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"Sammler wollen das Chaos der Welt sortieren" | NDR.de - Regional http://www.ndr.de/regional/sammeln105.

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Interview

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Stand: 12.07.2013 14:58 Uhr

Menschen sammeln Briefmarken, Flugzeug-Fotos, Film-Requisiten, Hühner, Jahrmarkt-


Fahrscheine, Leuchttürme, Pfeifen. "Es gibt fast niemanden, der nichts sammelt", sagt die
Hamburger Kulturanthropologin Prof. Dr. Kerstin Poehls. NDR.de hat mit der Volkskundlerin über die
Leidenschaft am Horten von Dingen gesprochen.
Warum sammeln Menschen?
Kerstin Poehls: Nehmen wir ein Beispiel - wenn Leute Eintritts-Armbänder von Festivals sammeln,
dann wollen sie ja nicht bloß diese fleddrigen Dinger aufheben, sondern Erinnerungen an eine tolle Zeit,
die sie dort hatten. Und wer die Bändchen im Freundeskreis vorzeigt oder gut exponiert am
Handgelenk trägt, verspricht sich davon womöglich auch einen Prestige-Gewinn. Insofern treffen im
Sammeln auf spannende Weise zwei Aspekte zusammen, nämlich die Selbstvergewisserung über die
eigene Biografie und das Suchen und Finden des eigenen Platzes im privaten Umfeld, in der
Gesellschaft - und da verheißen Dinge so etwas wie Stabilität.
Sie sagen: "Sammeln ist der Versuch, das Chaos der Welt zu sortieren" - was bedeutet das?
Kerstin Poehls: Sammeln ist ja nicht nur ein Hobby oder eine Leidenschaft, die einen einzelnen
Menschen packt - sondern eine Tätigkeit, die den Alltag ganzer Institutionen seit mehreren Hundert
Jahren geprägt hat. Archive, Museen und Universitäten: Das sind die Orte, an denen aus dem
Gesammelten ein Bild der Welt oder ihrer Bestandteile hergestellt wird. In Museums-Ausstellungen
etwa gehen wir durch Säle, die einer Region, einer Epoche, einer bestimmten Sorte von Objekten
gewidmet sind - das alles ließe sich auch ganz anders sortieren, und dann würde eine vollkommen
andere Geschichte erzählt.
Schon in der privaten Sammlung zuhause erscheinen uns ja einige Objekte aussagekräftiger, schöner
oder kostbarer, andere sortieren wir womöglich wieder aus, weil sie unseren Kriterien nicht genügen.
Gibt es noch andere Gründe, warum Menschen zu leidenschaftlichen Sammlern werden?
Kerstin Poehls: In einem Seminar, dass ich gerade an der Universität Hamburg unterrichte,
diskutieren wir genau diese Frage - und wie von Kulturanthropologen, Archäologinnen und Ethnologen,
Historikerinnen und Soziologen darüber nachgedacht wurde. Immer wieder zeigt sich, dass die Dinge
um uns herum die "Bühne" bereiten, auf der wir unser Theaterstück namens "Alltag" aufführen - in
diesem Sinn machen uns auch unsere Sammlungsobjekte erst zu dem Menschen, der wir sind.
Westlichen Gesellschaften wird attestiert, dass die Dinge als "Selbstvergrößerung" funktionieren: Wir
können mit Ihnen unseren sozialen Status darstellen oder unsere Beziehungen zu anderen Menschen
symbolisieren.
Sammeln Deutsche eigentlich andere Dinge als die Leute anderswo in der Welt?
Poehls: Viel spannender als solche nationalen Zuordnungsversuche - denn wozu sollten die uns
eigentlich dienen? - ist doch die Frage nach sozialen Hierarchien, die sich in Sammlungen spiegeln.
Fabergé-Eier sind eben etwas anderes als Überraschungseier; "Likes" auf Facebook etwas anderes
als Sprüche im Poesiealbum und eine Münzsammlung etwas anderes als eine Autogramm-Sammlung.

1 von 3 18.12.2013 15:42


"Sammler wollen das Chaos der Welt sortieren" | NDR.de - Regional http://www.ndr.de/regional/sammeln105.html

Das hat etwas mit Ressourcen zu tun, die uns zur Verfügung stehen - also Zeit und Geld. Und mit der
Gesellschaft, in der wir leben und in der jeweils spezifische Dinge sichtbar sind und als wertvoll
gelten. Gerade das macht auch Sammlungen wissenschaftlich interessant: Über sie können wir zu
erkennen versuchen, wie Lebensstil und ästhetische Vorlieben mit ökonomischen Ressourcen
zusammenhängen, was wem als schnöde und was als begehrenswert erscheint und wer eben dieses
oder jenes für ein Publikum - die Nachwelt - aufbewahren möchte.
Es kursiert ja immer wieder diese Zahl von angeblich 10.000 Dingen, die ein durchschnittlicher Mensch
im "Westen" besäße - oft kontrastiert etwa mit den wenigen Hundert Besitztümern eines Nomaden in
Afrika. Auch Museen sind eine genuin europäische Erfindung - also kann man vielleicht von einer
kulturspezifischen Wertschätzung für Ding-Anhäufungen sprechen.
Ist das Sammeln ein Phänomen unserer Zeit?
Poehls: Ganz sicher nicht. Kunst- und Wunderkammern gab es seit dem 17. Jahrhundert. Aber das
wirft uns wieder auf den oben genannten Punkt zurück: Was wir heute an Sammlungstätigkeit
historisch zurückverfolgen können, weist Sammeln als eine höchst exklusive Tätigkeit aus.
Heute stellen sich noch ganz andere Fragen: Wie bekomme ich die Datenmengen in den Griff, die ich
auf meiner Computerfestplatte horte, in der Hoffnung, dass ich sie eines nahen Tages wirklich
benötigen könnte? In den Museen kursiert das hässliche Wort vom "Entsammeln", weil die Depots aus
allen Nähten platzen und eine Spezialisierung auf einzelne Sammelgebiete mit dem Druck einhergeht,
dass Museen sich ein thematisches Profil zulegen.
Im Privaten gibt es den Trend, anders mit Dingen umzugehen - im Internet unter "100 Thing Challenge"
zu finden: Da wird dann die Abkehr von der Ding-Anhäufung zum Statement; mit der radikalen
Reduzierung der Dinge, mit denen man sich umgibt, lässt sich eine fortschrittliche, anti-materialistische
Weltsicht markieren.
Was ist mit "Messies" - Leuten, die etwa volle Müllsäcke oder Tiere in der Wohnung horten?
Poehls: Wenn man die mediale Berichterstattung über Messies neben Fotos stellt, die es aus dem
späten 19. Jahrhundert gibt von der Expeditions-Ausbeute, die noch heute den Grundstock
ethnologischer Museen bildet, kommt man ins Grübeln: Alltagsgegenstände und Schmuck, große und
kleine Objekte quellen aus den Vitrinen hervor. Das war Sammeln als Wissenschaft, mit höchstem
Prestige von großbürgerlichen Männern ausgeübt. Es sieht aber eher nach ungezügelter Sammelwut
als nach rationalem Welt-Ordnen aus.
Was war die seltsamste Sammelleidenschaft, die ihnen untergekommen ist?
Poehls: Seltsam oder nicht, diese moralische Bewertung finde ich nicht so spannend. Aber originell -
und ein Schatz, der wissenschaftlich zu heben wäre - finde ich die seit mehreren Jahrzehnten
wachsende Sammlung von Fernseh-Mitschnitten, die einer meiner Studenten zu medialen
Großereignissen anfertigt. Ihn interessieren die Nachrichten-Schnipsel und Zwischenberichte vom 11.
September, zu Unwettern und politischen Sensationen, und damit all die Situationen, wo sich in den
Medien noch keine klare Sichtweise etabliert hat, wo gestottert und um angemessene Worte gerungen
wird.
Und was sammeln Sie selbst?
Poehls: Zeitungsartikel kann ich nur schwer wegwerfen - aber zur Sammlerin macht mich das noch
nicht. Als Neu-Hamburgerin ordne und sortiere ich seit dem Winter eher auf einer anderen Ebene.
Das Interview führte Oliver Diedrich, NDR.de

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