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Interview
Das hat etwas mit Ressourcen zu tun, die uns zur Verfügung stehen - also Zeit und Geld. Und mit der
Gesellschaft, in der wir leben und in der jeweils spezifische Dinge sichtbar sind und als wertvoll
gelten. Gerade das macht auch Sammlungen wissenschaftlich interessant: Über sie können wir zu
erkennen versuchen, wie Lebensstil und ästhetische Vorlieben mit ökonomischen Ressourcen
zusammenhängen, was wem als schnöde und was als begehrenswert erscheint und wer eben dieses
oder jenes für ein Publikum - die Nachwelt - aufbewahren möchte.
Es kursiert ja immer wieder diese Zahl von angeblich 10.000 Dingen, die ein durchschnittlicher Mensch
im "Westen" besäße - oft kontrastiert etwa mit den wenigen Hundert Besitztümern eines Nomaden in
Afrika. Auch Museen sind eine genuin europäische Erfindung - also kann man vielleicht von einer
kulturspezifischen Wertschätzung für Ding-Anhäufungen sprechen.
Ist das Sammeln ein Phänomen unserer Zeit?
Poehls: Ganz sicher nicht. Kunst- und Wunderkammern gab es seit dem 17. Jahrhundert. Aber das
wirft uns wieder auf den oben genannten Punkt zurück: Was wir heute an Sammlungstätigkeit
historisch zurückverfolgen können, weist Sammeln als eine höchst exklusive Tätigkeit aus.
Heute stellen sich noch ganz andere Fragen: Wie bekomme ich die Datenmengen in den Griff, die ich
auf meiner Computerfestplatte horte, in der Hoffnung, dass ich sie eines nahen Tages wirklich
benötigen könnte? In den Museen kursiert das hässliche Wort vom "Entsammeln", weil die Depots aus
allen Nähten platzen und eine Spezialisierung auf einzelne Sammelgebiete mit dem Druck einhergeht,
dass Museen sich ein thematisches Profil zulegen.
Im Privaten gibt es den Trend, anders mit Dingen umzugehen - im Internet unter "100 Thing Challenge"
zu finden: Da wird dann die Abkehr von der Ding-Anhäufung zum Statement; mit der radikalen
Reduzierung der Dinge, mit denen man sich umgibt, lässt sich eine fortschrittliche, anti-materialistische
Weltsicht markieren.
Was ist mit "Messies" - Leuten, die etwa volle Müllsäcke oder Tiere in der Wohnung horten?
Poehls: Wenn man die mediale Berichterstattung über Messies neben Fotos stellt, die es aus dem
späten 19. Jahrhundert gibt von der Expeditions-Ausbeute, die noch heute den Grundstock
ethnologischer Museen bildet, kommt man ins Grübeln: Alltagsgegenstände und Schmuck, große und
kleine Objekte quellen aus den Vitrinen hervor. Das war Sammeln als Wissenschaft, mit höchstem
Prestige von großbürgerlichen Männern ausgeübt. Es sieht aber eher nach ungezügelter Sammelwut
als nach rationalem Welt-Ordnen aus.
Was war die seltsamste Sammelleidenschaft, die ihnen untergekommen ist?
Poehls: Seltsam oder nicht, diese moralische Bewertung finde ich nicht so spannend. Aber originell -
und ein Schatz, der wissenschaftlich zu heben wäre - finde ich die seit mehreren Jahrzehnten
wachsende Sammlung von Fernseh-Mitschnitten, die einer meiner Studenten zu medialen
Großereignissen anfertigt. Ihn interessieren die Nachrichten-Schnipsel und Zwischenberichte vom 11.
September, zu Unwettern und politischen Sensationen, und damit all die Situationen, wo sich in den
Medien noch keine klare Sichtweise etabliert hat, wo gestottert und um angemessene Worte gerungen
wird.
Und was sammeln Sie selbst?
Poehls: Zeitungsartikel kann ich nur schwer wegwerfen - aber zur Sammlerin macht mich das noch
nicht. Als Neu-Hamburgerin ordne und sortiere ich seit dem Winter eher auf einer anderen Ebene.
Das Interview führte Oliver Diedrich, NDR.de
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