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Leben

ohne Institution ?

Perspektiven für das Wohnen


geistig behinderter Menschen
mit hohem Hilfebedarf

Tagungsbericht
DHG-Fachtagung
28. / 29. 11. 2002, Halle/Saale

2003 p p p DHG-Schriften p p 10
DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT (HRSG.)

LEBEN OHNE INSTITUTION ?

PERSPEKTIVEN
FÜR DAS WOHNEN
GEISTIG BEHINDERTER MENSCHEN
MIT HOHEM HILFEBEDARF

TAGUNGSBERICHT
DHG-FACHTAGUNG
28./29.11.2002, HALLE / SAALE

IN KOOPERATION MIT

LEBENSHILFE FÜR MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG


LANDESVERBAND SACHSEN-ANHALT
MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE-WITTENBERG
INSTITUT FÜR REHABILITATIONSPÄDAGOGIK

̈ IMPRESSUM ________________________________________________
HRSG.: DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT E.V. (DHG)
REDAKTIONELLE BEARBEITUNG: CHRISTIAN BRADL
FOTOS: LOTHAR HILDEBRANDT
EIGENVERLAG DHG
© DHG 2003, HALLE / DÜREN 2003

DHG-GESCHÄFTSSTELLE:
HEILPÄDAGOGISCHES HEIM DÜREN, MECKERSTR. 15, 52353 DÜREN
INTERNET: WWW.DHG-KONTAKT.DE
EMAIL: MAIL@DHG-KONTAKT.DE
̈ INHALT _______________________________________________________________________

Inhalt

Vorwort ................................................................................................................................................... 7

̈ ZUR EINFÜHRUNG
CHRISTIAN BRADL: Leben ohne Institution ?
Begrüßung und Einführung .....................................................................................................................8
̈ GRUSSWORTE
JUTTA HILDEBRANDT, Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung,
Landesverband Sachsen-Anhalt ..........................................................................................................12
REINH. NEHRING, Ministerium für Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt ...................14
̈ SO WOLLEN WIR WOHNEN ! ..............................................................................................................17
̈ BEHINDERTENHILFE I M UMBRUCH
GEORG THEUNISSEN: Behindertenarbeit im Lichte von Inclusion, Partizipation und Empowerment
unter besonderer Berücksichtigung der Frage des Wohnens von Menschen mit sogenannter
geistiger Behinderung und hohem Assistenzbedarf ............................................................................18
PETER DIETRICH: Das neue Heimgesetz und die Folgen ......................................................................29
̈ BEHINDERTENHILFE I M UMBRUCH
BETTINA LINDMEIER: Leben ohne Institution. Das Konzept des „supported living“
als Schlüsselkonzept für die Behindertenhilfe ......................................................................................35
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN UND WORKSHOPS
MELANIE DOHLE: Kurzdarstellung der SELAM Lebenshilfe Oldenburg .................................................46
BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE: Ambulante Unterstützung beim Wohnen für Menschen
mit geistiger Behinderung - eine Empfehlung ......................................................................................48
GEORG THEUNISSEN: Umgang mit herausforderndem Verhalten ..........................................................54
ANTJE KOEPP: Enthospitalisierung - keine Chance für den „harten Kern“ ............................................56
DANIEL KASPER: Zusammenfassung einer Gruppendiskussion der Arbeitsgruppe 5 ...........................59
MONIKA SEIFERT / JUTTA HILDEBRANDT: Eltern und Profis -
Widersprüche oder gemeinsamer Weg ? .............................................................................................61
THEODORUS MAAS: Ohne Institution leben - was muss sich in der Gemeinde ändern ? ...................63
KAI-UWE SCHABLON: Assistenz und Gemeinswesenarbeit als Profession - was verändert sich
in Berufsbild und Arbeitsfeld der Behindertenarbeit ? .........................................................................68
JOACHIM SCHOLZ: Nutzerorientierte Dienstplanung ..............................................................................76
̈ THEATER
THEATERGRUPPE „DAS FANTASTISCHE ECHO“, Wohnhaus Fohlenweg Lebenshilfe Halle:
Die geheimnisvolle Reise des gelben Koffers ......................................................................................85
̈ ZUM ABSCHLUSS
CHRISTIAN BRADL: Für ein Leben ohne Institution. Chancen und Gefahren - Schlusswort ................87
DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT: Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben
in der Gesellschaft - auch für Menschen mit geistiger Behinderung und hohem Hilfebedarf ..............88
DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT: Pressemmitteilung ......................................................95

____________________________________ 5 ____________________________________
̈ VORWORT ____________________________________________________________________

Vorwort

Mit Fortschritten in der Behindertenpolitik nen, überörtliche Kommunalverbände und


sowie neuen Zielen und Handlungsmodellen in Bundesländer steuernd ein; viele arbeiten be-
der Behindertenhilfe, aber auch mit der anhal- reits am Umsteuern in Richtung weniger
tenden Krise des Sozialstaats geraten Heime Heimplätze und mehr ambulant betreute
erneut in die Diskussion. Wohnformen – „aus fachlichen und finanziellen
Selbstbestimmung, gleichberechtigte gesell- Gründen.“
schaftliche Teilhabe und Vermeidung von Be- Wissenschaftler, Selbsthilfegruppen und Fach-
nachteiligungen wurden als oberste Ziele ins kreise machen sich für eine Heim-Enquête
neue SGB IX geschrieben. Zugleich wurden stark, um den Versorgungstyp ‚Heim‘ auf den
darin zumindest im Ansatz Voraussetzungen Prüfstand zu stellen und einen „Prozess des
geschaffen für erweiterte Wunsch- und Wahl- Umbaus des Heimsystems zugunsten von
rechte sowie personenbezogenere Hilfen wie community care zumindest einzuläuten.“
z.B. Assistenzdienste, Persönliches Budget, In dieser Gemengelage stecken viele Chancen
Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten für neue Wege, aber auch Gefahren durch
Wohnmöglichkeiten. Billiglösungen, Abbau fachlicher Standards
Das neue Heimgesetz hat die Rechtsstellung und vor allem durch den Ausschluss behin-
und die Mitwirkungsrechte von Heimbewoh- derter Menschen mit hohem Hilfebedarf.
nern deutlich verbessert und zugleich die An- Diskutieren Sie mit uns die Chancen und Risi-
forderungen an den Heimbetrieb, Qualitäts- ken für ein Leben ohne Institution in Hal-
standards, Heimvertrag usw. für Heimträger le/Saale!
erhöht.
Aufgrund der anhaltend kritischen Situation der
DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT
Sozialhaushalte und weiterer Zunahme der
Nachfrage nach Wohnplätzen behinderter
Menschen greifen zunehmend mehr Kommu-

____________________________________ 7 ____________________________________
̈ ZUR EINFÜHRUNG _______________________________________________________________

Leben ohne Institution ?


Begrüßung und Einführung

CHRISTIAN BRADL
DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT

Herzlich willkommen zur Jahrestagung der durchaus auch solche mit höherem Hilfebedarf
DEUTSCHEN HEILPÄDAGOGISCHEN GESELL- ist in den letzten zwei Jahrzehnten beachtlich
SCHAFT, die wir dieses Jahr in Halle in Koope- größer geworden. Es lässt sich mit Typisierun-
ration mit dem Institut für Rehabilitationspäd- gen wie Heim, Wohnstätte, Einrichtung oder
agogik der Martin-Luther-Universität Halle- Betreutes Wohnen längst nicht mehr abbilden,
Wittenberg und der Lebenshilfe- weil hinter dem jeweiligen Schild doch recht
Landesverband Sachsen-Anhalt1 veranstalten. verschiedene Wohnqualitäten stecken können.
Prof. Dr, GEORG THEUNISSEN vom Institut für Entwicklungen wie Enthospitalisierung, Den-
Rehabilitationspädagogik und DR. JUTTA zentralisierung und Gemeindeintegration un-
HILDEBRAND vom Vorstand der Lebenshilfe terstreichen dies. Auch wo Heim oder Einrich-
Sachsen-Anhalt werden noch Grußworte an tung auf dem Schild steht, kann sich dahinter
Sie richten. alles mögliche verbergen - zwischen einer voll
Besonders begrüßen möchte ich Herrn DR. zentralisierten Großeinrichtung und sehr de-
DR. NEHRING vom Ministerium für Gesundheit zentralisierten Wohnformen in der Gemeinde,
und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt; vom unterstützten Einzelwohnen über Wohn-
auch er wird Sie selbst begrüßen und sicher- gemeinschaften zu Wohngruppen oder Inten-
lich auch die Gelegenheit nutzen, Ihnen der- sivgruppen.
zeitige Situation und Perspektiven der Behin-
dertenpolitik in Sachsen-Anhalt zu erläutern.
Nicht zuletzt möchte Sie alle - aus Deutsch-
land, Österreich und der Schweiz - willkommen
heißen und hoffe auf gute Information, regen
Austausch und innovative Strategien.

Wohnen – aktuelle Tendenzen


Es geht bei dieser Tagung vor allem um das
Wohnen, um Wohnbedürfnisse und Wohnfor-
men behinderter Menschen, und zwar, das
bleibt uns in der DHG oberstes Anliegen, unter
Einschluss der behinderten Menschen mit
hohem Hilfebedarf.
Bei unseren ersten Überlegungen für diese
Tagung haben wir mehrere Tendenzen aus-
gemacht:
Zweitens: Und doch engen sich die Wahlmög-
Erstens: Das Spektrum realisierter Wohnfor- lichkeiten immer noch um so mehr ein, je grö-
men für Menschen mit Behinderung, auch für ßer oder spezieller der Hilfebedarf behinderter
Menschen mit geistiger Behinderung und Menschen ist. Einmal fehlen geeignete Wohn-
plätze für Menschen mit schwerer geistiger
1
Behinderung oder mit erheblichen Verhaltens-
mit besonderem Dank auch an Kerstin Schirbort auffälligkeiten, d.h. mit entsprechend notwen-
für die Tagungsorganisation im Institut für Rehabi- diger intensiverer Begleitung. Und zum ande-
litationspädagogik und den MitarbeiterInnen der ren müssen wir besorgt feststellen, dass auf-
Lebenshilfe-Geschäftsstelle in Magdeburg für die
Organisation der Anmeldungen
grund leerer Kassen oder finanzieller Um-

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̈ ZUR EINFÜHRUNG _______________________________________________________________

schichtungen Betreuungsstandards abgebaut ersten und nicht zum letzten Mal sind gerade
oder behinderte Menschen wieder in Pflege- in diesem Jahr Heime generell, aber auch
einrichtungen fehlplatziert werden. Unter sol- Heime der Behindertenhilfe in die Diskussion
chen Bedingungen erscheint die Perspektive geraten.
„Leben ohne Institution“ nur schwer vermittel-
1. Finanzierbarkeit: Immer schärfer wer-
bar und schürt Ängste vor dem Abbau müh-
den die leeren Kassen in Bund, Län-
sam erkämpfter Dienste und Einrichtungen für
dern und Gemeinden erkennbar. Ko-
behinderte Menschen.
stenträger warnen vor dem finanziellen
Und es ist eine weitere Tendenz auszuma- Kollaps des Sozialstaats; Kommunal-
chen: Wünsche und Ansprüche von Kunden verbände bzw. Landessozialämter
bzw. Nutzern, also von behinderten Menschen stellen die Finanzierbarkeit der Einglie-
selbst oder ihren Angehörigen haben sich in derungshilfe für behinderte Menschen
den letzten Jahren verändert und werden zu- in Frage und fordern Reformen der
dem nachdrücklicher geäußert. Diese Wün- Eingliederungshilfe oder Leistungsge-
sche oder Ansprüche betreffen, um nur einige setze.
Beispiele zu nennen:
2. Steigende Nachfrage: Bedingt durch
̇ die Ablehnung unzeitgemäßer Lebens- demographische, auch soziographische
standards wie z.B. Mehbettzimmer, große Entwicklungen, wie z.B. der Verände-
Gruppen, Anstaltsmilieu rung von Familienstrukturen wird die
̇ den regionalen Bezug, also den Wunsch, Nachfrage nach Wohnplätzen deutlich
eine Wohnform in der jeweiligen Heimatre- ansteigen („Steigende Fallzahlen“).
gion zu finden, um einfacher soziale Kon-
takte aufrecht zu erhalten
̇ Möglichkeiten der Mitgestaltung bei Zim-
mereinrichtung, Tagesablauf, Freizeit.
Die Wünsche betreffen aber nicht nur materi-
elle und soziale Standards, sondern zuneh-
mend auch den Anspruch nach Selbstbestim-
mung beim Wohnen, und das heißt, es geht
um
̇ Wahlmöglichkeiten, wo und mit wem man
zusammenleben möchte
̇ Einfluss darauf zu nehmen, wo, wann man
welche Assistenz erhalten oder auch nicht
erhalten möchte
̇ die Frage, in welcher Wohnform man le-
ben möchte, allein, als Paar oder mit ande-
ren Menschen Beispiel Rheinland:
Entwicklung der Nachfrage nach Wohnplätzen2
̇ den Wunsch, in einer eigenen Wohnung
zu leben, in der man die erforderliche Assi-
stenz erhalten kann. 3. mehr gesetzliche Anforderungen und
Unsere typischen gruppenorientierten bzw. zunehmende Steuerung, insbesondere:
gruppengegliederten Wohnformen stoßen hier ̇ Leistungs-, Vergütungs- und Qua-
zunehmend an Grenzen. Und wo bleiben hier litätsvereinbarungen nach § 93
Wünsche und Möglichkeiten der behinderten BSHG
Menschen mit höherem Hilfebedarf? Und wer ̇ Qualitätsmanagement oder andere
soll das alles bezahlen? Wir stehen vor vielen Qualitätssicherungssysteme
Herausforderungen und vielen Fragen.

2
Heime in der Diskussion aus: Broschüre des beiden Landschaftsverbände
Rheinland und Westfalen-Lippe: Eingliederungs-
Mit weiteren Herausforderungen haben wir uns hilfe heute. Entwicklung und Perspektive. Köln,
auseinanderzusetzen: Sicherlich nicht zum Münster 2002

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̈ ZUR EINFÜHRUNG _______________________________________________________________

̇ Hilfeplanung nach § 46 BSHG Mieter seiner Wohnung und kann auswählen,


̇ Dokumentationspflichten nach welche Dienste er von welchem Anbieter in
BSHG, Pflegeversicherung und Anspruch nimmt - ein ausreichendes Persönli-
Heimgesetz ches Budget zum Einkauf solcher Dienstlei-
stungen vorausgesetzt. Assistenz als Dienst-
̇ Hilfebedarfsermittlung, in der Regel
leistung kommt zum Nutzer, in seine Woh-
sog. Metzler-Verfahren
nung, was natürlich das bisher bestehende
̇ Anforderungen nach Heimgesetz: Rechtsverhältnis von Heimbewohnern völlig
Heimvertragsrecht, Heimmitwir- umkehrt. Erwartet wird, damit ein höheres Maß
kung/Heimbeirat, Heimpersonalver- an Selbstbestimmung zu erreichen, was im
ordnung Prinzip durchaus für behinderte Menschen mit
̇ Hygienebestimmungen. hohem Hilfebedarf denkbar ist und in Einzel-
4. Heimkritik: Heime sind – so erneuern fällen, meist in größeren Städten auch bereits
die Initiatoren einer Heim-Enquête in praktiziert wird.
Deutschland3 die Kritik an Heimen - Auch wenn wir, zumindest im Hilfesystem für
nicht mehr geeignet, sozial schwache Menschen mit geistiger Behinderung in
und hilfebedürftige Menschen nach Deutschland, von solchen Modellen noch recht
zeitgemäßen Maßstäben zu versorgen; weit entfernt sind, werden in den nächsten
sie verletzen außerdem grundlegende Jahren ambulant betreute Wohnformen (unter
Persönlichkeitsrechte und verhindern welchem Etikett auch immer) zweifellos stark
die inzwischen auch gesetzlich stärker anwachsen, und damit wird es auch große
verankerten Rechte auf Selbstbestim- Umbrüche im „stationären Bereich“ der Heime
mung und gesellschaftliche Teilhabe geben. Bei dieser richtigen und notwendigen
(Artikel 3 Grundgesetz, Diskriminie- Entwicklung werden wir uns gegen mehrere
rungsverbot und Gleichstellungsgeset- Gefahren wehren müssen, und zwar gegen
ze, SGB IX).
1. Billiglösungen im ambulanten Bereich im
Sinne eines Abbaus notwendiger Hilfen
Ausbau des ambulant unterstütz- 2. Reduzierung ambulant betreuter Wohn-
ten Wohnens formen auf behinderte Menschen mit nied-
rigem Hilfebedarf
Vielen Beteiligten erscheint hier ein erheblicher
Ausbau selbstbestimmten, ambulant betreuten 3. weitere Konzentrierung schwerst- und
Wohnens, verbunden mit einem Umbau von mehrfachbehinderter Menschen in Heim-
Groß- und Komplexeinrichtungen als Gebot komplexen.
der Stunde, wobei sich in diesem Programm
Wir brauchen eine Strategie für den Umbau
die Hoffnung auf Kostenreduzierung mit dem
der Behindertenhilfe gegen eine Strategie des
Wunsch nach Realisierung von mehr selbstbe-
stimmten Wohnformen verknüpft. Abbaus. Wenn sich institutionelle Strukturen
verändern sollen, ist es ein richtiger Weg, die
Zentrales Moment ambulant unterstützten bislang so fatal wirkende getrennte Zuständig-
Wohnens ist die Trennung von Wohnen und keit von ambulant betreuten Wohnformen und
Assistenzleistungen. Im Gegensatz zum Heim Einrichtungen in der Behindertenhilfe zusam-
sind hier Wohnungseigentümer und Assi- menzuführen, was ja bereits von vielen Ko-
stenzanbieter nicht identisch. Im Idealfall ist stenträgern angestrebt oder praktiziert wird.4
der behinderte Mensch selbst Eigentümer oder
Meine These: Wo Einrichtungen der Behin-
dertenhilfe und ambulant unterstützte Wohn-
3
FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT „MENSCHEN IN formen unter gemeinsamer Kosten-
HEIMEN“, UNIVERSITÄT BIELEFELD, FAKULTÄT Zuständigkeit stehen, werden sich, wenn
FÜR GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN: Aufforde- Hilfebedarfe tatsächlich individuell bemessen
rung an die Fraktionen des Deutschen Bundes-
tags, eine Kommission zur „Enquête der Heime“
4
einzusetzen. Bielefeld 2001. Außerdem: Doku- vgl. auch: Ambulant Betreutes Wohnen - Chancen
mentation Workshop der Initiative zur Einrichtung und Risiken, in: DHG-Positionspapier „Selbstbe-
„Enquete der Heime“ am 21.3.02 in Bielefeld. stimmung und Teilhabe am Leben in der Gesell-
(www.uni-bielefeld.de/gesundhw) schaft“ 2002 (in diesem Tagungsbericht)

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̈ ZUR EINFÜHRUNG _______________________________________________________________

und nicht auf fachlich nicht begründbare Per- Und auch über das kreative Medium eines
sonalschlüssel begrenzt werden, die Grenzen Theaterstücks lassen sich, unmittelbarer und
zwischen Institution und Nicht-Institution zu- konkreter Erfahrungen und Botschaften ver-
nehmend verwischen. Und wir werden genau- mitteln. Schon jetzt freuen wir uns auf die Auf-
er zu bestimmen haben, was von der Lebens- führung der „geheimnisvollen Reise des gel-
und Betreuungsqualität her (und nicht wie bis- ben Koffers“ der Theatergruppe des Lebens-
her von der Frage der Zuständigkeit her) hilfe-Wohnhauses Fohlenweg in Halle.
selbstbestimmtes Wohnen heißt, auch für be-
Drei größere Fachbeiträge drehen sich aus
hinderte Menschen mit hohem Hilfebedarf.
unterschiedlicher Perspektive um das Tagung-
Es wird also darum gehen, entsprechend den sthema „Leben ohne Institution“:
Wünschen und dem Hilfebedarf behinderter
̇ GEORG THEUNISSEN vom Institut für Reha-
Menschen individuelle Wohnformen zu reali-
bilitationspädagogik in Halle wird die Aus-
sieren in einem System, das sowohl den Nut-
wirkung neuer Leitbegriffe bzw. Paradig-
zern wie den Assistenzkräften notwendige
men wie Inclusion, Partizipation und Em-
soziale Sicherheit bietet.
powerment auf die Frage des Wohnens,
insbesondere behinderter Menschen mit
hohem Hilfebedarf darstellen.
Zur Tagung
̇ PETER DIETRICH von der Bundesvereini-
Wir sind zu einer Fachtagung zusammen ge- gung Lebenshilfe wird uns über das neue
kommen, mit vielen Fachleuten und Fachbei- Heimgesetz, erlassen zur Stärkung von
trägen, und es wird dabei gewiss viel über statt Rechten und Mitwirkungsmöglichkeiten
mit behinderten Menschen gesprochen. Aber von Heimbewohnern, und die sich daraus
wir bemühen uns im Rahmen dieser Fachta- ergebenden Folgen für Heime informieren.
gung um Dialoge. Solche Dialoge haben wir ̇ BETTINA LINDMEIER von der Universität
bewusst an den Anfang gestellt: Oldenburg wird sich schließlich - unter
̇ MELANIE DOHLE von der SELAM- Einbezug des Konzepts „supported living“ -
Lebenshilfe, die ein Netz ambulant unter- der Frage widmen: Leben ohne Institution -
stützter Wohnformen für Menschen mit eine Perspektive für geistig behinderte
geistiger Behinderung in Oldenburg unter- Menschen.
hält, wird mit HOLGER MEINS über das Le- Dazwischen liegt viel Zeit für Arbeitsgruppen
ben in eigener Wohnung sprechen. und Workshops mit der Möglichkeit zu hoffent-
̇ KERSTIN SCHIRBORT vom Institut für Reha- lich intensivem Erfahrungsaustausch und reger
bilitationspädagogik Halle wird mit SINDY Diskussion.
BARKE, SILKE HARING und ULF MATTHIAS Hinweisen möchte ich auf die zusätzliche Ar-
von der wtw-Gruppe Halle5 über Selbstbe- beitsgruppe 7: Möglichkeiten zur EDV-
stimmung im Alltag und Möglichkeit von technischen Abbildung und Dokumentation
Selbsthilfegruppen sprechen. des individuellen Hilfebedarfs nach dem Heim-
Eine andere Form, Wünsche und Erfahrungen gesetz mit Herrn Dr. Kühlborn von der Firma
zum Wohnen aus der Sicht behinderter Men- MICOS GmbH, Oldenburg.
schen selbst zu vermitteln, sind gemeinsam
vorbereitete Videofilme. Zwei Videofilme sind
dafür vorbereitet worden:
̈ DR. CHRISTIAN BRADL
̇ „So leben wir in unserem Wohnhaus“ - ein
Videofilm von und mit Bewohnerinnen und DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT
Bewohnern des Wohnhauses Fohlenweg GESCHÄFTSSTELLE: HPH DÜREN
der Lebenshilfe Halle MECKERSTR. 15, 52353 DÜREN
̇ „Ein Leben mit Ecken und Kanten“ - ein
EMAIL: MAIL@DHG-KONTAKT.DE
Videofilm von und mit ANDRÉ NITTEL von
Lebenswege für Menschen mit Behinde-
rungen gGmbH in Berlin.

5
WTW: Wir Tun Was!

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̈ GRUSSWORTE _________________________________________________________________

Grußwort

JUTTA HILDEBRAND
LEBENSHILFE FÜR MENSCHEN
MIT GEISTIGER BEHINDERUNG
LANDESVERBAND SACHSEN-ANHALT

Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Leben in der Zeit, da sie nicht mehr sind. Viele
Gäste, würden ihren halbwüchsigen oder jungen er-
wachsenen Kindern gern mehr Selbständigkeit
ermöglichen, aber tausend Ängste hindern sie
als Mitglied des Landesvorstandes der
am Loslassen.
LEBENSHILFE FÜR MENSCHEN MIT GEISTIGER BE-
HINDERUNG SACHSEN-ANHALT und als Mutter Und dann sind da noch die vielen bürokrati-
einer schwerstmehrfach behinderten schen Hürden, die unsere Kinder in Schubla-
23jährigen Tochter begrüße ich Sie recht herz- den einordnen und eine individuelle Wahl der
lich zu dieser Fachtagung. Wohnform und der Einrichtung kaum zulassen.
Örtliche und überörtliche Zuständigkeit,
Grundanerkenntnis und Pflegesatz, Abwesen-
Mit dieser Veranstaltung setzt sich für die Le- heitsregelungen und viele derartige für Eltern
benshilfe eine Tradition fort. Eine Tradition der meist undurchschaubare Begriffe und Verhält-
Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern nisse erschweren den Familien den Weg in ein
der MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE- Leben ohne Institution.
WITTENBERG und dem Landesverband der
Und es gibt noch sehr viele Hürden - fachliche,
Lebenshilfe, einem Verband, in dem sich vor
menschliche, organisatorische und nicht zu-
allem Eltern geistig und mehrfach behinderter
letzt eine Reihe wirtschaftlicher Gründe, die
Kinder, aber auch Fachleute und Freunde
Einrichtungsträger heute hindern, tatsächlich
behinderter Menschen organisiert haben,
den individuellen Bedürfnissen der behinderten
heute erweitert um Ihren Verband, der
Menschen entsprechende Angebote machen
DEUTSCHEN HEILPÄDAGOGISCHEN GESELL-
zu können.
SCHAFT. Sie und die vielen in der Lebenshilfe
arbeitenden Fachleute und natürlich auch wir Und auch bei uns Eltern liegen viele Gründe,
Eltern engagieren sich für die Förderung be- die das Selbstbestimmungsrecht des behin-
hinderter Menschen und ihre Integration in die derten Menschen beeinflussen. Mich als Mut-
Gesellschaft jeweils aus recht unterschiedli- ter beschäftigt, wenn es um die Sicherung von
cher Sicht. Selbstbestimmung für Menschen mit Behinde-
rung geht, immer wieder auch das Problem der
Balance zwischen dem Selbstbestimmungs-
Mit dem Thema, das Gegenstand Ihrer bevor- recht des behinderten Menschen und dem
stehenden Arbeit sein wird, greifen Sie ein seiner Angehörigen. Meine Tochter braucht
Problem auf, das auch uns Eltern mehr oder wegen ihrer Behinderung ständige Aufsicht
weniger akut, mehr oder weniger direkt auf der und Betreuung. Sie hat einen sehr starken
Seele brennt. Viele Eltern, die ihre behinderten Willen. Oft ist sie nur mit Überredungskunst
Kinder noch im „hohen Erwachsenenalter“ zu oder Tricks zu notwendigen Handlungen bzw.
Hause betreuen, machen sich Sorgen um das Abläufen zu bringen. Häufig bleibt uns aber

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̈ GRUSSWORTE _________________________________________________________________

gar nichts anderes übrig, als unsere Interessen oder weniger misstrauisch, ängstlich oder ag-
hinten an zu stellen. gressiv entgegengehalten.
Es ergibt sich die Frage, wie kann Selbstbe-
stimmung des behinderten Menschen realisiert Uns allen geht es jedoch gemeinsam darum,
werden, ohne die Freiräume der Angehörigen das Lebensumfeld wirklich menschengerecht
oder anderer Personen über Gebühr einzuen- zu gestalten. Dies ist eine Aufgabe für die ge-
gen? Ich denke, das Umfeld im weitesten Sin- samte Gesellschaft.
ne muss mit einkalkuliert werden in die Ent-
In diesem Sinne wünsche ich Ihrer Tagung
wicklung von selbstbestimmtem Leben, in die
einen erfolgreichen Verlauf und möglichst viele
pädagogischen Konzepte und die gesamte
praktikable Erkenntnisse.
Organisation von Hilfen für behinderte Men-
schen und ihre Angehörigen.
Die Eltern, deren Kinder bereits in Heimen
oder betreuten Wohngruppen leben, sind zwar ̈ Dr. Jutta Hildebrand
in dieser Hinsicht etwas entlasteter. Allerdings LEBENSHILFE FÜR MENSCHEN MIT GEISTIGER
machen ihnen die „Sorgen“ um das Wohlerge- BEHINDERUNG - LANDESVERBAND SACHSEN-
hen ihrer Kinder im Heim zu schaffen. Achten ANHALT
die Gruppenleiter auf die Gewohnheiten mei- ACKERSTR.23, 39112 MAGDEBURG
nes Kindes? Werden sie seine Bedürfnisse WWW.LEBENSHILFE-LSA.DE
nach Zuwendung erfüllen können? Bekommt
es genug und das richtige zu essen? All diese
und ähnliche Fragen werden je nach Mentalität
der Eltern in unterschiedlicher Schärfe gestellt
und den „Profis“ in den Einrichtungen mehr

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̈ GRUSSWORTE _________________________________________________________________

Grußwort

REINH. NEHRING
MINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT UND
SOZIALES DES LANDES SACHSEN-
ANHALT

Sachsen-Anhalt. Die Sozialgesetzgebung der


Sehr geehrte Mitglieder der DEUTSCHEN Bundesrepublik Deutschland gibt den Grund-
HEILPÄDAGOGISCHEN GESELLSCHAFT, satz "ambulant vor stationär" als eine wesentli-
sehr geehrte Damen und Herren, che Handlungsmaxime für das Verwaltungs-
handeln vor. Dies gilt insbesondere für den
für Ihre freundliche Einladung zur heutigen
Bereich der Behindertenpolitik. Erreichbar ist
Veranstaltung möchte ich Ihnen danken.
er, wenn Menschen mit Behinderungen in ih-
Gleichzeitig spreche ich allen Mitgliedern der
ren Fähigkeiten und Fertigkeiten so aktiviert
DEUTSCHEN HEILPÄDAGOGISCHEN GESELL-
und gefördert werden, dass sie sich schrittwei-
SCHAFT meine Anerkennung für die bisher ge-
se hin zur Selbständigkeit bewegen. Dies setzt
leitete Arbeit im Interesse der Menschen mit
jedoch u.a. das Vorhandensein einer geeig-
geistigen Behinderungen und ihren Angehöri-
neten Angebotsstruktur voraus.
gen aus.
Nachdem anfänglich in Sachsen-Anhalt nur
große stationäre Wohnheime mit anfänglich bis
In Sachsen-Anhalt leben etwa 180.000 Men- zu 500 Plätzen, dann mit 250 und später mit
schen, die als behindert gelten. Dies sind etwa 120 Plätzen geplant wurden, realisierten sich
7% der gesamten Bevölkerung. Davon sind jedoch insgesamt nur drei große Wohnheime
etwa 15.000 Menschen mit Behinderungen, für mit 156, 98 und 92 Plätzen.
die eine Zuständigkeit des überörtlichen Trä-
Das Ministerium für Gesundheit und Soziales
gers der Sozialhilfe besteht, was bedeutet,
begann, kleinere Einrichtungen mit etwa 40 bis
dass sie teilstationärer oder stationärer Hilfen
60 Plätzen zu fördern. Die Einrichtungsgröße
bedürfen. Das Land Sachsen-Anhalt wendet
wurde gewählt, um Leistungsfähigkeit in Ver-
im Jahr 2002 ca. 250 Mio. Euro für die teilsta-
bindung mit Wirtschaftlichkeit sicherzustellen.
tionäre und stationäre Betreuung für Men-
Eine untere Grenze darf nur dort gezogen
schen mit Behinderungen auf. Alle Entschei-
werden, wo nach allgemeiner Erkenntnis die
dungen wie z.B. die Förderung des Baus von
wirtschaftliche Existenz der Einrichtungen nicht
Wohnheimplätzen sind vom tatsächlichen
mehr gewährleistet werden kann. Während
Hilfebedarf der betroffenen Menschen mit Be-
große Wohnheime eher abweisend wirken,
hinderungen und nicht vorrangig von Ergän-
ermöglichen kleinere Einrichtungen z.B. einen
zungswünschen der Einrichtungsträger ab-
besseren persönlichen Kontakt zur Nachbar-
hängig.
schaft. Wie Sie betrachten wir es als ein Stück
Normalität, dass Familienstrukturen gestärkt
Die Fragen nach Perspektiven für das Wohnen und erhalten sowie Familienmitglieder entlastet
geistig behinderter Menschen ist ebenfalls ein werden, damit diese bereit und in der Lage
Kerngedanke der Behindertenarbeit im Land sind, behinderte Menschen, wo immer und

____________________________________ 14 ____________________________________
̈ GRUSSWORTE ______________________________________________________________

solange wie möglich, in der Familie zu betreu- inzwischen erreichten Ausbaustandes bei den
en. Wohnheimen richten sich nun entsprechend
Außerdem wurde ein Netz von Tagesstätten dem Rahmenvertrag gemäß § 93 d Abs. 2
für Menschen mit seelischen Behinderungen BSHG die Bemühungen verstärkt auf offenere
und für Menschen mit seelischen Behinderun- Wohnformen, wie z. B. das Intensiv betreute
gen infolge Sucht initiiert. Damit wurde oft ein Wohnen, betreute Wohn- und Außenwohn-
Heimaufenthalt verhindert. gruppen. Diese können und sollen aber die
Familie nicht ersetzen, sondern können immer
nur ein ergänzendes Angebot darstellen.
Da 1995 kein ambulant betreutes Wohnen
existierte, hatte das Land bis 1999 als freiwilli-
ge Leistung die Pflichtaufgabe der Kommunen Ich bin wie Sie der Meinung, dass die notwen-
(örtliche Träger der Sozialhilfe) als Anschubfi- digen Hilfen regionalbezogen gemeindenah
nanzierung gefördert. So konnten in dem Be- angeboten werden müssen. Das Ministerium
reich fast 700 Plätze aufgebaut werden. Mit für Gesundheit und Soziales des Landes
Einstellung der Förderung wurden jedoch nach Sachsen-Anhalt arbeitet an einer Vernetzung
Informationen von Trägern wieder Plätze ab- des betreuten Wohnens, in sachlicher Zustän-
gebaut, obwohl eine weitere Aufstockung digkeit des örtlichen und überörtlichen Trägers
notwendig wäre. Damit bleiben Menschen in der Sozialhilfe, um zu erreichen, dass für den
Heimen, die dort nicht hingehören. Knappe jeweiligen Hilfebedarf „zugeschnittene Ange-
Ressourcen werden verbraucht, die andere bote“ flächendeckend und im Rahmen einer
dringendst benötigen würden. Um dieses Pro- Kofinanzierung vorgehalten werden können.
blem dauerhaft zu lösen, ist eine Zusammen- Eine Verbesserung eines flächendeckenden
führung der Zuständigkeiten für die Behinder- Angebotes an ambulanten Hilfen im Bereich
tenhilfe überfällig. Dieses Thema wird derzeit der Behindertenhilfe ist jedoch nur durch die
im Ministerium intensiv bearbeitet. Aufhebung der Trennung der Zuständigkeit für
ambulante und teilstationäre Hilfen zu errei-
chen.
Mit Änderung des BSHG wurde 1998/99 be-
gonnen, einen Rahmenvertrag nach § 93 d (2) Für eine bessere fachliche Steuerung der In-
BSHG zu entwerfen. Aufgrund intensivster anspruchnahme von ambulanten, teilstationä-
Zusammenarbeit aller Beteiligten konnte ren und stationären Angeboten der Eingliede-
Sachsen-Anhalt einen Spitzenplatz aller Bun- rungshilfe ist die Errichtung eines Fachdien-
desländer einnehmen. Der Vertrag zeichnet stes am Landesamt für Versorgung und So-
sich dadurch aus, dass die Belange und not- ziales für die Begutachtung der Leistungs-
wendigen Bedarfe der Menschen mit Behinde- empfänger erforderlich. Nur mit dieser Fach-
rungen handlungsweisend sind. Damit werden kompetenz kann im Einzelfall der notwendige
Verwaltung und Leistungserbringer zu Dienst- Rehabilitationsbedarf festgestellt werden.
leistern, die betroffenen Behinderten sind nicht Die derzeitige Interessenkollision aufgrund der
Bittsteller. Das heißt im Klartext, dass Einrich- Tatsache, dass die Gebietskörperschaften
tungsträger ihre Angebote an den Bedarfen nicht nur im Auftrag des Überörtlichen Trägers
der Behinderten zu orientieren haben und nicht der Sozialhilfe entscheiden, sondern auch
umgekehrt. Mit der Aussage soll nicht unter- gleichzeitig als örtliche Träger der Sozialhilfe
stellt werden, dass bisher schlechte Leistun- gem. § 96 Abs. 1 Satz 1 BSHG über Hilfen im
gen erbracht wurden. Dies ist nicht der Fall, eigenen sachlichen Zuständigkeitsbereich
jedoch gibt es zukünftig eine neue Ausrich- entscheiden, wird somit abgeschafft.
tung, die den Gesetzesvorgaben entspricht.
Derzeit werden die verschiedensten Standards
Ziel ist es, eine bessere Steuerung der Pro-
erarbeitet und im Zuständigkeitsbereich des
zesse durch das Land sicherzustellen und
Landes eine Vollerhebung des Hilfebedarfs
Entscheidungs- und Finanzverantwortung wie-
durchgeführt, so dass das neue System in aller
der zusammenzuführen. Endabsicht dabei ist
Vielfalt ab 2004 greifen wird.
die Reduzierung der Inanspruchnahme statio-
närer Betreuungsangebote, bessere flexiblere
Moderne, behindertengerechte Einrichtungen Durchführung der Rehabilitation und Integrati-
sind unverzichtbar und werden weiter im erfor- on in das gesellschaftliche Leben bei gleich-
derlichen Umfang gefördert. Aufgrund des

____________________________________ 15 ____________________________________
̈ GRUSSWORTE ______________________________________________________________

zeitiger möglicher Kostensenkung für das Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Land. durch Beschluss des Rates der Europäischen
Damit ist auch die einheitliche Anwendung der Union ist das Jahr 2003 zum Europäischen
§§ 93 ff BSHG unter Beachtung des Vorranges Jahr der Menschen mit Behinderungen erklärt
der offenen Hilfen nach § 3a BSHG gegeben. worden. Damit haben behinderte Menschen
die Möglichkeit, europaweit und öffentlich-
keitswirksam auf sich und ihre Interessen auf-
Ein anderes wesentliches Merkmal der neuen
merksam zu machen. Im Laufe des Jahres
Denkrichtung ist z.B., dass die anteilige Förde-
2003 werden dazu auch im Land Sachsen-
rung von Selbständigkeit, Freizeit und von
Anhalt Veranstaltungen stattfinden.
Bildung fester und verbindlicher Bestandteil
der täglichen Arbeit mit Menschen mit Behin- Ich bitte auch Sie, sich aktiv daran zu beteili-
derungen wird. Erworbene Bildung ist eine gen und deren Zielstellungen zu unterstützen.
Voraussetzung, um selbständig und aktiv die
Anforderungen des täglichen Lebens bestehen
zu können. Je entscheidungsfähiger ein
Mensch wird und je mehr Wissen er hat, um so ̈ DR. DR. REINH. NEHRING
eher wird er nach seinen Vorstellungen leben MINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT UND SOZIALES
können. Dies ist aktivierende Sozialpolitik für DES LANDES SACHSEN-ANHALT
Menschen mit Behinderungen. TURMSCHANZENSTRAßE 25
39114 MAGDEBURG
Nicht zu verschweigen ist jedoch, dass zwar
fast alle Menschen den Weg gehen können,
dies jedoch im Einzelfall nicht bedeutet, dass
es z.B. zukünftig keiner Wohnheimplätze mehr
bedarf. Auch zukünftig wird es Menschen mit
Behinderungen geben, die nicht ohne intensive
Hilfestellung leben können und die dauerhaft
einen Wohnheimplatz benötigen.
Es wäre jedoch nicht zu verantworten, wenn
ein behinderter Mensch lediglich aufgrund
mangelnder Förderung seiner Fähigkeiten und
Fertigkeiten in einem Heim verbleiben müsste.
Bei der Auswahl von geeigneten notwendigen
Hilfen und bei der Intensität der Entwicklungs-
prozesse muss z.B. außerdem bedacht wer-
den, dass insbesondere bei sehr selbständi-
gen Wohnformen keine soziale Vereinsamung
eintritt. Hier besteht eine besonders hohe Ver-
antwortung aller Beteiligten, Menschen mit
Behinderungen zu fördern und zu fordern, aber
sie nicht zu über- bzw. unterfordern. Nur so
kann durch Aktivierung auch eigene Aktivität
entstehen.

____________________________________ 16 ____________________________________
̈ SO WOLLEN WIR WOHNEN ! _______________________________________________________

Ohne Umwege
in die
Gemeinde

HOLGER MEINS, assistiert


von RAINER STRAUSS, be-
richtet im Gespräch mit
MELANIE DOHLE, Selam-
Lebenshilfe Oldenburg,
über seinen Weg in eine
eigene Wohnung

So wollen wir
wohnen !

KERSTIN SCHIRBORT vom


Institut für Rehabilitation-
spädagogik & SINDY BARKE,
SILKE HARING, ULF MATTHIAS
von der Selbsthilfegruppe
WTW (Wir Tun Was) in Halle
berichten über ihre Aktivitä-
ten und ihre Wünsche zum
Wohnen.

Videofilme

̈ So leben wir in unserem Wohnhaus


Ein Film von/mit BewohnerInnen
des Wohnhauses Fohlenweg der LEBENSHILFE HALLE

̈ Ein Leben mit Ecken und Kanten


Ein Film von/mit ANDRÉ NITTEL
Assistenznehmer bei LEBENSWEGE FÜR MENSCHEN MIT BEHINDERUNG BERLIN

____________________________________ 17 ____________________________________
̈ BEHINDERTENHILFE IM UMBRUCH ? __________________________________________________

Behindertenarbeit im Lichte von


Inclusion, Partizipation und Empowerment
unter besonderer Berücksichtigung der Frage des Wohnens von Menschen
mit sogenannter geistiger Behinderung und hohem Assistenzbedarf
GEORG THEUNISSEN

Einführung: Medizinierung und In- ̇ einem Personalbestand (Menschen, die


stitutionalisierung vorgesehene Rollen übernehmen)
Bis vor wenigen Jahren wurden Maßnahmen ̇ Regeln oder Normen und
der Behindertenhilfe fast ausschließlich an ̇ einem materiellen Apparat (Gegen-
Schädigungen, Defiziten oder Symptomen stände, Räume),
einer Behinderung ausgerichtet. Wissenschaft-
lich legitimiert wurde diese Praxis durch das die ihnen ein strukturelles Gepräge geben und
traditionelle medizinische Modell, dem sich die sich in bestimmten Aufgaben oder Funktionen
zuständigen helfenden Instanzen und Organi- manifestieren. So haben Institutionen zum
sationen verschrieben hatten (THEUNISSEN Beispiel mit Blick auf die Arbeit mit Menschen,
2000). Dieses Modell verbreitete die Ansicht, die wir als geistig behindert bezeichnen, den
dass Menschen mit Behinderungen in Anbe- Zweck, „diejenige Hilfe zu organisieren, die
tracht irreparabler Schädigungen am besten in diese Menschen brauchen, um ihr Leben im
Sondereinrichtungen „aufgehoben“ seien. Da- Zusammenleben mit den anderen zu ordnen
mit wurde zugleich auf institutioneller Ebene und menschlicher werden zu lassen“ (SPECK
eine Tradition fortgeführt, die sich seit der Her- 1999, 212).
ausbildung der Industriegesellschaften als eine
Asylierung gesellschaftlicher Randgruppen
niedergeschlagen hatte.
Fachlicherseits sprechen wir hier vom Para-
digma der Institutionalisierung, dem die Theo-
rie zugrunde liegt, „dass man den Bedürfnis-
sen dieser Menschen am besten gerecht wer-
den könne, wenn man sie zusammengruppiere
und sie von anderen Menschen isoliere”
(POLLOWAY ET AL. 1996, 4). Im Lichte dieser
Betrachtung erscheint der Begriff der Institu-
tionalisierung als eine „negative Kategorie“.
Institutionen sollten jedoch nicht grundsätzlich
verdammt werden, wenn wir uns soziologische
Begriffsauslegungen vor Augen halten. Es gibt
zwar keine einheitliche Definition, über alle
Differenzierungen hinweg lassen sich jedoch
übereinstimmende Momente nennen, indem
Institutionen als „Erscheinungen geregelter
Kooperation von Menschen, ein Zusammen- Institutionen bieten damit einerseits emotiona-
wirken und Miteinanderumgehen, das weder len Halt, schaffen Sicherheit, Ordnung und
zufällig noch beliebig so geschieht“ (GU- Stabilität, andererseits können sie die Lebens-
KENBIEHL 1993, 96), verstanden werden. Zu- und Handlungsmöglichkeiten aber auch be-
dem werden Institutionen durch vier Elemente grenzen, zum Beispiel dann, „wenn sich die
gekennzeichnet (ebd.): Bedingungen, unter denen bestimmte Institu-
̇ einer Leitidee tionen einmal Problemlösungen waren (...),
entscheidend verändern“ (GUKENBIEHL 1993,

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̈ BEHINDERTENHILFE IM UMBRUCH ? __________________________________________________

109). Dieses Problem der Begrenzung indivi- zeitpatienten ist verantwortlich für diese Sym-
dueller Entfaltungsmöglichkeiten tritt auf, wenn ptome, die auch in Konzentrationslagern fest-
sich eine Eigengesetzlichkeit, eine „Selbstver- gestellt worden sind.“
zweckung“ (SPECK) der Institutionen entwik-
kelt, die nicht selten mit strikten Regelungen,
Vorschriften, Verplanungen oder Fremdbe- Normalisierung
stimmung einhergeht. Mit dem Bekanntwerden dieser Institutionali-
Genau an dieser Stelle setzt die Auseinander- sierungseffekte im Sinne von Hospitalisie-
setzung mit dem Paradigma der Institutionali- rungsschäden und den damit verknüpften
sierung an, das bekanntlich GOFFMAN (1973) skandalösen, menschenverachtenden und -
unter dem Stichwort der „totalen Institution“ unwürdigen Zuständen in vielen, insbesondere
dechiffriert und aufbereitet hat. Seine scharfe staatlichen Großeinrichtungen oder Pflege-
Analyse sozialer Institutionen, die immer auch heimen war dieser dominierende Institutionsty-
wegebnend ist für die Frage der strukturellen pus in führenden westlichen Industrienationen
und institutionellen Gewalt (hierzu THEUNISSEN spätestens gegen Ende der 60er Jahre ins
2001) hat bis heute nichts an Aktualität einge- Kreuzfeuer heftiger Kritik geraten.
büßt. Sie sollte quasi der Prüfstein für jedes Die Auseinandersetzung mit der Institutionali-
institutionelle System sein. sierung führte zu dem in der Vergangenheit
Wichtig ist für unser Thema sind nun die Be- viel zitierten Normalisierungsprinzip, das in
obachtungen und Erkenntnisse, die bezüglich einigen westlichen Ländern (z. B. skandinavi-
des institutionellen Lebens bzw. Wohnens von sche Länder, USA, England) auf die (schritt-
Menschen mit sog. geistiger Behinderung und weise) Auflösung traditioneller Großeinrichtun-
hohem Assistenzbedarf gemacht wurden. Wir gen oder Heime zugunsten des Aufbaus ge-
sprechen hier von der Hospitalisierung dieses meindeintegrierter Wohnformen für ein selbst-
Personenkreises, deren Symptome und Aus- bestimmtes Leben behinderter Menschen
wirkungen hinlänglich bekannt sein dürften: zielte. Dieser Prozess wird als Deinstitutionali-
„erlernte Hilflosigkeit“ (SELIGMAN), „Verstüm- sierung bezeichnet und ist in den nordeuropäi-
melung des Selbst“ (GOFFMAN), „erlernte Be- schen Ländern und in den USA am weitesten
dürfnislosigkeit“ u. v. m. In Erinnerung rufen fortgeschritten. Waren zum Beispiel in Schwe-
möchte ich in dem Zusammenhang die pro- den 1968 ca. 14.000 Menschen mit sog. gei-
funden Beobachtungen von JERVIS (1978, stiger Behinderung in großen Institutionen
1 erfasst, so lebten 1997 nur noch 1.800 Perso-
129): „Der Aufenthaltsort in der Irrenanstalt
bewirkt fast ausnahmslos nach einigen Jahren, nen in Einrichtungen mit mehr als sechs Plät-
und manchmal nach einigen Monaten, eine zen (DALFERTH 1999, 88, 100f.).
charakteristische Art von Verhalten, die ‘insti- In Westdeutschland war dagegen die Umset-
tutionelle Neurose’, ‘institutionelle Regression’ zung des Normalisierungsprinzips in fünffacher
oder richtiger ‘institutionelle Psychose’ (An- Hinsicht beschränkt:
staltspsychose) genannt wird. Der Patient 1. wurde nicht konsequent deinstitutionali-
verschließt sich langsam immer mehr in sich siert, stattdessen wurde Normalisierung
selbst, wird energielos, abhängig gleichgültig, häufig nur als eine Humanisierung von
träge, schmutzig oft widerspenstig, regrediert Lebensbedingungen innerhalb beste-
auf infantile Verhaltensweisen, entwickelt star- hender Großeinrichtungen in Betracht
re Haltungen und stereotype ‘Tics’, passt sich gezogen;
einer extrem beschränkten und armseligen 2. wurden gemeindenahe Wohnangebote
Lebensroutine an, aus der er nicht einmal ausschließlich nur in Form neuer
mehr ausbrechen möchte und baut sich oft als Wohnheime geschaffen; Wohnheime
eine Art Tröstung Wahnvorstellungen auf (die entsprechen aber nicht dem, was ge-
sog. ‘institutionellen Delirien’). Die geschichts- meinhin unter einen ”normalen” häusli-
und zeitlose Welt der Abteilungen für Lang- chen Wohnen (Maßstab vier bis sechs-
köpfige Familie) verstanden wird;
1 3. wurde im Zuge der Normalisierung die
oder auch anderen Institutionen mit „totalen Cha-
rakter“, in denen Menschen mit sog. geistiger Be- Defizitorientierung nicht hinterfragt;
hinderung ihrer Möglichkeiten der Selbst- und Mit- 4. wurden Betroffene an der Normalisie-
bestimmung, individuellen Entfaltung und gesell- rung ihrer Lebensbedingungen nur
schaftlichen Partizipation beraubt sind selten beteiligt - waren es doch in der

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̈ BEHINDERTENHILFE IM UMBRUCH ? __________________________________________________

Regel ihre ”Betreuer”, die Leiter oder und das unter dem Leitgedanken der Normali-
Träger der Einrichtungen, die am be- sierung.
sten wussten, was für sie gut und rich-
tig war;
5. wurde Normalisierung mitunter als eine Förderung und Integration
„Normierung“ der Lebenswelten oder Diese Kritik sollte nun aber nicht zu der An-
auch als ein „Normal-Machen“ behin- nahme verleiten, dass Normalisierung als Leit-
derter Menschen missverstanden. prinzip gänzlich gescheitert sei. Im Zuge der
Umsetzung war es nämlich in Westdeutsch-
In der DDR standen zeitgleich die Wohnsy- land spätestens zu Beginn der 80er Jahre zu
steme für Menschen mit sog. geistiger Behin- einer veränderten Sicht gekommen: Menschen
derung und hohem Assistenzbedarf im Zei- mit Behinderungen wurden nun nicht mehr nur
chen des traditionellen psychiatrischen Mo- im Lichte von Schädigungen, sondern gleich-
dells und der „totalen“ Institutionalisierung. falls von Lern- und Entwicklungsbeeinträchti-
Jedoch war es gegen Ende der 80er Jahre gungen und gesellschaftlicher Benachteiligung
durch die Schaffung von Wohnheimen für sog. wahrgenommen.
„förderungsfähige“ geistig und lernbehinderte Damit wurde zum einen die heilpädagogische
Menschen sowie durch die Reformierung eini- Förderung zu einem praxisrelevanten Schlüs-
ger kirchlicher Großanstalten zur Auflockerung selbegriff. Ihre implizite Rollenzuschreibung
des (totalen) Institutionswesens gekommen. und Normsetzung war aber eindeutig: Es ging
Dieser Prozess wurde nach der Wende fortge- darum, etwas aus einem behinderten Men-
setzt und nicht selten als Enthospitalisierung schen zu machen. Gefordert wurde die von der
bezeichnet und aufbereitet. Dies ging mit der helfenden Instanz gesetzte Norm, und das war
nachweislich sehr hohen Anzahl (ca. 9.000) in der Regel Verselbstständigung und soziale
fehlplatzierter Menschen mit Behinderungen in Anpassung an die Gesellschaft.
psychiatrischen Einrichtungen (Hospitälern), Zum anderen wurde eine Öffnung und Zu-
Pflege-, Alten- oder Feierabendheimen zu- gänglichkeit der „normalen“ gesellschaftlichen
sammen. Im Prinzip haben wir es in den neuen Institutionen für behinderte Menschen mit
Bundesländern mit ähnlichen Entwicklungen Nachdruck eingefordert und in den Blick ge-
wie in den alten Ländern zu tun - allerdings mit nommen. Damit setzte eine Integrationsent-
dem Unterschied, dass die Normalisierungs- wicklung ein, die dazu geführt hat, dass heute
bemühungen zum Teil rascher und mitunter flächendeckend in Deutschland integrative
auch konsequenter vollzogen wurden. Nach Vorschuleinrichtungen angeboten werden und
meinen Beobachtungen gibt es inzwischen in dass sich viele Bundesländer der schulischen
den neuen Bundesländern Reformen und Ein- Integration behinderter Kinder und Jugendli-
richtungen, von denen Träger der Behinder- cher aufgeschlossen gegenüber zeigen. Dort,
tenhilfe in den alten Ländern lernen können, wo sie praktiziert wird, kommt es in der Regel
wie es auch umgekehrt in den Altländern Ent- zur Erosion (Abbau) von Vorurteilen, zum Bei-
wicklungen auf dem Gebiete des Wohnens spiel auch der Vorstellung, dass behinderte
gibt, die für Einrichtungsträger in den neuen Menschen „andersartig“ seien und daher einer
Ländern beispielhaft sein können. Von einem völlig anderen, besonderen Behandlung be-
„cultural lag“ gegenüber den Altländern kann dürfen. Im Gegenteil: Es wird die Erfahrung
jedenfalls auf dem Gebiete des Wohnens be- gemacht, dass es einerseits zwar individuelle
hinderter Menschen 10 Jahre nach der Wende Unterschiede gibt, dass sich andererseits die
nicht mehr pauschal gesprochen werden. Bedürfnisse, Wünsche oder Interessen behin-
Nichtsdestotrotz lassen sich vielerorts aber derter und nichtbehinderter Menschen aber
auch die bereits oben genannten Probleme auch kaum unterscheiden; und genau diese
konstatieren, die letztlich damit zusammen- Erfahrung der Differenz und Egalität lässt Ver-
hängen, dass nach der Wende für nicht weni- ständnis, Solidarität und Gemeinsamkeiten
ge Einrichtungsträger das defizit- und instituti- entstehen und bildet das Fundament für eine
onsbezogene Denken, Planen und Handeln humane Gesellschaft (hierzu auch FREDE-
der traditionellen Behindertenhilfe in West- RICKSON & CLINE 2002).
deutschland Vorbildfunktion hatte. Insofern Der Stand der schulischen Integration ist je-
wurde aus der Enthospitalisierung häufig eine doch längst noch nicht zufriedenstellend. So
Umhospitalisierung (HOFFMANN 1998; 1999) - werden beispielsweise nur etwa 2 % aller Kin-

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̈ BEHINDERTENHILFE IM UMBRUCH ? __________________________________________________

der und Jugendlichen mit sog. geistiger Behin- bestimmung und Beteiligung der Betroffenen in
derung integrativ oder kooperativ unterrichtet allen Bereichen und auf allen Ebenen des
(Theunissen 1999). Von einer „Normalisierung“ Hilfesystems (THIMM 1994; 1997).
der Verhältnisse durch Auflösung von Sonder-
einrichtungen kann daher in keiner Weise die
Rede sein. Empowerment
Das gilt gleichfalls für das Wohnen behinderter Von daher ist der Normalisierungsgedanke
Menschen: Ein gesellschaftlich integriertes nicht unredlich, wenn er im Rahmen einer le-
Wohnen wird zwar propagiert; Tatsache aber bensweltbezogenen Behindertenarbeit zum
ist, dass in Deutschland (wenn wir vom Woh- Tragen kommt, die mit Blick auf BRON-
nen im familialen Herkunftsmilieu einmal abse- FENBRENNER (1981) den Einzelnen als kom-
hen) ca. 78 % aller Menschen mit sog. geisti- petenten Akteur seiner Lebensverhältnisse
ger Behinderung in Institutionen mit 40 oder begreift. Demnach sind all jene Normalisie-
mehr Plätzen (Großeinrichtungen) leben. Zu- rungsmaßnahmen als verfehlt oder unzurei-
dem sind etwa 3 % der Plätze in Einrichtungen chend zu betrachten, die Menschen mit Behin-
der stationären Altenhilfe mit geistig, lern und derungen neue Lebensbereiche und Stan-
mehrfach behinderten Menschen unter 60 dards einfach vorsetzen und dabei die aktiven
Jahren fehlbelegt (Brings & Rohrmann 2002). Aneignungsmöglichkeiten, eine sinnerfüllte,
Von den ca. 22 %, die in Wohneinrichtungen selbstbestimmte Erschließung neuer Lebens-
bis zu 40 Plätzen leben, beträgt der Anteil der räume, weithin außer Betracht lassen.
Menschen im sog. betreuten (ambulant unter- Nicht nur Großeinrichtungen, sondern auch
1
stützten) Wohnen ungefähr 10 % . Nach mei- Wohnheime, die sich der Normalisierung ver-
nen Erkenntnissen sind wir diesbezüglich im pflichtet fühlen, müssen sich den Vorwurf ge-
Vergleich zu anderen führenden westlichen fallen lassen, diese Einsicht allzu oft zu igno-
Industrienationen Schlusslicht. In den USA rieren.
wohnen heute beispielsweise 77,1 % aller Diese Problematik wurde schon vor etwa 30
Menschen mit sog. geistiger Behinderung in Jahren von Menschen mit Behinderungen
Wohneinrichtungen, die weniger als 16 Plätze selbst aufgegriffen (THEUNISSEN & PLAUTE
aufweisen, davon 62,4 % in Häusern mit ma- 2002, 47ff.; auch STEINER 2001). Zunächst
2
ximal 6 Plätzen (THEUNISSEN & PLAUTE 2002, waren es Menschen mit Körper- und Sinnes-
42). behinderungen, die sich in selbstorganisierten
Das Erbe des Institutionalisierungsparadigmas Zusammenschlüssen gegen die Institutionali-
wiegt in Deutschland nach wie vor schwer. sierung wandten und anstelle des medizini-
Dass wir es bei uns mit ”hausgemachten” Pro- schen Rehabilitationsmodells ein Autonomie-
blemen zu tun haben, ist kaum zu widerlegen. Paradigma formulierten und einforderten. Die-
Denn die hiesige Behindertenhilfe - repräsen- ses Modell hat bis heute nichts an Aktualität
tiert durch traditionsreiche, mächtige Verbände eingebüßt. Es spielt gleichfalls für Menschen
oder Vereine - war und ist zum Teil immer mit sog. Lern- oder geistiger Behinderung eine
noch nicht ernsthaft daran interessiert, das prominente Rolle, die sich inzwischen weltweit
Normalisierungsprinzip voll auszuschöpfen. unter dem selbstgewählten Namen PEOPLE
Normalisierung - im ursprünglichen Sinne FIRST organisiert haben und ebenso wie Men-
buchstabiert - beinhaltet nämlich eine Selbst- schen mit Körper- oder Sinnesbehinderungen
für ihre eigenen Belange und Rechte öffentlich
eintreten (THEUNISSEN & PLAUTE 2002, 52ff.;
2
Die BV LEBENSHILFE ermittelte Mitte der 90er Jahre auch GRAY & JACKSON 2000; ZIMMERMAN &
einen Anteil von 5 bis max. 8 % an ambulant be- WARSCHAUSKY 1998, 3f.). So ist es zum Bei-
treuten Wohnplätzen ihrer damals insgesamt ca. spiel der US-amerikanischen und britischen
11000 Wohnplätze im gemeindenahen PEOPLE FIRST Bewegung gelungen, durch poli-
Wohnbereich (Kräling 2002, 4). „Heute haben sich tische Einflussnahme (policy-making) Fach-
die Zahlenverhältnisse nicht wesentlich verändert“ wissenschaft, Fachverbände (Elternvereini-
(ebd.).
2
gungen) und Politik dazu zu bewegen, anstelle
In dem Zusammenhang wird zwischen einem der Begriffe ”mental retardation” oder ”mental
“supported living” (Wohnungen mit 1 – 3 Perso-
handicap” neue Beschreibungen wie ”people
nen), „small group homes (1 – 3 Plätze) und „lar-
ger group homes“ (4 – 6 Plätze) unterschieden with learning difficulties” oder ”people with
(EMERSON ET AL. 2001, 403). learning disabilities” einzuführen. Ferner kann

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̈ BEHINDERTENHILFE IM UMBRUCH ? __________________________________________________

das US-amerikanische Antidiskriminierungsge- (Familie, Kindergarten, Schule, Stadtbezirken,


setz PL 101-336 (Americans with Disabilities Wohnsiedlungen, Arbeitsstätten...) ausgeht, in
Act of 1990), das jede Form von Diskriminie- denen alle Menschen, mit oder ohne Behinde-
rung behinderter Menschen in öffentlichen rung, willkommen sind und die so ausgestattet
Einrichtungen und im privaten Arbeits- und sein sollten, dass jeder darin, mit oder ohne
Dienstleistungsbereich verbietet, als ein Em- Unterstützung, sich zurechtfinden, kommuni-
powerment-Zeugnis der Betroffenen-Initiativen zieren und interagieren, kurzum sich wohlfüh-
(einschl. der Empowerment-Bewegung von len kann. Inclusion bedeutet in diesem Sinne
Eltern behinderter Kinder) betrachtet werden. uneingeschränkte Zugehörigkeit und ist quasi
Das seit 1994 in Deutschland bestehende das Fundament für Partizipation. Folgerichtig
Benachteiligungsverbot behinderter Menschen sollen Menschen mit Behinderungen in ihrer
(Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) wäre ohne diese vertrauten Lebenswelt das notwendige Maß an
Vorerfahrungen wohl kaum zustande gekom- Unterstützung für ein erfolgreiches Lernen (z.
men. B. Schule [FREDERICKSON & CLINE 2002]) und
für eine aktive Partizipation am gesellschaftli-
chen Leben erhalten.
Inclusion und Partizipation
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass
Nun reicht das amerikanische Gleichstellungs- einige der hiesigen (vor-)schulischen Integrati-
gesetz jedoch wesentlich weiter, indem es die onskonzepte durchaus dem Inlusiongrundsatz
Grundlage für Inclusion und Partizipation ge- entsprechen, weshalb eine pauschale Kritik an
legt hat: Denn wer einem Menschen mit Be- der Integration ungerechtfertigt ist.
hinderung durch Barrieren oder Abweisung Mit dem Plädoyer für Inclusion wird ohne
den Eintritt versperrt (sei es in einem Cafe, Zweifel ein wichtiges Anliegen zum Ausdruck
Restaurant oder Kino) sowie Assistenz verwei- gebracht, das im Hinblick auf die Sicherung
gert (z. B. durch Vorlesen einer Speisekarte, von Bürgerrechten behinderter Menschen nicht
wenn der Betroffene nicht lesen kann), ver- hoch genug eingeschätzt werden kann. Aller-
stößt gegen das Gesetz, was zu einer Geld- dings ist es nicht gegen die Gefahr immuni-
strafe bis hin zum Verlust der Betriebsgeneh- siert, missbraucht zu werden. Das zeigen die
migung führen kann. Fehlentwicklungen auf, die in den letzten Jah-
Darüber hinaus bedeutet Inclusion aber noch ren auf dem Gebiete der Deinstitutionalisie-
mehr: Der Begriff ist letztlich aus der Kritik am rung, des gemeindeintegrierten Wohnens oder
Integrationsgedanken hervorgegangen, des- des „Supported Living“ in einigen Teilen der
sen Umsetzung nicht selten nur funktional und USA, in Großbritannien und auch Norwegen
verhaltensorientiert ausgerichtet war, so zum 3
dokumentiert worden sind (DALFERTH 1999).
Beispiel in Form eines lebenspraktischen Trai-
nings zum selbstständigen Leben in einer ge- 3
meindeintegrierten Wohnung. Ausgeblendet Insgesamt betrachtet haben wir es freilich auf dem
Gebiete der Deinstitutionalisierung und des ge-
wurde dabei oft die Frage, was sich Betroffene
meindeintegrierten Wohnens mit positiven Entwick-
psychisch wünschen, ob sich beispielsweise lungen zu tun (z. B. EDGERTON ET AL. 1984;
der Einzelne in seinem Lebensumfeld auch WEHMEYER ET AL. 1998; EMERSON ET AL. 2001; KIM,
sozial integriert erlebt. Affektive, kommunikati- LARSON & LAKIN 2001). Das gilt weithin auch in Be-
ve und soziale Prozesse, Interaktionen mit der zug auf Abbau und Prävention von Verhaltensauf-
nichtbehinderten Bezugswelt und vor allem fälligkeiten (challenging behavior i. S. v. Hospitali-
auch Partizipationsmöglichkeiten in gesell- sierungsschäden). 62 % der von KIM ET AL. ausge-
schaftlichen Kontexten wurden somit eher werteten Studien dokumentieren eine signifikante
selten in den Blick genommen. Verbesserung auffälligen Verhaltens, 24 % eine
Verschlechterung bei Menschen mit sog. geistiger
In Anbetracht dieser Erkenntnisse wird im Behinderung, die von einer (großen) Institution in
angloamerikanischen Sprachraum schon seit gemeindeintegrierte Wohnungen umgezogen sind.
einigen Jahren sowohl von behinderten Men- In einer soeben von STANCLIFFE ET AL. (2002) veröf-
schen als auch von einflussreichen Fachwis- fentlichten Vergleichsstudie konnten dagegen bei
senschaftlern und fortschrittlichen Elternverei- ca. 150 erfassten Personen mit sog. schwerer gei-
nigungen das Paradigma der Unterstützung stiger Behinderung keine Unterschiede (i. S. v.
und Inclusion (POLLOWAY ET AL. 1996, 5f.; auch Verbesserungen) zwischen auffälligem Verhalten in
traditionellen institutionellen und gemeindeinte-
OLIVER 1996, 92f.) favorisiert. Der Idee nach ist grierten Settings (trotz besserer Personalschlüssel
Inclusion ein Ansatz, der von Lebenswelten und häuslicher Wohnstrukturen) festgestellt werden.

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̈ BEHINDERTENHILFE IM UMBRUCH ? __________________________________________________

TAYLOR (1997) spricht hier von sog. „Entrap- sundheitsorganisation (WHO) macht dies deut-
ping Niches“ (Fallgruben) und charakterisiert lich. Wurden bislang Schädigungen, Beein-
damit unter anderem neue Lebenssituationen, trächtigungen und Störungen fokussiert, so
in denen sich ehemals institutionalisierte Men- werden jetzt mit Blick auf die rechtliche Ent-
schen mit Behinderungen weithin alleine ohne wicklung soziale Aspekte und Konsequenzen
ausreichende Unterstützung und Sozialerfah- wesentlich stärker beachtet. Im Prinzip gehen
rungen zurechtfinden müssen. damit die Betroffenen-Perspektive, die Rechte-
Manche Politiker, Verwaltungen und auch Perspektive sowie die fachliche Umorientie-
Wohlfahrtsorganisationen sahen und sehen rung im Hinblick auf Inclusion, Partizipation
anscheinend in Inclusion und in der Deinstitu- und Empowerment mit der Neufassung von
tionalisierung die Chance, Kosten im Behin- Behinderung durch die WHO Hand in Hand.
dertenwesen einzusparen, weshalb es im La- Daher kann ihre Klassifikation für eine zeitge-
ger der US-amerikanischen Behindertenhilfe mäße Behindertenarbeit als richtungsweisend
und Sonderpädagogik Vorbehalte gegenüber gelten. Ihre zentralen Konstrukte sind:
einer völligen Auflösung spezieller Systeme für ̇ Körperstrukturen (z. B. Gliedmaßen)
behinderte Menschen gibt. Jedenfalls bedarf und -funktionen (physiologisch, psy-
es starker Betroffenen-Bewegungen, die in der chisch) und ihre Beeinträchtigung
Lage sein müssen, rechtzeitig Widerstand (Schädigung, Impairment [Organdefekt
gegen Sozialabbau und fehlende Unterstüt- und verminderte intellektuelle Fähig-
zung zu formulieren und den Missbrauch des keiten]);
Inclusionsgedankens zu stoppen. Diese Ein-
sicht führt uns zum Empowerment-Modell als ̇ Aktivitäten
Wegweiser moderner Behindertenarbeit (hier- Eine Aktivität ist das, was eine Person
zu ausführlich THEUNISSEN & PLAUTE 2002). tut (gehen, eine Aufgabe durchfüh-
Denn der Empowermentansatz verleiht Men- ren...); diese Dimension liefert ein Profil
schen in gesellschaftlich marginaler Position der Funktionsfähigkeit einer Person; es
(z. B. behinderten Menschen oder auch Eltern wird danach gefragt, welche Formen
behinderter Kinder) unmissverständlich eine der Unterstützung notwendig sind, um
Stimme. Ferner unterstreicht er ihr Recht auf der betreffenden Person ein autonomes
Selbstbestimmung, Wahl- oder Entschei- Leben im Rahmen ihrer Möglichkeiten
dungsfreiheit, demokratische und kollaborative sowie eine aktive Partizipation in ge-
Partizipation. sellschaftlichen Kontexten zu ermögli-
chen;
Neues Verständnis von Behinde- ̇ Partizipation
rung Soziale Teilnahme und Teilhabe einer
Person an verschiedenen Lebensberei-
Welche prominente Bedeutung dem Empo- chen;
wermentansatz zukommt wird auch daran
sichtbar, das sich in den letzten Jahren - be- Partizipation ist das Ergebnis der
fördert durch die Empowerment-Bewegungen Wechselwirkung von Impairment, Akti-
betroffener Menschen - im Verständnis von vitäten und Kontextfaktoren;
Behinderung eine Veränderung vollzogen hat. ̇ Kontextfaktoren
Die soeben verabschiedete, neue Klassifikati-
beziehen sich auf die soziale und mate-
on von Behinderung (ICIDH-2) der Weltge-
rielle Umwelt, auf die verschiedenen
Lebensbereiche, wie sie BRON-
Das Autorenteam weist darauf hin, dass ein effekti- FENBRENNER (1981) beschreibt.
ver Abbau und eine Prävention auffälligen Verhal-
tens in gemeindeintegrierten Settings zusätzliche Alles in allem wird von einem reziproken, pro-
(interdisziplinäre) Dienstleistungssysteme (z. B. zesshaften Zusammenwirken individueller und
Krisenintervention) notwendig machen (STANCLIFFE sozialer Faktoren ausgegangen; und das be-
ET AL. 2002, 318, hierzu auch 2001, 64ff.). Das deutet, dass eine lebensweltbezogene Behin-
Fehlen solcher Angebote wie etwa Praxisberatung, dertenarbeit Priorität hat, wie sie durch Inclusi-
wohngruppenunterstützende psychosoziale Ein- on, Partizipation und Empowerment grundge-
zelhilfe oder Krisenintervention befördert die Gefahr legt wird. Im Prinzip kann das SGB IX im Hin-
der Reinstitutionalisierung THEUNISSEN von Perso- blick auf diesen internationalen Trend als an-
nen, die als besonders schwierig erlebt werden.

____________________________________ 23 ____________________________________
̈ BEHINDERTENHILFE IM UMBRUCH ? __________________________________________________

schlussfähig betrachtet werden. Ein wichtiger des Wohnens von Menschen mit sog. schwer-
Grundgedanke des Gesetzes ist die gleichbe- ster geistiger Behinderung in den USA (aber
rechtigte Teilhabe behinderter Menschen am auch in Italien, Kanada, Großbritannien, Spa-
Leben in der Gemeinschaft. nien oder in den Niederlanden) ist ein Beleg
dafür: Bei den 22,9 % der Menschen mit sog.
geistiger Behinderung, die in den USA noch in
Empowered Persons Institutionen mit mehr als 16 Plätzen leben,
Diese Neuorientierung der WHO und natürlich handelt es sich weithin um Personen, die als
auch die Betroffenen-Bewegungen führen uns geistig schwerst oder mehrfachbehindert, ver-
deutlich vor Augen, dass das herkömmliche haltensauffällig oder psychisch gestört gelten.
Bild vom behinderten Menschen ins Museum Mit anderen Worten: Ein Leben ohne Instituti-
gehört. Wurden in den vergangenen Jahren on für sog. geistig behinderte Menschen mit
behinderte Menschen zumeist als versor- hohem Assistenzbedarf scheint selbst in den
gungsbedürftige, zu beschützende und zu Ländern, die sich dem Inclusion- und Empo-
kontrollierende Mängelwesen betrachtet, so wermentgedanken verschrieben haben, nicht
haben wir es inzwischen mit einem Verständ- die Regel zu sein.
nis von „empowered persons“ zu tun, d. h. von Auf eine bemerkenswerte Entwicklung in Hin-
selbstbefähigten und selbstbestimmten Sub- blick auf gemeindeintegrierte, kleine Wohnfor-
jekten, die für sich selbst am besten wissen, men für Menschen mit sog. geistiger Behinde-
was für sie gut ist und was nicht, die eigene rung und hohem Assistenzbedarf stoßen wir
Interessen artikulieren, eigenständig- letztendlich nur in Schweden: Hier war seit
selbstverantwortlich Entscheidungen für per- Beginn der Umsetzung des Normalisie-
sönliche Angelegenheiten treffen und eigene rungsprinzips das Bestreben groß, jedwede
Belange für sich selbst regeln können. Dazu Ausgrenzung zu vermeiden und keine neuen
zählen ein Vertrauen in eigene Ressourcen, Heime für Menschen mit hohem Assistenzbe-
die Überzeugung, das eigene Leben kontrollie- darf zu schaffen. Zwar kam es zur Bildung sog.
ren zu können, ein kritisches Problembewusst- Schwerstbehindertenwohnungen mit vier oder
sein, Fähigkeiten soziale Probleme zu lösen fünf Plätzen, doch wurden in diesen Gruppen
sowie die Bereitschaft, sich (z. B. im Rahmen die für ein Wohnheim typischen Merkmale,
von Selbstvertretungsgruppen) aktiv politisch Strukturen und Prozesse weithin vermieden.
zu engagieren (ZIMMERMAN & WARSCHAUSKY Abgeschafft wurde somit die Institution Wohn-
1998, 9; BARTLE ET AL. 2002, 33). heim. Die Schaffung gemeindeintegrierter klei-
Vor diesem Hintergrund machen mit Blick auf ner Wohngruppen ausschließlich für Menschen
behinderte Menschen im Erwachsenenalter mit (sehr) hohem Assistenzbedarf kann den-
und Alter persönliche Lebens- oder Zukunfts- noch kritisiert werden. Inhaltlich betrachtet
planungen (personal futures planning; life style bieten sog. heterogene Gruppen in der Regel
planning) anstelle eines „heilpädagogischen mehr Anreize. Von schwedischer Seite wird die
Förderplans“, sog. Direktzahlungen (direct Homogenisierung von Gruppen für Menschen
payments) an behinderte Menschen (persönli- mit sog. geistiger Behinderung pragmatisch,
ches Budget) wie auch das „Supported Living“ materiell und finanziell (Bündelung von Res-
zur Ermöglichung aktiver gesellschaftlicher sourcen) begründet. Ähnlichen Tendenzen
Partizipation unzweifelhaft Sinn. begegnen wir auch in anderen Ländern (KIM ET
AL. 2001; STANCLIFFE ET AL. 2002).
Wenngleich davon nicht nur Menschen mit
Körper- oder Sinnesbehinderungen profitieren Interessant ist hier nun die Frage, ob es sich
(hierzu FORSEA E. V. INFORUM 2001), sondern bei diesen Wohnungen für sog. geistig
auch Personen mit Lernschwierigkeiten, die für schwerst behinderte Personen um neue Insti-
sich selber sprechen können, sollten dennoch tutionen handelt. Nach MEANS UND SMITH
einige Probleme nicht unerwähnt bleiben. So (1998, 175f.) wie auch STANCLIFFE ET AL.
sind zum Beispiel die persönlichen Budgets für (2002, 303) wären es keine Institutionen, wenn
3
Menschen mit hohem Assistenzbedarf zu dem Prinzip des häuslichen Wohnens mit
knapp bemessen (WAGNER-STOLP 2002, 6f.).
Für diesen Personenkreis besteht die Gefahr, 3
weiterhin oder wieder einmal in sog. Schwerst- Das Prinzip des häuslichen Wohnens (v. a. im
Sinne des Verzichts auf zentrale Versorgungslei-
behinderten- oder Pflegeeinrichtungen abge- stungen) gilt in der einschlägigen Literatur nicht
schoben und versorgt zu werden. Die Realität selten als Unterscheidungskriterium zwischen ei-

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einer Selbstversorgung und einem hohen Grad kommt die konsequente Umsetzung bzw. Rea-
an Autonomie Rechnung getragen würde (da- lisierung des schon erwähnten häuslichen
zu auch CONROY 1996; EMERSON & HATTON Wohnens (CONROY (1996), EMERSON &
1996). In ähnlichen Bahnen bewegt sich HATTON (1996) haben in ihren Studien fest-
gleichfalls die Argumentation von EMERSON ET stellen können, dass durch eine häusliche
AL. (2001). Aus soziologischer Sicht können Wohnkultur der höchste (beste) Grad an „ad-
aber vor dem Hintergrund unserer eingangs aptivem Verhalten“ (i. S. e. lebenspraktischen
genannten Strukturmerkmale selbst Familien und sozialen Wohnkompetenz) bei Menschen
Institutionen sein. Demnach wären vergleich- mit sog. geistiger Behinderung erreicht werden
bare häusliche Sozialräume für Menschen mit kann.
hohem Assistenzbedarf ebenfalls Institutionen.
Wer dieser Argumentation folgt, geht davon
aus und/oder kommt zu dem Schluss, dass Stärken-Perspektive
eine pauschale Verurteilung jeglicher Institu- Mit der sog. Stärken-Perspektive (hierzu LINGG
tionen für Menschen mit hohem Assistenzbe- & THEUNISSEN 2000, 176ff.) gibt es einen An-
darf „weder theoretisch haltbar noch praktisch satz, der hierzu als Richtschnur für die hand-
sinnvoll (erscheint, G. T.), hat doch beispiels- lungspraktische Ebene gelten kann. Er „grün-
weise ein Mensch mit Schwerstmehrfachbe- det sich auf Würdigung der positiven Attribute
hinderungen solche Bedürfnislagen, die ohne und menschlichen Fähigkeiten und Wege, wie
ein hohes Maß an Spezialisierung (im kommu- sich individuelle und soziale Ressourcen ent-
nikativen, aber auch im pflegerischen und wickeln und unterstützen lassen“ (WEICK et al.
technisch-apparativen Feld) nicht zu befriedi- zit. n. ebd., 181) und schreibt allen Menschen
gen sind und u. U. auch institutionelle Dimen- „eine Vielzahl von Talenten, Fähigkeiten, Ka-
sionen erforderlich machen“ (BAUDISCH 2000, pazitäten, Fertigkeiten und auch Sehnsüchte“
137). zu, deren Präsenz für Lebenszufriedenheit,
Diese Argumentation wirkt plausibel, ich kann psychische Gesundheit und „erhöhtes Wohl-
ihr jedoch nur dann zustimmen, wenn sie mit befinden“ respektiert werden muss. Diese
einer Analyse der institutionellen Bedingungen Grundüberzeugung bezieht sich sowohl auf
von der Rechte- und Betroffenen-Perspektive einzelne Individuen als auch auf Familien,
aus verschränkt wird. Das heißt: eine Instituti- Gruppen, das soziale Umfeld oder die gesell-
on ist nur dann nicht verwerflich, wenn sie im schaftliche Bezugswelt (SALEEBEY 1997). Eine
Sinne von Goffman keinen „totalen“ Charakter zentrale Aufgabe der Behindertenarbeit ist es,
impliziert (z. B. auch strukturelle oder institu- individuelle und soziale Stärken (z. B. Umfeld-
tionelle Gewalt), keine soziale Isolation erzeugt Ressourcen) zu erschließen, um über eine
und all das zulässt, was im Sinne von Inclusi- Förderung und Unterstützung einer allseitigen
on, Partizipation und Empowerment für ein Persönlichkeitsentwicklung hinaus den Weg für
5
menschenwürdiges Leben nicht nur als not- haltgebende Strukturen (Enabling Niches) zu
wendig, sondern gleichfalls als wertvoll erach-
tet wird. Dazu zählen sowohl strukturelle An-
gebote eines gemeindeintegrierten Lebens für men werden von Betroffenen geschätzt, und fach-
alle Menschen mit Behinderungen als auch lich betracht können die Alternativen als „zeitge-
inhaltliche Konzepte einer lebensweltbezoge- mäß“ im Hinblick auf individuelle Bedürfnisse und
nen Behindertenarbeit, die aus anthropologi- Wünsche betrachtet werden.
5
scher Perspektive das Modell der „empowered Über die Bedeutung von Enabling Niches oder
person“ so auszulegen und aufzubereiten hat, Community Care im Kontext eines “Supported Li-
dass jeder behinderte Mensch davon profitie- ving” bin ich in Kapitel 5 meiner Schrift „Krisen und
4 Verhaltenauffälligkeiten bei geistiger Behinderung
ren kann (hierzu THEUNISSEN 2000) . Hinzu
und Autismus“, Stuttgart (Kolhammer-Verlag)
2003, ausführlich eingegangen. Diesem Beitrag ist
nem Leben in einer Institution und einer ge- zu entnehmen, dass es nicht nur in Institutionen
meindeintegrierten Wohnform. (Heimen), sondern gleichfalls im Bereich des „am-
4
EMERSON ET AL. (2001, 409) haben in ihrer Ver- bulanten“, „betreuten“ oder „unterstützten“ Woh-
gleichstudie in Bezug auf „supported living“, „small nens Strukturdefizite geben kann. Hinzu kommt,
group homes (1 – 3 Plätze) und „larger group ho- dass intellektuell behinderte Menschen mit psy-
mes“ (4 – 6 Plätze) keine signifikanten Unterschie- chosozialen Problemen zumeist gemeinschaftliche
de in Bezug auf Lebenszufriedenheit aus der Sicht Lebensformen und/oder tragfähige (haltgebende)
der Betroffenen feststellen können. Alle drei For- soziale Netze benötigen, um nicht in der Isolation

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ebnen, die es dem Einzelnen erlauben, an auswirken (kann, G.T.), dass partielle Anteile
gesellschaftlichen Bezügen zu partizipieren aus dem intellektuellen und emotionalen Be-
und ein autonomes Leben im Rahmen seiner reich verändert sind oder auch eine Reduktion
Möglichkeiten zu verwirklichen. erfahren, während andere erhalten bleiben
oder sich sogar im Sinne einer Steigerung der
Fähigkeiten bemerkbar machen“ (OESTER-
Wie wir uns die Umsetzung dieser Leitgedan-
REICH 1975, 96). Dies gilt zum Beispiel für Frau
ken vorstellen können, möchte ich richtungs-
B.‘s Stärke, den Alltag zu genießen und dies
weisend an folgendem Beispiel (entnommen
über eine faszinierende Mimik auch anderen
aus THEUNISSEN 2000, 254ff.) anskizzieren:
mitteilen zu können, für ihre herzlich-
Sowohl Frau B. (gilt als schwerst geistig und humoreske Art zu kommunizieren und Bedürf-
mehrfachbehindert) als auch Frau F. (Diagno- nisse zu äußern wie auch für ihre Launenhaf-
se: frühkindlicher Autismus mit akzessorischen tigkeit oder (Unmuts-)Äußerungen bei Unzu-
Verhaltensauffälligkeiten) sind heute über 50 friedenheit oder in Situationen, die ihr nicht
Jahre alt. Beide leben zusammen mit zwei passen. Was sich aus der Perspektive der
weiteren Frauen und drei Männern mit hohem Mitarbeiterinnen dagegen als Problem dar-
Assistenzbedarf in einem Wohnhaus. Die stellt, ist ihre Skoliose, die sich im Zuge des
Gruppe (WG) besteht seit 1991 und das Ver- Älterwerdens stärker ausgeprägt habe und
hältnis zu den Nachbarn wird als gut beschrie- eine Krankengymnastik erforderlich mache. So
ben. Während Frau B. von Anfang an in dieser sei inzwischen ein Sitzen auf einem normalen
WG lebt, ist Frau F. vor etwa vier Jahren zuge- Stuhl nicht mehr möglich, weshalb sie einen
zogen. Der Personalschlüssel beträgt 1:1,16 ihrer Körperbehinderung angepassten Spezi-
und entspricht damit Empfehlungen und inter- alstuhl erhalten habe. Ferner könne sie auch
nationalen Standards für vergleichbare Wohn- nur noch an kurzen Spaziergängen partizipie-
gruppen. ren, da das Laufen für sie sehr anstrengend
Die WG hat sich dem Ziel der größtmöglichen und bei längeren Strecken mit Schmerzen
Lebensautonomie in sozialer Bezogenheit verbunden sei. Um ein gewisses Maß an Be-
verschrieben, indem sie sich zum Beispiel weglichkeit beizubehalten, gehen die Mitar-
völlig selbstversorgt, die Tagesgestaltung ge- beiterinnen mit Frau B. auch häufig schwim-
meinsam bestimmt und eben „ein Leben so men, außerdem nimmt sie regelmäßig an ei-
normal wie möglich“ (NIRJE) zu verwirklichen nem therapeutisch orientierten Reitangebot
versucht. teil. Ihre körperliche Beeinträchtigung sei aller-
Als Gast und Beobachter habe ich eine ent- dings kein Grund dafür, sie in eine Pflegeein-
spannte und gemütliche Atmosphäre erlebt - richtung zu verlegen.
so wie sich vermutlich viele Menschen ihren Auch bei Frau F. stellt sich dieses Thema
Lebensalltag vorstellen und gestalten. Diese nicht. Sie hat sich nach Ansicht der Mitarbeite-
Gemütlichkeit, verstärkt durch eine bedürfnis- rinnen in der WG gut eingelebt und gilt als eine
orientierte, stimulierende, aber nicht aufdringli- ausgesprochen aufmerksame, aktive und
che Wohnraumgestaltung, wird vor allem von selbstständige Bewohnerin. Die Mitarbeiterin-
Frau B. geschätzt, die gerne auf einem nen sind davon überzeugt, dass die WG den
„Knautschsessel“ im Wohnzimmer liegt und Wünschen und Bedürfnissen von Frau F. ent-
das Alltagsleben genießt. Wenngleich sie bei sprechen würde. Eine autonome Entscheidung
der alltäglichen Pflege Assistenz benötigt und von Frau F. über die Wahl ihrer Wohngruppe
diesbezüglich in den vergangenen Jahren sei zwar nicht möglich gewesen, dennoch
keine Fortschritte im Hinblick auf mehr Selbst- hätte sie die Vorschläge eines Gruppenwech-
ständigkeit gemacht hat, würden wir ihr nicht sels (Frau F. lebte zuvor in einer Heimgruppe)
gerecht, wenn wir ihre Gesamtentwicklung als sowie die entsprechenden Vorbereitungen
„stagnierend“ bezeichnen würden. Denn es weithin positiv aufgenommen. Recht schnell
lassen sich bei ihr Momente beobachten, die habe sie ihr neues Zimmer angenommen und
auf ein „erfolgreiches Altern“ hinweisen einen für sie relativ autonomen Lebensstil ge-
(THEUNISSEN 2002), welches sich als eine funden, sowohl was die Auswahl ihrer Klei-
„qualitative Umstrukturierung... in der Weise dung und Speisen als auch die Gestaltung
ihres Alltags betreffe. Zudem würde sie von
dem angenehmen Gruppenklima sehr profitie-
zu dekompensieren, in eine psychische Krise oder ren und sich auch selbst durch Musikhören
auch Verwahrlosung zu entgleiten.

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alter, ihr vertrauter Schlager und Volkslieder in ten der Bereitschaft der helfenden Berufe be-
ihrem Zimmer entspannen. darf, die Wertebasis von Empowerment
Besondere Stärken und Interessen zeige sie (Selbstbestimmung, demokratische und kolla-
im Bereich der alltäglichen Hausarbeiten. So borative Partizipation, Verteilungsgerechtigkeit)
habe sie sich von Beginn an im Haushalt der sowie das Recht auf Inclusion anzuerkennen.
Gruppe orientieren können und inzwischen Das gilt sowohl für diejenigen, die unmittelbar
würde sie zahlreiche Tätigkeiten eigenständig- in Praxis stehen, als auch für diejenigen, die
verantwortlich ausführen (Tisch decken und auf übergeordneter Ebene tätig sind (z. B.
abräumen, Spülmaschine ausräumen, Wäsche Vorgesetzte, Politiker, Verwaltungskräfte).
falten, aufräumen u. dgl.). Ferner beteilige sie Letztlich kommt es immer auch auf die Perso-
sich stets an der alltäglichen Zubereitung der nen an, die die Reformen mit Leben füllen
Mahlzeiten und den entsprechenden Einkäu- müssen. Das sollte bei aller Reformfreudigkeit
fen. Darüber hinaus bestünde eine enge Be- nie in Vergessenheit geraten.
ziehung zu einer Mitbewohnerin, der sie beim
Aus- und Anziehen behilflich sei.
Literatur
Wenngleich sie auch schon in den Jahren
BARTLE, E. ET AL.: Empowerment as a Dynamically
zuvor Hausarbeiten erledigte, kommen ihre Developing Concept for Practice: Lessons Learned
Fähigkeiten und Fertigkeiten erst in der neuen from Organizational Ethnography. In: Social Work ,
Gruppe aufgrund der häuslichen Struktur an- Vol. 47 2002, 32-43
gemessen zur Entfaltung, so dass wir es hier –
BAUDISCH, W.: Rehabilitationspädagogische Aufga-
aus der Beobachterperspektive – um einen
ben in Prozessen der De-Institutionalisierung von
wertvollen Zugewinn an Möglichkeiten einer Behindertenhilfe, in: GOLZ, R.; KECK, W.;
sinnerfüllten Lebensgestaltung zu tun haben. MAYRHOFER, W. (HRSG.): Humanisierung der Bildung
Allerdings war Frau F. bis zu ihrem Gruppen- Jahrbuch 2000, Frankfurt u. a. 2000, 136-152
wechsel in einer heiminternen Arbeits- und BRINGS, N.; ROHRMANN, E.: Jüngere Behinderte in
Beschäftigungsstätte tätig gewesen, und au- Einrichtungen der stationären Altenhilfe, in: Zeit-
ßerdem hatte sie all die Jahre immer wieder in schrift für Heilpädagogik 4/2002, 146-152
ihrer Freizeit ein Heim-Cafe und Lebensmittel-
BRONFENBRENNER, U.: Die Ökologie der menschli-
geschäft selbstständig aufgesucht und kleinere
chen Entwicklung. Stuttgart 1981
Einkäufe getätigt. Diesbezüglich bot ihr das
Heim- und Klinikgelände einen relativ „ge- CONROY, J. W.: The small ICF/MR program: Dimen-
schützten“ und insbesondere verkehrssicheren sions of quality and cost, in: Mental Retardation, 34
Ort zum Leben. In ihrem jetzigen Umfeld ist Vol. 1996, 13-26
Frau F. dagegen mit „normalen“ Anforderun- DALFERTH, M.: Enthospitalisierung in westlichen
gen und Aufgaben konfrontiert, die sie nicht Industrienationen am Beispiel der USA/Kalifornien,
eigenständig bewältigen kann (Straßen- bzw. Norwegen und Schweden, in: THEUNISSEN, G; LINGG,
Stadtverkehr). So benötigt sie für einen Stad- A. (HRSG.): Wohnen und Leben nach der Enthospi-
teinkauf oder Spaziergang Assistenz. In der talisierung, Bad Heilbrunn, S. 88-113
Hinsicht könnte im Vergleich zum „Schonraum EMERSON, E. ET AL.: Quality and Costs of Supported
Heim“ eine Einschränkung ihres Freiheitsgra- Living Residences and Group Homes in the United
des behauptet werden, ließe sich die neue Kingdom, in: American Journal on Mental Retarda-
Lebenslage nicht als eine pädagogische Her- tion, Vol. 106 2001, 401-415
ausforderung für weitere Schritte in Richtung EMERSON, E.; HATTON, C.: Deinstitutionalization in
eines Mehr an Lebensautonomie betrachten the UK and Ireland: Outcomes for service users,:
und aufbereiten. Hierzu gehören zum Beispiel Journal of Intellectual and Developmental Disabili-
auch Bemühungen, Nachbarn und andere ties, 16 Vol. 1996, 17-37
Personen für die Situation und Belange von EDGERTON, R. B.; BOLLINGER, M.; Herr, B.: The cloak
Frau F. und ihren Mitbewohnerinnen zu sensi- of competence: After two decades, in: American
bilisieren sowie unter der nichtbehinderten Journal of Mental Deficiency, Vol. 88 1984, 345-351
Bevölkerung freiwillige Helfer, Freunde und
Netzwerkpartner zu finden. FORSEA E. V. (Forum selbstbestimmter Assistenz
behinderter Menschen) (Hrsg.): Inforum 20 Jahre
Assistenz. Behinderte auf dem Weg zu mehr
Zu guter Letzt sei angemerkt, dass es zur Um- Selbstbestimmung, Ingelfingen 2001
setzung all dieser Ansprüche und Möglichkei-

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̈ BEHINDERTENHILFE IM UMBRUCH ? __________________________________________________

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Das neue Heimgesetz und die Folgen


PETER DIETRICH

Vorbemerkung Heime. Was unter einem Heim zu verstehen


ist, findet sich in der Legaldefinition in S. 2 und
entspricht inhaltlich der bisherigen Fassung.
Am 1. Januar 2002 ist das neue Heimgesetz in Erweitert wurde der Geltungsbereich durch
Kraft getreten1. Etwas verspätet, folgte am 1. Abs. 5 auf die teilstationären Einrichtungen der
August 2002 die Heimmitwirkungsverordnung2. Tages- und Nachtpflege, da hier ein vergleich-
Über die ebenfalls geplante Neufassung der bares Schutzbedürfnis für Bewohner wie in
Verordnung über die baulichen Mindestanfor- Heimen angenommen wird. § 10 HeimG findet
derungen in Heimen konnte bisher noch kein mit der Maßgabe Anwendung, dass ein Heim-
Einvernehmen erzielt werden, so dass ein fürsprecher zu bestellen ist.
Inkrafttreten dieser Verordnung noch nicht Umstritten war die Anwendung des Heimge-
absehbar ist. setzes auf die sich seit geraumer Zeit entwik-
Mit der Neufassung des Heimgesetzes wollte kelnden neuen Wohn- und Unterstützungsfor-
der Gesetzgeber den bekannt gewordenen men, für die weithin der Begriff betreutes
Missständen, insbesondere im Bereich der Wohnen3 (besser: unterstütztes Wohnen) Ver-
Altenhilfe begegnen. Es ist daher Ziel des Ge- wendung findet. Die Rechtsprechung bemühte
setzes, die rechtliche Stellung der Heimbe- sich, das Heimgesetz weit auszulegen, um den
wohner zu stärken. Dies soll durch die transpa- Personen des unterstützten Wohnens den
rentere Gestaltung des Heimvertrages und Schutz des Heimgesetzes noch zukommen zu
eine Erweiterung der Mitwirkungsrechte er- lassen4, was aber vielfach nicht der Interes-
reicht werden. Ferner wurden die Kontrollbe- senslage der Betroffenen entspricht.
fugnisse der Heimaufsicht gestärkt und deren Dem Rechnung tragend, versucht das Gesetz
Zusammenarbeit mit dem Medizinischen in § 1 Abs. 2 HeimG Auslegungsregeln für die
Dienst der Krankenkassen und den Soziallei- Abgrenzung von Heimen, für die das Heimge-
stungsträgern verpflichtend. Schließlich be- setz Anwendung findet, zu Einrichtungen des
müht sich das Gesetz, eine Abgrenzung zwi- unterstützten Wohnens, die nicht unter das
schen einer heimmäßigen Versorgung und Heimgesetz fallen, aufzustellen5. Ein Heim
dem ambulant betreuten Wohnen vorzuneh- liegt somit dann vor, wenn eine Einrichtung
men.
Schwerpunkt meiner Ausführungen sollen die 3
Mitwirkungsrechte der Heimbewohner sein. Besser sollte von unterstütztem Wohnen gespro-
chen werden, da der Begriff „betreuen“ missver-
Dies scheint m. E. erforderlich, da sich in der ständlich wirkt und nicht beabsichtigte andere As-
Fortbildung von Leitungspersonal immer wie- soziationen hervorruft.
der zeigt, dass die Kenntnisse über die Mitwir- 4
OVG Münster, Urt. V. 28.01.1999, AZ. 4 A 589/98
kungsrechte des Heimbeirates und deren Um- 5
„(2) Die Tatsache, dass ein Vermieter von Wohn-
setzung häufig unterentwickelt sind.
raum durch Verträge mit Dritten oder auf andere
Weise sicherstellt, dass den Mietern Betreuung
und Verpflegung angeboten werden, begründet
allein nicht die Anwendung dieses Gesetzes. Dies
Geltungsbereich des Gesetzes gilt auch dann, wenn die Mieter vertraglich ver-
pflichtet sind, allgemeine Betreuungsleistungen
wie Notrufdienste oder Vermittlung von Dienst-
Der Geltungsbereich des Gesetzes ist wie und Pflegeleistungen von bestimmten Anbietern
bisher in § 1 Abs. 1 S. 1 Heimgesetz (HeimG) anzunehmen und das Entgelt hierfür im Verhältnis
geregelt. Es gilt nämlich – oh Wunder – für zur Miete von untergeordneter Bedeutung ist.
Dieses Gesetz ist anzuwenden, wenn die Mieter
1
vertraglich verpflichtet sind, Verpflegung und wei-
BGBl I 2001, S. 2970 ff. tergehende Betreuungsleistungen von bestimmten
2
BGBl I 2002, S. 2896 ff. Anbietern anzunehmen.

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Menschen aufnimmt und ihnen Wohnraum, ̇ mit der mietweisen Wohnraumüberlas-


gekoppelt mit dem Angebot von Betreuung sung eine Betreuung rechtlich verbun-
und Verpflegung, überlässt. Zusätzlich zur den wird, wobei neben der vertraglichen
Überlassung von Wohnraum und zum Angebot Verpflichtung des Mieters, mit der
von Verpflegung und Betreuung müssen weite- Wohnraumüberlassung auch eine Be-
re Merkmale hinzutreten. Danach ist das treuung zu vereinbaren, auch die recht-
HeimGesetz nicht anzuwenden, wenn die liche Koppelung über den Anbieter von
Mieter vertraglich verpflichtet sind, allgemeine Wohnraum und das Anbieten der Be-
Betreuungsleistungen wie Notrufdienste oder treuung ausreicht und
Vermittlung von Dienst- und Pflegeleistungen
̇ diese Betreuung derjenigen des Heim-
von bestimmten Anbietern oder hausmeisterli-
gesetzes entspricht. Ist im Betreuungs-
che Dienste anzunehmen. Für die Anwendung
vertrag nur eine allgemeine Betreu-
des Heimgesetzes kann sprechen, dass die
ungsleistung vorgesehen, die nicht der
Einrichtung baulich wie ein Heim ausgestattet
heimmäßigen Versorgung entspricht,
ist, z. B. über Gemeinschafts- oder Thera-
fehlt es i. S. des Heimgesetzes an ei-
pieräume verfügt. Für das Vorliegen eines
nem Heim6. Die Abgrenzungsproble-
Heimes spricht auch, wenn die Einrichtung
matik scheint hierdurch jedoch noch
Angebote der sozialen Betreuung, der Tages-
nicht gelöst zu sein. Es wird daher
strukturierung oder sonstige Angebote macht,
weiterhin Streitfälle geben. In solchen
die ein Zusammenleben der Bewohner ermög-
Fällen ist zu hoffen, dass die Heimauf-
lichen.
sicht großzügig von der Erprobungsre-
gelung des § 25a Abs. 1 HeimG7 Ge-
brauch macht und die erforderlichen
Befreiungen erteilt.

Heimvertrag

Der Heimvertrag ist in den §§ 5 bis 9 HeimG


neu geregelt worden. Um dem Transparenz-
gebot gerecht zu werden, bestimmt § 5 Abs. 3
S. 2 HeimG, dass für den Bewohner bzw. den
Bewerber erkennbar sein muss, welchen Lei-
stungskatalog das Heim insgesamt anbietet.
Dadurch soll eine bessere Vergleichbarkeit der
Heime ermöglicht werden. Der Bewerber soll
abschätzen können, ob er auch bei einer Ver-
schlechterung des Gesundheitszustandes in
dem Heim wohnen bleiben und seinem Ge-
sundheitszustand entsprechend versorgt wer-
den kann. Ob damit eine Markttransparenz
erreicht werden kann, die einem Bewerber
einen wirklichen Entscheidungsspielraum er-

6
BT-Drs. 14/5399 S. 19
7
§ 25a Erprobungsregelungen
(1) Die zuständige Behörde kann ausnahmsweise
Zusammenfassend ist Heimrecht nur anwend- auf Antrag den Träger von den Anforderungen des
bar, wenn § 10, den Anforderungen der nach § 3 Abs. 2 er-
lassenen Rechtsverordnungen teilweise befreien,
̇ älteren Menschen oder pflegebedürfti- wenn dies im Sinne der Erprobung neuer Betreu-
gen oder behinderten Volljährigen ungs- oder Wohnformen dringend geboten er-
Wohnraum mietweise überlassen wird, scheint und hierdurch der Zweck des Gesetzes
nach § 2 Abs. 1 nicht gefährdet wird.

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̈ BEHINDERTENHILFE IM UMBRUCH ? __________________________________________________

öffnen kann, dürfte zumindest im Bereich von abzuwarten, ob dieses Recht des Bewohners
Einrichtungen der Behindertenhilfe fraglich in der Praxis eine Bedeutung erlangen kann.
sein. Die Landesrahmenverträge und der Ko-
stendruck lassen den Einrichtungen kaum
Raum für differenzierte Angebote.
Ferner muss nach Abs. 3 S. 3 dem Bewohner Öffnung des Heimbeirates für ex-
ersichtlich sein, welche einzelnen Leistungen terne Mitglieder
des Heimträgers Gegenstand des individuellen
Heimvertrages sind und wie hoch das Entgelt
Die Mitwirkung der Heimbewohner erfolgt
– gegliedert nach den Kostenblöcken Unter-
durch Heimbeiräte (§ 1 Abs. 1 Heimmitwir-
kunft, Verpflegung und Betreuung – für diese
kungsverordnung / HeimmitwV). Dieses Mit-
Einzelleistungen ist. Die hier verlangte indivi-
wirkungsgremium ist erheblich umgestaltet
duelle Leistungsbeschreibung bei einer viel-
worden.
fach schwankenden Bedarfslage wird sich nur
schwer durchführen lassen. Um eine gewisse Gemäß der Verordnungsermächtigung in § 10
Pauschalisierung, etwa durch den Verweis auf Abs. 5 S. 2 HeimG ist in der zu erlassenden
die jeweilige Hilfebedarfsgruppe in Verbindung Verordnung vorzusehen, dass auch Angehöri-
mit dem individuellen Hilfeplan wird man wohl ge und sonstige Vertrauenspersonen der Be-
nicht umhin kommen. An dieser Stelle kann wohner, von der zuständigen Behörde vorge-
jedoch nicht weiter auf die Problematik des schlagene Personen sowie Mitglieder der örtli-
Heimvertrags, der Entgelterhöhung und des chen Seniorenvertretungen und Mitglieder von
Kündigungsrechts eingegangen werden, da örtlichen Behindertenorganisationen in ange-
diese Thematik nicht im Zentrum dieses Refe- messenem Umfang in den Heimbeirat gewählt
rates steht. werden können. Hiervon haben die zuständi-
gen Ministerien in der Heimmitwirkungsverord-
Auf das neu eingeführte Minderungsrecht des
nung Gebrauch gemacht. Somit können neben
Heimbewohners bei Minder- oder Schlechtlei-
den Heimbewohnern auch externe Personen
stung sei dennoch kurz hingewiesen. Nach § 5
in den Heimbeirat gewählt werden. Die Rege-
Abs. 11 HeimG kann der Bewohner bis zu
lung trägt dem Umstand Rechnung, dass in
sechs Monate rückwirkend eine angemessene
vielen Altenpflegeheimen häufig nicht genü-
Kürzung des Heimentgelts verlangen, wenn
gend Personen zur Verfügung stehen, die in
der Träger die vertraglichen Leistungen ganz
der Lage sind, die Aufgaben eines Heimbei-
oder teilweise nicht erbringt oder wenn sie
ratsmitgliedes wahrzunehmen.
nicht unerhebliche Mängel aufweisen8. Zwar
steht der Kürzungsbetrag vorrangig dem Sozi- Auch im Bereich von Einrichtungen der Behin-
alleistungsträger zu, aber das Recht, die Ent- dertenhilfe wurde, insbesondere von Eltern,
geltminderung geltend zu machen, steht dem ein größeres Mitspracherecht geltend ge-
Bewohner als Vertragspartner zu. Es bleibt macht. Zwar steht der Heimbeirat nunmehr
externen Bewerbern offen, die Majorität von
Heimbeiratsmitgliedern, die aus der Bewoh-
8
„(11) Erbringt der Träger die vertraglichen Leistun-
nerschaft stammen, ist jedoch weiterhin ge-
gen ganz oder teilweise nicht oder weisen sie nicht währleistet (§ 4 Abs. 2 HeimmitwV). Auch der
unerhebliche Mängel auf, kann die Bewohnerin Vorsitz im Heimbeirat soll gemäß § 16 Abs. 1
oder der Bewohner unbeschadet weitergehender HeimmitwV einem Bewohner zustehen. Hier-
zivilrechtlicher Ansprüche bis zu sechs Monate von kann jedoch abgewichen werden. Um
rückwirkend eine angemessene Kürzung des ver- eine Interessenskollision zu vermeiden,
einbarten Heimentgelts verlangen. Dies gilt nicht, schließt § 3 Abs. 3 HeimmitwV Personen, die
soweit nach § 115 Abs. 3 des Elften Buches Sozi- in einer arbeitsrechtlichen Beziehung zum
algesetzbuch wegen desselben Sachverhaltes ein Heimträger, einem Kostenträger oder zur Hei-
Kürzungsbetrag vereinbart oder festgesetzt wor-
den ist. Bei Personen, denen Hilfe in Einrichtungen
maufsichtsbehöre stehen oder die in einem
nach dem Bundessozialhilfegesetz gewährt wird, Organ des Heimträgers tätig sind, von der
steht der Kürzungsbetrag bis zur Höhe der er- Wählbarkeit aus9. Gleiches gilt für Personen,
brachten Leistungen vorrangig dem Sozialhilfeträ-
ger zu. Versicherten der Pflegeversicherung steht
9
der Kürzungsbetrag bis zur Höhe ihres Eigenent- „(3) Nicht wählbar ist, wer bei dem Heimträger, bei
gelts am Heimentgelt zu; ein überschießender Be- den Kostenträgern oder bei der zuständigen Behör-
trag ist an die Pflegekasse auszuzahlen.“ de gegen Entgelt beschäftigt ist oder als Mitglied

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̈ BEHINDERTENHILFE IM UMBRUCH ? __________________________________________________

die bei einem anderen Heimträger oder einem kann. In diesem Fall kann ein Heimfürsprecher
Verband von Heimträgern eine Leitungsfunkti- bestellt werden. Von der Bestellung eines
on inne haben. Heimfürsprechers kann abgesehen werden,
Interessant ist die Regelung in § 5 Abs. 2 S. 3 wenn ein Ersatzgremium besteht, das die Auf-
HeimmitwV, nach der nur Heimbewohner, gaben des Heimbeirates gleichwertig wahr-
Angehörige von Heimbewohnern und die Hei- nehmen kann (§ 26a Abs. 2 HeimmitwV). Ein
maufsichtsbehörde Wahlvorschläge unterbrei- Beirat nach § 1 Abs. 4 HeimmitwV ist ein Er-
ten können. Den sonstigen Vertrauensperso- satzgremium im vorstehenden Sinne und kann
nen sowie den örtlichen Senioren- und Behin- somit alle Funktionen eines gesetzlichen
dertenorganisationen steht dieses Recht nicht Heimbeirates wahrnehmen.
zu.

Erweiterung der Mitwirkungsrechte


5. Beiräte mit beratender Funktion
Mit dem Ziel, die Rechtsstellung der Heimbe-
In zahlreichen Einrichtungen der Behinderten- wohner zu stärken, hat der Gesetzgeber die
hilfe bestanden bereits bisher neben den ge- Mitwirkungsrechte, die durch den Heimbeirat
setzlichen Heimbeiräten sog. Elternbeiräte. ausgeübt werden, nicht unwesentlich erweitert.
Deren Funktion und Rechtsstellung war um- Über die bisher bereits bestehenden Mitwir-
stritten. Es kam auch nicht selten zu Konflikten kungsmöglichkeiten wie Unterkunft, Betreu-
mit den Einrichtungen und den gesetzlichen ung, Aufenthaltsbedingungen, Heimordnung,
Heimbeiräten. Der Verordnungsgeber hat Verpflegung und Freizeitgestaltung erstreckt
nunmehr auch eine Rechtsgrundlage für diese sich die in § 10 Abs. 1 HeimG geregelte Mit-
Beiräte geschaffen. Neben den für externe wirkung nunmehr auch auf die Sicherung einer
Mitglieder offenen Heimbeirat kann nach § 1 angemessenen Qualität der Betreuung im
Abs. 4 HeimmitwV ein Angehörigen- oder Be- Heim und auf die Leistungs-, Vergütungs-,
treuerbeirat gebildet werden10. Ebenfalls kann Qualitäts- und Prüfungsvereinbarungen nach §
auch ein gemischter Beirat eingerichtet wer- 7 Abs. 4 und 5 HeimG. Auch bei der Erhöhung
den, der sich aus Angehörigen, Betreuern und des Heimentgelts steht dem Heimbeirat ein
Vertretern der Behinderten- und Seniorenor- Mitwirkungsrecht zu. Nach § 7 Abs. 3 S. 4
ganisationen zusammensetzt. Beide Beiräte HeimG muss neben den Bewohnern auch der
können nebeneinander bestehen. Diese Bei- Heimbeirat Gelegenheit erhalten, die Angaben
räte haben gegenüber dem Heimbeirat nach § des Trägers durch Einsichtnahme in die Kal-
1 Abs. 1 S. 1 HeimmitwV lediglich eine bera- kulationsunterlagen zu überprüfen.
tende und unterstützende Funktion, wenn der Bei den Verhandlungen über die Leistungs-,
Heimbeirat diese Unterstützung in Anspruch Vergütungs-, Qualitäts- und Prüfungsvereinba-
nehmen will. rungen nach § 7 Abs. 4 und 5 HeimG räumt
Ein Beirat nach § 1 Abs. 4 HeimmitwV kommt der Gesetzgeber dem Heimbeirat ein dreistufi-
dann eine besondere Bedeutung zu, wenn in ges Beteiligungsrecht ein:
dem Heim kein Heimbeirat gebildet werden a) Der Träger ist gemäß § 7 Abs. 4 S. 3,
Abs. 5 S. 3 HeimG verpflichtet, dem
Heimbeirat rechtzeitig vor der Auf-
des Vorstandes, des Aufsichtsrates oder eines nahme von Verhandlungen über Lei-
gleichartigen Organs des Trägers tätig ist. Nicht stungs- und Qualitätsvereinbarungen
wählbar ist ebenfalls, wer bei einem anderen Heim-
sowie über Vergütungs- und Prüfungs-
träger oder einem Verband von Heimträgern eine
Leitungsfunktion innehat.“ vereinbarungen mit den Soziallei-
10 stungsträgern anzuhören und ihm un-
„(4) In den Heimen kann ein Angehörigen- oder
Betreuerbeirat gebildet werden. Ebenso kann ein
ter Vorlage nachvollziehbarer Unterla-
Beirat, der sich aus Angehörigen, Betreuern und gen die wirtschaftliche Notwendigkeit
Vertretern von Behinderten- und Seniorenorgani- und Angemessenheit der geplanten
sationen zusammensetzt, eingerichtet werden. Der Erhöhung zu erläutern.
Heimbeirat und der Heimfürsprecher können sich b) der Träger ist gemäß Abs. 4 S. 4, Abs.
vom Beirat nach den Sätzen 1 und 2 bei ihrer Ar- 5 S. 3 HeimG verpflichtet, dem Heim-
beit beraten und unterstützen lassen.“

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beirat Gelegenheit zu einer schriftli- Besondere Bedeutung kommt § 30 HeimmitwV


chen Stellungnahme zu geben, die der zu, der die Mitwirkung bei Entscheidungen der
Träger rechtzeitig vor Beginn der Ver- Heimleitung oder des Trägers betrifft. Hiernach
handlungen den als Kostenträgern be- hat die Leitung oder der Träger Entscheidun-
troffenen Vertragsparteien vorzulegen gen in Angelegenheiten nach den §§ 30, 3112
hat. HeimmitwV mit dem Heimbeirat vor ihrer
c) Vertreter des Heimbeirats sollen ge- Durchführung rechtzeitig und mit dem Ziel
mäß Abs. 4 S. 6, Abs. 5 S. 2 HeimG einer Verständigung zu erörtern. Von der
auf Verlangen vom Träger zu den Ver- Heimleitung oder vom Träger ist also ein Ver-
handlungen über Leistungs- und Qua- fahren einzuhalten, das den vorstehenden
litätsvereinbarungen sowie über Ver- Anforderungen genügt. Die Angelegenheit, die
gütungs- und Prüfungsvereinbarungen Gegenstand der Entscheidung sein soll, muss
hinzugezogen werden. rechtzeitig vor ihrer Durchführung mit dem
Heimbeirat erörtert werden. Hieraus resultiert
ein Informationsrecht, ein Recht zur Stellung-
Diese dreistufige Beteiligung ist auch erforder- nahme und bei einer nicht konsensualen Ent-
lich; denn eine Teilnahme an Verhandlungen scheidung müssen die Erwägungen erkennbar
setzt geradezu die notwendigen Informationen sein, weshalb der abweichenden Auffassung
voraus, die eine fundierte Verhandlungspositi- des Heimbeirates nicht entsprochen wurde.
on ermöglicht. Ob diese vom Gesetzgeber in
Ein Verstoß gegen dieses Verfahren kann
guter Absicht eingeführte Aufwertung des
durchaus rechtliche Konsequenzen nach sich
Heimbeirats in der Praxis auch zum Zuge
ziehen. Wer vorsätzlich oder fahrlässig entge-
kommen wird, stößt jedoch auf ernsthafte
gen § 32 Abs. 3 Satz 1 HeimmitwV Entschei-
Zweifel. Allein das Verfahren der Beteiligung
dungen vor ihrer Durchführung nicht rechtzeitig
des Heimbeirats an Verhandlungen mit den
erörtert, begeht eine Ordnungswidrigkeit nach
Kostenträgern dürfte sich schwierig gestalten.
In aller Regel werden die Verhandlungen auf
Heimträgerseite durch deren Verbände ge- und erforderlichenfalls durch Verhandlungen
führt. Um die Heimbeiräte zu beteiligen, mit der Leitung oder in besonderen Fällen mit
müsste sich ebenfalls ein einrichtungsüber- dem Träger auf ihre Erledigung hinzuwirken,
greifendes Gremium der Heimbeiräte konsti- 3. die Eingliederung der Bewohnerinnen und Be-
tuieren, das dann repräsentativ die Beteili- wohner in dem Heim zu fördern,
gungsrechte wahrnimmt. Hieran zeigt sich, es 4. bei Entscheidungen in Angelegenheiten nach
gibt in diesem Zusammenhang noch viele Fra- den §§ 30, 31 mitzuwirken,
gen, die geklärt werden müssten, wenn den 5. vor Ablauf der Amtszeit einen Wahlausschuss
Bewohnern auf dieser Ebene ein wirksames zu bestellen (§ 6),
Mitwirkungsrecht zugestanden werden soll. Ob 6. eine Bewohnerversammlung durchzuführen und
die Sozialleistungsträger und die Verbände der den Bewohnerinnen und Bewohnern einen Tä-
Einrichtungsträger hieran ein echtes Interesse tigkeitsbericht zu erstatten (§ 20),
haben, dürfte ebenfalls sehr fraglich sein. 7. Mitwirkung bei Maßnahmen zur Förderung einer
Näheres über die Ausgestaltung der Mitwir- angemessenen Qualität der Betreuung,
kungsrechte des Heimbeirates ist in der 8. Mitwirkung nach § 7 Abs. 4 des Gesetzes an
ebenfalls neugefassten Heimmitwirkungsver- den Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen
ordnung geregelt. § 29 HeimmitwV enthält sowie an den Vergütungsvereinbarungen und
einen Katalog der Aufgaben des Heimbei- nach § 7 Abs. 5 des Gesetzes an den Lei-
rats11. stungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinba-
rungen.“
12
§ 31 hat in der Regel keine große Bedeutung. Der
11
㤠29 Aufgaben des Heimbeirates Heimbeirat wirkt bei der Aufstellung der Haus-
halts- oder Wirtschaftspläne nur mit, wenn von
Der Heimbeirat hat folgende Aufgaben:
dem Bewohner Finanzierungsbeiträge an den
1. Maßnahmen des Heimbetriebes, die den Be- Träger geleistet worden sind. Finanzierungs-
wohnerinnen oder Bewohnern des Heims die- beiträge sind alle Leistungen, die über das für
nen, bei der Leitung oder dem Träger zu bean- die Unterbringung vereinbarte laufende Entgelt
tragen, hinaus zum Bau, zum Erwerb, zur Instandset-
2. Anregungen und Beschwerden von Bewohne- zung, zur Ausstattung oder zum Betrieb des
rinnen und Bewohnern entgegenzunehmen Heims erbracht worden sind.

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§ 34 Nr. 8 HeimmitwV, die gemäß § 21 Abs. 2 ben.13 Es ist dennoch zu hoffen, dass der Ge-
Nr. 1 HeimG mit einem Bußgeld von 10.000 setzgeber noch überzeugt werden kann, den
Euro geahndet wird. Heimbeiratsmitgliedern dieselben Schulungs-
und Fortbildungsmöglichkeiten einzuräumen,
wie sie den Werkstatträten heute schon zuge-
billigt werden.
Schulungs- und Beratungsan-
spruch der Heimbeiräte
Schlussbemerkung
Für eine wirksame Inanspruchnahme der Mit-
wirkungsrechte ist eine umfassende Schulung
und Beratung des Heimbeirates unabdingbar, Mitwirkung ist keine Mitbestimmung, sondern
wenn die Mitwirkung nicht ins Leere gehen sie bedeutet die aktive Einbeziehung in die
soll. Allein die erweiterten Mitwirkungsrechte Entscheidungsfindung.14 Führt man sich diese
wie die Einsichtnahme in die Kalkulationsun- Tatsache vor Augen, kann man die Mitwir-
terlagen bei Entgelterhöhungen und die Vorbe- kungsrechte realistisch einschätzen. Man sollte
reitung von Verhandlungen mit den Kostenträ- sie aber auch nicht zu gering schätzen, denn
gern erfordert ein Mindestmaß an Fachkennt- bei Ausschöpfung aller Möglichkeiten und ei-
nissen, das von Heimbeiräten mit geistiger nes kompetent besetzten und ausreichend
Behinderung nicht erwartet werden kann. Auch geschulten Heimbeirates ist durchaus eine
wenn die Kompetenz der Heimbeiräte durch wirksame Vertretung der Interessen der Heim-
externe Mitglieder gesteigert werden kann, ist bewohner erreichbar.
gerade eine Schulung der aus der Bewohner-
schaft kommenden Heimbeiratsmitglieder un-
erlässlich, damit sie innerhalb des Heimbeira- ̈ PETER DIETRICH
tes eine gleichwertige Stellung erlangen kön-
nen und nicht Heimbeiratsmitglieder „zweiter BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE FÜR
Klasse“ verkörpern. MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG
RAIFFEISENSTR. 18, 35043 MARBURG
Dessen war sich auch der Gesetzgeber be-
wusst. So hat er in § 10 Abs. 1 S. 4 HeimG WWW.LEBENSHILFE.DE

bestimmt, dass der Heimbeirat bei der Wahr-


nehmung seiner Aufgaben und Rechte sach-
und fachkundige Personen seines Vertrauens
hinzuziehen kann. In § 17 Abs. 5 HeimmitwV
wird dies noch konkretisiert, wonach der
Heimbeirat sach- und fachkundige Personen
oder dritte Personen zu seinen Sitzungen ein-
laden kann. Die angemessene Aufwandsent-
schädigung trägt der Heimträger. Neben dem
Recht, sich der Fachkenntnisse Dritter zu be-
dienen, steht dem Heimbeirat auch ein direkter
Schulungsanspruch zu. So heißt es in § 2 Abs.
2 HeimmitwV, dass Heimbeiräten diejenigen
Kenntnisse zum Heimgesetz und seinen Ver-
ordnungen zu vermitteln sind, die für ihre Tä-
tigkeit erforderlich sind. Die hierdurch entste-
henden angemessenen Kosten hat der Träger
zu übernehmen.
Leider ist der ursprünglich vorgesehene ge-
plante darüber hinausgehende umfangreichere
Schulungsanspruch im Wege des Kompromis-
ses mit dem Bundesrat auf der Strecke geblie- 13
BR.-Drs. 294/02
14
BegRündung zu § 1 HeimitwV, Referentenent-
wurf vom 10.01.2002

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̈ PERSPEKTIVEN _________________________________________________________________

Leben ohne Institution


Das Konzept des ›supported living‹
als Schlüsselkonzept für die Behindertenhilfe

BETTINA LINDMEIER

Die Entwicklung der Institutionen rend diese Tendenzen in ganz Europa und in
den USA nachweisbar sind, haben wir in
für Menschen mit (geistiger) Be- Deutschland während des Nationalsozialismus
hinderung eine noch heute kaum vorstellbare Umsetzung
Seit Jahren, seit Jahrzehnten sprechen wir dieser Gedanken erlebt: die organisierte
schließlich von Leitprinzipien wie Normalisie- Zwangssterilisierung und die Ermordung be-
rung und Gemeindeintegration. Gibt es zu hinderter und psychisch kranker Menschen
diesem Thema überhaupt noch etwas zu sa- (vgl. LINDMEIER/LINDMEIER 2002).
gen? Und was hindert uns, ein ‚Leben ohne
Institution‘ umzusetzen?
Zur Beantwortung dieser Fragen halte ich es
für nötig, in Erinnerung zu rufen, wie die Ein-
richtungen für Menschen mit Behinderung sich
seit ihrer Entstehung entwickelt haben.
Einrichtungen für Menschen mit Behinderung
sind flächendeckend im 19. Jahrhundert ent-
standen, wobei bestimmte Behinderungsarten
früher, andere später in den Blick gerieten. Die
Bildung, Ausbildung und Wohnversorgung war
zu dieser Zeit nur in Form von ‚Anstalten‘ zu
organisieren. Die Versorgungsstandards die-
ser Einrichtungen waren großenteils hoch –
sowohl hinsichtlich der Bildungschancen, der
materiellen Versorgung einschließlich der Er-
nährung und auch hinsichtlich der Achtung der
Individualität der dort lebenden Menschen. Für
die meisten Menschen dürfte ihre Unterbrin-
gung in diesen sogenannten Anstalten eine Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde an die bis
deutliche Verbesserung ihrer Lebensbedin- zur Weimarer Zeit bestehenden Formen der
gungen bedeutet haben. Viele heute kritisch Betreuung anzuknüpfen versucht. Neben
gesehene Punkte – Fremdbestimmung, ein Komplexeinrichtungen entstanden z. B. seit
kleiner sozialer Radius, wenig Möglichkeiten Beginn der 60er Jahre auch Schulen für Kinder
zur Realisierung eines selbstgewählten Le- mit geistiger Behinderung, die zu Hause leb-
bensstiles – waren kein spezifisches Merkmal ten, analog zu den früheren Sammelklassen.
des Lebens in Anstalten, sondern trafen eben- Die Unterbringung in Komplexeinrichtungen
so auf das Leben der Mehrheit der Bevölke- blieb aber bis in die 70er Jahre eine gängige
rung zu (vgl. LINDMEIER/LINDMEIER 2002) . Lösung, zumal es kaum begleitende Hilfen bei
der Pflege oder andere Entlastungsmöglich-
Während des ersten Weltkrieges und der
keiten für Familien wie Frühförderung, Fami-
Weltwirtschaftskrise verschlechterten sich die
lienentlastungsdienste, Kurzzeitpflege oder
Versorgungsstandards in den Anstalten dra-
Ferienmaßnahmen gab, die heute zum Stan-
stisch, zudem wurde seit dem ausgehenden
dard gehören.
19. Jahrhundert der Sozialdarwinismus in Eu-
ropa diskutiert, und die Eugenik wurde zu ei- Während die Gesellschaft sich stark verän-
nem wichtigen Thema der Sozialpolitik. Wäh- derte (z.B. durch die demokratische Gesell-

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̈ PERSPEKTIVEN _________________________________________________________________

schaftsordnung), veränderten sich die soge- chen (WACKER ET AL. 1998, 51); die meisten
nannten Anstalten kaum, so dass die Differen- von ihnen sind weniger schwer behindert.1
zen zwischen den Lebensbedingungen ‚drin- Ein weiterer Unterschied in der bundesdeut-
nen‘ und ‚draußen‘ immer größer wurden. schen Situation betrifft die Größe der Einrich-
In Dänemark, wo ebenfalls große Anstalten tungen einschließlich der gemeindenahen
existierten, wurde 1959 von BANK-MIKKELSEN Einrichtungen. Einrichtungen mit 24 oder sogar
das Normalisierungsprinzip formuliert: Behin- 40 Plätzen, wie sie bei uns als gemeindenah
derte Menschen sollen ein Leben so normal geführt werden, würden in vielen anderen
wie möglich führen können. Von dem Schwe- Ländern als ‚institutions‘ bezeichnet und nicht
den NIRJE wurden 1968 die berühmten acht mehr genehmigt werden (vgl. LINDMEIER 2002).
Punkte aufgestellt, die ein ‚normales Leben‘ In der Bundesrepublik, so könnte man folgern,
kennzeichnen (normaler Tagesablauf; norma- wird die Größe der Wohnform für weniger
ler Wochenablauf, normaler Jahresablauf; wichtig gehalten.
normaler Lebenszyklus; normaler Respekt; Aber auch kleine Einrichtungen sind, insbe-
Leben in einer zweigeschlechtlichen Welt; sondere in den angelsächsischen Ländern in
normaler wirtschaftlicher Standard; normale die Kritik geraten. Diese Kritik betrifft nicht nur
Umweltbedingungen; vgl. zusammenfassend niedrige Betreuungsstandards in Einrichtun-
NIRJE 1994a,b). Über die USA, wo es von gen, die auf privatwirtschaftlicher Grundlage
WOLFENSBERGER weiterentwickelt wurde, ge- geführt werden und in denen die Gewinnma-
langte das Normalisierungsprinzip in die Bun- ximierung im Vordergrund steht (vgl. DALFERTH
desrepublik Deutschland und ist heute in den 1997). Die Kritik richtet sich auch auf ein Wie-
Leitlinien zur Behindertenpolitik ebenso ent- derentstehen institutioneller Praktiken und
halten (vgl. u.a. NIEDERSÄCHSISCHES BMFAS damit verbunden die Entstehung von ‚Miniin-
1993, BMA 1998) wie in den Konzeptionen der stitutionen in der Gemeinde‘2.
weit überwiegenden Mehrheit von Wohnein-
richtungen.
Anders als in den skandinavischen und angel- Was bedeutet ein ‚normales Le-
sächsischen Ländern hat die Rezeption des ben‘ heute?
Normalisierungsprinzips in der BRD aber nicht
Aus der Kritik am Bestehenden folgt aber noch
zur Schließung der Großeinrichtungen geführt,
nicht notwendig ein Maßstab hinsichtlich des-
sondern zu ihrer internen Veränderung. So gut
sen, was als Verbesserung angesehen werden
wie alle großen Einrichtungen bieten heute
soll. Was wir heute wissen, ist zunächst ledig-
verschiedene Formen des Wohnens, darunter
lich, dass die bloße Verkleinerung von Ein-
Wohngruppen mit Pflegeangebot, mit inte-
grierter Förderung, Wohngruppen für Men-
schen, die in einer Werkstatt für behinderte
Menschen (WfbM) oder anderswo außerhalb 1
„Zu diesen Wohnformen zählen das Betreute Einzelwoh-
arbeiten, Außenwohngruppen, ambulant be- nen/Paarwohnen, Außenwohngruppen, Wohngemein-
treutes Einzel- und Paarwohnen, Trainings- schaften, Trainingswohngruppen/-plätze sowie sog. Ser-
wohnen. Die Veränderungen betreffen nicht vicehäuser“ (WACKER ET AL. 1998, 50).
2
nur neue Angebote in der Gemeinde, sondern Institutionelle Praktiken meint u.a.
es hat auch in den Zentralbereichen dieser ̇ eine vorrangige Orientierung an den Anforderungen
ehemaligen Anstalten Veränderungen gege- der Organisation, z. B. rechtliche Absicherung der
ben, aber sie bieten noch immer Lebensper- Mitarbeiter, Dokumentationspflichten, Dienstplänen
spektiven, die sich von denen anderer Men- ̇ eine Tendenz zu Gleichbehandlung und mangeln-
der Individualisierung
schen unserer Gesellschaft deutlich unter-
̇ wenig Interaktion mit den Bewohner/innen unab-
scheiden, beispielsweise hinsichtlich der Mög- hängig vom Personalschlüssel oder Verringerung
lichkeiten einer selbständigen Lebensführung. der Interaktion mit steigendem Personalschlüssel
Wenn wir die Zahl der Plätze betrachten, leb- ̇ eine Neigung zur Vernachlässigung der sozialen
ten im Jahr 1998 nur ca. 15% der Menschen Kontakte der Bewohner/innen außerhalb der Woh-
mit Behinderung, die in Wohnformen der Be- neinrichtung und die Tendenz zur ‚Abschottung
hindertenhilfe leben, in solchen Formen, die nach draußen‘.
eine selbständigere Lebensführung ermögli-

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̈ PERSPEKTIVEN _________________________________________________________________

richtungen und der Umzug von Menschen meinem Clan, zu meiner Szene oder zu
noch kein ‚Leben ohne Institution‘ bewirkt. meiner Selbsthilfegruppe.
Das Normalisierungsprinzip bietet noch immer ̇ Diese Netze und die mit ihnen assoziier-
einen geeigneten Hintergrund zur schnellen ten Solidaritätspotentiale reproduzieren
Einschätzung von Lebensbedingungen, indem die grundlegenden Formen gesellschaftli-
wir fragen: Möchten wir so leben? Ist dieses cher Ungleichheit. Eine Sozial- und Bil-
Leben innerhalb der Bandbreite dessen, was dungspolitik, die sich allein auf sie ver-
wir in unserer Gesellschaft für ‚normal‘ erach- läßt, wird gesellschaftliche Spaltungen
ten? Und falls nicht, sind der/dem Betroffenen vertiefen und nicht nur vorhandene Un-
Alternativen zugänglich? gleichheit in der Verteilung der materiel-
Was bedeutet aber ein ‚normales Leben‘ heu- len Ressourcen reproduzieren, sondern
te? auch die ungleichen Zugänge zu sozialen
Sicherlich lässt es sich noch weniger in Form und psychosozialen Ressourcen ver-
eines typischen Lebenslaufes skizzieren als schärfen.
zum Zeitpunkt der Formulierung des Normali- ̇ Eine Sozial- und Bildungspolitik, die auf
sierungsprinzips. Angesichts der Pluralisierung Chancenungleichheit reagiert, muss von
der Lebensformen bedeutet es unter anderem, den immer noch vorherrschenden kom-
aus der Vielfalt möglicher Lebensformen und pensatorischen und befriedenden Strate-
-stile, Beschäftigungen und Freizeitmöglich- gien Abschied nehmen. Sie muss alle
keiten auswählen zu können. Aus diesem Personen – im Sinne des Empowerment-
Grund wird diese Frage häufig verkürzt auf Ansatzes – als Menschen sehen und be-
eine Selbstbestimmung, die als Wahlfreiheit handeln, die den Wunsch haben, Subjekt
verstanden wird. Dies erscheint insbesondere des eigenen Handelns zu sein“ (KEUPP
für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf 1997B, 28F).
problematisch, da ‚Wahlfreiheit‘ für diesen
Für Menschen mit geistiger Behinderung stellt
Personenkreis häufig mit ‚Bedürfnisbefriedi-
sich die Lage so dar, dass sie typischerweise
gung‘ gleichgesetzt wird (vgl. CH. LINDMEIER
in der folgenden Situation sind:
1999).
Die Gleichsetzung der Pluralisierung von Le- ̇ Ihr soziales Netz umfasst mehr Profes-
bensformen mit der ‚Möglichkeit zu mehr sionelle, deren Status als ‚bezahlte Un-
Selbstbestimmung‘ verkennt, dass die gesell- terstützung‘ bzw. als ‚Freunde‘ nicht im-
schaftlichen Entwicklungen, die traditionelle mer klar ist bzw. von den beteiligten Per-
soziale Einbindungen immer weiter reduziert sonen unterschiedlich definiert wird.
haben, für alle Menschen nicht nur Chancen, ̇ Die Kontakte zu Professionellen oder,
sondern auch Risiken produzieren. Aus der wenn sie zu Hause wohnen, zu den An-
Vielzahl der Risiken möchte ich hier nur das gehörigen sind oft gekennzeichnet durch
Risiko der Isolierung und des Herausfallens eine einseitige Abhängigkeit und geringe
aus sozialen Beziehungen nennen, dessen Reziprozität, oft bei zugleich enger emo-
Folge die Notwendigkeit der Schaffung und tionaler Bindung.
des Erhalts unserer sozialen Netze ist. Men-
schen mit Behinderung sind bei der Bewälti- ̇ Die meisten sonstigen Beziehungen be-
gung dieser Aufgabe – wie alle unterprivile- stehen zu Arbeitskollegen in der WfbM,
gierten Gruppen – in einer schlechteren Aus- häufig sind dies die gleichen Kontakte wie
gangslage: im Wohnheim und in der Freizeit; im El-
ternhaus lebende Menschen haben häu-
̇ „Eine sich zunehmend individualisierende fig wenige und lose Freizeitkontakte.
Gesellschaft erzeugt nicht notwendiger-
weise isolierte und vereinsamte Ego- ̇ Menschen, die bei ihrer Vermittlung aus
Menschen. Es existieren in dieser Gesell- der WfbM auf den ersten Arbeitsmarkt
schaft ganz im Gegenteil hohe Potentiale nicht über stabile Beziehungsnetze oder
für solidaritätsfördernde Netze. Aber die- eine feste Partnerschaft verfügen, leiden
se Netze haben zugleich die Tendenz zu ohne unterstützende Angebote häufig
›Stammeskulturen‹: Unterstützt wird, wer unter Einsamkeit. Es ist anzunehmen,
zu ›uns‹ gehört, zu meiner Familie, zu dass beim Auszug aus Elternhaus oder

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̈ PERSPEKTIVEN _________________________________________________________________

Wohnheim ein ähnliches Erleben eintre- - Fähigkeiten der Selbstbestimmung kön-


ten wird. nen nur eingeschränkt entwickelt werden;
- Einzelkompetenzen werden oft vor allem
gefördert, wenn sie für den institutionellen
Fünf Forderungen zur Einschät-
Ablauf erleichternd sind (z.B. selbständig
zung von Lebensbedingungen essen);
Bei der Unterstützung von Menschen mit Be- ̇ Respect and valued social roles – Ach-
hinderung muss der Aspekt der sozialen Be- tung und anerkannte soziale Rollen:
ziehungen demnach immer mit berücksichtigt
- die Rolle des ‚Wohnheimbewohners‘ ist
werden. Ein praktikables Raster, das diesen
Aspekt enthält, bieten m. E. die ‚fünf Forde- keine hoch geachtete Rolle;
rungen‘ (‚five accomplishments‘) von JOHN - die Rolle erschwert die Übernahme an-
O’BRIEN, die sich auf die Lebensbedingungen derer geachteter Rollen, beispielsweise
von Menschen mit und ohne Behinderung als Partner/in in einer Liebesbeziehung
anwenden lassen. oder als Arbeitnehmer/in auf dem ersten
Arbeitsmarkt, weil sie einen stigmatisie-
̇ Teilhabe am allgemeinen und öffentlichen renden Effekt hat (betreuungsbedürftig,
Leben - Sharing places möglicherweise gefährlich);
̇ Treffen von Entscheidungen auf der ̇ Building relationships – Entwicklung von
Grundlage von Wahlmöglichkeiten - Ma- sozialen Beziehungen:
king choices
- Beziehungen werden durch institutio-
̇ Entwicklung von Fähigkeiten - Develo- nelle Strukturen und/oder Praktiken er-
ping abilities schwert, beispielsweise restriktive ‚Über-
nachtungsregeln‘, Fehlen von Zimmer-
̇ Achtung und anerkannte soziale Rollen -
schlüsseln u.a.;
Respect and valued social roles
- Beziehungen werden durch unbeab-
̇ Entwicklung von sozialen Beziehungen - sichtigte institutionelle Strukturen
Building relationships und/oder Praktiken erschwert, beispiels-
weise hohe soziale Kontrolle;
Das Leben in Institutionen steht in mehreren Viele Wohneinrichtungen bemühen sich sehr,
Punkten zu den genannten Forderungen im die beschriebenen Einschränkungen abzubau-
Widerspruch: en und für die unterstützten oder betreuten
Menschen so wenig spürbar wie möglich zu
̇ Sharing places – Teilhabe am allgemei-
machen, aber gerade Mitarbeiter/innen von
nen und öffentlichen Leben:
Wohneinrichtungen, die sensibel mit diesen
- häufige Unternehmungen in Gruppen; Fragen umgehen, beschreiben auch die
strukturellen Grenzen dieses Vorgehens.
- Aufsuchen von Orten ‚für Menschen mit
Behinderung‘ überwiegt gegenüber dem
Aufsuchen ‚normaler Orte‘; Zentrale Aussagen des Antrags
̇ Making choices – Treffen von Entschei- auf Einrichtung einer Enquête der
dungen auf der Grundlage von Wahlmög- Heime
lichkeiten:
Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich
- keine Auswahl hinsichtlich der Mitbe-
folgern: Wohnen in einer Institution ist keine
wohner/innen und Betreuer/innen (höch-
angemessene Lebensform mehr. Diese Folge-
stens ‚Mitbestimmung‘ in sehr fortschrittli-
rung ist zugleich eine zentrale Aussage in der
chen Einrichtungen);
‚Aufforderung an die Fraktionen des deutschen
- ‚Dienste‘ im Haushalt, feste Essens- und Bundestag, eine Kommission zur ‚Enquête der
Nachtruhezeiten, Hausordnung, Möblie- Heime‘ einzurichten‘, die die FOR-
rung und Nutzung der gemeinsam ge- SCHUNGSARBEITSGEMEINSCHAFT ‚MENSCHEN IN
nutzten Räume; HEIMEN‘ der Universität Bielefeld im vergange-
̇ Developing abilities – Entwicklung von nen Jahr verfaßte. In ihrem Aufruf heißt es:
Fähigkeiten: „Das ‚Heim‘ kann jedoch den Ansprüchen der

____________________________________ 38 ____________________________________
̈ PERSPEKTIVEN _________________________________________________________________

Individualisierung und der expandierenden Dieses Ziel soll erreicht werden durch Verän-
Persönlichkeitsrechte der post- und spätmo- derungen auf drei Ebenen: der Ebene des
dernen Menschen des 21. Jahrhunderts nicht Wohnens, der Ebene der Unterstützung und
mehr gerecht werden“ (FORSCHUNGSAR- der Ebene der Gemeindeentwicklung und der
BEITSGEMEINSCHAFT ‚MENSCHEN IN HEIMEN‘ Veränderung des Hilfesystems.
UNIVERSITÄT BIELEFELD 2001, 2).
Die Initiative zur Einrichtung einer Enquête der
Ebene des Wohnens
Heime nennt eine Reihe weiterer Forderungen,
die in der Tagungsdokumentation nachzulesen ̇ Trennung von Wohnung und Betreuung
sind (vgl. HOPFMÜLLER/RÖTTGER-LIEPMANN
2002): Die Trennung der Bereitstellung von
Wohnraum und Unterstützung ist das
̇ Heime stellen keine zeitgemäße Le- Fundament des ‚Supported living‘. Durch
bensform mehr dar; die Trennung von Wohnraum und Unter-
stützung erhalte ich die Möglichkeit, die
̇ neue, flexiblere Gestaltungen von Sorge
unterstützende Organisation zu wechseln
sind notwendig (‚Sorgemix‘);
und in meiner Wohnung zu bleiben. Bei
̇ keine zusätzlichen Belastungen für An- einem Wohnungswechsel kann ich die
gehörige, aber Unterstützung behalten. In ambulanten
Wohnformen verliere ich in der Regel bei
̇ Respektierung der Verantwortung von
einem Wohnungswechsel die Betreuung
Angehörigen;
bzw. die Betreuungspersonen; ebenso
̇ Veränderung professioneller Unterstüt- kann ich bei Unzufriedenheit mit meiner
zung. Betreuung nicht in der Wohnung bleiben
Bereits in meinem Beitrag zur oben genannten und neue Betreuung suchen: im Gegen-
Tagung hatte ich kurz angedeutet, dass neue- teil, ich muss befürchten, dass ich aus-
re Konzepte aus den USA, Großbritannien und ziehen muss, weil ich ‚nicht tragbar‘ für
Skandinavien großen Wert auf die Anerken- die Wohnform bin!
nung von Menschen mit Behinderung als Bür- Eine vertragliche Trennung von Wohn-
ger mit Bürgerrechten legen. Eine Bürgerin/ein raum und Unterstützung bedeutet für eine
Bürger mit Bürgerrechten belegt keinen Institution der Behindertenhilfe, dass sie,
Wohnplatz, sondern bewohnt eine Wohnung, wenn sie bezahlte Unterstützung bereit-
und soweit sie/er Unterstützung benötigt, be- stellt, bei der Suche nach Wohnraum be-
schafft sie/er sie sich, gegebenenfalls mit der hilflich sein darf, aber den Wohnraum
Unterstützung von Freunden oder professio- nicht selbst mieten oder käuflich erwer-
nellen Vermittlungsdiensten. ben darf.
̇ Mieterstatus statt Bewohnerstatus
Die handlungsleitenden Prinzipen Der Status eines Wohnheim- oder Wohn-
des ‚supported living‘ gruppenbewohners ist gekennzeichnet
durch eine relative Rechtlosigkeit: selbst
Ich möchte Ihnen daher das Handlungskon- wenn ein Vertrag besteht, enthält er Hin-
zept des ‚supported living‘ vorstellen, denn es weise auf eine Hausordnung, gibt es we-
greift diese Gedanken auf: Es will Menschen nig Mitsprachemöglichkeiten hinsichtlich
mit Behinderung dabei unterstützen, aktive der Mitbewohner/innen, es gibt mögli-
und engagierte Bürger ihrer Gemeinde zu sein, cherweise Tage der offenen Tür und an-
indem es dere institutionelle Praktiken: ich fühle
̇ sie dabei unterstützt, in ihren eigenen mich nicht als ‚Hausherr‘ oder ‚Hausher-
Häusern oder Wohnungen zu leben (so- rin‘. Das Wohnen in der eigenen Woh-
wohl als Eigentümer als auch in Mietver- nung ist folgerichtig der große Leben-
hältnissen) straum vieler behinderter Menschen.

̇ ihnen Partizipation in ihrer Gemeinde er-


möglicht (zum Beispiel durch Erwerbsar- Ebene der Unterstützung
beit, Engagement in Vereinen und das
Knüpfen von Beziehungen) ̇ Individualisierung der Unterstützung

____________________________________ 39 ____________________________________
̈ PERSPEKTIVEN _________________________________________________________________

Die Unterstützung wird am Bedarf der je- Betreuung oder der Finanzierung der Be-
weiligen Einzelperson festgemacht und ist treuung zu tun hat.
nicht, wie üblich, Bestandteil des Pakets
̇ Erhalt und Erweiterung sozialer Bezie-
‚Wohnen im Wohnheim‘ oder des Pakets
hungen
‚Wohnen im betreuten Wohnen‘. Es ist ein
Unterschied, ob in gemeindenahen Woh- Der Erhalt und der Ausbau bzw. Aufbau
neinrichtungen eine Individualisierung der sozialer Beziehungen ist eine ‚Kernlei-
Unterstützung angestrebt und innerhalb stung‘ in der Unterstützung, gleichrangig
gewisser Grenzen auch erreicht wird, mit anderen Unterstützungsleistungen.
oder ob von Anfang an die Planung eines Die Unterstützerkreise sind ein Mittel zur
einzigartigen Betreuungsangebots erfolgt. Erweiterung der sozialen Beziehungen.
Zentral ist die Planung mit und für eine ̇ Schutz und Sicherheit
einzelne Person zur Zeit (focussing on
one person at a time). Leben in der Gemeinde, vielfältige Bezie-
hungen und ein selbstbestimmtes Leben
̇ Kombination professioneller und nicht- bergen unterschiedliche Risiken. Bei der
professioneller Unterstützung Planung der Unterstützung müssen diese
Bei der Planung der Unterstützung sollen bedacht und, soweit möglich, Sicherheit
funktionierende soziale Netze und deren gewährleistet werden. Eine regelmäßige
gegenseitige Unterstützungsleistungen gemeinsame Weitentwicklung der Pla-
nicht zerstört, sondern erhalten und mög- nung gehört ebenfalls zu den ›Sicher-
lichst erweitert werden, ohne allerdings heitsvorkehrungen‹, ebenso wie die Ein-
das soziale Netz zu überfordern – eine richtung des Unterstützungskreises, die
schwierige Gratwanderung, deren Ziel es Verteilung der Unterstützung auf mehrere
ist, angemessene und ausreichende Un- Personen, die Eigentümerschaft oder der
terstützung zu erreichen, aber eine Ent- Mietvertrag für den Wohnraum. Sie sollen
wicklung zur Unselbständigkeit und Ab- verhindern, dass die größere Verletzbar-
hängigkeit durch ‚Vollversorgung‘ zu ver- keit behinderter Menschen eine tatsächli-
meiden. che Entrechtung oder Ausbeutung zur
Folge hat.
̇ Personzentrierte Planung
Hilfen und Dienstleistungen sollen ent-
sprechend der Bedürfnisse, Interessen
und Wünsche des jeweiligen Individuums Ebene der Gemeindeentwicklung und Sy-
konzipiert werden. Dies impliziert die stemveränderung
Entwicklung von Methoden zur Ermittlung ̇ Lobbyarbeit - Brücken bauen – Gemein-
dieser Wünsche und Bedürfnisse, sowie deentwicklung
deren Übersetzung in konkrete Arrange-
ments. Diese Methoden müssen in der Wenn die individuelle Unterstützung auch
Bundesrepublik weiter verbreitet werden; die Teilhabe am Leben der Gemeinde
zu ihnen gehören PATH, MAP, essential einschließen soll, müssen sich die Struk-
lifestyle planning (vgl. DOOSE 1997, 1999; turen der Gemeinde verändern. ›Suppor-
KAN/DOOSE 1999, BOBAN/HINZ 1999) ted living‹ schließt somit auch Lobbyarbeit
ein, die eine ›inklusive Gesellschaft‹ zum
̇ Planung mit Unterstützerkreisen Ziel hat. Hierzu ist die Kooperation mit
Personenbezogene Planung sollte mit den vorhandenen Strukturen und Initiati-
Unterstützerkreisen durchgeführt werden, ven und die systematische Suche nach
denn jede Form der Planung neigt zur Anknüpfungspunkten wichtig.
Favorisierung von Lösungen, die die be- ̇ Veränderung des Hilfesystems
teiligten Menschen sich vorstellen kön-
nen: daher sollen möglichst unterschiedli- Analog zu der angestrebten Veränderung
che Menschen teilnehmen: Der Mensch der Gesellschaft muss sich auch das tradi-
mit Unterstützungsbedarf, seine Freunde, tionelle Hilfesystem dahingehend verän-
Verwandte, Professionelle und ein Mode- dern, dass es sich stärker auf Beratungs-
rator. Der Moderator sollte nicht zu einer und Unterstützungsangebote ausrichtet
Institution gehören, die mit der weiteren und die üblichen separaten Institutionen

____________________________________ 40 ____________________________________
̈ PERSPEKTIVEN _________________________________________________________________

und die häufig als ›gebäudezentriert‹ be- Umsetzung in der Bundesrepublik


zeichneten Denk- und Handlungsmuster
verlässt. Dazu gehört eine Veränderung Deutschland
der Finanzierungsstrukturen, der Aufbau Für eine Umsetzung des ‚Lebens ohne Institu-
von unabhängigen Beratungs- und Ver- tion‘ hierzulande ist sicherlich eine Reihe von
mittlungsdiensten und die Entflechtung von Einzelfragen zu klären, angesichts der immer
Strukturen, die zu Interessenkonflikten füh- weiter gehenden Individualisierung der Le-
ren müssen. Beispielhaft möchte ich hier bensstile in unserer Gesellschaft ist es aber
die Feststellung des Unterstützungsbe- unabdingbar, daß wir Unterstützungsformen
darfs durch dieselbe Institution nennen, die finden, die auch Menschen mit geistiger Be-
für die Kostenübernahme zuständig ist. hinderung die Möglichkeit des privaten Woh-
nens, die Realisierung individueller Leben-
̇ Zugang zu Bildungs-, Beschäftigungs-
sentwürfe und ein Leben in selbst gewählten
und Freizeitangeboten der Gemeinde. sozialen Bezügen ermöglichen. Dabei muss
Mit dem Verlassen des Konzepts der unbedingt darauf geachtet werden, dass Men-
‚Rundumversorgung‘ zugunsten selb- schen mit hohem Unterstützungsbedarf von
ständiger Lebensführung entstehen Ent- dieser Entwicklung nicht abgekoppelt werden.
scheidungsspielräume und –zwänge auch
Es gibt bereits eine begrenzte Zahl von Trä-
in Bezug auf Bildung und Beschäftigung.
gern, deren Angebot dem beschriebenen sehr
Neben der Weiterentwicklung der Ange- ähnlich ist, abgesehen allerdings von der Ein-
botsstruktur sind auch hier Beratungs-
beziehung von Unterstützerkreisen, die ich für
und Vermittlungsaufgaben relevant, so-
sehr wichtig halte. Damit die Umsetzung des
wohl im Bereich der beruflichen Tätigkeit
Lebens ohne Institution für mehr Menschen
(Integrationsfachdienste) als auch im
möglich wird, halte ich die folgenden Verände-
Freizeitbereich. Neben der Erleichterung
rungen für notwendig:
des Zugangs zu integrativen Formen ist
zu berücksichtigen, dass auch separate ̇ Konsequente Umsetzung der Trennung
Angebote wahrscheinlich weiter nachge- von Wohnen und Unterstützung;
fragt werden.
̇ Unterstützungsmanagement in Bezug auf
Diese Angebote sind nicht nur aus inhalt- das Wohnen, beispielsweise
lichen und sachlichen Gründen relevant,
sondern auch auf Grund der Möglichkeit, ̇ die Zusammenarbeit mit Maklern zum
Beziehungen zu knüpfen. Besonders der Aufbau von Kompetenzen bei der Immo-
berufliche Bereich bietet die Möglichkeit, bilienvermittlung an Menschen mit Behin-
soziale Beziehungen zu pflegen, die derung (Eignung von Wohnungen) oder
meist weniger intensiv sind als zu Freun- ̇ Beratung in Bezug auf Erben und Verer-
den und nahen Angehörigen, aber auf ben von selbst genutztem Wohnraum;
Grund der Dauer der gemeinsam ver-
brachten Zeit am Arbeitsplatz das Gefühl ̇ Forcierung der Einführung bedarfsge-
von Konstanz und ‚Eingebundensein‘ rechter persönlicher Budgets einschließ-
vermitteln können. lich der notwendigen Beratungs- und
Unterstützungsstrukturen;
̇ Kein Ausschluss schwerbehinderter
Menschen ̇ Implementierung des Instruments des
Unterstützerkreises und der Nutzung
Je schwerer die Behinderung ist, desto
nicht professioneller Unterstützung in
wahrscheinlicher ist es derzeit, dass
Planungs- und Evaluationsprozessen;
der/die Betroffene geringe Wahlmöglich-
keiten hinsichtlich der Wohn- und Betreu- ̇ Veränderung des Qualifikationsprofils von
ungssituation hat; je schwerer die Behin- Professionellen, u. a in den Bereichen
derung ist, desto größer ist aber auch der gemeinsame Planung, Gesprächsführung
Gewinn von einer individuellen Unterstüt- und Konfliktmanagement;
zung.
̇ Berücksichtigung von Wohnen, Arbeit,
Bildung und Freizeit in der Unterstüt-
zungsplanung

____________________________________ 41 ____________________________________
̈ PERSPEKTIVEN _________________________________________________________________

Vor allem aber ist es wichtig, nicht neue Vor- WILKEN, E. (HRSG.): Neue Perspektiven für Men-
gaben zu formulieren, beispielsweise zu for- schen mit Down-Syndrom. Erlangen 1997, 198-215
dern, dass jede/r in seinem eigenen Haus le- DOOSE, ST.: „I want my dream!“ Persönliche Zu-
ben soll: Den Wunsch des betroffenen Men- kunftsplanung – Neue Perspektiven und Methoden
schen in den Mittelpunkt stellen und diesem einer individuellen Hilfeplanung mit Menschen mit
Wunsch als ständige Aufforderung zu begrei- Behinderungen. In: KAN, P. VAN; DOOSE, ST.: Zu-
fen, mit den vorhandenen Mitteln das Beste zu kunftsweisend. Peer Counseling & Persönliche
schaffen und die gefundene Lösung immer Zukunftsplanung. Kassel 1999, 71-134
wieder zu überprüfen kommt nicht nur dem DOOSE, ST./ GÖBEL, S.: Materialien zur Persönlichen
Grundgedanken des Konzepts näher, sondern Zukunftsplanung – Texte und Arbeitsblätter – In:
auch unserer Vorgehensweise in unserem KAN, P. VAN; DOOSE, ST.: Zukunftsweisend. Peer
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____________________________________ 44 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN UND WORKSHOPS __________________________________________

AUS DEN
ARBEITSGRUPPEN
UND
WORKSHOPS

____________________________________ 45 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

Aus der Arbeitsgruppe 3 Hierzu gehören u.a.:


̇ Informations -und Beratungsgespräche
vom Zeitpunkt der Anmeldung bis zum
Kurzdarstellung der Einzug in die eigene Wohnung
SELAM Lebenshilfe ̇ Antragstellung, Erarbeitung des indivi-
duellen Hilfebedarfs
Oldenburg
̇ Klärung der gewünschten Wohnform
MELANIE DOHLE und Unterstützung bei der Wohnungs-
suche

Zu den Arbeitsbereichen der SELAM- Le- Nach Umzug in die eigene Wohnung kön-
benshilfe gehören: nen folgende Assistenzangebote stattfin-
̇ Förderstätte den:
̇ Fahrdienst ̇ Grundpflege (wir sind ein anerkannter
̇ Familienentlastender Dienst Pflegedienst), Hilfestellung sowie An-
leitung bei der Körperpflege
̇ Assistenz beim Wohnen
̇ Anleitung und Hilfestellung bei der
̇ Freizeitstätte KIEK- IN Haushaltsführung, beim Kochen, bei
̇ Freizeit und Reisen der Wohnungsreinigung, beim Einkauf
usw.
̇ Hilfen bei der Tagesstrukturierung
Assistenz beim Wohnen durch alltäglich wiederkehrende Abläufe
̇ Orientierungshilfen in der Öffentlichkeit,
Leistungsbeschreibung der Assistenz beim Erweiterung der Mobilität
Wohnen (ABW) ̇ Hilfestellung beim Umgang mit Ämtern
Die ABW bietet erwachsenen Menschen mit und Behörden, Beratung in rechtlichen
Behinderung die Möglichkeit, ein selbstbe- und finanziellen Angelegenheiten, so-
stimmtes Leben in einer eigenen Wohnung mit wie entsprechender Schriftverkehr
Hilfe der individuellen Assistenz zu führen. ̇ Hilfen bei der individuellen Lebenspla-
Jeder Mensch mit einer Behinderung kann von nung, u.a. in Form von Beratung und
uns Hilfe erhalten, unabhängig von der Art, Kooperation mit anderen Diensten
dem Schweregrad oder der Ursache der Be- ̇ Unterstützung bei der Finanzplanung
hinderung (Ausnahme: ausschließlich alters-
̇ Unterstützung bei Konflikten, z.B. bei
bedingte Behinderung).
Wohngemeinschafts-, Eltern- und Paar-
Ziel der ABW ist es, Menschen mit Behinde- konflikten
rungen vergleichbare Lebensverhältnisse und -
̇ Hilfen und Begleitung zur Teilnahme
perspektiven wie nicht behinderten Menschen
am gesellschaftlichen Leben, u.a. durch
zu eröffnen.
Freizeitplanung und –gestaltung
Um Selbstbestimmung von Menschen mit Be-
̇ Bedarfsgerechte Hilfestellung - auch
hinderung zu ermöglichen, muss ausgehend
rund um die Uhr.
von der persönlichen Lebenssituation der indi-
viduellen Hilfebedarf ermittelt werden. Hierbei
sollen Ressourcen und Kompetenzen in den Unsere Arbeit basiert auf folgenden Quali-
unterschiedlichsten Lebensbereichen gestärkt tätsstandards:
und aufgebaut werden.
̇ ganzheitliches Hilfsangebot durch Ver-
bindung von Eingliederungshilfe, Hilfe
Damit die Assistenz beim Wohnen umgesetzt zur Pflege und Pflegesachleistung
werden kann, wird diese durch die Abteilung ̇ auf den Hilfebedarf bezogene Perso-
der „Vorbereitung der Assistenz beim nenwahl und kundenbezogenes Team
Wohnen“ vorbereitet und begleitet.

____________________________________ 46 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

̇ regelmäßige Dienstbesprechungen der 2. Schritt: Die Planung der Assistenz


jeweiligen Fachbereichsleitung mit den ̇ Die Erstellung des Sozialberichts unter
AssistentInnen Einbeziehung des zukünftigen Kunden
̇ Supervision und Fachberatung
̇ Die Planung: organisatorisch, zeitlich,
̇ flexible Assistenzleistung bei zusätzli- personell, inhaltlich, formal
chem Hilfebedarf
̇ Die Kooperation mit dem Sozialamt und
̇ Abstimmung der Assistenzleistung mit
dem Gesundheitsamt
den Wünschen der Kunden.
̇ Das Hilfeplangespräch mit allen Betei-
ligten und die Erstellung eines Hilfe-
Die Assistenz beim Wohnen kann finanziert
planprotokolls über die festgelegten In-
werden über:
halte und Ziele der Hilfen
̇ Eingliederungshilfe (§§ 39/40 BSHG)
̇ Die Bewilligung der Hilfe: u.a. Stunden-
̇ Hilfe zur Pflege (§§ 68/69 BSHG) höhe, Aufteilung der Stunden, Beginn
̇ Pflegeversicherung SGB XI der Hilfe und Bewilligungszeitraum
̇ Der Assistenzvertrag

Individuelle Hilfeplanung der 3.Schritt: Die Umsetzung der Assistenz


SELAM- Lebenshilfe in Oldenburg ̇ Die Zuordnung des Kunden zu einem
Fachbereich
̇ Die Erstellung der Dienstpläne, die Zu-
Die einzelnen Schritte und Dimensionen der
sammensetzung des Teams und die
individuellen Hilfe:
Teamorganisation
̇ Das gemeinsame Kennenlernen von
1. Schritt: Die Vorbereitung der Assistenz Kunde/ Kundin und Assistent/in
beim Wohnen
̇ Die konkrete Umsetzung der Assistenz-
̇ Wie erfahren InteressentInnen von der
inhalte nach Aufgabenschwerpunkten
Assistenz beim Wohnen?
und Zielen
̇ Die Kooperationspartner: Der Erstkon-
̇ Die Fortschreibung der Hilfeplanung
takt mit Interessenten, Angehörigen,
nach einem vereinbarten Zeitraum, so-
gesetzlichen Betreuern, sonstigen
Kontaktpersonen, die persönliche Be- wie deren Anpassung an veränderte
Bedarfs- und Lebenssituationen des
ratung des Menschen mit Behinderung
Kunden
̇ Die Ermittlung des konkreten und indi-
viduellen Unterstützungsbedarfs (Fra- ̇ Die Zusammenarbeit mit Angehörigen
und gesetzlichen Betreuern.
gestellung: Wie erschließe ich mir die
individuellen Bedürfnisse des Interes-
senten bzgl. seiner Wohn- und Le- Stand: November 2002
bensqualität ?)
̇ Einbeziehung verschiedener Dimensio-
nen der Assistenz beim Wohnen ̈ MELANIE DOHLE
̇ Weitere Beratungsgespräche und bei BEREICHSLEITUNG ASSISTENZ BEIM WOHNEN
SELAM LEBENSHILFE FÜR MENSCHEN MIT
Gründung einer Wohngemeinschaft
BEHINDERUNGEN
weiteres Kennenlernen der zukünftigen GEMEINNÜTZIGE GESELLSCHAFT MBH
MitbewohnerInnen NADORSTERSTR. 26, 26123 OLDENBURG
̇ Die Entscheidung über die ABW WWW.NADORSTERSTR. DE

̇ Die Antragstellung beim Sozialamt

____________________________________ 47 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

Aus der Arbeitsgruppe 3 kunftskosten zu einem Entgelt für


den Bewohner / die Bewohnerin zu-
sammengefasst sind.

Ambulante Unterstützung II. Ambulante Wohnformen, bei denen


die Hilfe zum Lebensunterhalt, die
beim Wohnen für Menschen Unterkunftskosten und die Maßnah-
menpauschale vom Leistungsemp-
mit geistiger Behinderung fänger getrennt zu beanspruchen
sind bzw. unterschiedliche Kosten-
Eine Empfehlung träger in Betracht kommen können.
der BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE FÜR
MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG1
Folgende Begriffe sind u.a. in der fachlichen
Arbeit innerhalb der Lebenshilfe geläufig und
werden den vorgenannten Wohnmodellen
“Man entdeckt keine neuen Erdteile, zugeordnet:
ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus Zu I:
den Augen zu verlieren.” (ANDRÉ GIDE)
̇ Wohnstätten
̇ Außenwohngruppen
̇ Gruppenwohnungen
Die aus Mitgliedern der Fachausschüsse "Offene
Hilfen" und "Wohnen" gremienübergreifend zusam- ̇ Externes Wohnen
mengesetzte Arbeitsgruppe "Ambulante Unterstüt- ̇ Dezentrales stationäres Einzelwohnen
zung beim Wohnen" suchte in den Jahren
2000/2001 thematische Schnittfelder, definierte sie,
̇ Wohngemeinschaften
zog daraus Schlussfolgerungen und formulierte ̇ Eltern-Kind-Wohnen
Empfehlungen für die Fachpraxis sowie für die zu- ̇ Probe- und Trainingswohnen
künftige innerverbandliche Umsetzung dieses The-
menbereiches. Zu II:
̇ Betreutes Wohnen
̇ Unterstütztes Wohnen
̇ Ambulant betreutes Einzel-, Paar- und
1. Die Vielfalt der Begriffe Gruppenwohnen
̇ Assistenz beim Wohnen
Für (erwachsene) Menschen mit geistiger Be- ̇ Wohngemeinschaften
hinderung in Deutschland gibt es eine Vielzahl ̇ Eltern-Kind-Wohnen
von Wohnformen mit unterschiedlichen Be-
griffen. Als Beispiele sind u.a. anzuführen ̇ Probewohnen
Wohnheim oder Wohnhaus, Wohnstätte oder
ganz einfach Wohneinrichtung. Darüber hinaus
gibt es Begriffe wie Gruppenwohnungen, Au- Soll ein neuer Begriff geprägt werden?
ßenwohngruppen, Wohngemeinschaften usw..
Um diese Vielfalt unterschiedlicher Wohnfor- Der Begriff der Unterstützung wird vermehrt in
men für Menschen mit geistiger Behinderung der Fachwelt benutzt, so z.B. auch bei der
besser unterscheiden und definieren zu kön- „Unterstützten Beschäftigung“. Es wird daher
nen, bietet sich eine Unterteilung in zwei vorgeschlagen, für das hier zur Rede stehende
Gruppen nach rechtlichen und finanziellen Angebotsfeld den neuen Begriff „Ambulante
Verankerungen an: Unterstützung beim Wohnen” zu verwenden.
I. Stationäre Wohnformen, in denen
die Maßnahmenpauschale, die Hilfe
zum Lebensunterhalt und die Unter-

1
mit freundlicher Genehmigung der BUNDES-
VEREINIGUNG LEBENSHILFE

____________________________________ 48 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

2. Selbstbestimmung - Selbstän- 3.2 Die Angehörigen


digkeit - Wahlmöglichkeiten Angehörige erwarten von den professionellen
Mitarbeitern eine faire, partnerschaftlich ge-
Mit den Wohnangeboten der Lebenshilfe wer- staltete Unterstützung. Eltern sind Eltern und
den Menschen mit einem nach Art und Umfang müssen sich folglich nicht „professionell ver-
unterschiedlichen Hilfebedarf angesprochen halten”. Sie sind in vielen Fragen Experten,
(u. a. auch Senioren, Paare, Alleinerziehende). kompetent hinsichtlich ihrer Töchter und Söh-
Das Selbstbestimmungsrecht von Menschen ne und bringen eine Perspektive ein, die mit-
mit Behinderung ist handlungsleitend und setzt unter von den für ihre Arbeit bezahlten Fach-
Wahlmöglichkeiten voraus. leuten abweicht.
Das Wunsch- und Wahlrecht darf nicht vor Hilfreich ist, wenn Eltern Gleichbetroffene beim
Menschen mit besonders hohem Hilfebedarf häufig schwierigen Loslösungsprozess unter-
Halt machen, denn eine selbstbestimmte Le- stützen. So fördern gelungene Beispiele die
bensführung hat nichts mit der Form und dem Risikobereitschaft und ermutigen zu neuen
Umfang der Hilfe zu tun. Sichtweisen und Wegen, die persönlichen
Auch bei einem hohen Maß an "Unselbstän- Wünsche und die Selbstbestimmung der
digkeit" (weil ich ggf. rund um die Uhr auf Tochter oder des Sohnes als Teil ihrer/seiner
Fremdhilfe angewiesen bin) bedeutet Selbst- Menschenwürde anzuerkennen.
bestimmung, dass ich selbst entscheiden
kann, welche Form der Hilfe ich in Anspruch
nehmen möchte: "Wohnen heißt zu Hause 3.3 Die gesetzlichen Betreuer/-innen
sein". Welche Auswahlmöglichkeiten finde ich Gesetzliche Betreuer haben nach dem Betreu-
vor, um dieses Gefühl von Wohlbefinden für ungsgesetz (BtG) starke Einflussmöglichkeiten
mich ganz persönlich realisieren zu können? auf die Lebensgestaltung von Menschen mit
Erst wenn dieses nicht von meiner Selbstän- Behinderung – insbesondere auch aufgrund
digkeit abhängt, bin ich frei in der Wahl meiner des Aufenthaltsbestimmungsrechts.
Lebensform. Daraus resultiert eine besondere Verantwor-
tung dafür, der Selbstbestimmung des „Be-
treuten“ Rechnung zu tragen. Voraussetzung
ist, dass er Informationen über Wohnmöglich-
3. Beteiligte Personengruppen keiten einholt, sie dem "Betreuten" vermittelt
und somit seine Wahlmöglichkeiten stärkt. Es
3.1 Die Nutzer/-innen bedarf des kompetenten Umgangs mit den
Die Teilhabe von Menschen mit geistiger Be- Wünschen des Menschen mit Behinderung.
hinderung an allen Prozessen, in denen es um
ihre Belange geht, ist zu gewährleisten. Stets
3.4 Die Mitarbeiter/-innen
sollen sie die zentrale und wo irgend möglich
die steuernde Funktion einnehmen. Die Mitarbeiter/-innen gestalten ihre Arbeit mit
Aushandlung und Absprache schaffen die neuem Selbstverständnis und neuer Fachlich-
Grundlage dafür, die Menschen, um die es keit. Das neue Selbstverständnis führt dabei
geht, umfassend zu beteiligen. vom Betreuer zum Begleiter / Unterstützer. Die
neue Fachlichkeit beinhaltet insbesondere:
Voraussetzung hierfür ist, dass der Nutzer
Wissen und Kenntnis über verschiedene For- ̇ Selbstbestimmungskompetenzen anre-
men des Wohnens erhält, z.B. durch Besuche, gen,
Erfahrungsberichte, Probewohnen u.a.m.. Bei ̇ Vielfältige Lebensformen akzeptieren,
Menschen, die ihre Wünsche und Bedürfnisse
in für viele ungewohnter oder nicht erkennba- ̇ Aufträge erfüllen,
rer Weise zum Ausdruck bringen, müssen ̇ Absprachen treffen,
neue Wege der Kommunikation erschlossen
werden. ̇ Aufgaben und Grenzen der Unterstüt-
zung festlegen - und zwar nach dem
Prinzip des Aushandelns,

____________________________________ 49 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

̇ Ziele vereinbaren, prüfen und fort- ̇ Individuelle Hilfebedarfsdarstellung in


schreiben, Leistungsstunden.
̇ den Gesamtprozess dokumentieren, Grundsätzlich gilt: Das auszuwählende Dar-
stellungssystem muss sich flexibel am variie-
̇ Eltern / gesetzliche Betreuer einbezie- renden
hen.
Hilfebedarf des Menschen mit Behinderung
ausrichten können.
Die Darstellung in Personalschlüsseln (z.B.
4. Der individuelle Hilfebedarf: 1:12, 1:8 usw.) ist die einer pauschalierten
Hilfe. Sie birgt die Gefahr, dass Menschen mit
Ermittlung - Hilfeleistungen hohem Hilfebedarf von den ambulanten
Wohnformen ausgeschlossen werden, denn
eine extensive Personalzumessung "ver-
4.1 Ermittlung schreckt". Vorteile könnten sich bei der Dar-
Um die Wahlfreiheit der Menschen mit geisti- stellungsform in Schlüsseln jedoch insoweit
ger Behinderung - bezogen auf die jeweilige ergeben, als das Personal variabel eingesetzt
Wohnform - zu gewährleisten, wird eine ein- werden kann.
heitliche Beschreibung von Hilfebedarfen für Die Darstellung des Hilfebedarfs ganz indivi-
notwendig erachtet. Die letztendliche Fest- duell in reinen Zeitwerten als Leistungsstunden
stellung eines Hilfeumfangs und der angemes- ist deshalb zu favorisieren, weil sie den An-
senen Hilfeform kann erst durch das Aushan- spruch auf Hilfe beim Leistungsberechtigten
deln zwischen allen Beteiligten - den Betroffe- verankert. Im sozialhilferechtlichen Dreiecks-
nen, den Anbietern, Kostenträgern und gut- verhältnis von Nutzer (Anspruchsberechtigten),
achterlichen Stellen - erfolgen. Hierfür er- Anbieter und Kostenträger verlagert sich also
scheint das HMB-Verfahren (nach METZLER) die Regiekompetenz und Sichtweise hin zum
derzeit aufgrund der allgemeinen Verbreitung, Menschen mit geistiger Behinderung. Dabei ist
erwiesenen Praktikabilität und Akzeptanz so- sicherzustellen, dass diese stundenbezogene
wohl aus Sicht der Einrichtungen und Dienste Feststellung des Hilfebedarfs bei sich verän-
als auch aus Sicht der Kostenträger das ge- dernder Bedarfslage auch zeitnah angepasst
eignetste. Für den ambulanten Bereich bedarf werden kann.
es einer Überprüfung bezüglich der Punktebe-
wertung/ Punktegewichtung.
Der Umfang des Hilfebedarfs darf nicht mit
einer bestimmten Wohnform verknüpft werden. 5. Der Weg bis zum Wohnen mit
Einheitliche Kostenträgerschaft ist anzustre- ambulanter Unterstützung
ben, um die Chance der Umsetzung bedarfso-
rientierter Wohnangebote zu optimieren.
Die Teilhabe des Menschen mit Behinderung
an diesem Prozess muss gewährleistet sein.
4.2 Hilfeleistungen Deshalb sollte der Weg vom Erstgespräch
Das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen über die Antragstellung bis zum Einsetzen der
mit geistiger Behinderung hat Vorrang vor der Hilfe in folgenden Schritten umgesetzt werden:
Kostenfrage. § 3a Bundessozialhilfegesetz
(BSHG) lässt nach der Rechtssprechung bei ̈ Beratung
ambulanten Maßnahmen auch höhere Kosten Persönliche Beratung der Menschen mit Be-
als bei stationären Angeboten zu; hinderungen in einer Beratungsstelle muss
”angemessen” kann auch das zwei- bis dreifa- sichergestellt werden (Erstkontakt).
che bedeuten.
Zur Abbildung des individuellen Bedarfs in
Hilfeleistungen gibt es zwei Zugänge: ̈ Begleitung
Jeder Mensch mit Behinderung hat Anspruch
̇ Pauschalierung und Berechnung eines auf anwaltschaftliche Begleitung durch einen
Personalschlüssels und gesetzlichen Betreuer oder eine andere Per-
son seines Vertrauens.

____________________________________ 50 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

gen. Zudem werden Vereinbarungen zur Do-


kumentation, Fortschreibung und Veränderung
̈ Vorstellung des regional vorhandenen
der Hilfen getroffen.
Unterstützungsangebotes
Jeder Mensch mit Behinderung hat das Recht
auf eine umfassende Vorstellung des regional ̈ Evaluation der Hilfe
vorhandenen Angebots. Die erbrachten Hilfeleistungen sind zu doku-
mentieren und zu bewerten. So entsteht die
Grundlage für die laufende Anpassung der
̈ Ermittlung des Hilfebedarfes durch den
Hilfen. Eine Beratung hierzu sollte durch eine
leistungsberechtigten Menschen
neutrale Stelle erfolgen (Selbsthilfe; Peer
Jeder Mensch mit Behinderung soll die Mög- Counseling).
lichkeit haben, mit Unterstützung seinen indivi-
duellen Hilfebedarf zu ermitteln. Dabei sollen
alle möglichen Unterstützungsleistungen Be- Die Arbeitsgruppe stieß auf Spannungsfelder,
rücksichtigung finden. die das „System Lebenshilfe” in seinen Wur-
zeln betreffen (Selbsthilfe- und Trägerverband
in einem). Die Konfliktlinien werden an dieser
̈ Sozialpädagogische Beratung im Hil- Stelle aufgezeigt:
feplan-Gespräch
̇ Inwieweit erfolgt die Beratung durch ei-
In einem nutzerorientierten Gespräch wird mit ne neutrale Stelle - mit der Konse-
allen beteiligten Diensten und Institutionen quenz, dass die Lebenshilfe aufgrund
unter Einschluss des Nutzers und seiner Ver- ihrer Interessen als Dienstleister mit-
trauensperson der Hilfeplan erstellt. unter eben nicht „eindeutig neutral”
auftreten kann und will?
̈ Gutachten und Stellungnahmen ̇ Falls sich die Lebenshilfe aus der Be-
Durch den allgemeinen Sozialdienst, das Ge- ratungsrolle verabschieden sollte oder
sundheitsamt, Ärzte, den medizinischen Dienst müsste, wäre das ein Verlust: Es haben
der Krankenkassen und eventuell den Anbieter sich hilfreiche Settings (Wohnberatung,
werden Gutachten oder Stellungnahmen er- Wohntreffs etc.) entwickelt und in der
stellt. Daraus werden der Gesamtplan nach § Praxis bewährt, die bei der Einrichtung
46 BSHG entwickelt und die Leistungen einer neuen, übergreifenden Bera-
grundsätzlich bewilligt. tungsstruktur in Frage stünden.
Die Kommunalverwaltungen sind keinesfalls
als „neutrale Instanzen” zu akzeptieren, da sie
̈ Auswahl der Anbieter als Kostenträger interessengeleitet agieren.
Der Gesamtplan wird mit den Leistungen der Wenn wir also einen Ausblick in die Zukunft
verschiedenen Anbieter verglichen, und der formulieren, dann sollten - mit allen Konse-
Nutzer trifft seine Auswahl. quenzen - Menschen mit Behinderung Gleich-
betroffene beraten, die Kenntnis von unter-
schiedlichen Formen des Wohnens haben.
̈ Hilfeplan-Gespräch mit dem Anbieter Gleiches gilt für die Elternselbsthilfe.
Bei diesem Gespräch geht es um das Aus-
handeln der konkreten Umsetzung des Hilfe-
plans (z.B.: Wünsche ich weibliche oder männ-
liche Unterstützung u.ä.). 6. Konsequenzen für die Lebens-
hilfe als Anbieter
̈ Hilfevertrag
Zwischen Nutzer und Anbieter wird ein Hilfe- Die Lebenshilfe sollte das Wunsch- und Wahl-
vertrag geschlossen, der Regelungen über Art recht ernst nehmen und überall dort, wo es
und Umfang der Hilfen beinhaltet. Er benennt (noch) kein ambulant unterstütztes Wohnan-
auch die eingesetzten Mitarbeiter/- innen, eine gebot auf der Grundlage der Eingliederungs-
Beschwerdeinstanz und Kündigungsbedingun- hilfe gemäß BSHG gibt, dieses auf- und aus-

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

bauen. Sie sollte sich nicht scheuen, sich mit BSHG stärker als bisher Realität werden zu
ihren qualitativ hochwertigen Diensten auf den lassen. Programmatisch dazu passt das Enga-
regionalen Markt sozialer Dienstleister zu be- gement für neue ambulante Dienstleistungen
geben. (Kriseninterventionsdienste etc.) bzw. auch die
Obwohl das BSHG den Vorrang “ambulant vor Offenheit für neue Allianzen, um das örtliche
stationär” festschreibt, werden von den jährlich Hilfenetz bedarfsgerecht weiter zu entwickeln.
30 Milliarden DM Eingliederungshilfe nach dem Die Gliederungsebenen der Lebenshilfe-
BSHG 3 % für die "ambulante Sorge", aber Landesverbände und örtlichen Vereinigungen
97% für die stationäre Eingliederungshilfe der sind aufgerufen, analog zu den Aktivitäten der
Behindertenhilfe ausgegeben2. Bundesebene den Aufbruch zu wagen, den
Um das Wahlrecht aller Menschen mit Behin- Dialog zu suchen und den “Ausbau ambulant”
derung zu ermöglichen ist es erforderlich, den substantiell zu befördern.
individuellen Hilfebedarf konsequent zu ermit-
teln, in Leistungsstunden zu überführen und
passende Stundensätze (einschl. Regiekosten,
Vorlaufzeiten u.a.m.) zu verhandeln (vgl. hier- 7. Fachliche Standards
zu 8.2). zur Ambulanten Unterstützung
Bei der Umstellung auf eine einheitliche Ko- beim Wohnen
stenträgerschaft ist darauf zu achten, dass an
bundesweit modellhafte und praxisbewährte
Settings angeknüpft wird. Auch in diesem An- Insbesondere die folgenden vier Aspekte sind
gebotsfeld gilt: “Lernen von den Besten”. Diese als fachliche Standards hervorzuheben:
gibt es, und die Akteure in der Lebenshilfe
können auf funktionierende Praxis Bezug
nehmen - so z.B. in Münster, Oldenburg und ̈ Nutzerrat:
Schwerin. Als Pendant zum Heimbeirat ist auch im Am-
Von den Kostenträgern vorgetragene Wün- bulant Unterstützten Wohnen ein gewähltes
sche und Vorstellungen der Budgetierung bzw. Gremium als Interessenvertretung der Nutzer
Kontingentierung sind in der Konsequenz als erforderlich. Dieser Nutzerrat kann seine
Begrenzungen wahrzunehmen, die letztlich der Funktion nur dann qualifiziert ausfüllen, wenn
individuellen Bedarfsdeckung und guter seine Mitglieder sich kontinuierlich beraten
Dienstleistungsqualität entgegenstehen. lassen, sich schulen und weiterbilden können.
Deshalb appellieren wir an die verbandlichen Hierfür muss ein Finanzierungsrahmen bereit-
Entscheidungsträger: Mut zum Risiko - streit- gestellt werden.
bar auftreten. Dazu gehört:
̇ Potentielle Nutzer ambulanter Hilfen bei ̈ Begleitende Supervision:
Rechtsstreitigkeiten zur Durchsetzung Zur Sicherung der Fachlichkeit ist die kontinu-
ihrer Leistungsansprüche unterstützen. ierlich begleitende Supervision für die Mitar-
̇Die Schiedsstellen dazu nutzen, ver- beiter zu gewährleisten. Sie ist in die Vergü-
tretbare Vereinbarungen gem. § 93 ff tungsverhandlungen einzubeziehen. Ihrer Be-
BSHG zu erzielen. Erste Priorität bei deutung als konstante Strukturqualität sollte
den Verhandlungen mit den Kostenträ- durch eine rechtliche Absicherung wie bei-
gern muss sein, einträgliche – und da- spielsweise bei der Sozialpädagogischen Fa-
mit auch “wirtschaftliche” Stundensätze milienhilfe im KJHG Rechnung getragen wer-
auszuhandeln (Sätze, mit denen es sich den.
wirtschaften lässt).
So können Vertreter der Lebenshilfe einen ̈ Leistungen aus einer Hand:
wichtigen Beitrag dazu leisten, den § 3a des Kommen bei einem Nutzer Dienstleistungen
aus verschiedenen Fach- bzw. Rechtsberei-
2
nach KLEIN/ZECHERT: Ambulant vor stationär – chen zum Tragen (z.B. Pflegeversicherung,
oder wie man aus einer Mücke einen Elefanten Jugendhilfe, Eingliederungshilfe), so ist anzu-
macht. In: Sozialpsychiatrische Informationen Heft streben, dass diese Leistungen aus einer
2, 2000

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

Hand angeboten werden. Sollte dies nicht ̇ § 40 BSHG Maßnahmen der Hilfe
möglich sein, so ist eine enge inhaltliche und in den Blick zu nehmen.
organisatorische Koordination der in dem
Dem stehen nach wie vor strukturelle und fi-
Haushalt aktiven Dienste bzw. Personen si-
nanzielle Benachteiligungen im Vergleich zum
cherzustellen. Gleiches gilt auch für weitere
stationären Wohnen gegenüber: Insbesondere
Dienstleistungsangebote aus dem Gemein-
ist hier die weiter bestehende Heranziehung
deumfeld (z.B. Essen auf Rädern, Kranken-
Unterhaltspflichtiger zu nennen. Diese wird
pflege, Freizeitbegleitung).
auch durch das Grundsicherungsgesetz ab
01.01.2003 voraussichtlich nur teilweise auf-
̈ Leistungsbeschreibungen und –ver- gehoben.
einbarungen sowie Qualitätsentwick-
lung: Marburg, im April 2002
Zum Thema Qualitätsentwicklung wird auf die
„Arbeitshilfe zur Qualitätssicherung und -
entwicklung in Diensten für Unterstütztes
Wohnen (AQUA-UWO)“ des Zentrums für Pla- ̈ BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE FÜR
nung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG E.V.
AUSSCHUSS "OFFENE HILFEN", AUSSCHUSS
der Universität-Gesamthochschule Siegen3 "WOHNEN"
verwiesen. Als Orientierungsrahmen für Lei-
RAIFFEISENSTRAßE 18, 35043 MARBURG
stungsbeschreibungen und –vereinbarungen
gem. §§ 93 ff BSHG bietet sich die Arbeitshilfe WWW.LEBENSHILFE.DE
im Verlag der BUNDESVEREINIGUNG LE-
4
BENSHILFE an .

8. Rechtliche Aspekte

Die derzeitige rechtliche Ausgangssituation für


die Ambulante Unterstützung beim Wohnen
bietet zunächst positive Grundsätze und For-
mulierungen, so z.B. in folgenden gesetzlichen
Vorgaben des SGB IX und des BSHG:
̇ § 1 Selbstbestimmung und Teilhabe am
Leben in der Gesellschaft,
̇ § 9 Wunsch- und Wahlrecht der Lei-
stungsberechtigten,
̇ § 55 Leistungen zur Teilhabe am Leben
in der Gemeinschaft des SGB IX.
In Verbindung damit sind
̇ § 3 BSHG Sozialhilfe nach der Beson-
derheit des Einzelfalles,
̇ § 3a BSHG Vorrang der Offenen Hilfe
und

3
ZENTRUM FÜR PLANUNG UND EVALUATION SOZIALER
DIENSTE (ZPE), Universität Siegen, Adolf-
Reichwein-Strasse 2, 57068 Siegen, www.uni-
siegen.de/~zpe
4
BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE, 3. Auflage
2/2001

____________________________________ 53 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

Aus der Arbeitsgruppe 4 schen sind, durch diesen Personenkreis


in ihrer Freizeit/Ruhe gestört fühlen;
̇ Öffentlichkeitsarbeit und Ressourcene-
ruierung in der Gemeinde: herausge-
Umgang mit herausfor- stellt wurde, dass es für Träger wichtig
ist, eine Funktionsstelle Öffentlichkeits-
derndem Verhalten in der arbeit zu schaffen, um u. a. die nichtbe-
Gemeinde hinderte Bevölkerung zu sensibilisieren,
Menschen mit geistiger Behinderung
GEORG THEUNISSEN und hohem Assistenzbedarf sowie her-
ausfordernden Verhaltensweisen als
Nachbarn zu akzeptieren;
Die AG 4 fand an zwei Tagen statt. Der Kreis
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war an ̇ Netzwerkförderung (z. B. Schaffung
beiden Tagen sehr heterogen, z. B. Mitarbei- privater und institutioneller Netzwerke,
ter/innen aus Wohngruppen sog. Zentralein- Suche nach Ansprechpartnern bei der
richtungen, deren Auftrag/Ziel es ist, sog. Aus- Polizei, beim Sozialamt, in Kaufhäusern
senwohngruppen zu bilden bzw. Wege eines ...;1
betreuten/unterstützten Wohnens für Men-
̇ Vorurteile gegenüber geistig behinder-
schen mit geistiger Behinderung und hohem
ten Menschen insbesondere gegenüber
Assistenzbedarf zu ebnen, bis hin zu leitenden
Personen mit herausfordernden Ver-
Mitarbeiter/innen aus Einrichtungen, helfende
haltensweisen in der Gesellschaft; in
Berufe aus dem Sozialwesen (einschließlich
dem Zusammenhang wurde die Be-
Ämter) und der Heilpädagogik sowie Mitarbei-
deutung der vorschulischen und schuli-
ter/innen, die in Außenwohngruppen tätig sind
schen Integration im Hinblick auf quali-
oder das sog. betreute Wohnen begleiten.
tative Kontakte zwischen behinderten
Im Mittelpunkt der Arbeitsgruppe standen und nichtbehinderten Menschen her-
Themen und Fragen, die zum Teil kontrovers ausgestellt; in vielen westlichen führen-
diskutiert wurden und immer wieder zu erken- den Industrienationen, in denen die In-
nen gaben, dass es im Prinzip in Bezug auf tegration weitaus früher als in
den Umgang mit herausforderndem Verhalten Deutschland eingesetzt hatte, scheinen
in der Gemeinde kein „Patentrezept“ gibt, das die Vorurteile gegenüber geistig behin-
sich über alle regionalen, situativen Unter- derten Menschen geringer zu sein;
schiede hinweg generalisieren ließe.
̇ Verbundsysteme mit Angeboten zur
Im Folgenden haben wir stichwortartig die
Krisenintervention; es wurde angespro-
wichtigsten Themen/Fragen aus der AG 4
chen, dass Wohngruppen mit Men-
zusammengetragen:
schen, die herausforderndes Verhalten
̇ spezifische Probleme (beispielhaft ge- zeigen, nicht selten zu sehr auf sich al-
nannt) mit Nachbarn, vor dem Hinter- leine gestellt sind, d. h. keine angemes-
grund von Außenwohngruppen mit Per- sene begleitende Hilfe erfahren; da-
sonen, die ein (für die nichtbehinderte durch aber wird die Gefahr des Schei-
Bevölkerung jedenfalls) originelles, au- terns solcher Gruppen befördert; Unter-
ßergewöhnliches Verhalten zeigen; suchungen zeigen auf, dass eine gün-
stige Entwicklung nur dann erwartet
̇ Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit
werden kann, wenn begleitenden Dien-
Nachbarn und Eltern (Hausbesuche,
ste (z. B. Praxisberatung; Kriseninter-
Nachbarschaftsfeste, offene Tür ...);
vention) für Gruppen erreichbar und
̇ Zumutungen? Was kann der Nachbar- verfügbar sind;
schaft zugemutet werden? Was ist so-
zial verträglich? Gibt es Grenzen der
Zumutbarkeit? Angemerkt wurde in die-
1
sem Zusammenhang, dass sich nicht hierzu genauere Ausführungen in der Schrift von
selten auch Mitarbeiter/innen, die G. THEUNISSEN ET AL.: Krisen und Verhaltensauffäl-
Nachbarn von geistig behinderten Men- ligkeiten bei geistiger Behinderung und Autismus;
Kohlhammer Verlag; Stuttgart 2003

____________________________________ 54 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

̇ Möglichkeiten einer Krisenintervention derte Menschen; Heime für geistig be-


(beispielhaft genannt) und Systeme ei- hinderte Menschen mit hohem Assi-
ner Krisenintervention (psychiatrische stenzbedarf und herausfordernden Ver-
Ambulanz, stationäre Krisenintervention haltensweisen.
in psychiatrischen Krankenhäusern
oder Großanstalten, mobile Kriseninter-
ventionsdienste2;
̈ PROF. DR. GEORG THEUNISSEN
̇ Vor- und Nachteile der Zusammenar- INSTITUT FÜR REHABILITATIONSPÄDAGOGIK
beit mit ehrenamtlichen Helfern (Laien- MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE-
helfer) und freiwilligen Agenturen; Nut- WITTENBERG
zung sog. Umfeld-Ressourcen, Förde-
06099 HALLE
rung und Unterstützung sog. persönli-
cher Freizeit- oder Bildungsassistenten WWW.UNI-HALLE.DE

z. B. Studenten;
̇ Vorbereitung von Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern auf assistieren-
de/unterstützende Tätigkeiten geistig
behinderter Menschen mit hohem Assi-
stenzbedarf im Rahmen des betreuten
Wohnens bzw. in kleinen, gemeindein-
tegrierten Wohngruppen;
̇ Internationale Vergleiche: die große
Mehrheit von geistig behinderten Men-
schen mit hohem Assistenzbedarf und
herausforderndem Verhalten lebt in den
führenden westlichen Industrienationen
(bis auf die skandinavischen Länder)
weithin in (großen) Institutionen (z. B.
USA), klinisch organisierten Heimen o.
dgl.); gleichfalls ist der Anteil von Er-
wachsenen mit geistiger Behinderung,
die noch in ihren Herkunftsfamilien le-
ben, international betrachtet sehr hoch
(z. B. 70-80% in den skandinavischen
Ländern, USA); allerdings besteht im
Unterschied zu Deutschland in vielen
dieser Länder ein tragfähiges Unter-
stützungssystem für Familien mit be-
hinderten Angehörigen, das verfügbar
und erreichbar ist;
̇ Probleme der „leeren Kassen“ und
Gefahr der „selektiven Integration“: Au-
ßenwohngruppen, unterstütztes Woh-
nen nur für sog. leicht geistig behin-

2
Erfahrungen hierzu bietet das „Handbuch Krisen-
intervention“ von E. WÜLLENWEBER und G.
THEUNISSEN, erschienen im Kohlhammer-Verlag,
Stuttgart 2001; darüber hinaus erscheint Ende
2003 das Handbuch II, in dem schwerpunktmäßig
Erfahrungen aus der Praxis in Bezug auf unter-
schiedliche Kriseninterventionsdienste und –mög-
lichkeiten dargestellt werden; auch diese Schrift
erscheint im Kohlhammer-Verlag

____________________________________ 55 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

Aus der Arbeitsgruppe 5 hätte. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür


ist die Vergesellschaftung des "harten Kerns",
d.h. die Öffentlichkeitsarbeit muss so sehr
Enthospitalisierung - keine intensiviert werden, dass die Enthospitalisie-
rung dieses Personenkreises als gesellschaft-
Chance für den „harten liche Aufgabe anerkannt und sie somit zum
gesellschaftlichen Interesse wird. Weitere Be-
Kern?" dingungen:
ANTJE KOEPP ̇ Bessere (= ausreichende) finanzielle
Ausstattung für angemessene
Wohnangebote
Ü mit guter personeller Ausstattung für
Aus der ersten Runde1 Einzel- und Kleingruppenbetreuung
Ü in angemessenen Räumlichkeiten
Die TeilnehmerInnen der ersten Runde der AG Ü in kleinen Wohneinheiten
Enthospitalisierung kamen aus Deutschland,
Ü mit individueller dezentraler Betreuung
Österreich und der Schweiz. Den Teilnehme-
rInnen ging es in erster Linie um die Enthos- Ü mit persönlicher Assistenz
pitalisierung aus psychiatrischen Kliniken von Ü und entsprechenden Möglichkeiten für
Menschen, die oftmals als "harter Kern" be- die Umfeld- und Netzwerkarbeit
zeichnet werden. Hier interessierten z.B. Fi- ̇ Bessere personelle Ausstattung, d.h.
nanzierungsmodelle/-möglichkeiten, die Frage,
Ü qualifiziertes und motiviertes Personal
ob der "harte Kern" der Krankenhauspsychia-
Ü Multiprofessionalität
trie zum harten Kern der "Heimpsychiatrie"
geworden sei oder welche anderen Möglich- Ü Sensibilität für die Bedürfnisse des ein-
keiten als die selbst erprobten es noch gibt. zelnen Individuum
Ü Zutrauen, dass auch diese Menschen
es schaffen, Änderung des Menschen-
Zunächst versuchten wir, uns der Frage anzu- bildes
nähern, was wir unter dem "harten Kern"
verstehen. Es zeigte sich, dass unter diesem
Personenkreis vorrangig Menschen mit sehr Neben dem adäquaten Wohnangebot ist eine
hohem Hilfebedarf (geschlossene Unterbrin- weitere Voraussetzung das Vorhandensein
gung, fehlendes Sprachverständnis, die Un- von Arbeits- und Förderplätzen mit persönlich
selbständigsten, Doppel-/Mehrfachdiagnosen, sinnvollen Beschäftigungsmöglichkeiten.
Menschen mit schwerer geistiger und mehrfa- Gleichzeitig müssen niederschwellige Hilfe-
cher Behinderung, Menschen mit stark her- und Beratungssysteme aufgebaut werden.
ausforderndem Verhalten, Menschen mit ho- Ein weiterer Gedanken war, dass auch z.B.
hem (med.) Pflegebedarf, mit fehlender Krank- neue Ideen und Planungen im Städte- und
heitseinsicht) verstanden werden, die beste- Wohnungsbau notwendig sind, um eine Inte-
hende Angebote "sprengen" und für die ent- gration aller Menschen in ihr Umfeld zu er-
sprechende Angebote fehlen. Es sind von leichtern.
der Enthospitalisierung vernachlässigte Men- Für alle Projekte geeignete Finanzierungsmo-
schen. Ein "harter Kern" konnte sich entwik- delle konnten von keinem der Teilnehmenden
keln wegen ungelenkter Enthospitalisierung. genannt werden, da es gewaltige Unterschiede
Ein Teil der Teilnehmerschaft war der Auffas- zwischen den einzelnen Bundesländern und
sung, dass der "harte Kern" nicht "weg zu zau- z.T. auch Regionen gibt. Um so größer und
bern" sei, dass es ihn immer geben wird. wichtiger ist die Forderung, dass die Enthospi-
talisierung und Deinstitutionalisierung zu
einem bundesweiten Anliegen und Pro-
Anschließend versuchten wir Bedingungen gramm wird, um dem bestehenden Angebots-
herauszuarbeiten, unter denen auch der "harte gefälle und einer Umhospitalisierung entgegen
Kern" eine Chance auf Enthospitalisierung zu wirken. Gleichzeitig sollte damit der beste-
henden Tendenz entgegnet werden, dass sich
1
Die AG wurde mit anderem Teilnehmerkreis nun in den (z.T. auch kleineren und dezentra-
wiederholt

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

len) stationären Wohneinrichtungen wieder ein Intensivgruppen, Pflegegruppen, die Begeg-


"harter Kern" bildet, dem ambulante Angebote nung ist überall.
vorenthalten werden.
Unter welchen Bedingungen hätte auch der
Gedanken einzelner TeilnehmerInnen in der "harte Kern" eine Chance auf
Arbeitsgruppe, die nicht weiter thematisiert 1. Enthospitalisierung?
werden konnten, hier aber berücksichtigt wer- 2. ein Leben ohne Institution?2
den sollten:
̇ Ist alleine wohnen normal? Oder Ge- ̇ Gesellschaft/Umfeld:
burt der abnormen Gesellschaft?
Ü Achtung der Würde, Akzeptanz, Tole-
̇ Ist die "totale Enthospitalisierung" nicht ranz
eher eine Befriedigung unseres "pro- Ü Toleranz und Menschlichkeit in der Ge-
fessionellen" Gewissens? sellschaft
Ü Öffentlichkeitsarbeit / Netzwerkarbeit
Interessant wären im Zusammenhang mit dem Ü Chancengleichheit
Thema der Arbeitsgruppe Erfahrungsberichte Ü tragfähige Lebensräume
darüber, wie Netzwerke für diesen Personen- Ü Umfeldarbeit
kreis aufgebaut werden können.
̇ Personal:
Ü Schulung und Sensibilisierung der Mit-
Aus der zweiten Runde arbeiter
Ü Mut und unkonventionelles Denken bei
Beim 2. Durchlauf der AG Enthospitalisierung Betreuer/innen
kam die Teilnehmerschaft aus Deutschland Ü offene entwicklungsorientierte Haltung
und der Schweiz. Die Interessenlage war sehr von Personal und Leitung
unterschiedlich: einem Teil ging es wieder um Ü hochqualifiziertes Personal
die Enthospitalisierung aus psychiatrischen Ü adäquate Fort- und Weiterbildung
Kliniken, einem anderen Teil um das "Leben Ü ausreichender (1:1) Personalschlüssel
ohne Institution" auch für Menschen, die als in sehr kleinen Wohngruppen
"harter Kern" bezeichnet werden. Ü fachliche Begleitung durch Supervision
/ Fachdienste
Die Definition des "harten Kerns" war ähn- Ü hartnäckige Fachleute
lich die der vorhergehenden Arbeitsgruppe: Ü Verantwortung der MitarbeiterInnen
Menschen mit sehr hohem und speziellem muss gestärkt werden
Hilfe- und Pflegebedarf aus den verschieden- Ü Steigerung der Attraktivität der Arbeit
sten Gründen, für die der bestehende Rahmen mit diesem Personenkreis
nicht passt bzw. ein adäquater zu teuer wäre, Ü Vernetzung der MitarbeiterInnen um
Menschen die keiner will bzw. die jeweils Vereinzelung entgegen zu wirken
unattraktivste Gruppe.
Der "harte Kern" ist der Personenkreis von ̇ Hilfestrukturen: (keine Festlegung auf
Menschen mit Behinderungen, die gesell- eine bestimmte Hilfestruktur)
schaftlich besonders ausgegrenzt und stigma-
Ü Zwischenschritte zwischen Leben in
tisiert sind und von Fachleuten - von uns! - so
psychiatrischer Klinik und Leben ohne
definiert werden. Institution
Es kam die These auf, dass es ohne Institutio- Ü familienähnliche Strukturen (3 - 5)
nen keinen harten Kern gäbe und sich "harte
Kerne" auch verändern.
Auf die Frage, wo die TeilnehmerInnen Men- 2
schen, die als "harter Kern" bezeichnet wer- Eine von DANIEL KASPER verfasste Zusammenfas-
den, begegnen, gab es unterschiedliche Ant- sung der Kleingruppendiskussion als Vorbereitung
der Thesen für die Diskussion im Plenum im An-
worten: in Institutionen, in Wohnheimen, in hang zu diesem Bericht

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

Ü gemischte Wohngruppen hinsichtlich Fazit


"Art und Schwere" der Behinderung
Ü zu Hause mit fachgerechter Unterstüt- In beiden Arbeitsgruppen wurde deutlich, dass
zung unter bestimmten Bedingungen jeder Mensch
die Chance auf Enthospitalisierung hat. Dies
Ü wenn er eine angemessene Assistenz
erhält, verändertes Assistenzverständ- scheitert in erster Linie derzeit daran, dass
nis zum einen die gesellschaftliche Bereitschaft
Ü viel Zeit, um diesen "Ausstieg" vorzube-
hierzu nicht da ist (Toleranz, Akzeptanz usw.)
reiten, der Rückweg darf nicht abge- und zum zweiten potentiellen Anbietern die
schnitten sein entsprechenden (finanziellen) Mittel hierfür
Ü Erfahrungsmöglichkeiten innerhalb an- nicht zur Verfügung gestellt werden (weitere
derer Rahmenbedingungen anbieten Gründe: siehe oben).
Ü nicht kündbare Wohnplätze Das Ziel, dass die Menschen, die als "harter
Ü qualitativ hochstehende Verfahren zur Kern" bezeichnet werden, in individuelle
Begleit- und Entwicklungsplanung Wohnsituationen enthospitalisiert - und nicht
Ü Institutionenverbünde umhospitalisiert - werden, sollte durch ein
bundesweites Deinstitutionalisierungspro-
Ü neue Lebens- und Wohnformen
gramm forciert und zu einem gesamtgesell-
Ü mit Veränderung der Wohnform auch schaftlichen Anliegen werden.
Veränderung der Tagesstruktur
Ü Vernetzung der Hilfeangebote
Ü Räumlichkeiten:
Ü geeignete Räumlichkeiten, geeignete ̇ ANTJE KOEPP
Wohnumgebung LEBENSHILFE - LANDESVERBAND
BRANDENBURG
̇ sozialpolitische Rahmenbedingungen: MAHLSDORFER STR. 61
15366 HÖNOW
Ü ausreichende Bereitstellung finanzieller
Mittel, innovative Finanzierungsmodel- ANTJE.KOEPP@FREENET.DE
le, flexiblere Finanzierungsstrukturen
Ü Abbau bürokratischer Hürden

In der Diskussion angesprochen wurde auch


das Thema Mitbestimmung und Selbstbestim-
mung vom Personenkreis des "harten Kerns" -
hierzu scheinen abgesehen vom "Probewoh-
nen" in anderen Wohnsituationen als Ent-
scheidungshilfe (für den Zeitraum von 6 Wo-
chen Freihalten des Wohnheimplatzes) keine
weitergehenden Erfahrungen vorzuliegen.
Wie können wir es erreichen, dass der "harte
Kern" seine Interessen formulieren kann (wirk-
liche Wahlmöglichkeiten)? Wie können Be-
troffene in der Diskussion beteiligt werden?

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

auch den Möglichkeiten entsprechend


Zusammenfassung einer ernst zu nehmen.
Gruppendiskussion der ̇ Kriterien der Zusammensetzung: Auf
eine wohlüberlegte Zusammensetzung
Arbeitsgruppe 5 ist sorgfältig zu achten; die Literatur gibt
DANIEL KASPER hier viele Hinweise dazu.
̇ Erfahrungen: Menschen mit kognitiven
Kommentare zur Graphik Entwicklungsbeeinträchtigungen benö-
tigen, je schwerer beeinträchtigt sie
Die Reihenfolge der einzelnen Faktoren ist sind, Erfahrungsräume und -
nicht nach Priorität gewählt. Die Aufzählung möglichkeiten und nicht nur Wahlmög-
muss, angesichts der knappen Zeit für die lichkeiten, da letztere sie oft überfor-
Diskussion, unvollständig bleiben dern.
̇ Individualität: Die betroffenen Men-
1. Menschen mit Behinderung:
schen müssen, wie generell in der Be-
̇ Bedürfnisse herausfinden: Es gilt die hindertenhilfe, in ihrer Individualität
oft verschütteten oder verlernten Be- wahrgenommen, verstanden, gestützt
dürfnisse der betroffenen Menschen und begleitet werden.
sorgfältig herauszufinden und dann

Kriterien der Unsicherheit G efahr der


Individualität
Zusam mensetzung Angst Übertragungen

M enschen mit V erfahren


Personal
Behinderung

Erfahrungen Haltung

Bedingungen
Bedürfnisse für die Attraktivität
herausfinden der Arbeit
Enthospitalisierung
des
„harten Kerns“

Historische Zukünfte
G ewachsenheiten Institution denken

Übergänge Strukturen
Haltung Fianzierung

2. Personal dezentralen Wohnformen die Teamar-


beit mit all ihren Vor- und Nachteilen in
̇ Unsicherheit / Angst: Das Personal der bisher gewohnten Form wegfällt.
muss in seinen Sorgen ernst genom- Das „Wie und mit wem arbeite ich?“
men werde, da bei den neuen, kleinen, muss in den konzeptionellen Entwürfen

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

beantwortet werden. Das Personal darf können. Wir waren uns bewusst, dass
dabei nicht übergangen werden. die Finanzierung zur Zeit ein grosses
Problem darstellen wird. Wir waren
̇ Verfahren: Das Personal benötigt, um
aber überzeugt, dass dies uns nicht da-
die oben postulierten Ansprüche (s. Pkt.
von abhalten soll, die neuen Modelle zu
1) einlösen zu können, differenziert
denken. Gerade für den Bereich von
ausgearbeitete individuums- und tea-
Menschen mit psychosozialen Auffällig-
morientierte Verfahren für die Bearbei-
keiten lässt sich voraussagen, dass hier
tung dieser komplexen Aufgabenstel-
die erheblichen Assistenzkosten, wel-
lungen
che jetzt durch den auffälligkeitsbe-
̇ Attraktivität der Arbeit: Die Frage, ob dingten Assistenzbedarf entstehen, bei
eine solche Arbeit für das Personal individuell angepassten Wohnformen
überhaupt noch interessant ist, muss sicher zurückgehen werden.
ebenfalls in allen Überlegungen mitre-
̇ Strukturen: Die neuen Strukturen der
flektiert werden.
Trägerschaften müssen flexibel und
̇ Gefahr der Übertragungen: Gerade in veränderbar gestaltet werden. Es gibt
Veränderungssituationen muss noch noch viel weniger als bisher die richtige
viel mehr wie im Alltag darauf geachtet Struktur.
werden, dass ich meine Wünsche nicht
̇ Übergänge: Die Übergänge von der
mit jenen der Bewohnerinnen und Be-
einen in die andere Wohnform müssen
wohner verwechsle resp. meine Vorlie-
auf allen Ebenen (gesamtinstitutionell,
ben / Abneigungen zu den ihren mache.
Bewohnerinnen und Bewohner, Perso-
Auch dazu braucht es bestimmte Ver-
nal, Angehörige, gesetzliche Vertretun-
fahren und Vorgehensweisen.
gen etc.) nach system-ökologischen
̇ Haltung: Generell lässt sich sagen, Gesichtspunkten sorgfältig geplant,
dass ein grosser Teil der Arbeit von der durchgeführt und evaluiert werden
Haltung des Personals unmittelbar und
̇ Historische Gewachsenheit: Es gilt
stark beeinflusst wird. Es ist darum bei
die Geschichte der Institutionen als sol-
Personalauswahl und -schulung unbe-
ches sowie ihre Einbettung in das so-
dingt auf diese Fragen zu achten. Dem
ziale Umfeld zu beachten. Institutionen
Bewusstmachen und der Bearbeitung
hatten lange Zeit als Nachfolgemodell
der mentalen Modelle der Mitarbeiten-
des Anstaltswesens ihre Berechtigung.
den ist daher stark Beachtung zu
Sowohl aufgrund theoretischer Überle-
schenken.
gungen als auch praktischen Erfahrun-
gen haben wir heute Erkenntnisse ge-
3. Institution wonnen, welche eine Überwindung des
klassischen Institutionsmodells als an-
̇ Haltung: Gerade auch von Träger- gezeigt erscheinen lassen. Wir sollten:
schaften und Leitung her braucht es ei-
ne unterstützende und fördernde Hal- ̇ Zukünfte denken: Gemeinsam mit al-
tung, welche (erneute) Hospitalisierun- len Beteiligten sollen neue Modelle er-
gen möglichst vermeiden, welche den arbeitet, ausprobiert, ausgewertet und
sich dauernd verändernden Rahmen- wiederum weiterentwickelt werden.
bedingen Rechnung trägt und innovati-
ves Denken und Handeln unterstützt.
̇ Finanzierung: Die Gruppe war sich ̈ DANIEL KASPER
bewusst, dass die neuen Wohnmodelle FACHSTELLE LEBENSRÄUME FÜR MENSCHEN
resp. eine differenzierte Angebots- MIT GEISTIGER BEHINDERUNG
struktur (bspw. Erfahrungsmöglichkei- BÜRGLISTR. 11, CH-8002 ZÜRICH / SCHWEIZ
ten vor der Entscheidung) einen erheb- EMAIL: DANIEL.KASPER@LEBENSRAEUME.CH
lichen finanziellen Aufwand bedeuten

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

Aus der Arbeitsgruppe 61 Aus Sicht der Profi-Teilnehmer der Arbeits-


gruppe entstehen Probleme in der Kooperation
u. a. durch Schwierigkeiten der Eltern bei der
Eltern und Profis – Ablösung, durch Überlastung („sie kommen mit
sich selbst nicht mehr klar“) oder durch Mei-
Widersprüche oder gemeinsamer Weg? nungsverschiedenheiten über eine ‚fachge-
MONIKA SEIFERT / JUTTA HILDEBRAND rechte‘ Betreuung bzw. Förderung von Be-
wohnern. Manche Eltern sind überängstlich im
Hinblick auf die Gewährung von Freiräumen
Als Grund für die Teilnahme an der Arbeits- und Selbstverantwortung für die Bewohner,
gruppe wurde u. a. die neue Heimmitwirkungs- andere stellen eigene Interessen in den Vor-
verordnung genannt, die die Rolle von Ange- dergrund ohne Berücksichtigung der Wünsche
hörigen stärkt, und die Erfahrung, dass die des Betroffenen oder agieren eigenmächtig
Zusammenarbeit mit Eltern als Teil der profes- ohne Dialog mit Mitarbeitern. Auch von Streit
sionellen Arbeit häufig zu kurz kommt. Insge- mit Eltern als gesetzliche Betreuer um die Gel-
samt wird die Kooperation als nicht sehr be- der für ihren Sohn oder ihre Tochter wurde
friedigend eingeschätzt. Unterschiede in berichtet. Manches Mal eskalieren Konflikte in
Sichtweisen, Zielsetzungen und Verhaltens- gegenseitigen persönlichen Kränkungen. Bis-
weisen gegenüber dem behinderten Menschen weilen erschweren Sprachgrenzen die Koope-
erschweren den Umgang miteinander und ration.
können unerwünschte Auswirkungen auf das Von Angehörigenseite konnten wegen der
Wohlbefinden der geistig behinderten Bewoh- geringen Teilnehmerzahl nur wenige Erfahrun-
ner2 haben. gen eingebracht werden. Neben positiven Be-
Zu den positiven Erfahrungen der Beteiligten richten über die Zusammenarbeit gibt es im
zählen zum Beispiel das Zusammengehen von Einzelfall Probleme in folgenden Bereichen:
Eltern und Profis bei der Hilfeplanung und der Das Verhältnis zwischen Angehörigen und
Lösung von akuten Problemen sowie gemein- Professionellen ist manchmal durch Macht-
sames Vorgehen gegen einschränkende Maß- Ansprüche der Mitarbeiter gegenüber Bewoh-
nahmen von Kostenträgern. Konfliktfelder nern und damit verbundene Fremdbestimmung
ergeben sich u. a. bei der Einbeziehung der belastet („Sie fühlen sich als Mutter oder Va-
Bewohner bei der Lösung von Konfliktsituatio- ter“). Ambivalente Gefühle gegenüber den
nen. Die häufigsten Ursachen für auftretende Betreuern können auf den Bewohner übertra-
Konflikte zwischen Eltern und Mitarbeitern sind gen werden („Die können mein Kind nicht lei-
mangelnde Kommunikation und die unzurei- den“). Probleme ergeben sich auch bei der
chende Berücksichtigung der unterschiedli- Gesundheitsvorsorge (z. B. bezüglich der Es-
chen Geschichte der Beteiligten. (Eltern ken- sensmenge bei Neigung zu Übergewicht) oder
nen ihr „Kind“ seit Geburt und in jeder Lebens- hinsichtlich des Umgangs mit Bewohnern mit
situation, der Betreuer hat diesen Beruf freiwil- Epilepsie („Ich als Mutter bin lange an die An-
lig gewählt und übt ihn 6-8 Stunden täglich fälle gewöhnt, Profis oft unsicher und deshalb
aus). Diese Beobachtungen stehen in Einklang übervorsichtig einerseits, andererseits nicht auf
mit Ergebnissen einer Studie von alle Eventualitäten eingestellt. Ich habe also
KLAUSS/WERTZ-SCHÖNHAGEN3, in der das auch Verständnis für manche Beule, manch-
‚tripolare Beziehungsgeflecht’ zwischen Eltern, mal frage ich mich aber auch, wie das passie-
Mitarbeiter und Bewohner als Spannungsfeld ren konnte. Aber noch nie Vorwürfe gemacht,
charakterisiert wird. weil ich weiß, wie schnell etwas passiert und
man nicht immer zugreifen kann.“)
Zur Verbesserung der Situation wurden fol-
1
gende Vorschläge gemacht:
TeilnehmerInnen: ca. 25 (davon 4, die für die Elternseite
sprechen) ̇ Im Mittelpunkt sollte immer der Wunsch
2
Im Interesse des Leseflusses wird bei Personengruppen der Nutzer stehen; der Bewohner sollte
nur die maskuline Form verwendet; Frauen sind jeweils selbst zu Wort kommen – seine Positi-
inbegriffen.
3 on ist ernst zu nehmen. Wenn er es
KLAUSS, Theo; WERTZ-SCHÖNHAGEN, Peter: Behin-
derte Menschen in Familie und Heim. Grundlagen der
wünscht (oder wenn er nicht für sich
Verständigung und Möglichkeiten der Kooperation zwi- selbst sprechen kann), können Eltern
schen Eltern und Betreuern. Weinheim 1992.

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

an der Zukunfts- bzw. Hilfeplanung be- eher die Interessen der Eltern im Vordergrund
teiligt sein. stehen könnten als die der behinderten Be-
wohner.
̇ Das Verhältnis zwischen Eltern/ Ange-
hörigen und Mitarbeitern sollte durch Der Stellenwert, der Eltern innerhalb einer
mehr Toleranz, Verständnis und Em- Einrichtung beigemessen wird, ist u. a. er-
pathie sowie Kontingenzfreudigkeit ge- kennbar in der Darstellung der Kooperation im
prägt sein. Rahmen des Leitbilds (z. B. „Wir wünschen
uns eine kritische Begleitung durch Angehöri-
̇ Es sollten regelmäßig Gespräche mit ge.“) und im Kontext der Maßnahmen zur
Eltern/Angehörigen stattfinden: wech- Qualitätssicherung bzw. -entwicklung (z. B.
selseitige Information, offene Ausspra- Befragungen zur Zufriedenheit der Angehöri-
che (zeitnah, wenn Probleme auftau- gen mit der Einrichtung). Das Ziel einer part-
chen) und gemeinsame Suche nach nerschaftlichen Zusammenarbeit ist noch nicht
Lösungswegen außerhalb der eingefah- überall erreicht. Unterschiede zeigen sich so-
renen Wege; genaue Absprachen und wohl auf der Ebene der Professionellen als
Einhalten der Vereinbarungen; bei Kon- auch in Einstellungen und Verhalten von El-
flikten sich in die Elternrolle versetzen. tern, z. B. in den neuen Bundesländern:
Bei festgefahrenen Problemen ist eine „Durch meine ehrenamtliche Arbeit in der Lebens-
neutrale Anlaufstelle sinnvoll (z. B. pa- hilfe und dadurch bedingte Kontakte zu Eltern in
ritätisch besetzter Konfliktlösungsaus- den alten Bundesländern habe ich dort bei Eltern
schuss als Vermittler bei festgefahre- wesentlich mehr Selbstbewusstsein und ein größe-
nen Konflikten4). res Anspruchsdenken hinsichtlich der Förderan-
sprüche unserer Kinder kennen gelernt. Hier im
̇ Erfahrungen und Ressourcen von El-
Osten sind noch immer viele Eltern vor allem voller
tern und Angehörigen sollten genutzt Dankbarkeit dafür, dass ihre Kinder überhaupt be-
werden – nicht nur hinsichtlich ihrer treut werden, dass ihnen überhaupt jemand die Last
Kompetenzen als Eltern, sondern auch zeitweise abnimmt. Ich habe beobachtet, dass sich
auf anderen Gebieten (z. B. Beruf). die Ansprüche häufig erschöpfen in der Forderung
̇ Notwendig erscheint eine Fortbildung nach sorgfältiger Behütung, nach Zuwendung und
Fürsorge. Die Ansprüche an systematische fachlich
für Eltern über aktuelle Leitideen der
fundierte Förderung sind eher weniger ausgeprägt.
Behindertenhilfe (z. B. Selbstbestim- Trotzdem erwarten vor allem die Mitglieder der
mung) und über rechtliche Ansprüche Lebenshilfe und die jüngeren Eltern zunehmend
sowie eine Sensibilisierung der Eltern mehr als Aufbewahrung von den Einrichtungen. Das
für Entwicklungen in der Behinderten- kollidiert aber zur Zeit sehr stark mit den Möglich-
hilfe. keiten der Träger, die Fachkraftquote auf der bishe-
̇ Die Eltern- bzw. Angehörigen-Arbeit ist rigen Höhe zu halten. Kürzungen bzw. langjähriges
Stagnieren der Pflegesätze bringen Probleme mit
als konzeptioneller Bestandteil der sich. Auch die Bezahlungsunterschiede zwischen
professionellen Arbeit zu verankern Ost und West sorgen immer öfter für Mangel an
(Konzepte und Schulungen). Allerdings hoch qualifiziertem Fachpersonal“ (JUTTA HILDE-
wurde die Befürchtung geäußert, dass BRAND, Sachsen-Anhalt; Mutter einer erwachsenen
hinsichtlich der dafür erforderlichen Ar- Tochter mit schwerer Behinderung).
beitszeit Schwierigkeiten entstehen
könnten. Auch wenn in Anbetracht der begrenzten Zeit
der Arbeitsgruppe viele Aspekte nur angeris-
Das Problem der Elternmitwirkung bei der
sen werden konnten, hat die Diskussion Anre-
Umsetzung des Heimgesetzes und der neu-
gungen für die Arbeit vor Ort gegeben.
en Heimmitwirkungsverordnung bewegt alle
Beteiligten in starkem Maße. Dabei zeigen sich ̈ DR. MONIKA SEIFERT, UNIVERSITÄT ZU KÖLN
zwiespältige Erwartungen. Einerseits werden HEILPÄDAGOGISCHE FAKULTÄT
die Chancen für die Beteiligung der Nutzer KLOSTERSTRAßE 79B, 50931 KÖLN
E-MAIL: M.SEIFERT@UNI-KOELN.DE
begrüßt, andererseits gibt es wegen der mögli-
chen Zusammensetzung der Heimbeiräte (bis ̈ DR. JUTTA HILDEBRAND
zu 4 : 5 / Eltern : Nutzer) Befürchtungen, dass LEBENSHILFE-LANDESVERBAND SACHSEN-ANHALT
ACKERSTR.23, 39112 MAGDEBURG
4
HOLM, Christa: Einmischung unerwünscht. Kompetenz- WWW.LEBENSHILFE-LSA.DE
gerangel zwischen Eltern und Fachleuten. In: Zusammen
5 (1997) 32-33

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ___________________________________________

Aus dem Workshop 1: stungsorganisationen und ihre professionellen


Mitarbeitenden. So einfach stellt sich mir die
Lage nicht dar. Diese Befürchtungen und Äng-
ste sind aber in unseren Köpfen. Sie müssen
Ohne Institution leben – ausgesprochen und sehr sorgfältig bearbeitet
werden. Das ist mein Standpunkt.
was muss sich in der Ge-
meinde verändern? Bewusstseinsveränderung
THEODORUS MAAS Wenn die Hilfen nicht mehr in den Institutionen
geleistet werden – leben ohne Institution eben
- dann in der Gemeinde. Das ist die Bedeu-
„Community care“ - „institutional care“ tung der Frage „Was muss sich in der Ge-
meinde verändern?“ Oder „Wie kann es gelin-
Ich befasse mich in der Evangelischen Stiftung gen, dass die Gemeinwesen die Hilfen zu
Alsterdorf seit einigen Jahren mit den Thema Verfügung stellen, welche Menschen mit Lern-
„community care“. Dieser aus dem angelsäch- schwierigkeiten benötigen?“
sischen Raum stammende Begriff steht für ein Die erste Antwort darauf muss sein, dass sie
neues Verständnis und für eine neue Praxis die Menschen mit Lernschwierigkeiten als
von Hilfen u.a. für Menschen mit Behinderung. vollwertige Mitglieder, als Bürger eben, in ihren
Die neue Praxis steht im Gegensatz zum her- Gemeinwesen überhaupt wahrnehmen und
kömmlichen Verständnis von „institutional ca- berücksichtigen, was bedeutet, dass sie für sie
re“, auf Deutsch Anstaltsfürsorge. und ihre Hilfen verantwortlich sind. Die Rück-
Der Titel unseres Workshops spricht nicht von verlagerung der Verantwortung von den Insti-
Anstalt, aber mit Institution ist die spezielle tutionen in die Gemeinden und auf die Schul-
Einrichtung gemeint, eben speziell für z.B. tern ihrer Bürger, wie KLAUS DÖRNER dieses
Menschen mit Lernschwierigkeiten - und ge- nennt. Dies bedeutet eine Bewusstseinsverän-
nau diese steht hier in Frage, wenn es darum derung, die jedoch nicht gelingen kann ohne
geht, sich ein Bild davon zu machen, was sich dass sie von der Praxis begleitet wird. Was es
in der Gemeinde verändern muss, wenn man bedeutet, Verantwortung für Menschen mit
ohne Institution leben will. Lernschwierigkeiten zu übernehmen, kann
Es steht noch etwas hinter dem Titel, das ich man nur erfahren, wenn man es tut.
gleich zu Anfang hervor holen will. Der Titel Dies ist mein zweiter Standpunkt: Es muss
suggeriert durch seine Frageform, dass sich sich in den Gemeinden nicht erst alles zum
etwas verändern muss in der Gemeinde. Der Besten gewendet haben, bevor Menschen mit
neue Ort zum Leben ist die Gemeinde, das Lernschwierigkeiten in ihnen leben können. In
Gemeinwesen, und das muss sich verändern, den Erfahrungen der tagtäglichen Praxis im
wenn Leben ohne Institution gelingen soll. Ich Umgang miteinander liegt die Chance der Be-
schließe mich dieser Vorstellung an und will wusstseinsveränderung. Diese Chance darf
damit meinen Standpunkt klarmachen. nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.
Die institutionelle Form der Hilfen für Men- Das ist der Grund für einen weiteren Stand-
schen mit Lernschwierigkeiten steht zu Recht punkt meinerseits: Wir sprechen hier von an-
oder zu Unrecht in der Kritik, das sei hier dahin spruchsvollen Veränderungsprozessen, die
gestellt. Nicht in Frage steht, dass Menschen ohne sorgfältige Planung und professionelle
mit Lernschwierigkeiten Hilfe benötigen, unter- Begleitung leicht daneben gehen. Darüber sind
schiedliche, ja sehr individuelle Hilfen, Hilfe wir auf unseren Exkursionen nach Neu-
nach Maß eben, nach dem individuellen Maß- England in Rhode Island und New Hampshire,
aber dennoch Hilfen. Ich lege großen Wert auch in Schweden und Holland und in London
darauf, dieses hier so deutlich zu sagen, damit mehrfach und sehr eindringlich belehrt worden.
von vornherein der Eindruck vermieden wird,
als wäre der Verzicht auf institutionelle Hilfe Politische Verantwortung
ein leichter Weg zu gehen für Menschen mit
Lernschwierigkeiten, dazu noch ein wunderba- Die erforderliche Bewusstseinsveränderung in
res Kostendämpfungsprogramm für die öffent- den Gemeinden und damit der ganze Prozess
liche Hand und das Aus für die Dienstlei- kann nur gelingen, wenn die politisch Verant-

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ___________________________________________

wortlichen ihn wollen und befördern. Dazu sierter Gruppen, wie Obdachlose, Asylsu-
braucht es Gesetze, natürlich, aber Gesetze, chende u.ä. mehr. Daran lässt sich nicht
die deutlicher und unmissverständlicher sind nur die Bereitschaft ablesen, sondern auch
als die, welche wir in den letzten Jahren in die geübte Praxis in diesem konkreten
unserer Republik erleben durften. Aber auch Gemeinwesen. Wie offen ist ein Gemein-
nicht nur Gesetze. Die politisch Verantwortli- wesen für so genannte Abweichler und wie
chen vor Ort müssen die Veränderungen mit geht sie formell und informell mit ihnen
begleiten. um?
Ein konkretes Beispiel aus der jüngeren Al- Die Antwort auf diese Fragen gibt auch
sterdorfer Geschichte macht dies deutlich. Auskunft über die Akteure im Gemeinwe-
Anlässlich eines Neubaus mit siebzehn Apart- sen, auf die möglichen Ansprechpartner,
ments für Menschen mit Lernschwierigkeiten die hilfreich sind bei der Verwirklichung
im Stadtteil Fuhlsbüttel organisierte sich im von Inklusion. Es macht ohnehin viel Sinn,
Stadtteil der Widerstand. Wie hätten wir diesen die Einrichtungen und Menschen aufzu-
Widerstand ausgehalten ohne die klare Posi- spüren, die offen sind für diese Bewegung
tionierung des Ortsausschusses im Bezirk und dafür, die Interessen von Menschen
Nord? Die Rückverlagerung von Verantwor- mit Lernschwierigkeiten zu vertreten oder
tung in die Gemeinden gelingt nur im Einver- zumindest zu berücksichtigen. Auf die so
nehmen mit den Verantwortlichen. Dazu gehö- gewonnene Einsicht in ein Gemeinwesen
ren nicht nur die Politiker sondern auch andere können die Planungen für eine Teilhabe
Vertreter des öffentlichen Lebens. Sie müssen am Leben in dieser Gemeinde aufbauen.
gewonnen werden. Tut man dieses nicht oder Dies gilt auch dann, wenn in einem Stadt-
nicht ausreichend, geht man das Risiko ein, teil sich Bürger zusammentun, um gegen
nicht nur den Widerstand zu mobilisieren son- neue Wohnprojekte zu agieren.
dern auf Dauer auch solche neuen Projekte Diesen Weg sind wir in Alsterdorf bereits
von vornherein zu isolieren und die Chance vor 20 Jahren gegangen als wir das
auf ein Miteinander damit zu verspielen. Natür- Wohnprojekt Schnelsen für 34 Personen
lich ist Augenmaß für Verhältnismäßigkeit ge- aus der Zentraleinrichtung planten. Der
boten und die Rückverlagerung von Verant- Stadtteil wurde von Mitarbeitern der Stif-
wortung darf nicht die Gemeinde überfordern, tung erforscht und Kontakte wurden ge-
z.B. durch unverhältnismäßig große Ansied- knüpft. Davon hat dieses Projekt in seiner
lung von Menschen mit Behinderung. Auch Anfangsphase sehr profitiert. Nicht immer
dazu haben wir in Alsterdorf in jüngster Ver- sind wir so konsequent vorgegangen und
gangenheit unsere Erfahrungen gemacht. jetzt steht das Dezentralisierungspro-
gramm unter einem gewaltigen Zeitdruck,
Anforderungen an Inklusion weil wir uns verordnet haben, von zentra-
len überalterten Wohngebäuden auf unse-
Einige wichtige Anforderungen an die Gesell-
rem Gelände Abschied zu nehmen und
schaft hat MICHAEL TÜLLMANN, Leiter der Be-
geeigneten Wohnraum für die ausziehen-
hindertenhilfe im Rauhen Haus in Hamburg,
den Menschen finden müssen, was nicht
formuliert und ich möchte sie hier kommentie-
immer einfach ist.
ren.
̈ Vermeidung von falschen und folgen-
̈ Die Inklusionsbereitschaft der Gesell-
schweren Zuschreibungen: Falsche
schaft muss realistisch erfasst werden.
Vorstellungen von Inklusionsbereit-
Die Ausweitung dieser Bereitschaft
schaft der Gemeinwesen schaden den
muss mit operationalisierbaren Zielen
behinderten Menschen genauso wie ein
politisch und praktisch betrieben wer-
unrealistisch unterstelltes Selbststän-
den.
digkeits- und Selbstbestimmungspoten-
Sicherlich ist das Gemeinwesen, die Ge- tial. Sie können Gesundheitsgefähr-
meinde oder der Sozialraum darauf hin zu dung, Isolation und Kriminalisierung
untersuchen, ob und in welchem Umfang zur Folge haben.
dort bereits vergleichbare Prozesse der In-
Gelegentlich ist noch die Meinung vorherr-
klusion statt finden oder statt gefunden
schend, dass Leben in der Gemeinde oh-
haben z.B. hinsichtlich anderer marginali-
ne Institution nur den sogenannten „fitten“

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ___________________________________________

vorbehalten ist. Das Dezentralisierungs- Auf der Seite der Gemeinwesen bedeutet
programm unserer Einrichtung ist davon dieses die Bereitschaft, sich den neuen
lange Zeit gekennzeichnet gewesen, auch Teilnehmern und ihren Wünschen nach
wenn von Anfang an mutige Mitarbeitende Teilnahme zu öffnen.
mit schwerst und mehrfach behinderten Es wird so allmählich deutlich, dass hier
Menschen ausgezogen sind. Leben in der eine neue Art der Assistenz gebraucht
Gemeinde muss auch ihnen möglich sein, wird, die wir gelegentlich als „Brückenbau-
auf die Assistenz kommt es an. erfunktion“ beschreiben. Der Brückenbau-
Leben in der Gemeinde ohne Institution er verbindet zwei Ufer miteinander, damit
darf nicht verwechselt werden mit Leben Menschen leichter zueinander kommen
ohne Assistenz oder selbständig leben. können.
Gerade bei den sogenannten leichter be-
hinderten Menschen besteht die Gefahr ̈ Verpflichtung der Öffnung aller öffent-
der Überschätzung, Verwahrlosung kann licher Räume und Angebote für Men-
die Folge sein. Dieses Bild ist der Teil- schen mit Behinderungen
nahme am Leben in der Gesellschaft nicht Leben ohne Institution bedeutet zwar Le-
zuträglich. ben ohne die spezifische institutionelle
Unterstützung oder Betreuung, es bedeu-
̈ Aufklärung der Gesellschaft über die tet nicht der Verzicht auf Unterstützung
Grenzen der Teilhabe behinderter Men- überhaupt. Anstelle der spezifischen insti-
schen allein durch Sozialhilfe finanzier- tutionellen Unterstützung tritt die Nutzung
ter Unterstützungsformen der allgemeinen Dienste und Einrichtun-
An dieser Aufklärungsaufgabe sind einige gen des Gemeinwesens, wie wir alle das
Dinge fest zu machen. Die derzeitigen von tun.
der Sozialhilfe finanzierten Unterstüt- Dies hat zweierlei Implikationen: Erstens
zungsformen zur Eingliederung sind weit- sind die Menschen mit Lernschwierigkeiten
gehend noch institutionsgebunden. Der darauf nicht vorbereitet und darin nicht ge-
weit überwiegende Teil ist zudem dem übt, aber zweitens sind auch die allgemei-
stationären Setting gewidmet. nen Dienste und Einrichtungen darauf
Volle Teilhabe am gesellschaftlichen Le- nicht vorbereitet. Die Forderung nach Öff-
ben in der Gemeinde muss zwangsläufig nung aller öffentlicher Räume und Ange-
andere Prioritäten setzen. Sie nimmt den bote für Menschen mit Behinderung ist da-
Ausgangspunkt zwar in einer genauen Klä- her zu ergänzen mit dem Angebot der
rung von dem, wie jemand leben will und flankierenden Unterstützung durch die
was sie oder er dazu braucht, aber bezieht professionellen Unterstützer. Hier wird die
das örtliche Gemeinwesen und seine Mit- Funktion des Brückenbauers erneut kon-
glieder ausdrücklich ein in die Verwirkli- kret.
chung dieser Vorstellungen. Ein Beispiel macht deutlich worum es geht.
Die dezentrale Ansiedlung von Wohnan- Eine ältere Bewohnerin eines dezentralen
geboten in den Gemeinwesen beinhaltet Wohnhauses in Hamburg Nord ist bekannt
für sich genommen noch keineswegs Teil- wegen ihrer Vorliebe für Handarbeiten. Die
nahme am Leben im Gemeinwesen. Dazu Kirchengemeinde, in der sie lebt, bietet
braucht es über dieses Wohnen hinausge- einmal die Woche für Senioren einen
hende Kontakte zu Einrichtungen, Perso- Handwerksnachmittag an. Die Gruppe hat
nen u.ä. im Gemeinwesen. Dieses geht aber keinerlei Erfahrung im Umgang mit
schon deswegen nicht von alleine, weil Menschen mit Lernschwierigkeiten. Wie
Menschen mit Lernschwierigkeiten oft lan- kommen nun beide Seiten zusammen?
ge Zeit in den Institutionen verbracht ha- Hier ist die Aktivität einer Mitarbeiterin hilf-
ben und mit dieser nicht gewohnten, offe- reich gewesen, die beide Seiten kennt,
neren Lebensweise nicht vertraut sind. In sowohl die Dame mit ihren Neigungen und
der Regel werden sie dazu individuell an- Vorlieben als auch das Angebot der Senio-
gemessene Assistenz und Begleitung rengruppe und ihre Leiterin.
brauchen, damit Kontakte geknüpft werden Nach Vorgesprächen mit der Gruppe und
und die Nutzung der allgemeinen Einrich- ihrer Leiterin hat sie die Dame bei ihrem
tungen im Gemeinwesen stattfinden kann..

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ___________________________________________

ersten Besuch in der Gruppe begleitet und rigkeiten sind Menschen mit Rechten und
dafür gesorgt, dass die Hemmschwellen Möglichkeiten, die ihren Beitrag in der Ge-
abgebaut werden. Bei der Gelegenheit war sellschaft einbringen können. Dass sie da-
ihr deutlich geworden, wie traditionell noch zu Unterstützung benötigen, ist eine
die Vorstellungen von Menschen mit Lern- Selbstverständlichkeit, die dennoch immer
schwierigkeiten als hilflose Wesen in die- wieder gesagt werden muss, genauso,
ser Gruppe (und sicherlich nicht nur dort) dass diese Unterstützung Geld benötigt.
sind. Die Leiterin hat ihre bevormundende Dies hat mit herkömmlicher Darstellung
Vorgehensweise so ausgelebt, dass die von Menschen mit Behinderung als mit-
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des leidwürdigen Geschöpfen nichts mehr zu
Wohndienstes sich bereits überlegten, die tun. Die öffentliche Diskussion darf daher
ältere Dame von der Teilnahme abzumel- nicht den sozialen Einrichtungen überlas-
den, da sie kontraproduktive Wirkungen für sen werden.
ihr sonst auf „Selbstbestimmung“ ausge- Während der anschließenden Diskussion
richtete Assistenzleistungen befürchteten. anlässlich eines Vortrages über Commu-
Hier brauchte es erneut die intensive Ver- nity Care an der Fachhochschule für Sozi-
mittlung besagter Mitarbeiterin, damit die alpädagogik in Hamburg wurde vom Fach-
Teilnahme an diesem Seniorenangebot bereichsleiter die lapidare Feststellung in
der Kirchengemeinde weitergeht. den Raum gesetzt, dass also nun auch
Dies ist ein relativ harmloses Beispiel, wel- noch die geistig gehinderten Menschen die
ches aber gleichwohl die vielen Facetten Ressourcen des Gemeinwesens anzapfen
des Geschehens deutlich macht. U.a. ist würden. Ob dies nun ernst gemeint war
aus der intensiven Diskussion dieses Vor- oder in Spaß gesagt wurde, sei dahin ge-
ganges die Idee geboren, von Alsterdorf stellt. Es kann aus der Sicht einer inklusi-
aus die Kirchengemeinden aufzusuchen ven Betrachtungsweise nicht die Frage
und mit den Pastorinnen und Pastoren und sein, ob nun auch Menschen mit Lern-
den Gemeindevorständen, in deren Ge- schwierigkeiten teilhaben dürfen oder kön-
meinden Menschen mit Lernschwierigkei- nen. Es darf auch nicht von der professio-
ten aus Alsterdorf leben, das Gespräch zu nellen Präferenz abhängig sein, wer wohl
suchen und die neue Behindertenhilfe be- und wer nicht teilhat.
kannt zu machen. Dabei wird die Frage ei- Alle sind Bürger mit gleichen Rechten und
ne große Rolle spielen, die wir hier disku- Pflichten und haben gleiche Rechte auf
tieren: Was muss passieren, damit Men- Teilhabe. Dies ist die Botschaft der neuen
schen mit Lernschwierigkeiten teilnehmen Bewusstseinsbildung.
können in den Kirchengemeinden. Auch
unter den Pastoren gibt es einige, die mit
Menschen mit Lernschwierigkeiten im
Gottesdienst ihre Schwierigkeiten haben.
Andere wiederum stehen offen und freuen Ergebnisse des Workshops 1
sich über die neuen Gemeindemitglieder. in Kurzfassung
̈ Öffentliche Diskussion über Inklusion
und Exklusion als Ausdruck von ge- I. Erwartungen der Teilnehmerinnen,
sellschaftlicher Wirklichkeit und nicht die sie an diesen Workshop stellen:
als Fantasielosigkeit der in der Gesell- ̇ Suche nach Perspektiven für Menschen in
schaft zuständigen Institutionen des der Einrichtung
sozialen Bereiches. ̇ Möglichkeiten, wie schwerbehinderte Men-
Die öffentliche Diskussion über Inklusion schen ambulant betreut werden können
und Exklusion muss stattfinden. Sie findet ̇ Vernetzung in der Region
bei uns in Deutschland ungenügend statt.
Noch vielmehr als bisher muss über die ̇ Problem mit Gemeinden bei/ durch De-
Medien Meinungsbildung betrieben wer- zentralisierung
den. ̇ „Ich konnte es mir gar nicht vorstellen“
Die Leitlinien dieser neuen Meinungsbil- ̇ „Was können wir tun für die Integration in
dung sind klar: Menschen mit Lernschwie- der Gemeinde?“

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ___________________________________________

̇ Regionalisierung der Angebote- wie ̇ Es braucht Netzwerke von therapeutischen


kommt man in die Gremien? und medizinischen Hilfen.
̇ Widerstand: Aktionen gegen Wohngrup-
pen in den Gemeinden These 2:
̇ „Wie kann ich Brücken bauen?“ Was muss Leben im Gemeinwesen bedeutet Nutzen
sich in den Gemeinden verändern? der allgemeinen Angebote, der Regelein-
̇ Wie gelingt die Integration schwerstbehin- richtungen und Regeldienste. Wie geht
derter Menschen? das?
̇ Wie baut man Kontakte auf? Wie gestaltet ̇ Es geht nur in Kleingruppen
man Nachbarschaft?
̇ Präsent sein bei geeigneten Anlässen:
̇ Kostendruck führt zum Stopp von Projek- Festen, Aktivitäten
ten: Suche nach Alternativen
̇ Vereine ansprechen und einladen
̇ Abbau von vollstationären Plätzen
̇ Schulen und Kindergärten einbeziehen
̇ Je nach Umfeld gibt es Probleme beim
̇ Politiker und Meinungsträger gewinnen
Zusammenleben: die Feindlichkeit wächst
̇ Wie kann man Umfeldressourcen mobili-
sieren für ein Netzwerk? These 3:
̇ Die Entwicklung in England schreckt die Die neue Assistenz braucht die Entwick-
Öffentlichkeit auf. Braucht es weiter auch lung des Berufsbildes. Das neue Profil ist ...
Heime?
̇ nicht nur bezogen auf Wohnen, sondern
̇ Es wird sich entwickeln. auf das ganze Leben
̇ wir sind für die Menschen da und nicht
umgekehrt
II. Anhand folgender drei Thesen kom- ̇ individuelle Ausrichtung der Assistenz
men die Teilnehmerinnen zu einer Rei- (persönliche Assistenz)
he von Aussagen: ̇ Einstellungen ändern, Bewusstsein ver-
ändern
These 1: ̇ Netzwerkarbeit
Auch schwerst mehrfach behinderte Men- ̇ starre Schichtdienstpläne sind institutionell
schen können im Gemeinwesen leben und bedingt. Gebraucht wird Flexibilität und
teilhaben Mobilität
̇ der neue Anreiz der Arbeit ist
̇ Die Anstalt muss raus aus den Köpfen - die Entwicklungsperspektive des Men-
aller: schen mit Behinderung
- der Mitarbeiter - Unterstützung nach dem individuellen
- Gemeinwesen Maß, dem Bedarf angepasst und be-
- Politiker und Gesetzgeber wusst auf Veränderung ausgelegt
(mehr, aber auch weniger)
- Wissenschaft
̇ Die Ausbildungsinhalte müssen verändert
̇ Umschichtung von Pauschalen zu indivi- werden. Insbesondere ist aufzunehmen die
duellen Leistungen und Möglichkeiten „Persönliche Assistenz für schwerst mehr-
(„muss-, soll- und kann-Staffelung“ von fach behinderte Menschen“.
Leistungen muss auch für schwerstmehr-
fachbehinderteMenschen gelten)
̈ THEODORUS MAAS
̇ Es braucht Fürsprecher auch nicht-
EVANGEL. STIFTUNG ALSTERDORF
professioneller Art und Stadtteilkonferen-
DOROTHEA-KASTEN-STR. 3, 22292 HAMBURG
zen
WWW.ALSTERDORF.DE
̇ Es braucht Professionelle, um Netzwerke
aufzubauen und zu pflegen

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ___________________________________________

Aus dem Workshop 2:

Assistenz und Gemeinwesenarbeit als Profession


Was verändert sich in Berufsbild und Arbeitsfeld der Behindertenarbeit ?
Materialien zum Workshop, zusammgestellt von
KAI-UWE SCHABLON

DHG Tagung : Leben ohne Institution ? 3. Kritische Anmerkungen zu den Leitideen:

1. Erwartungen aus dem Praxisfeld: Paradigmenwechsel Selbstbestimmung


6 Inflationäre Züge 6 Problem der
Kompetenzen in Bezug auf: Milieudifferenz
6 P. führt zu einer
inhaltlichen 6 Auflösen von sozialen
6 Fallbesprechungen Verunsicherung Bezügen
6 Übergang von der 6 Soziale - und individuelle
6 Konzepterstellungen Industrie - zur Kategorie
Wissensgesellschaft 6 Optionen und Ligaturen
6 „Verstehens“-Prozesse (Beobachtung, Reflexion, Handeln) 6 Wichtig : berufsethische
Haltung

6 Umsetzung von Hilfeplanungsergebnissen Anlage 1: Schaubild aus: NIEHOFF, LIERSCH,


SCHÄFFNER: Auf dem Weg zu mehr Selbstbe-
6 Team - Anforderungen gerecht werden stimmung ? Curricula der Fachschulen für
Heilerziehungspflege unter die Lupe genom-
6 Menschenbild, Haltungsfragen klären men
Anlage 2: Folie zum Arbeitsauftrag: „Ver-
6 Angehörigenarbeit schiebung von Einfluss und Kontrolle“ (freund-
liche Leihgabe von Herrn TÜLLMANN, Rauhes
6 Außendarstellung (als „Profi“) Haus, Hamburg)
Anlage 3: Schaubild (SCHABLON) Was braucht
6 Verwaltungsanforderungen (Ablage, Dokumentation)
ein Mitarbeiter ?
Anlage 4 : (SCHABLON) Veränderungen für
Nutzer, Mitarbeiter und das Gemeinwesen
Verwendete Literatur:
BENKMANN, RAINER: Sonderpädagogische
2. Kritik an der derzeitigen Ausbildungspraxis Professionalität im Wandel. Zeitschrift für
Heilpädagogik Heft 3/2001
NIEHOFF, LIERSCH, SCHÄFFNER: Auf dem Weg
Niehoff, Liersch, Schäffner:
zu mehr Selbstbestimmung. Behindertenpäd-
agogik, Heft 3 / 2001
„Curricula der Fachschulen für THIMM, WALTER: Kritische Anmerkungen zur
Heilerziehungspflege unter die Lupe Selbstbestimmungsdiskussion in der Behin-
genommen.“ dertenhilfe. Zeitschrift für Heilpädagogik 6/97

BEHINDERTENPÄDAGOGIK, 40.Jg. , Heft 3/2001, Seite 376-389

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ___________________________________________

DHG Tagung: Leben ohne Institution Lebensweltorientiertes Projekt zum Thema


„Bildung“ im 5. und 6. Semester
Was verändert sich in der Ausbildung
professioneller Helfer ? Vermittlung eines systemisch-konstruktivistischen
Weltbildes,um die Realität und Instruierbarkeit
anderer Menschen in Frage zu stellen
Heilerziehungspflege =
Heilen ? Erziehen ? Pflegen ? Wege zur selbständigen Lebensführung
(Independent Living, Empowerment, Community
Care, Inklusionspädagogik)

Was verändert sich in der Ausbildung ?

Aufhebung der Fächer : Lernen in Lernfeldern


und an Lernsituationen

Trennung von „Erziehung & Förderung“ und Weiterbildung in „Community Care“


„Begleitung & Bildung“durch eine partielle Außerdem bieten wir eine Weiterbildung
Separierung in die Bereiche „Kinder- und
„Community Care“ für ehemalige
Jugendarbeit“ und „Erwachsenenbildung“
Studierende und Mitarbeiterinnen der
Behindertenhilfe an, um einen Einblick in
mögliche Konsequenzen des
Paradigmenwechsels zu ermöglichen

Besuch bei Selbsthilfegruppen:

„Autonom Leben“
„People first“
Hamburger Arbeitsassistenz“ DHG Tagung: Leben ohne Institution
Stadthaushotel
usw.
Was wäre für eine Verschiebung von
Einfluss und Kontrolle nötig ?

Welche Veränderungen brauchen Sie in


Ihrem Arbeitskontext ?

Persönliche Zukunftsplanung

Anfertigung einer persönlichen


Zukunftsplanung nach Stefan Doose
mit einem Menschen mit Assistenzbedarf

(im 4.Semester /Projekt:„Lebenswelt“/


Praktikum II)

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ___________________________________________

Einflüsse des Paradigmenwechsels auf die Praxis


Erfahrungsaustausch: „Hat sich etwas bewegt ?“

BEGRIFFE VERWAHRUNG Förderung Begleitung

ZEITSCHIENE 1945-60ER JAHRE, PUNK- 60er- bis in die 90er Jahre ab ca. Mitte der 90er Jahre
TUELL AUCH HEUTE NOCH

MENSCHENBILD BIOLOGISTISCH-NIHILISTISCH pädagogisch-optimistisch vollakzeptierend


(THEUNISSEN) lernfähig gleichartige Persönlichkeit
NICHT LERNFÄHIG „Aus dir kann etwas wer- „Du bist“
„DU BIST NICHTS, DU KANNST den“
NICHTS“
PROFESSIONELLE VERWAHREN FÖRDERN BEGLEITEN
HANDLUNGEN
ZIELE GUTE PFLEGE: KOMPETENZERWERB LEBENSQUALITÄT
SATT UND SAUBER VERSELBSTÄNDIGUNG SELBSTBESTIMMUNG
PROFESSIONELLE IM BESTEN FALL: FÖRDERPLAN ZUKUNFTSPLANUNG,
INSTRUMENTE PFLEGE UND BEHANDLUNGS- ERWACHSENENBILDUNG
PLAN

INSTITUTIONALISIERTE PSYCHIATRISCHE Sondereinrichtungen Offene Hilfen


HILFEN KRANKENHÄUSER, AN- (Reha-Kette)
STALTEN

WICHTIGE BEZUGSGRUPPEN MEDIZINER, KRANKEN- Eltern; Pädagogen und Begleiter/Assistenten,


PFLEGER, KRANKEN- Therapeuten Eltern und Angehörige
SCHWESTERN

Quelle: ULRICH NIEHOFF: Selbstbestimmung, Assistenz, Begleitung. Professionelles Handeln unter neuen Para-
digmen. In: DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT (Hg.): Hilfe nach Maß ?! DHG-Schriften Nr. 6:
Mainz/Düren 2001, S. 11

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ___________________________________________

Community Care -
ein Weiterbildungsangebot der Fachschule für Heilerziehung

Inhalt: Mit der Diskussion um einen Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe verändert sich auch die gesell-
schaftliche Stellung des Menschen mit Assistenzbedarf. Eine Neuorientierung unter dem Aspekt „Selbstbestim-
mung“ prägt zunehmend die Unterstützung bzw. Assistenz in der Behindertenhilfe.
Der Mensch mit Assistenzbedarf und seine Wünsche stehen im Vordergrund, nicht die „Behinderung“. Die gesell-
schaftliche Einbindung (Community Care) und der gesetzliche Rahmen (§ 93 BSHG / SGB IX) bestimmen die
praktische Umsetzung der Autonomie maßgeblich.
Durch das Kennenlernen der gegebenen Rahmenbedingungen und Konzepte können Überlegungen zu einer
Veränderung seitens aller Beteiligten erarbeitet werden.
̇ Was verbirgt sich hinter Community Care ?
̇ Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten braucht ein Mitarbeiter ?
̇ Welche Rolle spielt das Entwicklungsniveau für die Autonomie eines Menschen ?
Die Teilnehmer müssen ihr Verständnis von professioneller Begleitung in Bezug auf die Autonomiewünsche des
Menschen mit Assistenzbedarf und ihr Bild von einer Behinderung im Kontext dieser gesellschaftlichen Verände-
rungen neu reflektieren.
Um einen hohen Praxisbezug zu gewährleisten wird jede/r TeilnehmerIn anhand eines subjektzentrierten Instru-
mentes (hier: Persönliche Zukunftsplanung nach Stefan Doose) eine Annäherung an die Wünsche einer Person
mit Assistenzbedarf erstellen. Außerdem wird jede Blockwoche durch Menschen mit Assistenzbedarf unterstützt
und durch Kolloquien „Vor Ort“ evaluiert.

Termine : Die Weiterbildung findet in vier Blockwochen (Montag bis Freitag von 9.00 bis 16.00 Uhr) statt.
Insgesamt 132 Stunden
Preis : 750,- Euro incl. Arbeitsmaterialien und Imbiss
Leitung : Kai – Uwe Schablon und Usula Riebeling (Fachschule für Heilerziehung)
Gastreferenten: Pastor Rolf Baumbach (Ev. Stiftung Alsterdorf)
(angefragt) Stefan Doose ( Persönliche Zukunftsplanung)
Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner
Doris Haacke ( People first)
Thomas Hoffmann (Uni Reutlingen)
Karl- Ulrich Iden ( Schlumper Maler)
Prof. Evemarie Knust –Potter (FH Dotmund)
Theodorus Maas ( Ev. Stiftung Alsterdorf)
Rüdiger Pohlmann ( Leben mit Behinderung)
Klaus Schubert ( WfB MA & Lebenskünstler)
Udo Sierck ( Mitinitiator „Krüppelbewegung“)
Gabriele Splinter ( Fachschule für Heilerziehung)
Michael Tüllmann (Stiftung Rauhes Haus)
Gert Westphal ( Dipl. Psychologe / Supervisor)
Prof. Dr. Andre Zimpel (Uni Hamburg)

Interessenten wenden sich bitte an die


Fachschule für Heilerziehung
Sengelmanstr.49
22297 Hamburg
Kai – Uwe Schablon
Telefon : 040/ 5077-4218

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Was braucht ein Mitarbeiter bei Community Care ? (Schaubild: KAI-UWE SCHABLON)

Definition / Umschreibung von Handlungsgrundsatz : Theoretische Verortung :


Community Care „ Jeder kann alles Lernen !“ - Systemtheorie
Philosophie : „ Jeder ist Experte in eigener - Nicht-Instruierbarkeit von Menschen.
R Vision von Community Care Sache“
( Idee / Begeisterung )
A Verständnis über die
Grundaussagen in der
H
Behindertenpädagogik
M
Ressourcen und Selbsterfahrung Analyse des eigenen Erfahrungen der Kursteilnehmer beobachten,
E Tätigkeitsverständnisses. zur Kenntnis nehmen und
( eigenes Erleben der beschreiben,
Teilnehmer) Überschneidungen / Unterschiede auswerten rückkoppeln
N
zur Vision Community Care
B
Abstrakter Transfer :Aus der Kompetenz in Bezug auf Entdecken und
E Selbsterfahrung folgende den Nutzer vermuten was ein Kommunikations-
Ableitung . Welche Fähigkeiten Nutzer will techniken kennen,
D Kompetenz in Bezug auf
muß ein MA. CC. haben ? zuhören können, Pädagogischer
die Gesellschaft
Netzwerk, mit sich zurücknehmen Optimismus
I Gesellschaftlichen Kontext allem was Persönliche
in Wechselbezug mit dazugehört Zukunftsplanung
N institutioneller
Konkreter Transfer : Welche
Sozialisation wahrnehmen Soziales Umfeld Soziologischer
G Bedeutung haben die
erworbenen Kompetenzen für unterstützen Optimismus

U mich persönlich ?
Wohnfelderkundung
Soziale Karte : Nicht „für“ nur „mit“ dem
N Netzwerk aufbauen, ( allgemein + Klienten. („face to face“)
pflegen u. nutzen persönlich )
G Professionelles Coaching Lebensweltanalyse Ratschläge so anbieten, dass der
Praktische Sozialarbeit ( vermitteln, Nutzer eine wirkliche Auswahl hat
E Evaluation / Zertifikat verhandeln, Konflikte handhaben
Subjektlogik rekonstruieren. (Biografie-
N Überleitung zu einem arbeit, biologischer Aspekt,
„ berufsmäßigen“ Coach für Innenbeobachter...)
den MA CC. ( extern )
Kontextbezogene Andragogik.
Bezug zum Nutzer/ zur Situation/ Kultur /
- 72 - Politik / Kulturgut
Veränderungen durch Community Care (Schaubild: KAI-UWE SCHABLON)

Community Care = Mitarbeiter


Community
Care ist ...
Deinstitutionalisierungsbewegung Handlungsleitende Kriterien :
(Ziel ist die Auflösung von (Groß-)Einrichtungen)

Enthinderungsandragogik Generalist
• Normalisierungsprinzip
(Pädagogik, die Kennzeichen der
Erwachsenenbildung benutzt und Behinderung
minimiert Fähigkeiten eines Fähigkeiten eines
Moderators Unternehmers • Erwachsenenbildung
Partizipation Zuerst : Hilfe
durch das eigene Erwachenenbildner Kein "Norm-Päd."
(Ziel : Teilhabe)
soziale Netzwerk
• Integrationsgedanke
Kommunalpolitiker Drittmittelakquisiteur

Zuletzt: Dann durch die


Ergänzende Hilfe regulären
durch spezialisierte gesellschaftlichen
Organisationen Einrichtungen
Veränderungen für den Veränderungen für das Gemeinwesen :
Nutzer :

Kinder, ältere Menschen und andere


Veränderungen für den Mitarbeiter : Lernt für sich selbst zu "Randgruppen" profitieren auch von
sprechen ! den Veränderungen.
Von der Dominanz zur gegenseitigen Von der "Für-Sorge" zur Assistenz
Abhängigkeit (Interdependenz) der Selbstbestimmung Hat das Gefühl gebraucht zu Positive Presse, Öffentlichkeitsarbeit
werden !

Kooperation mit lokalen Akteuren


Von der Förderung zum Vom "Besser-wissen" zur Nicht in der "Fertigkeits-
Alltagslebensfeld Vereinfachung der Erschließung Falle" stecken zu bleiben !
(Facilitierung)
Rollenvielfalt wahrnehmen
Lernt den eigenen Alltag zu (Bürger, Nachbar, Kunde, Verkehrsteilnehmer)
Quelle: Zusammenfassung aus: beeinflussen !
Dörner, K. (1998):Ende der Veranstaltung.
Knust-Potter, E. (1998) : Behinderung - Enthinderung.
- 73 -
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

Verschiebung von Einfluss und Kontrolle


(unter Verwendung eines Schaubilds von Herrn MICHAEL TÜLLMANN, Rauhes Haus Hamburg)
Ergebnisse aus der Arbeit in Kleingruppen
Welche Verschiebung von Einfluss und Kontrolle ist bei Community Care notwendig?
Welche Veränderungen benötigen Sie in Ihrem Arbeitskontext ?

Kompetenz, Willensäuße-
1 Nutzer rungen von Nutzern

Zeit Beschwerde-
für Kommunikation management

Information
Kommunikation

Betreuer Institution

Gruppengrößen verkleinern, Einzelunterstützung


Erwartungen/Druck von Außen (Angehörige, gesetzliche Betreuer)

2 Nutzer
̇ Assistenzkonzept
̇ Rechte Behinderter ge- ̇ nutzerorientierte
stärkt, z.B. HeimGesetz Dienstplanung
̇ Angehörige, gesetzliche ̇ Planung gemeinsamer
Betreuer mit einbeziehen Ressourcen
̇ systemisches Denken ̇ Persönliches Budget
̇ Perspektiven entwickeln ̇ Personalführung
mit Mitarbeitern
̇ Individueller Blick

Betreuer Institution

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN & WORKSHOPS ____________________________________________

3
Nutzer

persönliches Budget
unabhängige Unterstützung
Assistenzplanung
als Vertrag

Betreuer Institution
Freiräume
Fehler akzeptieren
Mut machen

̇ Fähigkeit, sein Leben selbst


4 zu gestalten
̇ miteinander lernen
̇ Instrumente, um Betreuer
und Institution zu kontrollieren
Nutzer ̇ Anwesenheit und Beteiligung
behinderter Menschen bei
̇ gesellschaftliche Einflüsse Hilfeplanung und Reflexion
̇ neue Kommunikationskultur ̇ wie geht das mit schwerer
̇ wie Verschiebung von Kon- Behinderter ?
trolle in Praxis gestalten?

Betreuer Institution

̇ Mitarbeiterrolle verändern ̇ Sachzwänge bleiben


̇ Machtverschiebung zulassen ̇ oder fällt mit zunehmender Assistenz die Institution weg?
̇ Betreuung als Dienstleistung ̇ die Institution muss auch wollen !
̇ Förderung aufgeben ̇ stimmt Leitbild und Konzeption noch?
̇ Kundenmodell (Qualitätsmanagement)
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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN UND WORKSHOPS ___________________________________________

gelösten Vorschriften gehört auch die Verord-


Aus dem Workshop 4: nung über die Arbeitszeit in Krankenpflegean-
stalten (KrAZVO) vom 13. Februar 1924.
Nutzerorientierte
Dienstplanung

Materialien von JOACHIM SCHOLZ

Historischer Exkurs zur Arbeits-


zeitordnung
Die Geschichte der staatlichen Gesetzgebung
zur Begrenzung der Arbeitszeit ist wechselvoll.
An ihrem Anfang stand das preußische Regu-
lativ von 1839, das Kinderarbeit aus dem be-
zeichnenden Motiv beschränkte, daß andern-
falls nicht mehr taugliche Soldaten zur Verfü-
gung stünden. Schließlich wurde auf Grund Abb. 2: Arbeitswoche
einer entsprechenden Zusage des Rates der
Volksbeauftragten von 1918/19 der Achtstun-
dentag für alle Beschäftigten eingeführt (siehe Der öffentlich-rechtliche Arbeitszeitschutz
Abb.1). (Höchstarbeitszeit, Mindestruhepausen, Min-
destruhezeiten, Nachtarbeitsbeschränkung)
sowie das Verbot bzw. die Zulässigkeit von
Sonn- und Feiertagsarbeit sind in der gesell-
schaftlichen und technischen Entwicklung an-
gepasst und auf alle Arbeitnehmer und Be-
schäftigungsbereiche ausgedehnt worden. Die
Tarifvertragsparteien und unter bestimmten
Voraussetzungen auch die Betriebspartner
(Arbeitgeber, Betriebs-
rat/Arbeitnehmervertretung, Arbeitnehmer)
haben Befugnisse erhalten, den Arbeitszeit-
schutz in eigener Verantwortung praxisnäher
und effektiver zu gestalten.

Abb.1: Zur Geschichte der Arbeitszeit


Ziel und Zweck der Dienstplange-
staltung
In der Wirtschaftskrise des Jahres 1923 wurde ̈ Dienstpläne sind Planungsinstrumente.
dieser Grundsatz durch zahlreiche Ausnahmen In ihnen wird der Pflegebedarf einer
wieder verworfen, so dass ein zehnstündiger Station/Abteilung durch sinnvollen Per-
Arbeitstag die Regel wurde. Auf Grund der sonaleinsatz unter Berücksichtigung
Zunahme von hoher Arbeitslosigkeit wurde Im rechtlicher, arbeitsorganisatorischer und
Jahre 1926 durch das Arbeitszeit-Notgesetz arbeitsmedizinischer Faktoren abge-
die Vorschrift über die Duldung freiwilliger deckt. Gleichzeitig sollen mitarbeiterbe-
Mehrarbeit beseitigt und für über acht Stunden zogene und bewohnerorientierte Ge-
hinausgehende Arbeit ein Lohnzuschlag in sichtspunkte ausgewogen in die Pla-
Höhe von 25% festgelegt. Das damals gelten- nung einbezogen werden.
de Arbeitszeitrecht hatte bis zum 30. Juni 1994
noch seine Wirkung. Erst seit dem 1. Juli 1994
wurde durch das neue Arbeitszeitgesetz eine
Ablösung der alten AZO erreicht. Zu den ab-

____________________________________ 76 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN UND WORKSHOPS ___________________________________________

̈ Dienstplangestaltung bedeutet allge- 2. Organisation der Arbeitsabläufe


mein, das vorhandene Personal dem zwischen dem Pflegedienst und an-
Arbeitsbedarf sachgerecht anzupassen. deren Bereichen des Heimes
Dabei sollte der Personaleinsatz in Aus- 3. Berücksichtigung arbeitsmedizini-
gewogenheit bedarfs- und interessen- scher Aspekte zur Minderung von
sorientierter Zielen geplant werden. Belastungsfaktoren, Erhöhung der
Arbeitszufriedenheit und -motivation
durch soziale Dienstplangestaltung
(gleichmäßige Verteilung der Dien-
ste zu ungünstigen Zeiten, Freiblök-
ke usw.).
̈ Dienstpläne sollen so geführt werden,
dass sie auch als Grundlage für Analy-
sen ohne größere Schwierigkeiten mit
herangezogen werden können.
̈ Mögliche Analysepunkte bei der Aus-
wertung von Dienstplänen (Informati-
onsgehalt) sind:
1. Überblick über den Einsatz ver-
schiedener Beschäftigungsgruppen
einer Station/Abteilung mit Voll- und
Teilzeitbeschäftigten
Abb. 3 vgl. Birkenfeld, ABC der Dienstplangestal-
2. Quantitativer und qualitativer Perso-
tung 1997
naleinsatz pro SchichtlWochelMonat
3. Ausfallquote: Wie hoch war die Ge-
̈ Dienstpläne sind Dokumente bzw. Ur- samtausfallquote und durch welche
kunden, die in Rechtsfällen zur Beweis- Gründe entstand der Personalaus-
führung herangezogen werden können. fall?
Sie müssen daher auch haftungsrechtli-
che Gesichtspunkte beinhalten:
1. Einhaltung gesetzlicher Bestimmun- Kurzfristig zu realisierende Maß-
gen (Ruhezeiten, Pausen usw.),
Schutzbestimmungen (Jugendar- nahmen
beitsschutzgesetz, Mutterschutzge- ̈ Langfristige Erstellung von Dienstplä-
setz, Schwerbehindertengesetz) nen: Günstig ist ein Planungszeitraum
2. Beachtung tariflicher Normen (re- von 4 Wochen, damit die Beschäftigten
gelmäßige durchschnittliche Ar- langfristig ihre Aktivitäten planen und in
beitszeit usw.) und evtl. Betriebs- Abstimmung mit ihrer Arbeitszeit bringen
oder Dienstvereinbarungen. können.
̈ Dienstpläne sind ein Führungs- und ̈ Berücksichtigung von Mitarbeiterwün-
Planungsinstrument (Verhältnis Arbeits- schen hinsichtlich Arbeitszeiten und
und Freizeit) und dokumentieren das Freizeiten: Dies erhöht die Motivation
Spannungsverhältnis zwischen bedarfs- und Zufriedenheit der Beschäftigten.
orientierten (Sicherstellung der Versor-
gung) und interessensorientierten Ge- ̈ Flexible Dienstpläne: Beschäftigte soll-
sichtspunkten (Zeitsouveränität des Per- ten nach festgelegten Kriterien die Mög-
sonals). Konkret bedeutet das: lichkeiten haben, untereinander die
Schichten zu tauschen
1. Effizientes Arbeiten innerhalb der
Station/Abteilung nach qualitativen ̈ Schichtwechselperiode: Aus arbeitsme-
(Pflegequalität) und quantitativen dizinischer Sicht sollte die Anzahl auf-
Gesichtspunkten (Personalbedarf) einanderfolgender Schichten (Früh- und

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN UND WORKSHOPS ___________________________________________

Spätschicht) nicht mehr als 7 Tage be- ̈ Schichtlänge: Die tägliche Arbeitszeit
tragen. von 8 Stunden sollte auf keinen Fall
überschritten werden.
̈ Für den Nachtdienst sollten noch kürze-
re Phasen von 1-3 Tagen geplant wer- ̈ Einhaltung von Pausenzeiten: Geregelte
den. Dem Nachtdienst sollte grundsätz- Pausen sollten auch außerhalb des Ar-
lich eine zusammenhängende Freizeit beitsbereiches ermöglicht werden.
von mindestens 24 Stunden folgen.
̈ Freizeitausgleich für Überstunden:
̈ Schichtfolge: Das Wechseln von einer Überstunden sollten generell begrenzt
Schicht zur anderen sollte vorwärts er- werden und grundsätzlich durch Freizeit
folgen (Früh-, Spät-, Nachtschicht), da ausgeglichen werden.
auf diese Weise zwischen den Schich-
ten längere Freizeitperioden möglich
sind. Der sog. Schaukeldienst ist daher
abzulehnen. ̈ Die Erhebung der lst-Situation
̈ Zusammenhängende Freizeit: Freie Kontrolle der Plausibilität
Tage sollten möglichst in größere Blöcke
zusammengefasst und geblockte Wo- Die vorliegende Checkliste soll zunächst dazu
chenendfreizeiten eingeplant werden. dienen, ob die Einrichtung eine moderate
Dienst-/ Einsatzplanung vorliegt. Das Vorliegen
Das freie Wochenende muß nicht immer
Samstag bis Sonntag frei bedeuten, je- von Dienstplänen wird künftig nicht nur von der
doch ist der Sonntag immer als freier Heimaufsicht geprüft, sondern auch vom Medi-
Tag zu berücksichtigen: Auf individuel- zinischen Dienst der Pflegekassen auf Plausi-
len Wunsch können auch Sonntag und bilität überprüft.
Montag oder Freitag bis Sonntag als
freie Tage geplant werden, um soziale
und familiäre Beziehungen zu fördern.

Selbstbewertung
Bewerten Sie Ihre Organisation bezüglich dieses Themas anhand folgender Fragen:
0= nicht erfüllt; 1= im Ansatz erfüllt; 2= teilweise erfüllt; 3= voll erfüllt

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN UND WORKSHOPS ___________________________________________

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN UND WORKSHOPS ___________________________________________

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN UND WORKSHOPS ___________________________________________

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̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN UND WORKSHOPS ___________________________________________

Längerfristige Forderungen Stunden. Diese 4 Stunden fallen zu


ungünstigen Arbeitszeiten an. Die
̈ Einführung sogenannter Kernarbeits- Zwischenzeiten, z.B. von 6.00 Uhr
zeiten, die tendenziell dazu führen, daß bis 7.00 Uhr und von 17.00 Uhr bis
Früh- und Spätschichten hinsichtlich der 20.00 Uhr sind mit einem Faktor von
Arbeitsbelastung durch Verlagerung der 1,3 auf die regelmäßige wöchentli-
Hauptmasse der anfallenden Arbeiten in che Arbeitszeit anzurechnen.
die Kernzeit verlagert werden. 5. Jede geleistete Arbeitsstunde am
̈ Faktorisierung von bestimmten, stark Samstag und Sonntag wird mit ei-
belastenden Arbeitszeiten: nem Faktor von 1,5 auf die regel-
1. Die 24 Stunden eines Arbeitstages mäßige wöchentliche Arbeitszeit
werden in Kernzeit, Zwischenzeit angerechnet.
und Nachtzeit eingeteilt. Dies gilt für 6. Für jeden anerkannten Wochenfei-
die Tage von Montag bis einschließ- ertag wird die zu leistende regelmä-
lich Freitag. Für das Wochenende ßige monatliche Arbeitszeit der Ar-
und die Wochenfeiertage wird eine beitnehmerinnen und Arbeitnehmer
gesonderte Regelung zu den Ar- um die dienstplanmäßig bzw be-
beitsstunden getroffen. triebsüblich zu leistende Arbeitszeit
2. Von Montag bis Freitag wird eine reduziert. Jede der tatsächlich gelei-
Kernzeit von höchstens 10 Stunden, steten dienstplanmäßigen Arbeits-
z. B. von 7.00 Uhr bis 17.00 Uhr stunde an einem gesetzlichen Wo-
festgelegt. Die Arbeitszeit wird in chenfeiertag wird mit dem Faktor 1,5
diesem Zeitraum nicht faktorisiert. multipliziert. Die faktorisierte Ar-
beitszeit an einem Wochenfeiertag
3. Es wird eine Nachtzeit von minde- vermindert entsprechend die regel-
stens 10 Stunden, z. B. 20.00 Uhr mäßige monatliche Arbeitszeit.
bis 6.00 Uhr festgelegt. Jede gelei-
stete Arbeitsstunde wird mit dem Dieses Konzept wurde von der Ge-
Faktor 1,5 auf die regelmäßige wö- werkschaft ÖTV entwickelt.
chentliche Arbeitszeit angerechnet.
4. Zwischen Kernzeit und Nachtzeit ̈ Einführung sogenannter Arbeitszeit-
bleibt eine Zwischenzeit von z.B. 4 konten: Beschäftigte haben die Möglich-

____________________________________ 82 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN UND WORKSHOPS ___________________________________________

keit, Arbeitsstunden auf einem Arbeits- ̈ Gleitzeitregelungen: Für bestimmte


zeitkonto anzusparen und nach be- Funktionsbereiche können auch Gleit-
stimmten Kriterien auch wieder individu- zeitregelungen vereinbart werden. In-
ell durch entsprechende Freizeit auszu- nerhalb eines festgelegten Rahmens
gleichen. Es können die über die tarifli- (=Rahmenzeit) bestimmen die Beschäf-
che regelmäßige wöchentliche Arbeits- tigten selbst Beginn und Ende der tägli-
zeit bis zu einer noch festzulegenden chen Arbeitszeit. Daneben gilt für einen
wöchentlichen Höchstarbeitszeit anfal- bestimmten Zeitblock Anwesenheits-
lenden Stunden auf ein Arbeitszeitkonto pflicht am Arbeitsplatz (= Kernzeit). Des
gebucht werden, ebenso anfallende weiteren besteht die Möglichkeit, eine
Überstunden. Für das Arbeitszeitkonto gewisse Anzahl von Arbeitsstunden an-
selbst gelten auch festzulegende zusammeln bzw. verkürzt zu arbeiten
Höchstgrenzen (z.B. 500 Stunden pro (qualifizierte Gleitzeit).
Jahr).

____________________________________ 83 ____________________________________
̈ AUS DEN ARBEITSGRUPPEN UND WORKSHOPS ___________________________________________

Literaturhinweise
BIRKENFELD, RALF: ABC der Dienstplangestaltung. Arbeitszeitflexibilität und neue Arbeitszeitmodelle. Köln 1997
BRUSE, DETLEV: BAT und BAT-Ost - Bundesangestellentarfvertrag BAT. Kommentar für die Praxis. 2. überarb.
Auflage
BURR, DORIS: Qualitätsmanagement in der Altenpflege erfolgreich umsetzen. WEKA-Verlag, Kissing 1999
BÜRGERLICHES GESETZBUCH BGB. dtv, Nördlingen 1994
FIEDLER, MANFRED; SCHELTER, WOLFGANG: Arbeitszeitrecht für die Praxis. Das Arbeitszeitrechtsgesetz (ArbZRG).
Texte und Erläuterungen. Frankfurt/M. 1994
GOBERT, OTTO: Heimgesetz. Taschenkommentar Heimgesetz und zugehörige Verordnungen. 3. neubearb. und
erweiterte Auflage, Hannover 1997
KITTNER, MICHAEL: Arbeits- und Sozialordnung. Ausgewählte und eingeleitete Gesetzestexte. 19. Auflage, Köln
1994

̈ JOACHIM SCHOLZ
LEHRER FÜR PFLEGEBERUFE; PFLEGEMANAGEMENT
LUDWIGSTR. 22, 51643 GUMMERSBACH
WEBMASTER@JOACHIMSCHOLZ.DE

____________________________________ 84 ____________________________________
̈ THEATER _____________________________________________________________________

DIE
GEHEIMNIS-
VOLLE
REISE
DES
GELBEN
KOFFERS

THEATERGRUPPE
„DAS FANTASTISCHE ECHO“
WOHNHAUS FOHLENWEG
LEBENSHILFE HALLE

____________________________________ 85 ____________________________________
̈ THEATER _____________________________________________________________________

____________________________________ 86 ____________________________________
̈ ZUM ABSCHLUSS ________________________________________________________________

ren und etwa erhebliche Einsparungen zu er-


Für ein Leben warten. Es wäre auch müßig zu spekulieren,
ohne Institution wie viele bislang in stationären Einrichtungen
der Behindertenhilfe lebenden behinderten
Chancen und Gefahren Menschen in ambulanten Wohn- und Betreu-
ungsformen leben könnten. Vielmehr muss im
Schlusswort Sinne allgemeiner Bürgerrechte und aus fach-
licher Sicht festgehalten werden, dass grund-
sätzlich für jeden behinderten Menschen –
CHRISTIAN BRADL
unabhängig seines individuellen Hilfebedarfs –
DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT
ein Leben mit individuellen Wohn- und Hilfear-
rangements außerhalb von Heimstrukturen
denkbar und praktikabel sind.
Das neue SGB IX eröffnet für Menschen mit Dafür gibt es inzwischen praktische Beispiele
Behinderung in vielen Bereichen neue Per- z.B. bei der Betreuung schwerst körperbehin-
spektiven. Erklärtes Ziel ist die Förderung ei- derter Menschen oder bei Wohnmodellen für
nes selbstbestimmten Lebens und die gleich- geistig behinderte Menschen in den skandina-
berechtigte Teilhabe am Leben der Gesell- vischen Ländern. Um so verfügbarer notwen-
schaft für alle Menschen mit Behinderungen. dige Ressourcen im ortsnahen bzw. regionalen
Im SGB IX stärker verankert werden auch Bereich und um so besser die materielle und
personenbezogene Hilfen außerhalb von personelle Ausstattung entsprechender Assi-
Heimstrukturen, z.B. Assistenzdienste, Per- stenzdienste bzw. Wohnformen, um so mehr
sönliches Budget und ausdrücklich auch „Hil- Menschen mit Behinderungen können selbst-
fen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten bestimmt außerhalb von Heimen wohnen.
Wohnmöglichkeiten“ (SGB IX, §55 Abs.2).
Die DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GE-
Viele Handlungskonzepte, praktische Beispiele
SELLSCHAFT unterstützt ausdrücklich solche
und Zukunftsideen für ein „Leben ohne Institu-
Bemühungen zur Erweiterung eines selbstbe-
tion“ sind im Laufe der Tagung zur Sprache
stimmten Lebens, personenbezogener Hilfen
gekommen. Ohne Institution meint zumeist:
und der Teilhabe am Leben der Gesellschaft
ohne fremdbestimmte Strukturen. Aber wir
für Menschen mit Behinderungen, fordert aber
werden weiterhin Institutionen brauchen, im
nachdrücklich den Einbezug geistig behinder-
Sinne einer verlässlichen Organisation sozialer
ter Menschen auch mit hohem Hilfebedarf.
Dienstleistungen für behinderte Menschen.
Nicht nur in der Selbsthilfebewegung, auch in
Mehrfach ist in diesem Zusammenhang auch
der Fachdiskussion werden verstärkt Selbst-
von sozialer Sicherheit - für behinderte Men-
bestimmung und Assistenz als handlungslei-
schen und für Dienstleister - gesprochen wor-
tend in der Behindertenhilfe angemahnt. Ein-
den, sicherlich nicht zufällig in einer Zeit, in
gefordert wird ein Umbau des in mehr oder
welcher der Sozialstaat von vielen Seiten in
weniger großen Heimen und Wohngruppen
Frage gestellt wird.
organisierten Hilfesystems in Richtung indivi-
dueller Hilfearrangements. Wegweisend als Auch wenn wir viel über ein „Leben ohne In-
Leitziel der Behindertenhilfe ist geworden: Von stitution“ gesprochen haben, ist doch festzu-
der Betreuung zur Assistenz. Selbstbestimmt halten: Viele, die überwiegende Mehrzahl der
Leben in ambulant betreuten Wohnformen, außerhalb ihrer Herkunftsfamilien lebenden
Assistenzdienste nach individuellen Anforde- behinderte Menschen, befinden sich in Ein-
rungen und Persönliche Budgets sind wichtige richtungen, d.h. in Wohnheimen, Heimen,
Bausteine eines modernen Hilfesystems für Komplexeinrichtungen, Pflegeeinrichtungen.
behinderte Mitbürger. Viele von uns arbeiten in diesen Einrichtungen.
Es wäre fatal, darauf zu warten, dass uns ein
„Leben ohne Institution“ in den Schoß fällt. Ich
Zu warnen ist allerdings davor, den Umbau denke, auch in unseren Einrichtungen und aus
bzw. die Umschichtung der Behindertenhilfe den Einrichtungen heraus sind viele Verände-
aus dem stationären Sektor (Einrichtungen) in rungen machbar, sofern wir es nur wollen und
den ambulanten Sektor (ambulante Hilfen, ernsthaft angehen, so z.B. bei der Planung
Betreutes Wohnen, Assistenzdienste) vorran- individueller Wohnformen anstelle klassischer
gig unter Kostengesichtspunkten zu diskutie-

____________________________________ 87 ____________________________________
̈ ZUM ABSCHLUSS ________________________________________________________________

Gruppenkonzepte, bei der Beteiligung behin- DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE


derter Menschen an ihrer Hilfeplanung oder
bei der Vereinbarung verbindlicher Assistenz GESELLSCHAFT
für gewünschte Aktivitäten. Viele weitere Bei-
spiele sind in den Arbeitsgruppen benannt Selbstbestimmung und
worden.
Teilhabe am Leben in der
Ein besonders wichtiges Anliegen scheint mir
dabei, das berufliche Selbstverständnis und Gesellschaft
das Arbeitsfeld von Mitarbeitern in Einrichtun-
gen stärker ins Gemeinwesen und ins soziale Auch für Menschen mit geistiger Be-
Netzwerk zu öffnen; die Fachschulen sind hier hinderung und hohem Hilfebedarf
gefragt, aber auch Fort- und Weiterbildungen
bis hin zu konkreten Ansätzen in den Mitar-
beiterteams.
Mit einer Reihe gesetzlicher Maßnahmen, so
Wir hoffen, mit dieser Tagung Impulse gege- z.B. der Aufnahme des Benachteiligungsver-
ben und ein Forum für regen Austausch und botes ins Grundgesetz 1994, dem Anfang
konstruktive Diskussion geboten zu haben. 2002 in Kraft getretenen neuen Heimgesetz,
Die Diskussion muss weitergeführt werden. dem ab Mai 2002 wirksamen Behinder-
Wir haben im Laufe des Jahres einige Positio- tengleichstellungsgesetz und vor allem dem
nen der DHG zusammengefasst in dem Pa- Sozialgesetzbuch IX zur Rehabilitation und
pier: Selbstbestimmung und Teilhabe am Le- Teilhabe behinderter Menschen zum Juli 2001
ben in der Gesellschaft - auch für Menschen wurden in den letzten Jahren die Rechte be-
mit hohem Hilfebedarf.1 Wir laden Sie ein, sich hinderter Menschen auf Selbstbestimmung
an dieser Diskussion und an der Konkretisie- und soziale Teilhabe deutlich gestärkt. Dies
rung dieser Ziele für Menschen mit hohem geschah ebenso durch Modellprojekte wie z.B.
Hilfebedarf weiter zu beteiligen. zur Arbeitsassistenz oder zum Persönlichen
Budget, aber auch in der Entwicklung von
neuen Ansätzen zur Assistenz und Individuel-
len Hilfeplanung auch bei Menschen mit gei-
stiger Behinderung (vgl. DHG 2001 / 2002).
̈ DR. CHRISTIAN BRADL Dennoch klaffen immer wieder Leitziele von
Selbstbestimmung und Integration, vielfach
DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT
GESCHÄFTSSTELLE: HPH DÜREN beschworen in politischen Absichtserklärungen
MECKERSTR. 15, 52353 DÜREN oder wohlklingenden Gesetzespräambeln,
aber auch in Leitbildern und Qualitätszielen
EMAIL: MAIL@DHG-KONTAKT.DE von Einrichtungen, und die gesellschaftliche
und institutionelle Realität, bedingt durch sin-
kende Sozialhaushalte und fortbestehende
Diskriminierungen, weit auseinander. Dies ist
insbesondere für behinderte Menschen mit
hohem Hilfebedarf festzustellen.
Beispiele solche desintegrativen Entwicklun-
gen sind
̇ Ausgrenzung von geistig behinderten
Menschen in Pflegeeinrichtungen
̇ Standardverschlechterungen und Ten-
denz zu Schwerstbehindertenheimen
̇ Ausschluss von behinderten Menschen
mit hohem Hilfebedarf von neuen per-
sonenbezogenen Hilfeansätzen wie
z.B. dem Persönlichen Budget oder
1
siehe folgenden Beitrag ambulanten Wohnformen.

____________________________________ 88 ____________________________________
̈ ZUM ABSCHLUSS ________________________________________________________________

zialen Pflegeversicherung (SGB XI) der An-


In mehreren, im folgenden zusammengefass- spruch auf Eingliederungshilfe entgegen ihren
ten Stellungnahmen hat die DEUTSCHE Wünschen nicht mehr gesichert; ein Platz im
HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT im Jahre Pflegeheim ist häufig die einzige Perspektive.
2002 sowohl auf Chancen neuer Paradigmen In fast allen Bundesländern gibt es inzwischen
in der Behindertenhilfe, aber auch auf Gefähr- Einrichtungen mit Versorgungsvertrag nach §
dungen insbesondere für behinderte Men- 71 Abs. 2 SGB XI, die vor der Einführung der
schen mit hohem Hilfebedarf hingewiesen. Die Pflegeversicherung Einrichtungen der Behin-
wichtigste These: Das Recht auf selbstbe- dertenhilfe waren und nun ganz oder teilweise
stimmte Lebensgestaltung und Teilnahme am in Pflegeeinrichtungen umgewandelt wurden.2
Leben der Gesellschaft ist unteilbar. Es gilt für Dazu kommen in vermutlich allen Bundeslän-
alle Menschen, unabhängig von Art und dern Einrichtungen der stationären Altenhilfe,
Schweregrad der Behinderung. die bereits vor Einführung der Pflegeversiche-
rung auch jüngere Menschen mit Behinderung
betreut haben und immer noch betreuen.3
Der neue § 40a BSHG (Art. 15 SGB IX), nach
Selbstbestimmung und Teilhabe - dem Pflegeleistungen Bestandteil der Einglie-
Chancen im neuen SGB IX derungshilfe sind, mindert die Gefahr einer
Abschiebung von Menschen mit hohem Hilfe-
bedarf in Pflegeheime nur unzureichend:
Das SGB IX eröffnet für Menschen mit Behin-
̇ Der Verbleib des Bewohners in einer
derung in vielen Bereichen neue Perspektiven.
Einrichtung der Behindertenhilfe hängt
Erklärtes Ziel ist die Förderung eines selbstbe-
nach wie vor vom Willen des Einrich-
stimmten Lebens und die gleichberechtigte
tungsträgers und von der Bereitschaft
Teilhabe am Leben der Gesellschaft. Es bietet
des Sozialhilfeträgers ab, im Rahmen
den Rahmen für personenbezogene Hilfen
der Vereinbarungen nach § 93 BSHG
außerhalb von Heimstrukturen, z. B. Assi-
die für diesen Personenkreis notwendi-
stenzdienste, Persönliches Budget, selbstbe-
gen Ressourcen anzuerkennen.
stimmtes Leben in betreuten Wohnformen.
Die DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GE- ̇ Eine ökonomisch begründete aus-
SELLSCHAFT (DHG) unterstützt nachdrücklich schließliche Anwendung des § 40a
diese neuen Zielperspektiven des SGB IX. Wir BSHG auf bereits in Heimen der Behin-
fordern allerdings, auch behinderte Menschen dertenhilfe lebende Bewohner hat eine
mit hohem Hilfebedarf, z. B. Menschen mit
schwerer geistiger Behinderung, mit Mehr- 2
Anteil der Pflegeplätze in Behinderteneinrichtun-
fachbehinderung, behinderte Menschen mit gen mit Versorgungsvertrag nach SGB XI nach
Verhaltensproblemen und/oder psychischen Angaben der überörtlichen Sozialhilfeträger in der
Erkrankungen in diese Perspektiven und per- Oberpfalz und in Mecklenburg-Vorpommern ca.
sonenbezogenen Hilfen einzubeziehen und so 10%, in Niederbayern 20 %; keine Pflegeplätze
dem im Grundgesetz verankerten Benachteili- nur in Berlin, Hamburg, im Rheinland und im
Saarland (vgl. BUNDESARBEITSGEMEIN-
gungsverbot auch für diesen von Ausgrenzung
SCHAFT DER ÜBERÖRTLICHEN SOZIALHILFE-
bedrohten Personenkreis Geltung zu ver- TRÄGER: „Stationäre Einrichtungen der Behin-
schaffen. dertenhilfe“ 1998. Kennzahlenvergleich - Stand
6.3.2000. Münster 2000). Bekannt sind Umwand-
lungen von Einrichtungsteilen in Pflegeheime in
Westfalen (Westfälische Förder- und Pflegezen-
Keine Aussonderung in Pflegeein- tren / WFPZ) und in baden-württembergischen
Behinderteneinrichtungen im Rahmen einer ‚Bin-
richtungen nendifferenzierung‘.
3
So werden z. B. nach Auskunft des Landeswohl-
fahrtsverbands Hessen in hessischen Einrichtun-
Es besteht Anlass zur Sorge, dass die im SGB gen der stationären Altenhilfe für 803 behinderte
IX genannten Zielperspektiven nicht für alle Menschen unter 60 Jahren Leistungen getragen,
gelten. Für viele behinderte Menschen mit davon sind ca. 11 % der Zielgruppe der Menschen
hohem Hilfebedarf ist seit Einführung der So- mit geistiger Behinderung zuzuordnen (Stand:
2001).

____________________________________ 89 ____________________________________
̈ ZUM ABSCHLUSS ________________________________________________________________

Ungleichbehandlung von Pflegeheim- Beeinträchtigung notwendig sind, vor


bewohnern mit vergleichbarem Hilfebe- allem hinsichtlich der Möglichkeiten
darf zur Folge und verstößt damit ge- nonverbaler Kommunikation, Sinn stif-
gen das Benachteiligungsverbot in Art. tender kooperativer Alltagsgestaltung
3 Abs. 3 GG. und Persönlichkeitsbildung sowie hin-
sichtlich des fachkundigen Umgangs
mit Verhaltensauffälligkeiten.
Eine Studie an der Universität zu Köln zur
Lebenssituation von Menschen mit schwerer
geistiger und mehrfacher Behinderung in Hei- Die in den beteiligten Heimen vorgefundenen
men4 belegt inzwischen an Einzelbeispielen, Lebensbedingungen dokumentieren eine
dass in Pflegeheimen unter den gegebenen eklatante Ungleichbehandlung und Benachtei-
Bedingungen – auch bei individuell großem ligung von geistig behinderten Pflegeheimbe-
Engagement des Personals – eine angemes- wohnern gegenüber Menschen mit vergleich-
sene Lebensbegleitung dieses Personenkrei- barem Hilfebedarf in Einrichtungen der Behin-
ses nicht möglich ist: dertenhilfe. Die von Seiten der Sozialhilfeträ-
ger vorgenommene Aufteilung von behinderten
̇ Der fachliche Anspruch der Pflegehei- Menschen mit hohem Hilfebedarf in ‚Förderfä-
me kann wegen unzureichender Rah- hige‘ und ‚Pflegefälle‘ erklärt die letztgenann-
menbedingungen in der Praxis nicht ten zu Menschen zweiter Klasse, die nicht
umgesetzt werden. Die Gruppengrößen (mehr) bildungsfähig bzw. eingliederungsfähig
und die Personalbesetzung lassen ein sind. Dieses Vorgehen ignoriert wissenschaftli-
personenbezogenes professionelles che Erkenntnisse und erfolgreiche praktische
Handeln nicht zu. Ansätze, nach denen jeder Mensch bildungs-
̇ Die Konzentration von Menschen mit bzw. entwicklungsfähig ist, wenn sein soziales
hohem Hilfebedarf bedeutet für die Mit- und materielles Umfeld seinen Bedürfnissen
arbeiter eine permanente Überforde- und Fähigkeiten entsprechend gestaltet wird.
rung, die Tendenzen zur Verobjektivie- Es weckt Assoziationen an historische Ent-
rung begünstigt. Monotone Alltagsab- wicklungen im 20. Jahrhundert, in dem immer
läufe erzeugen oder verstärken wieder- wieder ähnlich strikte Trennungen zwischen
um stereotype Verhaltensweisen der Heil- bzw. Bildungsanstalten und Pflegean-
Bewohner, die oftmals als Ausdruck der stalten propagiert und mit fatalen Folgen um-
schweren Behinderung und nicht als gesetzt worden sind.
Folge deprivierender Lebensbedingun-
gen gesehen werden.
̇ Die Konzeption von Pflegeheimen sieht Eine ‚Enquête der Heime’ - auch
eine ganzheitliche Lebensbegleitung
pflegebedürftiger behinderter Menschen für Einrichtungen der Behinder-
mit dem Ziel einer auf Selbstbestim- tenhilfe
mung basierenden zukunftsorientierten
Persönlichkeitsentwicklung und der
Eingliederung in die Gesellschaft nicht Da sich die Kölner Studie nur auf einen kleinen
vor. Personenkreis bezieht, ist zu prüfen, inwieweit
die Situation in anderen Pflegeeinrichtungen
̇ Das überwiegend pflegerisch qualifi- vergleichbar ist. Die DHG unterstützt daher die
zierte Personal verfügt in der Regel Forderung der interdisziplinären Forschungs-
nicht über die Kompetenzen, die für ei- gemeinschaft ‚Menschen in Heimen‘ (Univer-
ne fachlichen Standards entsprechende sität Bielefeld) vom Juni 2001 zur Einrichtung
Alltagsbegleitung von schwer behin- einer Kommission zur ‚Enquête der Heime‘.
derten Menschen mit starker kognitiver Dies gilt nicht nur für Pflegeheime, sondern
auch für Einrichtungen der Behindertenhilfe:
4
SEIFERT, Monika; FORNEFELD, Barbara; KOE- ̇ Bislang sozialpolitisch unterstützte Be-
NIG, Pamela: Zielperspektive Lebensqualität. Eine mühungen von Einrichtungen der Be-
Studie zur Lebenssituation von Menschen mit
schwerer Behinderung im Heim. Bielefeld: Bethel-
hindertenhilfe, die gesellschaftliche
Verlag 2001. Ausgrenzung von Menschen mit schwe-

____________________________________ 90 ____________________________________
̈ ZUM ABSCHLUSS ________________________________________________________________

rer Behinderung durch Enthospitalisie- neben den notwendigen Verbesserungen der


rung, Dezentralisierung der Angebote institutionellen Lebensbedingungen – im Kon-
und Individualisierung der Hilfen aufzu- text der Leitideen der Behindertenhilfe ver-
brechen, drohen unter Kostendruck zu stärkt über Alternativen zu Heimstrukturen
scheitern. nachgedacht werden, die eine Individualisie-
rung der Hilfen und Chancen für ein selbstbe-
̇ Die problematische Situation verschärft
stimmtes Leben in der Gemeinde bieten.
sich angesichts der gesellschaftlichen
Diskussion über Lebensrecht und Le-
benswert dieses Personenkreises
(Bioethik-Debatte).
Forderungen im Interesse geistig
̇ Angesichts der angespannten finan- behinderter Menschen mit hohem
ziellen Situation der Kommunen ist er-
höhte Wachsamkeit gefordert, damit Hilfebedarf
das in § 93 a (1) BSHG festgeschriebe-
ne „Maß des Notwendigen“ nicht als
Minimalstandard interpretiert wird, der Die DHG fordert im Interesse der Menschen,
sich vorwiegend an der erhöhten Pfle- die als schwer geistig behindert gelten und
gebedürftigkeit orientiert und entwick- multiple zusätzliche Beeinträchtigungen ha-
lungsbezogene und partizipatorische ben:
Ziele außer Acht lässt. 1. Überprüfung der Lebenssituation
von Heimbewohnern mit geistiger
̇ Besonders bedenklich ist die in den Behinderung hinsichtlich der Reali-
letzten Jahren zunehmende Tendenz sierung der im SGB IX formulierten
zu Schwerstbehindertenheimen, die Leitideen und fachlichen Standards
nahezu zwangsläufig eine Fokussie- der Behindertenhilfe
rung auf den Pflegebedarf zur Folge 2. Sicherung der notwendigen Res-
hat. Pädagogische Ansätze versanden; sourcen zur Realisierung individu-
die Wohngruppe wird zur Pflegegruppe. eller Lebensqualität in Wohnformen
̇ Die in mehreren Bundesländern gem. § der Behindertenhilfe
93 BSHG bereits vorgenommene Ein- 3. Partizipation in allen Lebensberei-
teilung behinderter Menschen in Hilfe- chen (Wohnen, Beschäftigung, Frei-
bedarfsgruppen fördert desintegrative zeit, Bildung u.a.)
Tendenzen, so dass ein Zusammenle- 4. Tagesstrukturierende Angebote für
ben von schwer behinderten Bewoh- alle behinderten Menschen
nern mit Menschen mit geringerem 5. Umsetzung des Wunsch- und Wahl-
Hilfebedarf künftig die Ausnahme bilden rechts des behinderten Menschen
wird. bezüglich der Wohnform
6. Verantwortung der Träger der Be-
̇ Konstellationen, in denen alle Grup- hindertenhilfe für behinderte Men-
penmitglieder in hohem Maße hilfebe- schen unabhängig von Alter und
dürftig sind, überfordern Mitarbeiter und Pflegebedürftigkeit im Rahmen der
Bewohner gleichermaßen. Sie sind eine Eingliederungshilfe nach § 39
Form struktureller Gewalt, die den Ein- BSHG5
satz von Zwangsmaßnahmen begün- 7. Erfüllung des Individualanspruchs
stigt und auf beiden Seiten zu erhöhtem auf volle Leistung der Pflegekassen
Stress und zu Gefährdungen der psy-
chischen Gesundheit führen kann.
5
Trotz SGB IX (insbesondere § 40a BSHG) sind in
einigen Bundesländern weiterhin Pflegeplätze für
Die Ergebnisse der Kölner Lebensqualität-
Menschen mit geistiger Behinderung und hohem
Studie sind Indikator dafür, dass das Heimsy- Pflegebedarf vorgesehen. So plant z. B. der Lan-
stem unter den gegenwärtigen Bedingungen deswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern
für viele geistig behinderte Menschen mit ho- nach Angaben des Verbandsdirektors „die Um-
hem personellen Hilfebedarf keinen angemes- widmung weiterer 200 Heimplätze im Rahmen der
senen Lebensraum bietet. Von daher muss - Binnendifferenzierung für pflegebedürftige Behin-
derte bis 31.12.2003.“

____________________________________ 91 ____________________________________
̈ ZUM ABSCHLUSS ________________________________________________________________

auch in Einrichtungen der Behin- on Betreutes Wohnen für Menschen mit geisti-
dertenhilfe, um ökonomisch begrün- ger Behinderung in Hessen vor.
dete Verlegungen in Pflegeheime zu
stoppen
Die Chance: Verstärkung personenbezoge-
8. Feststellung der Fehlplatzierung von
ner Hilfen außerhalb von Heimen
behinderten Menschen in Alten- und
Pflegeheimen als Aufgabe der Hei- Das neue SGB IX eröffnet für Menschen mit
maufsicht Behinderung in vielen Bereichen neue Per-
9. Wiedereingliederung der als ‚Pfle- spektiven. Erklärtes Ziel ist die Förderung ei-
gefälle‘ deklarierten behinderten nes selbstbestimmten Lebens und die gleich-
Pflegeheimbewohner in Wohnange- berechtigte Teilhabe am Leben der Gesell-
boten der Behindertenhilfe schaft für alle Menschen mit Behinderungen.
10. Erprobung personenbezogener Hil- Im SGB IX stärker verankert werden auch
fen außerhalb von Heimstrukturen personenbezogene Hilfen außerhalb von
für Menschen mit geistiger Behinde- Heimstrukturen, z.B. Assistenzdienste, Per-
rung und hohem Hilfebedarf (z. B. sönliches Budget und ausdrücklich auch „Hil-
Assistenzdienste, Persönliches fen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten
Budget, ambulant betreutes Woh- Wohnmöglichkeiten“ (SGB IX, §55 Abs.2).
nen) Die DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GE-
11. Erweiterung ambulanter regionaler SELLSCHAFT unterstützt ausdrücklich solche
Hilfesysteme mit der Zielperspektive Bemühungen zur Erweiterung eines selbstbe-
‚Community Care’ (‚Sorge-Mix‘) oh- stimmten Lebens, personenbezogener Hilfen
ne zusätzliche Belastung der Her- und der Teilhabe am Leben der Gesellschaft
kunftsfamilien. für Menschen mit Behinderungen, fordert aber
Das Recht auf selbstbestimmte Lebensgestal- nachdrücklich den Einbezug geistig behinder-
tung und Teilnahme am Leben der Gesell- ter Menschen auch mit hohem Hilfebedarf7.
schaft ist unteilbar. Es gilt für alle Menschen, Nicht nur in der Selbsthilfebewegung, auch in
unabhängig von Art und Schweregrad der der Fachdiskussion8 werden verstärkt Selbst-
Behinderung. bestimmung und Assistenz als handlungslei-
tend in der Behindertenhilfe angemahnt. Ein-
gefordert wird ein Umbau des in mehr oder
weniger großen Heimen und Wohngruppen
organisierten Hilfesystems in Richtung indivi-
Ambulant Betreutes Wohnen –
dueller Hilfearrangements. Wegweisend als
Chancen und Risiken Leitziel der Behindertenhilfe ist geworden: Von
der Betreuung zur Assistenz.9 Selbstbestimmt
Unter dem wachsenden Druck der kritischen
Haushaltslage von Kommunen bzw. über- 7
DHG: Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben
kommunaler Verbände als Kostenträger der
in der Gesellschaft – auch für Menschen mit ho-
Behindertenhilfe und gleichzeitig steigender hem Hilfebedarf. Positionspapier vom März 2002
Kosten der teil- und vollstätionären Behinder- 8
vgl. Tagungsberichte der DHG: Individuelle Hilfe-
tenhilfe wird zur Zeit in verschiedenen Bun- planung, Bonn/Düren 2000. Hilfe nach Maß?!
desländern ein deutlicher Ausbau des Betreu- Hilfebedarf, Individuelle Hilfeplanung, Assistenz,
ten Wohnens gefordert. Auch der Landes- Persönliches Budget, Mainz / Düren 2001. Einig-
wohlfahrtsverband Hessen (LWV) beabsichtigt keit und Recht und Gleichheit? Neue Weichen-
„eine Weiterentwicklung, einen Umbau des stellungen in der Behindertenhilfe, Berlin / Düren
Systems aus fachlichen und finanziellen Grün- 2002. Außerdem DHG (Hg.): Individuelle Hilfepla-
nung. Anforderungen an die Behindertenhilfe.
den“6 und stellte im November 2001 im Rah-
Hamburg/ Düren 2002
men einer Fachtagung unter dem Motto „Woh- 9
DHG (Hg.): Persönliche Assistenz – assistierende
nen im Verbund“ seine konzeptionellen Über-
Begleitung. Veränderungsanforderungen für die
legungen zur Weiterentwicklung der Konzepti- professionelle Betreuung und für Einrichtungen der
Behindertenhilfe. Von Erik Weber, Köln/ Düren
2002. Vgl. auch Verein für Behindertenhilfe e.V.
6
LWV Hessen: Wohnen im Verbund. Konzeption. (2000): Von der Betreuung zur Assistenz. Profes-
Kassel, November 2001 (S.2) sionelles Handeln unter der Leitlinie der

____________________________________ 92 ____________________________________
̈ ZUM ABSCHLUSS ________________________________________________________________

Leben in ambulant betreuten Wohnformen, Forderungen der DHG


Assistenzdienste nach individuellen Anforde-
rungen und Persönliche Budgets sind wichtige
Bausteine eines modernen Hilfesystems für Auf diesem Hintergrund sollte bei der Erweite-
behinderte Mitbürger. rung des ambulant betreuten Wohnens und
Zu Recht hat die personenorienterte Sichtwei- des Wohnens im Verbund folgendes beachtet
se in der Umsetzung des § 93 BSHG durch werden:
den LWV Hessen, insbesondere bei der Kon- ̇ Betreutes Wohnen und Assistenzdien-
zeption von individuellen Gesamtplänen (§ 46 ste für behinderte Mitbürger sollten so
BSHG) einen hohen Stellenwert.10 ortsnah und regional wie möglich orga-
nisiert werden – als Aufgabe der kom-
Die Gefahr: Reduzierung auf „billigere munalen Gemeinschaft. Weil aber bis-
Wohnformen“ lang die stationäre Behindertenhilfe in
Zuständigkeit überörtlicher Sozialhilfe-
Zu warnen ist allerdings davor, den Umbau träger bzw. entsprechender Verbände
bzw. die Umschichtung der Behindertenhilfe wie z.B. des LWV liegt, ist es zum
aus dem stationären Sektor (Einrichtungen) in Zwecke einer Umsteuerung von statio-
den ambulanten Sektor (ambulante Hilfen, när auf ambulant politisch sinnvoll, die
Betreutes Wohnen, Assistenzdienste) vorran- Zuständigkeit für ambulant betreutes
gig unter Kostengesichtspunkten zu diskutie- Wohnens – zumindest für einen befri-
ren und etwa erhebliche Einsparungen zu er- steten Zeitraum und mit einem klaren
warten. Es wäre auch müßig zu spekulieren, Umbauauftrag - beim überörtlichen Ko-
wie viele bislang in stationären Einrichtungen stenträger zusammenzuführen. Ent-
der Behindertenhilfe lebenden behinderten sprechende Initiativen z.B. des LWV
Menschen in ambulanten Wohn- und Betreu- Hessen oder der Landschaftsverbände
ungsformen leben könnten. Vielmehr muss im Rheinland und Westfalen-Lippe sind zu
Sinne allgemeiner Bürgerrechte und aus fach- unterstützen.
licher Sicht festgehalten werden, dass grund-
sätzlich für jeden behinderten Menschen – ̇ Die Differenzierung einzelner Wohn-
unabhängig seines individuellen Hilfebedarfs – formen nach dem Grad des Betreu-
ein Leben mit individuellen Wohn- und Hilfear- ungsbedarfs11 – individuelle Wohnfor-
rangements außerhalb von Heimstrukturen men für behinderte Menschen mit ge-
denkbar und praktikabel sind. Dafür gibt es ringerem Hilfebedarf, Wohngruppen
inzwischen praktische Beispiele z.B. bei der und Heime für solche mit höherem Be-
Betreuung schwerst körperbehinderter Men- treuungsbedarf – muss endlich durch-
schen oder bei Wohnmodellen für geistig be- brochen werden. Es widerspricht dem
hinderte Menschen in den skandinavischen Normalisierungsprinzip, dem Selbstbe-
Ländern. Umso verfügbarer notwendige Res- stimmungsanspruch und fachlichen
sourcen im ortsnahen bzw. regionalen Bereich Standards, Heime bzw. Wohnheime als
und umso besser die materielle und personelle Schwerstbehindertenzentren zu belas-
Ausstattung entsprechender Assistenzdienste sen. Auch geistig behinderten Men-
bzw. Wohnformen, umso mehr Menschen mit schen mit hohem Hilfebedarf sollten
Behinderungen können selbstbestimmt au- nach Ansicht der DHG Wohnformen wie
ßerhalb von Heimen wohnen. Außenwohngruppen, Einzel- oder
Gruppenwohnen sowie Betreutes Woh-
nen offen stehen.
̇ Die in der LWV-Konzeption genannte
Wohnform des „Intensiv Betreuten
Wohnens“ im Sinne eines Einzel, Grup-
Selbstbestimmung. Hamburg 2000 (Tagungsbe- pen- oder Paarwohnens12 ist ein wichti-
richt). ger und richtiger Schritt in die o.g.
10
vgl. Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft /
Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.): Es geht 11
um die Zukunft, wenn Maßnahmepauschalen Ein- Definition der einzelnen Wohnangebote, in: LWV,
zug halten (Tagungsbericht Fachtagung Kassel Wohnen im Verbund, Konzeption, Anlage 2.
12
1998) Kasse l/ Düren 1999 ebenda, Anlage 2 und insbesondere Anlage 5

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̈ ZUM ABSCHLUSS ________________________________________________________________

Richtung, um auch behinderten Men- DHG-Schriften 2002


schen mit Schwerst- und Mehrfachbe-
DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT (Hg.):
hinderung oder mit Problemverhalten Persönliche Assistenz – assistierende Begleitung.
bzw. psychischen Problemen in indivi- Veränderungsanforderungen für die professionelle
duelle Hilfearrangements einzubezie- Betreuung und für Einrichtungen der Behinderten-
hen. Nicht nur Menschen mit leichter hilfe. Von Erik Weber. Köln / Düren 2002 (54 S.)
geistiger Behinderung profitieren in be-
DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT (Hg.):
sonderer Weise von selbstbestimmten Individuelle Hilfeplanung. Anforderungen an die
individuellen Wohnformen, sondern Behindertenhilfe. Von Andrea Lübbe und Iris Beck.
auch behinderte Menschen mit hohem Hamburg / Düren 2002 (64 S.)
Hilfebedarf (z.B. mit ausgeprägten auti-
DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GESELLSCHAFT (Hg.):
stischen oder anderen Verhaltenspro-
Einigkeit und Recht und Gleichheit? Neue Weichen-
blemen oder aufgrund zusätzlicher Sin- stellungen in der Behindertenhilfe. (Tagungsbericht
nesbehinderung mit spezifischem DHG-Tagung Berlin 2001) Berlin / Düren 2002 (106
kommunikativen Assistenzbedarf). Je- S.)
doch erscheint der nur zaghaft formu-
lierte Rahmen (z. B. betreuungsfreie
Zeiten, keine ständige Nachtbereit-
schaft) für diese Wohnform noch unzu- ̈ DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE
reichend. Bei der Gesamtplanung nach GESELLSCHAFT E.V.
§ 46 BSHG und der Aufnahme in das GESCHÄFTSSTELLE:
„Intensiv Betreute Wohnen“ sowie bei MECKERSTR. 15, 52353 DÜREN
entsprechenden Leistungs-, Vergü-
tungs- und Qualitätsvereinbarungen
sollte dem tatsächlichen Hilfebedarf
auch bei Menschen mit Schwerst- und
Mehrfachbehinderung Rechnung getra-
gen werden.
̇ Neben dem Wohnen benötigen gerade
geistig behinderte Menschen mit hohem
Hilfebedarf auch Unterstützung zur
Partizipation in anderen Lebensberei-
chen, also für eine sinnvolle Beschäfti-
gung, für Freizeit und Bildung, für Teil-
habe am Leben in der Gemeinschaft
usw. Dies ist eine wichtige Aufgabe für
entsprechende Assistenzdienste und
muss in entsprechende Leistungs- und
Vergütungsvereinbarungen einfließen.

Die DEUTSCHE HEILPÄDAGOGISCHE GE-


SELLSCHAFT begrüßt die vom Landeswohl-
fahrtsverband Hessen angestoßene Erweite-
rung individueller Wohnformen und die Kon-
zeption „Wohnen im Verbund“, fordert aber
nachdrücklich, individuelle Wohnformen mit
den entsprechenden Assistenzdiensten auch
für Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbe-
hinderung oder Problemverhalten bzw. psychi-
schen Problemen zu erproben.

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FACHTAGUNG AM 28./29. NOV. 2002 IN HALLE / SAALE
LEBEN OHNE INSTITUTION ?
PERSPEKTIVEN FÜR DAS WOHNEN
GEISTIG BEHINDERTER MENSCHEN MIT HOHEM DHG-Geschäftsstelle
HILFEBEDARF Heilpädagogisches Heim Düren
Meckerstr. 15, 52353 Düren
* 02421 - 40-2228
* 0172 - 2038918 (Bradl)
Fax: 02421 - 402286
eMail: mail@dhg-kontakt.de
Internet: www.dhg-kontakt.de
PRESSEMITTEILUNG

Leben ohne Institution? - Mit diesem provozierenden Titel hat die Deutsche Heilpädago-
gische Gesellschaft (DHG) zu einer Fachtagung über Perspektiven für das Wohnen geistig
behinderter Menschen mit hohem Hilfebedarf nach Halle eingeladen. Zwei Tage lang disku-
tieren rund 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus verschiedenen Bundesländern über
neue Wege in der Behindertenhilfe, die der Zielsetzung des neuen Sozialgesetzbuches IX
(SGB IX) Rechnung tragen.
Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Menschen mit schwerer Behinderung mehr Selbstbe-
stimmung in ihrem Alltag erlangen können. Dazu gehören
̈ ein verändertes Selbstverständnis von Fachkräften (Assistenz statt Betreuung)
̈ mehr Mitwirkungsmöglichkeiten im Heim (Heimgesetznovelle)
̈ personenbezogene Hilfen, d.h. Ausbau ambulanter Dienste und Veränderung veral-
teter Heimstrukturen
̈ Gemeinwesenarbeit im Sinne von ‚Community Care’.
Dies soll eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung in allen Le-
bensbereichen sichern. Besondere Beachtung findet die gesellschaftliche Einbeziehung von
geistig behinderten Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten, die teilweise jahrzehntelang in
Psychiatrischen Kliniken fehlplatziert waren.
Wichtige Impulse für die Weiterentwicklung geben behinderte Menschen, die auf der Ta-
gung über ihre Erfahrungen im Wohnalltag und ihre Wünsche für die Zukunft berichten. Auch
Eltern von behinderten Söhnen und Töchtern sind in die Diskussion einbezogen. Sie haben
Gelegenheit zum Austausch mit Fachleuten über gegenseitige Erwartungen sowie Chancen
und Probleme der Zusammenarbeit.
Sehr besorgt sind die behinderten Menschen, Angehörigen und Fachleute, dass die be-
drohliche Finanzlage vieler Kommunen und Sozialbehörden besonders zu Lasten der
schwerst.- und mehrfach behinderten Menschen geht.
Die Tagung findet statt in Kooperation mit dem Landesverband Sachsen-Anhalt der „Le-
benshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.“ und dem Institut für Rehabilitation-
spädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Prof. Dr. Georg Theunissen).
Düren / Halle, den 26.11.2002
Dr. Christian Bradl, Vorsitzender DHG

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Dr. Christian Bradl, Kerpen (Vorsitzender), Dr. Monika Seifert, Berlin und Carsten Krüger, Berlin (stv. Vorsitzende)
Lothar Hildebrandt, Waldfischbach (Schriftführung); Walter Horstmann, Kassel (Kassenführung)
Antje Koepp, Hönow und Ulrich Niehoff, Herborn (Beisitz)

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