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F R Ü H M I T T E L A LT E R L I C H E    S T U D I E N

Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung


der Universität Münster

Herausgegeben von

WO L FRA M DRE W S und BRUN O QUAS T

in Zusammenarbeit mit

Gerd Althoff, Arnold Angenendt, Michael Grünbart, Andrew James Johnston,


Hagen Keller, Martin Kintzinger, Christel Meier, Peter Oestmann,
Nikolaus Staubach und Eva Stauch

54. Band

2020

DE GRU YTER
Redaktion:
Dr. Christian Scholl
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Institut für Frühmittelalterforschung
Centrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung
Domplatz 20–22
48143 Münster

www.uni-muenster.de/Fruehmittelalter

ISSN 0071-9706
ISSN (  Internet  ) 1613-0812
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston


Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde
Druck und buchbinderische Verarbeitung:
Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis

Christian Stadermann, Restitutio Romanarum Galliarum. Theoderichs


des Großen Intervention in Gallien (  507–511  ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1–67
Sebastian Steinbach, Designative Nachfolgeregelungen im toledani­
schen Westgotenreich im Spiegel der Münzprägung. . . . . . . . . . . . . . . . 69–86
Florian Hartmann, Die Adoption von Karl Martells Sohn durch den
Langobardenkönig Liutprand im Kontext ihrer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 87–103
Jan Clauß, Bibel und Exegese als Kommunikationsmedium zwischen
Franken und ‚Fremden‘ unter Karl dem Großen. Das Beispiel der
gelehrten ‚Fremden‘ Theodulf und Alkuin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105–130
Tino Licht, Sedulius Scottus in Lorsch. Handschriftenspuren eines karo-
lingischen Gelehrten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131–142
Christoph Haack, Mobilisierung als Bedrohungskommunikation. Das
‚Capitulare missorum de exercitu promovendo‘ (  MGH Capit. Nr. 50  )
und die Funktion karolingischer Aufgebotslisten. . . . . . . . . . . . . . . . . . 143–172
Harald Kleinschmidt, Widukind of Corvey’s Account of the Saxon
Invasion, the Law of Hospitality and the Oral Transmission of
Knowledge of the Past. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173–232
Sauro Marzocchi, Faith and Politics in Otto III’s Monumenta Historica. . . . 233–256
Beate Kellner, Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzäh-
lung. Die Dame Natur in Alanus’ ab Insulis ‚De planctu naturae‘. . . . . 257–281
Ursula Peters, „Gespaltene Treue“. Mehrfachvasallität und feudo-va-
sallitische Loyalitätsprobleme in der höfischen Erzählliteratur des 12.
und 13. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283–347
Marco Krätschmer, Rittertum und Lehnswesen im Stauferreich. Zu
Organisation und Rekrutierung der Ritterheere im 12. und 13. Jahr-
hundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349–394
Wojtek Jezierski, Livonian Hospitality. The ‘Livonian Rhymed Chro-
nicle’ and the Formation of Identities on the Thirteenth-Century
Baltic Frontier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395–427
VI Inhaltsverzeichnis 

Zusammenfassungen der Beiträge in englischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . 429–434


Orts-, Personen- und Sachregister, bearbeitet von Christian Scholl . . . . . . . 435–440
Tafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
BEATE KELLNER

Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung


Die Dame Natur in Alanus’ ab Insulis ‚De planctu naturae‘ *

1. Naturphilosophie, Allegorie und integumentum, S. 257. – 2. Zur Gattung von ‚De planctu Naturae‘, S. 260. –
3. Die Vision des Dichters und der Auftritt Naturas, S. 261. – 4. Die descriptio der Dame Natur, S. 266. – 4.1
Zur Dichotomie von Menschen und Tieren, S. 267. – 4.2 Anthropomorphisierung der Tiere, S. 269. – 4.3
Zwischenfazit, S. 272. – 4.4 Materialität und Medialität. Perspektiven der Wahrnehmung und des Erzählens,
S. 274. – 5. Metaphorik der Verhüllung, S. 277. – 6. Fazit, S. 279.

1. NATURPHILOSOPHIE, ALLEGORIE UND INTEGUMENTUM

Die naturphilosophischen Lehren, die sich im 12. Jahrhundert vor allem im Umkreis


der sogenannten Domschule von Chartres herausbilden 1, versuchen die Welt nicht
nur im Rückgriff auf die christlichen Offenbarungsschriften zu verstehen, sondern
sie in der Auseinandersetzung mit Positionen der antiken und arabischen Philoso-
phie auch rational zu begründen. Aus der Naturphilosophie heraus werden ganz in
diesem Sinne Modelle der Welterklärung entwickelt, in denen antike Kosmologie und
christliche Schöpfungslehre zusammengeführt werden 2. Natur kann in den naturphi-
losophischen Konzeptionen des 12. Jahrhunderts als Prinzip der Entstehung des Ma-

* Der Aufsatz geht auf einen Vortrag bei der von Andreas Kablitz und Maria Moog-Grünewald ver­an­stal­
te­ten Tagung zur Allegorie in Rauischholzhausen im Herbst 2019 zurück. Ich danke dem Veranstalter
und der Veranstalterin für die großzügige Lizenz zur Veröffentlichung des Beitrags in den Frühmittel-
alterlichen Studien.
1 Der Begriff legt die Vorstellung einer Institution mit fester Organisation nahe. Demgegenüber geht
man heute eher von einem losen Gelehrtenkreis aus: Vgl. bereits Peter Dronke, New Approaches to
the School of Chartres, in: Anuario de Estudios Medievales 6, 1969, S. 117–140; Nikolaus Häring,
Chartres and Paris Revisited, in: J. Reginald O’Donnell (  Hg.  ), Essays in Honour of Anton Charles
Pegis, Toronto 1974, S. 268–329; Winthrop Wetherbee, Platonism and Poetry in the Twelfth
Century. The Literary Influence of the School of Chartres, Princeton 1972, s. S. 3–48; vgl. jetzt auch
Michel Lemoine, Alain de Lille et l’École de Chartres, in: Jean-Luc Solère u. a. (  Hgg.  ), Alain de Lille,
le docteur universel. Philosophie, théologie et littérature au XIIe siècle. Actes du XIe Colloque Interna-
tional de la Société Internationale pour l’Étude de la Philosophie Médiévale, Paris, 23–25 octobre 2003
(  Rencontres de Philosophie Médiévale 12  ), Turnhout 2005, S. 47–58.
2 Vgl. etwa Marie-Dominique Chenu, La théologie au douzième siècle (  Études de Philosophie Médié-
vale 45  ), Paris ³1976; Wetherbee, Platonism and Poetry in the Twelfth Century (  wie Anm. 1  ); Haijo
Jan Westra (  Hg.  ), From Athens to Chartres. Neoplatonism and Medieval Thought. Studies in Honour
of Edouard Jeauneau (  Studien zur Geistesgeschichte des Mittelalters 35  ), Leiden u. a. 1992, S. 225–436.

https://doi.org/10.1515/fmst-2020-009
258 Beate Kellner

kro- und Mikrokosmos zu einer Instanz hypostasiert werden 3, die zwar in der Position
der nachschaffenden Stellvertreterin Gottes verbleibt, aber doch in beträchtliche Nähe
zur göttlichen Prärogative rückt. Bei Bernardus Silvestris und Alanus ab Insulis, die
beide den Chartrenser Denkern nahe stehen, erfolgen diese Um- und Aufwertungen
der Natur in groß angelegten allegorischen Entwürfen 4.
Alanus’ ab Insulis literarische Werke ‚De planctu Naturae‘ und ‚Anticlaudianus‘
stehen wie sein ‚Sermo de sphaera invisibili‘ im Horizont des platonisch-neuplato-
nischen Denkens der Chartrenser, doch der doctor universalis integriert in sein um Form
und Materie kreisendes Philosophieren auch boethianische und aristotelische Ele-
mente zu einem spekulativen Gesamtentwurf  5. Die poetische Einkleidung der phi-
losophischen und theologischen Themen bietet Alanus die Möglichkeit, im Modus der
allegorischen Verhüllung die tiefere Wahrheit der göttlichen Schöpfung zu enthüllen.
Indem Allegorie und Allegorese als Verfahren genutzt werden, um das Sein der Welt
zu deuten, wird der Zusammenhang von Allegorie und Ontologie in den allegorischen
Erzählungen des Alanus unmittelbar evident 6. Die personifizierte Natura tritt selbst
als Lehrmeisterin auf, die dem Dichter die Seins- und Funktionsweise des Kosmos of-
fenbart. Sie begründet darüber hinaus auch die Moral aus der Natur, denn sie leitet aus
dem So-Sein der Natur den moralischen Anspruch, das Sollen, ab 7. Die allegorische
Konzeption ist daher gleichermaßen eng mit Ontologie und Moral verknüpft.

3 George D. Economou, The Goddess Natura in Medieval Literature, Cambridge, MA 1972, zu den
philosophischen und poetischen Traditionslinien vgl. besonders S. 1–52; Wilhelm Kölmel, Natura:
genitrix rerum – regula mundi. Weltinteresse und Gesellschaftsprozeß im 12. Jahrhundert, in: Albert Zim-
mermann – Andreas Speer (  Hgg.  ), Mensch und Natur im Mittelalter, Teilbd. 1 (  Miscellanea Media-
evalia 21/1  ), Berlin – New York 1991, S. 43–56; Jean Jolivet, La figure de Natura dans le De Planctu
Naturae d’Alain de Lille. Une mythologie chrétienne, in: Jean-Luc Solère u. a. (  Hgg.  ), Alain de Lille,
le docteur universel (  wie Anm. 1  ), S. 127–144.
4 In seiner Thierry von Chartres gewidmeten ‚Cosmographia‘ mit dem Titel ‚De universitate mundi‘, die
in Anlehnung an die ‚Consolatio Philosophiae‘ des Boethius und an ‚De nuptiis Philologiae et Mercurii‘
von Martianus Capella in der Form des Prosimetrums gehalten ist, behandelt Bernardus im ersten Buch
die Entstehung der Welt, im zweiten die Erschaffung des Menschen. Vgl. Bernardus Silvestris, Cosmo-
graphia, with Introduction and Notes, hg. von Peter Dronke (  Textus minores 53  ), Leiden 1978; vgl.
dazu Brian Stock, Myth and Science in the Twelfth Century. A Study of Bernard Silvester (  Princeton
Legacy Library 1310  ), Princeton 1972; Winthrop Wetherbee, The Cosmographia of Bernardus Sil-
vestris. A Translation with Introduction and Notes (  Records of Civilization. Sources and Studies 89  ),
New York – London 1973.
5 Vgl. dazu besonders Frank Bezner, Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der Intellectual
History des 12. Jahrhunderts (  Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 85  ), Leiden  –
Boston 2005, S. 471–553; zum Kontext des 12. Jahrhunderts vgl. auch Stephen Gersh, Platonism –
Neoplatonism – Aristotelianism. A Twelfth-Century Metaphysical System and its Sources, in: Robert L.
Benson u. a. (  Hgg.  ), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, Cambridge, MA 1982, S. 512–534.
6 Grundlegend dazu Andreas Kablitz, Zwischen Rhetorik und Ontologie. Struktur und Geschichte
der Allegorie im Spiegel der jüngeren Literaturwissenschaft (  Neues Forum für Allgemeine und Ver-
gleichende Literaturwissenschaft 50  ), Heidelberg 2016.
7 Vgl. zu dieser verbreiteten Gedankenfigur jetzt Lorraine Daston, Gegen die Natur, aus dem Eng-
lischen übers. von Dora Fischer-Barnicol (  Fröhliche Wissenschaft 141  ), Berlin 2018.
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 259

Für Bernardus wie für Alanus dient das integumentum als Leitidee zur poetischen
Verhüllung der Wahrheit 8. Die für die verschiedenen Spielarten der Allegorie als
kleinster gemeinsamer Nenner dienliche rhetorische Formel Quintilians aliud verbis,
aliud sensu ostendit 9, die auf eine Verschiebung zwischen wortwörtlicher Ebene und
Zweitsinn zielt, lässt sich selbstverständlich auch auf das integumentum anwenden.
Als das Besondere daran sieht Bernardus Silvestris aber an, dass die Verhüllung der
Wahrheit hier auf einer fiktiven Erzählung (  fabulosa narratio  ) und nicht auf der Bibel
beruhen kann 10. Über die Vorstellung des integumentum ließ es sich daher zum ei-
nen rechtfertigen, die verborgene Wahrheit des antiken Mythos und der antiken Phi-
losophie auch im christlichen Kontext anzuerkennen. Zum anderen konnte man auch
eigene integumentale Erzählungen entwerfen, in denen man eine tiefere Wahrheit im
poetischen Gewande zum Ausdruck zu bringen versuchte. Im Anschluss an das Werk
‚De universitate mundi‘ des Bernardus Silvestris unternimmt Alanus ab Insulis dies in
‚De planctu naturae‘ und im ‚Anticlaudianus‘, ohne dabei den Charakter der Texte als
theologisch geprägte Lehrdichtungen mit moralisierendem Anspruch und didaktischer
Wirkung auf verschiedene Rezipientengruppen preiszugeben 11. Er flicht in die inte-
gumentale Erzählung eine Fülle von Personifikationen als sinnliche Darstellungen des
Abstrakten ein. Es handelt sich hier um kategorial nur sehr schwer zu bestimmende

8 Grundlegend dazu Edouard Jeauneau, L’usage de la notion d’integumentum à travers les gloses de
Guillaume de Conches, in: Ders., Lectio philosophorum. Recherches sur l’École de Chartres, Ams-
terdam 1973, S. 127–192; Stock, Myth and Science (  wie Anm. 4  ), S. 37–62; Peter Dronke, Fabula.
Explorations into the Uses of Myth in Medieval Platonism (  Mittellateinische Studien und Texte 9  ),
Leiden – Köln 1974; Christoph Huber, Integumentum, in: Harald Fricke u. a. (  Hgg.  ), Reallexikon
der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin – New York 22007, S. 156–160; Bezner, Vela Verita-
tis (  wie Anm. 5  ).
9 Quintilian, Institutionis oratoriae libri XII/1, hg. von Ludwig Radermacher (  Bibliotheca scriptorum
Graecorum et Romanorum Teubneriana  ), Leipzig 51965, VIII,6,44; vgl. dazu besonders Christel
Meier, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksich-
tigung der Mischformen, in: Frühmittelalterliche Studien 10, 1976, S. 1–69, hier S. 6; Hennig Brink-
mann, Mittelalterliche Hermeneutik, Darmstadt 1980, besonders S. 214–219.
10 Vgl. Stock, Myth and Science (  wie Anm. 4  ), S. 38; vgl. Meier, Überlegungen (  wie Anm. 9  ), S. 10–12;
Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik (  wie Anm. 9  ), S. 169–212; vgl. auch Jon Whitman, Twelfth-
Century Allegory. Philosophy and Imagination, in: Rita Copeland – Peter T. Struck (  Hgg.  ), The
Cambridge Companion to Allegory (  Cambridge Companions to Literature  ), Cambridge 2010, S. 101–
118.
11 Vgl. besonders den Prolog zum ‚Anticlaudianus‘, wo der Dichter sich in die Tradition stellt (  cum pigmea
humilitas excessui superposita giganteo, altitudine gigantem preueniat et riuus a fonte scaturiens in torrentem multi­
plicatus excrescat  ) und im Anschluss daran die verschiedenen Rezipientengruppen je nach ihrer Bildung
und ihrem Kenntnisstand differenziert und bewertet. Vgl. Alain de Lille, Anticlaudianus. Texte critique
avec une introduction et des tables, hg. von Robert Bossuat (  Textes philosophiques du moyen age1  ),
Paris 1955, hier S. 56, Zitat ebd.; vgl. dazu Alan of Lille, Literary Works, hg. und übers. von Winthrop
Wetherbee (  Dumbarton Oaks Medieval Library 22  ), Cambridge, MA – London 2013; nicht unpro-
blematisch ist folgende deutsche Übersetzung: Alanus ab Insulis, Der Anticlaudian oder Die Bücher
der himmlischen Erschaffung des Neuen Menschen. Ein Epos des lateinischen Mittelalters, übers. und
eingeleitet von Wilhelm Rath (  Aus der Schule von Chartres 2  ), Stuttgart 1966.
260 Beate Kellner

epistemische Hybridformen, auf die naturphilosophische Spekulation, christlich alle-


gorisches Denken und theologische Sachverhalte sowie Morallehre projiziert werden.
Am sinnfälligsten wird dies an der Personifikation der Natur.

2. ZUR GATTUNG VON ‚DE PLANCTU NATURAE‘

In ‚De planctu Naturae‘ und im ‚Anticlaudianus‘ stellt Alanus dar, welche Funktionen
die Natur bei der Entstehung des Makrokosmos und Mikrokosmos eingenommen
hat, wie sie Leben stiften, beenden und erneuern kann, wie weit ihre Wirkmacht reicht
und wie ihr Verhältnis zum Schöpfergott zu denken ist 12. Die Form des Prosime-
trums, die Alanus in Anlehnung an die ‚Consolatio Philosophiae‘ des Boethius aus dem
6. Jahrhundert und das zeitgenössische Werk ‚De universitate mundi‘ des Bernardus
Silvestris für ‚De planctu Naturae‘ 13 wählt, ermöglicht ihm verschiedene Register-
wechsel und Perspektivierungen des Erzählten. Der Gattung entsprechend wechseln
nicht nur in verschiedenen Metren gebundene und in Prosa gehaltene Textabschnitte
miteinander ab, sondern der Dichter entwickelt darüber hinaus auch ein ganzes Spek-
trum an Darstellungsformen, das von der umfänglichen descriptio der Dame Natur über
ihre Selbstvorstellung bis hin zur exklusiven Offenbarung von sonst verhülltem Wis-
sen an den Dichter und zum Lehrgespräch mit ihm führt. Der formalen Vielschichtig-
keit des ‚Planctus‘ steht der ‚Anticlaudianus‘ als Hexameterepos gegenüber 14.

12 Dass Alanus, der auch eine ganze Reihe theologischer Schriften verfasst hat, die verschiedenen Tradi-
tionshintergründe des Naturbegriffs in vollem Umfang bewusst waren, zeigt jenseits seiner poetischen
Werke besonders seine Differenzierung von elf Aspekten der Natur in den ‚Distinctiones Dictionum
Theologicalium‘. Vgl. Alanus ab Insulis, Liber in Distinctionibus Dictionum Theologicalium, in:
Ders., Doctoris universalis opera omnia, hg. von Jacques-Paul Migne (  Migne PL 210  ), Paris 1855,
Sp. 685–1012, hier Sp. 871 A–D; vgl. dazu Andreas Speer, Kosmisches Prinzip und Maß menschlichen
Handelns. ‚Natura‘ bei Alanus ab Insulis, in: Zimmermann – Ders. (  Hgg.  ), Mensch und Natur im
Mittelalter (  wie Anm. 3  ), S. 107–128, hier S. 124–126.
13 Lateinischer Text zitiert nach: Alan of Lille, Literary Works, hg. und übers. von Wetherbee (  wie
Anm. 11  ); vgl. dazu Alan of Lille, The Plaint of Nature, übers. und kommentiert von James J. She-
ridan (  Mediaeval Sources in Translation 26  ), Toronto 1980; Alanus ab Insulis / Alain de Lille, De
planctu Naturae / Die Klage der Natur, hg. und übers. von Johannes B. Köhler mit philologisch-
philosophischem Kommentar (  Texte und Studien zur Europäischen Geistesgeschichte A 2  ), Münster
2013 (  lateinischer Text und deutsche Übersetzung sind unverlässlich, daher sind die deutschen Über-
setzungen im Folgenden von der Verf.  ).
14 Die Literatur zu Alanus und den beiden Texten ist sehr umfangreich: Vgl. besonders Johan Huizinga,
Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen bei Alanus de Insulis (  Mededeelingen
der koninklijke Akademie van Wetenschappen, Afdeeling Letterkunde Deel 74, B, 6  ), Amsterdam 1932,
S. 89–198; Ernst R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, München  – Bern
91978, S. 127–131; Guy Raynaud de Lage, Alain de Lille. Poète du 12e siècle (  Université de Montréal.

Publications de l’institut d’études médiévales 12  ), Montréal – Paris 1951; Richard H. Green, Alan
of Lille’s ‘De Planctu Naturae’, in: Speculum. A Journal of Mediaeval Studies 31, 1956, S. 649–674;
Christel Meier, Zwei Modelle von Allegorie im 12. Jahrhundert. Das allegorische Verfahren Hilde-
gards von Bingen und Alans von Lille, in: Walter Haug (  Hg.  ), Formen und Funktionen der Allegorie.
Symposion Wolfenbüttel 1978 (  Germanistische Symposien. Berichtsbände 3  ), Stuttgart 1979, S. 70–89;
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 261

Zu Beginn des als flebile carmen (  K ap. 1, V. 10, S. 22  ) bezeichneten ‚Planctus‘ tritt
der Dichter im ersten Metrum, dem die Funktion eines Prologs zukommt 15, hervor
und erläutert, dass die Muse, der Schmerz und die Natur ihn zur Abfassung der Klage
gedrängt haben (  K ap. 1, V. 9, S. 22  ). In elegischen Distichen betrauert er den mora-
lischen Verfall der Welt (  K ap. 1, Vv. 11 f., S. 22  ) und macht deutlich, dass der Mensch
durch seine Verfehlungen dafür verantwortlich sei (  K ap. 1, Vv. 1–60, S. 22–26  ). Indem
der Sprecher aus Trauer darüber sein Lachen zu Tränen, seine Freude in Kummer,
seinen Beifall zur Klage und sein frohes Scherzen zum Trauergesang wendet (  K ap. 1,
Vv. 1 f., S. 22  ), ahmen seine Tränen und sein flebile carmen (  K ap. 1, V. 10, S. 22  ) die Natur
selbst nach, die ihrerseits im ersten Metrum als weinend und klagend eingeführt wird:
Flet natura [  …  ] (  K ap. 1, V. 13, S. 22  ). Daher ist es bezeichnend, dass der Dichter für
die Bestimmung des carmen ein Adjektiv wählt, das vom Stamm des der Natur zugeord-
netenVerbs flere abgeleitet ist. Die an den Affekt der Trauer gebundene poetische Pro-
duktion von ‚De planctu naturae‘ erscheint in dieser Perspektive als Mimesis der Natur.

3. DIE VISION DES DICHTERS UND DER AUFTRITT NATURAS

Dichterfigur und Dame Natura sind einander im gesamten Verlauf des ‚Planctus‘ auf
das Engste zugeordnet. Die personifizierte Gestalt der Natur erscheint dem Dichter in

Henri Roussel – François Suard (  Hgg.  ), Alain de Lille, Gautier de Châtillon, Jakemart Giélée et leur
temps. Actes du Colloque de Lille, octobre 1978 (  Bulletin du Centre d’études médiévales et dialectales
de l’Université de Lille III, Bien dire et bien aprandre 2  ), Lille 1980, daraus besonders: Maurice de
Gandillac, La nature chez Alain de Lille, S. 61–76; Alain Michel, Rhétorique, poétique et nature chez
Alain de Lille, S. 113–124; Gillian R. Evans, Alan of Lille. The Frontiers of Theology in the Later
Twelfth Century, Cambridge 1983; Jan M. Ziolkowski, Alan of Lille’s Grammar of Sex. The Meaning
of Grammar to a Twelfth-Century Intellectual (  Speculum Anniversary Monographs 10  ), Cambridge,
MA 1985; Johannes Köhler, Natur und Mensch in der Schrift ‚De Planctu Naturae‘ des Alanus ab
Insulis, in: Zimmermann – Speer (  Hgg.  ), Mensch und Natur im Mittelalter (  wie Anm. 3  ), 1, S. 57–66;
James Simpson, Sciences and the Self in Medieval Poetry. Alan of Lille’s ‘Anticlaudianus’ and John
Gower’s ‘Confessio amantis’ (  Cambridge Studies in Medieval Literature 25  ), Cambridge 1995, beson-
ders S. 1–133; Jean-Luc Solère u. a. (  Hgg.  ), Alain de Lille, le docteur universel (  wie Anm. 1  ); Bezner,
Vela Veritatis (  wie Anm. 5  ), S. 471–553, mit umfangreicher Dokumentation der älteren Forschungslite-
ratur; Beate Kellner, Allegorien der Natur bei Alanus ab Insulis – mit einem Ausblick auf die volks-
sprachliche Rezeption, in: Bernhard Huss – David Nelting (  Hgg.  ), Schriftsinn und Epochalität. Zur
historischen Prägnanz allegorischer und symbolischer Sinnstiftung (  Germanisch Romanische Monats-
schrift 81  ), Heidelberg 2017, S. 113–143; Michael Stolz, Bewegtes Beiwerk. Ästhetische Funktionen
der Kleiderthematik bei Alanus ab Insulis und Giovanni Boccaccio, in: Anette Gerok-Reiter u. a.
(  Hgg.  ), Ästhetische Reflexionsfiguren in der Vormoderne (  Germanisch-Romanische Monatsschrift.
Beihefte 88  ), Heidelberg 2019, S. 357–392, hier S. 357–376; Christel Meier, Homo pacificus. Friedens-
mythen in Anthropologie und Kosmologie, Heilsgeschichte und Politik, in: Gerd Althoff u.  a. (  Hgg.  ),
Frieden. Theorien, Bilder, Strategien von der Antike bis zur Gegenwart, Dresden 2019, S. 147–168; vgl.
künftig auch auch Frank Bezner – Beate Kellner (  Hgg.  ), Alanus ab Insulis und das europäische
Mittelalter, erscheint bei Fink 2020.
15 Vgl. Alanus (  Wetherbee  ), Literary Works (  wie Anm. 11  ), S. 22–26. Die folgenden Angaben im Fließ-
text und in den Fußnoten beziehen sich stets auf diese Ausgabe.
262 Beate Kellner

einer Vision, als dieser sich in sorgenvollem Klagen über den Zustand der Welt und der
Menschen befindet (  K ap. 2, S. 26–54  ). Er sieht eine schöne Frau, die plötzlich aus der
höheren, nicht dem Gesetz von Werden und Vergehen unterworfenen Welt zu ihm he-
rabgleitet (  K ap. 2 f., S. 26–56  ). Um mit ihm kommunizieren zu können, muss sie eine
materielle Stimme annehmen und ihre archetypischen Wörter (  archetipa verba, Kap. 6,2,
S. 66  ) durch diese hörbar machen. Der Darstellung dieser Vision nach bleibt es für den
Dichter und den Leser zunächst noch unklar, dass es sich bei der Erscheinung um die
allegorische Gestalt der Natura handelt.
Die Betonung liegt ganz auf der Wirkung, welche die ankommende Dame auf
den Dichter ausübt. Sie löst Schrecken aus, der Dichter schaut wie gebannt auf sie,
dann stürzt er, fällt auf sein Gesicht, wird vor Staunen verletzt und bewusstlos. Ge-
blendet von der Ankunft der Dame Natur, welche in einer bemerkenswerten Ver-
doppelung von der ganzen Natur gefeiert wird (  K ap. 4 f., S. 56–66  ), kann der Dichter
ihrem Glanz und ihrer Schönheit nicht standhalten (  K ap. 4,2, S. 58  ). Er bekennt, dass
er beim Anblick der Dame in eine Ekstase geraten sei und sich in einem qualvollen Zu-
stand zwischen Leben und Tod befunden habe (  K ap. 6,1, S. 66  ). Hilfe leistend richtet
die virgo den wie trunken strauchelnden Dichter auf, erweckt ihn mit der Süße ihrer
Küsse (  K ap. 6,2, S. 66  ) und heilt den Schwachen von seiner Krankheit des Staunens
mit der honigsüßen Medizin ihrer Rede, als sie sich in der Rolle der Stellvertreterin des
göttlichen Schöpfers (  Dei auctoris vicaria, Kap. 6,3, S. 68  ) zu erkennen gibt.
Auch wenn nur von keuschen Küssen (  K ap. 6,2, S. 66  ) die Rede ist, so wird die
Vision doch als erotische Szene gestaltet, denn es ist die Licht durchflutete Schönheit
der Dame, die den Dichter in ihren Bann schlägt und ihm die Sinne vergehen lässt.
Zugleich aber wird mit dem stupor des Dichters (  ebd.  ) wohl auch das Staunen als Aus-
gangspunkt der philosophischen Erkenntnis benannt, um die es im sich anschließen-
den Lehrgespräch zwischen ihm und der Naturagestalt gehen wird. Wenn der Dichter,
der Rahmeninszenierung nach wieder zum Leben erweckt, Natura seinerseits mit
Küssen überschüttet (  K ap. 6,19, S. 82  ), wird der erotische Charakter der Begegnung
einmal mehr unterstrichen. Die Szene scheint geradezu die Sehnsüchte des Dichters
einzulösen, die er im ersten Metrum formuliert: Hier nämlich wünscht er sich, er möge
honigsüße Küsse einer schönen virgo erfahren, und stellt sich zugleich vor, er würde
dabei fast vergehen und als alter ego (  K ap. 1, V. 50, S. 24  ) zu neuem Leben erwachen
(  K ap. 1, Vv. 43–50, S. 24  ). Durch all diese Konnotationen und Bezüge wird deutlich
zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei Natura nicht nur um ein mechanistisches
Prinzip des Kosmos handelt, sondern um eine Dame, die mit ihrer erotischen Aus-
strahlung höchst anziehend wirkt und als höfisierte Verkörperung der Schönheit gelten
kann 16. Über die Personifikation der Natur wird der Dichter in seiner Vision zugleich
der Schönheit des Kosmos ansichtig. Mit dem Auftritt der Natur vor dem Dichter er-

16 Aufdie Ebene des Höfischen in Alans Dichtungen hat bereits Huizinga aufmerksam gemacht. Vgl.
Ders., Verknüpfung (  wie Anm. 14  ), S. 67–71.
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 263

zeugt die integumentale Erzählung daher Evidenz und Unmittelbarkeit des Zugangs
zu den Geheimnissen der Schöpfung.
Der Gattung Lehrdialog gemäß ist die Rede zwischen dem Dichter und der Dame
Natur asymmetrisch, sie ist die Wissende und Lehrerin, er der neugierige, pflichtschul-
dige Schüler. Ihre Macht, so betont die Natur überdies, sei eigentlich geheim und un-
aussprechlich, doch paradoxerweise wird sie in der Vision des Dichters diesem gegen-
über ausgesprochen und in vertraulicher Rede und Selbstvorstellung geoffenbart: Et
ut familiarius loquar, ego sum Natura [  …  ] (  K ap. 6,18, S. 82  ). Der Visionär wird damit vor
den meisten anderen Menschen ausgezeichnet, denen gegenüber die Natur, wie sie be-
tont, das Angesicht ihrer Macht wie mit einem Mantel oder Schleier in Zeichen verhüllt
habe, um das Geheimnis der Schöpfung und die Gesetze des Werdens und Vergehens
nicht preiszugeben (  K ap. 6,13, S. 78  )  17. Hier und an zahlreichen anderen Stellen wird
das Verhüllen und Enthüllen, das Geheimhalten und Offenbaren der Wahrheit des
Kosmos, um das es im integumentum geht, in der Narration selbst zum Thema gemacht.
Man kann in diesen spiegelnden Verweisen auf das integumentum geradezu beobachten,
wie die allegorische Sprechweise selbst reflektiert wird 18.
Gerade die Vorstellung, dass dem Dichter Geheimwissen mitgeteilt wird, legt
nahe, dass es sich um die exklusive Offenbarung und Epiphanie einer Gottheit von
Angesicht zu Angesicht handelt: Dum per haec verba michi Natura naturae suae faciem
develaret (  K ap. 6,19, S. 82  ). „Als durch diese Worte die Natur mir das Gesicht ihrer
Natur (  ihres Wesens  ) enthüllte.“ Mit großem Selbstbewusstsein erläutert Natura dem
Dichter im Zuge ihrer Selbstvorstellung ihre Macht. Ihren Aussagen nach formt sie
den menschlichen Körper, entwirft seinen Geist und vereint beide miteinander in einer
Hochzeit zum Leben, das sie durch die Auflösung dieser Vereinigung auch wieder be-
enden kann (  K ap. 6,3–5, S. 68–70  ): Sicut ergo praefatae nuptiae meo sunt celebratae consensu,
sic pro meo arbitrio eadem cassabitur copula maritalis (  K ap. 6,5, S. 70  ). „Wie also mit meiner
Zustimmung die oben genannte Hochzeit gefeiert wurde, so wird auch nach meinem
Gutdünken diese eheliche Vereinigung wieder gelöst.“ Natura offenbart sich somit
als kosmische Macht, die den Makrokosmos aus den vier Elementen strukturiert und
den Mikrokosmos Mensch in Analogie dazu gebildet hat (  K ap. 6,6, S. 70  ). Erweist sich
im gesamten Kosmos die Macht der Natur, so zeigt sie sich doch auch als demütige
Dienerin und Schülerin Gottes, die jenem keineswegs seine Macht absprechen und
streitig machen möchte: Sed ne in hac meae potestatis praerogativa Deo videar quasi arrogans
derogare, certissime Summi Magistri me humilem profiteor esse discipulam (  K ap. 6,14, S. 78  ). „Da-
mit ich aber mit dem Vorrecht dieser Macht nicht, gleichsam anmaßend, Gott seine
Macht abspreche, bekenne ich ganz fest, dass ich die demütige Schülerin des höchsten
17 Dahinter steckt der Grundsatz, dass das, was weithin bekannt und gemein ist, unter Unwürdigen allzu
rasch gering geachtet wird (  ebd.  ).
18 Vgl. zu Formen und Modellen allegorischer Sprechweise im Mittelalter Meier, Überlegungen (  wie
Anm. 9  ); Dies., Zwei Modelle von Allegorie (  wie Anm. 14  ), hier S. 79–81; vgl. dazu auch Dies., Argu-
mentationsformen kritischer Reflexion zwischen Naturwissenschaft und Allegorese, in: Frühmittel-
alterliche Studien 12, 1978, S. 116–159.
264 Beate Kellner

Lehrers bin.“ 19 Doch trotz solcher Inferioritätsbehauptungen scheint sie als seine
Stellvertreterin, die ihrerseits als deitas und pro-dea bezeichnet wird, in die gefährliche
Nähe zur göttlichen Machtfülle zu rücken 20.
Die Ankunft der Göttin hat Schrecken verbreitet, der Dichter war zunächst von
ihrem Erscheinen gleichsam wie vom Zerrbild eines monströsen Phantasmas über-
wältigt worden (  velut monstruosi fantasmatis anomala apparitione percussus, Kap. 6,20, S. 82  ).
Erst allmählich kann er sich von seiner Bewunderung und seinem Staunen erholen.
Dementsprechend gibt er seiner Ekstase und Begeisterung über die Präsenz einer so
großen Gottheit (  tantae deitatis praesentia, Kap. 6,20, S. 82  ) mit einem Loblied in sap-
phischen Strophen Ausdruck. Im vierten Metrum (  K ap. 7, Vv. 1–48, S. 84–88  ) spricht
er Natura als Spross Gottes, Gebärerin der Dinge, als Band und feste Verbindung der
Welt, als Edelstein für die Irdischen, Spiegel für die Vergänglichen und Lichtstern des
Erdkreises an. Sie ist ihm Frieden, Liebe, Vortrefflichkeit, Herrschaft, Macht, Ord-
nung, Gesetz, Ziel, Weg, Führerin und Ursprung, ja sie ist ihm Leben, Licht, Glanz,
Schönheit, Bild und Richtschnur der Welt:
O Dei proles genitrixque rerum,
vinculum mundi stabilisque nexus,
gemma terrenis, speculum caducis,
lucifer orbis.
Pax amor virtus regimen potestas
ordo lex finis via dux origo
vita lux splendor species figura
regula mundi (  K ap. 7, Vv. 1–8, S. 84  ).

In den Begrifflichkeiten von virtus, pax, regimen, ordo und regula wird deutlich, dass Natur
nicht nur als kosmische Wirkmacht und ontologische Größe gesehen wird, sondern
auch als Inbegriff der Vortrefflichkeit und damit als Richtschnur, Hüterin und Garan-
tin von Ordnung, Ethik und Moral. Dieser Schritt vom Sein zum Sollen, der hier voll-
zogen wird und mit dem der Natur eine normative Funktion zugewiesen wird, findet
sich in Diskursen über die Natur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart immer
wieder. Er ist charakteristisch für Argumentationen, in denen der Rekurs auf die Natur
im Zusammenhang mit Ordnungsentwürfen der Gesellschaft als Argument verwendet
wird 21.

19 Vgl. auch die Betonung der Differenzen zwischen Gott und Natura in ‚De planctu Naturae‘, Kap. 6,14–
18, S. 78–82.
20 Zum Status von Natura als Göttin im Mittelalter vgl. auch Economou, The Goddess Natura (  wie
Anm. 3  ); Mechthild Modersohn, Natura als Göttin im Mittelalter. Ikonographische Studien zu Dar-
stellungen der personifizierten Natur (  Acta humaniora. Schriften zur Kunstwissenschaft und Philoso-
phie  ), Berlin 1997; Dies., Natura als Göttin – eine Personifikation zwischen Mythos und Aufklärung,
in: Peter Dilg (  Hg.  ), Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen. Akten des 9.
Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.–17. März 2001, Berlin 2003, S. 84–110.
21 Vgl. dazu die Ergebnisse der seit 2013 unter der Leitung von Andreas Höfele und Beate Kellner beste-
henden DFG-Forschungsgruppe ‚Natur in politischen Ordnungsentwürfen‘, dokumentiert etwa in:
Andreas Höfele – Beate Kellner (  Hgg.  ), Menschennatur und politische Ordnung, Paderborn
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 265

Mit seinem Hymnus bittet der Dichter die Natur, ihm den Grund ihres Kommens
und ihrer Tränen kund zu tun (  K ap. 7, Vv. 41–48, S. 88  ), woraufhin sie freimütig zu er-
kennen gibt, dass der Mensch in seinem moralischen Verfall ihren Schmerz verursacht
habe. Da er als einziges Wesen gegen ihre Gesetze und Regeln verstoßen habe 22,
wofür im Verbund mit ihm Venus in ihrer Lasterhaftigkeit verantwortlich gemacht
wird (  K ap. 8,31–10,17, S. 110–136  ), möchte sie nun die Ordnung wiederherstellen,
indem sie den Menschen mit Hilfe ihres alter ego Genius (  K ap. 16,25, S. 194  ) aus ihrem
Reich verdammt (  K ap. 16,28, S. 196  ). Mit dem Anathema des Genius in priesterlichem
Gewand klingt der ‚Planctus‘ schließlich mit einem Donnerschlag der Rache und Strafe
aus (  K ap. 18,13–18, S. 210–214  ).
Mag der Charakter des ‚Planctus‘ als Vision des Dichters im Verlauf des großen
Lehrdialogs auch etwas in Vergessenheit geraten, so wird diese am Schluss des Textes
noch einmal in Erinnerung gerufen, was deutlich macht, dass die Vision den Rah-
men der allegorischen Erzählung bildet: Der Dichter erwacht aus Ekstase und Traum,
nachdem ihm der Spiegel der Imagination, wie es heißt, entzogen worden ist und ihn
der Anblick der geheimnisvollen Erscheinung verlassen hat: Huius imaginariae visionis
subtracto speculo, me ab exstasis excitatum insompnio prior misticae apparitionis dereliquit aspec­
tus (  K ap. 18,20, S. 216  ). „Nachdem der Spiegel dieser imaginären Vision weggezogen
worden war, hat mich, erwacht aus dem Traumbild der Verzückung, der vorige Anblick
der geheimnisvollen Erscheinung verlassen.“ Das ganze Geschehen wird damit noch
einmal als Mysterium und Traumgesicht des Dichters perspektiviert. Unberührt da-
von ist allerdings der Wahrheitsanspruch der Narration, denn Vision und Traum sind
selbst wiederum Formen des Verhüllens einer tieferen Wahrheit, die der dichterischen
Schau zugänglich wird und den Rezipienten auf diese Weise vermittelt werden kann.
In diesen Formen des Verhüllens kann die kosmische Macht und Wirkung der Natur
sowie ihre moralische Ordnungsfunktion herausgestellt werden, Natura kann wie eine
Göttin auftreten und zugleich wird auch ihre besondere Nähe zum göttlichen Schöpfer
deutlich gemacht. Über den Weg der integumentalen Erzählung bietet sich der Mög-
lichkeitsraum, all dies zusammenzudenken.

2016; Dies. u. a. (  Hgg.  ), Natur in politischen Ordnungsentwürfen, Paderborn 2018; Mariacarla


Gadebusch Bondio u. a. (  Hgg.  ), Macht der Natur – gemachte Natur. Realitäten und Fiktionen des
Herrscherkörpers zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit (  Micrologus Library 92  ), Florenz 2019.
Nach den Gründen für den Rückgriff auf die Natur fragt besonders Daston, Gegen die Natur (  wie
Anm. 7  ).
22 Es fallen hier Rechtstermini, u. a.: lex; ius; edictum; regula, Kap. 8,3–12, S. 88–96.
266 Beate Kellner

4. DIE DESCRIPTIO DER DAME NATUR

Die lange descriptio der Dame Natur ist in den Rahmen dieser integumentalen Erzäh-
lung eingelassen 23. Die Gestalt, die sich dem Dichter offenbart, zeigt sich in einem
Licht, das aus ihrer ureigenen Schönheit und nicht aus einer anderen Quelle stammt
(  claritate nativa, Kap. 2,1, S. 26  ). Das Funkeln ihres Haares lässt ihr Haupt in einem
sternengleichen Körper bildhaft hervortreten (  in stellare corpus caput effigiabat puellae,
ebd.  ). Doch trotz allen Glanzes und allen Strahlens lassen sich, wie erwähnt, auch
Trauer und Tränen an ihr bemerken (  K ap. 2,5, S. 30  ). Obgleich die Schönheit Na-
turas als unaussprechlich betrachtet wird, beschreibt sie der Dichter dennoch in einem
exuberanten Preis nach dem aus der Antike ererbten Schema a capite ad calcem. Auf
ihrem Diadem, das sich von Ost nach West und zurück bewegt, wird durch den Glanz
der Edelsteine das ganze Firmament repräsentiert, der Lauf der Gestirne, der Zo-
diakus und die Planeten (  K ap. 2,6–18, S. 30–38  ). Ihr Gewand besteht aus mehreren
Schichten, die übereinander getragen werden, und zeigt die Flora und Fauna der Erde:
Das Obergewand (  vestis, Kap. 2,19–24, S. 38–44  ) bietet den Augen das Bild einer Ver-
sammlung der Lufttiere dar (  K ap. 2,19, S. 40  ). Auf dem pallium (  K ap. 2,25, S. 44  ) wird
die ganze Vielfalt der Wassertiere dargestellt (  K ap. 2,25–27, S. 44–48  ). Die vielfarbige
tunica bildet mit ihrem dichteren Stoff die Erde mit den Landtieren ab (  K ap. 2,28–33,
S. 48–52  ), das Hemd und die Schuhe zeigen Bäume und Blumen (  K ap. 2,34–Kap. 3,
Vv. 1–28, S. 48–56  ).
Insgesamt handelt es sich nicht um eine syntagmatisch organisierte lineare Er-
zählung, sondern um eine stark verdichtete paradigmatische Beschreibung. Zwar muss
der Autor in der sprachlichen Gestaltung sukzessive vorgehen, doch die Anordnung
der Gewandschichten verdeutlicht, dass diese übereinander und gleichzeitig von Na-
tura getragen werden 24. Repräsentieren ihr Diadem und ihr Gewand im allegorischen
Sinne die Welt in Bildern, so ist sie zugleich im literalen Sinne in den Kosmos gehüllt
und trägt diesen im Wortsinn auf ihrem Körper. Indem der Dichter die Gewand-
schichten beschreibt, nutzt er die Ekphrasis zur Deutung des Kosmos und demons-
triert auch gleichsam enzyklopädisch die ganze Vielfalt der Lebewesen und Pflanzen.
Dabei wirft er die Frage auf, wie sich der Mensch einerseits zu Natura und andererseits

23 Vgl.auch Marie Gothein, Der Gottheit lebendiges Kleid, in: Archiv für Religionswissenschaft 9,
1906, S. 337–364; und besonders Stolz, Bewegtes Beiwerk (  wie Anm. 14  ), S. 337–365. Auf den aus-
gezeichneten Textbeobachtungen von Michael Stolz kann der vorliegende Aufsatz in vielfacher Hin-
sicht aufbauen. Vgl. zur Rezeption der Naturafigur im Mittelalter auch Christoph Huber, Die per-
sonifizierte Natur. Gestalt und Bedeutung im Umkreis des Alanus ab Insulis und seiner Rezeption, in:
Wolfgang Harms – Klaus Speckenbach (  Hgg.  ), Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit.
Probleme der Legitimation und ihrer Funktion, Tübingen 1992, S. 151–172.
24 Vgl. Stolz, Bewegtes Beiwerk (  wie Anm. 14  ), S. 365 f. Vgl. zur Paradigmatik der Erzählung Roman
Jakobson, Linguistik und Poetik (  1960  ), in: Jens Ihwe (  Hg.  ), Literaturwissenschaft und Linguistik.
Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 2,1: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft 1 (  Ars poetica.
Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst  ), Frankfurt am Main 1971, S. 142–178, hier
S. 153.
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 267

zu den Tieren verhält, geht auf die Medialität und Materialität des Gewandes und
seiner Bilder ein, reflektiert den ontologischen Status der Bilder und thematisiert, ob
die Bilder literal oder allegorisch zu verstehen sind. Gerade die Spannung zwischen
literaler und allegorischer Auffassung prägt die gesamte Passage. Insofern erweist sich
die detaillierte Betrachtung dieses Prunkstücks Alan’scher Dichtung für die Frage nach
der Verhüllung der Wahrheit des Kosmos im integumentum als zentral.

4.1 Zur Dichotomie von Menschen und Tieren

Die enumeratio der Tiere und Pflanzen folgt dem iterativen Schema eines Katalogs,
die Abschnitte zu den Tieren werden jeweils mit dem räumlichen Adverb illic ein-
geleitet 25. So ergibt sich etwa bei den Lufttieren die Abfolge: Illic aquila [  …  ] Illic
accipiter [  …  ] Illic milvus [  …  ] Illic falco [  …  ] (  K ap. 2,20, S. 40  ); „dort der Adler“, „dort der
Habicht“, „dort der Milan“, „dort der Falke“. Passend dazu wird auch mit temporaler
Deixis gearbeitet, was sich zum Beispiel in der wiederholten Betonung des nunc im Zu-
sammenhang mit der Darstellung des Rebhuhns zeigt (  K ap. 2,23, S. 42  ) 26. Mit dieser
räumlichen und zeitlichen Deixis zieht der Sprecher die Rezipienten gewissermaßen
in den Schauraum seiner Vision hinein und lässt sie teilnehmen an dem, was er sieht.
Einzig die Darstellung des Menschen auf dem dichteren Stoff der tunica wird nicht mit
solchen Formeln eingeleitet, was das Schema durchbricht und Aufmerksamkeit erregt,
wenn es heißt: In huius vestis parte primaria homo, sensualitatis deponens segnitiem, directa ratio­
cinationis aurigatione caeli penetrabat archana. (  K ap. 2,28, S. 48  ). „Auf dem Hauptteil dieses
Gewandes findet sich der Mensch, der, wenn er die Trägheit seiner Sinnlichkeit ab-
legte, wie im Wagenrennen der Vernunft gelenkt, zu den Geheimnissen des Himmels
vordringen konnte.“ Während die Tunika wie die anderen Gewandschichten auch an
allen übrigen Stellen unversehrt ist, geht genau dort, wo der Mensch dargestellt ist, ein
Riss durch das Gewand, der die Schmach des Unrechts, das die Natur vom Menschen
erlitten hat, offen zum Ausdruck bringt: In qua parte tunica, suarum partium passa discidium,
suarum iniuriarum contumelias demonstrabat. (  ebd.  ). „In diesem Teil hatte die Tunika das
Zerreißen ihrer Teile erleiden müssen und zeigte die Schmach des Unrechts, das ihr
zugefügt worden war.“
Dem sensus litteralis nach ist das Gewand Naturas an dieser Stelle zerrissen, doch
der Text liefert selbst die Allegorese nach dem sensus allegoricus mit: Danach symbolisiert
der Riss die Vergewaltigung der Natur durch den Menschen, der, von seiner Lust ge-
trieben, wie an späterer Stelle des ‚Planctus‘ erläutert wird, die Kleider der Dame Natur
Stück für Stück zerrissen habe, gewalttätig Hand an sie gelegt und sie, ihrer Kleider

25 Die Reihen der dargestellten Tiere finden sich in modifizierter Form auch in der ‚Cosmographia‘ des
Bernardus Silvestris und bei Matthäus von Vendôme. Vgl. dazu ausführlich Köhler, Kommentar (  wie
Anm. 13  ), S. 257–290.
26 Vom Rebhuhn wird gesagt, dass es bald (  nunc  ) aus der Luft angegriffen werde, bald (  nunc  ) durch die
Jäger und bald (  nunc  ) vom Gebell der Hunde aufschrecke (  K ap. 2,23, S. 42  ).
268 Beate Kellner

beraubt, zur Hure gemacht habe, die so gezwungen worden sei, ein schändliches Leben
zu führen (  K ap. 8,24, S. 104  ). Das auch im Rechtskontext übliche Vorweisen (  demons­
trare, Kap. 2,28, S. 48  ) der zerrissenen Kleidung bezeugt die Vergewaltigung, welche
der Natur in ihrer Gestalt als schöne Frau durch den Menschen angetan worden ist.
Im Dialog mit dem Dichter Alanus bezeichnet Natura den moralisch verfallenen
Menschen als einen falsch schreibenden Sophisten, der von der Orthographie der
Venus abgewichen sei (  K ap. 8,8, S. 94  )  27. Die durch den Menschen verursachte und
im Riss auf der Tunika veranschaulichte Störung der Naturordnung wird solcherma-
ßen auf die Vorstellung des Schreibens und das Medium der Schrift übertragen. Dies
wird im nächsten Schritt am Beispiel der Satzkonstruktionen, der Wortstellung und
der Morphologie weiter ausgeführt, denn der Mensch zerstöre die Natur mit seinen
Konstruktionen durch fehlerhafte Wortstellung, Trennung und Zusammenziehung
von Wortteilen und Silben (  ebd.  ) und bewirke auf diese Weise ihre Aufspaltung (  mei
themesim machinatur, ebd.  ). Hier fällt der Begriff der Tmesis, was nicht nur eine bloße
Trennung von Wortteilen, zum Beispiel von Vorsilbe und Verb, bedeutet, sondern
auch ein Stilmittel zur Aufspaltung eines Wortes darstellt, indem Wörter oder eine
Gruppe von anderen Wörtern zwischen die Bestandteile eines Wortes eingeschoben
werden, die eigentlich zusammengehören 28. Entscheidend ist die Vorstellung des
Aufspaltens, denn diese nimmt auf den Riss in der Tunika der Natur Bezug. Dass Ter-
mini aus Grammatik, Rhetorik und Logik zur Darstellung des Richtigen und Falschen,
der Tugenden und Laster verwendet werden, begegnet hier wie an vielen Stellen des
‚Planctus‘, beginnend mit dem ersten Metrum 29.
Nach der allegorischen Deutung veranschaulicht der Riss die Orientierung des
Menschen an seiner Sinnlichkeit statt an der Vernunft. Die Überzeugung, der Mensch
verfehle sein Telos, das ihn eigentlich dazu bestimmt, sich mit der Vernunft zu den Ge-
heimnissen des Himmels aufzuschwingen, indem er sich der Sinnlichkeit hingibt, prägt
den gesamten ‚Planctus‘. Die Störung der Naturordnung durch den Menschen, von
der die Dichtung des flebile carmen (  Metrum I  ) ihren Ausgangspunkt nimmt und die im
Text auch als Ausbeutung des Schatzes ihrer Reichtümer bezeichnet ist 30, wird so auf
der tunica der Natur sinnfällig gemacht. Hier wird das Nebeneinander des sensus litteralis
und des sensus allegoricus, das für die descriptio und den ‚Planctus‘ leitend ist, besonders

27 Gemeint ist Venus in ihrer Funktion als subvicaria, in der sie von Natura eingesetzt worden ist, um die
Zeugungsvorgänge zu kontrollieren und den Verlauf der Prokreation zu sichern.
28 Vgl. zum Beispiel Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg, 1. Akt, 1. Auftritt: „die Schlacht,
die uns | Bevor beim Strahl des Morgens steht“. Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in
4 Bdn.: Bd. 2. Dramen 1808–1811. Penthesilea  / Das Käthchen von Heilbronn  / Die Herrmanns-
schlacht / Prinz Friedrich von Homburg, hg. von Ilse-Marie Barth – Hinrich C. Seeba (  Bibliothek
deutscher Klassiker 26  ), Frankfurt am Main 1987, S. 556.
29 Grundlegend dazu Ziolkowski, Grammar of Sex (  wie Anm. 14  ). Vgl. vor allem auch Bezner, Vela
Veritatis (  wie Anm. 5  ), S. 537–540.
30 Homo vero, qui fere totum mearum divitiarum exhausit aerarium, [  …  ]. „Der Mensch aber, der fast die gesamte
Schatzkammer meines Reichtums ausgebeutet hat“ (  K ap. 8,3, S. 90  ).
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 269

anschaulich. In ihrer Rede bietet die Natur nicht nur eine allegorische Auslegung an,
sondern reflektiert diese zugleich, wenn sie  – zum Dichter gewandt  – erläutert, er
könne aus dem vorher Dargebotenen entnehmen, quid misticum figuret scissurae figurata
parenthesis, also welchen höheren Sinn der im Bild dargestellte Einschub mit dem Riss
habe (  K ap. 8,24, S. 104  ). Daraus ergibt sich folgende Quintessenz: Die durch den Riss
auf der tunica veranschaulichte, in grammatischen und rhetorischen Termini reflek-
tierte und in allegorischer Auslegung verdeutlichte Schlechtigkeit des Menschen hebt
ihn von der übrigen Schöpfung ab 31. Die gesamte Darstellung der Gewandschichten
ist von dieser zentralen Dichotomie zwischen der Beschreibung des Menschen und
jener der anderen Lebewesen bestimmt. Ein näherer Blick auf die Repräsentationen
der Tierwelt zeigt allerdings, dass dieser Befund aufgrund der Anthropomorphisierung
der Tiere durchaus zu relativieren ist.

4.2 Anthropomorphisierung der Tiere

Gereiht durch den Rhythmus der illic-Formel werden die Tiere nicht nur genannt,
sondern es wird auch von ihnen erzählt. Indem Wissen aus der antiken und mittel-
alterlichen Naturkunde, dem Physiologus, der Mythologie, der Bibel, der Literatur und
den Artes liberales eingespeist wird, lassen sich die Verhaltensweisen der Tiere sowie
ihr Wesen und ihre Charakterzüge nicht nur erläutern, sondern auch kommentieren
und bewerten. Mitunter werden, wie zum Beispiel im Fall der Nachtigall, umfäng-
liche Geschichten nur durch eine Andeutung zitiert 32, mitunter wachsen sich die
descriptiones zu eigenen kleinen Geschichten über die Tiere aus und übersteigen die
Beschreibung dessen, was überhaupt auf den Bildern sichtbar sein kann 33. Dass die
Ekphrasis deutlich mehr bietet als eine Beschreibung von Bildern, lässt sich zum Bei-
spiel an einer Auswahl aus der Gruppe der Lufttiere demonstrieren: Die Reihe setzt
mit dem Adler ein, von dem gesagt wird, er sei zuerst jung, dann alt, dann wieder jung,
indem er von einem Nestor zu einem Adonis werde (  K ap. 2,20, S. 40  ). Dadurch dass
die Verwandlung vom alten zum jungen Adler in der Mauser metaphorisch durch die
Erwähnung von Nestor und Adonis als Exempla für einen alten und einen schönen
jungen Mann veranschaulicht wird, prunkt der Autor nicht nur mit zusätzlichem Wis-
sen aus der Mythologie, sondern er vermenschlicht den Adler auch 34.

31 Dies betont Natura in ihrer Belehrung des Dichters explizit. Vgl. Kap. 8, S. 88–114.
32 Vgl. zum Fall der philomela Kap. 2,24, S. 44. Siehe dazu Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, hg. und
übers. von Hermann Breitenbach (  Die Bibliothek der alten Welt, Römische Reihe  ), Zürich 21964,
Buch 6, Vv. 412–674.
33 Vgl. Stolz, Bewegtes Beiwerk (  wie Anm. 14  ), S. 369.
34 Die Vorstellung von der Verjüngung des Adlers, bei der wohl an die Erneuerung des Federkleids in der
Mauser gedacht wird, findet sich auch in Ps 103,5, wo es in einem Loblied auf den gütigen und ver-
zeihenden Gott heißt: „der dich dein Leben lang mit seinen Gaben sättigt, wie dem Adler wird dir die
Jugend erneuert.“ Vgl. Köhler, Kommentar (  wie Anm. 13  ), S. 258.
270 Beate Kellner

Dies wird beim Habicht noch deutlicher, der als Präfekt des Luftstaates (  civitatis
praefectus aeriae, ebd.  ) bezeichnet wird, der in gewaltsamer Tyrannei von seinen Unter-
gebenen Tribut verlange: violenta tirannide a subditis redditus exposcebat (  ebd.  ). Die dem
Theaterparadigma entnommene Vorstellung von der Schauspielerei des Milan (  venato­
ris induens histrionem, ebd.  ), der in der Maske des Habichts auf Jagd gehe (  larvam gerebat
accipitris, ebd.  ), zeigt die Vermenschlichung der Tiere einmal mehr und legt nahe, dass
sie sich gegenseitig nachahmen können und offensichtlich auch zu Verstellung in der
Lage sind. Die negative Bewertung des Habichts wird dabei über die imitatio auch auf
den Milan übertragen, steigert sich aber noch deutlich bei der Beschreibung des Falken
(  ebd.  ), von dem es heißt, dass er einen Bürgerkrieg mit dem Reiher führe, was mit
ungleichen Waffen geschehe, da der eine nur schlage und der andere keine Möglichkeit
zur Verteidigung habe. Über die Andeutung der Dichotomie von Krieg und Frieden,
über Herrschafts- und Staatsformen wie die Tyrannis, über Ämter, Gewalt und Kon-
trolle werden menschliche Entwürfe von Gesellschaft respektive der Zerstörung von
Ordnung angesprochen und auf die Tierwelt übertragen. Bereits aus der Besprechung
dieser wenigen Beispiele lässt sich folgern, dass die Dichotomie von Tier und Mensch,
auf deren Basis die gesamte descriptio der Gewänder Naturas operiert, zwar postuliert,
aber nicht durchgehalten wird.
Wie stark die Tiere den Menschen angenähert werden, zeigt auch, dass sie mit
moralischen Maßstäben beurteilt werden. Dies wird etwa am Beispiel der Dohle er-
sichtlich, von der erzählt wird, sie häufe Schätze an und zeige dadurch ihre angeborene
Habgier (  innatae avaritiae argumenta monstrabat, Kap. 2,22, S. 42  ). Umgekehrt wird etwa
der Storch (  K ap. 2,21, S. 40  ) mit virtus in Verbindung gebracht, da er in seinen Bestre-
bungen soweit gehe, der Natur aus seiner Nachkommenschaft zu opfern und ihr damit
einen Tribut zu entrichten 35. Als positiv wird zum Beispiel auch der Rabe bezeichnet,
der das Laster der Eifersucht verabscheue (  zelotipiae abhorrens dedecus, Kap. 2,22, S. 42.  ).
Vor diesem Hintergrund kommt mit der Fledermaus, der die Ziffer Null zugewiesen
wird, schließlich sogar der Hermaphrodit ins Spiel (  avis hermafroditica, Kap. 2,24, S. 44  ).
Dieser wird im Blick auf die Menschen schon zu Beginn des ‚Planctus‘ als Zerrbild
äußerster sexueller Verwirrung bemüht. Aus einem Mann, der sein männliches Ge-
schlecht nicht wahrt, sondern verweichlicht, auf die Stufe der Frau degeneriert und
sich zur Homosexualität hinreißen lässt, mache, so heißt es dort, die Zauberkunst der
Venus einen Hermaphroditen (  c.1, Vv. 4–6, 17 f., S. 22  ). Dass gerade die Fledermaus,
deren Name vespertilio im Mittelalter etymologisch von vesper (  Abend  ) abgeleitet wird,
was auf die abendliche Dämmerung und das Zwielicht anspielt, als Zwitter bezeichnet
wird, könnte auch mit der mittelalterlichen Vorstellung von ihrer Zwischenposition
zwischen Vögeln und Säugetieren zusammen hängen, nahm man doch an, dass Fle-

35 Vgl.Alanus (  Sheridan  ), The Plaint of Nature (  wie Anm. 13  ), S. 88, Anm. 56, wo unter Rekurs auf
Vincent von Beauvais, der diese Tradition bereits kritisch hinterfragt hat, berichtet wird, dass der Storch
einen seiner Nachkommen dem Landesherrn, in dessen Land er sein Nest baut, als Tribut überlässt.
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 271

dermäuse keine Eier legten, sondern ihre Nachkommen lebend gebaren 36. Im Kon-
text des ‚Planctus‘ kommt der Erwähnung des Hermaphroditen vor dem Hintergrund
der Schelte gegen die sexuellen Aberrationen des Menschen zweifelsfrei Signalcha-
rakter zu. Möglicherweise soll angedeutet werden, dass es die von Alanus besonders
angeprangerten Laster, nämlich Verweichlichung und Homosexualität, durchaus auch
im Tierreich gibt, was Menschen und Tiere einmal mehr verbinden und ähnliche mora-
lische Kategorisierungen rechtfertigen würde.
Lasterhaftigkeit und Tyrannei finden sich im Katalog der Tierbeschreibungen
jedoch nicht nur im Bereich der hier besonders detailliert analysierten Lufttiere, son-
dern auch bei anderen Gattungen. Denken kann man zum Beispiel an den Fische
fressenden Hecht, von dem es heißt, er halte seine Untergebenen auf tyrannische
Weise im Gefängnis seines Leibes gefangen (  K ap. 2,27, S. 46  ) 37. Der Wolf wird vom
Erzähler als Dieb bezeichnet, der es verdiene, in der Luft an einem Galgen aufgehängt
zu werden (  K ap. 2,31, S. 50  ). Gleich danach wird der Panther als Räuber bezeichnet
und mit dem Negativexempel des römischen Kaisers Nero verglichen (  ebd.  ), ganz zu
schweigen vom Tiger, der das Blut unschuldiger Tiere vergieße und mit diesen gewalt-
samen Handlungen den Staat der Landtiere verletze und so der ganzen Gesellschaft
Unrecht antue (  ebd.  ). Dass die Natur mitunter anscheinend zugunsten der benachtei-
ligten Tiere eingreift, zeigt sich indessen am Wildesel, der durch den Befehl der Natur
von seinem Sklavendienst befreit worden sei (  ebd.  ). Moralische Bewertungen finden
sich in der Beschreibung also allenthalben.
Dass auch Tieren eine gewisse Wahlmöglichkeit zugestanden wird, was den Un-
terschied von Menschen und Tieren einmal mehr nivelliert, zeigt zum Beispiel der
Strauß, von dem gesagt wird, dass er ein Leben als Eremit bevorzuge, was ihm auch
Bernardus Silvestris bereits bescheinigt hat 38. Hier ist nicht nur der Gegensatz zwi-
schen vita saecularis und vita solitaria von Interesse, sondern auch, dass der Strauß die
Lebensform der Eremitage zu wählen scheint, denn es wird im Ablativus Absolutus
zwar passivisch formuliert, dass die weltliche Lebensform abgelegt worden ist, aber
das Tier ist der sinngemäße Agent, und zudem macht das Partizipium Coniunctum
eremita factus deutlich, dass der Strauß erst sekundär zum Eremiten wurde. Illic struc­
tio, vita saeculari postposita, vitam solitariam agens, quasi heremita factus, desertorum solitudines
incolebat. (  K ap. 2,20, S. 40  ). „Dort der Strauß, er verließ das weltliche Leben und führte
ein Einsiedlerdasein, gleichsam zum Eremiten geworden, bewohnte er verlassene Ein-
öden.“ In diesem Zusammenhang sind schließlich auch die Taube und die Turtel-
taube erwähnenswert: Während die Taube als vor Liebeslust trunken geschildert und
negativ bewertet wird (  K ap. 2,22, S. 42  ), weist die verwitwete Turteltaube, in treuer
36 Vgl. ebd., S. 94, Anm. 79. Vgl. dazu Köhler, Kommentar (  wie Anm. 13  ), S. 270. Überlegungen zur
Ziffer Null werden besonders bei Stolz, Bewegtes Beiwerk (  wie Anm. 14  ), S. 373 f., angestellt.
37 Vgl. dazu auch Alanus (  Sheridan  ), The Plaint of Nature (  wie Anm. 13  ), S. 97, Anm. 94; Köhler,
Kommentar (  wie Anm. 13  ), S. 277.
38 Vgl. Bernardus Silvestris (  Dronke  ), Cosmographia (  wie Anm. 4  ), 1,3,472. Vgl. dazu Köhler, Kom-
mentar (  wie Anm. 13  ), S. 260.
272 Beate Kellner

Verbindung zum verstorbenen Gatten, eine zweite Ehe zurück (  K ap. 2,23, S. 42  ), was
metaphorisch als Verweigerung eines Epilogs der Liebe bezeichnet wird. Hieran lässt
sich auch erneut illustrieren, wie Alanus Begriffe aus den Artes, hier der Rhetorik,
nutzt und auf die Inhaltsseite des Dargestellten verschiebt. Zudem wird in der Ver-
weigerung der Turteltaube wiederum eine gleichsam menschliche Haltung gezeigt, die
mit Intentionalität und Wahlmöglichkeit zu tun hat.

4.3 Zwischenfazit

Die Anthropomorphisierung der auf dem Gewand dargestellten Tiere, welche die von
Natura betonte strikte Grenze zwischen dem Tierreich und der Menschenwelt relati-
viert, bietet Raum für das Durchspielen verschiedener Lebensformen und Künste.
Der Grad der Anthropomorphisierung divergiert, das Spektrum reicht von der natur-
nahen Darstellung der Tiere bis hin zu ihrer fast vollständigen Vermenschlichung. So
sind auch die Tiere tugend- oder lasterhaft, so wird auch ihnen eine gewisse Wahl-
möglichkeit und Intentionalität unterstellt. Doch ein wesentlicher Unterschied bleibt,
er liegt in der Art und Freiheit der Wahl. Denn der Strauß hat zwar eine Wahl, aber
nur e i n e Wahl und jeder Strauß hat dieselbe Wahl, während dem Menschen kraft
seines freien Willens die Fülle der Optionen (  Tugenden, Laster, Lebensformen  ) zu
Gebote steht. Nur der Mensch allein hat nach dem ‚Planctus‘ die Möglichkeit zur freien
Wahl zwischen sensualitas und ratio, nur er kann sich von seinen niederen körperlichen
Trieben lossagen und seiner höheren Bestimmung als Vernunftwesen gerecht werden
oder zum Schlechten und Lasterhaften auf die Stufe des Tieres absinken. Die Tiere
dagegen folgen sowohl im Guten als auch in ihrer Schlechtigkeit und Lasterhaftigkeit
ihren angeborenen natürlichen Instinkten und Trieben. Sie erscheinen daher nicht als
Widersacher der Natur, die dieser wissentlich Gewalt antun wollen, denn sie leben in
ihrer virtus und in ihrem vitium ihrer Natur gemäß. Daher verletzen sie, auch wenn sie
schändlich sind, nicht die Gesetze der Natur und daher zeigt sich bei ihrer Darstellung
kein Riss auf Naturas Gewand. Insofern werden sie nicht schuldig gesprochen.
Dennoch wird deutlich, dass Schlechtigkeit und Lasterhaftigkeit im Kosmos
verbreitet sind und sich auch im Bereich der Tiere manifestieren. Die integumentale
descriptio enthüllt insofern durchaus gegenläufig zur plakativ von der Naturafigur selbst
herausgestellten Dichotomie von Mensch und Tier, dass der Kosmos auch jenseits des
Menschen nicht nur gut ist, sondern dass das Böse, die Tyrannis, der Bürgerkrieg, die
Gewalt, die Habsucht, der Neid auch hier um sich greifen. In letzter Konsequenz ent-
hüllt Natura, so möchte ich folgern, ihre eigene Ambivalenz und Unzulänglichkeit als
vicaria dei. Sie, die für die Schöpfung des Kosmos verantwortlich ist, hat offensichtlich
auch jenseits des Menschen nicht nur gute, sondern auch lasterhafte Geschöpfe mit
ihren entsprechenden Neigungen hervorgebracht.
Dass diese Schlussfolgerung nicht nur implizite Geltung beanspruchen kann, legt
Natura selbst offen: Sie hat nämlich, wie sie an späterer Stelle des Textes selbst ein-
gesteht, nur solange keine Fehler bei der Schöpfung der Kreaturen gemacht, als sie
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 273

diese im direkten Auftrag Gottes und unter seiner unmittelbaren Aufsicht als Abbilder
nach dem Vorbild der göttlichen Ideen hervorgebracht hat (  ad exemplaris rei ymaginem,
exempli exemplans effigiem, Kap. 8,30, S. 110  ). Der literarischen Inszenierung des ‚Planc-
tus‘ nach wird dieses Erschaffen durch die Natur als Akt des Schreibens bezeichnet,
bei dem sie von der rechten Hand der höchsten göttlichen Autorität geführt wurde,
damit sie mit dem Griffel nicht abrutschen und in die Irre gehen würde:
Ita tamen sub divinae potestatis misterio ministerium huius operationis exercui ut meae actionis manum dextera
supremae auctoritatis dirigeret, quia meae scripturae calamus exorbitatione subita deviaret nisi supremi Dispensatoris
digito regeretur (  ebd.  ).

„So jedoch habe ich den Dienst dieses Wirkens unter dem Geheimnis der göttlichen Macht aus-
geführt, dass die rechte Hand der höchsten Autorität meine Hand im Tun führte, weil der Griffel
meiner Schrift sonst in plötzlichem Abrutschen hätte abweichen können, wenn er nicht (  mehr  ) durch
den Finger des höchsten Schatzmeisters gelenkt würde.“

Der Dichter und mit ihm die Rezipienten können Gott und der Natur dieser literari-
schen Darstellung nach beim Schöpfungsvorgang zusehen. Dieser wird metaphorisch
als Schreiben des Kosmos verstanden 39. Im Hintergrund der im ‚Planctus‘ hier und
an vielen anderen Stellen bedeutsamen Schreibmetaphorik steht die Lehre von den
zwei Büchern, die man als Brücke zwischen der Auffassung der Allegorie als Ver-
fahren der Bibelauslegung und als Verfahren der ontologischen Deutung des Kosmos
verstehen kann. Hier hat man einen Beleg, wie das eine im mittelalterlichen Denken
ins andere übergeht. Doch folgt man der Darstellung des ‚Planctus‘ weiter, scheint
die Natur, trotz ihrer göttlichen Unterstützung, mit der großen und vielfältigen Auf-
gabe, mit der Gott sie betraute, überfordert gewesen zu sein. Deshalb habe sie sich,
gewissermaßen erschöpft von ihren Aufgaben, lieber in die ruhigeren himmlischen
Regionen ­zurückgezogen, nicht ohne vorher der unzulänglichen Venus die Aufgabe
der Überwachung der Zeugungsvorgänge (  K ap. 8,31, S. 110  ) und damit einen überaus
wirkungsvollen Griffel (  calamum praepotentem, Kap. 10,2, S. 122  ) zu überantworten. Da
Venus versagt und ihre Aufgabe vernachlässigt, kommt das Böse nach der Erzählung
der Natur in die Welt.
Doch fällt diese Schuldzuweisung auf die Natur selbst zurück, wenn man die
Kette der Instanzen wieder rückwärts verfolgt und bedenkt, dass gerade sie es ist, die
sich der ihr von Gott übertragenen Aufgabe entzieht. Zugleich wird ersichtlich, wie die
Frage nach der Entstehung des Bösen über den Instanzenzug der Personifikationen
in der integumentalen Erzählung von Gott selbst abgelenkt wird. Die hier im Detail
betrachteten Passagen lassen den Dichter und die Rezipienten nach den Worten Na-

39 Vgl. zu den Verbindungen der Schreibmetaphorik mit dem Stilbegriff Michael Stolz, stilus – calamus –
griffel – stift. Zur metonymischen Metaphorik des Stilbegriffs in der mittellateinischen und mittelhoch-
deutschen Literatur, in: Elisabeth Andersen u. a. (  Hgg.  ), Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung
zwischen Konvention und Innovation. 22. Anglo-German Colloquium Düsseldorf, Berlin – New York
2015, S. 39–59, hier S. 44–50.
274 Beate Kellner

turas Einsicht darin nehmen, wie das Buch der Schöpfung geschrieben wird. Fehler,
Laster und das Böse erscheinen nach dieser Vorstellung als Fehlleistungen und Falsch-
schreibungen der Natur.

4.4 Materialität und Medialität. Perspektiven der Wahrnehmung und des Erzählens

Was die Materialität und Medialität der Gewandschichten betrifft, fällt auf, dass die
verschiedenen Hüllen dem Dargestellten jeweils so angepasst sind, dass sich eine per-
fekte Übereinstimmung zwischen den Stoffen und den auf ihnen dargestellten Bildern
ergibt. In philosophische Termini übersetzt, ist hier das Zusammenspiel von Form und
Materie auf bestmögliche Weise umgesetzt 40. Die als erste beschriebene Gewand-
schicht, die vestis, ist ein Überwurf (  K ap. 2,19, S. 38–40  ), der, aus ganz feiner Wolle
gewebt, kunstvoll in verschiedenen Farben von lilienweiß über blutrot bis zu sma-
ragdgrün changiert. Damit kommt ein zeitlicher Aspekt ins Spiel, denn es wird mit pri­
mitus, Secundo und Tertio (  K ap. 2,19, S. 40  ) das Nacheinander der verschiedenen Farben
vor dem betrachtenden Auge entwickelt, wodurch Bewegung angezeigt ist. Zugleich
wird betont, dass die Farben unterschiedliche Wirkungen auf den Betrachter haben:
Während die lilienweiße Farbe beim Anblick schmerzt (  offendebat intuitum, ebd.  ), erfreut
das Smaragdgrün die Augen (  ebd.  ). Schließlich ist auch die Symbolik der Farben von
Bedeutung, denn das Purpurrot verweist nach den Worten des Sprechers über die Röte
des Blutes auf Reue und das Bemühen um Besserung (  ebd.  ). Wenn die smaragdgrüne
Farbe den Gipfel der Vollkommenheit (  ad cumulum perfectionis, ebd.  ) anzeigt, so könnte
dies im Licht der soeben erläuterten moralischen Kategorien auf ethische Vortreff-
lichkeit zielen. Der über die Metaphorik und Symbolik der Farben angedeutete Sub-
text wäre dann einer des Aufstiegs zur Vollkommenheit, der möglicherweise bei der
Beschreibung des Gewandes zugleich auch schon als Programm für den Menschen
formuliert wird 41. Folgt man dieser Lesart, wird deutlich, dass der Text mit ver-
schiedenen Sinnebenen spielt, die je nach Bildung des Rezipienten in unterschiedlicher
Tiefe erschlossen werden können 42.
In jedem Falle stellt das Obergewand, die vestis, mit ihrer Zartheit ihre Materialität
in Abrede, sodass der Stoff sich einer Erforschung durch die Augen entzieht (  sub­
terfugiens oculorum indaginem, ebd.  ) und man hätte glauben können, er sei wesensgleich
mit der Luft selbst: [  Vestis  ] ad tantam materiae tenuitatem devenerat, ut eius aerisque eandem

40 Doch während der Dichter im vierten Metrum Natura als diejenige preist, welche die einzelnen Arten
der Dinge wie Münzen prägt (  singulas rerum species monetas, Kap. 7, V. 14, S. 86  ) und jedes Ding gleichsam
mit einer Toga formend bekleidet und mit dem Daumen das Gewand der Form bildet (  r em togans forma,
chlamidemque formae | pollice formans, Kap. 7, Vv. 15 f., S. 86  ), entspricht das Tuch hier der Materie und die
Bilder den Formen. Man sieht, wie Alanus das Zusammenspiel von Form und Materie variiert.
41 Dies lässt sich über die Abfolge der Verben offendebat, dann velut paenitentia ducta, quasi laborans sowie
applaudebat noch erhärten (  K ap. 2,19, S. 40  ).
42 Vgl. dazu den Prolog zum ‚Anticlaudian‘ mit der Unterscheidung der Rezipienten je nach ihrem Bil-
dungsgrad und ihrer Zuordnung zu verschiedenen Sinnschichten des Textes.
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 275

crederes esse naturam (  ebd.  ). Die zweite Gewandschicht, sindo, auf der die Wassertiere
repräsentiert sind, scheint so kunstvoll gewirkt zu sein, dass ihre grüne Farbe und ihre
Fadenführung den Eindruck von Wasser hervorrufen (  K ap. 2,25, S. 44  ). In solchen
Passagen kommt die Perspektive des Betrachters ins Spiel, die doppelt besetzt ist: Zum
einen ist der Dichter und Visionär gemeint, vor dessen Augen Natura steht und der
nun ihre Gewänder betrachtet, doch zum anderen scheint sich die Perspektive auch
auf die Rezipienten des ‚Planctus‘ hin zu öffnen, die gewissermaßen in seine Vision
hineingezogen werden, so als könnten auch sie die Gewandschichten mit ihren eigenen
Augen erkennen. Am deutlichsten wird dies im Kontext der resümierenden Passagen,
die der Beschreibung der Tunika angehängt sind. Hier wird die schauspielerische Dar-
stellung der Figuren auf den Bildern (  hystrionalis figurae representatio, Kap. 2,33, S. 52  )
gleichsam als ein Festmahl der Freude (  quasi iocunditatis convivia, ebd.  ) bezeichnet, das
den Augen der Zuschauenden dargeboten wird (  oculis donabat videntium, ebd.  ). Wie an
anderen Stellen des ‚Planctus‘ auch wird hier wieder das Theaterparadigma bemüht 43,
indem die abgebildeten Tiere metaphorisch als Schauspieler aufgefasst werden, die für
die Rezipienten ein Spektakel aufführen.
Die Vorstellung von der Vision des Sprechers, der die Bilder auf dem Diadem
und den Gewändern Naturas vor seinem inneren Auge sieht, wird in den wiederholt
verwendeten Nomen und Verben fantasia (  z.  B. Kap. 2,9, S. 32  ), imaginari, imaginatio
(  z. B. ebd.  ) und videri (  z. B. Kap. 2,8, S. 32  ) durchgängig präsent gehalten 44. So wird
gleich am Beginn des Abschnitts über die vestis zusammenfassend gesagt, das Kon-
zil der Lufttiere sei auf dem Gewand so dargestellt gewesen, wie es das Auge im
Traumbild imaginiert (  In qua, prout oculus in picturae imaginabatur sompnio, aerii animalis
celebrabatur concilium, Kap. 2,19, S. 40  ). Damit wird das Sehen der Bilder nicht nur ganz
in die Imagination verlegt, sondern zugleich wird auch der Vision des Dichters der
Status eines Traums zugewiesen. Und schließlich wird eine weitere Perspektive er-
öffnet, wenn etwa über die Bilder auf den Schuhen und dem Hemd gesagt wird, sie
würden selbst träumen: Quid vero in caligis camisiaque in superioribus vestibus consepultis pic­
turae sompniaret industria, nulla certitudinis auctoritate probavi (  K ap. 2,34, S. 52  ). „Was aber
die fleißige Betriebsamkeit des Bildes auf den Schuhen und dem Hemd, das unter
den darüberliegenden Gewändern verborgen war, träumte, habe ich nicht mit hin-
reichender Gewissheit in Erfahrung gebracht.“ Das Träumen, das vorher der Vision
des Sprechers zugeordnet worden ist, wird hier auf die Bilder übertragen, womit sie
zum eigentlichen agens werden. In ähnlicher Weise wird die positive Wirkung der auf
den Schuhen dargestellten Blumen dem ingenium des Bildes selbst zugewiesen (  picturae
ingenio, Kap. 2,34, S. 54  ), wodurch wieder das Bild als Akteur erscheint.
Dazu gehört, dass die Kraft all dieser Bilder, die auf den Dichter und die Re-
zipienten wirken, als magisch und wunderbar (  z. B. miraculo, Kap. 2,27, S. 48; picturae

43 Vgl. etwa die oben besprochenen Ausführungen zum Raubvogel Milan.


44 Vgl. Stolz, Bewegtes Beiwerk (  wie Anm. 14  ), S. 366 f.
276 Beate Kellner

incantatio, Kap. 2,28, S. 48  ) bezeichnet wird 45. So scheinen die Wassertiere auf dem
Pallium wie durch ein Wunder zu schwimmen (  K ap. 2,27, S. 48  ) und so bringt der
Zauber des Bildes die Landtiere zum Leben: In quibus quaedam picturae incantatio terrestria
animalia vivere faciebat (  K ap. 2,28, S. 48  ). Bemerkungen dieser Art rufen die Vorstellung
hervor, dass die Bilder einerseits aufgemalt sind, aber andererseits in der Vision des
Sprechers und im Auge der Rezipienten auf magische Weise bewegt erscheinen. Ins-
gesamt ergibt sich der Eindruck von Bildern, die sich vor dem Auge des Betrachters
gleichsam wie ein Film entwickeln. Die Bilder ahmen die Wirklichkeit zwar bloß nach,
sie sind defizitär: So wird das Bild als bloßer Affe der Wirklichkeit (  prout veritatis si­
mia pictura, Kap. 2,8, S. 32  ) oder als gekonnte Täuschung (  ut faceta picturae loquebantur
mendacia, ebd.  ) bezeichnet. Aber die Bilder haben nach der Darstellung des Alanus
offensichtlich das Vermögen, diese ontologische Nachordnung durch ihre Wirkung
zu kompensieren 46.
Dass es letztlich im Unbestimmten bleibt, wie die Bilder von den Rezipienten des
Textes wahrgenommen werden sollen, verdeutlicht besonders der folgende Satz, der
die Beschreibung der vestis beschließt und zum literalen oder allegorischen Verständnis
der Bilder folgendermaßen Stellung bezieht: Haec animalia, quamvis ibi quasi allegorice
viverent, ibi tamen esse videbantur ad litteram (  K ap. 2,24, S. 44  ). „Diese Tiere schienen, wie-
wohl sie dort gleichsam wie in einer Allegorie lebten, doch im buchstäblichen Sinne
dort zu sein.“ Das auch hier verwendete Verbum des Scheinens und der Einbildung vi­
deri sowie Relativierungen des Dargestellten über Vergleichspartikel wie quasi erhöhen
die Unsicherheit in der Frage, ob man die Tiere allegorisch oder wörtlich nehmen soll.
Die Aussage, dass die Lebewesen im wortwörtlichen Sinne auf den Gewändern zu
existieren schienen, hängt mit der den Bildern supponierten mitunter als täuschend
‚naturalistisch‘ bezeichneten Darstellung oder Vorspiegelung zusammen. Indem im
Auge des Betrachters ihre ontologische Defizienz offensichtlich keine Rolle spielt,
scheinen die Lebewesen auf ihnen nicht nur bloß im uneigentlichen Sinne zu leben,
sondern tatsächlich. Entscheidend ist also die Wirkung, durch die das Bild mit anderen
Mitteln als der Text seinen Status als etwas nur Nachahmendes gewissermaßen verges-
sen lassen kann. Daher können die Bilder nicht nur allegorice, sondern auch ad litteram
betrachtet werden.
Der Wechsel der Perspektiven sowie auch das Schwanken zwischen einer wort-
wörtlichen und einer allegorischen Lesart machen die descriptio der Naturafigur zu ei-
nem multiperspektivischen Textabschnitt, in dem ohne Zweifel ein hintersinnig litera-
risches Spiel mit den verschiedenen Wahrnehmungsformen, den Deutungsweisen und
dem Realitätsstatus der Bilder betrieben wird. Die Position des Visionärs und Erzäh-
lers ist hier nicht leicht zu fassen und zu bestimmen, da er träumt, (  aber auch die Bilder
selbst träumen  ) und vielfach im Unbestimmten verbleibt, wer genau was sieht, was
auch den Rezipienten zugänglich ist und ob es sich um bewegte oder aufgemalte Bil-

45 Vgl. dazu ebd., S. 372.


46 Vgl. die grundsätzlichen Ausführungen dazu von Bezner, Vela Veritatis (  wie Anm. 5  ), S. 545–547.
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 277

der handelt. Ganz entscheidend sind die Einlassungen zu Medialität, Materialität und
ontologischem Status der Bilder als bloß nachahmend und sogar täuschend, und ihrer
Wirkung, welche die Defizienz des Mediums zu überwinden scheint. Möglicherweise
soll verdeutlicht werden, dass die Differenz zwischen literalem und allegorischem Sinn
im Bildmedium stärker als im sprachlich verfassten Text, der den Status der Bilder und
ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten ganz genau analysiert, verschwimmen kann.

5. METAPHORIK DER VERHÜLLUNG

Da die Metapher gewissermaßen Rückgrat und Kern der Allegorie bildet, möchte ich
nun zusammenfassend auf die schon hier und dort angesprochene Metaphorik der
Verhüllung, des Bekleidens und Webens eingehen, in der sich die für Alanus’ Text
leitende Vorstellung des integumentum noch einmal abbildet. Sie spielt auf den unter-
schiedlichsten Ebenen der Erzählung eine Rolle: So bekundet der Sprecher beispiels-
weise, das Mädchen habe ihm mitgeteilt, dass es selbst sein pallium, das sindon, ohne jede
Naht aus einem ganz besonderen Stoff gewebt habe: Sindo [  …  ] quam puella inconsutiliter,
ipsa postmodum dicente, texuerat, non plebea vilescens materia (  K ap. 2,25, S. 44  ). An späterer
Stelle des Textes wird ersichtlich, dass Natura nicht nur ihr Kleid, sondern auch ihre
Erzählung webt: volens seriem narrationis contexere (  K ap. 8,26, S. 104  ). Sie möchte sich
dabei eines höheren und erhabeneren Stils bedienen (  ebd.  ) und ihre Themen (  proposita,
ebd.  ) mit verschiedenen Farben schöner Worte und Ausdrücke bekleiden (  variisque
venustorum dictorum coloribus investire, Kap. 8,26, S. 106  ). In rhetorischen Termini wird
hier auf die elocutio als das Ausschmücken der Rede mit Stilmitteln verwiesen, wobei
die auf Cicero zurück geführten colores rhetorici ins Spiel kommen. Deutlich wird aber
auch, dass Natura mit diesen Tätigkeiten den Schöpfer nachahmt, von dem es ebenfalls
heißt, er als der allumfassende Künstler habe das Gesamt seiner Geschöpfe mit ihrem
Aussehen eingekleidet: Sed postquam universalis artifex universa suarum naturarum vultibus
investivit [  …  ] (  K ap. 8,29, S. 108  )  47.
Zugleich ist die Metaphorik des Verhüllens und Bekleidens aber auch von Fall
zu Fall in die Geschichten involviert, die von den auf dem Gewand der Natur dar-
gestellten Tieren erzählt werden. So wird im Zusammenhang der Landtiere vom Wild-
esel behauptet, er habe seine Sklaverei wie ein Gewand abgestreift (  exuens servitutem,
Kap. 2,31, S. 50  ), der Ziegenbock erscheint in einen vornehmen Mantel gehüllt (  Illic
caper, lana vestitus sophistica, Kap. 2,32, S. 50  ) und vom Hermelin wird behauptet, es habe
abgelehnt, in einem wertlosen ärmlichen Aufzug zu heiraten und sich stattdessen in
einem eleganten Purpurkleid (  eleganti suturae matrimonio purpurae iugabatur, Kap. 2,33,
S. 52  ) der Ehe unterzogen 48. Nicht verwundern wird es vor diesem Hintergrund, dass

47 Vgl. zur von Platons ‚Timaios‘ abgeleiteten Topik von ‚Gott als Bildner‘ Curtius, Europäische Literatur
(  wie Anm. 14  ), S. 527–529.
48 Vgl. Stolz, Bewegtes Beiwerk (  wie Anm. 14  ), S. 370, mit weiteren Beispielen. Im Blick auf das Herme-
lin fällt der Begriff der Naht, während die Natur ohne Naht webt.
278 Beate Kellner

es auch von den auf dem Hemd aufgemalten Bäumen heißt, sie seien bald mit purpur-
nen Tuniken bekleidet, bald mit grünen Haaren bedeckt (  K ap. 2,34, S. 52; Kap. 3, Vv.
25–28, S. 56 über die Blumen  ).
Schließlich ist im Blick auf die Metaphorik des Verhüllens noch eine jener Passa-
gen zu erwähnen, in denen das Unrecht, das der Mensch der Natur antut, angeprangert
wird, denn hier fällt im Blick auf Naturas Kleid und den Riss auf der Tunika der Be-
griff integumentum (  K ap. 8,24, S. 104  ). Doch es geht nicht nur um das Kleid der Dame,
sondern ganz offensichtlich wird hier zugleich auch auf die literarische Technik des
integumentum verwiesen 49. Damit wird jenes Konzept thematisch, über das man, wie
erwähnt, nicht nur den Sinn antiker Dichtungen für die christliche Tradition fruchtbar
machen konnte, sondern auch neue allegorische Erzählungen erfinden, um mit deren
Hilfe tiefere Wahrheiten in einem poetischen Text zu verhüllen 50. Eben dies macht
Alanus im ‚Planctus‘ und ganz in solchem Sinne spielt die Metaphorik des integumentum
auf den beiden Ebenen discours und histoire eine zentrale Rolle. So wird deutlich, dass
die Verhüllung der Natura in den verschiedenen Schichten ihres Gewandes eine in-
nerliterarische Spiegelung der Technik des integumentum in der gesamten Erzählung
darstellt: Wie in einer mise en abyme wird diese noch einmal im Gewand der Natur aus-
gestellt. Meine These lässt sich noch dadurch erhärten, dass die descriptio, wie gezeigt,
auch in ihren Details von der Begrifflichkeit des Verhüllens geprägt ist.
Schließlich wird diese Metaphorik auch in den Einlassungen der Natur über die
Dichtkunst wieder verwendet. Als kennzeichnend für die Poesie wird insbesondere
die Verbindung von äußerer Hülle des Buchstabens, die mit Falschheit konnotiert ist,
und innerem süßen Kern der Wahrheit erachtet, zu dem der Leser vordringen soll
(  K ap. 8,17, S. 100  ). In den Texten der Dichter seien schließlich bisweilen geschicht-
liche Ereignisse und unterhaltsame Geschichten in einer feinen Naht (  eleganti sutura,
Kap. 8,18, S. 100  ) so verbunden, dass aus der Verknüpfung ein noch feineres Bild der
Erzählung resultiere: ut ex diversorum competenti iunctura ipsius narrationis elegantior pictura
resultet (  ebd.  ). Wie bei der descriptio der Gewandschichten Naturas werden pictura und
narratio auch hier erneut enggeführt.
Das Verhüllen ist mithin, wie gezeigt werden konnte, auf den verschiedenen onto-
logischen Ebenen, um die es im ‚Planctus‘ geht, präsent: Gott kleidet als universalis artifex
die Natur in der Schöpfung ein, die Natur webt ihr Kleid, das die Naturdinge reprä-
sentiert, und die einzelnen Dinge sind selbst verhüllt (  wie zum Beispiel die Bäume mit
Laub oder das Hermelin mit seinem Fell  ). Zugleich webt die Natur auch das Kleid ihrer
Erzählung. Im Verhüllen, Weben und Nähen erweist sich schließlich auch der Dichter
als Nachschaffender der Natur, die ihrerseits auf niedrigerer Stufe ausführt, was der
Schöpfer begonnen hat. Sprachlich zeigt sich dies auch im exuberanten Gebrauch der
Stilfigur des Polyptoton und der Figura etymologica durch den Dichter. Er stellt auf
diese Weise aus, wie er ein Wort aus einem anderen hervorgehen lässt und den Text

49 Vgl. dazu auch ebd., S. 373 f.


50 Vgl. Bezner, Vela Veritatis (  wie Anm. 5  ).
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 279

produziert. In dieser Perspektive hat die Dichtung mimetische Qualität in Bezug auf
die Natur und in Bezug auf Gott, der mit Bedacht als artifex universalis bezeichnet wird.
Betrachtet man die Position des Erzählers in diesem Licht, dann erweist sich der
‚Planctus‘ als Schrift, welche nicht nur die Bedeutung der allegorischen Dichtung auf
vielen Ebenen deutlich macht, sondern auch auf die Ermächtigung des Dichters zum
nachschaffenden Schöpfer zielt. Dies lässt sich einmal mehr dadurch unterstreichen,
dass dem Dichter mit Phantasie, Imagination, Traum und Vision Möglichkeiten und
Fähigkeiten zugesprochen werden, Dinge sichtbar und erkennbar zu machen, die an-
deren verborgen bleiben, aber durch ihn zugänglich werden können.
Was das Verhüllen und Enthüllen betrifft, erscheint seine Aufgabe als zentral:
Dichtung ist zwar auf der oberflächlichen Ebene der Verhüllung über den Buchstaben
mit falsitas konnotiert, doch in ihrem süßen Kern kann der Leser veritas finden (  ut
[  …  ] dulciorem nucleum veritatis secretae intus lector inveniat, Kap. 8,17, S. 100  ). Mit Kern
und Hülle für die Dichtung und ihre Falschheit und Wahrheit bemüht Alanus Bilder,
die altererbt sind und bis in die Neuzeit, zum Beispiel noch bei Rabelais 51 für den
Literalsinn und den allegorischen Sinn zu finden sind. Der Dichter vermittelt daher in
der allegorischen Erzählung die Wahrheit, die im Text verhüllt wird. Der Literalsinn
wird in den Passagen über die Dichtkunst gegenüber dem tieferen Sinn zwar deutlich
abgewertet, doch im Verlauf der Erzählung wird immer wieder deutlich, dass er neben
dem allegorischen Sinn keine unwichtige Rolle als Ausgangspunkt der Text- und Bild-
rezeption spielt.

6. FAZIT

Alanus’ ab Insulis ‚De planctu Naturae‘ zeigt sich mit der Fülle seiner Instanzen und
Personifikationen, ihren verschiedenen Zuständigkeiten und Aufgaben als vielschich-
tiges Werk, das zentrale philosophische Fragen wie die Entstehung des Kosmos und
die Bezüge von Mikrokosmos und Makrokosmos, die Relation von Gott, Mensch, Tier
und Natur, das Wesen der Natur und des Menschen, die Genese des Bösen in der Welt
sowie die Möglichkeiten der Restitution des Guten reflektiert. Ziel des Beitrags war
es, herauszuarbeiten, was die Verfahren Allegorie und integumentum im Hinblick auf
die Deutung und Erklärung des Kosmos im beschriebenen Fragehorizont leisten. Der
Auftritt der als weibliche Schönheit inszenierten Natur in einer Vision des Dichters
und seine Beschreibung ihrer Person und Gewänder nimmt im Rahmen der integu-
mentalen Handlung eine Schlüsselposition ein. Für eine umfassende Analyse dieser
Passagen war nicht nur die Darstellung der Lebewesen und Pflanzen auf den Kleidern
mit der vermeintlichen Dichotomie von Menschen und Tieren in Betracht zu ziehen,
sondern auch die Medialität und Materialität der Gewänder, die Perspektiven ihrer
Wahrnehmung und damit verbunden die Erzählhaltung und die Rolle des Erzählers
als Visionärs.

51 Vgl. etwa den Prolog zu Rabelais’ ‚Gargantua‘.


280 Beate Kellner

Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Natur, welche die Entstehung des
Bösen auf ihre Helferin Venus und den Menschen, der sie vergewaltigt und schändet,
abzuwälzen versucht, auch selbst Verursacherin ist. So bemüht sie sich zwar um die
Restitution des Guten, doch durch ihre Unzulänglichkeit (  in der Schreibmetaphorik
ausgedrückt: durch ihr Abrutschen mit dem Griffel und durch ihr Falschschreiben  )
konnte das Schlechte und Böse, das sich entgegen der vordergründig behaupteten
Dichotomie von Tier und Mensch auch bis ins Tierreich erstreckt, überhaupt erst
entstehen. Insofern hat sich aus der Analyse heraus zeigen lassen, dass die Natur im
‚Planctus‘, wiewohl sie über die Schlechtigkeit der Welt trauert, auch selbst ambivalent
ist, denn sie ist es letztlich, die das Chaos im Kosmos allererst verursacht, das sie später
beklagt.
Die exuberante Metaphorik des Verhüllens und Bekleidens, die besonders die
besprochenen Passagen prägt, sich aber auch im gesamten Text des ‚Planctus‘ findet,
verknüpft die unterschiedlichen Themen und Sachaspekte ebenso wie die Ebenen von
discours und histoire. Nicht zuletzt stiftet sie einen engen Zusammenhang zwischen dem
Handeln Gottes und jenem der Natur sowie auch jenem des Dichters. Zudem lässt sich
die Metaphorik des Verhüllens und Enthüllens nicht nur zur dichterischen Produktion
der allegorischen Erzählung als eines integumentum in engen Bezug setzen, sondern
sie hängt auch mit den Fragen nach ethischen Normen und Werten und besonders
nach der Wahrheit zusammen. Die Wahrheit des Kosmos wird dem Dichter in der
integumentalen Erzählung im Auftreten und den Bildern der Natur enthüllt. Dazu
gehört auch ganz wesentlich, dass Natura im ‚Planctus‘ nicht nur in ihren herrlichen
Gewändern und in ihrer Schönheit beschrieben wird, es geht nicht nur um das Wesen
der Natur und die Darstellung ihres Seins, sondern auch um Normativität und Moral,
die mit ihrer Hilfe wieder durchgesetzt werden sollen 52, um jenes goldene Zeitalter
des Friedens herbeizuführen, in dem der homo novus et perfectus im ‚Anticlaudianus‘ die
Herrschaft übernehmen wird 53.
Insofern sind gerade der ‚Planctus‘ und der ‚Anticlaudian‘ Texte, in denen die phi-
losophischen Fragen, wie man vom Sein der Natur zum Sollen kommt, wie Unordnung
in die Welt kommt und Ordnung auf den Ebenen der Natur, der Sexualität, der Artes
und der Moral erneut geschaffen werden kann, in der poetischen Form einer Vision
erörtert werden 54. Nicht nur die Metaphorik des Verhüllens, sondern die Metaphorik
insgesamt spielt eine wichtige Rolle bei der Frage nach den Dichotomien von Gut

52 Dagegen diskutiert Rollo, ob es sich beim ‚Planctus‘ nicht um einen extrem selbstreflexiven und selbst-
widersprüchlichen Text handelt, der tendenziell zu eben denjenigen Begierden und Gelüsten führt,
vor denen er warnen will, und der als das Werk eines Homosexuellen zu betrachten ist. Dieser enthülle
und betone, was er verhüllen will. Vgl. David Rollo, Kiss my Relics. Hermaphroditic Fictions of the
Middle Ages, Chicago – London 2011, S. 216 f.; Ders., Nature’s Pharmaceuticals. Sanctioned Desires
in Alain of Lille’s De planctu Naturae, in: Exemplaria 25,2, 2013, S. 152–172, hier S. 168–170.
53 Vgl. jetzt Meier, Homo pacificus (  wie Anm. 14  ), S. 147–156.
54 Zu „Moralisierung des Kosmologischen“ und zur „Naturalisierung der Moral“ vgl. Bezner, Vela Veri-
tatis (  wie Anm. 5  ), S. 532–535, Zitate 532.
Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung 281

und Böse, Wahrheit und Falschheit, Mensch und Tier, die den ‚Planctus‘ prägen 55.
Sie ist ein wesentliches Vehikel bei der Integration der theologischen, erkenntnistheo-
retischen, moralisch-ethischen, anthropologischen und ontologisch-kosmologischen
Aspekte in die philosophische Spekulation.
Auf die noch viel zu wenig beachtete Bedeutung der figurativen Rede im philoso-
phischen Kontext hat jüngst Ruedi Imbach hingewiesen und nach der Untersuchung
einiger Bildfelder angemerkt, dass hier noch ein großes Forschungsfeld zu beackern
und produktiv zu machen ist 56. Diesem Aufruf habe ich hier nachzukommen ver-
sucht. Schließen möchte ich mit einem Zitat Ludwig Wittgensteins aus den ‚Vermisch-
ten Bemerkungen‘, wo er sagt: „Ich glaube meine Stellung zur Philosophie dadurch
zusammengefaßt zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfte man eigentlich nur
dichten.“ 57

55 Vgl. ebd., S. 535–550 zu „Metaphern als Denkraum“, Zitat 535.


56 Vgl. Ruedi Imbach, Figura veritatis. Vorläufige Hinweise auf einige Bilder der Philosophie bei mittel-
alterlichen Denkern, in: Michael Stolz (  Hg.  ), Randgänge der Mediävistik, Bd. 8, Bern 2019, S. 9–59.
57 Ludwig Wittgenstein, Über Gewissheit. Werkausgabe. Bemerkungen über die Farben. Über Gewiss-
heit. Zettel. Vermischte Bemerkungen, Bd. 8, hg. und neu durchgesehen von Joachim Schulte (  suhr-
kamp taschenbuch wissenschaft 508  ), Frankfurt am Main 61994, S. 483.

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