Sie sind auf Seite 1von 59

https://doi.org/10.

3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
CARL SCHMITT

D i e Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
CARL SCHMITT

Die Wendung zum


diskriminierenden Kriegsbegriff

Vierte Auflage

Duncker & Humblot · Berlin


https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in


der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 1938


Zweite Auflage 1988
Dritte Auflage 2003

Alle Rechte vorbehalten


© 2007 Duncker & Humblot GmbH
Neusatz auf Basis der 1938 erschienenen ersten Auflage
Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin
Printed in Germany
ISBN 978-3-428-12642-2

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Inhalt

Einleitung 7

I. Bericht über zwei völkerrechtstheoretische Werke 14

1. G. Scelle, Précis de Droit des Gens 17

2. H. Lauterpacht, The function of Law in the International Community 27

II. Bericht über zwei Abhandlungen aus The British Yearbook of International
Law 1936 32

1. Sir John Fischer Williams, Sanctions under the Covenant 34

2. Arnold McNair, Collective Security 39

III. Kritische Erörterung der neuen völkerrechtlichen Wendung zum diskriminie-


renden Kriegsbegriff 42

Schluß 58

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Seit mehreren Jahren werden in den verschiedensten Teilen der Erde
blutige Kämpfe ausgetragen, bei denen ein mehr oder weniger allgemeines
Einverständnis den Begriff und die Bezeichnung des Krieges vorsichtig
vermeidet. Es ist allzu billig, darüber zu spotten. I n Wahrheit tritt hier nur
mit ungeschminkter Deutlichkeit zutage, daß alte Ordnungen sich auf-
lösen und noch keine neuen an ihre Stelle getreten sind. I n der Problema-
tik des Kriegsbegriffs spiegelt sich die Unruhe der heutigen Weltlage. Es
zeigt sich, was immer galt, daß die Geschichte des Völkerrechts eine
Geschichte des Kriegsbegriffs ist. Das Völkerrecht ist nun einmal ein
„Recht des Krieges und des Friedens", jus belli acpacis, und w i r d das blei-
ben, solange es ein Recht selbständiger, staatlich organisierter Völker, das
heißt: solange der Krieg ein Staatenkrieg und nicht ein internationaler
Bürgerkrieg ist. Jede Auflösung alter Ordnungen und jeder Ansatz zu
neuen Bindungen wirft dieses Problem auf. Innerhalb einer und derselben
Völkerrechtsordnung kann es ebensowenig zwei widersprechende Kriegs-
begriffe wie zwei einander aufhebende Neutralitätsvorstellungen geben.
Daher w i r d heute der Kriegsbegriff zu einem Problem, dessen sachliche
Erörterung geeignet ist, den Nebel trügerischer Fiktionen zu teilen und
die wirkliche Lage des heutigen Völkerrechts erkennen zu lassen.
Heute haben die großen Mächte viele guten Gründe, Zwischenbildun-
gen und Zwischenbegriffe zwischen offenem Krieg und wirklichem Frie-
den zu suchen. Die Tatsachen, die mit der Formel „totaler Krieg" gemeint
sind, legen solche Zwischenbildungen besonders nahe 1 . Diese sind aber
nur Hinausschiebungen und Vertagungen, durch die das neue Problem
des Kriegsbegriffs keineswegs gelöst werden kann. Entscheidend ist, daß
zur Totalität eines Krieges vor allem seine Gerechtigkeit gehört. Ohne sie
wäre jeder Totalitätsanspruch ebenso eine leere Prätention, wie umgekehrt
der gerechte Krieg großen Stils heute von selbst der totale Krieg ist.
M i t den Erklärungen, unter denen der Präsident Wilson am 2. A p r i l
1917 sein Land in den Weltkrieg gegen Deutschland führte, ist das Pro-
blem des diskriminierenden Kriegsbegriffs in die Geschichte des neueren
Völkerrechts eingetreten. Damit hat sich die Frage des gerechten Krieges

1
Darüber der Aufsatz: „Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat", in der von Frei-
herrn von Freytagh-Loringhoven herausgegebenen Zeitschrift „Völkerbund und Völker-
recht" IV, 1937, S. 139-146, und der außerordentlich interessante Aufsatz von Baron
Julius Evola, „La guerra totale", in der Zeitschrift „La Vita Italiana (Ii Regime Fascista)"
XXV, 1937, S. 567.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
8 Einleitung

in einer ganz anderen Weise erhoben, als sie von scholastischen Theologen
oder von Hugo Grotius gemeint war. Für Nationen einer bestimmten
relativistischen oder agnostizistischen Geistesart gibt es heute keine heili-
gen Kriege mehr, obwohl die Erfahrungen des Weltkrieges gegen
Deutschland gezeigt haben, daß die Kriegspropaganda keineswegs auf die
Mobilisierung derjenigen moralischen Kräfte verzichtet, die nur durch
einen „Kreuzzug" zu erfassen sind. Für einen gerechten Krieg aber
braucht die moderne Geisteshaltung bestimmte Verfahren juristischer oder
moralischer „Positivierung". Der Genfer Völkerbund ist, wenn er über-
haupt etwas Nennenswertes sein soll, i m wesentlichen ein Legalisierungs-
system. Er soll das Urteil über den gerechten Krieg bei einer bestimmten
Stelle monopolisieren und die mit der Wendung zum diskriminierenden
Kriegsbegriff verbundene, folgenschwere Entscheidung über Recht und
Unrecht des Krieges bestimmten Mächten in die Hände geben. Er ist also,
solange er in dieser Form besteht, nur ein Mittel zur Vorbereitung eines i m
höchsten Grade „totalen", nämlich eines mit überstaatlichen und über-
nationalen Ansprüchen geführten, „gerechten" Krieges.

Die folgende Darlegung soll, an der Hand eines Berichtes über einige
kennzeichnende Veröffentlichungen des ausländischen völkerrechtlichen
Schrifttums, ein Bild des neuen Entwicklungsabschnittes geben, in den das
Völkerrecht der Nachkriegszeit seit den Jahren 1932/33 eingetreten ist.
Die Besonderheit dieses neuen Stadiums liegt darin, daß der Gedanke
einer Verbindung des heutigen Genfer Völkerbundes mit einer univer-
salen, ökumenischen Weltordnung, insbesondere die Durchführung der in
dieser Verbindung enthaltenen Unterscheidung von gerechten und unge-
rechten Kriegen, in eine solche Krisis geriet, daß man - wie die Ereignisse
in Ostasien, Afrika und Spanien zeigen - nicht nur nicht zwischen gerech-
tem und ungerechtem Krieg, sondern überhaupt nicht einmal mehr zwi-
schen Krieg und Nicht-Krieg zu unterscheiden vermochte. Eben diese
Krisis aber zwingt die Vertreter des Gedankens einer Verbindung von
Genfer Völkerbundsrecht und universalem Völkerrecht, für ihre Idee eine
deutlichere, sei es institutionell-föderalistisch, sei es rechtlich-moralisch
konkretere Gestaltung zu suchen. I n demselben Maße, in dem der Ge-
danke des Genfer Völkerbundes durch die politischen Ereignisse in eine
offensichtliche Krisis gerät, w i r d er gleichzeitig, durch eine A r t dialekti-
scher Notwendigkeit, zu einer Steigerung und Vertiefung weitergetrieben.
Eine Hierarchie bloßer Normen reicht jetzt offenbar nicht mehr aus; an
ihre Stelle soll entweder eine Hierarchie konkreter völkerrechtlicher Insti-

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Einleitung

tutionen und Autoritäten treten 2 oder es soll sonstwie der diskriminie-


rende Kriegsbegriff durchgesetzt werden. Die Institutionalisierung gibt
den vielen Programmen eines „konstruktiven Pazifismus" das, was man
eine juristische „Positivierung" nennen kann; sie verleiht der im Genfer
Völkerbund organisierten internationalen Völkerrechtsgemeinschaft die
Würde einer, trotz aller Unvollkommenheit nicht nur i m Grundsatz, son-
dern auch i m entscheidenden Ansatz heute bereits wirklichen, konkreten
Ordnung; der Genfer Völkerbund, und durch ihn schließlich auch die die
ganze Menschheit umfassende „communauté internationale", bekommt
entweder eine wirkliche „Verfassung", durch die institutionelle und ver-
fahrensmäßige Möglichkeiten einer wirksamen, „kollektiven" A k t i o n ge-
währleistet sind, oder er erhält wenigstens die Bedeutung einer für die
„moralische" Uberzeugung der Welt über Recht und Unrecht eines Krie-
ges entscheidenden Autorität. Die rechtswissenschaftlichen Mittel und
Argumentationen sowohl der typisch französischen „Institutionalisierun-
gen", wie der typisch englischen „Konkretisierungen" des Rechtspro-
blems werden sich aus dem folgenden Bericht ergeben. Ihre völkerrechts-
theoretische wie ihre politisch-praktische Bedeutung ist heute - wegen
der neuen, gerade durch die Krisis von Völkerbund und Völkerrecht
gesteigerten Intensität des außenpolitischen Problems - eine andere und
größere als die von früheren, rein literarischen Äußerungen, wie zum Bei-
spiel die der vielen rechtslogischen Konstruktionen einer „Verfassung"
der Völkerrechtsgemeinschaft, oder der seit Wehberg-Schückings Kom-
mentar zur Völkerbundssatzung (1921) oft wiederholten Behauptung, der
Genfer Völkerbund sei ein „Staatenbund" i m Sinne der bisherigen, haupt-
sächlich im deutschen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts entwickelten
Begriffsantithese zum Bundesstaat, mit „eigenen", nicht nur „gemein-
samen" Organen 3 . Es geht heute, anders und mehr als je, um die Frage des
gerechten Krieges.

Das erste Jahrzehnt der Nachkriegszeit war völkerrechtlich von einem


Vertragspositivismus beherrscht, dessen Haltung und Leistung im ganzen
darin bestand, unter Berufung auf die Heiligkeit der Verträge und den Satz
pacta sunt servanda den Status quo der Pariser Vorortsverträge zu legali-
sieren, und über dem als unentbehrliche, aber wissenschaftlich nicht ganz

2
Georges Scelle , Völkerbund und Völkerrecht, herausgegeben von Freiherrn von
Freytagh-Loringhoven, 1. Jahrgg. (1934), S. 7; dazu Carl Bilfinger; ebenda, 4. Jahrgg.
(1937), S. 345 (Zur Lage des VB.Rechts).
3
Uber diese Literatur und ihre durch Zitierungen allmählich sich ansammelnde
„herrschende Ansicht": Jos. Kunz, Die Staatenverbindungen (Handbuch des Völker-
rechts II, 4), Wien 1929, S. 505, und das dort zitierte Schrifttum, ferner Claudio Baldoni,
La sociétà delle Nazioni, Bd. I, p. 74, Studi di Diritto Pubblico, diretti da Donato Donati
Nr. 10, Padua 1936.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
10 Einleitung

überzeugende A b r u n d u n g auf der einen Seite die I d e o l o g i e n des Pazifis-


mus, auf der anderen die leeren, alles u n d nichts enthaltenden I d e o g r a m m e
u n d „logischen Zurückführungen" einer „ r e i n e n Rechtslehre" schweb-
4
t e n . Seit d e m Jahre 1932 aber - das entscheidende P h ä n o m e n ist die m i t
d e m japanischen V o r s t o ß i n Ostasien sich durchsetzende, neue P r o b l e m a -
t i k des v ö l k e r b u n d s r e c h t l i c h e n Kriegsbegriffs - spiegelt sich die D y n a m i k
der p o l i t i s c h e n Ereignisse auch i n der Völkerrechtswissenschaft. Der
ideenlose Vertragspositivismus des b l o ß e n Status q u o k o n n t e n i c h t n u r
d e n „ Z e r f a l l des Versailler Vertrages" n i c h t a u f h a l t e n 5 ; er w u r d e auch
rechtstheoretisch unhaltbar. D e n Satz „ p a c t a sunt servanda" m u ß t e n ge-
rade die A n h ä n g e r einer neuen, universalistischen W e l t o r d n u n g i n w a c h -
sendem U m f a n g auch wissenschaftlich als u n z u l ä n g l i c h e G r u n d l a g e einer
N e u o r d n u n g e m p f i n d e n . D e r B e g r i f f der „ R e v i s i o n " erlebte eine u n e r w a r -
tete A u s w e i t u n g ; ü b e r die eigentlichen „ R e v i s i o n e n " v o n Verträgen hinaus
w u r d e j e t z t neben der „ k o l l e k t i v e n Sicherheit" auch die N o t w e n d i g k e i t
echter R e f o r m e n u n d w i r k s a m e r R e c h t s e i n r i c h t u n g e n u n d Verfahrenswei-
sen einer allgemeinen „ f r i e d l i c h e n Ä n d e r u n g " , eines „peaceful change",
e r k a n n t , eine N o t w e n d i g k e i t , die sich d u r c h H i n w e i s e auf A r t . 19 VS.
n i c h t m e h r als „ u n j u r i s t i s c h " oder „ u n w i s s e n s c h a f t l i c h " a b t u n l i e ß 6 . D i e

4
Carl Schmitt, Nationalsozialismus und Völkerrecht, Berlin 1934, Schriften der
Deutschen Hochschule für Politik, herausgegeben von Paul Meier-Benneckenstein, Heft
9, dazu die Besprechung von Herbert Kraus, Niemeyers Zeitschrift für Internationales
Recht, Bd. 50, S. 151. Zu S. 11 der Ausführungen meines Vortrages „Nationalsozialismus
und Völkerrecht" hat mich Herr Professor A. von Verdroß (Wien) darauf aufmerksam
gemacht, daß er in seinem Buch „Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft", Berlin
1926, zwar den Satz „pacta sunt servanda" zur „Grundnorm der einheitlichen Völker-
rechtsordnung" gemacht, damit aber keineswegs eine Anerkennung der Pariser Vororts-
diktate gemeint habe, die vielmehr als unsittliche Verträge ungültig seien, wie spätere
Veröffentlichungen, insbesondere der Aufsatz „Heilige und unsittliche Staatsverträge"
in Völkerbund und Völkerrecht, 2. Jahrgg. (1935), S. 164, und „Der Grundsatz pacta sunt
servanda und die Grenze der guten Sitten", Ztschr. f. Öffentliches Recht, X V I (1936),
S. 79, klarstellen. Ich nehme gern davon Kenntnis und benutze gern diesen Anlaß, um
den von meinem Wiener Kollegen gewünschten Hinweis anzubringen.
5
W. Ziegler; Der Zerfall des Versailler Vertrages, eine geschichtliche Darstellung, Ver-
öffentlichungen der Forschungsabteilung der Deutschen Hochschule für Politik, Bd. 1,
Berlin 1937.
6
Die Formel dürfte in dieser Prägung auf den Titel der im Jahre 1932 erschienenen
Schrift von Sir John Fischer Williams, International Change and International Peace, zu-
rückgehen. Weiteres Schrifttum bei Heinrich Rogge, Das Revisionsproblem, Theorie der
Revision als Voraussetzung einer internationalen wissenschaftlichen Aussprache über
„Peaceful Change of Status quo", Berlin 1937. Uber die Internationale Studienkonferenz
über kollektive Sicherheit, London, 2.-8. Juni 1935, vgl. den Bericht von F. Berber in
Bruns Ζ. V (1935), S. 803-818. In der Akademie für Deutsches Recht ist dieses Thema
auf Grund eines Vortrages von Professor Arnold Toynbee (London) am 28. Februar
1936 in Berlin erörtert worden (Jahrbuch der Deutschen Akademie für Deutsches Recht,
1936, S. 225). Uber die in Paris vom 28. Juni bis 3. Juli abgehaltene Internationale Stu-

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Einleitung

chaotische Verwirrung des Kriegsbegriffs, die sich angesichts der Ereig-


nisse in Ostasien und in Spanien in tragischer Weise dokumentierte,
brachte dann die ganze Ratlosigkeit eines neuen, vom Völkerrecht noch
nicht bewältigten Entwicklungsstadiums schließlich aller Welt zum
Bewußtsein.

I n dieser Lage steht auch die am Genfer Völkerbund und seinen Zielen
und Idealen sich ausrichtende, rechtswissenschaftliche Theorie und Syste-
matik vor neuen Aufgaben und Fragestellungen. Ihre Anknüpfung an die
Normativistik des ersten Abschnitts ist dabei nicht zu verkennen. Syste-
matische Gebäude und gut durchdachte Theorien stehen gewöhnlich nicht
am Anfang, sondern am Ende einer Epoche. Daher sind die i m folgenden
behandelten theoretischen Arbeiten nicht etwa in bewußter Abkehr von
der Arbeit der vorangehenden Jahre, sondern sogar wesentlich aus ihr her-
aus entstanden. Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie sozusagen von selbst,
durch die Entwicklung der Dinge getragen, in das neue Stadium eingehen
und durch die neuen Ereignisse eine andere, ernstere A r t von Aktualität
erhalten, als sie das Schrifttum des vorangehenden, durch die Illusion der
erreichten Legitimierung des Status quo gekennzeichneten Abschnittes
aufzubringen vermochte. Wenn sich hier selbstverständlich viele Zusam-
menhänge mit dem bisherigen Schrifttum, viele Anknüpfungen, Über-
gänge und Zwischenbildungen feststellen lassen, so kommt es doch darauf
nicht an. I m ganzen tritt die Eigenart des neuen, durch den Versuch einer
wirklichen „Institutionalisierung" gekennzeichneten Entwicklungsab-
schnitts seit mehreren Jahren deutlich genug zutage. Insbesondere haben
die Bemühungen um eine Aktivierung des Genfer Völkerbundes gegen
Italien (Herbst 1935) alle großen kritischen Fragen - Kriegsbegriff, neuer
Neutralitätsbegriff, rechtliche Natur des Völkerbundes - aufgeworfen; die
Sanktionsversuche gegen Italien können geradezu als ein „pathogno-
mischer Moment" betrachtet werden, das heißt als ein Augenblick, der
das kritische Stadium der „Institutionalisierung" oder „Konkretisierung"
von Völkerbund und Völkerrecht nach vorwärts wie nach rückwärts
plötzlich in hellstem Lichte zeigt und es dadurch wissenschaftlich erkenn-
bar macht.

Dabei ist es nicht zufällig, daß die interessantesten Leistungen des neuen
Stadiums dem französischen und dem englischen Schrifttum angehören.
I m ersten Abschnitt des Völkerrechts der Nachkriegszeit, von 1920 bis

dienkonferenz „Peaceful Change" vgl. die Berichte von F. Berber und D. von Kenvers in
den „Monatsheften für Auswärtige Politik", August 1937; zu dem Buch von Werner
Gramschy Grundlagen und Methoden internationaler Revision, Stuttgart und Berlin
1937 vgl. die Besprechung von Bertram in der Zeitschrift „Völkerbund und Völker-
recht", IV (1937), S. 398/99.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
12 Einleitung

1932, konnte das die Aktivität von Staatsmännern wie Benesch und Politis
begleitende rechtstheoretische Bemühen sich noch mit einem in Wien
geborenen Normativismus zufrieden geben, der in mancher Hinsicht nur
ein Reflex der abnormen völkerrechtlichen Lage des Nachkriegs-Öster-
reich war 7 , und an dem sogar noch die Züge einer für die vergangene habs-
burgische Monarchie typischen, abstrakten A r t von Jurisprudenz nach-
gewiesen worden sind 8 . Jetzt dagegen ändert und erweitert sich der H o r i -
zont. A m auffälligsten hat die mit den Sanktionsversuchen gegen Italien
seit Oktober 1935 sich aufdrängende, völkerbundsrechtliche Problematik
die Tatsache enthüllt, daß es sich seit langem nicht mehr um neue N o r -
men, sondern um neue Ordnungen handelt, um deren konkrete Gestal-
tung sehr konkrete Mächte ringen. So darf man sagen, daß das völker-
rechtliche Denken, wie es sich in den hier interessierenden, neueren Ver-
öffentlichungen bekundet, seine Folie in der politischen Gesamtlage von
Weltmächten wie England, Frankreich und den Vereinigten Staaten von
Amerika findet, und daß es das Licht der Welt nicht zufälligerweise statt
in Wien, in London und Paris erblickt hat 9 .
Sobald die wissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen den A n -
sprüchen einer institutionalisierten, übervölkischen, ökumenischen Welt-
ordnung und dem Selbstbehauptungswillen freier Völker sich steigert und
vertieft, erscheinen zahlreiche Fragen und Probleme, die in anderen Zeiten
der Rechtsphilosophie oder einfach der pädagogischen Taktik des Unter-
richts überlassen werden, plötzlich in einem neuen, oft geradezu revolu-
tionären Aspekt. Das betrifft nicht nur die bekannten alten Grundfragen
allgemeiner Natur: Monismus oder Dualismus bzw. Pluralismus, Primat
des Völkerrechts oder des Landesrechts, Subordinations- oder Koordina-
tionsrecht, Souveränität oder Nicht-Souveränität der Staaten, Uberstaat-
lichkeit oder Zwischenstaatlichkeit des Völkerrechts, Herrschaftsgemein-
schaft oder Rechtsgemeinschaft; es gilt in ganz besonderem Maße auch für
die Frage, wie das neue völkerrechtswissenschaftliche System aufgebaut
werden soll und an welcher Stelle dieses Systems die einzelnen, praktisch
wichtigen Fragen einzureihen sind. So ist es beispielsweise ein folgenrei-

7
Carl Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes, 1926, S. 11, Völkerrechtliche Pro-
bleme im Rheingebiet (Rheinische Schicksalsfragen, Schrift 27/28), Berlin 1928,
S. 86/87; Rheinischer Beobachter, 1928, S. 340.
8
Erich Voegelin, Der autoritäre Staat, Wien 1936, S. 127 (die reine Rechtslehre Kel-
sens in der Tradition der österreichischen Staatslehre). Daß das Lehrbuch des Völker-
rechts von Alexander Hold-Ferneck (1930-1932) nicht in diesen Zusammenhang ge-
hört, versteht sich von selbst.
9
Der folgende Bericht beschränkt sich auf französische und englische Veröffentli-
chungen; die zum Gesamtbild gehörende amerikanische Literatur (Quincy Wright,
Hudson u. a.) soll in einem besonderen Bericht erörtert werden.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
Einleitung

cher Unterschied, ob man die Kolonie, wie bisher, nur als Ausstrahlung
der Staatsgewalt im Anhang zu der Lehre von den Staaten als Völker-
rechtssubjekten, vielleicht als eine Qualifizierung bei der Lehre vom
Staatsgebiet und dem räumlichen Herrschaftsbereich der Staaten behan-
delt, oder ob die Kolonialgewalt, wie das neuerdings vertreten wird, als
eine spezifisch völkerrechtliche Erscheinung anzusehen ist, die ihre recht-
liche Begründung in einem Auftrag und einer „Delegation" findet, die
von einer regionalen oder von der universalen Völkerrechtsgemeinschaft
erteilt wird, so daß der Mandatsgedanke des Art. 22 VS. ein erster, positiv-
rechtlicher Ansatz eines neuen, ins Regionale oder Universale zu verall-
gemeinernden Prinzips wäre. So ist es ferner zum Beispiel nicht gleich-
gültig, an welcher Stelle des völkerrechtlichen Gesamtsystems die Frage
des sogenannten völkerrechtlichen Minderheitenschutzes behandelt wird,
ob sie grundsätzlich eine ausschließlich innerstaatliche Angelegenheit,
„domaine exclusif" des einzelnen Staates ist oder Ausdruck eines die staat-
lichen Grenzen sprengenden Volksbegriffs, der im Gegensatz zum Staat
das Volk zum maßgebenden Völkerrechtssubjekt erhebt; ob sich eine völ-
kerrechtlich wirksame Qualifizierung des Staatsangehörigkeitsbegriffs in
ihr äußert oder ein völkerrechtliches Mandat eines bestimmten Staates,
einer Gruppe von Staaten oder gar der universalen Völkerrechtsgemein-
schaft; ob sie ein Homogenitätsproblem 1 0 , ein Interventionsproblem oder
ein Ausfluß der völkerrechtlich unmittelbaren Stellung des einzelnen,
Staatsangehörigen Individuums ist. So ist es, u m weitere Beispiele heraus-
zugreifen, auch für das politische Ergebnis nicht gleichgültig, ob die Freie
Stadt Danzig bei den „Staaten" oder aber etwa i m Rahmen der Lehre vom
Genfer Völkerbund ihren Platz i m System des Völkerrechts findet, ob der
Genfer Völkerbund als Krönung des Völkerrechts oder nur i m Rahmen
der völkerrechtlichen Verträge erscheint. Schließlich sei noch daran erin-
nert, daß auch der Begriff der „ Piraterie" der plötzlich wieder aktuell ge-
worden ist, seit langem ein merkwürdiges Problem darstellt, das auf der
einen Seite als eine nur noch theoretisch interessante Bagatelle, auf der an-
deren aber als Einbruchsteile eines völlig neuen, den Staatsbegriff spren-
genden Völkerrechts erscheint 11 .

Diese Beispiele mögen genügen, um die praktische Bedeutung der Völ-


kerrechtssystematik und der, wenn ich so sagen darf, „systematischen
Begriffsstandortslehre" anzudeuten. Dadurch, daß eine bestimmte Frage

10
Dazu die Darlegungen von H. Raschhofer, Die Krise des Minderheitenschutzes,
in Bruns Z. V I (1936), S. 238 f.: gewisse individualistisch konstruierte Freiheiten als
„base de l'organisation sociale dans tous les Etats de l'Europe" und „Standard der
Staatsstruktur".
11
Darüber unten in diesem Bericht, S. 51 und 57.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
14 I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

an einer bestimmten Stelle des völkerrechtlichen Systems behandelt wird,


sind bereits entscheidende Ergebnisse vorweggenommen. Die „Flugbahn
eines Begriffs", um dieses anschauliche Bild eines jungen Franzosen zu
übernehmen 12 , die Überzeugungskraft und Folgerichtigkeit eines völker-
rechtlichen Gedankens, w i r d nicht nur durch den Inhalt einer isolierten
Vorstellung, sondern wesentlich durch den Standort eines Begriffs in einem
Begriffssystem bestimmt.

Daher beginnt die folgende Darlegung mit einem Bericht über zwei
mehr theoretische, vielfach noch in der Denkarbeit des vorangehenden
Stadiums verwurzelte, völkerrechtswissenschaftliche Werke des französi-
schen und englischen Schrifttums, um dann einige konkret-praktische
Argumentationen, vor allem englischer Autoren, zu behandeln. I n dieser
Reihenfolge liegt kein Urteil über die größere oder geringere wissen-
schaftliche Bedeutung, vielmehr bedürfen alle systematischen und rechts-
theoretischen Behauptungen einer Ergänzung durch einige typische
Argumentationen konkret-praktischer Stellungnahmen. N u r dadurch ent-
steht ein Gesamteindruck, der dazu beitragen kann, das gegenwärtige
Stadium der am Genfer Völkerbund ausgerichteten Völkerrechtswissen-
schaft und ihre Stellung zum Problem des gerechten Krieges richtig zu ver-
stehen.

I.

Die theoretischen Arbeiten, die hier zuerst behandelt werden sollen,


sind: der bisher in zwei Bänden vorliegende „Précis de droit des gens" des
berühmten Pariser Völkerrechtslehrers und Vorkämpfers des universalisti-
schen Völkerbundsgedankens Georges Scelle (Band I 1932, Band I I 1934),
der in bewußter Unterscheidung nicht mehr, wie es üblich geworden war,
von einem „ D r o i t international", sondern vom „ D r o i t des gens" als einem
wirklichen Völkerrecht spricht; und das 1933 erschienene, A . D . M c N a i r
gewidmete Buch des Lehrers des öffentlichen internationalen Rechts an
der Londoner Universität H. Lauterpacht, „The Function of Law in the
International Community", das auch deshalb besondere Beachtung ver-
dient, weil sein durch zahlreiche völkerrechtliche Abhandlungen und Vor-
träge bekannter Autor das weltbekannte völkerrechtliche Lehrbuch von
L. Oppenheim, „International Law", weiterführt. Die beiden Werke von
Scelle und Lauterpacht scheinen mir besonders wichtige Anzeichen dafür
zu sein, daß die völkerrechtswissenschaftliche Erörterung auch in syste-

12
William Gueydan de Roussell, Demaskierung des Staates, Europäische Revue 1936,
S. 799.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

matischer und rechtstheoretischer Hinsicht in ein neues, interessanteres


Stadium eingetreten ist. Beide gehen in ihrer grundsätzlichen und syste-
matischen Konkretisierung über den früheren Positivismus und Normati-
vismus weit hinaus. Der Satz „pacta sunt servanda" ist für sie der Aus-
druck eines noch voluntaristischen, das heißt auf den subjektiven Willen
der einzelnen Staaten begründeten Völkerrechts, mag dieser Wille auch als
der durch „Vereinbarung" entstehende „Gemeinwille" der Lehre Triepels
aufgefaßt werden 1 3 . Beide Werke erstreben eine durch Institutionen gesi-
cherte, universale Weltrechtsordnung, wobei Genfer Völkerbund, univer-
sale Völkerrechtsgemeinschaft, Weltrechtsordnung und Menschheit sich
gegenseitig durchdringen, ergänzen und vorwärtstreiben. Während das
vor kurzem erschienene Lehrbuch des Völkerrechts von Alfred von Ver-
droßt die Staaten trotz des „Primats des Völkerrechts" als „souveräne
Rechtsgemeinschaften" behandelt und auf ihnen seine Systematik aufbaut,
wobei zwischen Völkerrecht und Weltbundesstaatsrecht ausdrücklich
unterschieden w i r d (§ 7, S. 47), zeigen die genannten beiden Arbeiten, daß
die Dynamik der Weltereignisse auch die am Genfer Völkerbund aus-
gerichtete Völkerrechtswissenschaft zu kühneren Institutionalisierungen
treibt. Die Unterscheidung von gegenwärtig-positivem und künftigem
Recht, ebenso die von Genfer Völkerbund und universaler Völkerrechts-
gemeinschaft, w i r d dabei zwar anerkannt, aber dann doch gleichzeitig in
einer oft widerspruchsvollen und unklaren Weise auf der einen Seite durch
den Aufbau des Systems und durch die Positivierung bestimmter Grund-
sätze in ihrer Bedeutung vermindert, da von dem „grundsatzwidrigen"
Völkerrecht immer weniger übrigbleibt; auf der anderen Seite geht die
Verschiedenheit von lex lata und lex ferenda in einer starken Fortschritts-
und Entwicklungstendenz unter, weil das diesem Fortschritt widerspre-
chende positive Völkerrecht nur noch als eine bereits zum Untergang ver-
urteilte Abnormität behandelt wird. Statt einer Rechtswissenschaft des
bloßen Status quo scheint also jetzt eine geradezu gegenteilige Leistung
erbracht zu sein: eine revolutionär-neue Systematik und eine auf all-
gemeine Rechtsgrundsätze sich stützende, die vorwärtsdrängende Dyna-
mik des Weltgeschehens in sich aufnehmende, völkerrechtliche Jurispru-
denz eines werdenden Rechts. Angesichts des Werkes von Scelle könnte
man vielleicht sogar einen Augenblick glauben, hier sei auf völkerrechts-
wissenschaftlichem Gebiet die erstaunliche Voraussage Proudhons ver-

13
Für uns sind die theoretischen und praktischen Bedenken gegen Triepels „Verein-
barung", die schließlich doch in einem Willenspsychologismus stecken bleibt, durch
Gustav Adolf Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, Stuttgart 1933, S. 19-27,
abschließend dargelegt worden.
14
Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, Abteilung Rechtswissenschaft,
herausgegeben von E. Kohlrausch und H. Peters, Berlin 1937.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
16 I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

wirklicht, das 20. Jahrhundert werde in analoger Weise föderalistisch sein,


wie das 19. Jahrhundert konstitutionalistisch w a r 1 5 .
Untereinander sind die beiden Werke sehr verschieden, nicht nur i m Stil
und in ihrer geistigen Prägung, sondern auch in ihren Methoden der Insti-
tutionalisierung und in den Vorstellungen, die sie sich von der Struktur
der institutionalisierten Völkerrechtsgemeinschaft und von deren art-
bestimmender Institution machen. Scelle baut ein völlig neues System des
Völkerrechts auf, das trotz zahlreicher Widersprüche zu früheren Äuße-
rungen des Autors und trotz großer Unklarheiten in wichtigen Fragen
(zum Beispiel der Struktur des Völkerbundes) doch als ein geschlossenes
Ganzes wirkt. Es beseitigt die gesamte bisherige, durch die zentrale Stel-
lung des Staates bestimmte Systematik des Völkerrechts und läßt sie als eine
veraltete, geradezu mittelalterliche Angelegenheit erscheinen. Dieses
System ist radikal individualistisch, demokratisch i m Sinne des konkret-
wirklichen (nicht nur „logisch-rückführbaren") Primats einer überstaat-
lichen, internationalen Rechtsordnung. Man kann das Werk als die erste,
mit aller Folgerichtigkeit durchgeführte Völkerrechtssystematik der in-
dividualistischen, liberal-demokratischen Weltanschauung bezeichnen.
Durch seine Kunst, politische Ziele und Ideale in juristische Formulierun-
gen und systematische Konstruktionen zu kleiden, steht Scelle in der gro-
ßen rechtswissenschaftlichen Tradition, die mit den Legisten des französi-
schen Mittelalters beginnt und die sich bisher noch in jedem Jahrhundert
der neueren Geschichte Europas in den verschiedensten außen- und innen-
politischen Situationen bewährt hat. Sein rechtswissenschaftlicher Typus
ist dadurch bestimmt, daß er die Gesetzgebung, die Legislative, zur art-
bestimmenden Institution der institutionalisierten Völkerrechtsgemein-
schaft macht und sie als „erste Funktion", als Grundlage des Systems ein-
führt, während die internationale Rechtsprechung, als „zweite Funktion",
erst i m kommenden dritten Band behandelt werden soll. Die Legislative,
die man i m Völkerrecht so lange vermißt hatte, w i r d auf das kühnste
gleich in seinen Mittelpunkt hineinkonstruiert.
Scelles weltumfassende Völkerrechtsordnung w i r d dadurch zum über-
staatlichen Spiegelbild eines Gesetzgebungsstaates, wie es Frankreich, das*
Vaterland berühmter Gesetzeskodifikationen, seit langem ist. Neben ei-
nem solchen Werk, das den ganzen Reiz einer radikalen, systematischen
Neuschöpfung hat, w i r k t das Buch von H. Lauterpacht sehr vorsichtig
und konservativ und durchaus nicht in entsprechender Weise typisch eng-

15
D u principe fédératif, Paris 1863, S. 109. A n dieser Stelle zieht Proudhon auch die
oft (z. B. von Spengler) wiederholte Parallele der heutigen Gegenwart mit dem Beginn
der „ère actiaque", die 30 v. Chr. durch die Schlacht bei Aktium mit einer langen Frie-
densperiode einsetzte.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

lisch. Es bedeutet auch keine repräsentative englische Stellungnahme in


dem Sinne, wie die im folgenden zu besprechenden Aufsätze von eng-
lischen Rechtsgelehrten wie Sir John Fischer Williams und A . D. McNair.
Das ist bei der Herkunft des aus dem galizischen Polen stammenden A u -
tors leicht begreiflich. Aber als ein juristisches Werk, zwar nicht so sehr
systematischer als rechtstheoretischer Art, nimmt es i m englischsprachi-
gen Schrifttum der letzten Jahre eine hervorragende Stellung ein. Es
knüpft mit großer Umsicht an die spezifisch englischen Einrichtungen
und Denkweisen des common-Law und des Richterrechts an, erörtert in
einer sorgfältigen Untersuchung eine große Fülle von Vorentscheidungen,
vermeidet die legistisch-konstruktivistischen Begriffe Scelles und hält sich
mehr an die anerkannten Grundsätze der allgemeinen Rechtslehre, durch
deren kritische Analyse es, Schritt für Schritt, den Boden gewinnt, auf
dem dann schließlich doch der Staat und das in ihm organisierte Volk ent-
thront ist und eine civitas maxima , mit einem universalen common law
und einem internationalen Richtertum als spezifischer Institution er-
scheint. So spiegelt sich in den beiden Werken der tiefe Gegensatz des fran-
zösischen Staates und des englischen Commonwealth, der Gegensatz eines
an einer „Legislative" ausgerichteten, zur geschriebenen Kodifikation
drängenden Gesetzesdenkens und eines durch richterliche Entscheidungen
getragenen, gemeinrechtlichen case law. Konstitutionalisierung und Insti-
tutionalisierung von Völkerbund und Völkergemeinschaft bedeuten, wie an
diesen beiden Büchern deutlich wird, etwas Verschiedenes, je nachdem ihre
Konstruktionen und Analogien in der französischen oder in der englischen
Verfassung, in den Institutionen des französischen oder denen des eng-
lischen „Rechtsstaates" ihren Ausgangspunkt haben 16 . Aber trotz dieser
Verschiedenheiten, trotz des Unterschiedes auch der Methoden, des Stils
und der Temperamente, gelangen beide Autoren zu ihrem gleichen Ziel, zu
einer universalen und institutionalisierten Weltrechtsordnung. Beide stehen
daher in der gleichen Front. Auch darin liegt ein Grund dafür, gerade diese
zwei völkerrechtstheoretisch wichtigsten Arbeiten der letzten Jahre für
eine nähere Betrachtung auszuwählen. Der Bericht über das Werk von
Scelle ist dabei ausführlicher gehalten, weil seine Arbeit die erste, über
bloße Programme und Postulate hinausgehende, wirklich systematische
Gestaltung eines liberaldemokratischen Internationalrechts darstellt.
1. Scelle hat den Staat aus seiner bisherigen zentralen Stellung im Völ-
kerrecht radikal entthront. Er spricht ihm jede Rechtspersönlichkeit und

16
Über die Verschiedenheit des Begriffes „Rechtsstaat", die sich ergibt, je nachdem
ein Gemeinwesen mit common-law und Richterstand oder aber ein Gesetzesstaat mit
staatsbeamteter Justiz in Frage steht, vgl. Bruns Z. V I (1936), S. 268; über die Abhängig-
keit der völkerrechtlichen von der wechselnden innerstaatsrechtlichen Begriffsbildung:
Dickinson , Am. Journal of Int. Law 26 (1932), p. 239.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
18 I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

jede Rechtssubjektivität ab. Die Staatsperson, der Etat-personne, ist für


ihn eine bloße Fiktion. Rechtssubjekt ist nur das menschliche Individuum;
alles übrige w i r d als unwissenschaftliche, mittelalterliche „Metaphysik"
oder als „Anthropomorphismus" abgetan. Die Rechtsregel (Norm) ist
ein Ausdruck der sozialen Solidarität von Menschen, die kollektive
Gruppen verschiedener A r t bilden: ökonomische, religiöse, territoriale
und andere Kollektivitäten, unter denen der Staat nur eine von vielen
„sozialen Gruppen" ist, und die in ihrer Mannigfaltigkeit zusammen das
große Bild der Einteilung des Menschengeschlechts auf verschiedene
Sozietäten, „le tableau de la répartition de l'éspèce humaine" auf die
mannigfaltigen „sociétés", darstellen. Die Verwandtschaft dieser Kon-
struktion mit der Lehre vom sozialen Pluralismus des an der gleichen
Londoner Hochschule wie Lauterpacht wirkenden jüdischen Professors
Laski sei hier wenigstens erwähnt, obwohl dieser Autor, der aus der
pragmatistischen Philosophie des echten Angelsachsen William James die
Sozialtheorie der zweiten Internationale gemacht hat, bei Scelle nicht
besonders genannt ist 1 7 . Der Staat des bisherigen Völkerrechts verwan-
delt sich dadurch in eine den jeweils regierenden Personen zustehende,
durch völkerrechtliche Normen begrenzte und delegierte Kompetenz.
Daß diese Position der Regierenden an einer unglücklichen Doppelseitig-
keit von internationaler und innerstaatlicher „Funktion" leidet, w i r d aus
der heute noch bestehenden Primitivität und Unvollkommenheit der in-
ternationalen Organisation erklärt, soll aber an dem bereits geltenden
Grundsatz nichts ändern. So entstehen plötzlich „internationale" Instan-
zen aus Einrichtungen, die sich selber bisher fraglos für nichts als „natio-
nal" hielten. Die Hierarchie der Normen ist auf die einfachste Weise der
Welt, mit Hilfe des Begriffs der „Kompetenz", zu einer Hierarchie
internationaler Autoritäten und Institutionen vervollkommnet. Kom-
petenz-Kompetenz hat in diesem System nur die völkerrechtliche Welt-
rechtsordnung, „le système juridique mondial du droit des gens" (I 250).
Die schwierige Frage nach dem Adressaten der Völkerrechtsnorm, ebenso
das vielbesprochene Problem der Transformation, sind ganz bedeutungs-
los geworden, da die Schranken des Staates gefallen sind und das Indivi-
duum zum einzigen Rechtssubjekt, daher auch zum unmittelbaren Völker-
rechtssubjekt, und zum einzige Adressaten jeder N o r m erhoben ist. Die-
ser Gedankengang ist durch Duguits Lehre von der objektiven, „sozialen
Regel" und durch Kelsens normativistische Vorstellungen stark beein-
flußt 1 8 ; er überholt aber beide dadurch, daß er der N o r m eine „ D y n a m i k "

17
Über diese pluralistische Sozialtheorie: Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen,
3. Ausgabe, Hamburg 1933, S. 20 ff., Kant-Studien, X X X V (1930), S. 29 f.
18
Walter Schiffer; Die Lehre vom Primat des Völkerrechts in der neueren Literatur,
Wiener rechts- und staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. X X V I I , Wien 1937,

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

zuschreibt, die Institutionen schafft und das „droit normatif" in ein „droit
constructif" verwandelt (11/53, 548). Normativistisch und objektivistisch
im Sinne der Ablehnung jedes subjektiven Willens, auch eines durch „Ver-
einbarung" entstehenden, internationalen „Gemeinwillens", ist die Erhe-
bung der objektiven, sozialen Regel über den Gesetzgeber; die Rechtsregel
w i r d als etwas vor und über dem Gesetzgeber Stehendes, „antérieure et
supérieure au législateur" gedacht (II, 337). Legistisch dagegen, i m Sinne
des Bedürfnisses nach einer Legislative ist die Konstruktion eines „législa-
teur" durch Verwandlung des völkerrechtlichen Vertrages in einen „acte-
règle". Das unlösbar scheinende Problem der „internationalen Gesetz-
gebung" w i r d dadurch gelöst, daß die völkerrechtlichen Verträge nicht
mehr, wie bisher, als obligationenrechtliche Verträge im Sinne eines bloßen
„contrat", sondern als legislative Akte gedeutet werden. Die nur obliga-
tionenrechtliche, nur subjektive, nicht gesetzlich-objektiv verbindliche
Verpflichtungen begründenden „contrats" werden als etwas Seltenes, als
bloße Nachwirkungen patrimonialen Staatsdenkens hingestellt, bei denen
es sich um Angelegenheiten wie Geld, bewegliches Vermögen, Gebiets-
abtretungen und dergleichen handelt. I m übrigen soll das, was man bisher
als völkerrechtlichen „Vertrag" bezeichnet hat, normalerweise nicht nur
eine „Vereinbarung" i m Sinne der Lehre Triepels, sondern unmittelbar ein
wahrer legislativer A k t sein, ein „traité-loi". Die Verbindlichkeit des völ-
kerrechtlichen Vertrages beruht daher nicht mehr auf dem Satz „pacta
sunt servanda", der nur ein Ausdruck der alten Willenstheorie ist und des-
halb lebhaft kritisiert w i r d (II, 334). Völkerrechtlicher Gesetzgeber ist je-
der Mensch, der zuständig ist, völkerrechtlich wirksame Rechtshandlun-
gen vorzunehmen, durch die eine völkerrechtliche Rechtsregel zustande
kommt; der so entstandene völkerrechtliche Gesetzgebungsakt hat dann
einen „effet global et unitaire" (II, 349).

Nachdem auf solche Weise eine völkerrechtliche Legislative gefunden ist,


erscheint es nicht mehr schwierig, auch eine mit Kompetenz-Kompetenz
ausgestattete völkerrechtliche Verfassungsgesetzgebung und einen „pou-
voir constituant" zu konstruieren. Dadurch w i r d das internationale Rechts-
system ein ungeheuer erweitertes, in den Grundlinien aber getreues Spie-
gelbild der konstitutionellen Gesetzesordnung des innerstaatlichen Verfas-
sungsrechts. Der liberale Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts w i r d
einfach auf die internationale Völkergemeinschaft übertragen. Die Unter-
suchung des „phénomène fédératif", dem im systematischen Aufbau das
3. Kapitel des I. Buches gewidmet ist, dient dazu, an dem Beispiel
föderalistischer Gebilde, wie dem englischen Weltreich, der Sowjetunion,

S.104 f.; Heinrich Drost, Grundlagen des Völkerrechts, München und Leipzig 1936,
S. 97.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
20 I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

der panamerikanischen U n i o n und dem Genfer Völkerbund, die Möglich-


keit einer organisierten bündischen Verfassungsgesetzgebung anschaulich
zu machen, gleichzeitig aber auch die Übertragung des innerstaatlichen
Konstitutionalismus auf das Völkerrecht vor den naheliegenden Bedenken
gegen einen zentralistischen Universalismus zu bewahren. Konstitutionali-
sierung und Föderalisierung erweisen sich hier als brauchbare konstruktive
Mittel, sowohl den Genfer Völkerbund wie die universale Völkerrechts-
gemeinschaft zu institutionalisieren. „ D r o i t constitutionnel international"
ist der entscheidende Begriff dieses ganzen Systems, den Scelle daher auch
als Titel über den zweiten Teil seines Werkes setzt. Dieses konstitutionali-
sierte Völkerrecht dient, ebenso wie der innerstaatliche Konstitutionalis-
mus, dem Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum des Individuums und
der von Individuen gebildeten Kollektivitäten. Es baut sich auf den be-
kannten Grund- und Freiheitsrechten des Individuums auf: Petitionsrecht,
Garantie des menschlichen Lebens, der persönlichen Freiheit, der Frei-
zügigkeit, des Privateigentums usw. (Kap. 2 des II. Teils). Schaffung und
Ausarbeitung eines positiven Völkerrechts ist identisch mit der Schaffung
und Ausarbeitung einer internationalen Legislative, die in der völkerrecht-
lichen Vereinbarung, i m „traité-loi", das traditionelle Mittel, in der Setzung
des Genfer Völkerbundes aber ihre, wenn auch noch unvollkommene,
immerhin bisher höchste Organisationsstufe erreicht hat. Die Genfer Völ-
kerbundssatzung soll nämlich, trotz ihres vertraglichen Ursprungs, eine
wahre Bundesverfassung, „Konstitution" i m juristischen Sinne sein, der
Genfer Völkerbund wird daher auch, als echte überstaatliche Institution,
mit einer „verfassungsgebenden Gewalt", einem „pouvoir constituant",
ausgerüstet (I. Kap. 3, sect. 4, p. 246: la Société des Nations comme organi-
sation fédérale, und II. Kap. 2, sect. 8, p. 493: la législation collective). Die
auf solche Weise konstruierte völkerrechtliche Verfassung ist offensichtlich
nur ein auf die Internationale übertragener Anwendungsfall des zweitei-
ligen liberalen Verfassungsschemas: individualistische Freiheitsrechte als
Grundlage und eine „Organisation", insbesondere eine „Legislative". Der
„Primat des Völkerrechts" gegenüber dem staatlichen Recht w i r d dadurch
zu einer konkret-konstitutionellen Wirklichkeit. Völkerrechtliche Verträge
gehen als internationale „Gesetze" jedem innerstaatlichen Gesetz, auch
jedem innerstaatlichen Verfassungsgesetz, ohne weiteres und unmittelbar
vor. Bei einem Widerspruch zwischen beiden sollen die innerstaatlichen
Normen, auch die innerstaatlichen Verfassungsnormen, ipso facto als nich-
tig und nicht vorhanden betrachtet werden. Beispiele und Belege für diese
Auffassung findet Scelle in dem, einen Anschluß Österreichs an Deutsch-
land vorsehenden Art. 61, Abs. 2 der Weimarer Verfassung, der dem A n -
schlußverbot der Pariser Friedensverträge (Art. 80 Vers. Vertrag) wider-
sprach; ferner in der Ungültigkeit des Wilna-Vorbehalts des Art. 5 der

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

Litauischen Verfassung, und in dem völkerrechtlichen Minderheitenschutz


(II, 356). Welche staatlichen Organe, genauer: welche Personen völker-
rechtlich kompetent sind, völkerrechtliche Verträge abzuschließen, ist da-
her selbstverständlich Sache des die Kompetenz delegierenden Völker-
rechts, und nicht mehr, wie nach der heute noch herrschenden Lehre, Sache
des innerstaatlichen Verfassungsrechts (II, 439). Was man als „innere" und
„eigene" Angelegenheit, als „domaine exclusif" des einzelnen Staates be-
zeichnet, bleibt bestehen, ist aber ebenfalls vom Völkerrecht und vom
„ordre international" delegiert. Auch auf dem Gebiet, auf dem die inner-
staatliche Regierung autonom ist und weitgehend freies Ermessen hat, ist
ihr Ermessen vom Völkerrecht her begrenzt und kontrolliert. Daß die heu-
tige positive Völkerrechtslage solchen Auffassungen offensichtlich wider-
spricht, liegt nur daran, daß Völkerrecht und Völkergemeinschaft sich heute
noch in einem primitiven Entwicklungsstadium befinden. Scelle glaubt an
eine auf die Dauer unwiderstehliche Entwicklung, die trotz aller Rück-
schläge, trotz faschistischer und nationalsozialistischer Tendenzen, doch
unwiderstehlich von der Zwischenstaatlichkeit zur Überstaatlichkeit, von
der Anarchie zur Hierarchie und zu einer immer klareren Spezialisierung
der Funktionen, zur Herausarbeitung einer überstaatlich-universalen, öku-
menischen Ordnung führen werde (II, 547 / 549).

Individualismus und Universalismus sind die beiden Pole, zwischen


denen sich dieses völkerrechtliche System bewegt. Sein folgerichtiger
Individualismus scheut vor keiner Konsequenz zurück, wenn er auch
öfters zwischen lex lata und lex ferenda unterscheiden und die „primitive"
Unvollkommenheit der heutigen positiven Rechtslage, die Rückstände der
staatlichen „Exklusivität" und die daraus folgende zwischenstaatliche
„Anarchie" immer wieder beklagen muß. Entscheidend ist, daß für ihn
bereits heute das Individuum als einziges Subjekt des Völkerrechts und als
unmittelbares Mitglied der internationalen Gemeinschaft, der „commu-
nauté internationale", angesehen wird. Diese internationale Gemeinschaft
ist eine Gemeinschaft von Individuen und nicht von Staaten; auch der
Genfer Völkerbund besteht, wie jede Kollektivität, nur aus Individuen,
nicht aus Staaten oder Regierungen; er hätte danach 2 Milliarden Mitglie-
der, darunter auch die Angehörigen der Kolonien und der Mandatsgebiete,
nur daß diese Mitglieder infolge ihrer Staatsangehörigkeit nach der heuti-
gen Regelung leider noch nicht „Bürger", citoyens , des Völkerbundes sind
(I, 253). Daß das sogenannte völkerrechtliche Minderheitenrecht ebenfalls
individualistisch konstruiert wird, versteht sich danach von selbst (II,
187). Doch soll, auch unabhängig von völkerrechtlichen Minderheiten-
schutzverträgen, dem Individuum ein völkerrechtliches Petitionsrecht ge-
genüber den innerstaatlichen Instanzen auch seines eigenen Staates als ein
subjektives öffentliches Recht zustehen, wofür auf den „beau cours" von

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
22 I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

Nathan Feinberg aus dem Jahre 1933 „La pétition en droit international" 1 9
verwiesen wird. Dieses völkerrechtliche Petitionsrecht jedes einzelnen soll
bereits nach heutigem positiven Völkerrecht eine „compétence immé-
diate" des Individuums sein, „conférée directement par l'ordre juridique
international" (II, 33 / 34). Leider widerspricht auch hier wieder das posi-
tive innerstaatliche Recht aller heutigen Staaten einem solchen Petitions-
recht, aber im Grundsatz soll es trotzdem als positives Recht anerkannt
werden. Dieser folgerichtige Individualismus führt weiter zu der Forde-
rung, daß jeder einzelne das völkerrechtsunmittelbare Recht erhalten soll,
seine Staatsangehörigkeit jederzeit frei zu wählen, da man dem Indivi-
duum nicht zumuten könne, gegen seinen Willen einem Staat anzuge-
hören, und eine wirkliche individuelle Freiheit nur dort bestehe, w o die
wirtschaftlichen, moralischen und gefühlsmäßigen Interessen des einzel-
nen geschützt sind. Das Individuum soll daher auch gegenüber seinem
eigenen Staat das Recht haben, seine Staatsangehörigkeit zu behalten,
wenn es sie nicht aufgeben will; das deutsche Gesetz vom 14. Juli 1933
über den Widerruf von Einbürgerungen w i r d in diesem Zusammenhang
als ein Beispiel völkerrechtswidriger Diskrimination und Willkür hin-
gestellt 20 (II, 183). Jedes Individuum ist also gleichzeitig Weltbürger (im
vollen juristischen Sinne des Wortes) und Staatsbürger (II, 293).
Zugunsten von Leben und Freiheit der Individuen, auch von Staats-
angehörigen des betroffenen Staates, sollen die anderen Regierungen, ins-
besondere aber der Genfer Völkerbund, die völkerrechtliche Kompetenz
der Intervention haben (II, 13 Anm.). Die Intervention w i r d zur normalen
und zentralen Rechtsinstitution dieses Systems. Der Genfer Völkerbund
hätte nach Scelle auf Grund des Art. 11 VS. im Jahre 1933 auch gegen die
Behandlung der Juden in Deutschland „à juste titre" intervenieren dürfen

Recueil des Cours de l'Académie de Droit International, 40, I I (1932), S. 529 bis
639. Feinberg, der einige Jahre Sekretär des Komitees der jüdischen Delegationen in
Paris war, nimmt für die Wunsch-Petition (pétition-vœu) eine gewohnheitsrechtlich ent-
wickelte allgemein-völkerrechtliche Zulässigkeit an, die allerdings in ihrer Ausübung
nicht gegen ein Landesgesetz verstoßen darf; für die Beschwerde-Petition (pétition-
plainte) behauptet er auf Grund der Praxis des Völkerbundsrates gegenüber Petitionen
der Bewohner der Mandatsgebiete, der Angehörigen von Minderheiten und der Saar-
bewohner, daß durch die Entscheidungen des Völkerbundsrates als eines internationalen
Gesetzgebers alle diejenigen ein völkerrechtsunmittelbares Beschwerde-Petitionsrecht
haben, die durch eine Entscheidung des Völkerbundsrates dazu instand gesetzt (habili-
tés) sind; jeder Mitgliedsstaat hat diesem Petitionsrecht seine innerstaatliche Gesetz-
gebung anzupassen. Nach A. von Verdroß, Völkerrecht (1936), S. 48, hat das Petitions-
recht der Minderheiten den Grundsatz, daß die Angehörigen der Mitgliedsstaaten des
Völkerbundes staatsunterworfen bleiben, „etwas aufgelockert".
20
Gegen den Aufsatz von Scelle in der Revue critique de droit international (1934),
S. 63 ff., der die gleiche Ansicht vertritt, vgl. B. Schenk Graf von Stauffenberg in Bruns
Ζ. IV (1934), S. 261-276.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

(II, 3 1 / 3 2 Anm.); die Bemühungen um eine Intervention gegen das


nationalsozialistische Deutschland waren, ebenso wie gegen das bolsche-
wistische Rußland und das faschistische Italien, „juridiquement fondés";
aber leider beherrscht die Politik immer noch die Wahrung des Völker-
rechts (II, 54). Seinen Höhepunkt erreicht dieser Individualismus darin,
daß jedem Individuum, auch dem Staatsangehörigen, ein völkerrecht-
liches Widerstandsrecht gegen innerstaatsrechtliche Anordnungen gege-
ben wird, die gegen das Völkerrecht verstoßen (II, 46). Hier w i r d die
tiefere Bedeutung dieses neuen Völkerrechts, die Verwandlung des
Staatenkrieges in einen Bürgerkrieg, einen Augenblick sichtbar. Jedes
Individuum, das in einem völkerrechtlich unzulässigen Krieg einen M o b i -
lisierungsbefehl erhält, soll das Recht haben, sich diesem Befehl zu entzie-
hen und in einem geregelten Verfahren die Annullierung des Mobilma-
chungsbefehls zu verlangen. Eine unmittelbare Rechtspflicht des Indivi-
duums zum Widerstand gegen einen völkerrechtlich unzulässigen Krieg,
wie sie der bekannte Pazifist Hans Wehberg behauptet 21 , lehnt Scelle aus
Gründen der praktischen Unmöglichkeit ab; aber auch bei diesem Anlaß
beklagt er wieder die Unzulänglichkeit des positiven Rechts, und zwar in
dieser Hinsicht des innerstaatlichen Rechts, das in den einzelnen Staaten
noch keine genügende Sicherheit zum Schutze dieses individuellen Wider-
standsrechts geschaffen habe, obwohl es sich für einen Rechtsstaat (Etat de
droit) doch von selbst verstehen müßte, auch das Leben des Individuums
zu schützen, nachdem er für persönliche Freiheit und Eigentum Rechts-
schutzgarantien geschaffen habe. Daher w i r d eine internationale Instanz
gefordert, die der einzelne im Falle der Mobilmachung gegenüber Ver-
fügungen seiner staatlichen Behörde anrufen kann, wenn die Entscheidung
in dieser Frage „nicht über jedem Verdacht" erhaben ist (II, 47). Allen
kollektiven Gruppen w i r d ein allgemeines Selbstbestimmungsrecht, sogar
ein Sezessionsrecht gegeben (I, 119; I I , 260); die regierenden Personen
haben nicht das Recht, die Einheit ihres Staates mit Gewalt aufrechtzuer-
halten.

Das neue völkerrechtliche System, das Scelle für diese Lehre aufbaut,
macht es jedem Juristen anschaulich, welche praktische Bedeutung der
rechtswissenschaftlichen Systematik und der systematischen Placierung
der einzelnen völkerrechtlichen Frage zukommt. Daß das völkerrechtliche
sogenannte Minderheitenproblem nur als ein Anwendungsfall einer Zer-
trümmerung der staatlichen „Exklusivität" und der völkerrechtsunmittel-
baren Stellung des einzelnen erscheint, wurde bereits erwähnt. Die
Rechtslage Danzigs ist beim Völkerbund als ein Beispiel dafür behandelt,

2i Recueil des Cours 1925, II, S. 35; 1928, IV, S. 290; vgl. auch unten S. 51 unseres
Berichtes.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
24 I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

daß dieser wirkliche Regierungsgewalt, ein „pouvoir gouvernemental"


ausübe (I, 254). Die Kolonialgewalt ist dem einzelnen Staat von der uni-
versalen Völkergemeinschaft delegiert. Besonders in dieser Hinsicht w i r d
die Umwälzung des gesamten bisherigen Begriffssystems deutlich. Der
ganze II. Band von Scelles Völkerrecht, der sich als „internationales Ver-
fassungsrecht" (droit constitutionnel international) bezeichnet, ist, wie
gezeigt, nur ein in die universale Internationalität vergrößertes Spiegelbild
des liberalen Konstitutionalismus und sucht die Welt in einen (im eigent-
lichsten Sinne des Wortes) Welt-Rechtsstaat zu verwandeln. Dieser II. Band
zerfällt infolgedessen in zwei Teile, die den zwei Teilen des konstitutionel-
len Verfassungsschemas entsprechen: Freiheitsrechte und „Organisation",
insbesondere der „Legislative", weil dieser „Rechtsstaat" in Wahrheit nur
ein Gesetzesstaat ist. Die von Scelle aufgebaute Systematik seines I. Teils
ist aber nicht weniger umstürzend. Dieser Teil trägt die Uberschrift: „Le
milieu intersocial", weil das internationale Recht i m Sinne des bisherigen
zwischenstaatlichen Rechts nur als Teil des inter sozialen Rechtes er-
scheint, und zerfällt in vier Kapitel, deren Titel und Reihenfolge, wenn
man sie mit der bisher üblichen Systematik vergleicht, für sich schon
genug besagen:

1. Le phénomène étatique (S. 73-141),


2. Le phénomène colonial (S. 142-186),
3. Le phénomène fédératif (S. 187-287),
4. Le phénomène social extraétatique (S. 288-312).
Dadurch, daß neben dem „staatlichen Phänomen" unmittelbar und auf
gleicher Stufe das „koloniale Phänomen" eingeführt wird, ist zum Aus-
druck gebracht, daß beides, Staatsgewalt wie Kolonialgewalt, von der uni-
versalen Völkerrechtsordnung abhängen. Heute erhält jede Kolonisierung
ihre rechtliche Grundlage von der „société internationale globale" (I, 149),
so, wie sie in früheren Zeiten auf der Rechtsgrundlage päpstlicher Verlei-
hungen und später durch europäische Konferenzbeschlüsse legitimiert vor
sich ging. Die Mandatsbestimmungen des Artikels 22 VS. werden zu ei-
nem bloßen Anwendungsfall und Beleg dieser universalistischen Auffas-
sung des Kolonialproblems (I, 170). Die Ausführungen des 3. Abschnittes
über das „föderalistische Phänomen" dienen dazu, den Begriff einer über-
staatlichen Verfassung mit Hilfe des Begriffs einer Bundesverfassung ein-
leuchtend zu machen. Auch solche föderalistischen Analogien sind ein
brauchbarer Hebel, um den einzelnen Staat völkerrechtssystematisch aus
den Angeln zu heben und in ein überstaatliches System einzufügen. Die
von Scelle sogenannten „außerstaatlichen Phänomene" des 4. Kapitels lie-
fern dann wohl das anschaulichste Beispiel für seine Methode, den Staat
durch eine bestimmte völkerrechtswissenschaftliche Systematik vom Völ-

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

kerrecht her zu relativieren und zu degradieren. Die katholische Kirche


erscheint völkerrechtlich nicht, wie in den bisherigen Lehrbüchern des
Völkerrechts, als eine nur aus geschichtlichen Gründen erklärliche, völker-
rechtlich singuläre Größe; sie w i r d vielmehr zum typischen Anwendungs-
fall einer neuen völkerrechtlichen Kategorie, der „außerstaatlich-sozialen"
Größe; die, wie Kolonie und Föderation, der staatlichen Kategorie völker-
rechtlich gleichgeordnet ist und mit ihr auf der gleichen Stufe und in
völkerrechtlich-systematisch gleichem Range steht. Neben der katho-
lischen Kirche w i r d in demselben 4. Kapitel, als weiteres Beispiel einer
außerstaatlichen sozialen Größe, noch die „nationale Heimstätte" der
Juden in Palästina behandelt, als ein Typus internationaler Einrichtungen,
der „die materiellen und geistigen Interessen solcher Bevölkerungsteile
garantieren soll, die i m Rahmen der staatlichen Einrichtungen keine aus-
reichende Befriedigung ihrer berechtigten Bestrebungen oder keine genü-
gende Garantie ihrer Sicherheit finden". Der Typus derartiger außerstaat-
lich-sozialer Einrichtungen soll weiterentwickelt werden, und zwar durch
den Genfer Völkerbund. I n diesem Zusammenhange w i r d es bedauert, daß
es dem Genfer Völkerbund nicht gelungen ist, die armenische Nation vor
der Verfolgung zu retten; doch soll dieser Nichterfolg von weiteren
Bemühungen eines Ausbaues dieser vierten, außerstaatlich-sozialen Kate-
gorie nicht abschrecken (I, 312).

Uber diese beiden Bände des Werkes von Scelle ist hier - unter Beiseite-
lassung der außerordentlich zahlreichen sonstigen Veröffentlichungen des
Autors - ausführlich berichtet worden, weil sein System des Völkerrechts
die polare Verbindung von liberalem Individualismus und völkerrecht-
lichem Universalismus zum erstenmal in einer neuen völkerrechtlichen
Systematik folgerichtig durchgeführt hat. I n seiner völkerrechtlichen
Konstruktion ist das, was man bisher „Staat" nannte, zu einem „sozialen
Phänomen" neben andern sozialen Phänomenen verallgemeinert; juri-
stisch ist der Staat in eine bloße „Kompetenz" bestimmter, in der Doppel-
rolle von internationaler und nationaler Funktion auftretender Menschen
verwandelt. Daß die Wirklichkeit der gegenwärtigen, positiven Rechtslage
ein ganz anderes Bild ergibt, ist dem Autor dieses Systems w o h l bekannt,
aber in solchen Abweichungen sieht er nur Rückstände der überkom-
menen Anarchie des Völkerlebens, Residuen mittelalterlicher Vorstellun-
gen von der „Exklusivität" der Clans. Daß die Entwicklung unter dem
Einfluß von Faschismus und Nationalsozialismus eine andere Richtung
zu nehmen scheint, kann ihn in seinem Fortschrittsglauben nicht beirren.
Das sind dann eben Entwicklungskurven, die vorübergehend auch einmal
abwärts verlaufen, auf die Dauer aber die politische und juristische Orga-
nisierung der Menschheit als eines ökumenischen Ganzen nicht aufhalten
(II, 548). I m übrigen ist das Völkerrecht seiner Natur nach so stark von

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
26 I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

allgemeinen Grundsätzen durchdrungen, daß sich in den meisten wichti-


gen Fällen bereits für die gegenwärtige Rechtslage ein dieser individuali-
stischen Grundauffassung entsprechender Standpunkt vertreten läßt. Bei
der Eigenart des Völkerrechts als eines „unvollkommenen Rechts" ist es
nicht schwierig, Konstruktionen zu finden, mit deren Hilfe weltanschau-
liche Postulate als bereits geltendes, positives Recht erscheinen können.
N u r dort, wo die positive Rechtslage offensichtlich einen praktisch
unüberwindlichen Widerstand entgegensetzt, wie zum Beispiel in der
Frage der Staatsangehörigkeit, w i r d der Unterschied von lex lata und lex
ferenda ausdrücklich erwähnt.

Solche Methoden erleichtern es natürlich, den Genfer Völkerbund zu


„institutionalisieren". Er w i r d einmal (I, 257) als eine das freie Sezessions-
recht (durch Art. 26 VS.) ausschließende „Zwischenbildung zwischen
Staatenbund und Bundesstaat", unmittelbar danach (I, 260) als „einem
Staatenbund verwandt" bezeichnet, jedenfalls aber zu einem überstaat-
lichen, föderativen System erhoben, das heute zwar noch verhältnismäßig
lose, aber von einer bereits vorhandenen Entwicklungstendenz zu festeren
überstaatlichen Organisationsformen beherrscht sei (I, 260). Er hat einen
„pouvoir constituant"; seine Satzung ist, wie schon erwähnt, eine w i r k -
liche „Verfassung"; die Aufnahme in den Völkerbund bedeutet, wie gegen-
über der herrschenden Auffassung betont wird, heute bereits eine völker-
rechtliche Anerkennung auch durch die überstimmten Mitglieder (I, 104).
Die Vertragsvorstellungen, die heute praktisch noch vorherrschen, werden
als bedauerlicher juristischer Irrtum hingestellt; doch sind die Gesetz-
gebungsakte der zuständigen Völkerbundsorgane nur „materiell" Gesetz-
gebung; es fehlt ihnen die „force exécutoire", und jeder Regierung steht es
frei, zu entscheiden, ob der Gesetzgebungsakt des Völkerbundes für ihre
Staatsangehörigen gelten soll (II, 498). Der Grundsatz der Einstimmigkeit,
der leider immer noch anerkannt ist, beeinträchtigt das föderative System
so stark, daß es schließlich doch nicht als überstaatlich, sondern als „inor-
ganique ou interétatique" bezeichnet w i r d (I, 258). Der auf solche Weise,
in höchst unklarer Vermischung von gegenwärtigem und künftigem
Recht, zur föderalistischen Institution erhobene Genfer Völkerbund w i r d
von der universalen Weltrechtsordnung unterschieden (I, 250); i m völker-
rechtlichen System Scelles erhält der Genfer Völkerbund seinen Platz
neben anderen föderativen Rechtsgebilden, neben dem englischen Imperi-
um, der Sowjetunion und Pan-Amerika. Trotzdem bleibt Scelle ein Vertre-
ter und Vorkämpfer der Universalität des Genfer Völkerbundes; daher
muß er die Frage, ob dieser „Bund", wenn er wirklich einmal universal
geworden sein sollte, mit der universalen Weltrechtsordnung der „société
écouménique du Droit des gens" identisch ist, selbstverständlich bejahen.
Zu der Frage, ob die ökumenische Weltrechtsordnung ein „Weltstaat" ist,

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

hat sich Scelle in widersprechender Weise geäußert 22 . Nach seinem hier


interessierenden systematischen Werk ist die einheitliche Weltordnung als
ein „Weltföderalismus" verschiedenartigster „Gesellschaften" gedacht.
Für die Gegenwart w i r d die Rechtslage dahin konstruiert, daß das System
überstaatlicher Kompetenzen, wie es der Genfer Völkerbund anscheinend
heute bereits darstellt, sich in die allerdings noch ziemlich anarchische
Kompetenz-Kompetenz der Weltrechtsordnung einfügt und von ihr
durchdrungen, ergänzt und kontrolliert w i r d (I, 250). Das Endziel ist und
bleibt die universale und ökumenische, föderalistisch institutionalisierte
Weltrechtsordnung. N u r ist die dahingehende geschichtliche Entwicklung
heute durch Diktaturen und nichtliberaldemokratische Staaten verdunkelt
(II, 292). Inzwischen dienen die Analogien mit föderalistischen Einrich-
tungen als die Hebel, deren sich eine universalistische Konstruktion des
Völkerrechts bedient, u m die alte Welt aus den Angeln zu heben. M i t dem
Hinweis auf seine föderalistischen Ideen kommt Scelle auch über den Ein-
wand, daß er einen zentralistischen Weltstaat erstrebe, leicht hinweg
(I, 250 Anm.).

Die Unterscheidung von Universalismus und Zentralismus ist Scelle


allerdings gegenwärtig. Bei einem Franzosen, der von Duguit kommt und
Proudhon kennt, versteht sich das von selbst. Die eigentliche Schwierig-
keit liegt aber gerade darin, daß ein „föderalistischer Universalismus" völ-
kerrechtlich heute einen Widerspruch in sich bedeutet. Der Selbstwider-
spruch w i r d durch eine Betrachtung des Kriegsbegriffs erkennbar. Der
Krieg jedoch hat in dem System von Scelle keinen Platz mehr; er ist für
seine A r t von Völkerrecht i m eigentlichen Sinne des Wortes „unbegreif-
lich" geworden; denn er ist entweder Recht, und dann kein Krieg, oder
Unrecht, und dann nur noch ein Verbrechen, insbesondere als Angriffs-
krieg ein „crime international" (II, 47). Dieses Problem des Kriegsbegriffs
soll wegen seiner fundamentalen, alles entscheidenden Bedeutung unten
in einem besonderen Kapitel (S. 42 f.) erörtert werden.

2. H . Lauterpacht behandelt in einem einleitenden Teil die geschicht-


liche Entwicklung der Lehre von der „Begrenzung der richterlichen
Funktion im Völkerrecht" und die Anwendung dieser Lehre in den völ-
kerrechtlichen Schiedsverträgen von den Haager Konventionen (1907) bis
zu den vielen Verträgen der letzten Jahre. Ein zweiter Teil betrifft das Ver-
hältnis der völkerrechtlichen Gerichtsbarkeit zur Vollständigkeit des Völ-
kerrechts, wobei die Probleme der „Lücken i m Völkerrecht", der Lücken-
ausfüllung und der Zulässigkeit eines non liquet im internationalen Ge-

22
Über frühere Äußerungen Scelles, die sich gegen einen Weltstaat richten, vgl. die
Nachweise bei W. Schiffer a. a. O. S. 145.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
28 I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

richtsverfahren behandelt werden. I m dritten Teil w i r d die Unterschei-


dung von rechtlichen und politischen Streitigkeiten und die Unparteilich-
keit des Richters erörtert. Den vierten Teil beherrscht die Frage der A n -
passung des Völkerrechts an den Wandel der politischen und sonstigen La-
ge, die Besonderheit, die sich aus dem Fehlen einer Anpassung durch ge-
setzgeberische Regelung ergibt, die mannigfache Anpassung durch
Rechtspraxis oder Vergleich, die richterliche Anwendung der clausula re-
bus sie stantibus, die Lehre vom Rechtsmißbrauch (abus de droit) i m Völ-
kerrecht und die Ausdehnung der richterlichen Befugnis auf Empfehlun-
gen und auf Entscheidungen ex aequo et bono, wodurch die richterliche
Entscheidung zu einem Teil der international constitutional machinery
wird. I m fünften Teil werden Rechts- und Interessenkonflikte, Zwangs-
vergleich und Interessenstreitigkeiten erörtert. Ein letzter, sechster Teil
schließlich spricht von den „Grenzen der Herrschaft des Rechts" über-
haupt (the limits of the rule of law), zunächst innerhalb des Staates, also
von den Grenzen der justizförmigen Behandlung von Streitfragen, ins-
besondere der Verwaltungsgerichtsbarkeit, dann aber unter dem Gesichts-
punkt des spezifischen Charakters des Völkerrechts als eines „unvollkom-
menen" Rechts. Das allgemeine Rechtsproblem des Völkerrechts (ist es
überhaupt Recht oder ist es Moral? ist es eine A r t besonders schwachen
Rechts?), die Frage: Koordination oder Subordination?, und die „Herr-
schaft des Rechts im Völkerrecht" stehen dabei als Problem i m Mittel-
punkt, mit dem bereits genannten Ergebnis, daß auch das Völkerrecht im
vollen Sinne des Wortes Recht ist und daher die Wissenschaft des Völker-
rechts die Aufgabe hat, dieses Recht als eine überstaatliche N o r m der Völ-
kergemeinschaft zu entwickeln, nicht aus dem Willen der Staaten, nicht
aus dem Satz „pacta sunt servanda", der ja wieder nur auf diesen Willen
zurückführt, sondern „ex fine civitatis maximae", wie Grotius sagt. Die
eingangs gestellte Frage nach den Grenzen der richterlichen Funktion i m
Völkerrecht w i r d dahin beantwortet: es gibt ein Recht ohne Gesetzgeber,
aber es gibt kein Recht ohne Richter. Die Frage ist also nicht, ob es hinrei-
chend klare Regeln gibt, sondern es kommt nur darauf an, den Richter
einzusetzen, der Streitfragen entscheidet und Frieden stiftet. Ein völker-
rechtlicher Gesetzgeber würde einen Überstaat, einen super-State konsti-
tuieren; ein völkerrechtlicher Richter dagegen würde i m Rahmen der heu-
tigen Praxis und Lehre des Völkerrechts dem Recht zur Herrschaft verhel-
fen, ohne daß eine überstaatliche Organisation erforderlich wäre. Daraus
ergibt sich die Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft. Ihre Würde besteht
darin, den Standard des internationalen Rechts zu erhöhen, nicht aber auf
den der rudimentären Praxis der Gegenwart herabzusinken. Die Unter-
scheidung von politischen und Rechtsfragen erweist sich als eine Sackgas-
se. Alle wichtigen Fragen sind Rechtsfragen. Darum ist eine schiedsrich-

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

terliche Entscheidung aller völkerrechtlichen Fragen möglich und eine


wesentliche Sicherung des Friedens. Sie kann und soll den Krieg nicht er-
setzen, aber sie ist eine conditio sine qua non der normalen Methode, den
Frieden zu erhalten. „Friede" ist die ganz hervorragende Forderung des
Rechts, juristisch betrachtet ist diese Forderung aber nur eine Umschrei-
bung der Einheit des Rechtssystems. „Friede" widerspricht der Selbsthilfe
und damit dem Krieg. Der juristische Positivismus, sagt Lauterpacht am
Schluß, ist im Völkerrecht durch seine eigenen Übertreibungen unwissen-
schaftlich geworden, weil er schließlich nur noch die Praxis der Staaten
registrieren wollte und dadurch jeden Versuch eines höheren Prinzips und
den Begriff des Völkerrechts selbst als eines Ganzen paralysierte. Eine
wissenschaftlich-kritische Rechtswissenschaft aber ist imstande, diese
Ganzheit des Völkerrechts zu erreichen.
Auch dieses Werk endet also beim „Ganzen des Völkerrechts", den
„States in their totality" i m Sinne einer im Grunde bereits vorhandenen
civitas maxima. Es ist in seiner Argumentation zurückhaltender als das
Buch von Scelle und vermeidet es, offen von einer überstaatlichen Organi-
sation oder gar Gesetzgebung zu sprechen. Dafür ist es aber in dem prak-
tischen Ergebnis seines Universalismus ebenso deutlich. Indem es das Völ-
kerrecht als ein lückenloses Ganzes hinstellt, wird, mit Hilfe des Satzes:
ubi jus ibi societas, eine bereits vorhandene, juristisch nachweisbare Völ-
kerrechtsgemeinschaft als civitas maxima konstruiert. „International law
is made for States in their totality", nicht für die vorübergehenden Inter-
essen einzelner Staaten (431). Die Entscheidung darüber, worin dieses
dauernde Interesse der Gesamtheit besteht, kann nicht der einzelne Staat
haben, weil das dem einfachen Rechtsgrundsatz widersprechen würde,
daß „nemo judex in causa sua" ist. Also muß es eine von den Staaten un-
abhängige, internationale Gerichtsbarkeit geben. Darin, daß die universale
Rechtsgemeinschaft auf dem Weg über ein lückenloses Richterrecht
gewonnen w i r d und die für den kontinentalen Staat typischen, gesetzes-
staatlichen Analogien vermieden sind, liegt eine einleuchtende Anknüp-
fung an die Rechtszustände des angelsächsischen common law und dessen
- im Gegensatz zur französischen Staatlichkeit - unstaatlich-rechtsstän-
disch aufgefaßtes Richtertum. Die Eigenart von Lauterpachts Gedanken-
gang besteht darin, daß er kein neues System des Völkerrechts aufbaut,
sondern in Argumentationen der allgemeinen Rechtslehre die einander oft
widersprechenden Grundsätze des überlieferten, vom Staatswillen getra-
genen Völkerrechts analysiert und das hinter den einzelnen Fällen ste-
hende Recht, the law behind the case, findet. Gegen den aus der Souverä-
nität und der Gleichberechtigung der Staaten folgenden Satz des bisheri-
gen Völkerrechts zum Beispiel, daß kein Staat gegen seinen Willen einer
fremden Gerichtsbarkeit unterworfen werden kann - par in parem non

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
30 I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

habet imperium - und gegen die daraus gefolgerte Formel „omnis judex in
causa sua", w i r d der andere, ebenfalls allgemein anerkannte Grundsatz
„nemo judex in causa sua" geltend gemacht, den der StIG. in der Mossul-
sache (B 12 vom 21. November 1925) ausdrücklich anerkannt hat, und
den sogar Hobbes für den Naturzustand des „bellum omnium contra om-
nes" gelten lassen muß. Aus dem Begriff des Richters folgt die Unpartei-
lichkeit; Richter kann also nur sein, wer an keine der streitenden Parteien
gebunden ist. So wird, ohne ein neues System, ohne auffällige Entgegen-
setzungen und offene Frontalstellungen, wie sie für Scelle charakteristisch
sind, alles anerkannt und doch gleichzeitig relativiert und problematisiert.
Der bisherige Vertragspositivismus w i r d durch allgemeine Rechtsgrund-
sätze mühelos ad absurdum geführt. Gleichzeitig aber w i r d die bisherige,
wesentlich staatliche Theorie des Völkerrechts als „Metaphysik" und als
„unwissenschaftlich" abgetan. Gegenüber den unzulänglichen und pri-
mitiven Unterscheidungen von Recht und Politik ist richtig erkannt, daß
jede internationale Frage, ebenso wie sie der Möglichkeit nach immer
politisch sein kann, so auch an irgendeinem Punkt immer eine rechtliche
Seite hat und daher immer potentiell justiziabel ist. M i t Hilfe allgemeiner
Rechtsgrundsätze und Begriffe kann jede Lücke i m Recht ausgefüllt wer-
den; trotz Anerkennung der besonderen Schwierigkeiten und Mängel ist
die Schwäche des Völkerrechts doch heilbar und ist für die Zulassung
eines „non liquet" bei der internationalen Gerichtsbarkeit ebensowenig
ein Grund gegeben wie beim innerstaatlichen Richter. Demnach steht der
universalen internationalen Rechtsgemeinschaft eines Richterrechts
rechtswissenschaftlich nichts mehr i m Wege. Die Institutionalisierung ist
auch hier erreicht. N u r daß die zentrale, strukturbestimmende Institution
nicht, wie bei dem französischen Juristen eine Legislative, sondern, nach
englischem Vorbild, ein das internationale Common-Law tragendes Rich-
tertum ist 2 3 .
Zwischen der völkerrechtlichen Theorie Lauterpachts und dem System
von Scelle besteht bei aller Verschiedenheit und sogar Gegensätzlichkeit
der Gedankengänge, i m Ergebnis doch darin Ubereinstimmung, daß beide
für ein den Staat entthronendes internationales Recht konkrete Institutio-
nen finden. Hier liegt ein Nebeneinander von Verschiedenheit in der
Argumentation und Ubereinstimmung i m praktischen Endergebnis vor,
das am besten an Lauterpachts Stellungnahme zu den konkreten Fragen
der Völkerbundssanktionen des Herbstes 1935 anschaulich wird. Lauter-
pacht hat sich in einem Aufsatz des British Year Book of International

23
Die Vorlesung „The development of International Law by the Permanent Court of
International Justice" vor der Haager Akademie 1934 enthält im wesentlichen denselben
Gedanken und dieselbe Methode der Herausarbeitung eines „Law behind the Case".

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I. Z w e i völkerrechtstheoretische Werke

Law, X V I I I (1936) S. 54, zu der Frage geäußert, ob die Satzung des Genfer
Völkerbundes gegenüber anderen völkerrechtlichen Vertragsnormen
„höheres Recht" „higher law" ist. Die Frage erhob sich für die zahlrei-
chen, an den sogenannten Völkerbundssanktionen gegen Italien teilneh-
menden Völkerbundsstaaten, aus Anlaß der praktischen Entscheidung,
wieweit bestehende Handelsverträge, Meistbegünstigungsklauseln zugun-
sten Italiens usw. gegenüber den Verpflichtungen des Art. 16 VS. Bestand
haben. Das „Legal Sub-Committee" des auf Grund einer Empfehlung der
Völkerbundsversammlung gebildeten „Coordinating-Committees" (vgl.
unten S. 35) stellte den Vorrang der Völkerbundssatzung fest. Für die juri-
stische Argumentation Lauterpachts ist es hier von Interesse, daß er den
Art. 20 der VS., der bisher keine besondere Rolle gespielt hatte, zur
Grundlage seiner Argumentation macht 2 4 . So kommt er zu dem Ergebnis,
daß die Völkerbundssatzung als Vertrag die stärkere Verbindlichkeit
begründet und in diesem Sinne „higher law" ist. Dabei wendet er sich,
nicht ohne Schärfe, gegen den für Scelle - der hier nicht genannt w i r d -
typischen Versuch, der Völkerbundssatzung einen legislativen und sogar
konstitutionellen Charakter zu geben. Solche Konstruktionen legislativer
Typen sind für Lauterpacht nur leere „Beschwörungen (incantations)
eines höheren Typus". Er hält daran fest, daß es sich bei der Völkerbunds-
satzung um vertragsobligatorische, nicht um gesetzliche oder verfassungs-
gesetzliche Verpflichtungen handelt, aber diese Bindungen genügen ihm,
um mit Hilfe des Grundsatzes der allgemeinen Rechtslehre, daß Verträge,
die einem gültigen Vertrag widersprechen, unverbindlich sind, das prak-
tisch-politisch entscheidende Ergebnis, nämlich den Vorrang der Bundes-
satzung als des „higher law", zu gewinnen. Art. 20 VS. ist für ihn nur der
Ausdruck des allgemeinen Rechtssatzes von der Nichtigkeit des späteren
Vertrages; der in Art. 20 gebrauchte Ausdruck „abrogates to" besagt dem-
nach „superior to", wobei es keinen Unterschied ausmachen soll, ob, wie
öfters in Nachkriegsverträgen 25 , die Verpflichtungen gegenüber dem Völ-
kerbund ausdrücklich vorbehalten sind, oder ob ein solcher ausdrück-
licher Vorbehalt fehlt. Die Völkerbundssatzung w i r d vermieden, aber i m
Ergebnis ist das gleiche und sogar auch noch eine Begründung der neueren

24
Art. 20 lautet: The Members of the League severally agree that this Covenant is
accepted as abrogating all obligations or understandings inter se which are inconsistent
with the terms thereof, and solemnly undertake that they will not hereafter enter into
any engagements inconsistent with the terms thereof.
25
Charles Rousseau, De la compatibilité des normes juridiques et contradictoires
dans Tordre international, Revue générale de droit international public 39 (1932),
p. 133-192; besonders p. 161 zu Art. 20 VS: Vorbehalt des Völkerbundsvertrages als ei-
nes Vertrages „à puissance renforcée" mit „prééminence" über alle widersprechenden
anderen, früheren wie späteren, mehrseitigen wie bilateralen Verträge.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
32 I I . Z w e i A b h a n d l u n g e n aus T h e B r i t i s h Yearbook of International L a w 1936

Lehre von der non-recognition 26 mit Hilfe allgemeiner Grundsätze


erreicht. Ausdrücklich w i r d hervorgehoben, daß auch auf diese Weise die
Völkerbundssatzung zu einem zweckmäßigen Instrument in dem Prozeß
der politischen Integration der Menschheit werde, „a purposeful instru-
ment in the process of political integration of mankind".

II.

Das Gesamtbild des letzten völkerbundsrechtlichen Entwicklungsstadi-


ums läßt sich nicht durch eine Betrachtung nur systematisch-konstrukti-
ver oder rechtstheoretischer Bemühungen, wie derjenigen von Scelle und
Lauterpacht, gewinnen. Ein einigermaßen vollständiges Bild w i r d erst
dadurch sichtbar, daß auch einige repräsentative Äußerungen von solchen
Autoritäten hinzugenommen werden, die zu dem entscheidenden Pro-
blem jedes Völkerrechts, nämlich des Krieges und der Neutralität, in aktu-
eller Weise Stellung nehmen, ohne auf der einen Seite durch allgemeine
theoretische, auf der anderen durch nur interessenmäßig-taktische Argu-
mentationen bestimmt zu sein. Unter diesem Gesichtspunkt sind aus dem
umfangreichen völkerrechtlichen Schrifttum, das seit dem Sanktionsver-
such gegen Italien entstanden ist, die beiden Aufsätze von hervorragender
Bedeutung, die von den Herausgebern des letzten Bandes des British Year
Book of International Law ( X V I I , 1936) unter dem Eindruck jener
Völkerbundssanktionen des Jahres 1935 veröffentlicht worden sind: die
Abhandlung „Sanctions under the Covenant" von Sir John Fischer Wil-
liams (S. 130 bis 149), und der Aufsatz „Collective Security" von McNair
(S. 150 bis 164). Beide sind schon durch die Namen ihrer Autoren für die
englische Gesamthaltung in diesen wichtigen völkerrechtlichen Fragen
repräsentativ. I m praktischen Ergebnis sind auch sie ein Teil der Bestrebun-
gen, die aus Anlaß der sogenannten Sanktionen gegen Italien den Genfer
Völkerbund als wahre Gemeinschaft zu erweisen, in unserer Ausdrucks-
weise: ihn zu „föderalisieren" suchten. Aber obgleich sie dabei nicht im
französischen Sinne mit eigentlichen Institutionalisierungen arbeiten, sind
ihre Ausführungen doch gewichtiger, als die der meisten französischen völ-

26
Im Anschluß an die an Japan und China gerichtete Note des Staatssekretärs Stim-
son vom 7. Januar 1932, wonach die Vereinigten Staaten keine im Widerspruch mit der
Völkerbundssatzung oder dem Kellogg-Pakt geschaffene Situation anerkennen würden
(sog. Stimson-Doktrin), hat die Resolution der Völkerbundsversammlung vom 11. März
1932 eine Pflicht aller Völkerbundsmitglieder ausgesprochen, keinen Vertrag oder keine
Abmachung anzuerkennen, die gegen die VS oder den Kellogg-Pakt entstanden sind;
vgl. dazu American Journal of International Law, X X V I (1932), S. 342 und 499; Sir John
Fischer Williams, The new Doctrine of recognition, Grotius Society, X V I I I (1933),
p. 109.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I . Z w e i A b h a n d l u n g e n aus T h e B r i t i s h Yearbook of International L a w 1936

k e r r e c h t l i c h e n S t e l l u n g n a h m e n gleicher R i c h t u n g z u d e m gleichen T h e m a .
Diese w i r k e n aus i h r e m gesetzesstaatlichen D e n k e n heraus meistens z u
sehr begriffsjuristisch u n d logizistisch, w i e z u m Beispiel der i m ü b r i g e n
j u r i s t i s c h sehr interessante A u f s a t z v o n Charles Rousseau 27, der bei diesem
A n l a ß d e n ganzen Gegensatz v o n v o l u n t a r i s t i s c h e m u n d o b j e k t i v i s t i s c h e m
V ö l k e r r e c h t , v o n „ i n d i v i d u a l i s m e c o n t r a c t u e l " u n d „ o b j e k t i v e r N o r m " auf-
r o l l t , die juristische N a t u r der V ö l k e r b u n d s s t e l l u n g n a h m e n präzisieren u n d
das ganze P r o b l e m des „ d r i t t e n Staates" revidieren w i l l , u m d e n „caractcère
sociétaire" des V ö l k e r b u n d e s z u stärken. D i e englischen Rechtsgelehrten,
die i n i h r e r rechtswissenschaftlichen D e n k w e i s e n i c h t v o n Staat und
Gesetz, sondern v o n einem C o m m o n L a w geprägt sind, v e r m e i d e n solche
Begriffsantithesen; sie w i r k e n d u r c h die p r a k t i s c h - k o n k r e t e Art ihrer
A r g u m e n t a t i o n , s i n d aber a m entscheidenden P u n k t , n ä m l i c h i n der Frage
des gerechten Krieges, n i c h t w e n i g e r entschieden, w i e sich d e n n auch jede
der beiden englischen D a r l e g u n g e n i n i h r e n Schlußsätzen z u einer ganz
u n g e w ö h n l i c h e n , geradezu w a r n e n d e n E i n d r i n g l i c h k e i t s t e i g e r t 2 8 .

27
L'application des sanctions contre Pltalie, Revue de Droit International et de Légis-
lation comparée, 3. série, t. X V I I (1936), S. 5-64.
28
Ein kurzer Aufsatz aus demselben Band dieses Jahrbuchs von J. G. Starke über
„Monism and Dualism" (S. 66-81) sei hier anmerkungsweise mit einigen Worten vor-
weg erwähnt, nicht als ob er gleichen Gewichts wäre wie die beiden Aufsätze der be-
rühmten Herausgeber jener hochangesehenen völkerrechtlichen Veröffentlichung, son-
dern als ein Symptom für die einfache Selbstverständlichkeit, mit der Begriffe eines nor-
mativistischen Monismus empirische Realität erhalten können und mit Hilfe föderalisti-
scher Analogien eine überstaatliche Ordnung „institutionalisieren" helfen. Starke gibt
der „hypothetischen Ursprungsnorm" empirische Wirklichkeit. Für ihn ist infolgedes-
sen heute bereits eine internationale Verfassung mit verfassungsrechtlichen, konstitutio-
nellen oder, wie Starke sagt, „funktionalen" Normen der Völkerrechts vorhanden. Diese
sind die „Ursprungsnorm" sowohl der übrigen völkerrechtlichen wie auch aller landes-
rechtlichen Normen. Die Leugnung des Primats der völkerrechtlichen Verfassungsnorm
erscheint diesem Autor als Leugnung des Völkerrechts selbst; die überlieferte dualisti-
sche Lehre ist „Anarchie und Fiktion"; „State law is conditioned by international law"
(p. 477). Daß die völkerrechtliche Praxis heute immer noch vom Willen der Staaten aus-
geht, und daß der StIG. in der bekannten Äußerung des Gutachtens zum Lotusfall
(Nr. 10) an dem Grundsatz festhält, daß Beschränkungen der Souveränität der Staaten
nicht vermutet werden, ist „mehr die Feststellung einer historischen Tatsache als die
Analyse einer wirklich juristischen Situation" (S. 81). Dieser Aufsatz zeigt am besten,
wie plausibel und eindrucksvoll die föderalistischen Analogien sind, um sowohl den
Genfer Völkerbund wie die universale Völkerrechtsordnung zu stützen, zu ergänzen
und vorwärtszutreiben. Seine Kenntnis des australischen Bundesverfassungsrechts
kommt dem Autor dabei zustatten. Der Primat der Bundesverfassung vor der Einzelver-
fassung wird ihm zu einem vollkommenen Beispiel („a perfect example") der Hierarchie
konkreter Normen und damit im Ergebnis wirklicher Institutionen. Die Analogie mit
dem Bundesrecht ermöglicht auch die Unterscheidung von völkerrechtlicher Verfas-
sungsnorm und einfacher völkerrechtlicher Norm, weil es außer dem Bundesverfas-
sungsrecht auch einfaches Bundesgesetzesrecht gibt. „Gewisse Verschiedenheiten" erge-
ben sich allerdings schon daraus, daß im „normalen" Bundessystem eine geschriebene

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
34 I I . Z w e i A b h a n d l u n g e n aus T h e B r i t i s h Yearbook of International L a w 1936

1. Der Aufsatz von Sir John Fischer Williams über die Völkerbundssank-
tionen enthält unter dem Namen „Weiterentwicklung" (development) der
Völkerbundssatzung in seinem Kern ebenfalls das, was in diesem Bericht
als „Föderalisierung" des Genfer Völkerbundes bezeichnet wird. Er be-
handelt das im Oktober 1935 akut gewordene Völker- und völkerbunds-
rechtliche Problem einer gemeinsamen, kollektiven A k t i o n von Völker-
bundsmitgliedern gegen ein satzungsbrüchiges Mitglied nach Art. 16 VS.
Seine Darlegungen behalten noch heute und in Zukunft ihre Bedeutung,
wenn sie auch durch den weiteren Verlauf der Ereignisse und insbeson-
dere durch den Sieg Italiens und die Eroberung Abessiniens politisch
überholt sind. Fischer Williams spricht nicht vom Krieg als einem „inter-
nationalen Verbrechen", nicht von Strafaktionen, weil beides, Verbrechen
und Strafe, nicht für Staaten und Völker, sondern nur für die Handlungen
von Individuen gebraucht werden soll; er weist darauf hin, daß Art. 16
VS. auch das Wort „Sanktionen" nicht kennt. Was man darunter versteht
und was Art. 16 VS. meint, soll nur darin bestehen, den Erfolg eines sat-
zungswidrigen Krieges zu verhindern, damit sich die Völkerbundsmitglie-
der, unter dem Eindruck einer erfolgreichen Verhinderung, in Zukunft
satzungsmäßig verhalten (133). Dann w i r d die Anwendung und vor allem
die Weiterentwicklung des Art. 16 erörtert, wie sie sich aus Anlaß des ita-
lienisch-abessinischen Konflikts ergeben hat. Die Sanktionen gegen Italien
sind bekanntlich nicht durch einen Beschluß des Völkerbundsrats in Gang
gekommen 2 9 ; in der Ratssitzung vom 7. Oktober haben die einzelnen M i t -

Bundesverfassung die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Einzelstaat regelt.


Die universale internationale Gemeinschaft kommt eben nur in einem längeren
geschichtlichen Wachstum zustande, und es ist natürlich, daß die heute vorhandenen
„funktionalen Normen", z. B. des Genfer Völkerbundsrechts, diese langsame Entwick-
lung widerspiegeln. Auch dieser interessante Aufsatz zeigt also das typische Bild: Insti-
tutionalisierung des Genfer Völkerbundes und der universalen Völkerrechtsordnung
durch Föderalisierung; Überbrückung der offensichtlichen Diskrepanz zwischen heuti-
ger Wirklichkeit und universalistischer Konstruktion durch einen ökumenischen Fort-
schritts- und Entwicklungsglauben.
29
Der am 7. Oktober 1935 dem Völkerbundsrat vorgelegte Bericht des vom Völker-
bundsrat eingesetzten Sechser-Ausschusses über die Frage der Satzungsverletzung im
Sinne des Art. 16 des Völkerbundpaktes im Abessinienkonflikt ist abgedruckt in Bruns
Ζ. V (1935), S. 920-922; die Entschließungen und Vorschläge über die Anwendung von
Maßnahmen gemäß Art. 16 und die Vorschläge des Koordinationskomitees vom
11.-19. Oktober 1935 a. a. O. V I (1936), S. 137-148 (die Berichte des juristischen Un-
terausschusses a. a. O. S. 143-146); die Protestnote der italienischen Regierung a. a. O.
S. 377; die Verhandlungen über die gegenseitige Hilfeleistung im Mittelmeer S. 380.
Über die juristische „Technik der Sanktionen" ist von deutscher Seite vor allem der Auf-
satz von E. Woermann in „Völkerbund und Völkerrecht" II, S. 605-611, zu beachten,
der in prägnanter Zusammenfassung die inneren Widersprüche des Sanktionsversuches
aufzeigt. Vgl. ferner A. Mandelstam, Le conflit italo-éthiopien devant la Société des
Nations, 1937, der vorschlägt, die Entscheidung über die Frage des Friedensbruches dem
Ständigen Internationalen Gerichtshof im Haag zu übertragen, weil das Verfahren des

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I . Z w e i A b h a n d l u n g e n aus The B r i t i s h Yearbook of International L a w 1936

glieder des Rates, mit Ausnahme Italiens, ihre Meinung dahin geäußert,
daß Italien unter Mißachtung der Art. 12 VS. „zum Kriege geschritten"
sei. Der Präsident der Ratssitzung nahm von der Tatsache Kenntnis, „daß
vierzehn i m Völkerbundsrat vertretene Mitglieder des Völkerbundsrats
der Ansicht sind, daß w i r uns angesichts eines Krieges befinden, der
unter Mißachtung der Verpflichtungen des Art. 12 der Satzung begonnen
wurde". I m Anschluß daran stellte der Präsident fest, daß ein ihm vorlie-
gender Bericht eines Sechserausschusses des Rats, der zu demselben
Ergebnis gekommen war, sowie ein Protokoll dieser Sitzung allen M i t -
gliedern des Völkerbundes übersandt werden sollte, brachte die Resolu-
tion der Bundesversammlung vom 4. Oktober 1921 über die „ W i r t -
schaftswaffe nach A r t 16" in Erinnerung und fügte hinzu, daß „der Rat
nunmehr seine Pflicht zur Koordination hinsichtlich der zu treffenden
Maßnahmen aufnehmen" müsse. Das war nach Fischer Williams nicht
mehr Anwendung der Völkerbundssatzung, aber notwendige und berech-
tigte „Weiterentwicklung" (138). Es folgte eine zweite „Weiterentwick-
lung": Die Völkerbundsversammlung, die in Art. 16 nicht erwähnt ist,
wurde in das Verfahren einbezogen. Sie faßte aber ebenfalls keinen
Beschluß, sondern jedes Mitglied brachte seine Stellungnahme zu der
Meinung der 14 Ratsmitglieder zum Ausdruck, wobei allerdings in eini-
gen Fällen der Grundsatz zur Anwendung kam, daß Stillschweigen Zu-
stimmung bedeutet, und wobei bekanntlich drei Staaten, Osterreich, U n -
garn und Albanien, ihre abweichende Meinung äußerten. A u f dieser
Grundlage erging mit großer Mehrheit eine „Empfehlung", ein „vœu"
der Versammlung vom 10. Oktober 1935, das die Mitglieder einlud, ein
sogenanntes Koordinationskomitee für die gemeinsame Beratung und
„Erleichterung" der von den einzelnen teilnehmenden Staaten ins Auge
gefaßten Maßnahmen zu bilden.

Für jeden Kenner des Bundesverfassungsrechts und seiner Geschichte


ist dieses Verfahren der „Weiterentwicklung" eines Kollektivvertrages von
größtem Interesse. Die Schwierigkeiten, die in dem Erfordernis der Ein-
stimmigkeit liegen, werden, um eine gemeinsame A k t i o n zu ermöglichen,
durch eine typisch „bündische" Ergänzung des Vertrages i m Sinne einer
„Gemeinschaft" überwunden; aus den Stellungnahmen der einzelnen M i t -
glieder und aus den mit bloßer Mehrheit zustande gekommenen „Emp-

Herbstes 1935 übereilt und unsachlich war. Daß der Ausweg ins Justizförmige aber noch
tiefer in die juristische Diskriminierung und damit in die Aufhebung des Kriegsbegriffes
führen müßte, wird sich aus den späteren Ausführungen unseres Berichtes (unten S. 47)
ergeben. Mit dem Satz „la Cour nous dira le droit", den Briand am 19. Mai 1931 vor
dem Völkerbundsrat ausgesprochen hat, um die Frage der deutsch-österreichischen Zoll-
union vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof zu bringen, hat man keine guten
Erfahrungen gemacht.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
36 I I . Z w e i A b h a n d l u n g e n aus T h e B r i t i s h Yearbook of International L a w 1936

fehlungen" der Völkerbundsorgane entsteht ein „general sentiment"; die-


ses w i r d als ausreichende Grundlage für die gemeinsame Völkerbunds-
aktion angesehen, und die, wie Fischer Williams sagt, „eingebildete
Schwierigkeit des Grundsatzes der Einstimmigkeit" ist behoben. N o c h
eine weitere, keineswegs nur eingebildete Schwierigkeit w i r d auf eine ähn-
liche „bündische" Weise in Ordnung gebracht. A r t 16 gibt jedem einzel-
nen Völkerbundsmitglied das Recht, nicht aber die Pflicht, gegen den Sat-
zungsbrecher Krieg zu führen; denn der Satzungsbrecher hatte nach
Art. 16 - die rechtsgültige Feststellung, daß er zum Kriege geschritten war,
unterstellt - ipso facto gegen jedes Völkerbundsmitglied eine Kriegshand-
lung begangen. Es widerspräche aber den „general implications" und dem
„spirit" der Satzung (141), wenn jedes einzelne Völkerbundsmitglied
Krieg führen würde; auch ein „rechtlich zulässiger Krieg soll nach Mög-
lichkeit nicht als ein Mittel zur Verhinderung eines Krieges, selbst eines
rechtlich zulässigen Krieges, heraufbeschworen werden". Es entspricht
also dem Geist der Völkerbundssatzung, sich zunächst auf wirtschaftliche
Zwangsmittel zu beschränken, und es entspricht ihm ferner, daß diese
wirtschaftlichen Zwangsmittel gegen den satzungsbrüchigen Staat zwar
von den einzelnen Mitgliedsstaaten, aber in einer gemeinsamen A k t i o n
vorgenommen werden, so daß sie nach Fischer Williams doch Völker-
bundsmaßnahmen, nicht bloße Einzelaktionen der einzelnen Mitglieder
sind. Den Engländer stört es nicht, daß der Ausgangspunkt der Völker-
bundssanktionen, der ihre rechtliche Voraussetzung und Grundlage ist,
nämlich die Feststellung des Satzungsbruches, kein A k t des Völkerbundes
als solchen, sondern der einzelnen Staaten ist, während das, was sie auf-
grund ihrer Entscheidungsfreiheit gegen den satzungsbrüchigen Staat un-
ternehmen, i m Rahmen einer kollektiven Völkerbundsaktion von Völker-
bunds wegen vor sich gehen soll. Auch die „Resolutionen" der Völker-
bundsversammlung vom 4. Oktober 1921 über die „Wirtschaftswaffe"
sind „Empfehlungen" und nicht mit der Satzung gleichen Ranges. Aber
wenn sich alle Mitglieder des Völkerbundes auf einer Versammlung gegen-
seitig und vor der ganzen Welt über eine bestimmte Auslegung der Sat-
zung geeinigt haben, so ist es „schwierig, sie (diese Mitgliederstaaten)
nicht als durch ihre eigene Erklärung gebunden zu erachten"; denn sonst
„wäre ein feierlicher A k t jedes Sinnes beraubt". Zur juristischen Begrün-
dung w i r d hier an das englisch-rechtliche Prinzip des „estoppel" erinnert,
ohne daß solche Analogien entscheidend sein sollen. Die Rechtsgeschich-
te, besonders die englische Rechtsgeschichte, kennt ja viele Beispiele er-
folgreicher rechtlicher Weiterführungen und Reformen durch andere In-
stanzen als den Gesetzgeber, wenn eine souveräne Gesetzgebung nicht in
der Lage ist, notwendige Ergänzungen vorzunehmen. So w i r d der Genfer
Völkerbund zu einem aktionsfähigen „kollektiven" Gebilde; er w i r d nicht

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I . Z w e i A b h a n d l u n g e n aus T h e B r i t i s h Yearbook of International L a w 1936

eigentlich „institutionalisiert"; seine Satzung bleibt Vertrag, aber er w i r d


trotzdem auf eine wirksame Weise - obwohl das Wort nicht gebraucht ist
- föderalisiert, und seine Einrichtungen und Verfahrensweisen erhalten
eine konkrete, „bündische" Effektivität. Denn nach ihnen bestimmt sich
das Wesentliche: Recht oder Unrecht der gegen einen Staat gerichteten mi-
litärischen oder wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen.
Der letzte Teil des Aufsatzes erweitert und vertieft diese nicht-institu-
tionalistische Föderalisierung des Genfer Völkerbundes zu einer grund-
sätzlichen Erörterung des neuen Problems der „Neutralität". Auch hier
ist der Kernpunkt ein typisch gemeinschafts-, und zwar bundesrechtlicher
Satz: innerhalb des Genfer Völkerbundes kann es nicht die rechtliche In-
differenz gegenüber Kriegen geben, die das Wesen der bisherigen Neutra-
lität ausmacht (145). Neutralität ist hier u m so weniger möglich, als die
Völkerbundssatzung, zum Unterschied vom Kellogg-Pakt, ausdrücklich
Gegenaktionen gegen das satzungswidrig zum Krieg schreitende Mitglied
vorsieht. Es ist „offensichtlich" (obvious), daß das Neutralitätsrecht die
Handhabung gültiger Satzungsbestimmungen nicht einschränken kann.
Das besagt auch die bekannte Regierungsäußerung von Mr. Eden vom
23. Oktober 1935, die es ausdrücklich ablehnt, „that any covenant-brea-
king State had any legal right to require observance by other Members of
the League of any of the laws of neutrality". Gegenüber dem Friedensbre-
cher gibt es keine Neutralität. Trotzdem hat die englische Regierung wäh-
rend der Völkerbundssanktionen gegen Italien gegenüber italienischen
Kriegs- und Hilfsschiffen die Regeln der Haager Neutralitätskonvention
Nr. 13 angewandt, Italien demnach nicht als internationalen „Rechtsbre-
cher", sondern nach altem Neutralitätsrecht „unparteiisch" behandelt.
Fischer Williams erklärt diese auffällige Inkonsequenz damit, daß er sagt,
es besteht keine Rechtspflicht, bei einer Völkerbundsaktion über das N o t -
wendigste hinwegzugehen. Die rechtslogischen Schwierigkeiten werden
aber noch größer, wenn er die Frage stellt, wieweit eine gegenüber Nicht-
mitgliedsstaaten erzwingbare Blockade des Handels eines satzungsbrüchi-
gen Mitglieds durch satzungstreue Mitglieder zulässig ist, obwohl kein
Krieg vorliegt. Nach bisherigem Neutralitätsrecht wäre eine solche Blok-
kade zweifellos völkerrechtswidrig. Sie dadurch als völkerrechtsmäßig zu
konstruieren, daß man sie mit der alten Friedensblockade gleichsetzt, wäre
eine Begriffssophistik, die dem geraden Sinn der englischen Juristen wider-
spricht. Er sieht, daß eben doch etwas ganz anderes vorliegt, als die alte
Friedensblockade; denn die Völkerbundsblockade gegen einen Mitglieds-
staat geht aufgrund eines sie besonders ermächtigenden Vertrages der Völ-
kerbundssatzung vor sich, dem der Betroffene i m voraus zugestimmt hat.
Können also Nichtmitgliederstaaten ihr Recht auf ungehinderten Handels-
verkehr mit dem von der A k t i o n betroffenen Staat gegenüber den an der

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
38 I I . Z w e i A b h a n d l u n g e n aus The British Yearbook of International L a w 1936

Völkerbundsaktion teilnehmenden Staaten geltend machen? Die Frage


bleibt offen. Ebenso w i r d die Frage nach der Gültigkeit einer nur i m Kriege
zulässigen Konterbande-Erklärung der künftigen Entwicklung überlassen.
Doch w i r d als juristische Konstruktion angedeutet, daß hier, obwohl der
Krieg vermieden wird, gewissermaßen doch ein Krieg sozusagen in Ent-
wicklung, „a war in progress", vorliege, wobei die Völkerbundsmächte als
„quasi-trustees" des künftigen rechtmäßigen Kriegspartners angesehen
werden und alle seine Rechte wahrnehmen können.

Dieser Teil der Ausführungen von Fischer Williams ist für uns deshalb
besonders wichtig, weil sich in ihnen die Schwierigkeiten und Widersprü-
che enthüllen, zu denen jeder Versuch einer Konkretisierung des Genfer
Völkerbundes führen muß. Es bleibt in Wirklichkeit kein anderer Ausweg,
als den alten, von dem überlieferten, nicht-diskriminierenden Kriegs-
begriff abhängigen Begriff der Neutralität ganz fallen zu lassen. Das ist
auch das umwälzende, das Antlitz des Völkerrechts verändernde Ergebnis,
zu dem der englische Jurist sich in den eindrucksvollen Schlußsätzen sei-
nes Aufsatzes feierlich bekennt. Er gibt hier einen Ausblick in die Zu-
kunft, der den ganzen Ernst der Frage offenbart und den Kernpunkt des
gegenwärtigen Entwicklungsabschnitts des Völkerrechts klarer und schär-
fer zum Bewußtsein bringt, als jede weitere Rede oder Argumentation. Sir
John Fischer Williams sagt: die kommende Generation werde wahrschein-
lich mehr die Pflichten als die Rechte der Neutralen in den Vordergrund
stellen. Außerdem aber könnten Kriege kommen, in denen - wenn nicht
durch eine Aktion, so doch in Gedanken - nicht Stellung zu nehmen, für
jeden sittlich denkenden Menschen unmöglich würde. I n einem solchen
Weltkrieg, der kein bloßer „dog-fight" wäre und mit allen moralischen
Energien geführt würde (in der heute üblichen Ausdrucksweise hieße das:
in einem „totalen" Krieg) könnte die Neutralität, mag sie auch respektabel
sein, doch nicht sehr weitgehend respektiert werden. Dante, so schließt
der berühmte englische Rechtsgelehrte, hat diejenigen Engel, die in dem
großen Kampf zwischen Gott und dem Teufel neutral blieben, besonderer
Verachtung und Strafe überliefert, nicht nur weil sie ein Verbrechen begin-
gen, indem sie ihre Pflicht, für das Recht zu kämpfen, verletzten, sondern
auch deshalb, weil sie ihr eigenstes, wahrstes Interesse verkannt haben; die
Neutralen eines solchen Kampfes träfe also ein Schicksal, dem nicht nur
Dante, sondern auch Macchiavelli zustimmen würde.

So tritt vor das Vae victis! noch ein warnendes Vae neutris! Seine völker-
rechtliche Begründung beruht darauf, daß der Genfer Völkerbund als eine
wirkliche Gemeinschaft unterstellt wird, wobei es auf juristisch-begriff-
liche Unterscheidungen von Bund, Gemeinschaft und Gesellschaft nicht
ankommt, da der Genfer Völkerbund jedenfalls eine „Society" ist, deren

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I . Z w e i A b h a n d l u n g e n aus T h e B r i t i s h Yearbook of International L a w 1936

bloßes Vorhandensein es rechtlich unmöglich macht, daß ihre Mitglieder


gegenüber einer Satzungsverletzung durch andere Mitglieder gleichgültig
bleiben; und die eo ipso jedes Mitglied verpflichtet, seine Handlungen so
einzurichten, daß es von den anderen Mitgliedern Vertrauen erwarten
kann und ein „Gemeinschaftsgeist" möglich ist. Begriffe des „general sen-
timent" und des gemeinsamen „spirit" sind in der Argumentation von Fi-
scher Williams das Analogon zu dem, was die Verfassungslehre des deut-
schen Föderalismus als den „Grundsatz der Vertragstreue und der bundes-
freundlichen Gesinnung", oder als den „allgemeinen bündischen Rechts-
satz der bundesfreundlichen Haltung" bezeichnete, und womit sie den
Formalismus einer angeblich „rein juristischen" Methode glücklich über-
w a n d 3 0 . Die Einführung und Konkretisierung solcher typisch „bün-
dischen" Vorstellungen enthält die wirksamste und folgenreichste Födera-
lisierung des Genfer Völkerbundes; denn sie macht die bereits vorhande-
nen Einrichtungen, insbesondere den Rat, zu echten, bündischen Größen
mit allen notwendigen bündischen Befugnissen. Sobald ein wirklicher
Bund vorhanden ist, folgt in der Tat alles weitere von selbst. Dabei ver-
meidet der Aufsatz, wie gesagt, alle begriffskonstruktiven Fragen, wie
„Staatenbund oder Bundesstaat?". Fischer Williams hat die Genfer Völ-
kerbundssatzung an einer anderen Stelle einmal mit einem impressionisti-
schen Gemälde verglichen, das nicht mit einem juristischen Mikroskop,
sondern mit dem Auge des Praktikers betrachtet werden müsse 31 . Daher
kommt es ihm auch nicht auf die Kontroverse an, ob die Völkerbundssat-
zung eine Verfassung oder ein Vertrag, eine „Konstitution" oder nur ein
„Kontrakt" ist. Er hält sich in einer vernünftig-praktischen Weise an sein
Ziel, wirksame Aktionen gegen den Satzungsbrecher zu ermöglichen,
ohne die Freiheit und das Selbstentscheidungsrecht des einzelnen Mitglie-
des mehr als unbedingt nötig aufzuheben. Darin liegt die Eigenart und
Überlegenheit dieses völkerrechtsgeschichtlich ungewöhnlich wichtigen
Aufsatzes. Sein tiefer, unausgesprochener Kerngedanke geht dahin, daß es
gar nicht darauf ankommt, jeden Völkerbundsstaat zur Teilnahme an den
gemeinsamen Aktionen des Völkerbundes, w o h l aber alle dritten Staaten,
Mitglieder wie Nichtmitglieder, zur Anerkennung des Rechtes dieser
Aktionen zu bringen.

2. Die außerordentliche Bedeutung des Aufsatzes von McNair liegt dar-


in, daß er unmittelbar auf die letzte und entscheidende Frage, nämlich die
eines neuen Kriegs- und Neutralitätsbegriffes hinführt. M c N a i r zitiert sei-

30
Rudolf Smendy Festgabe für Otto Mayer, Tübingen 1916, S. 260 f.; ders., Verfassung
und Verfassungsrecht, München und Leipzig 1928, S. 170/71; Carl Bilfinger, Der Ein-
fluß der Einzelstaaten auf die Bildung des Reichswillens, Tübingen 1923, S. 52 f.
31
Some aspects of the Covenant of the League of Nations, 1934.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
40 I I . Z w e i A b h a n d l u n g e n aus The B r i t i s h Yearbook of International L a w 1936

nen Vorgänger auf dem Lehrstuhl der Whewell Professur in Cambridge,


Brierly 3 2 , und erinnert daran, wie sehr es Grotius darauf ankam, zwischen
gerechten und ungerechten Kriegen zu unterscheiden, wie dieser Unter-
schied aber schließlich ganz aus der Völkerrechtslehre verschwand, bis die
unbedingt herrschende Lehre (Hall, Westlake und alle andern führenden
Völkerrechtslehrer) den Krieg nur noch als „extra-legal" ansah, während
die Frage seiner „Illegalität" völkerrechtlich nicht mehr gestellt wurde.
Die andere Seite dieses nichtdiskriminierenden Kriegsbegriffs war ein
bestimmter Neutralitätsbegriff, der für die nichtkriegführenden Staaten,
ohne Rücksicht auf Recht oder Unrecht einer kriegführenden Partei, die
Pflicht zu strengster Unparteilichkeit begründete. Das ist nun, wie
M c N a i r glaubt, wenigstens für den größten Teil der Welt anders gewor-
den. I n der Haltung der Völkerbundsstaaten zu dem italienisch-abessini-
schen Krieg sieht er einen Beweis dafür, daß das bisherige Neutralitäts-
recht, mit seiner Pflicht zur nichtdiskriminierenden Unparteilichkeit,
durch die Völkerbundssatzung überwunden ist. Für diejenigen Staaten,
die nicht Mitglied des Völkerbundes sind, soll sich aus dem Kellogg-Pakt,
der ja mit unbeachtlichen Ausnahmen (zum Beispiel Tibet) für alle Staaten
der Erde gilt, die Pflicht zur Unterscheidung zwischen gerechten und un-
gerechten Kriegen und damit auch der neue Neutralitätsbegriff ergeben.
Die neue Ordnung der Erde w i r d durch die allmählich sich herausbilden-
den Methoden des „kollektiven Widerstandes gegen den Angreifer" be-
stimmt. Die Tendenz zur Föderalisierung bedient sich hier des Wortes
„Kollektivierung". Daß mit der Kollektivierung der A k t i o n gegen den
Angreifer auch neue kollektive Methoden zur Revision des Status quo
und zur kollektiven Durchsetzung solcher Revisionen notwendig werden,
hebt McNair ausdrücklich hervor. I n den bisherigen Versuchen der Orga-
nisation eines allgemeinen gegenseitigen Beistandes (Entwurf von 1923,
Genfer Protokoll von 1924, Generalakte von 1928 und andere 33 ) sieht er

32
Auf die ebenfalls in diesen Zusammenhang gehörenden Veröffentlichungen von
J. L. Brierly, insbesondere auch seine kürzlich erschienenen Vorlesungen Règles généra-
les du droit de la paix, Recueil des Cours de l'Académie de Droit International, 1936, IV,
S. 109 f. (la guerre juste et injuste), sei hier wenigstens mit einem Wort hingewiesen.
33
Vgl. die Dokumente in der von Viktor Bruns herausgegebenen Sammlung „Politi-
sche Verträge", Band II, 1. Teil (1920-1927), Materialien zur Entwicklung der Sicher-
heitsfrage im Rahmen des Völkerbundes, bearbeitet von Georg von Gretschaninow, Ber-
lin 1936; die Genfer Generalakte vom 26. Sept. 1928 im Recueil des Traités der SdN.,
X X I I , S. 272. Uber weitere Vorschläge vgl. besonders den Bericht von M. Bourquin auf
der Londoner Studienkonferenz über die kollektive Sicherheit vom 3. bis 8. Juni 1935,
SdN., Coopération Intellectuelle Nr. 53 / 54, und die Vorlesung von Bourquin y Le Pro-
blème de la Sécurité Internationale, Recueil des Cours, Bd. 49 (1934); zur Kritik von deut-
scher Seite vor allem: Freiherr von Freytagh-Loringhoven, Die Regionalverträge, Fünf
Vorlesungen an der Haager Akademie für Völkerrecht, Deutsche Ausgabe in den Schrif-
ten der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Völkerrecht Nr. 4; Asche Graf von Man-

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I . Z w e i A b h a n d l u n g e n aus The B r i t i s h Yearbook of International L a w 1936

die Anzeichen dafür, daß die Menschheit sich auf dem Weg zu neuen For-
men einer wirksamen Kollektivierung befindet. Zwang und Gewalt wer-
den nicht abgeschafft, wohl aber „kollektiviert" und „entnationalisiert".
Das soll freilich nicht durch Bildung einer selbständigen, internationalen
Regierung, wie manche vorschlagen, und nicht durch eine eigene von den
einzelnen nationalen Regierungen verschiedene, neue internationale
Macht geschehen; die Machtanwendung muß vielmehr in der Hand der
einzelnen Regierung bleiben, die über die Voraussetzung und die A r t einer
solchen A k t i o n i m Rahmen der gemeinsamen Beratung und Zusammen-
arbeit selbst entscheidet. Die Föderalisierung des Genfer Völkerbundes
geht demnach, wie bei Sir John Fischer Williams, durch eine praktisch-
verständige Beimischung föderalistischer Vorstellungen, aber ohne anti-
thetische Zuspitzungen und ohne Institutionalisierungen französischen
Stils vor sich, unter Wahrung der vertraglichen Grundlagen und mit sorg-
fältiger Rücksicht auf die Selbständigkeit der einzelnen Staaten. Kein Völ-
kerbundsmitglied ist zu einer militärischen A k t i o n verpflichtet, aber die
Satzung ermächtigt es zur Teilnahme an einer solchen, wenn es das nach
seinem Ermessen für richtig hält. Dabei hat jedes Mitglied vernünftiger-
weise ein Recht darauf, sich i m voraus mit einem genügend starken Teil
der kooperierenden Mächte zu verständigen, wenn der zu bekämpfende
Angreifer vermutlich von seiner bewaffneten Macht Gebrauch macht, um
Widerstand zu leisten. Wichtiger als alles andere ist die Unterscheidung
von gerechten und ungerechten Kriegen und die praktische Durchsetzung
dieser Unterscheidung gegenüber dem Angreifer, das heißt gegen einen
ungerechterweise kriegführenden Staat. I n Art. 10 und 16 VS. sieht
M c N a i r die bereits heute gültige, rechtliche Grundlage für praktische
Schlußfolgerungen aus der Unterscheidung gerechter und ungerechter
Kriege. Von der Regierung der Vereinigten Staaten hofft er, daß sie die
Folgerungen aus dem Kellogg-Pakt ziehen und gegenüber einem als
Angreifer erklärten Staat nicht an dem überlieferten Begriff der Neutrali-
tät festhalten werde, obwohl der Präsident der Vereinigten Staaten i m ita-
lienisch-abessinischen Konflikt die notwendige Unterscheidung zwischen
Angreifer und Objekt des Angreifers noch nicht gemacht habe.
Auch diese Darlegungen sind trotz ihrer Kürze von größter völker-
rechtlicher Tragweite; sie enthalten in ihrer prägnanten, auf das Wesentli-
che konzentrierten Stellungnahme die vollständigste Zusammenfassung
der für das gegenwärtige Stadium des Völkerrechts entscheidenden Fragen

delsloh, Politische Pakte und völkerrechtliche Ordnung (Sonderdruck aus: 25 Jahre Kai-
ser Wilhelm-Gesellschaft, Dritter Band: Die Geisteswissenschaften), Berlin 1937; Carl
Schmitt, Über die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand, in der
Zeitschrift „Völkerbund und Völkerrecht", I I (1935), S. 92-98.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
42 I I I . Kritische Erörterung

und stellen das Problem mit sicherer Einfachheit auf die richtige Ebene:
die des Kriegsbegriffs. Der Schlußabsatz erinnert an den Schluß des Auf-
satzes von Sir John Fischer Williams. Zunächst freilich beginnt M c N a i r
mit einem Vergleich, der für einen beeindruckbaren Leser auf den ersten
Blick geradezu phantastische Aspekte eröffnen könnte. Er deutet nämlich
an, daß das reiche England vor der Notwendigkeit einer Revision des Sta-
tus quo vielleicht in die Rolle des reichen Jünglings aus dem Evangelium
hineingerät, der zwar die besten Absichten hatte, aber „traurig davon-
ging", als ihm zugemutet wurde, wirklich auf seinen Reichtum zu verzich-
ten. Leider w i r d dieser schöne und tiefsinnige Vergleich nur einen Augen-
blick gestreift; das Bild des reichen Jünglings versinkt, kaum gegrüßt,
gemieden, und es ist nicht etwa davon die Rede, es zu konkreten Folge-
rungen oder praktischer Detaillierung zu vertiefen. Statt dessen w i r d
sofort daran erinnert, daß England durch seine Beteiligung an der Bildung
einer internationalen Truppe bei der Abstimmung i m Saargebiet und seine
Haltung i m Völkerbund während des September 1935 bereits einen wich-
tigen Beitrag zur Durchführung kollektiver Aktionen geleistet habe, so
daß jetzt auch die anderen Staaten, wenn sie an den Segnungen der kollek-
tiven Sicherheit teilnehmen wollten, bereit sein müßten, die Lasten und
das Risiko der neuen Methode auf sich zu nehmen, damit der Zustand
dauernden Friedens allmählich herbeigeführt werden könne.

III.

Stärker und zwingender als das systematisch-konstruktive Werk von


Scelle und die rechtstheoretische Arbeit Lauterpachts zeigen die beiden,
mit der konkreten Frage der sogenannten Sanktionen sich beschäftigenden
Aufsätze des British Yearbook, daß heute, wie in jedem intensiven Augen-
blick der Völkerrechtsgeschichte, der Begriff des Krieges in den Mittel-
punkt tritt und zum letzten und echtesten Prüfstein allen Völkerrechts
wird. Für Scelle ist der Krieg auf der einen Seite einfach ein „crime inter-
national", auf der anderen eine polizeiliche A k t i o n und dadurch ein w i r k -
liches Rechtsverfahren. Das würde allerdings erst in einer überstaatlichen
Organisation vollkommen verwirklicht sein 3 4 . Man darf mit einiger Span-
nung darauf warten, wie der französische Jurist in der Weiterführung sei-
nes Werkes das Problem des völkerrechtlichen Krieges systematisch
gestaltet, oder ob er es vielleicht mit seinem M u t zur Folgerichtigkeit als
grundsätzlich bereits erledigt ansieht und nicht mehr erwähnt. Lauter-
pacht hält in seinem rechtstheoretischen Werk die Frage des Krieges offen.

34
Recueil des Cours de l'Académie de Droit International, 1932, IV, p. 680.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I I . Kritische E r ö r t e r u n g

I n seiner Ausgabe von L. Oppenheims International Law (Vol. II, 5. Aufl.


1935, §§ 52 j, 61 und 306 a, S. 154, 182, 532) geht er von den überlieferten
Begriffen aus und sucht er die durch Völkerbund und Kellogg-Pakt
bewirkten Änderungen des Neutralitätsrechts damit zu begründen, daß er
sie in der Völkerbundssatzung und i m Kellogg-Pakt vertraglich zuge-
sichert findet. Das diskriminierende Verhalten gegenüber dem Satzungs-
brecher soll aus diesem Grunde keine Verletzung der Neutralitätspflicht
zur Unparteilichkeit sein, weil auch nach überliefertem Völkerrecht Ver-
träge, die auf die Neutralitätsansprüche verzichten und einer diskriminie-
renden Behandlung zustimmen, zulässig seien; die Völkerbundsstaaten
hätten sich, weil sie dem Art. 16 VS. zugestimmt haben, i m voraus einver-
standen erklärt; alle anderen Staaten sollen durch den Kellogg-Pakt der
Diskriminierung des Vertragsbrechers i m voraus zugestimmt haben. Diese
Argumentation geht zwar an den von Fischer Williams und M c N a i r auf-
geworfenen neuen Fragen des Kriegs- und Neutralitätsbegriffs vorbei,
scheint aber praktisch das gleiche Ergebnis zu erreichen.
Die neuesten Lehrbücher des Völkerrechts, insbesondere A . von Ver-
droß* 5 und E. Wolgast 36 halten, trotz einiger Einschränkungen, im ganzen
heute noch an dem überlieferten, nichtdiskriminierenden Kriegs- und
Neutralitätsbegriff fest. Dasselbe gilt von der letzten größeren monogra-
phischen Darstellung von Josef L. Kunz* 7. Die Behandlung des Neutrali-
tätsrechts in dem von G. A. Walz herausgegebenen Handbuch des Völker-
rechts (V, 5, 1936) durch E. v. Waldkirch und E. Vanselow verbleibt eben-
falls auf der bisherigen Grundlage 3 8 . Trotzdem ist nicht zu leugnen, daß

35 A. von Verdroß, Völkerrecht (Berlin 1937), § 45, S. 192/93, erklärt den Krieg nur
bei einer justa causa als völkerrechtliche Zwangsmaßnahme zulässig; davon gehe auch
Art. 15 Abs. 7 VS aus; auf S. 88 wird ein Zusammenhang von erzwungenem Friedensver-
trag und rechtmäßigem Krieg angedeutet; da der Staat aber souverän bleibt und ihm die
Entscheidung über Recht und Unrecht des Krieges zusteht, so bleibt es auch bei dem
alten, nicht-diskriminierenden Kriegsbegriff. Auf S. 320 heißt es daher bei der Lehre von
der Neutralität: „Dieser Grundsatz der Unparteilichkeit durchzieht wie ein roter Faden
das ganze Neutralitätsrecht".
36
Das „Völkerrecht" von Ernst Wolgast (Berlin 1934), das sich durch viele treffende
und originelle Beobachtungen auszeichnet, ist an diesem Punkt ebenfalls sehr zurück-
haltend. Zwar wird in § 493 (S. 934 / 35) gesagt, daß es unmöglich sei, den gegenwärtigen
Stand des Neutralitätsrechts exakt darzulegen („dies um so weniger, als der Völkerbund-
und der Kellogg-Pakt, Stimson-Doktrin, das Neutralitätsrecht in seiner Gänze schlecht-
hin fraglich gemacht haben"), vgl. auch § 475 und 477. Aber in den „Obersten Sätzen"
heißt es dann doch, daß die Pflicht zum „gleichmäßigen" Verhalten die Annahme eines
besonderen rechtlichen Grades „wohlwollende Neutralität" ausschließe. Wolgast hat
also das Dilemma: Neutralität oder Nichtneutralität? wohl erkannt.
37
Kriegsrecht und Neutralitätsrecht. Wien 1935.
38
Die Frage der Neutralität der Schweiz im Genfer Völkerbund soll hier nicht erör-
tert werden; es sei nur bemerkt, daß auch an ihr der Zwangscharakter des Dilemmas:

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
44 I I I . Kritische Erörterung

das völkerrechtliche Problem des Kriegsbegriffs mit zunehmender Stärke


und unabsehbarer Tragweite die völkerrechtliche Entwicklung der Gegen-
wart beherrscht. Die Frage des „gerechten" Kriegs hat sich erhoben.
Es war sehr mutig und offen von McNair; die alles entscheidende Frage
in solcher konkreten Klarheit aufzuwerfen. Aber hat sich der auf Genfer
Völkerbund und Kellogg-Pakt begründete, von dorther zwischen gerech-
tem und ungerechtem Krieg unterscheidende, neue völkerrechtliche
Kriegsbegriff schon wirklich i m Völkerrecht durchgesetzt? Ist er i m Ver-
gleich zu den während des Weltkrieges erhobenen Ansprüchen, die er wei-
terführt, heute mehr als in den Jahren 1917-1919 ein wirksames Ord-
nungselement? Für die Bejahung dieser Frage scheinen mir die Ausfüh-
rungen von M c N a i r und Sir John Fischer Williams, ebenso wie die zahl-
reichen andern Bemühungen gleicher Richtung, nur den schwachen und
problematischen Anhaltspunkt zu geben, der in der Supposition des Gen-
fer Völkerbundes als einer bereits vorhandenen Gemeinschaft mit bün-
dischem Charakter enthalten ist. Ich w i l l nicht verkennen, was es völker-
rechtlich bedeutet, wenn Mächte wie England, Frankreich und die Ver-
einigten Staaten von Amerika an einem diskriminierenden Kriegsbegriff
Interesse haben; aber ich glaube doch nicht, daß die damit beanspruchte,
ungeheure Wendung sich bereits in der Wirklichkeit vollzogen hat oder
auch nur als Programm und Forderung hinreichend klar und in sich
widerspruchslos wäre. Sowohl die systematischen und rechtstheoretischen
Versuche einer Institutionalisierung von Völkerbund und Völkergemein-
schaft, wie auch die praktisch-konkreten Argumente von Sir John Fischer
Williams und M c N a i r bedürfen vielmehr gerade vom Kriegsbegriff her
einer weiteren völkerrechtlichen Klärung. Es handelt sich dabei, wie nach
unseren bisherigen Ausführungen klar sein dürfte, nicht um begriffstheo-
retische Kontroversen, sondern um eine Frage von elementarster prakti-
scher Bedeutung, nämlich die Frage der Neutralität in einem etwaigen
künftigen Kriege 3 9 .

Neutralität oder Nichtneutralität? sichtbar wird, demgegenüber eine „differenzielle"


Neutralität (wie sie z. B. von Dietrich Schindler, Völkerbund und Völkerrecht, II, S. 524,
verteidigt wird) unhaltbar wird. Die Bindung an eine Entscheidung über Recht oder Un-
recht einer kriegführenden Partei schließt den rechtlichen Kern der Neutralität, die Un-
parteilichkeit, aus. Es gibt keine halbe Unparteilichkeit.
39
In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß der erste beachtliche Versuch, der
Unterscheidung von gerechtem und ungerechtem Krieg auf dem Wege über das Neutra-
litätsrecht praktische Wirkungen zu verschaffen, während des Weltkrieges gegen
Deutschland von belgischer Seite unternommen worden ist, in dem Vortrag von Ch. de
Visscher vom 28. Juli 1916, De la belligérance dans ses rapports avec la violation de la
neutralité, Grotius Society II, p. 102: „Cette égalité juridique, qui existe entre belligé-
rants ordinaires dans le cas de guerre régulière, se trouve exclue ici en raison du caractère
injuste de l'agression".

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I I . Kritische Erörterung

Es ist richtig, daß Grotius von gerechten und ungerechten Kriegen


spricht; er nennt die ungerechten Kriege „latrocinia" und sagt sogar, beim
ungerechten Krieg bestehe für die Untertanen keine Rechtspflicht, dem
Fürsten zu folgen. Aber Grotius hat noch nicht eindeutig ein von (im
modernen Sinne) staatlich organisierten Völkern getragenes Völkerrecht,
sondern eine noch halbfeudale A r t von mittelalterlich-naturrechtlichem
Common Law-Gemeinwesen i m Auge. Er spricht daher auch noch von
Privatkriegen, ein Begriff, der von selbst aufhört und sich in einen
„strafgesetzlichen Tatbestand" verwandelt, sobald eine geschlossene staat-
liche Ordnung und ein darauf sich gründendes Völkerrecht entsteht, die das
jus ad bellum beim Staat konzentriert und monopolisiert. I n dem Maße, in
dem der moderne Staat sich herausbildet, klärt sich daher auch die Eigenart
des von solchen Staaten getragenen Völkerrechts und setzt sich der ihm spe-
zifische, nichtdiskriminierende Kriegsbegriff durch. I m 18. Jahrhundert
steht er bei Vattel, in seinem D r o i t des Gens (1758) fest, und zwar unter
dem Gesichtspunkt, daß in allen Zweifelsfällen jede unabhängige Nation
selbst über die Gerechtigkeit eines Krieges entscheidet, obwohl auch Vattel
ausführlich von gerechten und ungerechten Kriegen spricht und sogar den
Privatkrieg, allerdings nur noch als einen Vorgang des „Naturzustandes",
erwähnte 4 0 . Doch ist auch für Grotius der ungerechte Krieg eben doch
Krieg und etwas anderes als Exekution oder Sanktion auf der einen, Mord,
Raub und Piraterie auf der anderen Seite. Auch Grotius (De Jure Belli ac
Pacis 1 § 2 Nr. 3) sagt ausdrücklich: „Justitiam in definitione (sc. belli) non
includo". Sein Jus belli ac pacis kann, ebenso wie das überlieferte, bis auf
den heutigen Tag gültige Völkerrecht, selbstverständlich von gerechten und
ungerechten Kriegen sprechen, es kann diese Unterscheidung aber ebenso-
wenig in den Kriegsbegriff, wie in den entsprechenden Begriff von Neutra-
lität aufnehmen, ohne diesen Kriegsbegriff als solchen und damit die
Gesamtstruktur der Völkerordnung zu zerstören.
In praxi handelt es sich nur darum, ob jeder Staat für sich die Entschei-
dung trifft und das jus supremae decisionis behält, oder ob ein anderer
Staat oder eine Gruppe von ihnen mit Wirkung für Dritte die völkerrecht-
liche Entscheidung über Recht oder Unrecht des Krieges an sich zieht 4 1 .

40 Le Droit des Gens, t. II, Buch 3, Kap. 1, § 2, und Kap. 3; in Buch 3, Kap. 3, § 39
und 40, tritt am deutlichsten der agnostizistische Gesichtspunkt hervor, daß, wenn jede
Nation an ihr Recht glaubt, jeder souveräne Staat kraft seiner Souveränität selbst ent-
scheiden muß.
41
Welche praktischen Folgerungen der neutrale Staat aus dem von ihm anerkannten
Recht oder Unrecht einer kriegführenden Partei zieht, ist eine zweite Frage; jedenfalls
ist ein in solcher Weise zwischen Recht und Unrecht unterscheidender dritter Staat nicht
mehr „neutral", auch dann nicht, wenn er sich nicht an militärischen oder wirtschaftli-
chen Zwangsmaßnahmen beteiligt.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
46 I I I . Kritische Erörterung

Gegenüber dieser Grundfrage kommt es nicht darauf an, wie der Krieg
rechtstheoretisch konstruiert und abgegrenzt wird, ob er „actio" oder
„status" ist, ein Rechtsverfahren, eine Rechtsinstitution, Selbsthilfe oder
nur ein nicht wider-, aber außerrechtlicher Vorgang, ob der „Wille zum
Krieg" oder „objektive" Tatsachen das Entscheidende sind usw. 4 2 . Weder
berührt es unsere Frage, daß die kriegführenden Staaten zu allen Zeiten
ihre Sache selbstverständlich als gerecht und die des Gegners als ungerecht
hinstellen, noch ist es entscheidend, daß es auf der Seite der „dritten" Staa-
ten Modifikationen wie eine „wohlwollende", eine „bewaffnete", eine
„bedingte" und ähnliche Arten der Neutralität gibt. Die Praxis der Neu-
tralität hat immer viele Nuancen gekannt. Aber eine für dritte Staaten oder
gar die Völkerrechtsgemeinschaft bindende Entscheidung über Recht und
Unrecht war damit nicht beansprucht. Ist ein neutraler Staat davon über-
zeugt, daß die eine kriegführende Partei gegenüber der anderen i m Recht
oder Unrecht ist, so steht es ihm frei, auf der Seite, auf der er das Recht
sieht, in den Krieg einzutreten; er w i r d dadurch selbst kriegführende Par-
tei, aber er kann nicht mit völkerrechtlicher Wirkung den Krieg auf der
einen Seite zum völkerrechtlichen Recht, auf der anderen Seite zum völ-
kerrechtlichen Unrecht machen. I m entscheidenden Augenblick und
gegenüber der Frage, wieweit das heutige Völkerrecht gerechte und unge-
rechte Kriege kennt, erhebt sich stets ein einfaches Entweder-Oder und
gilt immer noch: „ O n est neutre ou on ne l'est pas" 4 3 . Die Neutralität läßt
sich nuancieren, aber nicht halbieren. Sie ist vom Staats- und Volksbegriff
und von der heutigen Völkerrechtsordnung unabtrennbar.
Wenn heute ein Staat oder eine Gruppe von Staaten diese grundsätzlich
nichtdiskriminierende Haltung aufgibt und in der Weise zum Kriege
schreitet, daß in einer auch für Dritte rechtlich maßgeblichen Weise die
eine Kriegspartei von der anderen rechtlich unterschieden wird, so ist
damit der Anspruch erhoben, nicht nur i m eigenen Namen, sondern auch
i m Namen einer höheren, das heißt überstaatlichen Ordnung und Ge-
meinschaft aufzutreten; es ist der Anspruch erhoben, etwas ganz anderes
zu tun als das, was man bisher unter Kriegführen verstand, also etwas zu
tun, was folgerichtig überhaupt nicht mehr als „Krieg" i m bisherigen völ-
kerrechtlichen Sinn bezeichnet werden darf. Sobald die Vorstellung der
möglichen Neutralität und damit die eines unbeteiligten „dritten Staates"
verneint wird, ist ein universaler oder regionaler Herrschaftsanspruch er-

42
Vgl. die Übersichten bei J. Kunz a. a. O. S. 4 f.; Georg Kappus: Der völkerrechtliche
Kriegsbegriff in seiner Abgrenzung gegenüber militärischen Repressalien, Breslau 1936
(für die „Willenstheorie").
43
Hammarskjöldy La neutralité en général, Bibliotheca Visseriana III, p. 59, Leyden
1924.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I I . Kritische Erörterung

hoben. Wenn die Völkerrechtsordnung einer aus staatlich organisierten


Völkern gebildeten Völkerrechtsgemeinschaft auf dem Staat als dem Trä-
ger der letzten Entscheidung über sein jus belli, und auf einem daraus fol-
genden, nichtdiskriminierenden Kriegs- und Neutralitätsbegriff ruht, so
hebt die Einführung einer völkerrechtlich maßgeblichen Diskriminierung
nicht nur den nichtdiskriminierenden, sondern jeden Kriegsbegriff auf.
Die Frage ist heute also in Wirklichkeit nicht mehr: gerechter oder unge-
rechter, erlaubter oder unerlaubter Krieg?, sondern: Krieg oder Nicht-
Krieg? Die große „planetarische" Auseinandersetzung der Völker geht
schon so tief, daß sie auf die letzten Grundbegriffe und auf das Dilemma:
Krieg oder Nicht-Krieg? stößt. Ebenso ist beim Begriff der Neutralität
die Entwicklung schon bis zu der Alternative: Gibt es noch Neutralität
oder gibt es keine mehr? vorgestoßen. N u r daraus erklärt sich die merk-
würdige, von 1914 bis zum heutigen Tage, also seit über 20 Jahren zwi-
schen zwei extremen Gegensätzen schwankende Haltung der Vereinigten
Staaten von Amerika, die sich bald einem rigoros passiven, folgerichtig
nicht-unterscheidenden Neutralitätsbegriff, bald einem den Neutralitäts-
begriff beseitigenden und die Entscheidung über Recht und Unrecht an
sich reißenden, diskriminierenden Kriegsbegriff zuwenden, ohne daß bis-
her eine endgültige Entscheidung gefallen wäre 4 4 .
Alle Versuche, auf dem Wege über den Genfer Völkerbund einen diskri-
minierenden Kriegsbegriff in das Völkerrecht einzuführen, stoßen infolge-
dessen heute auf zwei große Unvereinbarkeiten: die Unvereinbarkeit jedes
Kriegsbegriffs mit dem Neuordnungsanspruch des Genfer Völkerbundes,
und die Unvereinbarkeit von Universalismus und Föderalismus in der
heutigen Lage des Völkerrechts.
1. Der bisherige Kriegsbegriff macht es durch seine Nichtdiskriminie-
rung und seine paritätische Gleichbewertung beider Parteien möglich, daß
die beiderseitige bewaffnete Auseinandersetzung rechtlich als ein einheit-
licher, völkerrechtlicher Begriff gelten kann. Die Nichterstreckung auf
dritte Staaten, der Verzicht auf eine für Dritte maßgebliche rechtliche
Unterscheidung, ist die Voraussetzung einer solchen Zusammenfassung.
Sobald mit Wirkung für Dritte über Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrig-
keit, Erlaubtheit oder Unerlaubtheit von Kriegen entschieden wird, ist die

44
Vgl. John H. Spencer; Die Vereinigten Staaten und die Rechte der Neutralen im
Seekriege, Bruns Ζ. V (1935), S. 293-304. Das umfangreiche amerikanische Schrifttum,
das insbesondere in den letzten Jahren entstanden ist, bewegt sich nur um das Dilemma
dieser beiden Extreme. Der Zwangscharakter dieses Dilemmas ergibt sich ohne weiteres
aus dem andern: Krieg oder Nicht-Krieg, wie es im Text behandelt ist, so daß eine wei-
tere Behandlung des amerikanischen Schrifttums für die Zwecke dieses Berichtes nicht
erforderlich ist. Eine lehrreiche Parallele aus der Anerkennungspraxis bei Makarov,
Bruns. Ζ. IV (1934), S. 3. Im übrigen vgl. unten S. 56 f. dieses Berichtes.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
48 I I I . Kritische Erörterung

Einheitlichkeit des Kriegsbegriffs gesprengt und liegt auf der einen Seite
ein völkerrechtlich gerechter, zulässiger, auf der anderen Seite ein völker-
rechtlich ungerechter, unzulässiger „Krieg" vor. Das wären eigentlich
zwei Kriege, die aber, da Recht und Unrecht rechtlich nicht zu einem
Begriff verbunden werden kann, jeder etwas ganz Verschiedenes und Ent-
gegengesetztes bedeuten und daher nicht mit demselben Rechtsbegriff
erfaßt werden können. Ein anerkannt rechtmäßiger und ein ebenso aner-
kannt rechtswidriger Vorgang kann, innerhalb derselben Rechtsordnung,
nicht einen und denselben Rechtsbegriff bilden. Das wäre ebensowenig
denkbar, wie daß etwa innerhalb eines Staates der Kampf zwischen Polizei
und Verbrecher, oder der rechtswidrige Angriff und die rechtmäßige N o t -
wehr als eine einheitliche „Rechtseinrichtung" mit einer rechtmäßigen
und einer rechtswidrigen „Seite" aufgefaßt werden könnten. Ebenso um-
gekehrt: Solange eine Rechtsordnung einen Vorgang wie das Duell duldet
oder gar als Rechtseinrichtung anerkennt, kann sie gewisse Auseinander-
setzungen als Nicht-Duell, zum Beispiel als strafbare Körperverletzung,
ansehen, nicht aber, sobald ein Duell vorliegt, zwischen „gerechten" und
„ungerechten" Duellen unterscheiden. Sobald eine Völkerrechtsordnung
also wirklich mit überstaatlicher, das heißt für dritte Staaten maßgeblicher
Gültigkeit zwischen berechtigten und unberechtigten Kriegen (zwischen
zwei Staaten) unterscheidet, ist die bewaffnete A k t i o n auf der gerechten
Seite nur Rechtsverwirklichung, Exekution, Sanktion, internationale
Justiz oder Polizei; auf der ungerechten Seite ist sie nur Widerstand gegen
rechtmäßiges Vorgehen, Rebellion oder Verbrechen und jedenfalls etwas
anderes als die überkommene Rechtsinstitution „ K r i e g " 4 5 .

45
Norbert Gürke hat das große Verdienst, zu der Frage des gerechten Krieges mit
einer konkreten Unterscheidung (statt mit den sonst üblichen scholastisch-naturrecht-
lichen Allgemeinheiten) Stellung genommen zu haben, indem er den auf einen gerechten
Lebensausgleich zielenden Krieg dem mit einer universalistischen Ideologie gegen einen
„totalen Feind" geführten Vernichtungskrieg gegenüberstellt (Volk und Völkerrecht,
Tübingen 1935, S. 73; Der Begriff des totalen Krieges in der Zeitschrift „Völkerbund und
Völkerrecht" IV, 1937, S. 207/ 212). Diese Unterscheidung ist sehr fruchtbar und macht
den Gegensatz eines universalistischen zu einem politisch-pluralistischen Weltbild
anschaulich. Doch ist zu beachten, daß der universalistisch-ideologisch gerechtfertigte
Vernichtungskrieg gerade wegen seines ökumenischen Anspruchs zunächst den Staat als
geschlossene Volks- und Raumordnung seines bisherigen Ordnungscharakters beraubt,
den Staatenkrieg in einen internationalen Bürgerkrieg verwandelt (wobei der sogenannte
Bürgerkrieg natürlich nicht mehr auf derselben Ebene Krieg ist, wie der Staatenkrieg),
daß er infolgedessen den Begriffen von Krieg und Feind ihre Ehre und Würde nimmt
und beide Begriffe vernichtet, indem er den Krieg auf der „gerechten" Seite zu einer
Exekution oder Säuberungsmaßnahme, auf der ungerechten Seite zu einem rechts- und
moralwidrigen Widerstand von Schädlingen, Unruhestiftern, Piraten und Gangstern
macht. In meiner Abhandlung über den „Begriff des Politischen" (1. Ausgabe 1927,
3. Ausgabe 1932), auf die Gürke hinweist, ist dieser Zusammenhang der Beseitigung des
Kriegs- und Feindbegriffs mit einem universalistischen Pazifismus klargestellt. Daß es

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I I . Kritische Erörterung

D i e Genfer V ö l k e r b u n d s s a t z u n g hat i n der Frage des Kriegsbegriffs


keine E n t s c h e i d u n g getroffen. I n A r t . 16 VS. w i r d die militärische A k t i o n
des Satzungsbrechers ebenso „ K r i e g " genannt w i e die G e g e n a k t i o n gegen
i h n „ K r i e g " heißt. A r t 15 A b s . 7 sieht n o c h K r i e g e alten Stiles (auf beiden
Seiten p o u r le m a i n t i e n d u d r o i t ) vor. D a r a u f h i n w e r d e n i n der V ö l k e r -
bundsjurisprudenz üblicherweise „erlaubte" und „unerlaubte" Kriege
unterschieden, m i t z w e i verschiedenen N e u t r a l i t ä t s b e g r i f f e n , d e m neuen
f ü r die unerlaubten, u n d d e m alten f ü r die erlaubten K r i e g e 4 6 . Beide
Kriegsarten sollen aber d o c h u n t e r einen B e g r i f f „ K r i e g " als einen Rechts-
begriff f a l l e n 4 7 . H i e r t r i t t die unentschiedene H a l b h e i t der V ö l k e r b u n d s -

sich bei dieser Verwandlung des „Krieges" in einen „Nicht-Krieg" nicht etwa nur um
begriffstheoretische Feinheiten handelt, zeigen die Bemühungen derjenigen Autoren, die
die Luftwaffe als spezifische Sanktions- oder auch Bürgerkriegswaffe hinstellen, um den
Fortschritt der militärtechnischen Entwicklung gleichzeitig als einen weltgeschicht-
lichen Fortschritt zur Verwandlung des Krieges in eine Befriedungsaktion gegen rebel-
lische oder zivilisatorisch rückständige Bevölkerungen zu erweisen, da es selbstverständ-
lich kein „Krieg" mehr ist, wenn auf solche Bevölkerungen Bomben abgeworfen wer-
den. Im übrigen verweise ich auf die folgenden Ausführungen meines Berichtes sowie
auf Anm. 56 und 57.
46
Lauterpacht sucht die Diskriminierung auf Grund der Völkerbundssatzung und
des Kellogg-Paktes mit dem überlieferten Kriegsbegriff zu vereinigen und begründet das
damit, daß er sagt, auch die innerstaatliche Rechtsordnung müsse den Bürgerkrieg ableh-
nen und könne doch nicht verhindern, daß erfolgreiche Revolutionäre als kriegführende
Partei anerkannt werden und von einem Bürger krieg gesprochen wird. Das Argument
ist wichtig, nicht weil es zutrifft, sondern weil es den Zusammenhang des diskriminie-
renden Kriegsbegriffs mit der Verwandlung der Staatenkriege in Bürgerkriege erkennen
läßt; vgl. unten S. 51. Folgerichtige Verneinung des Rechtsinstituts „Krieg", bei Wolzen-
dorff, „Die Lüge des Völkerrechts", 1919.
Eine interessante Erörterung der völkerbundsrechtlichen Gemengelage von erlaubten
und nicht erlaubten Kriegen und alter und neuer Neutralität gibt die Vorlesung von John
B. Whitton, Recueil des Cours de l'Académie de Droit International, X V I I , I I (1927),
S. 453-571. Auch die Pariser These von Ph. Michailides, La neutralité et la Société des
Nations, 1933, stellt fest, daß gegenüber dem früheren Neutralitätsrecht zwar tiefe
Änderungen eingetreten sind (weil die Völkerbundsstaaten untereinander etwas wie eine
„famille tribale" bilden, innerhalb deren alle solidarisch gegen das Unrecht stehen, das
einem von ihnen angetan wird), andererseits aber auch noch viele Fälle der alten Neutra-
lität bestehen bleiben. Von deutscher Seite ist eine zusammenfassende Behandlung der
Frage durch G. von Schmoller zu erwarten. Inzwischen vgl. die Aufsätze „Neue Neutra-
lität" von Frhr. von Freytagh-Loringhoven, Zeitschrift für Völkerrecht X X (1936),
S. 1 - 1 3 ; W. Troitzsch, Ende oder Wandlung der Neutralität? in „Völkerbund und Völ-
kerrecht" I I (1935/36), S. 237-248; K. Keppler; Zwischen Neutralität und Sanktionen,
Deutsche Juristen-Zeitung (1936), S. 1336-1344; H. Rogge, Kollektivsicherheit, Bünd-
nispolitik und Völkerbund, Berlin 1937, S. 360 f. (Wiederaufkommen der Neutralitäts-
politik; Sicherheitskalkulationen der „Neutralitätspolitik"; zur Soziologie der Neutrali-
tätspolitik).
47
Josef L. Kunz, Kriegsrecht und Neutralitätsrecht, Wien 1935, S. 2 Anm. 4: „Wohl
bestehen vertragsmäßige Beschränkungen des ius ad bellum. Aber auch V.B.P. (= Völker-
bundpakt) und Kellogg-Pakt lassen den Krieg als Rechtsinstitution prinzipiell beste-
hen".

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
50 I I I . Kritische Erörterung

Satzung zutage, die neue Unterscheidungen einführt, ohne sie durchführen


zu können und dadurch die entgegengesetztesten Rechtsvorgänge unter
einem und demselben Begriff zusammenfaßt. Eigentlich kennt die Genfer
Völkerbundssatzung drei Arten von „Kriegen": Exekutions- oder Sank-
tionskriege, tolerierte und verbotene Kriege. Dem müßten drei ebenso
verschiedene Begriffe von Neutralität entsprechen. Daß es aber nicht an-
geht, eine „Exekution", das heißt eine rechtlich gebotene Handlung, des
weiteren eine rechtlich geduldete, i m Sinne einer nicht verbotenen, und
schließlich noch eine ausgesprochen für rechtswidrig erklärte, also eine
verbotene Handlung unter einen und denselben Rechtsbegriff zu bringen,
bedarf keiner langen Erörterung 4 8 . Während der Durchführung der Sank-
tionen gegen Italien suchte man in einer juristisch überaus vorsichtigen
Weise die Frage des Kriegsbegriffs zu vermeiden und stellte die sogenann-
ten Sanktionsmaßnahmen ganz auf die Entscheidungsfreiheit des einzel-
nen Staates ab. Die A k t i o n sollte „entnationalisiert" werden. Gerade da-
durch wurde aber der innere Widerspruch offenkundig und blieb es ganz
unbestimmbar, was „völkerbündische" und was „einzelstaatliche" A k t i o n
sein sollte. Scelle spricht davon, daß eine „action collective de la Société en
un faisceau d'actions parallèles étatiques" vorlag 4 9 ; Sir John Fischer Wil-
liams bemühte sich in seinem oben (S. 36 ff.) erörterten Aufsatz die Ver-
bindung von Einzelentscheidung und kollektiver Gemeinsamkeit herzu-
stellen. Aber diese Harmonisierungsversuche zeigen schließlich nur, daß
der Genfer Völkerbund weder an dem überlieferten Kriegs- und Neutrali-
tätsbegriff festgehalten, noch einen wirklich neuen Begriff an seine Stelle
gesetzt hat. Vor dem Dilemma: Völkerbundsexekution gegen einen Frie-
densbrecher oder bloßes Konsultationsverfahren zur Erleichterung einer
Reihe von Einzelaktionen alten Stiles? hat er es weder gewagt, sich unter
Beseitigung des bisherigen Kriegsbegriffs zu seinem universalen Weltord-
nungsanspruch zu bekennen, noch hat er den M u t aufgebracht, auf seine
Prätentionen einfach zu verzichten.

Eine weitere verhängnisvolle Wirkung der „Entnationalisierung" des


Krieges und der Einführung eines diskriminierenden Kriegsbegriffs sei in
diesem Zusammenhang wenigstens angedeutet: Die Aufspaltung der bis-
herigen völkerrechtlichen Voraussetzung einer inneren, geschossenen Ein-
heit des staatlich organisierten Volkes. Fischer Williams scheint sie
bemerkt zu haben; er ist ihr aber dadurch entgangen, daß er es vermeidet,
die A k t i o n gegen den Satzungsbrecher aus Art. 16 VS. mit Begriffen wie
Sanktion oder gar Strafe in Verbindung zu bringen und versucht, sie ganz

48
Über tolerierte Kleinkriege, dog-fights, vgl. unten im Text S. 53.
49
In der Vorrede zu dem Buch von Georges T. Eies, Le principe de l'unanimité dans
la Société des Nations et les exceptions à ce principe, Paris 1935.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I I . Kritische Erörterung

zu versachlichen (oben S. 34). Scelle, der vom „crime international"


spricht, ist nicht so zurückhaltend (oben S. 27). Ganz unumwunden hat
Hans Wehberg in seinen Vorlesungen über die Achtung des Krieges (1930)
die Folgerung gezogen und die Forderung ausgesprochen, daß die Urhe-
ber eines „ungerechten" Krieges selbstverständlich als „Kriegsverbrecher"
vor einen internationalen Gerichtshof gestellt werden müßten, außerdem
aber auch die innerstaatliche Bestrafung solcher Verbrecher notwendig
sei 5 0 . Fischer Williams zitiert mit Recht den Satz: „You cannot interdict a
nation". Hobbes hat denselben Gedanken einmal so formuliert: Wenn der
Papst eine Nation exkommuniziert, so exkommuniziert er nur sich
selbst 51 . Freilich ist es denkbar, daß eine internationale A k t i o n auch gegen
Staaten und Völker als solche geführt wird; aber selten werden diese so
total verbrecherisch sein, daß ein Volk als Ganzes zum hostis generis
humani und als Ganzes „friedlos" gemacht werden kann. Wenn mit über-
staatlichem Geltungsanspruch Sanktionen oder Strafmaßnahmen vor-
genommen werden, so führt die „Entnationalisierung" des Krieges daher
gewöhnlich auch zu einer Unterscheidung innerhalb von Staat und Volk,
in deren geschlossene Einheit von außen eine diskriminierende Aufspal-
tung dadurch eingeführt wird, daß sich die internationalen Zwangsmaß-
nahmen, wenigstens dem Vorgeben nach, nicht gegen das Volk, sondern
nur gegen die jeweils regierenden Personen und deren Gefolgschaft rich-
ten, diese aber eben dadurch aufhören, ihren Staat oder ihr Volk zu reprä-
sentieren. Die Regierenden werden, mit anderen Worten, „Kriegsverbre-
cher", „Piraten" oder - um die modern-großstädtische Erscheinungsform
des Piraten zu nennen - „Gangster". Das sind nicht etwa nur die Redens-
arten einer hochgepeitschten Propaganda; es ist die rechtslogische Folge
der Entnationalisierung des Krieges, die in der Diskriminierung bereits
enthalten ist. Der Begriff der Piraterie wirft die Frage von der universa-
listischen und ökumenischen Seite auf. Es gehört bekanntlich zum Begriff
des Piraten, daß er „entnationalisiert" ist und auch von dem Staat, dem er
etwa angehört, fallen gelassen wird. Dadurch entsteht eine praktisch wich-
tige und sehr ausdehnungsfähige Einbruchsstelle überstaatlich-universali-
stischer Begriffsbildungen, die es ermöglichen, ganze Staaten und Völker
als Piraten zu behandeln und den seit einem Jahrhundert unpraktisch
gewordenen Begriff des „Räuberstaates" auf einer Ebene gesteigerter
Intensität von neuem zu beschwören 52 . Alle derartigen Sprengungen und
Aufspaltungen des Staates in eine (verbrecherische) Regierung und ein

50
Deutsche Ausgabe der im Recueil des Cours de l'Académie du Droit International,
X X I V (1929), veröffentlichten Vorlesung, Berlin 1930, S. 141.
si Behemoth, Part I, S. 491 der Ausgabe von 1750.
52
Vgl. unten S. 57 Anm. 56 und 57

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
52 I I I . Kritische Erörterung

(schuldloses) Volk (im Sinne der Nicht-Regierenden als der Nicht-Schul-


digen) sind in Wahrheit nur die Kehrseite der Sprengung und Auflösung
des Kriegsbegriffs, die mit der Einführung des völkerrechtlich diskrimi-
nierenden Kriegsbegriffs verbunden ist.
I m Weltkrieg gegen Deutschland haben w i r auch diese Auswirkung
des Versuches, einen diskriminierenden Kriegsbegriff einzuführen, an uns
selber erfahren. I n dem gleichen Maße, in dem der Weltkrieg bei unseren
Gegnern als eine völkerrechtliche A k t i o n gegen einen Völkerrechtsbre-
cher hingestellt wurde, wurde er gleichzeitig als eine nicht gegen das
deutsche Volk, sondern nur gegen seine Regierung gerichtete Strafaktion
ausgegeben. Beides steht in untrennbarem Zusammenhang. Das hat sich
ein für allemal darin dokumentiert, daß dieselbe Erklärungen des Prä-
sidenten Wilson vom 2. A p r i l 1917, die mit dem überlieferten, nichtdis-
kriminierenden Neutralitätsbegriff brach, in einem Zuge auch die Auf-
spaltung der in sich geschlossenen staatlichen Einheit Deutschlands ins
Werk setzte, indem sie, in unmittelbarem Anschluß an die Beseitigung
des nichtdiskriminierenden Neutralitätsbegriffs, proklamierte: „ W i r
haben keinen Streit mit dem deutschen Volk". Der Teil V I I des Versailler
Diktats zieht unter der Uberschrift „Strafbestimmungen" die praktischen
Folgerungen: der vormalige Kaiser von Deutschland wird „wegen
schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heilig-
keit der Verträge" „unter öffentliche Anklage gestellt" (Art. 227); die
deutsche Regierung soll die sogenannten deutschen Kriegsverbrecher
ausliefern (Art. 228-230). Wenn Scelle in seinem systematischen Werk
die humanitäre Intervention gegen faschistische oder nationalsozialisti-
sche Staaten befürwortet und zur völkerrechtlichen Institution erheben
w i l l (oben S. 22 f.), so liegt das in derselben Richtung und entspricht
derselben Logik, die den Krieg „entnationalisiert", das heißt den Staaten-
krieg abschafft, um ihn zu „internationalisieren", das heißt in einen Bür-
gerkrieg zu verwandeln. Sir John Fischer Williams und McNair haben
daher durchaus recht, wenn sie auf die große Tragweite der Wendung
vom nichtdiskriminierenden zum diskriminierenden Kriegsbegriff hin-
weisen. Sie übersehen nur, daß diese Wendung noch weit folgenreicher
ist, daß nämlich infolge ihrer Diskriminierung jeder Kriegsbegriff und
damit ein vielleicht schwacher, aber doch echter, bisher wirklicher Ord-
nungsgedanke des Völkerrechts vernichtet wird, ohne daß etwas anderes
als eine Staaten- und völkerzerstörende, universale Prätention an seine
Stelle tritt. Dadurch, daß mit Hilfe einer beim Genfer Völkerbund liegen-
den Unterscheidung von völkerrechtlich zulässigem und völkerrechtlich
unzulässigem Krieg der diskriminierende Kriegsbegriff wenigstens im
Ansatz institutionalisiert wird, läßt sich zwar die ganze bisherige Völker-
rechtsordnung aus den Angeln heben, aber keine neue Ordnung schaffen.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I I . Kritische Erörterung

Es ist nur ein neuer Weltherrschaftsanspruch erhoben, den nur ein neuer
Weltkrieg verwirklichen könnte.
2. Föderalismus und ökumenischer Universalismus heben sich in der
gegenwärtigen Lage des Völkerrechts gegenseitig auf. Die hier genannten
Autoren gehen sämtlich und ohne nähere Prüfung 5 3 davon aus, daß der
Genfer Völkerbund zwar noch nicht universal und ökumenisch ist, aber
doch universal und ökumenisch sein müßte und seine Universalität wenig-
stens als Ziel anzuerkennen sei; gleichzeitig versuchen sie, ihn durch ver-
schiedene Methoden der Konkretisierung zu einem wirklich föderalisti-
schen Gebilde zu machen. Auch hier erweist sich die Frage der kollekti-
ven bewaffneten Aktion, mit anderen Worten: das Problem des Kriegs-
begriffs, als der sicherste Prüfstein. Innerhalb eines Bundes irgendwelcher
A r t kann es keinen Krieg geben, solange der Bund besteht. Das ist der
unbestreitbar richtige Kern des Aufsatzes von Sir John Fischer Williams.
Die Schwierigkeiten aber, die sich für ihn und die anderen Autoren der
gleichen Richtung erheben, werden unüberwindlich, sobald die Frage der
Einbeziehung von Nichtmitgliedsstaaten in dieses föderalistische System,
das heißt das Problem der ökumenischen Universalität erscheint. Eine
Einbeziehung von Nichtmitgliedern ist nach geltendem, nicht universa-
listischem Völkerrecht unmöglich, weil der Begriff des Krieges stets eine
einfache Entscheidung verlangt. Die, wenn ich so sagen darf, logische
Dignität des Kriegsbegriffs ist so stark und ausschlaggebend, daß von ihr
stets ein einfaches Dilemma: Krieg oder Nicht-Krieg? ausgeht. Man muß
also stets vom Kriege her definieren. Was nicht „Krieg" ist, ist dann eben
„Frieden". Bringt die „Kollektivierung" wirklich einen echten Bund
zustande, so kommt diese ganze Logik zum Zuge, das heißt innerhalb des
Bundes w i r d nicht mehr zwischen gerechten und ungerechten Kriegen
entschieden, vielmehr gibt es überhaupt keine Kriege mehr, sondern nur
noch Exekutionen. „Erlaubte" Kriege sind noch denkbar, aber nur als
ungefährliche Kleinkriege, als dog-fights, wie Fischer Williams (oben S. 38)
sagt. Sie können innerhalb des Bundes toleriert werden, wie zum Beispiel
auch die Ordnung des modernen Staates Duelle tolerieren kann. Außer-
halb des Bundes dagegen sind noch Kriege möglich; diese fallen aber unter
den alten, nichtdiskriminierenden Kriegsbegriff. Erhebt die zu einem
Bund zusammengeschlossene Gruppe von Staaten für sich den Anspruch,
einen gerechten Krieg zu führen, so ist das gegenüber dem Nichtmitglied
völkerrechtlich ebensowenig maßgeblich, wie es nach bisherigem Völker-
recht maßgeblich war, wenn irgendein Staat oder eine Staatengruppe mit

53
Als Beispiel eines Ansatzes zu einer solchen Prüfung sei die Abhandlung von R.
Genet, SdN. et Communauté internationale in der Revue internationale du Droit des
Gens, Bd. I (1936), S. 92 f., 149 f. hier wenigstens genannt.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
54 I I I . Kritische Erörterung

Wirkung über ihren eigenen Bereich hinaus über Recht und Unrecht ent-
scheiden wollte. Die Beseitigung des Kriegsbegriffs tritt nicht, wie
M c N a i r will, bereits durch vertragliche Bindungen von der A r t des Kel-
logg-Pakts ein, sondern erst durch die institutionelle, organisierte Zusam-
menfassung zu einem Bund. Es gehört zum Wesen des bisherigen Völker-
rechts, daß der Krieg der stärkere Begriff ist und alle Verträge zwischen
den Kriegführenden aufhebt, daß auch der im Krieg liegende Vertrags-
bruch, zum Beispiel ein Bündnisbruch, daher für die neutralen dritten
Staaten den Krieg nicht als Krieg i m völkerrechtlichen Sinne beseitigt.
Diejenigen Autoren, die aus der Völkerbundssatzung statt eines Vertrages
eine echte „Verfassung", eine „Konstitution" machen wollen, erstreben
mit Hilfe dieses Begriffs die Institutionalisierung zu einem wirklichen
Bund und, soweit sie der universalen Völkerrechtsgemeinschaft eine sol-
che Verfassung geben, die radikale Beseitigung des bisherigen, wesentlich
nichtdiskriminierenden, paritätischen Kriegsbegriffs. Kein pazifistischer
Eifer, aber auch kein noch so berechtigter Abscheu vor den Greueln eines
Krieges kann darüber hinweghelfen, daß auch heute noch ein Krieg zwi-
schen zwei Staaten etwas anderes ist als Mord, Raub und Piraterie. Bevor
der Kriegsbegriff beseitigt und aus einem Staatenkrieg zu einem inter-
nationalen Bürgerkrieg wird, müssen erst die staatlich organisierten Völ-
ker beseitigt werden. Der Krieg hat nach überliefertem Völkerrecht sein
Recht, seine Ehre und seine Würde darin, daß der Feind kein Pirat und
kein Gangster, sondern ein „Staat" und ein „Völkerrechtssubjekt" ist. Das
w i r d gelten, solange es mit einem jus belli (im Sinne des jus ad bellum) aus-
gestattete politische Organisationen gibt. Z u m Begriff des Bundes dagegen
gehört der Verzicht auf âzsjus belli innerhalb des Bundes. Wird eine Besei-
tigung des jus belli über den Rahmen des Bundes hinaus mit Wirkung
gegen dritte Staaten erstrebt, so ist der darin liegende Anspruch nicht
mehr völkerrechtlich i m bisherigen Sinne, sondern ein universalistischer
Herrschaftsanspruch auf Neuordnung der Welt. Tritt gegenüber solchen
weltrechtlichen Prätentionen der Fall ein, auf den Sir John Fischer Wil-
liams am Schluß seines Aufsatzes so eindrucksvoll hinweist (oben S. 38),
nämlich der Fall eines totalen Weltkrieges, mit einem genügend starken
Gegner, der dann einen „ungerechten" Krieg führt, so w i r d dieser durch
die Kraft seines Widerstandes die Beibehaltung des alten völkerrechtlichen
Kriegsbegriffs, das heißt die rechtliche Nichtdiskriminierung durchsetzen.
Dann war der auf dem Weg über den Genfer Völkerbund legitimierte
Krieg eben doch nur ein Krieg bisherigen Völkerrechts, wie ja auch der
1914-1918 gegen Deutschland geführte Weltkrieg, trotz aller Bemühun-
gen, ihn zu einer völkerrechtlichen „Exekution" gegen die vom deutschen
Volk unterschiedene deutsche Regierung zu machen, und trotz aller son-
stigen Diskriminierungen Deutschlands, dank der Widerstandskraft des

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I I . Kritische Erörterung

deutschen Volkes schließlich doch ein solcher Krieg geblieben ist. I m


anderen Falle allerdings, wenn kein wirksamer Widerstand geleistet wird,
wäre ein universalistischer Weltherrschaftsanspruch seinem Ziel um einen
Schritt näher gekommen. Würde dann wirklich das universalistische End-
ziel erreicht, so gäbe es zwischen den Völkern der Erde überhaupt keine
Kriege mehr, weder gerechte noch ungerechte. Solange dieser Endzustand
aber nicht wirklich herbeigeführt ist, schließen bündisch-föderalistische
und universalistische Begriffe und Methoden des Völkerrechts einander
aus.
I m heutigen Stadium der völkerrechtlichen Entwicklung lassen sich
Föderalismus und Universalismus vielleicht normativistisch-logizistisch
miteinander harmonisieren, sobald aber an eine institutionell-konkrete
Verwirklichung herangegangen wird, tritt ihre Unvereinbarkeit sofort
zutage. Eine Föderalisierung des Genfer Völkerbundes bedeutet heute
notwendigerweise eine straffere Zusammenfassung und Vergemeinschaf-
tung i m Hinblick auf den Fall, daß mit einem einigermaßen beachtlichen,
militärischen Widerstand gerechnet werden muß, das heißt Stärkung für
den Kriegsfall. Solange diese Lage anhält, bewirkt die Einführung der
Unterscheidung von gerechten und ungerechten Kriegen in concreto nur
die Einführung der Unterscheidung von Genfer Völkerbundskriegen und
anderen Kriegen, demnach eine Intensifizierung von Krieg und Feind-
schaft. Die Erfahrung, die w i r i m Weltkrieg auf Grund der Haltung des
Präsidenten Wilson gemacht haben, würde sich nur wiederholen. I n dieser
Lage treibt die Föderalisierung als Intensifizierung den Völkerbund zu
einer immer „wirksameren", das heißt immer eindeutiger am Kriegsfall
ausgerichteten Organisation, mit dem Ergebnis, daß die Unterscheidung
von gerechten und ungerechten Kriegen eine immer tiefere und schärfere,
immer „totalere" Unterscheidung von Freund und Feind herbeiführt.
Zwischen das universale Endziel und die Wirklichkeit des heutigen
Zustandes würde also zunächst eben doch wieder ein Krieg treten, viel-
leicht wieder ein „endgültig letzter Krieg der Menschheit", jedenfalls ein
eben dadurch vertiefter und verschärfter, „totaler" Krieg. Der Schluß des
Aufsatzes von Sir John Fischer Williams (oben S. 38) mit seinem Wae neu-
tris! läßt in dieser Hinsicht keinen Zweifel übrig. Alle von der Möglichkeit
eines solchen Falles bestimmten Föderalisierungen müssen sich daher
zunächst von dem universalistischen Ideal entfernen, mögen sie sich i m
übrigen noch so sehr damit rechtfertigen, daß sie in ihrem Endziel auf die
geeinte Menschheit und auf die Beseitigung des letzten Hindernisses die-
ser Einheit hinstreben. Alles, was in der heutigen Lage eine wirksame,
effektive Föderalisierung des Völkerbundes bedeutet, schafft bestenfalls
einen neuen Bund, der um so schärfer zwischen Mitgliedern und Nicht-
mitgliedern nach Freund und Feind unterscheiden muß, je vollkommener

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
56 I I I . Kritische Erörterung

seine föderalistischen Institutionen ausgebildet und je folgerichtiger mit


seiner Unterscheidung von gerechten, das heißt eigenen, und ungerech-
ten, das heißt gegnerischen Kriegen, Ernst gemacht wird. Der Genfer
Völkerbund steht, mit anderen Worten, nicht nur vor dem Dilemma
„Bund oder Bündnis?", das vor kurzem von Viktor Bruns behandelt
worden ist 5 4 ; von der anderen Seite her stellt ihn die Vermengung von
Genfer Völkerbund und universaler Völkerrechtsgemeinschaft vor die
nicht weniger schwierige Alternative: Institutionalisierter Bund oder
ökumenische Welt- und Menschheitsordnung?
Die beiden Tendenzen Föderalismus und Universalismus wirken sich
demnach heute praktisch in entgegengesetzter Richtung aus. Man kann
auch nicht hoffen, das Stadium des zu einer Steigerung des Krieges füh-
renden Föderalismus lasse sich überspringen, und es sei möglich, unmit-
telbar in den ökumenischen Universalismus hinein zu institutionalisieren.
Die Menschen, die diesen dem universalen Endziel entgegengesetzten
Weg der Föderalisierung des Genfer Völkerbundes einschlagen, werden
freilich in bestem Glauben versichern, daß der Widerspruch von Födera-
lismus und Universalismus nur für eine kurze Zwischenstufe, für ein
unvermeidliches Durchgangsstadium gelte. Aber dieses Zwischenstadium
ist, an den Maßen menschlicher Voraussehbarkeit und Planung gemessen,
eben doch eine neue Geschichtsepoche, mit neuen, intensiveren Kriegen,
ein für sterbliche Menschen unabsehbarer Zeitabschnitt mit unberechen-
baren Endergebnissen. Es war in der Tat ein folgenreicher Vorgang, als
während des Weltkrieges gegen Deutschland die Vereinigten Staaten von
Amerika durch ihren Präsidenten Wilson i m Frühjahr 1917 den Anspruch
erhoben, durch die Verwerfung des überlieferten, nichtdiskriminierenden
Kriegs- und Neutralitätsbegriffs eine neue Epoche des Völkerrechts zu
inaugurieren und mit völkerrechtlicher Wirkung, über ihr eigenes Land
hinaus, Recht und Unrecht der kriegführenden Parteien zu bestimmen.
Wenn in unserem Bericht mehrfach an diesen großen Präzedenzfall erin-
nert wird, so geschieht das nicht, um vergessene völkerrechtliche Kontro-
versen aufzuwühlen, sondern um eine der größten, wenn nicht die größte
Erfahrung der Völkerrechtsgeschichte nicht fruchtlos in Vergessenheit
geraten zu lassen. A u f die zwischen zwei extremen Gegensätzen - einer
passiven, fast den Atem anhaltenden Neutralität und einer die Entschei-
dung über Recht und Unrecht an sich reißenden Intervention - sich bewe-
gende Politik der Vereinigten Staaten von Amerika wurde bereits oben
(S. 47) hingewiesen; sie hat sich schon während des Weltkrieges gezeigt.
Wilson war zu Beginn des Krieges der Herold einer rigorosen, ja skrupu-
lösen Auffassung des nichtdiskriminierenden Neutralitätsbegriffs, wofür

54 Bruns Ζ. V I I (1937), S. 295-312.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
I I I . Kritische Erörterung

seine Rede v o m 19. A u g u s t 1914 e i n Beispiel i s t 5 5 . D a d u r c h , daß er m i t


der E r k l ä r u n g v o m 2. A p r i l 1917 i n aller F o r m den S t a n d p u n k t wechselte
u n d n u n m e h r die N e u t r a l i t ä t als n i c h t m e h r d u r c h f ü h r b a r u n d f ü r d e n
F r i e d e n der W e l t u n d die F r e i h e i t der V ö l k e r auch n i c h t m e h r w ü n s c h b a r
bezeichnete, hat er eine f u n d a m e n t a l neue P r o b l e m a t i k i n das V ö l k e r r e c h t
e i n g e f ü h r t 5 6 . Sie ist i n den l e t z t e n Jahren an d e n Fragen des N e u t r a l i t ä t s -
rechts allgemein z u m B e w u ß t s e i n g e k o m m e n . Es handelt sich aber n i c h t
n u r u m das N e u t r a l i t ä t s r e c h t , das n i c h t isoliert w e r d e n k a n n , sondern u m
den K r i e g s b e g r i f f u n d d a m i t u m die G e s a m t s t r u k t u r der V ö l k e r r e c h t s o r d -
nung. Alle völkerrechtlichen Neuerungsversuche der Nachkriegszeit
bewegen sich u m diese Frage. A l l e B e m ü h u n g e n u m die D e f i n i t i o n des
Angriffs u n d des Angreifers, u m die S t ä r k u n g u n d P o s i t i v i e r u n g des
A r t . 16 VS., die v i e l e n Pläne einer k o l l e k t i v e n Sicherheit u n d gegenseitigen
Beistands, aber auch z u m Beispiel die A n w e n d u n g des englischen Pirate-
riebegriffs auf der K o n f e r e n z v o n N y o n v o m September 1937, sind i n
i h r e r v ö l k e r r e c h t l i c h e n Eigenart d a d u r c h b e s t i m m t , daß sie d u r c h j u r i s t i -
sche K r i t e r i e n des gerechten Krieges den bisherigen, n i c h t d i s k r i m i n i e r e n -
d e n Kriegsbegriff z u beseitigen s u c h e n 5 7 . Das Ergebnis w a r bisher n u r die
v ö l l i g e E r s c h ü t t e r u n g des alten, v e r b u n d e n m i t d e m v ö l l i g e n M a n g e l eines
einleuchtenden neuen Kriegsbegriffs, also p r a k t i s c h gesprochen: Krieg

55
In dieser Rede warnt Wilson seine Landsleute sogar vor der seelischen Versuchung,
selbst einer nur in Gedanken und Gefühlen erfolgenden Parteinahme („die Seele in Ver-
suchung zu führen, neutral zu bleiben dem Namen nach"). „Wir müssen unparteiisch
sein, in Gedanken und Taten, unsere Gefühle im Zaum halten, so gut wie jede Hand-
lung, die als Bevorzugung irgendeiner der kämpfenden Parteien ausgelegt werden kann."
Vgl. dazu die auch heute noch lesenswerte Schrift von H. Pohl, Amerikas Waffenausfuhr
und Neutralität, Berlin 1917, S. 17 f.; interessante weitere Belege für die Entwicklung
Wilsons bei Felix Brüggemann, Woodrow Wilson und die Vereinigten Staaten von Ame-
rika, Gießener Phil. Diss. 1933, in der auch weiteres Schrifttum angegeben ist.
56
Neuerdings hat George A. Finch in einer Bemerkung zu dem Anti-Piratenabkom-
men von Nyon vom 14. September 1937 in American Journal of International Law 31
(1937), p. 665, an den Zusammenhang der Argumentation Wilsons mit der Definition
der Piraterie erinnert. Wilson hat in seiner Rede vom 2. April 1917 den Ausdruck „Pira-
terie" zwar nicht gebraucht, wohl aber den deutschen Unterseebootkrieg als einen
„gegen die Menschheit" geführten Krieg bezeichnet, der ein „Krieg gegen alle Natio-
nen" sei. Damit war Deutschland mit den für die Piraterie üblichen Formulierungen
zum hostis generis humani erklärt. Die rechtslogische Folge ist, daß der Krieg aufhört,
Krieg zu sein; denn gegen Piraten führt man nicht Krieg, sie sind nur das Objekt antikri-
mineller oder seepolizeilicher Aktionen und Zwangsmaßnahmen.
57
Carl Bilfingen Die russische Definition des Angreifers, Bruns Ζ. V I I (1937), S. 490,
über solche Definitionsversuche als eine „Umschreibung und Organisation der Idee des
gerechten Krieges gegen den Angreifer". Über den Begriff der Piraterie: Carl Schmitt, in
Völkerbund und Völkerrecht, 4. Jahrgg. (1937), S. 351. In dem oben S. 33 erwähnten
Aufsatz von J. G. Starke, British Yearbook of International Law, X V I I (1936), S. 71, fin-
det sich ein hübsches Beispiel dafür, wie der Pirateriebegriff als Einbruchsstelle für den
„Primat des Völkerrechts" dienen kann.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH
58 Schluß

und zugleich Nicht-Krieg, Anarchie und völkerrechtliches Chaos. A n die-


ser schlimmen Frucht läßt sich der Wert einer im Weltkrieg gegen
Deutschland geborenen, von dem Makel dieser Herkunft noch keineswegs
gereinigten Beseitigung des alten Kriegsbegriffs erkennen.

Z u m Schluß ein Wort zum eigenen Standort. Die kritische Erörterung


einiger besonders beachtenswerter Veröffentlichungen des ausländischen
Schrifttums, die hier an der Hand des völkerrechtlichen Kriegsbegriffs
versucht wurde, hat ihren eigenen Standort keineswegs darin, daß sie die
Begriffe einer früheren Zeit konservativ oder reaktionär festzuhalten
bestrebt ist. Wir wissen, daß der Kriegsbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts
nicht unverändert bleiben kann, daß neue völkerrechtliche Ordnungen
und Gemeinschaften notwendig und unvermeidlich sind, und daß ins-
besondere eine wirkliche Gemeinschaft der europäischen Völker die Vor-
aussetzung eines wirklichen und wirksamen Völkerrechts ist. Eine Darle-
gung wie der oben besprochene Aufsatz von Sir John Fischer Williams,
mit seiner vernünftigen Überlegenheit über pseudojuristische Begriffs-
sophistik und mit seinem guten Sinn für bündische Notwendigkeiten,
wäre für uns eine vorbildliche völkerrechtliche Argumentation und das
Musterbeispiel einer überzeugenden Beweisführung, wenn eben nur der
Genfer Völkerbund wirklich ein Bund und seine Gemeinschaftssubstanz
imstande wäre, zukunftsvolle Institutionalisierungen und Föderalisierun-
gen zu tragen. Das aber ist nicht der Fall. Die besten bündischen Einrich-
tungen und Verfahrensweisen sind nicht nur wertlos, sie sind schädlich
und ein Hindernis der dringend notwendigen Neuordnung, wenn sie auf
einer nur fiktiven Gemeinschaft aufgebaut sind. Unsere K r i t i k richtet sich
also nicht gegen den Gedanken fundamentaler Neuordnungen und gegen
die Arbeit an dieser Aufgabe. Was w i r auf Grund unserer völkerrechtswis-
senschaftlichen Betrachtung verneinen, ist nicht das Ziel einer wirklichen
Völkergemeinschaft, sondern nur eine bestimmte, durch ihre unklare und
unwirkliche Vermengung von Genfer Völkerbund und universaler Welt-
ordnung gekennzeichnete Methode. Deren Institutionalisierungen, Föde-
ralisierungen und Konkretisierungen der Entscheidung über Recht und
Unrecht eines Krieges halten w i r für einen Irrweg. Sie sind für uns auch
nicht etwa „besser als nichts"; sie stehen einer wirklichen Gemeinschaft
der Völker schlimmer als nichts im Wege.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-52642-0
Generated for Universitaet Leipzig, Universitaetsbibliothek at 139.18.244.59 on 2021-03-23, 10:31:42 UTC
FOR PRIVATE USE ONLY | AUSSCHLIESSLICH ZUM PRIVATEN GEBRAUCH

Das könnte Ihnen auch gefallen