dass unter „Behinderten“
aller Altergruppen subsumiert, die durch einen angeborenen oder erworbenen
„gesundheitlichen Schaden“ in der Ausübung der dem Lebensalter und den
„durchschnittlichen“ Funktionen entsprechenden Aufgaben beeinträchtigt sind.

Die vorangegangenen Ausführungen machen uns unmittelbar aufmerksam auf Begriffe


wie
 „Behinderte“, der als stigmatisierend und diskriminierend empfunden wird – man
spricht von „Menschen mit Behinderungen“, weil nicht die Behinderung, sondern
der Mensch im Vordergrund steht
 gesundheitlicher „Schaden“, der Behinderung undifferenziert Krankheit
gleichsetzt und den Schaden in den Mittelpunkt stellt
 „durchschnittlich“, was die Anpassung des Menschen an eine Norm und nicht
die Anpassung der Lebenswelt and die Bedingungen des einzelnen
herausstreicht.

Wie mit jeder Emanzipationsbewegung geht auch mit Integration eine veränderte
Wortwahl einher, die ein verändertes Grundverständnis zum Ausdruck bringen will.
Diese Begriffsdiskussion und -evolution mag als unnötig und überkorrekt erscheinen;
auf alle Fälle sollte sie aber als Ausdruck dieser Emanzipation und Transformation des
Verständnisses von Behinderungen gesehen werden. Als Beispiel die Diskussion aus
http://de.wikipedia.org/wiki/Behinderung:

Es gibt … eine Vielzahl von Definitionen des Behinderungsbegriffs, nicht


zuletzt im ständigen Bemühen, eine (behindernde) Diskriminierung und
Stigmatisierung schon bei der eingesetzten Sprache auszuschließen –
schließlich werden Behinderte in spanischsprachigen Ländern auch heute
noch häufig als „minusválidos“ (Minderwertige) bezeichnet. Mit dem Ziel
einer „Political Correctness“ wurde gar versucht, den Begriff ganz zu
verbannen bzw. durch Euphemismen wie „besondere Befähigung“ oder
„besondere Bedürfnisse“ zu ersetzen. Aus den englischsprachigen Ländern
kommt die begriffliche Umschreibung „people with special needs“
(„Menschen mit besonderen Bedürfnissen“).

Regelmäßig werden im akademischen Diskurs oder von Lobby-


Organisationen einschlägige Begriffe hinsichtlich ihrer Passgenauigkeit oder
aufgrund ihres diskriminierenden Potenzials in Frage gestellt, um sie durch
fortschrittlichere Bezeichnungen zu ersetzen. (Noch) nicht durchgesetzt hat
sich beispielsweise die kognitive Behinderung an Stelle der geistigen
Behinderung. Der ursprünglich mathematische Begriff Inklusion schickt sich
an, die bisherige Integration behinderter Menschen abzulösen, weil er nach
Meinung seiner Befürworter der Gesellschaft eine höhere Verantwortung für

Seite 53
Barrierefreie Systementwicklung

die Einbeziehung betroffener Menschen mit all ihren Eigenarten zuweist,


statt eine Anpassung zu verlangen.

Von den zumeist selbst betroffenen Vertretern der Krüppelbewegung wurde


der Begriff Behinderung dagegen bewusst durch den alten, eigentlich
verpönten Ausdruck „Krüppel“ ersetzt, um damit provozierend auszudrücken,
was nichtbehinderte Menschen nach ihrem Empfinden ohnehin über sie
dachten.

Letztlich ist Pragmatismus bei der Definition spätestens dann notwendig,


wenn Kriterien für die Leistung von Hilfe durch die Gesellschaft festgelegt
werden müssen (z.B. Schwerbehindertenausweis, Eingliederungshilfe,
Rehabilitation, ...). Diese Situation wird in der sonderpädagogischen
Fachdiskussion als Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma bezeichnet.

Auch solche veränderte Begriffe stehen wieder unter Diskussion, wie z.B. der der
„speziellen Bedürfnisse“, weil eben die Bedürfnisse nicht „speziell“ sind, sondern die
Rahmenbedingungen, die Barrieren erzeugen, …

In jedem Fall wird ersichtlich, dass eine differenziertere Definition notwendig ist, um
dem Phänomen Behinderung gerecht werden zu können. Dieser Anforderung ist die
WHO (World Health Organisation) gefolgt und hat eine in Ebenen differenzierende
Definition vorgelegt, die allgemein Annerkennung findet:

Die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) [4]


Klassifikation, die das Leben von Menschen in Bezug zu ihrem gesamten Lebensumfeld
beschreibt. Sie umfasst körperliche Funktionen und Strukturen, Aktivitäten und
(gesellschaftliche) Teilhabe sowie personengebundene Faktoren. Sie liegt unter dem
Titel Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
Gesundheit in deutscher Übersetzung vor.

Abb. 12: Bereiche der ICF Definition [5]

Mit der ICF gelingt es, eine gemeinsame Sprache aller im Bereiche Behinderung und
Lebenswelt beteiligten zu finden. Es ist ein dynamisches, sich veränderndes
Referenzmodell, das die Zusammenschau und interdisziplinäre Diskussion der
individuellen, biologischen, sozialen und technischen Einflussfaktoren ermöglicht.

Die ICF unterscheidet ursprünglich drei Ebenen von Behinderung:

Seite 54
Barrierefreie Systementwicklung

 Impairment = (gesundheitliche) Schädigung der biologischen, physischen,


psychischen Struktur und Funktionsweise (medizinische, anatomische Ebene)
 Disability = Fähigkeitsstörung in der Ausführungen von „üblichen“ Aktivitäten und
der Partizipation an der Gesellschaft3
 Handicap = (soziale) Beeinträchtigung und Auswirkung auf Stellung und Rolle in
der Teilnahme an der Lebenswelt, die sich als Benachteiligung auswirkt

Die ICF hebt Behinderungen von den sie begründenden Faktoren oder Ursachen wie
Krankheit oder Verletzung ab, streicht also klar die Unterscheidung zum medizinischen
und Pflege-Bereich heraus. Dadurch wird – zumindest in der Theorie – eine
medizinische Defizitorientierung überwunden. In ihrer Weiterentwicklung stellt sie noch
expliziter die Umweltfaktoren als Bedingung für Behinderungen in den Mittelpunkt,
indem sie folgende Bereiche definiert (die oberste Ebene der Untergliederung ist zur
Orientierung angegeben):

 Körperfunktionen: physiologischen oder psychischen Funktionen von


Körpersystemen.
Eine Schädigung ist eine Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur im
Sinn einer wesentlichen Abweichung oder eines Verlustes.
Subkategorien:
o Mentale Funktionen
o Sinnesfunktionen und Schmerz
o Stimm- und Sprechfunktionen
o Funktionen des kardiovaskulären, hämatologischen, Immun- und
Atmungssystems
o Funktionen des Verdauungs-, des Stoffwechsel- und des endokrinen
Systems
o Funktionen des Urogenitalen- und reproduktiven Systems
o Neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen
o Funktionen der Haut und der Hautanhangsgebilde

 Körperstrukturen: anatomische Teile des Körpers wie Organe, Gliedmaßen und


ihre Bestandteile. Eine Schädigung ist eine Beeinträchtigung einer
Körperfunktion oder -struktur im Sinn einer wesentlichen Abweichung oder eines
Verlustes.
Subkategorien:
o Strukturen des Nervensystems
o Das Auge, das Ohr und mit diesen in Zusammenhang stehende
Strukturen
o Strukturen, die an der Stimme und dem Sprechen beteiligt sind
o Kapitel 4 Strukturen des kardiovaskulären, des Immun- und des
Atmungssystems
o Mit dem Verdauungs-, Stoffwechsel- und endokrinen System in
Zusammenhang stehende
o Strukturen

3
) In Überarbeitungen in den letzten Jahren wurde die Unterscheidung bei den Fähigkeitsstörungen in
„Aktivität“ und „Partizipation“, wie sie die verwendete Graphik wider gibt, deutlich herausgestrichen. Damit
soll der Blick weg von einer „Schadenszentrierung“ hin zu den trotz einer Behinderung möglichen
Aktivitäten und realisierbare Partizipation herausgestrichen werden.

Seite 55
Barrierefreie Systementwicklung

o Mit dem Urogenital- und Reproduktionssystem im Zusammenhang


stehende Strukturen
o Mit der Bewegung in Zusammenhang stehende Strukturen
o Strukturen der Haut und Hautanhangsgebilde

 Aktivitäten: Durchführung einer Aufgabe oder einer Tätigkeit (Aktion) durch eine
Person.
Eine Beeinträchtigung der Aktivität ist eine Schwierigkeit oder die Unmöglichkeit
für eine Person, die Aktivität durchzuführen.
Subkategorien: Aktivitäten des/der
o Lernen und Wissensanwendung
o Kommunikation
o Elementare Bewegungsaktivitäten sowie Handhabung von
Gegenständern
o Fortbewegung
o Selbstversorgung
o Häusliches Leben
o Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
o Bedeutende Lebensbereiche

 Partizipation: Teilnahme oder Teilhabe einer Person in einen Lebensbereich


bzw. einer Lebenssituation vor dem Hintergrund ihrer körperlichen, geistigen und
seelischen Verfassung, ihrer Körperfunktionen und -strukturen, ihrer Aktivitäten
und ihrer Kontextfaktoren (personbezogene Faktoren und Umweltfaktoren).
Eine Beeinträchtigung der Partizipation ist ein nach Art und Ausmaß
bestehendes Problem einer Person bezüglich ihrer Teilhabe in einen
Lebensbereich bzw. einer Lebenssituation.
Subkategorien: Partizipation an(am)
o Persönlicher Selbstversorgung
o Mobilität
o Informationsaustausch
o Sozialen Beziehungen
o Häuslichem Leben und an der Hilfe für Andere
o Bildung und Ausbildung
o Erwerbsarbeit und Beschäftigung
o Wirtschaftsleben
o Gemeinschaft, sozialem Leben und staatbürgerlichem Leben

 Umweltfaktoren: physikalische, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in


der die Menschen ihr Leben gestalten.
Subkategorien:
o Produkte und Technologien
o Natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt
o Unterstützung und Beziehungen
o Einstellungen
o Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze

Die folgende Übersicht stellt die Beziehung dieser Faktoren dar:

Seite 56
Barrierefreie Systementwicklung

Abb. 12: Beziehung der Einflussfaktoren für Behinderung [5]

Daraus ergibt sich eine viel differenziertere Definition von Behinderung, die der
Komplexität und den verschiedenen Ebenen von Behinderung besser gerecht wird.

Die WHO definiert Behinderung:

„Aufgrund einer Erkrankung, angeborenen Schädigung oder eines Unfalls als Ursache
entsteht ein dauerhafter gesundheitlicher Schaden. Der Schaden führt zu einer
funktionalen Beeinträchtigung der Fähigkeiten und Aktivitäten des/der Betroffenen. Die
soziale Beeinträchtigung (handicap) ist Folge des Schadens und äußert sich in
persönlichen (z.B.: Freizeitaktivitäten, soziale Integration), familiären (z.B.:
wirtschaftliche Belastung) und gesellschaftlichen (zum Beispiel Fürsorgeanspruch)
Konsequenzen.“ [4]

Entsprechend findet man im Österreichischen Gesetzen folgende Definition:

„Behinderte Menschen sind Personen jeglichen Alters, die in einem lebenswichtigen


sozialen Beziehungsfeld körperlich, geistig oder seelisch dauernd wesentlich
beeinträchtigt sind. Ihnen stehen jene Personen gleich, denen eine solche
Beeinträchtigung in absehbarer Zeit droht. Lebenswichtige soziale Beziehungsfelder
sind insbesondere die Bereiche Erziehung, Schulbildung, Erwerbstätigkeit,
Beschäftigung, Kommunikation, Wohnen und Freizeitgestaltung.“
„Behindert sind jene Menschen, denen es ohne Hilfe nicht möglich ist,
– geregelte soziale Beziehungen zu pflegen,
– sinnvolle Beschäftigung zu erlangen und auszuüben und
 angemessenes und ausreichendes Einkommen zu erzielen.“ [6]

Seite 57
Barrierefreie Systementwicklung

Versuchen Sie mit eigenen Worten, Behinderung zu definieren und


diskutieren Sie in der Folge die unterschiedlichen Ebenen von Behinderung,
die in Ihrer Definition angesprochen werden.

Kategorien von Behinderungen

Die notwendige Diskussion um eine umfassende und dem Phänomen gerecht


werdende Definition von Behinderung erspart nicht, eine für die Praxis handhabbare
Kategorisierung der Behinderungsarten vorzunehmen. Barrierefreies Web-Design muss
sich, im Bewusstsein der umfassenden Problematik, auf handhabbare Kategorien
beziehen können. Folgende Kategorisierung hat sich als praktisch gut anwendbar
erwiesen:

 körperliche Behinderung
o Mobilitätsbehinderung
o Motorische/Manipulationsbehinderung
 Sinnesbehinderung
o Sehbehinderung / Blindheit
o Schwerhörigkeit / Gehörlosigkeit
o (Taubblindheit)
 Lernbehinderung, kognitive Beeinträchtigungen
 Sprachbehinderung

Behinderungen können auch als Kombination aus mehreren Ursachen und Folgen
auftreten (Mehrfachbehinderung), oder weitere Probleme zur Folge haben, z.B.
Sprechbehinderung als Folge einer Hörbehinderung.

Diese groben Kategorien werden wir verwenden, um Arten von AT zu diskutieren. Wir
wollen hier nicht näher auf weitere Definitionen eingehen, sondern unmittelbar bei der
Definition der Kategorien von AT die Schwierigkeiten der einzelnen Zielgruppen
darlegen.

Hinsichtlich der Ursachen unterscheidet man


 erworbenen Behinderungen
o durch Geburtsschäden
o durch Krankheiten
o durch Unfälle
o durch Gewalteinwirkung
o durch Alterungsprozesse
 angeborenen Behinderungen
o durch Vererbung
o durch pränatale (vor der Geburt entstandene) Schädigungen

Statistik

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Menschen mit Behinderungen werden als Minderheit verstanden. Sieht man die
Granularität der Bedürfnisse und Kleingruppen, ist dies sicher richtig. Sieht man das
Gesamtbild von Menschen mit Behinderungen, erkennt man die Größe dieser Gruppe
und, in einer alternden Gesellschaft, wie sie die westlichen Staaten heute
gekennzeichnet sind, ihr Wachstum. Aus diesen Gründen wird die Anzahl der
Menschen mit Behinderungen in der Bevölkerung meist unterschätzt und damit auch
die Bedeutung von Barrierefreiheit, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass in
absehbarer Zeit immer mehr Menschen von Behinderungen betroffen sein werden, die
„computerfit“ sind und IKT trotz oder wegen einer Behinderung und/oder Alters nutzen
möchten oder, wegen des Fehlens von Alternativen, nutzen müssen.

Allgemein gilt: Die Lebenserwartung nimmt zu, Beeinträchtigungen und Behinderungen


treten immer früher auf – dies unterstreicht die wachsende Bedeutung von
Barrierefreiheit.

Allgemein ist zu den folgenden Zahlen und zu allen Zahlen über Menschen mit
Behinderungen zu sagen, dass die Darstellungen mehr Schätzungen sind als
unmittelbar für AT ableitbare Zahlen von NutzerInnen. Die Definitionen und
Zählmethoden unterscheiden sich sehr stark in den einzelnen Ländern. Die ICF wird
(noch nicht) als allgemeine Definitionsgrundlage für statistische Daten verwendet. Als
allgemeiner, seriöser Schätzwert hat sich eine Größe ca. 20% von Menschen mit
Behinderungen in der Bevölkerung etabliert, wobei man von 10 – 12 % der Bevölkerung
mit schweren Beeinträchtigungen ausgeht.

Statistik Austria stellt nach Österreichischer Definitionen folgende Zahlen zur Verfügung
[7]:

Tab. 1: Anteil von behinderten Menschen in Österreich


Österreich Bevölkerung 1995 Personen1) %2) Schädigungen3) %4)
Gesamtbevölkerung 7.119 100,0
ohne Behinderung oder chron. Krankheit 4.994 70,1
von Behinderung betroffen / Behinderungen 1.355 19,0 1.595 100,0
Sehschädigung 407 5,7 532 33,4
Hörschädigung 456 6,4 506 31,7
Sprach-/Sprechschädigung 15 0,2 15 1,0
Motorische Schädigung 476 6,7 541 33,9
von chronischer Krankheit betroffen 1.663 23,4 2.556
davon sind sowohl von Behinderung als 877 12,3
auch von chronischen Krankheiten betroffen
(Überlappung)
1) Anzahl der (behinderten) Personen in 1.000;
Bei Mehrfachbehinderung innerhalb einer
Schädigungskategorie erfolgt die Zählung nur
einfach, sonst jedoch mehrfach.
2) Prozentueller Anteil der unter 1) angeführten
Personen an der Gesamtbevölkerung.
3) Gesamtanzahl der registrierten
Schädigungen / chronischen Erkrankungen in
1.000; Zählung jeder einzelnen kategorisierten
Schädigung, daher Summe der Schädigungen
größer als Zahl der behinderten / chronisch
kranken Personen.
4) Prozentueller Anteil der jeweiligen
Schädigung an der Gesamtzahl der
Schädigungen.
Abb. 13: Verteilung der Schädigungen in Österreich [7]
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Tab. 2: Anteil von behinderten Menschen in Europa [9]


EU-12*) Bevölkerung 1992/1995 Personen 1) % 2) % 3)
Gesamtbevölkerung 347.276 100,0
ohne Behinderung 282.285 8 1,3
von Behinderung betroffen 64.991 18,7 100,0
Sehschädigung 8.665 2,5 13,3
Hörschädigung 9.955 2,9 15,3
Sprach-/Sprechschädigung 10.715 3,1 16,5
Intellektuelle Schädigung 8.460 2,4 13,0
Motorische Schädigung 27.195 7,8 41,8
*) EU-12 bezeichnet die 12 Länder der Europäischen Union vor deren Erweiterung
(Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Irland, Italien,
Luxemburg, Niederlande, Portugal und Großbritannien).
1) Anzahl der (behinderten) Personen in 1.000; Bei Mehrfachbehinderung erfolgte zumindest
teilweise Doppelzählung.
2) Prozentueller Anteil der unter 1) angeführten Personen an der Gesamtbevölkerung.
3) Prozentueller Anteil der jeweiligen Schädigung an der Gesamtzahl der Schädigungen.

Weiter Angaben zu Europa (Schätzungen), die einen klaren Bezug zu AT und Nutzen
von barrierefreiem Web Design erlauben bezogen auf 800.000 Mio. Einwohner in
Europa (1995, geographisch) [8]

Tab. 3: Anteil von behinderten Menschen in Europa, Schätzungen


Schädigung / Fähigkeitsstörung Absolut [Mio., gerundet] Anteil [%, gerundet]
schwerhörig 80,0 - 112,0 10,00/14,00
benötigen Gehhilfe 45,0 5,63
intellektuell behindert 30,0 3,75
dyslexisch 25,0 3,13
eingeschränkte Kraft 22,5 2,80
sehbehindert 11,5 1,44
eingeschränkte Koordination 11,5 1,45
hochgradig dyslexisch 8,0 1,00
sprachbehindert 5,6 0,70
benötigen Rollstuhl 2,8 - 8,0 0,35/1,00
sprechbehindert 2,3 - 2,5 0,29 - 0,31
gehörlos 1,1 0,14
blind 1,1 0,14
Finger nicht benutzbar 1,1 0,14
ein Arm nicht benutzbar 1,1 0,14
neuromuskulär geschädigt 0,3 0,04
taubblind (auch teilweise) 0,27 0,03

Tab. 4: Anteil von behinderten Menschen in den USA [8]


US Bevölkerung 1994/95 Personen1) %2)
Gesamtbevölkerung 261.749 100,0
ohne Fähigkeitsstörung 207.842 79,4
von Fähigkeitsstörung betroffen 53.907 20,6
leichte Fähigkeitsstörung 27.939 10,7
schwere Fähigkeitsstörung 25.968 9,9
1) Absolute Anzahl der Personen in 1.000.
2) Prozentueller Anteil an der Gesamtbevölkerung.
Fähigkeitsstörungen – USA Bevölkerung gesamt

Tab. 5: Menschen mit Behinderungen: Weltweite Schätzung [10]


Schädigung Personen [Mio.]

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Blindheit 42 - 45
Hochgradige Sehbehinderung 135 - 150
Gehörlosigkeit 70
Zerebrale Lähmung 15
Diese Zahlen unterstreichen die Bedeutung von AT als Mittel, Menschen (länger)
selbständig und unabhängig und aktiv sein zu lassen. Durch die Alterung der
Gesellschaft wird diese Bedeutung für den Erhalt des Sozialgefüges zunehmen.

In gleicher Weise wie für die obige angeben gilt für die folgenden Gruppen von
Menschen mit Behinderungen, dass diese Zahlen nicht das tatsächliche Bild
wiedergeben. Es existieren Schätzungen, die oft um mehr als 50% von den
angegebenen Werten abweichen. Entsprechende Unterschiede würden auch
Ländervergleiche zeigen. Die Zahlen sollen aber bewusst machen, für wie viele
NutzerInnen Maßnahmen der Barrierefreiheit wichtig sind.

Es wird auch ersichtlich, dass z.T. nur Subgruppen einer Kategorie von diesen
Maßnahmen profitieren, dass Gruppen nur zu bestimmten Zeiten bzw. in bestimmten
Umständen davon Gebrauch machen werden.

Sehbehinderung und Blindheit

Tab. 6: Beeinträchtigtes Sehvermögen in Österreich, 1995 [7]


Sehbeeinträchtigung bzw. Ursache dafür Personen absolut % der Bevölkerung
Grauer Star 115.500 1,6
Kurzsichtigkeit 100.400 1,4
Alterssichtigkeit 95.800 1,4
Weitsichtigkeit 87.000 1,2
Grüner Star 35.000 0,5
Volle Blindheit an einem Auge 30.600 0,4
Farbenblindheit 9.800 0,1
Praktische Blindheit 7.800 0,1
Volle Blindheit an beiden Augen 4.600 0,1

Hörbehinderung und Gehörlosigkeit


Tab. 7: Beeinträchtigtes Hörvermögen in Österreich, 1995 [7]
Hörbeeinträchtigung bzw. Auswirkungen Personen absolut % der Bevölkerung
Schwerhörigkeit an beiden Ohren 177.700 2,5
Schwerhörigkeit an einem Ohr 137.200 1,9
Probleme, einem Gespräch zu folgen 96.300 1,4
Hörgeräusche (Tinnitus) 43.500 0,6
Taubheit an einem Ohr 41.800 0,6
Taubheit an beiden Ohren 9.100 0,1

Mobilitäts- und Motorische Behinderungen


Tab. 6: Bewegungsbeeinträchtigungen in Österreich, 1995 [7]
Bewegungsbeeinträchtigung bzw. Ursache Personen absolut % der Bevölkerung
Ein Bein fehlt 15.200 0,2
Beide Beine fehlen 14.100 0,2
Halbseitige Lähmung 14.000 0,2
Ein Fuß fehlt 10.600 0,1
Beide Füße fehlen 8.200 0,1

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Ein Arm fehlt 6.900 0,1


Querschnittlähmung 4.100 0,1
leichte Bewegungsbeeinträchtigung 49.700 0,7
mittlere Bewegungsbeeinträchtigung 226.600 3,2
schwere Bewegungsbeeinträchtigung 199.600 2,8

Chronische Erkrankungen
Tab. 6: Chronische Krankheiten in Österreich, 1995 [7]
Chronische Krankheiten Personen absolut % der Bevölkerung
Wirbelsäulenschäden 563.300 7,9
Hoher Blutdruck (Hypertonie) 324.200 4,6
Rheuma, Gicht, Ischias 290.700 4,1
Allergie 238.300 3,4
Durchblutungsstörungen 221.400 3,1
Herzkrankheiten 182.900 2,6
Niederer Blutdruck (Hypotonie) 140.200 2,0
Asthma 139.500 2,0
Zuckerkrankheit (Diabetes) 117.100 1,6
Schlaganfall 53.800 0,8
Hautkrankheit 48.100 0,7
Sprechstörungen 15.400 0,2

Literatur
[1] Sacks Oliver: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte; Rowohlt
Taschenbuch Verlag, Hamburg, BRD, 1998
[2] Miesenberger, K.: Informatik für Sehgeschädigte, Soziale Aufgabenstellung einer
technischen Disziplin, Dissertation, Universität Linz, 1998
[3] Gustavson, A.; Zakrzewska-Materys, E.: Social Definitions of Disability, Wydawnictwo
"Zak", Warszawa 1997
[4] http://www3.who.int/icf/
[5] http://www.icf-schaufling.de/
[6] Bundesministerium für Sicherheit und Generationen (2003): Bericht über die Lage der
behinderten Menschen in Österreich.
[7] http://www.statistik.at/
[8] Zagler, W.: Habilitationsschrift, Wien 2004, S. A209
[9] http://epp.eurostat.cec.eu.int/
[10] www.who.org

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9. Definition von Assistierenden Technologien


Definition von AT

Technische Hilfen (für behinderte Menschen) werden in dieser Norm definiert als

„Produkte, Geräte, Ausrüstungen oder technische Systeme, die von


behinderten Menschen benutzt werden, seien sie Sonderanfertigungen oder
allgemein verfügbar, die Schädigung, Fähigkeitsstörung oder
Beeinträchtigung verhindern, ausgleichen, überwachen, erleichtern oder
neutralisieren“. [1]

Demnach können wir unterscheiden:

AT i.w.S. unterscheidet sich grundsätzlich nicht von allen anderen Werkzeugen, die
man einsetzt, um Aufgaben zu erfüllen. Das definitorische Merkmal von "assistierend" in
diesem Zusammenhang ist, dass diese technischen Hilfsmittel Menschen mit
Behinderungen helfen, Einschränkungen in der Erfüllung einer allgemein geforderten
Aufgabe zu überwinden. Jedes alltägliche Werkzeuge kann demnach auch
assistierenden Charakter haben, z.B.:

Ein automatischer Türöffner ist allgemein ein willkommenes Werkzeug, um


schneller und einfacher in einen Raum zu kommen. Für mobilitätsbehinderte
Menschen, die nicht in der Lage sind, eine Tür eigenständig zu öffnen, ist der
automatische Türöffner AT, die ihm ermöglicht, eigenständig, selbstbestimmt und
unabhängig von fremder Hilfe in ein Gebäude / einen Raum zu gelangen.
Textverarbeitung ist ein heute von nahezu jedem verwendetes Werkzeug. Für
Menschen mit Behinderungen, die nicht in der Lage sind, Papier und Bleistift zu
verwenden (z.B. blinde, sehbehinderte, mobilitätsbehinderte Menschen).
Allgemein ist Textverarbeitung für die Funktion des Erfassens und Vermittelns von
Text eine effiziente Alternative mit vielen zusätzlichen Funktionen. Für Menschen
mit Behinderungen ist Textverarbeitung oft eine erstmalige Möglichkeit,
eigenständig und für andere nutzbar Texte zu erfassen. In diesem Kontext erfüllt
die Textverarbeitung assistierende Funktionen.

Diese einfachen Beispiele zeigen, dass nahezu jedes alltägliche Werkzeug


assistierende Funktionen übernehmen kann. Als AT i.w.S erhält es einen veränderten
Anwendungszusammenhang und muss unterschiedliche Anforderungen erfüllen.

Diskutieren Sie weitere Beispiele von AT i.w.S.

AT i.e.S. im Gegensatz dazu meint spezielle Werkzeuge, die eigens zur Überwindung
der Einschränkung in der Erfüllung einer Funktionalität eines Menschen wegen einer
Behinderung dienen, z.B.:

Der Rollstuhl eines mobilitätsbehinderten Menschen


Das Brailledisplay eines blinden Menschen

Seite 63
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Diese Unterscheidung, die sich auf das Merkmal einer allgemeinen und/oder speziellen
Nutzbarkeit bezieht, bleibt wie jede Definition von AT ungenau und vage.

Ein weiteres definitorisches Merkmal ist, dass es sich um technische, durch Materialien
oder Apparaturen realisierte Hilfestellungen handelt, nicht durch Menschen oder Tiere
realisierte. Natürlich ist AT sehr oft Teil eines umfassenden Unterstützungs- und
Servicesystems, dass primär auf persönlicher Assistenz beruhen kann.

AT kann High- oder LowTech sein – die Schnur an der Tür zum leichtern öffnen, der
Mundstab oder eben der PC oder die Umgebungssteuerung über Sprachbefehle.

Kategorien von AT

Die Europäische Norm EN ISO 9999 mit dem Titel „Technische Hilfen für behinderte
Menschen - Klassifikation und Terminologie“ [http://www.iso.ch/iso/en/] ist eine
internationale Hilfsmittel-Klassifikation, die im Format einer Norm erscheint.

Herausgeber ist die Internationale Organisation für Normung (ISO) und dessen
Technisches Komitee ISO/TC 173. Die ursprüngliche "ISO 9999" wurde vom
Europäisches Komitee für Normung (CEN) in eine Europäische Norm (EN) mit gleicher
Nummer überführt. Einzelne Länder haben diese Norm in nationale Normen übergeführt
(z.B. DIN EN ISO 9999, ÖNORM EN ISO 9999)

Die Klassifikation bietet einen Überblick über Produkte, die als Hilfsmittel für behinderte
Menschen eingesetzt werden. Zusätzlich wird mit dieser Klassifikation eine einheitliche
Terminologie geschaffen. Die Klassifikation wird laufend an neue technische
Entwicklungen und Erfordernisse angepasst. Dementsprechend ist das
Nummerierungssystem auch offen und „löchrig“ für Erweiterungen.

Die ISO 9999 führt drei Hierarchieebenen ein, um AT zu klassifizieren:


Klassen
Subklassen
Divisionen

Auf der obersten Ebene werden 11 Klassen definiert:


04 Hilfsmittel für die persönliche medizinische Behandlung, einschließlich Hilfen für
die Verbesserung, Überwachung oder Aufrechterhaltung des
Gesundheitszustandes eines Menschen
05 Hilfsmittel für das Training von Fähigkeiten, einschließlich Hilfen für die
Verbesserung der körperlichen, geistigen und sozialen Fähigkeiten eines
Menschen“.
06 Orthesen und Prothesen
09 Hilfsmittel zur persönlichen Versorgung und Sicherheit
12 Hilfsmittel für die individuelle Mobilität
15 Hilfsmittel im Haushalt
18 Mobiliar und Hilfen zur behindertengerechten Gestaltung von Wohnungen und
anderen Baulichkeiten
21 Hilfsmittel für Kommunikation, Information und Signalgebung
24 Hilfsmittel zur Handhabung von Gegenständen und Geräten

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27 Hilfsmittel und Geräte für eine Verbesserung der Umgebungseinflüsse,


Werkzeuge und Maschinen
30 Hilfsmittel für die Erholung

Die Kodierung der Klassen in der linken Spalte wird in die Klassifizierung in die
Suklassen und Divisionen mitgenommen und entsprechend erweitert. Die folgende
Tabelle gibt die Subklassen von 21 wieder, wobei sie sich in der Division auf 2 typische
Beispiele beschränkt.

Beispiel ISO 9999, Klasse 21, Hilfen für Kommunikation, Information und Signalgebung

Für jede Hilfsmittelart wird eine sechsstellige „ISO-Nummer“ mit drei hierarchischen
Gliederungsebenen vergeben. Die Klassifizierung eines speziellen, vergrößerten

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Keyboards für mobilitätsbehinderte Menschen würde demnach 21 09 07 lauten. Die


Klassifikation dieser Norm basiert auf der jeweiligen Funktion der Produkte.

Eine umfangreiche Übersicht über Einzelprodukte nach dieser Klassifikation wird von
der Datenbank Rehadat des Institut der deutschen Wirtschaft in Köln geboten [2].

Suchen Sie in der ISO 9999 die Nummer für Rollstühle

Wirkungsweisen von AT [vgl.: 1]

Assistierenden Technologien (AT) kommt eine Vermittlerrolle zu zwischen


 einer Person und
 der Erfüllung einer Funktion/Aufgabe

zu. Sie hat zum Ziel


 die Funktionserfüllung wieder herzustellen
 die Auswirkungen zu überwinden
 Barrieren zu beseitigen oder
 als Vertretung zu fungieren

AT wirkt dabei bidirektional


 vom Mensch zur Umwelt
 von der Umwelt zum Mensch

Dabei wirkt AT auf drei unterschiedliche Arten:


 verstärkende Hilfsmittel
 einfügende Hilfsmittel
 ersetzende Hilfsmittel

Verstärkende Hilfsmittel

Verstärkenden Hilfsmitteln verstärken einen Reiz (eine Aktion) derart, dass dieser
(diese) auch von einem in seiner Leistung verminderten Organ wahrgenommen
(ausgeführt) werden kann. Die folgende Abbildung verdeutlicht diese Wirkungsweise.
Beispiel. Der eintreffende Sinnesreiz kann von der behinderten Person wegen einer
Schädigung des betreffenden Sinnesorgans nur in abgeschwächter Form
wahrgenommen werden. Die Aufgabe des mit H bezeichneten Hilfsmittels ist es, den
eintreffenden Reiz in geeigneter Weise so zu verstärken, dass er möglichst mit jener
Intensität wahrgenommen werden kann, mit der ihn auch eine nicht behinderte Person
empfunden hätte.
Beispiele für augmentative Hilfsmittel sind Hörgeräte und Brillen.

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Funktionsweise eines augmentativen (verstärkenden) Hilfsmittels [1]

Nennen Sie weitere Beispiele für verstärkende Hilfsmittel.

Einfügende Hilfsmittel

Einfügenden Hilfsmitteln ersetzen bzw. überbrücken eine unterbrochene


Funktionskette, wobei der Reiz (die Aktion) jedoch wieder dem ursprünglichen Organ
bzw. dessen Nervenbahnen zugeführt werden.
Die Graphik in Abb. B 1.2 stellt eine Person dar, die wegen eines vollständigen
Funktionsausfalles des betreffenden Sinnesorgans nicht in der Lage ist, einen Reiz
wahrzunehmen, egal ob dieser in üblicher oder in verstärkter Weise angeboten wird.
Die Aufgabe des Hilfsmittels H ist es, den Reiz um die defekte Stelle so herumzuleiten,
dass durch eine Stimulation der später liegenden Nervenbahnen ein Eindruck
hervorgerufen wird, der den Auswirkungen des ursprünglichen Reizes möglichst nahe
kommt.
Beispiele für inserierende Hilfsmittel sind Cochlea Implantate und funktionelle
Elektrostimulation.

Funktionsweise eines inserierenden (einfügenden) Hilfsmittels [1]

Nennen Sie weitere Beispiele für einfügende Hilfsmittel.

Substituierende (ersetzende) Hilfsmittel

Substituierend Hilfsmittel ersetzen eine Reiz oder eine Aktion auf einen anderen Reiz
oder eine andere Funktion. Es wird eine möglichst äquivalente Alternative angeboten.
Die Abbildung zeigt eine Person, die optische Reize zufolge Blindheit nicht
wahrnehmen kann. Das in der mittleren Graphik dargestellte Hilfsmittel H wandelt den
optischen Reiz in geeigneter Weise in einen akustischen Reiz um und leitet ihn zum
Gehör der blinden Person. In ähnlicher Weise zeigt die rechte Darstellung
Beispiele für substituierende Hilfsmittel sind die Verwendung von Blindenschrift, die
anstelle der Augen mit den Fingerspitzen gelesen wird, und das Lippenlesen, bei dem
die Augen Aufgaben übernehmen, die in der Regel von den Ohren wahrgenommen
werden.

Seite 67
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Funktionsweise eines substituierenden (ersetzenden) Hilfsmittels

Wir werden nun in der Folge eine Übersicht geben über AT, die sich auf den Bereich
der MMK konzentriert und damit unmittelbar für barrierefreies Web Design wichtig wird,
weil sie die zentralen Kriterien definieren.

Wir werden dabei die differenzierte Gliederung von Behinderungen, der Handhabbarkeit
wegen, auf 4 Hauptzielgruppen reduzieren und auf eine Kategorisierung nach ISO
verzichten. Die Übersicht ist demnach nicht vollständig.

Ebenso beschreiben wir erst hier – und nicht bei der Definition – die
Behindertengruppen und vor allem die daraus entstehenden Bedürfnisse and der MMK.
Dies soll ein Verstehen der Anforderungen erleichtern.

Literatur

1. Zagler, W.: Habilitationsschrift, Wien 2004, S. A209


2. www.rehadat.de

Seite 68
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10. AT für Menschen mit Sehbehinderungen


Sehen, der „Gesichtssinn“ ist das zentrale Sinnesorgan des Menschen. Ein teilweiser
oder totaler Ausfall des Sehsinnes verlangt weitgehende Maßnahmen, um die
Integration und die Teilnahme an der Gesellschaft zu ermöglichen.

Arten von Sehbehinderungen

Auge [http://de.wikipedia.org/wiki/Auge] und Netzhaut [http://www.egbeck.de/skripten/12/bs12-


36.htm]

Medizinisch definiert man Sehbehinderung (eine nicht einfach durch Optik korrigierbare
Verminderung der Sehleistung) wie folgt:

Sehbeeinträchtigung
Gröbere einseitige Sehbeeinträchtigung Mäßige beidseitige Sehbeeinträchtigung
1/1 auf einem Auge,
1/3 bis 0 auf dem anderen Auge 9/10 bis 1/3

Wesentliche Sehbehinderung
Sehbehinderung Hochgradige Sehbehinderung
1/30 bis 1/20 1/20 bis 1/50

Blindheit
1/50 bis 0

[1]

Es gibt viele Arten von Sehbeeinträchtigungen, welche einzeln oder in Kombinationen


auftreten können. Eine Gliederung der Ursachen ist zum Beispiel nach folgenden
Punkten möglich. Ursachen können dabei in den Augen, in den Nervenbahnen und im
Kortex liegen:

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Kurz- / Weitsichtigkeit:
Bei der Kurzsichtigkeit, in der Fachsprache bekannt als Myopie (griechisch: myein -
blinzeln), kann man weit entfernte Objekte schlechter sehen als nahe gelegene. Sie ist
eine Form der Fehlsichtigkeit und das Gegenteil der Weitsichtigkeit.
Kurzsichtigkeit stellt meistens keinen krankhaften Prozess dar. Die Ursache ist vielmehr
ein absolut beziehungsweise in Relation zur Brechkraft zu langer Augapfel. Der
Brennpunkt liegt dadurch für alle Strahlen ab einer bestimmten Entfernung (die vom
Ausmaß der Kurzsichtigkeit abhängt) vor der Netzhaut, das heißt, die Strahlen werden,
auch wenn die Linse auf ihre minimale Brechkraft eingestellt ist, zu stark gebündelt.
Gegenstände, die außerhalb dieses Bereiches liegen, können dadurch nicht mehr
scharf abgebildet werden.
Die Kurzsichtigkeit kann durch Brille oder Kontaktlinsen mit negativen Dioptrien
korrigiert werden. Seit etwa 1984 ist auch eine chirurgische Korrektur möglich, zum
Beispiel mit Hilfe eines Laser (refraktive Chirurgie). Eine Veränderung der
Augapfellänge durch so genanntes "Augentraining" konnte nicht nachgewiesen werden
und wird deswegen von der wissenschaftlichen Medizin abgelehnt.
Bei Kurzsichtigkeit besteht ein erhöhtes Risiko für eine Netzhautablösung und andere
krankhafte Veränderungen, so dass regelmäßige augenärztliche Kontrollen erforderlich
sind.
Als Ursachen kommen zwei prinzipielle Formen der Kurzsichtigkeit in Frage: Die so
genannte Brechungsmyopie bei normaler Augenlänge, aber zu starker Brechkraft, und
die so genannte Achsenmyopie bei normaler Brechkraft, aber zu langer Augenachse.

Kurzsichtigkeit und Weitsichtigkeit [2]

Bei der Weitsichtigkeit, in der medizinischen Fachsprache als Übersichtigkeit,


Hyperopie oder Hypermetropie bezeichnet, ist der Augapfel relativ zu kurz
beziehungsweise der Brechwert der Linse des Augens relativ zu groß. Das führt dazu,
dass die eintreffenden Lichtstrahlen hinter der Netzhaut gebündelt würden und das Bild
dadurch nicht scharf gesehen wird. Sie ist eine Form der Fehlsichtigkeit und das
Gegenteil der Kurzsichtigkeit.
Durch Anpassung der Brechkraft der Linse kann die Weitsichtigkeit in jüngeren Jahren
durch Akkommodation ausgeglichen werden. Diese Fähigkeit geht jedoch mit Zunahme
der Alterssichtigkeit verloren.
Sie kann durch eine Brille oder auch durch Kontaktlinsen, die die Brechkraft verändern
korrigiert werden. In den letzten Jahren ist auch eine Behandlung durch einen
chirurgischen Eingriff mittels eines Lasers möglich geworden, siehe Fehlsichtigkeit.

Gesichtsfeldausfall:
Werden z.B. durch folgende Ursachen ausgelöst [3]

o Makula-Degeneration

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Bei dieser Krankheit geht die zentrale Sehschärfe des Auges


verloren. Es können auch beide Augen erkranken. Die Makula
– auch „gelber Fleck“ genannt – liegt in einem kleinen
Netzhautareal in der Mitte des Augenhintergrundes. Dieser
nur wenige Millimeter große Fleck befähigt zum zentralen
Sehen und damit zu den wichtigsten Sehleistungen: Lesen,
Erkennen von feinen Einzelheiten und Unterscheiden von
Farben. Die übrige Netzhaut nimmt nur Umrisse und Hell-
Dunkel-Kontraste wahr. In der gesunden Makula gibt es keine
Blutgefäße. Formular bei
Es herrscht trotzdem ein reger Stoffwechsel, dessen Normalsichtigkeit
Abbauprodukte von der darunter liegenden Gewebeschicht,
dem Pigmentepithel, entsorgt werden. Lässt diese Leistung
nach, sieht man in der Mitte des Gesichtsfeldes
verschwommen, verzerrt oder nur noch einen dunklen Fleck.
Das periphere Gesichtsfeld bleibt erhalten. Das bedeutet zum
Beispiel, dass zwar eine Bahnhofsuhr gesehen, die Uhrzeit
aber nicht erkannt werden kann. Die Chancen für eine Heilung
sind bisher gering.

o Diabetische Retinopathie
Mit dem starken Ansteigen der Wohlstandskrankheit Diabetes
Formular bie Makula
mellitus kommt es zwangsläufig auch vermehrt zu einer
Degeneration
Schädigung der Augen durch die Diabetische Retinopathie.
Bei dauernd erhöhten Blutzuckerwerten lagern sich im Auge
Fett- und Eiweißstoffe in den empfindlichen Gefäßwänden ein,
die dadurch brüchig werden und platzen können. Dies macht
sich für den Betroffenen durch Gesichtsfeldausfälle
bemerkbar. Eine Behandlung dieser Sehschädigung ist durch
Laser- und Kältetherapie nur sehr bedingt möglich. Deshalb
genießen vorbeugende Maßnahmen hier höchste Priorität:
optimale Einstellung des Blutzuckerwertes
Blutdruckwerte von 85/130 mm/Hg
nicht rauchen
Formular bei Diabetischer
o Retinitis Pigmentosa (Tunnelblick) Retinopathie
Bei der Retinopathia Pigmentosa, die umgangssprachlich
meist als „Retinitis Pigmentosa" bezeichnet wird, handelt es
sich um eine Gruppe erblich bedingter Netzhauterkrankungen.
Erste Anzeichen sind in jungen Jahren vor allem oft
o Nachtblindheit, sog. Sehverlust bereits in der
Dämmerung,
o Schwierigkeiten bei der Hell-Dunkel-Anpassung und
umgekehrt,
o Blendempfindlichkeit.
Im fortgeschrittenen Stadium wird das Sehfeld, das beim
gesunden Auge etwa 120/180 Grad beträgt, oft auf einen
kleinen Bereich von nur wenigen Grad eingeschränkt, so dass
man nur noch wie durch eine Röhre oder einen Tunnel sehen Formular bei Retinitis
Pigmentosa
kann. Dies macht dann eine optische Orientierung praktisch

Seite 71
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unmöglich. Nachdem es eine Therapie gegen die Ursachen der


RP noch nicht gibt, setzt man künftig auf die Entwicklung von
sog. Netzhaut-Implantaten (Retina-Implant). Einige
Forschungsprojekte hierzu sind bereits angelaufen. Jedoch sind
hier schnelle Erfolge noch nicht in Sicht.

Farbsinn-Störungen
Das für den Menschen sichtbare Lichtspektrum reicht von etwa Formular aus Sicht Grauer
400 bis 700 nm. Wenn Licht auf einen Gegenstand fällt, Star
absorbiert dieser einen Teil, der Rest wird reflektiert. Dieses
remittierte Licht gelangt in unser Auge, wo mit Hilfe der sogenannten Stäbchen (engl.
"rods") und Zapfen (engl. "cones") der Eindruck von Farbe entsteht.
 Stäbchen
Die Stäbchen sind für die Grauwerte zuständig. Beim Fehlen oder einer
Funktionsstörung der Stäbchen spricht man von so
genannter Nachtblindheit.
 Zapfen
Es gibt drei verschiedene Rezeptoren:
 Rezeptor für Rot - zuständig für den Rotbereich
des sichtbaren Farbspektrumsfür große
Wellenlänge Farbsinnstörungen
 Rezeptor für Grün - für mittlere Wellenlänge
 Rezeptor für Blau - für kurze Wellenlänge
Bei der Überlagerung dieser Grundfarben kommt es zum farbigen Sehen.
Ist eine der drei Rezeptorarten teilweise oder sogar total funktionsunfähig, spricht man
von abnormaler Farbensicht. Je nachdem, welche Rezeptoren betroffen sind,
unterscheidet man drei Arten:
 Protan-Störungen = Störungen der Wahrnehmung im roten Spektralbereich
Protonomalie: teilweiser Funktionsausfall
Protanopie: totaler Funktionsausfall
Deutan-Störungen = Störungen der Wahrnehmung im grünen Spektralbereich
Deuteranomalie: teilweiser Funktionsausfall
Deuteranopie: totaler Funktionsausfall
 Tritan-Störungen = Störungen der Wahrnehmung im blauen Spektralbereich
Tritanomalie: teilweiser Funktionsausfall
Tritanopie: totaler Funktionsausfall
Protan- und Deutan-Störungen werden gebunden an das X-Chromosom vererbt. Von
Protan- und Deutanstörungen sind ca. 10% der männl. Bevölkerung betroffen und nur
1% der weiblichen.
Die Tritanstörung ist äußerst selten und kann nicht durch normale Farbsehtests
bestimmt werden.
Treten bei einer Person alle 3 Störungen gemeinsam auf, so ist keine
Farbwahrnehmung möglich.

Linsentrübung: Grauer Star (Katarakt)


Beim Grauen Star trübt sich vor allem in den späteren Lebensjahren die Linse, ein
wichtiges Organ des „Augen-Objektivs“. Es entsteht der Eindruck eines
verschwommenen bzw. verschleierten Bildes und die Sehkraft wird dadurch natürlich
stark eingeschränkt. Zum Glück gibt es heute die Möglichkeit, mittels eines kleinen

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operativen Eingriffs die getrübte Linse durch eine Kunststofflinse auszutauschen,


wodurch in den meisten Fällen die Sehkraft wieder hergestellt werden kann. Falls eine
Operation nicht in Frage kommt, werden vergrößernde Sehhilfen wie Lupen,
Bildschirmlesegeräte o.ä. eingesetzt. [3]

Augeninnendruckfehler: Grüner Star (Glaukom)


Unter dem Begriff „Grüner Star“ (Glaukom) werden
verschiedene Augenkrankheiten zusammengefasst, die mit
einer Augeninnerdruckerhöhung einhergehen. Üblicherweise
liegt bei Erwachsenen der Augeninnendruck bei etwa 15 -
20 mm/Hg. Ist dieser Wert stark erhöht, führt dies zu einer
irreparablen Schädigung des Sehnervs, die sich durch
Gesichtsfeldausfälle bemerkbar macht. Es wird daher eine
regelmäßige Untersuchung des Augeninnendrucks empfohlen. Formular aus Sicht Grüner
Star
Um ein Fortschreiten der Krankheit zu verhindern, kommen
entweder Medikamente oder eine Operation in Frage. [3]

Methoden

Sehbehinderte Menschen arbeiten mit einem in Größe, Farbe (Kontrast), Schriftart


(Sehriefenlose Schriften), Linienart (durchgezogenen, strichliiert, punktiert,
strichpunktiert), Schraffierung, Abstand und Anordnung angepassten Bildschirminhalt.
Bei leichten Sehbehinderungen entsteht kein großer Bedarf einer Spezialisierung.
Anpassungen der Einstellungen für die Darstellung im Betriebssystem führen zu der
gewünschten Verbesserung der Nutzbarkeit.
Bei schweren Beeinträchtigungen der Sehleistung, die eine Vergrößerung um ein mehr
als das 3-5fache erfordern, wird die Navigation und die Orientierung am Bildschirm sehr
schwierig.
Zusätzlich wird bei stärkeren Sehbehinderungen das Verwenden der Maus schwierig
(z.B. Hand/Augenkoordination, Verfolgen des Mauscursors) und daher ist ein direktes
Erreichen der Interface Elemente mittels ShortCuts effizienter. Dementsprechend
müssen Unterlagen zum Arbeiten am Computer als auch Informationssysteme adaptiert
werden und diese sonst oft ausgelassenen Steuerungsmechanismen berücksichtigt
werden.
Für die Unterrichtssituation ist es notwendig, dass die/der TrainerIn diese speziellen
Methoden kennen und den Vortrag der Inhalte auf ShortCuts hin orientieren. Das
"Aussprechen" all dessen, was man tut, ist von zentraler Bedeutung.

In der Folge finden sie Beispiele von AT, die z.T. Standardtechnologie, Adaptierungen
von herkömmlicher IKT, (die z.T. für die Zielgruppe zuerst entwickelt wurde) oder
spezielle AT – low/high oder no-tech.

Diese Liste ist nicht vollständig. Die Flexibilität der IKT führt zu immer neuen AT-
Anwendungen allgemeiner IKT oder speziellen ATs.

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Tastaturaufkleber Tastaturbeschriftung

Höherer Kontrast, vergrößerte Schrift, Höherer Kontrast, vergrößerte Schrift,


unterschiedliche Farben und Schriftarten unterschiedliche Farben und Schriftarten

Tastenmarkierung Wheel Maus

Taktile Markierung von bestimmten Tasten Scrollen mit dem Rad (kein Bewegen der Maus
zum Scrollbar – für sehbehinderte Menschen
zuerst entwickelt!)

Großer Bildschirm Verstellbare Kaltlichtlampe

Vergrößerung der Inhalte


Anpassung an die Haltung, Vermeindung von
Blendung durch starke Reduktion des
Infrarotanteils im Licht

Vorlagenhalterung Bildschimrlesegerät, CCTV (Close Circuit


Television system /Video Magnifier)

Für bessere Ergonomie beim Schreiben Vergrößerung gedruckter Vorlagen; Funktionen


für Kontrast, Farbfilter, Leuchtstärke, …

Lupe, Lupenbrille, Fernrohrbrille, Aufnahmegeräte


Videokameras

Für das Erkennen von weit entfernten


Objekten Für das Erstellen auditiver Mitschriften

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Sprachausgabe Vergrößerungssoftware

(siehe Exkurs: blinde Menschen) (Siehe folgenden Exkurs)

Scanner OCR

Exkurs Vergrößerungsprogramm

Vergrößerungsprogramme bieten Menschen mit Sehbehinderungen Möglichkeiten, die


Darstellung der Inhalte am Bildschirm flexibel an für sie bzw. für eine Situation oder
Aufgabenstellung optimale Bedingungen anzupassen. Dafür stellen diese Programme
folgende Funktionalitäten zur Verfügung
 Vergrößerung: Vergrößerung der Element bis zum 32fachen oder mehr mit
Glättungsfunktionen
 Vergrößerungsmodi: gesamter Schirm, Lupe, Zeile, geteilter Schirm, Fenster
 Farbeinstellungen: Auswahl Farben für Bildschirmelemente, voreingestellte
Farb/Kontrastschemata
 Farbfilter (z.B. bei Farbblindheit bestimmte Farben immer ersetzen)
 Helligkeit- und Kontrasteinstellungen
 Funktionen zur besseren Orientierung auf einem vergrößerten und daher nur im
Ausschnitt sichtbaren Bildschirm: Zeilenumbruchfunktionen, Überblicksmodi
(„welchen Ausschnitt sehe ich!), Textlauf in unterschiedlichen
Geschwindigkeiten, Sprungmarken zum
schnellen Auffinden von Bereichen am
Bildschirm)
 Änderung der Schriftart (Sehriefenlose
Schriften)
 Steuerungsfunktionen
 Mauspointer
Vergrößerung/Farbanpassung
 Navigationsfunktionen im Text
(Link/Überschriftenlisten)
 Sprachausgabe
 Profile!
Userinterface Supernova
Grundsätzlich sind viele dieser Funktionalitäten

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im Betriebssystem oder bei anderen Programmen verfügbar (z.B. Sprachausgabe). Die


Anbieter versuchen aber, in ihren, wegen der ursprünglichen Funktionalität noch immer
„Vergrößerungsprogramme“ genannten Produkte alle für sehbehinderte
ComputernutzerInnen wichtige Funktionen zu vereinen und durch ein einheitliches und
durchgängiges Interface die Nutzbarkeit zu erleichtern.

Diese Programme unterstützen alle standardmäßig verfügbaren Bedienungsmodi


 Menü
 Hotkeys
 Kommandozeile
Beispiele für Produkte am Markt:
 Zoomtext – ai2 http://www.aisquared.com/
 Luna – Dolphin http://www.dolphinuk.co.uk/
 Supernova – Dolpin http://www.dolphinuk.co.uk/
 Galileo – Baum http://www.baum.at
 Magic – HentaJoice http://www.hj.com

Literatur
1. http://www.aaonline.dkf.de/bb/p353.htm
2. http://www.ch.cibavision.com/linsen/sehfehler.html
3. Sehbehinderungs-Simulator des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins
Berlin, http://www.absv.de/sbs

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11. AT für blinde Menschen


Blindheit wurde bereits als schwerste Form der Sehbehinderung in Kapitel 8. definiert.
Als Folge des vollkommenen Ausfalls des visuellen Sinnes bedarf es sehr alternativer
(substituierender) Darstellungen der Information.

Methoden

Blinde Menschen nutzen als Alternativen zum Bildschirm


1. Braille: Braille ist eine Notation, mittels derer Zeichensätze als Punktmuster
dargestellt werden können und über den Tastsinn ertastet werden können.
Brailledisplays sind Geräte, die den Text und textliche Beschreibungen der Inhalte
des Bildschirms in Blindenschrift darstellen können. Mittels Stiften, die gehoben
werden (Piezo elektronische Elemete), werden die unterschiedlichen Zeichen der
Blindenschrift dargestellt

Brailledruck, -display, schreibmaschine [1]

Weiters existieren Drucker, mit denen Brailleschrift in Papier gestanzt werden kann.
Brailleschreibmaschinen und Stiftplatten waren Vorläufer der modernen, IKT
basierten Braille-Bildschirme
2. Sprachausgabe: Die Texte bzw. textlichen Beschreibungen des Bildschirminhaltes
werden über Lautsprecher ausgegeben. Die auditiven Inhalte können dabei
aufgenommen sein („recorded speech“) oder mittels Sprachsyntheziser („synthetic
speech) erzeugt werden.
Diese Techniken sind Nachfolger von Vorlesen oder Aufnahme auf
unterschiedlichste Geräte.

Beide Methoden, Braille und Sprachausgabe, bedienen sich einer Software, eines
sogenannten "Screen Readers" [2], der die Inhalte des Bildschirms für diese beiden
Methoden der Darstellung aufbereitet.

Blinde Computer NutzerInnen können auch die Maus nicht verwenden. Sie verwenden
die Pfeil-Tasten oder spezielle Mausemulationen auf dem Brailledisplay, um den Cursor
oder Systemfokus zu navigieren. Für blinde Menschen sind daher "ShortCuts",
Tastaturbefehle sehr wichtig.

Auf solche Spezialitäten gehen herkömmliche Handbücher aber auch


Informationssysteme (Web-Seiten) oft nicht ein. Unterlagen und Web-Seiten sind sehr
stark "mausorientiert" und verwenden Bilder zur Veranschaulichung. Blinde Menschen
brauchen Unterlagen, die textlich die Funktionen und die Arbeitsweise beschreiben und

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primär "ShortCuts" verwenden. Screen Reader und Braille-Displays stellen spezielle


Funktionalitäten für ein effizientes Arbeiten zur Verfügung, die in die Materialien und
Systeme eingearbeitet werden müssen.

Exkurs: Braille-Display, Sprachausgabe und Screenreader

Braille

Der Franzose Louis Braille (1809-1852) hat ein Schriftsystem erfunden, das von blinden
und sehbehinderten Menschen verwendet
wird und auf der taktilen statt auf der
optischen Wahrnehmung basiert. In der
klassischen Brailleschrift werden
Buchstaben erzeugt, indem kleine
erhobene Punkte in ein Blatt Papier
geprägt werden. Jeder Buchstabe oder
jedes Zeichen liegt in einem kleinen
Ausschnitt des Blattes, der als 2.3 Gitter
angeordnet ist und somit für maximal 6 Braille Alphabet [3]
Punkte Platz bietet. Jedes Zeichen
(Buchstabe, Ziffer, Satzzeichen etc.) stellt eine bestimmte Auswahl von Punkten in
einem solchen 2.3 Rechtecken dar. Rechnet man den Leerraum, das Zeichen, das gar
keine Punkte enthält, mit, so ergeben sich also 2 hoch 6 = 64 mögliche Braille-Zeichen.
Die Schrift reicht somit schon in ihrer ursprünglichen Form aus, um alle Buchstaben des
lateinischen Alphabetes in Groß- und Kleinschreibung sowie alle Ziffern und
Satzzeichen darzustellen, wenn man die Großbuchstaben von den kleinen durch
Voranstellen eines Kennzeichens und die Ziffern von den Buchstaben durch
Voranstellen eines anderen Kennzeichens ableitet (siehe Code-Tabellen im Anhang).

Seit seiner Erfindung gegen Ende der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Braille von
blinden und stark sehbehinderten Menschen in zweierlei Weise verwendet: Zum einen
wurden spezielle Schreibmaschinen entwickelt, die einem Braille-Benutzer das
Anfertigen persönlicher Aufzeichnungen gestatteten – hierdurch wurde schriftliche
Kommunikation unter blinden Menschen möglich, aber im Allgemeinen unter
Ausschluss der sehenden Mitwelt. Zum anderen wurde Literatur in Braille durch
Verwendung spezieller Druckverfahren produziert.

Durch die Einführung des Computers als universelles Werkzeug der


Informationsverarbeitung und der Kommunikation wurde die Brailleschrift einer
weitreichenden Veränderung unterzogen: Um die durch den Computer nun möglich
gewordene Kommunikation zwischen blinden und sehenden Menschen zu
vereinfachen, entstand der Wunsch, jedes Zeichen am Bildschirm durch genau ein
Zeichen in Braille darzustellen – dies ist ja, wie wir gesehen haben, in der klassischen
Blindenschrift nicht der Fall. Da der Zeichensatz moderner Computersysteme zu Anfang
ein 8-Bit-System war – neuerdings sind sogar 16-Bit-Systeme ins Spiel gekommen -,
wurde die Brailleschrift um 2 Punkte, die sich unterhalb der 6 ursprünglichen befinden,
erweitert – das 8-Punkt-Braille war geboren.

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Der Computer hat nicht nur die Codierung der Brailleschrift, sondern auch die Geräte
verändert, durch die sie erzeugt wird: Die konventionelle Braille-Schreibmaschine wurde
kaum vom alten 6-Punkt-System zum neuen 8-Punkt-Braille erweitert, vielmehr wurde
sie vom sog. Braille-Display abgelöst: Dieses elektronische Hilfsmittel zeigt den Inhalt
des Computerbildschirms in sich dynamisch verändernder Punktschrift (Refreshable
Braille) an. Braille-Displays sind von allem Anfang an als 8-Punkt-Anzeigen ausgelegt.

Durch diese revolutionäre Änderung in der „Braille-Hardware“ ist die Blindenschrift noch
einmal ganz erheblich aufgewertet: Von einer „Inzucht-Lösung“ innerhalb der engen
Welt der Blinden ist sie zu einem Medium avanciert, das uns Blinden nahezu alle
Aspekte der schriftlichen Kommunikation mit der uns umgebenden Welt der Sehenden,
dem „Mainstream“, erschließt.

Das Braille-Display: Grundbegriffe

Absicht eines Braille-Displays ist es, eine ganze Bildschirmzeile oder einen Teil einer
solchen in Blindenschrift auszugeben. Das Gerät wird daher volkstümlich auch einfach
als „Braille-Zeile“ bezeichnet. Das wird erreicht, indem 40 oder 80 sog. Braille-Module
linear nebeneinander auf einer Leiste angeordnet sind. Ein Bralle-Modul besteht aus 8
in einer 4 mal 2 Matrix angeordneten elektromechanisch angetriebenen Stiften, von
denen jeder zu einem festen Zeitpunkt entweder erhoben sein kann oder nicht. In der
erhobenen Position ist der Stift fühlbar, in der nicht-erhobenen (oder gesenkten) nicht.
So entsteht in jedem Modul ein aus den gerade erhobenen Stiften gebildetes
Punktmuster, das, den Bits in der ASCII- oder Unicode-Darstellung eines Zeichens
vergleichbar, dieses Zeichen fühlbar repräsentiert. Die Codierung ist an sich völlig
beliebig – sie könnte auch der erweiterten ASCII-Darstellung oder, mit einer einfachen
Umrechnungsformel, auch der Unicode-Darstellung entsprechen. Traditionellerweise ist
sie jedoch meistens eine modernisierte Version der klassischen, auf Louis Braille (1809-
1852) zurückgehenden Blindenschrift. (siehe voriger Abschnitt)

Das Hauptproblem beim Umgang mit einer Braillezeile besteht wohl darin, dass auf
einmal immer nur eine einzige Bildschirmzeile (oder gar nur ein Teil derselben)
angezeigt werden kann. Der (sehr kleine) Ausschnitt des Bildschirms, der auf diese
Weise zur Verfügung steht, wird als Braille-Fenster bezeichnet. Der blinde Benutzer
braucht Funktionalität, die ihm erlaubt, dieses Braille-Fenster seinen Bedürfnissen
entsprechend am Bildschirm entlang zu bewegen.

Jede Braillezeile verfügt, unabhängig vom Fabrikat und vom verwendeten


Bildschirmausleseprogramm, über einen gewissen Satz an Grundfunktionen, die alle
mit der besagten Bewegung des Braille-Fensters zu tun haben. Diese seien hier
aufgelistet.
 Bewegung des Braille-Fensters eine Bildschirm-Zeile ab- bzw. aufwärts,
 Bewegung des Braille-Fensters entlang des Textes hinunter bzw. hinauf,
 Bewegung des Braille-Fensters an den Kopf bzw. an den Fuß des Bildschirms
bzw. des aktiven Fensters,
 Sprung des Braille-Fensters zum Cursor bzw. zum Fokus,
 Heranführung des Mauszeigers an eine vom Braille-Fenster erfasste Position
(Cursor-Routing).

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Einige kurze Erläuterungen hierzu: Die Bedeutung der ersten der genannten Funktionen
ist klar. Die zweite Funktion, Bewegung entlang des Textes hinauf und hinunter,
entspricht genau dem Prozess, mit dem Ihre Augen sich beim kontinuierlichen Lesen
eines Textes am Bildschirm bewegen würden: Die Funktion „hinunter“ bewegt das
Fenster zunächst so lange nach rechts, bis das Ende der aktuellen Bildschirmzeile
erreicht ist, sodann positioniert sie auf den Anfang der folgenden Bildschirmzeile usw.
Analog geht die Funktion „hinauf“ in umgekehrter Richtung den gesamten Bildschirm
bzw. das gesamte Fenster durch.

Die letzte Funktion, das „Cursor-Routing“, stellt einen sehr komfortablen und für Blinde
vielseitig verwendbaren Ersatz für die Maus dar: Hierzu befindet sich je ein Taster,
manchmal auch ein optischer Sensor, ober- oder unterhalb eines jeden Braille-Moduls:
Wird dieser Taster gedrückt, dann versucht der Screenreader, den Mauszeiger an
genau die Stelle zu bewegen, die vom jeweiligen Modul angezeigt wird. Der
Screenreader kann so eingestellt werden, dass immer dann, wenn der Mauszeiger an
eine Stelle geführt wird, auch gleich automatisch ein Mausklick an dieser Stelle
ausgeführt wird. In einer Textverarbeitung wird somit der Schreib-Cursor an die vom
Braille-Fenster erfasste Position geführt, was ein besonders effizientes Korrigieren von
Texten gestattet. Statt des Links-Klicks kann mit dem Hinführen des Mauszeigers auch
ein Rechtklick verbunden werden, sodass die sog. Kontext-Menüs zugänglich werden.
Weiters ist es auch möglich, durch zweimaliges Drücken eines Cursor-Routing-Tasters
kurz hintereinander ein Hinführen des Mauszeigers verbunden mit einem Doppelklick
auszuführen. Schließlich können mit Hilfe der Cursor-Routing-Taster sogar Drag- and
Drop-Operationen (Ziehen und Loslassen) von einem blinden Menschen völlig
selbständig ausgeführt werden.

Einige Braille-Displays am Markt

Firma Homepage
Alva http://www.aagi.com
AUDIODATA http://www.audiodata.de
Baum http://www.baum.de
Freedom Scientific http://www.freedomscientific.de
Handy Tech http://www.handytech.de
Papenmeier http://www.papenmeier.de
Tieman http://www.tieman.nl

Arbeiten mit Sprachausgabe

Die meisten blinden/sehbehinderten Benutzer bedienen sich beim Arbeiten mit dem
Computer der sog. kombinierten Lösung: Braille-Display + Sprachausgabe bzw.
Vergrößerungssoftware + Sprachausgabe. Jedes moderne Bildschirmausleseprogramm
(Screenreader) ist in der Lage, parallel das Braille-Display und die Sprachausgabe
anzusteuern. Viele Programme zur Bildschirmvergrößerung andererseits bieten ihren
Benutzern die Kombination Vergrößerung + Sprachausgabe.

Bei den erwähnten kombinierten Lösungen überwacht der Benutzer die aktuelle
Texteingabe/-Korrektur mittels Braille oder vergrößert am Bildschirm, während die

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Sprachausgabe zur Gewinnung zusätzlicher Informationen und zum Lesen (oder


Kontrolllesen) längerer Abschnitte eingesetzt wird.

Es gibt natürlich auch Computerbenutzer, die zum Lesen und Schreiben ausschließlich
Sprachausgabe einsetzen. Es handelt sich dabei meist um späterblindete Personen, die
sich mit der Blindenschrift nie auseinandergesetzt haben, oder um sehr mobile
Notebookbenutzer (Studenten, Projektmitarbeiter), die nur zu gerne auf das Schleppen
zusätzlicher Geräte verzichten. Es sei hier nebenbei erwähnt, dass in den meisten
Ländern dieser Erde Braille Displays unerreichbar teuer sind, da der Staat keine
fürsorgliche finanzielle Unterstützung übernimmt. In all diesen Fällen ist die
Sprachausgabe der einzige mögliche Zugang zum Computer.

Die Grundfunktionalität der Sprachausgabe

Wenn wir ab jetzt in den Unterlagen über die Sprachausgabe reden, so meinen wir
immer die Interaktion zwischen einem Bildschirmausleseprogramm (JAWS, Virgo,
Blindows, ...) und der synthetischen Sprache (Sprachsoftware + Sound Card +
Lautsprecher/Kopfhörer). Das Bildschirmausleseprogramm analysiert den Inhalt des
Bildschirms und die Benutzeraktionen. Aufgrund dieser Größen wählt die Software
jeweils die relevanten Textabschnitte und macht sie über die synthetische Sprache
hörbar.

Die Sprachausgabe reproduziert zweierlei:


 sie liest den Text innerhalb einer Anwendung (Bildschirmecho) und
 spricht den neuen Text während der Eingabe (Tastaturecho).
So unterstützt sie optimal lesen und schreiben.

Die meisten blinden und sehbehinderten Benutzer bedienen den Computer


ausschließlich per Tastatur. Die Maus ist ein völlig visuelles Gerät. Die meisten
Bildschirmausleseprogramme legen die Sprachausgabenkontrolle auf die Tasten des
numerischen Blocks (außen rechts auf der Tastatur).

Die Leseunterstützung

Der Lesevorgang unterscheidet sich beträchtlich vom Vorgehen beim Schreiben.


Die wichtigsten Befehle zum Lesen sind:
 lies den gesamten Text
 lies den nächsten/vorigen Absatz
 lies den nächsten/vorigen Satz
 lies das nächste/vorige Wort
 buchstabiere das aktuelle Wort
 wiederhole das aktuelle Wort / den aktuellen Satz/Absatz.

Die Schreibunterstützung

Wenn man sich mittels dieser Lesebefehle zur gewünschten Schreibposition


durchgekämpft hat (viele bewegen dazu die Schreibmarke mit den Pfeiltasten), fängt
man an zu schreiben. Je nach den Benutzereinstellungen spricht die Sprachausgabe
dabei unmittelbar jede gedrückte Taste das ganze eingegebene Wort, nachdem der
Leerraum oder ein Satzzeichen eingegeben wurde oder gar nichts (Tastaturecho aus).

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Zusatzinformationen

Die Zusatzinformationen haben beim Arbeiten mit der Sprachausgabe eine große
Bedeutung. Sie informieren über den Kontext, in dem man sich befindet und geben
Bescheid über die Art und die Eigenschaften eines ausgewählten Objekts (ein
Textabschnitt, ein Dialogelement usw.).
Die wichtigsten Kontextinformationen sind:
 welche Anwendung ist aktiv (lies die Titelleiste)
 wo bin ich innerhalb einer Anwendung (lies die Statusleiste)
 wo bin ich innerhalb eines Dialogs (lies die Objekthierarchie eines
Dialogelementes)

Die Art und die Eigenschaften eines Objekts bestimmen, welche Aktionen der Benutzer
zur gegebenen Zeit ausführen kann. Während man z.B. einen Schalter nur betätigen
kann (mit Leertaste oder Eingabetaste), kann man in ein Eingabefeld einen Text
eingeben. Ein Listenfeld wiederum ermöglicht die Auswahl eines oder mehrerer
Listeneinträge zur weiteren Behandlung. Verschiedene Objekte bieten dem Benutzer
jeweils eine andere Schnittstelle in der Kommunikation mit dem Computer,
 um eine bestimmte Einstellung zu wählen,
 eine Aktion auszuführen,
 einen Text einzugeben oder
 das Aussehen eines ausgewählten Textabschnittes zu verändern.

Die Sprachausgabe sagt das an, was ein Sehender intuitiv durch das Aussehen eines
Bedienelementes sieht und versteht.

Die wichtigsten Benutzereinstellungen

Die Sprachausgaben besitzen meistens eine ganze Menge Einstellungen, die Benutzer
frei konfigurieren können.
Thematisch gibt es zwei Gruppen von Benutzereinstellungen:
 die Eigenschaften der synthetischen Stimme
o Person
Den meisten Benutzern ist es nicht egal, ob sie sich von einem Mann,
einer Frau, einem Kind oder einem Greis vorlesen lassen. Die meisten
Sprachausgaben bieten zur Auswahl alle diese Stimmprofile. Die
verschiedenen synthetischen Stimmen tragen unterschiedliche
vorgegebene Namen, so dass man sie leichter identifizieren kann.
o Stimmhöhe (Pitch)
Für jede individuelle Stimme hat der Benutzer die Möglichkeit, eine höhere
oder tiefere Stimmlage zu wählen.
 inhaltliche Einstellungen.
o Sprechgeschwindigkeit
Es besteht auch die Möglichkeit, jederzeit die Geschwindigkeit der
Lesestimme den eigenen Bedürfnissen und momentanen Konditionen
anzupassen. Die erfahrenen Sprachausgabebenutzer arbeiten oft mit
Geschwindigkeiten, bei denen ein "normal sterblicher" fast kein einziges
Wort versteht.
o Inhaltliche Einstellungen

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Es ist ebenfalls möglich, Art und Umfang der Textpräsentation zu


bestimmen. Ich bringe hier nur einige der vielen möglichen Einstellungen:
- ob und welche Satzzeichen gelesen werden
- wird über die visuelle Formatierung des Textes Auskunft gegeben
(Schriftart, Schriftgröße usw.)
- werden die Großbuchstaben mit höherer Stimme hervorgehoben
- wie ausführlich wird über die Art des ausgewählten Objekts
berichtet (Anfängermodus, erfahrener Benutzer, Experte).

Sprachausgaben am Markt

Hier seien einige der heute am Markt befindlichen Sprachausgabesysteme, auch


„Speech Engines“ genannt, aufgelistet; die Sortierung erfolgt alphabetisch nach
Herstellern.

Sprachausgabe Hersteller Homepage


Orpheus Dolphin http://www.dolphinuk.co.uk
Speak&Win ETeX http://www.etex.de
Eloquence Freedom Scientific http://www.freedomscientific.de
Logox G DATA Software AG http://www.logox.de
Viavoice OUtloud IBM http://www.ibm.com
Infovox Infovox http://www.infovox.se/

Sprachausgabe vs. Braille-Display

Jedes der beiden Hilfsmittel bietet klare Vorteile, hat aber auch Nachteile: Ein
Hauptnachteil des Braille-Displays ist die Tatsache, dass es sich kaum zum Lesen
großer Textmengen eignet, weil der Anwender dabei rasch ermüdet. Ein
Sprachausgabesystem bietet hier ganz entscheidende Vorteile, weil hier bei der Lektüre
selbst großer Textmengen kaum Interaktion mit dem Benutzer erforderlich ist. Hingegen
kommen die Vorteile des Braille-Zugangs dann zur Geltung, wenn es um sehr genaues
Arbeiten an Texten geht, etwa Korrektur geschriebener Texte, Bearbeitung von
mathematischen Texten, Programmieren etc.

Im Zeitalter der Screenreader für Windows, die über beide Ausgabekanäle, Braille und
Sprache, verfügen, bemüht man sich heute, durch parallele Verwendung beider
Möglichkeiten deren Vorteile zu kombinieren und deren Nachteile zu kompensieren.

Arbeiten mit dem Screenreader

Auf heutigen Computersystemen läuft fast ausnahmslos Software, die auf einer
graphischen Bildschirmausgabe basiert. Dies stellt den Personenkreis der blinden und
sehbehinderten Computernutzer vor ein großes Problem: Die graphisch aufbereiteten
Informationen sollen auf der Braillezeile, die ein rein textuelles Medium ist, dargestellt
und durch die Sprachausgabe, die ebenfalls text-basiert ist, hörbar gemacht werden.
Es versteht sich von selbst, dass dieses Problem in seiner allgemeinsten Form unlösbar
ist, und doch wurde viel erreicht. Manches von dem, was ein

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Bildschirmausleseprogramm für Windows, oder, wie es häufig genannt wird, einen


Screenreader, ausmacht, wurde schon in den vorangegangenen Abschnitten über
Sprachausgabe und Braille-Display gestreift; hier soll das Wesentliche noch einmal
zusammengefasst werden.

Ein moderner Screenreader kann:


 Textuelle Elemente in fast allen Windows-Anwendungen anzeigen, auch dann,
wenn sie graphisch am Bildschirm dargestellt sind,
 Bilder wie Icons, Bitmaps etc. wenn schon nicht anzeigen, so doch identifizieren
und mit Namen benennen,
 die Maus emulieren, sodass Klick-Operationen, wie sie in der graphischen
Benutzerschnittstelle üblich sind, sowohl auf Text wie auch auf Bildern vom
blinden Anwender vorgenommen werden können,
 den Fokus in Windows-Programmen verfolgen, sodass die (glücklicherweise
zahlreichen) in Windows und Windows-Anwendungen vorgesehenen
Tastaturbefehle vom blinden Anwender benutzt werden können,
 und noch einiges mehr.

Einige Screenreader am Markt


Screenreader Hersteller Homepage
Blindows Audiodata http://www.audiodata.de
Virgo Baum http://www.virgo4.de
Hal/Supernova Dolphin http://www.dolphinuk.co.uk
Jaws Freedom Scientific http://www.freedomscientific.de
Window-Eyes GW Micro http://www.gwmicro.com

Suchen Sie im Internet Funktionsbeschreibungen zweier Screenreader und


vergleichen Sie beide.

Weitere wichtige AT für blinde Menschen sind Aufzeichnungsgeräte (Rekorder), OCR


und Scanner, die bereits bei sehbehinderten Menschen angeführt wurden.

Literatur
1. http://www.aph.org/products/perkbw.htm
2. Z.B.: http://www.freedomscientific.com/fs_products/software_jaws.asp,
http://www.virgo4.de/
3. Z.B.: www.braille.ch

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12. AT für Menschen mit


Hörbehinderungen

Arten von Hörbehinderungen

Hören ist, neben dem Sprechen, eine der zwei Zentralen


Fertigkeiten, auf dem die Kommunikation von Menschen
untereinander beruht. Wir bilden unser Verständnis von
Mensch, Welt und Umwelt über die Interaktion und
Kommunikation mit Menschen. „Sich verständigen können,
sich verstehen, etwas verstehen, …“ ist in vielem auf
sprachliche Fähigkeiten, die wir vor allem auch in der Hörbehinderung: Trotz
Gesellschaft ausgeschlossen
interpersonellen und damit primäre auditiven Interaktion
entwickeln, abhängig.

„Nicht-sehen trennt von den Bildern, Nicht Hören trennt


von den Menschen.“ (Immanuel Kant)

Das teilweise oder vollständige Fehlen des Gehörsinns hat


damit sehr weitreichende Konsequenzen für Menschen,
wie z.B. auf
 Kommunikation Hörbehinderung – Leben wie unter
 Spracherwerb einem Glassturz
 Sprechen
 Sprachverständnis
 Ausdrucksmöglichkeit
 Bildung
 Beruf
 Soziale Kontakte: Isolation, Rückzug
 Psychische Probleme
 …

Unter dem Begriff „hörgeschädigte Menschen“ werden alle


Personen erfasst, deren Hörvermögen beeinträchtigt ist.
Dies ist eine sehr heterogene Gruppe, da die
Hörbeeinträchtigungen ein breites Spektrum von
Fehlhörigkeit, verschiedenen Formen und Schweregrade
von Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit umfassen:

„Audiometrie“: Schwerhörigkeit nach % des Hörverlustes


[vgl.: 1]
Normal 0 –20%
Geringe 20-40% < 30 dB
Mittlere 40-60% 30 – 60 dB Hörbehinderung: Vergleich mit
Hochgradige 60-80% 60 – 90 dB Sehbehinderung
An Gehörl. Grenz. 80-90% 90 – 120 dB
Gehörlosigkeit 100% > 120dB

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Arten von Hörbehinderungen [vgl.: 1]


 Schallleitungsschwerhörigkeit: Hier wird der Schall nicht
mehr von der Außenwelt zum Innenohr geleitet. Hier
liegt eine Störung im Bereich des Gehörgangs, des
Trommelfells oder des Mittelohrs vor. Grundsätzlich
kann man eine Schalleitungs-Schwerhörigkeit operativ
beheben, es gibt aber auch einige Ausnahmen wie
Anotie und Miktorie.
 Schallempfindungsschwerhörigkeit ist bedingt durch
eine Schädigung im Innenohr. Es kommt zu einer
veränderten Wahrnehmung, d. h. bestimmte Audiometrie – „Hörbanane
Frequenzen können nicht oder nur teilweise
wahrgenommen werden. Die Sprache verändert sich in ihrem Klangbild. Hier hilft
eine Operation sehr selten. Hörgeräte können den Schaden ausgleichen, aber nicht
vollkommen beheben.
 Sensoneurale Schwerhörigkeit: Es liegt hier eine Schädigung des Innenohrs, oder
des Hörnervs vor. Hier spricht man von einer Innenohrschwerhörigkeit die nicht
operativ behoben werden kann.
 Kombinierte Schwerhörigkeit: Hier liegt neben der Schalleitungs-Schwerhörigkeit
auch eine sensoneurale Schwerhörigkeit vor.
 Gehörlosigkeit: Gehörlose Menschen sind entweder völlig ohne Gehör oder deren
Restgehör reicht auch mit optimaler Hörgeräteversorgung nicht aus, um die Sprache
über das Gehör aufzunehmen. Der Begriff Taubstumm wird heute nicht mehr
verwendet, da Gehörlose durchaus im Stande sind, sich bei entsprechender
Beschulung lautsprachlich zu verständigen.

Neben dem Schweregrad der Hörbeeinträchtigung spielt v.a. auch der Zeitpunkt des
Eintritts der Hörschädigung eine entscheidende Rolle:
 prälingual - vor dem Spracherwerb
 postlingual - nach dem abgeschlossenen Spracherwerb
Der Zeitpunkt hat entscheidenden Einfluss auf die Kommunikationssituation der
Betroffenen. Wenn die Ertaubung vor dem 6. Lebensjahr eintritt, kann man davor
ausgehen, dass die Sprachfähigkeit ohne Beschulung im Laufe der Zeit sich vermindert.
Je später sie eintritt, desto geringer sind die Auswirkungen auf die Sprachentwicklung
des Menschen. Auch bei schwerhörigen Menschen sind die Auswirkungen der
Schwerhörigkeit abhängig vom Zeitpunkt der Hörschädigung.

Hörschädigungen können durch verschiedene Gründe entstehen z.B. durch Krankheit,


Unfall, Vererbung oder zu viel Lärm. Probleme, die Hörbehinderung erzeugen
entstehen dabei
 im Außenohr
Verwachsungen des Gehörgangs
Verletzung des Trommelfells
 im Mittelohr
Chronische Entzündungen
Otoskelerose (Verknöcherung)
 im Innenohr
Schädigung der Sinneszellen
Schädigung des Hörnervs
 im kortikale Bereich

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Methoden

Die verschiedenen Hörbeeinträchtigungen haben Einfluss


auf die Kommunikationsformen der betroffenen Menschen.
So wie die Gruppe an sich sehr heterogen ist, so ist auch
die Art und Weise der Kommunikation sehr unterschiedlich.
Es können zwei Gruppen unterschieden werden:
 gebärdensprachorientierte hörgeschädigte Menschen
 lautsprachorientierte hörgeschädigte Menschen
Gebärdensprache
Gebärdensprachorientierte hörgeschädigte Menschen
kommunizieren überwiegend mittels der Gebärdensprache
und fühlen sich auch der Sprachgemeinschaft und Kultur der Gehörlosen zugehörig.
Die Gebärdensprache ist eine visuelle Sprache, bei der über
Gesten der Hände und Arme Gebärdenzeichen gebildet
werden. Sie hat eine eigene Grammatik und neben den
Gebärden sind für den Sprachinhalt Gestik und Mimik
wichtig. Bei komplexen Sprachinhalten ist eine
Unterstützung durch Gebärdensprachdolmetscher/innen
sinnvoll. Grundprinzip ist immer das „sehen“ der
Gesprochenen Worte. Beim Einsatz eines Dolmetschers ist
daran zu denken, dass der Dolmetscher nicht
Gesprächspartner sondern „nur“ Übersetzer ist. Das
Gespräch wird mit dem hörgeschädigten Menschen geführt
und nicht an ihm vorbei mit dem Dolmetscher. Arten des
Gebärdendolmetsches sind:
 Präsenzdolmetschen
 Distanz- bzw. verzögertes Dolmetschen
 Fingeralphabet- oder Gebärdenabgreifen für Taubblinde Fingeralphabet [2]
 Umwandlung von gesprochener Sprache in Schrift

Die Gebärdensprache ist mit Inkrafttreten des Behindertengleichstellungs-


Gesetzes im Jänner 2006 in Österreich anerkannt. [3]

Lautsprachlich orientierte hörgeschädigte Menschen sind überwiegend schwerhörige


und spätertaubte Menschen. Sie haben die Lautsprache als Muttersprache erlernt und
kommunizieren auch lautsprachlich. Kommunikationsmittel sind
 das Ablesen vom Mund
 lautsprachbegleitende Gebärden

Der Erwerb der Schriftsprache wird durch den Hörverlust massiv beeinträchtigt. Der
Erwerb der Lautsprache ist ein evolutionäres Phänomen, geschieht quasi automatisch
über das Hören. Dies ist auch die Basis für den folgenden Erwerb der Schriftsprache.
Somit wird der Lautsprachen- und Schriftsprachenerwerb ebenso beeinträchtigt,
bestehen oft Defizite beim Verstehen, Sprechen und Schreiben von Sprache, z.B. bei
Schachtelsätzen, abstrakten Begriffen, Fremdwörtern oder Wörtern mit mehreren
Bedeutungen bzw. visuellen Interpretationsmöglichkeiten. Ein „Gesichtspunkt“ ist für
einen gehörlosen Menschen eher ein Muttermal o.ä. im Gesicht.

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Daher sind weitere Maßnahmen der Unterstützung der Kommunikation notwendig:


 Schriftdolmetscher/innen: Hilfe beim Verstehen und Erstellen von Texten
 „easy to read“: Besser Verständliche Formulierung und Strukturierung von Texten
(siehe LVA Dokumentaufbereitung), z.B.:
o Typographie
 Verwendung von Groß- und Kleinschreibung
 Keine Schreibschriften
 Standardschriften ohne Serifen (z.B. Arial, Frutiger, Futura, Helvetica)
 Kontrast zwischen Schrift und Hintergrund
 Wichtige Wörter hervorheben
 Verwenden von Leerflächen
 Keinen Text in Bilder setzen
o Schreibstil
 klar strukturiert, auf den Punkt gebrachte und sprach-vereinfachte
Inhalte
 kurze Sätze mit nur einer Satzaussage
 Treffende Überschriften setzen
 Vermeidung von Umgangssprache, Fachsprache oder Dialekt
 Verwendung von Bildern zur Unterstützung des Textes
 Das direkte Gespräch
o deutlich und direkt zur Person sprechen
o nicht schreien
o den Mund nicht verdecken mit einem Bart, Fingern, Telefonhörer etc
o nicht mit dem Rücken zum Fenster stehen, auf gute Beleuchtung achten
o gute Raumakustik, Hall und Lärm stören
o Informationen Stück für Stück geben
o Einsatz von Mimik und Gestik
o Gespräch mit schriftlichen Notizen oder Skizzen unterstützen
 Schulungen, Vorträge
o geschultes und gebärdenkompetentes Personal
o Kenntnisse im Kommunikationsverhalten gegenüber hörgeschädigten
Menschen
o Lehr- und Lernmaterial sprachvereinfacht und mit Bildern unterlegt
o verschiedene Kommunikationsangebote (Fax, SMS, eMail)
o technische Hilfsmittel zur Verfügung (induktive Höranlagen, FM-Systeme etc.)
o architektonische Vorgaben sollen auf die Hörschädigung Rücksicht nehmen
(z.B. Licht, gute Raumakustik, keine Lärmbelästigung, Lichtblitzanlagen, …)

Hörbehinderte und gehörlose Menschen sind grundsätzlich in der Lage, herkömmliche


visuelle Interfaces zu bedienen. Probleme in Bezug auf Webseiten entstehen durch
Schwierigkeiten im Verstehen und Verarbeiten von komplexen sprachlichen
Zusammenhängen. Dies resultiert aus Problemen im erschwerten Spracherwerb durch
das verminderte oder fehlende Hörvermögen.

Im Gegensatz zu sehbehinderten und blinden Menschen besteht daher der Bedarf, die
Inhalte verstärkt ikonisch, d.h. mit Bildern (z.B. Screenshot-Folgen), Videos oder
Animationen darzustellen und Texte gut lesbar und gut strukturiert zu gestalten.

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Für gehörlose Menschen, deren Muttersprache die Gebärdensprache ist, ist die
Übersetzung in Gebärdensprache z.T. unverzichtbar. Die Erstellung von Unterlagen, die
zusätzlich Gebärdensprachvideos anbieten, ist sehr ressourcenintensiv.

Ersatz für nichtsprachliche akustische Signale:


Licht/Vibrationssignal/Funkanlagen (substituierende AT)

Lichtsignal/Funkanlagen bestehen immer aus


Sende und Empfangsteil.

Babysender Alarmsender

Türsender Telefonsender

Blitzlampen (Empfänger) Lampenschalter

zum Anschluss beliebiger Lampen


Multiflashgerät Wecker

Armbanduhrwecker Multifunktions-Vibrationsempfänger

Vibrationskissen Vibrationswecker

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Ersatz für sprachliche akustische Signale (substituierende AT)

Schreibtelefon Fax

SMS E-Mail

Bild/Videotelephon Multifunktionsgerät

Videotelephonsoftware

Akustische Verstärkung sprachlicher Signale (augmentative AT)

Hörgeräte Lautsprecheranlage,
in dem Ohr) idO Induktionsschleife
(vor dem Ohr)vdO (für Hörgeräte)
am Körper mit Ohrteil Implantate
Hörbrille
Knochenübertragung

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Cochlear Implantat

analog/digital

Cochlear Implantat (insertierende AT) [vgl.: 4]

Das Cochlear Implantatn ist ein medizinisches Gerät, das das Innenohr (Cochlea)
elektrisch stimuliert. Das akustische Signal wird über ein Mikrophon am Ohr
aufgenommen und wird außerhalb des Innenohrs mittels eines Sprachprozessors
verarbeitet (Filtern, Analyse, Digitalisierung). Mittels einer Sendespule (FM-Signale) and
das Signal an das Cochlea-Implantat übertragen, dass mittels Elektroden das Signal
direkt die Innenohrschnecke (Cochlea) stimuliert.

Grundsätzlich werden am Ohr drei Abschnitte unterschieden: das äußere Ohr, das
Mittelohr und das Innenohr. Die Aufgabe des äußeren Ohres und des Mittelohres
besteht darin, Schallwellen einzufangen und in Form von Schwingungen an das
Innenohr weiterzuleiten. Dort werden die Schwingungen in elektrische Signale
umgewandelt. Die Umwandlung erfolgt in dem Teil des Innenohrs, der als Hörschnecke
(Cochlea) bezeichnet wird. Im Gang befinden sich auf der gesamten Länge
Sinneszellen. Durch die Reizung der Sinneszellen entstehen elektrische Impulse, die
der Hörnerv an das Gehirn weiterleitet, wo sie als Hör- und Klangempfindungen
wahrgenommen werden. Sind die Sinneszellen massiv geschädigt, kann das Cochlear
Implantat deren Funktion teilweise übernehmen. Dabei werden bis zu zwei Dutzend
Elektroden in die Hörschnecke eingepflanzt. Der äußere Teil des Geräts besteht aus
einem Richtmikrofon und einem Sprachprozessor. Neuere Geräte sind so klein [Anm.:
z.B. das Nucleus – Implantat C124M], dass Mikrofon und Prozessor hinter dem Ohr
getragen werden können. Vom Mikrofon aufgenommene Schallwellen wandelt der
Sprachprozessor in elektrische Signale und sendet diese drahtlos durch die Haut zu
den implantierten Elektroden. Die Elektroden reizen direkt die Hörnervfasern. Der

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Hörnerv leitet das Reizmuster zum Gehirn


weiter, wo es als Hörempfindung
wahrgenommen wird.“

Gebärdenerkennung Schema Gebärdeninterface [5]

Mittels Videoverarbeitung werden Muster von Handbewegungen erkannt und als Text
oder Sprache ausgegeben. Für eine gute Erkennung sind viele weitere Faktoren neben
den Handbewegungen und –stellungen für die Erkennung wichtig wie z.B. Mimik,
Gestik, Augenbrauenstellung, Lippenstellungen, Hand-Körperkoordination).

Die erkannten Gebärden können als Text ausgegeben werden oder als Befehle für die
Interaktion mit dem Computer verwendet werden.
Ein weiterer Ansatz versucht, Gebärden über Bewegungssensoren am Körper zu
erkennen. Die Bewegungen unterschiedlicher Teile des Körpers werden gegeneinander
verrechnet und es wird versucht, die Muster als Gebärden zu erkennen. Wegen der
Komplexität der Erkennung sind nur erste Forschungsprototypen verfügbar.

Gebärdenschrift

Es gibt Ansätze einer Gebärdenschrift, um gehörlosen Menschen, deren Muttersprache


eben die Gebärdensprache ist, eine Schrift in ihrer
Muttersprache verfügbar zu machen.

Man versucht Systeme zu entwickeln, die Editoren für das


Schreiben in Gebärdenschrift und das Konvertieren von
Gebärdenschrift in Text und umgekehrt ermöglichen sollen. Da
die Gebärdenschrift wenig Verbreitung hat, ist die Bedeutung
dieser Systeme eher gering.

Gebärdenanimation [8]
Gebärdenanimation

In einem weiteren Forschungsbereich werden Systeme zur Erzeugung von Gebärden


entwickelt. Mittels Animation werden virtuelle Gebärdenassistenten in die Lage versetzt,
Information in Gebärde darzustellen – mittels vorherigem editieren oder automatischer

Gebärdenerkennung über Video [5]


Gebärdenerkennung mittels
Mimikerkennung [6]
Bewegungssensoren [6]
Übersetzung
von Text in Gebärden.

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Spracherkennung [vgl.: 9]

Spracherkennung ist ein komplexes


Verfahren, um aus gesprochener Sprache
Text oder Befehle zu erkennen. Dabei
verwendet man, wegen vieler
Ungenauigkeiten und Mehrdeutigkeiten der
Sprache (z.B. Homophone wie „Meer“ und Spracherkennungsprozess
„mehr“) in verschiedenen Stufen der
Verarbeitung unterschiedliche Methoden:
 Vorverarbeitung: Umwandlung des anlogen Signals in ein digitales Muster, wobei
die Qualität des Signals (Mikrophon, Soundkarte) und das Ausfiltern von
Geräuschen sehr wichtig sind. So entsteht ein mittels Fouriertransformation alle 10
Millisekunden errechnetes Frequenzspektrum.
 Sprachmustererkennung: Basierend auf einem Referenzsprachmuster versucht
das System in einem zweiten Schritt Phoneme, Silben und Wortkandidaten aus
den akustischen Zuständen zu erkennen. Das System arbeitet dabei mit einem
Referenzmuster und im Training wird der
Unterschied der individuellen Sprache zum
Referenzmuster errechnet und in der Folge auf
alles Gesprochene angewandt. Die Komplexität
dieser Verfahren und die Rechenintensität hat
dazu geführt, dass das Erkennen kontinuierlicher Voice-Projekt Logo
Sprache – also über abgesetztes Wortsprechen
hinaus - erst Mitte der 90er Jahre auf PCs
möglich wurde.
 Lexikographische Analyse: Die Wortkandidaten
werden mittels lexikographischer
Analyseverfahren, die Wissen wie z.B. über
Flexionen (Beugungen) und Lexeme
(Wortstämme) anwenden, werden die
Wortkandidaten eingeschränkt.
 Kontextanalyse: Mittels Grammatikmodellen
einer Sprache und Trigrammatikstatistiken
(Trigramme = Statistiken über die Häufigkeit von Videotelefonuntertitelung
Wortkombinationen in einer Sprache) werden Reference
die KandiatInnen weiter eingeschränkt und pattern Pattern
schließlich ein Vorschlag für die Erkennung to be classified

gemacht. So können z.B. Homomorphe im


Kontext entschieden werden: „Vielen Dank“ ist
wahrscheinlicher als „Fielen Dank“.
Referenz/Sprachmuster
War Spracherkennung vor 15 Jahren noch sehr
langsam, verlangte abgesetztes Sprechen,
spezielle Hardware und langes Training, ca. eine
Stunde), so hat sich dies entschieden gewandelt:
Spracherkennung läuft auf marktgängigen PCs, es
kann kontinuierlich gesprochen werden, mehr als
Sprachspektrum
150 Wörter werden pro Minute erkannt, der
Wortschatz beträgt mehr als 200.000 Wörter und

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ist frei erweiterbar. Das Training dauert nur mehr einige Minuten.
Herausforderungen, denen man sich heute stellt sind Sprecherkennung,
Spracherkennung (Englisch, Deutsch, …), Sprachverstehen (Semantik), Erkennen ohne
Training.

Für Menschen mit Behinderungen kann


Spracherkennung grundsätzlich wie folgt als AT
eingesetzt werden:
 alternative Möglichkeit der Texteingabe
 alternative Möglichkeit der Steuerung von
Programmen (Befehlseingabe)
 Kommunikation: Überführung von gesprochener
Sprache in Text (für hörbehinderte und
gehörlose Menschen)
Vortragsuntertitelung
Dementsprechend existiert eine Vielfalt von
Anwendungen für unterschiedliche Gruppen von behinderten Menschen, die durchwegs
die Standardspracherkennungssysteme anwenden und für die NutzerInnengruppe
adaptieren.

Am Institut Integriert Studieren wurde mit Partnern aus Italien ein System VOICE
entwickelt. Es verwendet eine herkömmliche Spracherkennungssoftware (z.B.) Dragon
Naturally Speaking, IBM ViaVoice, Phillips FreeSpeech) und präsentiert den erkannten
Text als Untertitel. Das System wird eingesetzt für Bereiche wie
 TV/Video Untertitelung
 Untertitelung von Vorträgen (Konferenzen, Schule, Universität, ...)
 Internet/Videotelephonieuntertitelung

Untertitelung

Untertitel bezeichnen Textzeilen, die in einem Film oder ein Fernsehbild, meist am
unteren Rand eingeblendet werden, um Inhalte aus einer Fremdsprache zu übersetzen
oder sie z.B. für Menschen mit Hörbehinderungen oder anderen Behinderungen leichter
erfassbar zu machen. Untertitel ist meist eine kostengünstigere Alternative zur
Synchronisation oder Gebärdenübersetzung.
Im Gegensatz zur reinen Untertitelung des gesprochenen Textes enthalten Untertitel für
Hörbehinderte Menschen auch Angaben zu akustischen Stimmungselementen wie
Musik oder Geräusche gemacht. Untertitelung wird z.T. auch verwendet, um
sehbehinderten und blinden Menschen Szenenbeschreibungen zu geben.
Technisch werden Untertitel im TV über Teletext realisiert. Für das Untertiteln von
Videos steht im Internet eine eigene Technologie zur Verfügung namens SMIL
(Synchronised Multimedia Integration Language), die das Synchronisieren von Text und
Video ermöglicht. SMIL ermöglicht allgemein die Einbindung, die Verbindung und die
Synchronisation unterschiedlicher Medien, ohne sie zu „verschmelzen“, sondern diese
Verbindungen abstrakt als Metadaten, eben mittels SMIL, zu beschreiben. Damit wird
die unabhängige Nutzung ermöglicht und „Accessibility“ realisiert. In den SMIL Markup
können entsprechende Accessibility-Features eingebunden werden, wie z.B. alternative
Texte.

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Systeme, die auf SMIL basieren, stehen bereits zur Verfügung. Mehr dazu in anderen
LVAs.

Video-Untertitelungssystem von Highsoftware [10]

Literatur

1. Seidler, 1996, 15ff, http://www-brs.ub.ruhr-uni-


bochum.de/netahtml/HSS/Diss/GrundHendrik/diss.pdf
2. http://gebaerden.warum.net/alphabet.html
3. www.gleichstellung.at
4. www.unipublic.unizh.ch/magazin/gesundheit/2001/0197
5. http://www.gvu.gatech.edu/ccg/media.html
6. http://www.techinfo.rwth-aachen.de/Forschung/SLR/
7. http://www.gebaerdenschrift.de/
8. http://asl.cs.depaul.edu/default.htm
9. Miesenberger, K.: Voice to Text Recognition Systems – Access to Spoken
Language for People with Disabilities, in: Vollmar, R., Wagner, R. (ed.): Computers
Helping People with Special Needs, ICCHP ´00, Oldenbourg, Wien, München 2000;
http://voice.jrc.it/
10. http://www.hisoftware.com/hmcc/index.html

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13. AT für Menschen mit Mobilitätsbehinderungen

Arten von Mobilitätsbehinderungen [vgl.: 1]

Für einen kontrollierten allgemeinen und feinmotorischen Bewegungsablauf, der für die
Bedienung der Standard MMS notwendig ist, ist ein Zusammenspiel der Motorik und
Sensorik des menschlichen Körpers sehr wichtig. Ist dieses Zusammenspiel gestört, so
kommt es zu einer Bewegungsstörung bzw. Behinderung. Mobilitäts- und Motorische
Behinderungen sind sehr vielfältig, werden von unterschiedlichsten Problemen
begründet und haben unterschiedlichste Ausprägungen. Wir beschränken uns in der
Folge auf die extremen Beeinträchtigungen, die die Nutzung von besonderer AT fordert:

Tetraplegie
Querschnittslähmung entsteht durch Durchtrennung des Rückenmarks. Dadurch
werden die Motorik und die Sensorik gestört. Die Nervenimpulse werden normal
erzeugt und laufen über das Rückenmark bis zur Stelle der Durchtrennung. Da die
Impulse diese Stelle nicht überwinden können, erreichen sie nie die Muskeln (bei der
Motorik) bzw. das Gehirn (bei der Sensorik).
Sofort nach Auftreten der Verletzung kommt es zu einer schlaffen Lähmung. Nach einer
gewissen Erholungsphase entstehen im abgetrennten Teil des Rückenmarks
Eigenimpulse, die allerdings nicht vom Gehirn kontrolliert werden können. Dadurch
kommt es zu unkontrollierten, spastischen Bewegungen.
Je nach Höhe der Querschnittslähmung sind mehr oder weniger Körperregionen
betroffen. Bei der Tetraplegie liegt eine Querschnittslähmung im Halsbereich vor.
Dadurch sind unter anderem die oberen und unteren Extremitäten von der Lähmung
betroffen.

Infantile Cerebralparese
Bei der infantilen Cerebralparese handelt es sich um eine Störung im Gehirn, bevor die
Entwicklung von Bewegung und Wahrnehmung abgeschlossen ist (ungefähr bis zum
zweiten bzw. dritten Lebensjahr). Ursachen für die infantile Cerebralparese sind unter
anderen pränatalen Entwicklungsstörungen (z.B. durch Infektionskrankheit der Mutter),
Sauerstoffmangel während oder kurz nach der Geburt, Gehirnverletzungen durch
schweren Geburtsverlauf und Hirnerkrankungen im Säuglingsalter.
Arten der Cerebralparese sind die spastische Lähmung, die Athetose und die Ataxie.
Zwischen diesen Arten ist jegliche Mischung möglich.
 Spastische Lähmung
Bei der spastischen Lähmung ist der Muskeltonus erhöht. Es entsteht dadurch
eine deutliche Bewegungsarmut. Die Bewegungen sind in der Körpermitte fixiert.
Bewegungen außerhalb der Körpermitte sind nur schwer bzw. gar nicht möglich,
da betroffene Personen bei jeder Bewegung gegen den erhöhten Muskeltonus
ankämpfen müssen.
 Athetose
Bei der Athetose ist der Muskeltonus herabgesetzt. Die Bewegungen sind
überschießend und ausfahrend, da eine langsame und kontinuierliche
Tonussteigerung nicht möglich ist. Die Muskeln arbeiten nach dem Alles-oder-
Nichts-Prinzip. Betroffene Personen können kaum Bewegungen in der

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Körpermitte ausführen. Zudem ist eine feine Koordination der Beuge- und
Streckmuskulatur kaum möglich.
 Ataxie
Bei der Ataxie ist der Muskeltonus abwechselnd zu hoch oder zu niedrig. Das
Hauptmerkmal der Ataxie ist Koordinationsmangel. Betroffene Personen können
Arme und Beine relativ willkürlich und im vollen Ausmaß frei bewegen. Die
Bewegungen sind allerdings nicht sinnvoll, gezielt und dosiert. Dadurch
entstehen Schwierigkeiten beim gezielten Greifen.
Begleiterscheinungen sind herabgesetzte Wahrnehmung und Sprechschwierigkeiten
unterschiedlichen Grades (von leichten Artikulationsfehlern bis zur totalen Unfähigkeit,
die Sprechorgane ausreichend zu bewegen).

Schädelhirntrauma
Von einem Schädelhirntrauma spricht man, wenn eine Schädigung des Gehirns zu
einem späteren Zeitpunkt als der frühesten Kindheit auftritt. Mögliche Ursachen dafür
sind direkte oder indirekte Gewalteinwirkung, Unfälle, Vergiftungen oder sonstige
Sauerstoffmangelsituationen. Je nach Schweregrad der Gehirnverletzung wird in drei
Stufen unterteilt:
 Gehirnerschütterung – Commotio cerebri: Es handelt sich um eine reversible
Schädigung des Gehirnes, bei der keine Nervenzellen zerstört werden.
 Gehirnprellung – Contusio cerebri: Es handelt sich bereits um eine irreversible
Schädigung der äußeren Gehirnanteile. Es können motorische Ausfälle und
epileptische Anfälle auftreten, die jedoch nach einer gewissen Zeit wieder
verschwinden.
 Gehirnquetschung – Compressio cerebri: Es handelt sich um eine massive
Zerstörung von Hirngewebe. Ursachen sind unter anderem Gewalteinwirkung,
offene Schädelfrakturen, raumfordernde Prozesse im Gehirn wie z.B. Blutung oder
Tumore. Auswirkungen sind Störungen der Atemfunktion, der
Herzkreislauffunktion, Dysarthrien (Störung der Artikulation, der Atmung und der
Stimme) und motorische Ausfälle. Die Art der Ausfälle richtet sich dabei nach der
Lokalisation des zerstörten Hirngewebes. Es sind ähnliche Ausfälle wie bei der
Cerebralparese bemerkbar. Es kommt auch zu organisch bedingten
Persönlichkeitsveränderungen.

Insult
Beim Insult (Schlaganfall) kommt es zu einem arteriellen Verschluss. Dadurch wird das
dahinterliegende Gehirngewebe nicht mehr mit Sauerstoff versorgt und geschädigt. Es
treten Bewusstseinsstörungen und motorischen und sensorischen
Ausfallserscheinungen auf. Das Erscheinungsbild richtet sich nach der Lokalisation der
Hirnschädigung.
Sehr häufig tritt eine Hemiplegie (Halbseitenlähmung) auf. Durch die Schädigung einer
Großhirnhälfte kommt es zum Ausfall der gegenüberliegenden Körperhälfte. Betroffene
Personen bestehen aus zwei Körperhälften die unterschiedlich empfunden werden und
die nicht mehr zusammenspielen. Eine Folge sind Koordinationsstörungen.
Bei allen betroffenen Personen treten Störungen der Wahrnehmung auf. Durch Störung
der Tiefensensibilität sind zielgerichtete Bewegungen erschwert. Außerdem fällt die
Kontrolle über Bewegung und Koordination teilweise oder ganz aus. Auch kann die
Stereognosie, d.h. die Fähigkeit, Gegenstände taktil zu erkennen, herabgesetzt sein.

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Falls der Insult in der sprachdominanten Hemisphäre des Gehirns lokalisiert ist, kann es
zum Auftreten einer Sprachstörung, der sogenannten Aphasie, kommen. Bei der
Aphasie können jeweils auch das Lesen und Schreiben beeinträchtigt sein.
Nach einem Insult können zusätzlich Sehstörungen, Konzentrationsprobleme,
Gedächtnis- und Merkfähigkeitsstörungen, Störungen im visuellen Erkennen und auch
Störungen in der Raumwahrnehmung auftreten.

Muskelerkrankungen
Muskelerkrankungen sind meist progressive, d.h. fortschreitende Erkrankungen. Es
werden zwei Arten unterschieden:
 Dystrophie: Der Muskel wird in ein anderes Gewebe umgewandelt, z.B. in Binde-
und Fettgewebe
 Atrophie: Der Muskel verschwindet ersatzlos
Fehlt die Muskelkraft, so kann der Körper nicht gegen die Schwerkraft gehalten bzw.
aufgerichtet werden. Auch der Kopf kann nur noch passiv gehalten werden. Es können
auch Einschränkungen der Gesichts- und Mundmotorik und Artikulationsstörungen
auftreten.

Multiple Sklerose
Die Multiple Sklerose kann das gesamte zentrale Nervensystem (Gehirn und
Rückenmark) betreffen. Der Verlauf ist meist schubweise. Während eines Schubes
kommt es zu einer Entzündung der Markscheiden. Diese schwellen an und üben so
einen schädigenden Druck auf das Nervengewebe aus. Es kommt zu einer teilweisen
Unterbrechung der Leitung. Sobald die Entzündung abgeklungen ist, kann eine
Regeneration des Nervs erfolgen. Ist die Störung sehr schwerwiegend, so verbleibt ein
Funktionsdefekt. Nach der Regenerationsphase ändert sich das Zustandsbild bis zum
nächsten Schub nicht.
Da die Lokalisation der Entzündungsherde unterschiedlich ist, entstehen viele
verschiedene Ausfallsbilder. Man kann jedoch folgende Grundtypen unterscheiden:
 der spastische Typ: Die Extremitäten weisen einen stark erhöhten Muskeltonus
auf
 der ataktische Typ: zielgerichtete Bewegungen sind erschwert; Bewegungen
erscheinen kraftlos, fahrig und zittrig
 der schlaffe Typ: der Muskeltonus ist stark herabgesetzt. Die Extremitäten
erscheinen kraftlos.
Meist kommt es zu Mischformen dieser Grundtypen. Es kann auch zu Störungen der
Sprache und des Sprechens kommen.

Ältere Menschen: Bei älteren Menschen treten oftmals Störungen in der Wahrnehmung,
bei den kognitiven Fähigkeiten, bei Bewegungen, bei der Konzentration und bei
Gedächtnis und Merkfähigkeit auf.

Methoden

Mobilitätsbehinderung und Bewegungsbehinderungen können unterschiedlichste


Auswirkungen auf die Nutzung der herkömmlichen Methoden der Mensch-
Maschinekommunikation, von denen in der Folge nur die wichtigsten genannt werden.

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Für den Computerarbeitsplatz die bauliche Zugänglichkeit, behindertengerechte


Toiletten, die Unterfahrbarkeit der Arbeitsplätze etc. sehr wichtig.

Ausstattung des Arbeitsplatzes

Höhenverstellbare Arbeitsfläche Höhenverstellbarer Bildschirm /


Monitorarm

Fußraster Handauflage

Armstützen Keyboardschablonen (Treffsicherheit)

Tastaturalternativen

Spracherkennung Einhand Tastaturen

Ein/Mehrfachschalter OnScreen Keyboard

Schalterinterface Scanning

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Verstellbare Switch Switchsoftware

Ergonomisches Keyboard Kompakt Keyboard

Großflächentasten Saug/Blasschalter

Muskelkontraktionsschalter Näherungsschalter

Touch screen Touch Pad mit overlay

Mausalternativen

HeadTracker Eye-Tracker

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Zungenmaus/schalter Trackball

Joystick Hotkeys

Tastaturalternative für Mausbefehle

Eingabebeschleunigung

Predicitive Typing

Literatur

1. Vogelmayr W., Kieweg B., Blidon E.: „Pathologie der Behinderungsarten im


Behindertendorf Altenhof“; Schulungsunterlage; Institut für Physiotherapie,
Logopädie und Ergotherapie; Das Dorf, Altenhof
2. http://www.inclusion-europe.org/selfadvocacy/DE-EETR.html)
3. Miesenberger, K.; Morandell, M.; Petz, A.; Leahy, D.: ECDL-PD: International Co-
operation to Keep the Syllabus and MQTB Open for Everybody, in: Miesenberger,
K.; Klaus, J.; Zagler, W.; Burger, D.: Computers Helping People with Special Needs,
9th International Conference, ICCHP 2004, Paris, July 2004, Springer Heidelberg
2004

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14. AT für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen


Arten von kognitiven Beeinträchtigungen

Unter dem Begriff kognitive Beeinträchtigung versteht man ganz allgemein Menschen,
die Schwierigkeiten haben die Sprache des Landes, in dem sie leben, zu verstehen:
 Menschen mit besonderen Lernbedürfnissen oder Lernschwierigkeiten z.B.
Dyslexie, Legastehnie, Aphasie, Dyscalculi)
 Menschen mit anderen Behinderungen, die sich auf den Spracherwerb- und
gebrauch negativ auswirken, z.B. Hörbehinderung und Gehörlosigkeit
 Menschen mit eingeschränkter Bildung
 Menschen mit vielen sozialen Problemen
 Menschen aus dem Ausland (MigrantInnen)
 SeniorInnen
 Menschen mit psychischen Erkrankungen etc.

Zwar wird der Computer mit den Standardmethoden bedient, es ist aber, vergleichbar
mit den Bedürfnissen von hörbehinderten und gehörlosen Menschen, notwendig, durch
eine verständliche Sprache und Gestaltung der Lehr- und Lernmaterialien sowie der
Prüfungsfragen eine Qualifizierung zu erleichtern, ohne an der Qualität und am Niveau
der Inhalte oder der Prüfung etwas ändern zu müssen. Aufbauend auf den
Europäischen Richtlinien für leichte Lesbarkeit („easy to read“) [1] und den Ergebnissen
aus dem Projekt ECDL-PD [2] sollen Lehr- und Lernunterlagen gestaltet werden.
Ebenso ist wieder auf die ikonische Unterstützung mittels Symbolen, Bildern,
Animationen und Videos – d.h. Alternativen zum Text - besonderer Wert zu legen.
Für die Unterrichtssituation ist es wichtig, dass die Vortragenden die spezielle
Kommunikationsform mittels gut verständlicher und strukturierter Sprache beherrschen.

Methoden

Die wichtigste Methode für Menschen mit kognitiven Problemen ist eine den
NutzerInnen angepasste Textwahl. „Easy to read“ wurde bei Hörbehinderungen bereits
kurz erörtert.
Es wird auf die LVA „Dokumentenaufbereitung“ verwiesen.

Symbolunterstützte Texteditoren Symbolsoftware

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Touch screen Einfaches Keyboard

Touch Pad mit Overlays Motivationssoftware

Gedächtnistraining Systeme Software für lebenspraktische


Fertigkeiten (Alltag und Arbeitsabläufe)

OCR Stift Kommunikationssoftware


(AAC)

Scanner Personal Digital Assistant (PDA)

Portabler Editor mit Sprachausgabe Wörterbuch/Thesaurus

Rechtschreibprüfung Aufnahmegeräte

Dyslexie Diagnose Software Schreibtraining

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Aussprachetraining OCR

Concept Maps für die Strukturierung von Planungssoftware


Ideen und Gedanken

Graphik/Symbol/Sprachunterstützung begleitende Sprachausgabe


beim Lernen (Check der Rechtschreibung durch
Aussprache)

Sprachausgabe mit Rechtschreibprüfung, Wortvorhersage für Texteditoren


Wortvorhersage und OCR (Eingabebeschleunigung und
Rechtschreibcheck

Sprachausgabe SpeakOUT Spracherkennung

Literatur

1. http://www.inclusion-europe.org/selfadvocacy/DE-EETR.html)
2. Miesenberger, K.; Morandell, M.; Petz, A.; Leahy, D.: ECDL-PD: International Co-
operation to Keep the Syllabus and MQTB Open for Everybody, in: Miesenberger,
K.; Klaus, J.; Zagler, W.; Burger, D.: Computers Helping People with Special Needs,

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9th International Conference, ICCHP 2004, Paris, July 2004, Springer Heidelberg
2004

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15. AT für Menschen mit Sprach/Sprechbehinderungen

Definition und Eingrenzung

Sprach- und Sprechbehinderungen werden meist unter dem Thema Augmentative


(verstärkende) und Alternative Kommunikation (AAC, englisch: Augmenative and
Alternative Communication) behandelt. Dieser Begriff geht, wegen der Komplexität des
Phänomens und Konzepts Kommunikation, über den Bereich der eigentlichen
Sprach/Sprechbehinderungen hinaus. Er überschneidet sich vor allem mit dem Bereich
der kognitiven Beeinträchtigungen, wo Alternativen zur verbalen und schriftlichen
Kommunikation im Mittelpunkt stehen – dies wurde im entsprechenden Kapitel
angesprochen.

Die allgemeinen Kommunikationstheorie, die auf Shanon zurück geht, beschreibt


Kommunikation als einen Prozess der Übertragung von Information mittels Signalen
zwischen einem Sender und einem Empfänger. Es wird dabei nicht unterschieden, ob
es sich um biologische, menschliche oder technische Systeme handelt. Diese Theorie
erlaubt, unterschiedlichste Bereiche der Kommunikation zu untersuchen und
Anforderungen bzw. Probleme der Kommunikation zu diskutieren, ob es das Erzeugen,
das Codieren, das Senden, das Empfangen, das Decodieren, das Verstehen, … der
Information betrifft. Als Semiotik, zuerst vor allem von Morris und Peirce, wird die
technische Informationstheorie gegliedert in die schon diskutierten Ebenen der Syntax,
Semantik und Pragmatik. So gewinnt die Informationstheorie jene Breite, die es erlaubt,
unterschiedlichste Phänomene bis hin zum Denken als Prozess der
Informationsverarbeitung und Kommunikation zu beschreiben.

Dem folgend versucht z.B. Zagler [1] Kommunikation, Problembereiche und


Behinderungen und AAC umfassend zu definieren in den Bereichen

 Interpersonelle
o Direkte
o Tele-
 Mensch-Maschine

Kommunikation. Hilfsmittel zur Überwindung von Beeinträchtigungen sind

 Körpereigene (Mimik, Gestik, Sprache, …) und


 Externe (nichtelektronische und elektronische)

Methoden.

Ähnliche Definitionen von AAC lauten dem folgend:

Unter "Alternativer und Augmentativer Kommunikation" (AAC, Alternative and


Augmentative Communication) verstehen wir alle Strategien und Techniken, durch
die die üblichen Kommunikationsmethoden wie gesprochene Sprache oder
schriftliche Verständigung durch andere Verfahren ergänzt oder ersetzt werden,

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wenn die primären Kommunikationsmethoden durch eine Behinderung


beeinträchtigt sind. Damit soll u.a. die kommunikative Situation von nicht- oder
kaum sprechenden Menschen verbessert werden, indem ihnen Hilfsmittel,
Strategien und Techniken als Ergänzung oder Ersatz für ihre Lautsprache zur
Verfügung gestellt werden. [HOL 97, STR 98, FAN 97, in: 1].

Augmentative and Alternative Communication (AAC) refers "to an area of


research, clinical, and educational practice. AAC involves attempts to study and
when necessary compensate for temporary or permanent impairments, activity
limitations, and participation restrictions of individuals with severe disorders of
speech-language production and/or comprehension, including spoken and written
modes of communication" [ASHA, 2005, p. 1, in:1].

Individuals with severe communication disorders and for whom gestural, speech,
and/or written communication is temporarily or permanently inadequate to meet all
of their communication needs use AAC.

AAC geht demnach über den Bereich der Sprach- und Sprechbehinderung hinaus und
es kann zu Verwirrung in Bezug auf die Abgrenzung führen. Vor allem gelingt den
Definitionen nicht, die allgemein unter AAC behandelten Bereiche der Unterstützung
des Sprechens bzw. Sprachverstehens als Basis für die Kommunikation
herauszuheben. Da jede Form der Behinderung mehr oder minder als Problem der
Information bzw. Kommunikation beschrieben werden kann, würde AAC universelle
Bedeutung erlangen.

Wir haben AAC in unserer Lehrveranstaltung in den Kapiteln kognitive


Beeinträchtigungen / Lernbehinderungen (Kapitel 11) und eben hier bei
Sprach/Sprechbehinderungen thematisiert.

In jedem Fall bezieht sich AAC auf die folgenden Bereiche der Unterstützung:

 Bereitstellung eines Mediums (Sprache, Symbole, Gesten, …)


 Zugang und Handhabung des Mediums (z.B. durch HCI und Einsatz weiter AT)
 Repräsentation der Nachricht (Symbole, Gesten, Sprache, …)
 Interaktionsunterstützung

Bedeutung der Sprache

Die Breite der Definition von Information und Kommunikation bringt aber auch die
Bedeutung der Sprache zum Ausdruck. Letzten Endes sprechen solche Definitionen
alle Bereiche des Sprechens, Hörens, Sehens, Fühlens, Lesens, Schreibens, … an, die
in der Kommunikation oder AAC Bedeutung haben [Zagler, S. B25]. Die Einschränkung
auf den Bereich der Unterstützung beim Sprechen – dem aktiven Vermitteln von
Information - , sei es wegen kognitiver Probleme oder Problemen des Sprechapperates,
worauf sich AAC letzten Endes bezieht, erscheint entsprechend künstlich.

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Über die Sprache sind wir in der Welt. Unser Menschen-, Welt- und Selbstverständnis
ist ein sprachliches. Wir fassen die Welt in Begriffen und konstruieren die Wirklichkeit
über sprachliche Konstrukte. In der Sprache zu sein, bedeutet, in der Welt zu sein.
Sprache zu Beherrschen, ist wohl das zentralste Werkzeug der Partizipation an der
Lebenswelt. Jede Beeinträchtigung des Umganges mit Sprache beeinträchtigt und
behindert diese Partizipation. Jede Beeinträchtigung der Interaktion und
Kommunikation, wie sie am unmittelbarsten bei Problemen des Sprechens auftreten,
führt zu Beeinträchtigungen in der Partizipation an der Lebenswelt.

Die gesprochene menschliche Sprache ist wesentlich mehr, als die bloße
Aneinanderreihung von Buchstaben und Wörtern und deren Umformung in ein
phonetisch korrektes Lautbild. Sprache ist an ein kompliziertes Zusammenspiel von
sensorischen, motorischen, emotionalen und sozial-kommunikativen
Funktionsbereichen gebunden. Die ganze Palette der Emotionen schwingt über unsere
Stimme und den Sprechvorgang mit (Tonhöhe, zeitlicher Verlauf, Art der Artikulation,
Mimik, Gestik, …). Verschriftlichung, Sprachausgabe, Symbole, Photos, … sind nicht in
der Lage, dies vollständig zu ersetzen. Wir erleben selbst in diesem Lehrgang, wie sehr
Telekommunikation (Tele-Lernen!) der unmittelbaren Form direkter personeller
Kommunikation unterlegen ist.

Die Bedeutung der Sprache formt Erwartungen an das Kommunikationsverhalten.


Behinderungen, vor allem Sprechbehinderungen führen zu Irritation und zu Problemen.
Neben den Problemen der entsprechenden Aufbereitung und Wiedergabe der
phonetischen Parameter kann alleine die Beeinträchtigung in der Verwendung der
Körpersprache zu Stigmatisierung führen (z.B. Probleme im Erlernen der Sprechhaltung
bei sehbehinderten Menschen).

Die Qualität von Sprache, Sprachersatz oder Sprach/Sprechunterstützung sind daher


z.B. in Bezug auf phonetische Qualität, Vermittlung von Emotionen, Ermöglichung von
Individualität, Erwartungskonformität, … sind für AAC, neben der reinen
Vermittlungsfunktion, von entscheidender Bedeutung.

Eine Vielzahl von Behinderungen gewinnt ihre lebenspraktische Bedeutung erst durch
die Tatsache, dass sie die sprachliche Interaktion und Kommunikation beeinträchtigt.
Dies kann z.B. wegen motorischer Probleme Körpersprache, Mimik und Gestik
betreffen, betrifft aber auch ganz allgemein die Stigmatisierung wegen Behinderung und
die folgende Verminderung der Interaktion und Kommunikation.

Sprachstörungen führen so oft - über den weiten Bereich der eingeschränkten


Kommunikationsfähigkeit hinaus – zu Problemen z.B.

 In der kognitiven und intellektuellen Entwicklung


 In Umfang und Qualität sozialer Kontakte
 In der persönlichen Entwicklung (Identität)
 In den Möglichkeiten der Selbstbestimmung

Sie unterstreichen das Potential von AT für AAC, wenn man Menschen wieder „eine
Stimme geben kann.

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Damit ist bei Sprache, vor allem beim Spracherwerb, die dynamische Wechselwirkung
zwischen

 auditiven
 sensomotorische
 haptischen und
 kinästhetischen

Rückkoppelungsprozessen und zwischen

 kognitiven und
 sprachlichen

Funktionen zu beachten. Die Dimensionen möglicher Beeinträchtigungen der


Kommunikation des Individuums und der sozialen Konstellation müssen daher
Berücksichtigung finden. Unter Umständen wiegt das subjektive Erleben der
Kommunikationsstörung (Missverständnisse und Ablehnung seitens der Umwelt) für
den einzelnen schwerer als der "objektive" Grad der Störung selbst. Die negative
Umweltreaktion wiederum kann regelkreisartig die Sprachstörung verschlechtern.

Arten von Sprach/Sprechbehinderungen

Grohnfeldt [2] beschreibt Sprach/Sprechbehinderungen:


„Beeinträchtigungen der Sprache umfassen eine Vielzahl von Störungen,
wobei eine oder mehrere Funktionen des Sprachverständnisses oder des
Sprachgebrauchs betroffen sein können. Ebenso breit gestreut ist der
Schweregrad, der von leichten Lautbildungsstörungen (insbesondere der S-
Bildung) bis zu schwersten zentralorganischen Sprachstörungen reichen
kann. Dabei bestehen fließende Übergänge zu anderen
Behinderungsformen, vor allem zu Lern- und Verhaltensstörungen. Weiterhin
können Sprachstörungen im Zusammenhang mit Körperbehinderungen (z.B.
Dysarthrophonien) und als Sekundärfolge von Hörschäden auftreten.
Entsprechend differenziert sind die spezifischen Bedingungen und Hilfen bei
der Berufswahl und der beruflichen Eingliederung.“

Als ganz allgemeine Definition von Knura/Neumann [3] kann man folgende ansehen:

"Sprachbehinderte sind Menschen, die beeinträchtigt sind, ihre


Muttersprache in Laut und/oder Schrift impressiv und/oder expresssiv
altersgerecht zu gebrauchen und dadurch in ihrer Persönlichkeits- und
Sozialentwicklung sowie der Ausformung und Ausnutzung ihrer Lern- und
Leistungsfähigkeit behindert werden."

Sprechbehinderung ist somit ein Oberbegriff für eine Vielzahl von Abweichungen in
[vgl.: 2]:

 der Sprachentwicklung bei Kindern und Jugendlichen


o Lautbildung
o Begriffsbildung

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o Grammatik (Dysgrammatismus)
 dem Sprechen bzw. der Fähigkeit, sprachliche Strukturen für die Kommunikation
zu verwenden durch spastische, hyptertonisch oder hyperkinetische Lähmungen
z.B. wegen
o Dysarthrophonie: neural bedingte Störungen der Sprechbewegung durch
 Aphasie nach Abschluss des Spracherwerbs: Schalganfall, Unfall
 Zerbralparesen
 Schädel-Hirn-Trauma
 Morbus Parkinson
 Multiple Sklerose
 Heredo
 Ataxie
 Amyotrophische Lateralsklerose
 Chorea Huntington
 etc.
o Dysglossien: Angeborene (z.B. Gaumenspalten) oder erworbene (z.B.
Kehokopflähmung, hormonelle Probleme, Mutationsstörungen)
Veränderungen der Sprechorgane
 dem Redefluss und der Artikulation:
o Sigmatismus (Stammeln: Lautverwechslung, Auslassen)
o Stottern
o Poltern (hastig)
o Sprechangst (Logophobie)
o Mutismus (psychisch bedingtes Schweigen)
 der Stimme (Stimmklang, Lautstärke, Ermüdung/Anstrengung, Tonhöhe)

Die Uneinheitlichkeit des Erscheinungsbildes von Sprachbehinderungen ist Ausdruck


der unterschiedlichsten Ursachen. Wichtig ist die Abgrenzung von Sprachstörungen im
engeren Sinne zu Lernbehinderungen und Verhaltensauffälligkeiten
(Verhaltensstörungen), wie oben bereits angesprochen. Ebenso sind vermehrt
Störungen des Lesens und Schreibens bei komplexen Sprachentwicklungsstörungen zu
beobachten (Teilleistungsstörungen), die bis ins Erwachsenenalter hineinreichen und
zum Analphabetismus führen können.

Methoden

Tetzchner/Martinsen [4] unterschiedet 3 Zielgruppen für AAC:

 Unterstützung des expressiven Ausdrucks bei grundsätzlichem


Sprachverständnis ohne Möglichkeit des Sprechens
 Ergänzung zur Lautsprache oder als Entwicklungsanregung bei
grundsätzlichem Sprachverständnis oder Entwicklungsmöglichkeit aber
unverständlicher Sprache
 (Ersatzsprache bei fehlendem Verständnis der Lautsprache: Siehe kognitive
Behinderungen)

Bei den Hilfsmitteln unterscheidet man allgemein [vgl.: 5]

 Körpereigene
 Externe

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o Nicht elektronische
o Elektronische

Körpereigene Kommunikationsformen

Zur Überwindung von Problemen in der Nutzung der Lautsprache werden

 Lautsprachreste
 Körpersprache
o Blickbewegungen
o Mimik
o Zeigegesten
o Gesten
 Vokalisierungen
 konventionelle oder individuelle Gebärden
 konventionelle oder individuelle Zeichen für "Ja" oder "Nein"
 individuelle Signale oder Signalsysteme
 Schriftsprache

In unterschiedlichen Kombinationen und Konstellationen eingesetzt. Dabei ist eine


intensive Beobachtung und ein intensiver Kontakt für das Gelingen der Kommunikation
notwendig. Je schwerer die Beeinträchtigung ist, desto größer wird der Lern- und
Anpassungsbedarf auf beiden Seiten, dass körpereigene Methoden das Sprechen
ersetzen können.

Nichtelektronische Hilfsmittel

Zu den nichtelektronischen Kommunikationshilfen zählen alle Arten von individuellen


Symbol- oder Fotomaterialien. Sie sind einfach und günstig zu erstellen, verlangen aber
Nähe und Kommunikationserfahrung. Die Präsentation kann in unterschiedlichsten
Formen realisiert werden:

 einzelne Fotos mit Text


 einzelne Kommunikationstafeln mit Symbolen oder Fotos in Form von Sichthüllen
oder laminiert
 Kommunikationsordner oder -buch
 in der Form von einzelnen Symbol-, Wort- oder Fotokarten
 als klapp- bzw. faltbare Tafel
 durch Benutzung so genannter Telefonkartenbücher oder Visitenkartenbücher
 ...

Bestehende Symbolsammlungen oder Symbolsysteme können als Basis hierfür


verwendet werden. Symbole sind graphische Objekte, denen gemeinsam ist, dass sie
[vgl.: 6]

 etwas anderes (Objekt, Person, Tätigkeit, Gefühl...) repräsentieren sollen,


 in gezeichneter, gedruckter oder auf einem Bildschirm abgebildeter Form
zweidimensional existieren können,
 weitgehend unabhängig von einer bestimmten Sprache sind und keinen
Lautbezug haben,

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 häufig einfacher zu erlernen und zu verwenden sind als die Schriftsprache, u.a.
weil ein beträchtlicher Teil von ihnen piktografisch, ikonisch und metapherhaft ist
und somit einen unmittelbareren Bezug zu dem Gemeinten hat

Sie unterscheiden sich in Hinsicht auf die subjektive Einschätzung für

 Transparenz (Symbolkraft, Metapher): Erkennbarkeit der Bedeutung


 Konstanz: Unabhängigkeit in der Darstellung (Perspektive, Strichart, Farbe
Komplexität, Details, die Strichstärke, Exaktheit ...

Symbolsammlungen [ 9]

Weltweit existieren zumindest 40 Symbolsammlungen für die Unterstützung von


Menschen mit Sprechbehinderungen und/oder kognitiven Problemen. Die Problematik
von Symbolsammlungen liegt darüber hinaus meist darin, dass sie

 eine genau festgelegte Anzahl vorgegebener Abbildungen aufweisen


 keine oder kaum Erweiterungsmöglichkeiten bieten und
 keine eindeutigen Anwendungsregeln mitliefern.

Pictogram Ideogram Communication (PIC): Symbolsammlung mit 400 Symbolen.

 Autor: S.C. Maharaj, Kanada, 1980


 Zielgruppe: nichtsprechende Menschen (besonders solche mit visuellen
Wahrnehmungsstörungen).
 Anwendungsregeln: nein.
 Erweiterungsmöglichkeiten: nein.
 Besonderheiten: weiße Symbole auf schwarzem Untergrund.

Touch'n Talk: Stickersammlung mit 600 Symbolen In schwarz-weiß oder Farbe (heißt
dann "Pick 'n Stick")

 Autoren: C. Drolet, K.Hume, USA, 1983/86.


 Zielgruppe: nichtsprechende Kinder und Erwachsene.
 Anwendungsregeln: nein.

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 Erweiterungsmöglichkeiten: Auf leeren Stickern können selbsterfundene


Symbole gezeichnet werden.
 Besonderheiten: Abbildungen ohne Text auf Aufklebern, überwiegend klare
Umrisszeichnungen, manche häufiger benötigte Symbole sind doppelt vorhanden.

COMPIC: Sammlung mit 1200 Symbolen.

 Autor: COMPIC Development Association, Australien, 1986/89.


 Zielgruppe: Menschen mit schweren Kommunikationsstörungen und solche, die
nicht lesen können.
 Anwendungsregeln: eher Empfehlungen.
 Erweiterungsmöglichkeiten: nein.
 Besonderheiten: recht prägnante, mit dem Computer erstellte
Umrisszeichnungen; existiert in gedruckter Form und als Computersoftware; für
verschiedene Wortarten werden unterschiedliche Farben empfohlen.

Conununiquer et Apprendre par Pictogrammes (cap): Sammlung mit ca. 1200


Symbolen.

 Autoren: E. Counet u.a., Belgien, 1988.


 Zielgruppe: nichtsprechende Kinder und Jugendliche.
 Anwendungsregeln: nur Empfehlungen.
 Erweiterungsmöglichkeiten: nein.
 Besonderheiten: klare, meist eindeutige Umrisszeichnungen; Wortarten werden
durch unterschiedliche Umrahmung hervorgehoben; Bedeutungen der Symbole
und Begleitmaterial in französischer Sprache.

Löb-Symbole: Sammlung mit 60 Symbolen

 Autor: R. Löb, Amberg 1985.


 Zielgruppe: Nichtsprechende körper-/geistigbehinderte Kinder.
 Anwendungsregeln: Nur Empfehlungen
 Erweiterungsmöglichkeiten: nein

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 Besonderheiten: In Deutschland entwickelt, z.T. Bezüge zu Gebärden (zu jedem


Symbol werden auch entsprechende Gebärden beschrieben).

Aladin Bildersammlung: Sammlung mit über 1000 Symbolen.

 Autoren: Th. Quebbemann, M. Glöckner, Wetter 1993.


 Zielgruppe: nichtsprechende Menschen
 Anwendungsregeln: nein
 Erweiterungsmöglichkeiten: Ergänzung durch andere Symbole
 Besonderheiten: Entstanden in Verbindung mit dem Computerprogramm
„ALADIN“ aber auch unabhängig davon als Buch erhältlich.

Symbolsysteme

Demgegenüber verfügen die Symbolsysteme über:

 ein umfangreicheres Vokabular


 einen logischeren Aufbau
 Erweiterungsmöglichkeiten
 ein Regelwerk für die praktische Anwendung.

Beispiele sind die BLISS-Symbole, PCS, PICSYMS. Einige der bekanntesten


Zusammenstellungen grafischer Kommunikationssymbole sollen nachfolgend
vorgestellt werden.

BliSS-Symbolsystem

Das Pferd und die Kuh sitzen im Gras und fressen

 Zielgruppe: ursprünglich nicht behinderte Erwachsene aus aller Welt; BCI: nicht
sprechende Menschen.
 Autor: Charles K. Bliss, 1965. Erweitert von Blissymbolics Communication Inter-
national (BCI) in Toronto, Kanada.
 Grundsymbole: 2400
 Anwendungsregeln: ja

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 Erweiterungsmöglichkeiten: ja, viele ("Indikatoren" zum Kennzeichnen von


Verben, Adjektiven, Plural usw.; Strategien, Kombinieren neuer Symbole).
Besonderheiten: wenige einfache, klare Grundformen; sehr ausbaufähig, an
Muttersprache anpassbar, Symbole leicht reproduzierbar, gute
Ausbildungsmöglichkeiten, viele Lehr- und Arbeitsmaterialien,
Computerprogramme, weltweit verbreitet.

PICSYMS:

 Zielgruppe: nicht sprechende Kinder und Erwachsene.


 Autorin: F. Carlson, USA, 1985.
 Grundsymbole: ca. 800
 Anwendungsregeln: ja, aber mehr als Empfehlungen.
 Erweiterungsmöglichkeiten: Plural- und Zeitenbildung, Verwenden von Farben
nach eigenem Ermessen, Erfinden neuer Symbole.
 Besonderheiten: überwiegend einfache Umrisszeichnungen, ausbaufähig, von
der Grafik eher auf Kinder ausgerichtet.

Picture Communiction Symbols (PCS):

 Zielgruppe: nicht sprechende Kinder und Erwachsene.


 Autorin: R. Mayer-Johnson, USA, 1981,1985.
 Grundsymbole: ca. 1800
 Anwendungsregeln: nein, nur kurze Hinweise.
 Erweiterungsmöglichkeiten: nach eigenem Ermessen Ändern der Symbole oder
ihrer Bedeutungen, Kombination mit BLISS, Fotos, Zeichnungen.
 Besonderheiten: auch ohne englische Symbolbedeutungen erhältlich;
überwiegend klare Umrisszeichnungen; z.T. halb fertige Symbole zum
Weitergestalten (z.B. Gesichter, Behälter); viele Symbole zum Beeinflussen des
Gesprächsverlaufs.

Weitere Systeme:

o Rebus (Software der Firma Widget)


o Makaton Symbols (basierend auf Rebus)
o Minspeak Symbols (Minsymbols)

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Hilfen zum Erkennen grammatikalischer Strukturen bieten lediglich das BLISS-System


(durch kleine Symbole, die "Indikatoren", etwa bei Verben oder Adjektiven).

Die Wahl der Symbole ist von vielen individuellen und situativen Faktoren abhängig und
daher schwer zu definieren. Folgender Fragenkatalog kann eine Hilfe zur Beurteilung
verschiedener Symbol-Sammlungen oder -Systeme sein [ ]:

1. Welchen Umfang hat das Symbol Vokabular?


2. Wie ist es gegliedert (alphabetisch, nach Kategorien, ohne System)?
3. Für welche Begriffe gibt es Symbole (konkrete, abstrakte Begriffe)?
4. Welcher Art ist die Darstellung der Symbole (klar, einfach, ansprechend,
professionell gezeichnet, ohne überflüssige Details usw.)?
5. Welche Form der Kommunikation ist möglich (Telegrammstil, Mehrwortsatz,
Kombination mit Schriftsprache)?
6. Handelt es sich um ein logisch aufgebautes Symbolsystem?
7. Kann der Umgang mit den Symbolen zur Förderung der kognitiven und sprachli-
chen Entwicklung beitragen?
8. Können die Symbole eine Brücke zur Schriftsprache darstellen?
9. Gibt es Erweiterungsmöglichkeiten (Entwickeln eigener Symbole; Hinweise
dazu)?
10. Existieren Begleitmaterialien zur Anleitung?
11. Gibt es für die Vermittler der Symbolmethode Ausbildungsmöglichkeiten?
12. Gibt es wissenschaftliche Literatur zu der Symbolmethode?
13. Lassen sich die Symbole reproduzieren (Zeichnen ohne oder mit Schablone,
Computer, Fotokopien)?
14. Welche kognitiven Anforderungen werden an den Lernenden gestellt kopieren)?
15. Werden die beabsichtigten Begriffe durch repräsentative Symbole dargestellt?
16. Kann man viele (piktografische) Symbole auf Anhieb identifizieren?
17. Wo kann man die Symbole beziehen?
18. Wieviel kosten sie?

Geeignete Begriffe für ein erstes Symbolvokabular kann man auf verschiedene Weise
finden, z.B. indem man:

 Interviews mit den Bezugspersonen des potentiellen Benutzers und ihm selbst
durchführt,
 alle wichtigen Einflüsse der Umgebung genau analysiert (Tagesablauf, Perso-
nen, Tätigkeiten, Objekte, Orte usw.),
 ausgiebige Beobachtungen, u.U. auch Videoaufzeichnungen, vornimmt,
 selbst Wort- und Phrasenlisten anlegt oder existierende Wortlisten durchsucht
und durch individuell abgestimmte Begriffe ergänzt.

Wird die Festlegung der ersten Symbole innerhalb eines Förderprogramms in der Regel
stark von den Bezugspersonen bestimmt, so hat es sich doch häufig in der Praxis
gezeigt, dass die Symbolanwender selbst bei zunehmender Beherrschung ihres
erweiterten Kommunikationssystems immer aktiver die Entwicklung und Ausweitung
ihres Vokabulars beeinflussen können. In diesem Zusammenhang ist es wichtig,
geeignete Symbole einzuführen, mit denen "Ich brauche hierfür ein Symbol!" mitgeteilt
werden kann.

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Die Nutzung einer verbreiteten Basis erweitert den Kreis der Kommunikationspartner
und das Nutzen weiterer Services. Mischen und Erweitern von Sammlungen ist gängige
Praxis.

Mittels Gruppierung in so genannte Thementafeln werden Symbole für einzelne


Themenbereiche erstellt, z.B. Rechnen, Sport, Essen, Kochen, …. Diese ergänzen
allgemeine Tafeln, die den allgemeinen bzw. individuellen Lebensraum der Person
erfassen (Personen, Ortsbezeichnungen, Zeit, Gefühle, Eigenschaften, …)

Das allgemeine Wahrnehmungs- und Verarbeitungspotential ist für die Entscheidung


über Anzahl, Größe, Komplexität, … der Symbole entscheidend.

Eingeführte Symbole oder Bilder sollten möglichst ständig verfügbar sein, weil sie den
Kommunikationshorizont für die Person bilden.

Kommunikationstafeln haben den Vorteil, dass sie relativ billig, leicht und schnell
herzustellen und ziemlich robust sind. In der Anwendung setzen sie allerdings die
Aufmerksamkeit und unmittelbare Nähe einer Bezugsperson voraus.

Elektronische Hilfsmittel

Die IKT hat den Einsatz von Symbolsystemen erleichtert und unterstützt und darüber
hinaus weitere Möglichkeiten der Verbesserung der Kommunikation bereitgestellt. Der
Kommunikationshorizont kann dadurch beträchtlich erweitert werden:

Verstärkung bzw. Anpassung der Sprache bietet Möglichkeiten, schlechte oder


fragmentarisch gebildete Sprache besser verständlich und ausdrucksreicher zu
machen.

 Sprachgenerierungssysteme (SGS, Talker)


o „recorded speech“: Aufgezeichnete Wörter, Sätze, Geräusche, …
ermöglichen es Menschen mit Sprachbehinderungen, die Stimme anderer
Personen für die Kommunikation zu verwenden.
o Sprachsynthese gibt Menschen mit Sprachbehinderungen die Möglichkeit,
selbst erstellte Texte bzw. Textbausteine für die Kommunikation
einzusetzen. Möglichkeiten der Veränderung von Sprachparametern
ermöglicht die Individualisierung der Sprache, was, wie angesprochen,
von entscheidender Wichtigkeit für die Qualität des Ausdrucks ist.
 Symbolsysteme finden hierbei Einsatz für
o Ausgabe von Sprache (aufgenommen oder synthetisch)
o Zusammenstellen von Nachrichten
 Textprozessoren, meist in Verbindung mit Sprachausgabe, ermöglichen eine
effizientere Kommunikation
 Predicitve Typing wird eingesetzt, um die Kommunikation zu verbessern.
 Scanning ermöglicht die Auswahl von Symbolen und die Aktivierung von
Nachrichten über Einfach- oder Mehrfachschalter

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 Spracherkennung ermöglicht es Menschen mit Sprachbehinderung, dass das von


Ihnen gesagte maschinell erkannt wird und in der Folge über synthetische Sprache
oder Schriftsprache wiedergegeben wird. In vielen Fällen sind
Spracherkennungsprogramme besser in der Lage, die Sprachreste einer Person zu
verstehen als ein Mensch. Die Spracherkennung beruht auf der Erkennung von
Sprachstrukturen und nicht, wie beim Menschen, der human-kommunikativen
Qualität. So erkennt Spracherkennung oft Sprache, die für einen nicht vertrauten
Menschen nicht verständlich ist
 Sprachübersetzung bietet erste Ansätze, Symbole in Text/Lautsprache zu
übersetzen und vice versa.

Die meisten dieser ATs basieren heute auf den Einsatz eines PCs und der
herkömmlichen HCI. Symbolsysteme, Talker und Sprachübersetzungssysteme binden
Symbole in eigenen Programmen oder in die allgemeine HCI mit ein.

Entscheidend ist, wie allgemein in der WIMP-Interaktion, dass Möglichkeiten der


direkten Manipulation verfügbar gemacht werden (z.B. Touchscreen) und die
Erzeugung der Nachrichten effizient unterstützt wird (Textprozessoren, Predicitve
Typing, …)

Der Einsatz elektronischer Hilfsmittel setzt meist das Beherrschen von körpereigenen
bzw. nicht elektronischen Kommunikationsformen voraus. Wie immer ist AT ein
Unterstützung und kein Ersatz für herkömmliche Methoden der Überwindung einer
Behinderung. Auswahl und Anwendung sollten daher auf entsprechender Diagnose
(Medizin, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie) und
therapeutischen/pädagogischen Programmen beruhen, um eine den Kompetenzen und
dem Entwicklungspotential entsprechende Auswahl zu treffen. Die Situation des
Einsatzes ist ebenso zu berücksichtigen bei der Wahl der Methode und des Trainings.

Einige Beispiele:

 Clicker

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 Symbol for Windows

 Writing with Symbols, GridMaker (Mayer-Johnson)

 Mayer-Johnson Boardmaker

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 DynaVox Technologies

 Paca-Paca (Pocket PC)

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 Toby Churchill Limited (Lightwriters)

 Saltillo Corporation

 Ablenet

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 The Great Talking Box Company

 Lingraphica

Literatur
[1] Zagler, W.: Habilitationsschrift, Wien 2004, S. A209
[2] Grohnfeldt, M.: Sprechbehinderung, online am 11.1.07 auf:
http://195.185.214.164/bb/p365.htm
[3] Knura, G.; Neumann, B. (Hrsg.): Pädagogik der Sprachbehinderten (Handbuch der
Sonderpädagogik Bd. VII), Berlin 1980
[4] von Tetzchner, St.; Martinsen, H.: Introduction to symbolic and augmentative
communication. London 1992
[5] Kirsten, U.: Unterstützte Kommunikation in der Praxis, in: Behinderte in Familie, Schule und
Gesellschaft Nr. 4/5/2000, Praxis in der Heftmitte S. 1-11. Thema: Die Kultur der Vielfalt
Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (4/5/2000)
[6] Franzkowiak, T.: Verständigung mit grafischen Symbolen. In: Braun, Ursula (Hrsg.):
Unterstützte Kommunikation. Düsseldorf 1994, 22 - 32

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