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DAGA2020 57MHaverkampZeit
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Michael Haverkamp
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Gegenwart im Grunde nicht ausgegangen werden kann. Ein und mit weiteren Analogien räumlicher Bewegung zu
logischer Ansatz führt daher nicht zu Ergebnissen, die mit begreifen.
unserer Alltagswahrnehmung übereinstimmen. Diese
Bereits im 19. Jahrhundert war bekannt, dass die Abfolge
unterscheidet sich hingegen grundsätzlich von derart
der Monate des Jahres im Bewusstsein in ganz
theoretischen Befunden der Logik. Es zeigt sich, dass die
unterschiedlichen Formen repräsentiert sein kann. Wie
Gegenwart in unserem Bewusstsein nicht auf einen (quasi
Abbildung 2 belegt, ergaben Befragungen von Erwachsenen
mathematischen) Punkt auf einer Zeitachse bezogen ist.
und Kindern sowohl lineare, als auch gekrümmte oder in
Vielmehr nimmt die Alltagsgegenwart in unserem
sich geschlossene Formen von Jahresdiagrammen [5].
Bewusstsein einen ausgedehnten Bereich ein. Abbildung 1
Derartige visuelle Formen nichtvisueller Inhalte wurden zu
zeigt als Beispiel die graphische Darstellung von
dieser Zeit als Photismen bezeichnen. Akustiker sind es
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer
aufgrund der üblichen Darstellungsweisen der betrachteten,
Versuchsperson [4]. Die Vorstellung der Gegenwart umfasst
z.B. gemessenen physikalischen Prozesse gewohnt, in
nicht nur den Bruchteil einer Sekunde, sondern je nach
kartesischen Koordinaten zu denken, wobei die Zeit linear
Thema der Betrachtung zum Beispiel auch die nächsten
von links nach rechts verläuft. Die intuitive Plausibilität
Handgriffe, „diesen Vormittag“, „diese Wochen vor dem
solcher Zeitachsen wird durch die im jeweiligen Kulturkreis
Urlaub“ oder die Welt im ersten Viertel des 21.
übliche Schreibrichtung unterstützt. Es ist denkbar, dass
Jahrhunderts.
diese Gewohnheit auch das subjektive Zeiterleben im Alltag
beeinflusst.
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Unterscheidungsmerkmal ist dabei die subjektive gedacht werden. Abbildung 4 zeigt ein Beispiel für die
Perspektive der Betrachtung, die entweder von einem Punkt bewegungsgerechte Interpretation eines Klavierstücks [7].
des Zeitreihe oder losgelöst von dieser erfolgt [siehe z.B. 6]. Bewegungskurven sind keine mathematischen Funktionen
Für den ersten Fall beschreiben A-Reihen die Modalzeit, die im kartesischen Koordinatensystem, da sie Schlingen
sich relativ zur gerade subjektiv erlebten Gegenwart in aufweisen. Die Zeit verläuft vielmehr entlang der
Vergangenheit und Zukunft spannt (Abb. 3 oben). Sie Bewegungskurve.
beruhen daher auf dem subjektiven Standpunkt, der
Das Bewusstsein einer modalzeitlichen Ordnung beinhaltet
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft relativ zur eigenen
nicht einfach ein Nebeneinander der Anschauungen von
Position im Jetzt unterscheidet. Daraus lassen sich logisch
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hingegen gibt es
neben der schon angesprochenen These der Nichtexistenz
eine komplexe Interaktion der Repräsentation dieser drei
der Zeit auch Hypothesen ableiten, die nur Vergangenes und
Bereiche im Bewusstsein, wie Abbildung 5 stark vereinfacht
Gegenwärtiges (Possibilismus) oder nur Gegenwärtiges als
andeutet. Der Phänomenologe Edmund Husserl hat
existent anerkennen (Präsentismus, growing block model).
dargelegt, dass die momentane Wahrnehmung, die
Impression, unsere Vorstellung und Interpretation der
Vergangenheit wesentlich mitbestimmt, die Retention. In
umgekehrter Richtung bestimmen Erfahrungen der
Vergangenheit unser Gegenwartsbewusstsein ebenso wie
unsere Vorstellung von der Zukunft – als Protention.
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Beherrschung der Zeit aufweist.“ [9, S.79] Zyklische Darüber hinaus zeig sich, dass für die Wirkung von
Abläufe bestimmen den Alltag, die Einteilung des Tage, die Geräuschen und Musik nicht allein die momentane
Wochen, Monate und Jahre. Wie Abbildung 2 verdeutlicht, Einwirkung bedeutsam ist, sondern ebenso die
werden solche Zyklen häufig – jedoch nicht grundsätzlich – Repräsentation vergangener Einwirkungen im Bewusstsein
als geschlossene räumliche Formen aufgefasst. Musikalische (Retention) und die daraus abgeleitete Erwartung
Figuren können ebenfalls den Eindruck kreisartiger zukünftiger Einwirkungen (Protention) [8]. Retention und
Bewegung vermitteln´. Die aus acht Noten gebildete Protention bestimmen zu jeder Zeit die momentane
Circulatio gilt als rhetorische Figur, die eine kreisende Einwirkung, die zu physiologische Reaktionen und
Bewegung in einem Text verdeutlicht [10, S.114ff]. In Emotionen führt. Daher sind Schätzverfahren für die
schnellem Tempo wird die kreisende Bewegung jedoch ganz Wirkung von Geräuschen zu entwickeln, die das Potential
unmittelbar wahrgenommen. Dann verläuft die subjektive einer schlüssigen Vorhersage aufweisen. Ob dies unter
Zeit nicht mehr entlang einer linearen Achse, sondern kehrt Berücksichtigung individueller Präferenzen allgemeingültig
zyklisch zum Ausgangspunkt zurück. Die musikalische gelingt, ist zu prüfen.
Bewegung „tritt auf der Stelle“. Die Wahrnehmung ist dabei
Die in der Wahrnehmung aufscheinenden räumlichen
durchaus paradox: ein offensichtlich dynamischer und damit
Transformationen gehörter Prozesse sind für die subjektive
zeitlich fortlaufender Vorgang wird in der räumlichen
Wirkung/Bedeutung von Geräuschen wesentlich. Dies ist
Vorstellung zugleich einem zeitinvarianten Ort zugeordnet.
eine Folge der im Bewusstsein wirksamen Zeit-Raum-
Dies gilt natürlich nur dann, wenn die Periodizität noch
Transformation. Die Repräsentation der Zeit interagiert
auditiv erfassbar ist. Bei großer Geschwindigkeit der
dabei mit subjektiven, auditiv angeregten
dynamischen Änderung verliert sie den zeitlichen Charakter
Bewegungsvorstellungen. So können etwa Periodizitäten den
vollends und wird zu einer rein spektralen Qualität: die
Bewegungsgehalt von Geräuschen beruhigen oder ganz zum
Fluktuation wird zur Rauigkeit. Phänomenologisch
Stillstand bringen. Ein genaueres Verständnis subjektiver
betrachtet verschwindet dabei die Zeit.
Modelle von Zeit und Bewegung ist für die Beurteilung von
Geräuschen und Musik wesentlich. Die als intuitiv passend
empfundenen Arten der räumlichen Transformation der Zeit
im Bewusstsein müssen zwingend in die Analyse von
Geräuschen einbezogen werden.
Literatur
[1] Haverkamp, M.: Wie klingt, was wir hören? Das
Qualia-Problem in der Akustik. Berlin: DEGA, 2019,
820-23
[2] Haverkamp, M.: How does what we hear sound? The
qualia problem in acoustics. Proc. 23rd ICA, Aachen,
2019, 1418-25
[3] Heidegger, M.: Sein und Zeit. Tübingen: Max
Abbildung 6: Ein modulierter Sinusschall zunehmender Niemeyer, 2006. Orig. als Sonderdruck aus Husserl, E.:
Mittenfrequenz erzeugt die Wahrnehmung einer Rotation Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische
oder einer schraubenförmigen Bewegungskurve. Forschung, Bd.VIII, 1926
Der Sinus-Sweep mit ansteigender Mittenfrequenz der [4] Arnheim, R.: Anschauliches Denken. Zur Einheit von
Abbildung 6 wird als Ergebnis eines in sich rotierenden Bild und Begriff. Köln: DuMont, 61988, (11977).
Vorgangs aufgefasst. Während er physikalisch als
mathematische Funktion in kartesischen Koordinaten [5] Flournoy, Th.: Des Phénomenènes de Synopsie. Paris:
beschreibbar ist, erzeugt er die Wahrnehmung eines Félix Alcan & Genève: Ch. Eggimann, 1893
rotierenden Prozesses. Dem überlagert sich die Vorstellung [6] Sieroka, N.: Philosophie der Zeit. Grundlagen und
eines aufwärts bewegter Drehpunkt, weshalb derartige Perspektiven. München: C.H.Beck, 2018
Signale in frühen Science Fiction Filmen gerne rotierenden
Ufos zugeordnet wurden. Truslit hat ähnliche musikalische [7] Truslit, A.: Gestaltung und Bewegung in der Musik.
Vorgänge mit Hilfe schraubenförmiger Bewegungskurven Chr. Friedrich Vieweg, Berlin, 1938
dargestellt, z.B. das Winken der Isolde in Wagners ‚Tristan‘ [8] Husserl, E.: Phänomenologie des inneren
[7, Tafel 6]. Zeitbewußtseins. In: Phänomenologie der Lebenswelt.
Stuttgart: Reclam., 2002, nach dem Erstdruck von 1928
Bedeutung des Zeitbewusstseins für die
auditive Wahrnehmung [9] Wyller, T.: Was ist Zeit? Stuttgart: Reclam, 2016.
Orig.: Hva er TID. Oslo, Universitetsforlaget, 2011
Für die Rolle der subjektiven Zeit bei der
Schallwahrnehmung liefert die Phänomenologie wichtige [10] Bartel, D.: Handbuch der musikalischen Figurenlehre.
Ansätze. Diese bedürfen zur Ableitung einer subjektiven Lilienthal: Laaber Verlag, 72017
Geräuschdosis weiterer Analysen.
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