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Udo Thiedeke

Die Liebe der


Gesellschaft
Soziologie der Liebe als Beobachtung
von Unwägbarkeit

https://doi.org/10.5771/9783748906483
Generiert durch Bayerische Staatsbibliothek, am 27.04.2023, 12:12:45.
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Udo Thiedeke

Die Liebe der


Gesellschaft
Soziologie der Liebe als Beobachtung
von Unwägbarkeit

2.Auflage

Nomos

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Covermotiv: Udo Thiedeke „Für immer Dein“
Korrektorat: Alina Breidert

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in


der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8487-6583-6 (Print)
ISBN 978-3-7489-0648-3 (ePDF)

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1. Auflage 2020
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks
von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Für meine Tochter
Marlene Anna Thiedeke

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Vorwort

Um es gleich zu Beginn zu sagen: Nichts wird besser im eigenen Liebesle-


ben, wenn man sich intensiv und soziologisch mit der Liebe als gesell-
schaftlichem Phänomen beschäftigt. Für das eigene Liebeserleben gilt wei-
terhin, dass man den Leidenschaften, die einen erfassen, wenn man sich
verliebt, ebenso ausgeliefert bleibt, wie den Versprechungen, die einem ge-
macht werden und die man selbst macht. Mit süßem Leiden treibt sich das
Erleben der Liebeslust ebenso ins eigene Herz, wie das Erleben des Liebes-
frust, wenn man enttäuscht wird. – Amor macht hier keine Unterschiede.
Mit den Unmöglichkeiten der Liebe, den Zufall auf Dauer zu stellen, eine
Einheit in der Zweiheit und sich selbst im geliebten anderen zu finden,
hat man sich, wenn man selbst liebt und geliebt wird, auch dann höchst-
persönlich auseinanderzusetzen, wenn man als Soziologe schon darüber
informiert ist, dass die Liebe, genauer: die romantische Liebe, sich in Para-
doxien ereignet.
Dennoch treibt es einen immer wieder hin zur Verlockung, ganz ge-
wollt zu sein und darin aufzugehen, so wie man erleben will, jemanden
ganz zu wollen und das geliebte Gegenüber im eigenen Wollen aufgehen
zu sehen. So bleibt zugleich tröstlich und leidend festzustellen: Man darf
auch als Soziologe weiter romantisch lieben, selbst dann, wenn man sich
eingehend mit den gesellschaftlichen Bedingungen und Konsequenzen der
romantischen Liebe auseinandergesetzt hat, weil man wohl gar nicht an-
ders kann. – Zumindest ist das unter den derzeit noch geltenden gesell-
schaftlichen Sinnbedingungen der Fall, unter denen wir unsere Unter-
scheidungen treffen, zu meinen, zu wollen oder zu tun.
Man lernt also nicht nur viel über die Liebe als gesellschaftliches Phäno-
men, wenn man sich ihr soziologisch nähert. Man lernt auch viel über die
eigenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu lieben. Genau das, die in-
dividuelle, fast unausweichliche Betroffenheit, liefert Hinweise darauf, was
die Besonderheit der Liebe darstellt, wenn man sie als “Liebe der Gesell-
schaft” soziologisch beobachtet.
Die Liebe in ihrer romantischen, auf die Innerlichkeit individueller Ge-
fühle abgestellten Variante verspricht gerade im gesellschaftlichen Rah-
men ganz Außergewöhnliches. Sie verspricht, dass wir als Individuen mit
unseren höchst eigenartigen individuellen Identitäten sozial akzeptiert
und gesellschaftlich inkludiert werden können. Dieses Wunder des gesell-

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Vorwort

schaftlichen Einbezugs soll sich nur aufgrund unserer individuellen Wahl


eines geliebten anderen, nur aufgrund unserer Gefühle des Begehrens und
der leidenschaftlichen Hingabe ereignen. Keine Verwandtschaftsbeziehun-
gen, keine Eintrittspreise, keine Mitgliederausweise und Meldebescheini-
gungen sollen dafür erforderlich sein.
Die romantische Liebe verspricht uns beim Einbezug in die Gesellschaft
nicht mehr und nicht weniger, als dass wir als Individuen wenn schon
nicht auf gesellschaftliches und privates Leben verteilt werden, denn “Indi-
viduum” bedeutet nach wie vor “das Unteilbare”, so doch, dass wir intim
vergemeinschaftet werden. Darin liegen beträchtliche Möglichkeiten, das
sozial eigentlich Unerreichbare, die höchstpersönlichen Individualitäten,
erreichbar zu machen. Darin liegen aber ebenso beträchtliche Risiken für
uns und die anderen, wenn wir aufgrund von individuellen Gefühlen zum
Teil von Sozialität und darin möglicherweise verloren gehen.
Genau das weist schließlich auf all die Möglichkeiten und Unmöglich-
keiten hin, den anderen zu vermitteln, wie man die Liebe individuell erle-
ben sowie im Handeln leben kann. Liebe wird so auch zu einem Phäno-
men ihrer medialen Kommunikation. Deshalb erscheint es soziologisch
aussichtsreich, Liebe unter ihren sozialen Kommunikationsbedingungen
und in ihren medialen Eigenheiten zu beobachten und so auch den Wan-
del medialer Bedingungen für die Kommunikation individueller Inklusion
und Verschränkung in und mit der Gesellschaft in den Blick zu nehmen.
Darum soll es gehen – wenn man liebt sowieso und erst recht, wenn man
über die Liebe soziologisch schreibt.
Das Schreiben über die Liebe kann sich allerdings schwieriger darstel-
len, als sie in allen Lebenslagen zum Ausdruck zu bringen. Es sind syste-
matisierende Vorbereitungen zu treffen, axiomatische Bedingungen zu er-
füllen und sachgerechte Argumente zu entwickeln. Damit das gelingen
konnte, waren mannigfaltige Inspirationen ebenso notwendig wie allfälli-
ge Recherchen und Korrekturen. Dafür danke ich, neben vielen anderen,
namentlich, Lea König und Alina Breidert. Sie haben wesentlich zum Ge-
lingen dieses Buches beigetragen, weil sie sich dem Wagnis ausgesetzt ha-
ben, nicht nur soziologisch mit mir gemeinsam vor und hinter die roman-
tische Liebe, ihre Interpretationen und Beschreibungen zu schauen.

Udo Thiedeke
Januar 2020

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Lieben dürfen! 11

I. Die Freundschaft lieben 19

II. Die Gesellschaft lieben 32

III. Das Medium lieben 42

IV. Die Unvernunft lieben 56

V. Das Ideal lieben 68

VI. Das Kapital lieben 82

VII. Den Sex lieben 97

VIII. Das Leiden lieben 114

IX. Die Zukunft lieben 124

X. Die Liebe lieben! 154

Literaturverzeichnis 171

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Einleitung: Lieben dürfen!

Alle lieben irgendwie, irgendwas, irgendwen. In Punkto Liebe sind wir


(fast) alle Experten *). Wer hat es noch nicht verspürt, das Gefühl der Un-
bedingtheit? Wer könnte nicht vom unbedingten Begehren einer anderen,
eines anderen berichten, die einem nicht mehr aus dem Sinn gehen, die
man haben will, deren Nähe man sucht, nach denen man sich verzehrt, bis
es weh tut, bis Erfüllung und das süße Gefühl des Geliebtwerdens einsetzt
oder sich vor einem die abgrundtiefe Leere des Ungeliebtseins auftut.
Darum soll es hier gehen, aber nicht nur. Der Blick wird sich nicht nur
auf unsere Gefühle, der individuell erlebten Liebe, richten. Er wird sich so-
gar von uns weg, auf die anderen richten, die etwas damit zu tun haben,
wie wir lieben können, ja lieben dürfen. Es gilt hier das zu beobachten,
was das Miteinandersein mit den anderen im umfassendsten Maßstab, also
in Form des gesellschaftlichen Hintergrunds, dazu beiträgt, wie wir als
Einzelne lieben dürfen. Und man ist versucht auszurufen: jetzt also auch
noch eine Soziologie der Liebe! Und darauf möchte ich schlicht mit “ja”
antworten.
Das Gefühl verliebt zu sein, zu lieben und sich als geliebt zu empfinden,
scheint zunächst zu unseren biologischen, genauer gesagt, zu unserer neu-
rophysiologischen Grundausstattung zu gehören. Neurophysiologisch lässt
es sich als komplexes Zusammenspiel der unterschiedlichsten chemischen
Botenstoffe erklären, die im Gehirn und Zentralnervensystem aktiv wer-
den und neuronale Netzwerke aktivieren (vgl. Bartels, Zeki, 2004:
S. 1155ff.), wenn wir “in Liebe fallen”.
Das englische “falling in love” beschreibt die Plötzlichkeit und die ge-
fühlte Haltlosigkeit des Verliebens sprachlich sehr gut und im Deutschen
können wir sogar noch weiter gehen und gleich davon sprechen, der “Lie-
be zu verfallen”. Die sprachlichen Wendungen spiegeln den gefühlsmäßi-
gen Eindruck eindrücklich wider, der dadurch entsteht, dass etwa unser
Gehirn mit Neurotransmittern geflutet wird, die die charakteristischen Ge-
fühlssymptome der Liebe auslösen: Fixierung auf den “Gegenstand” der
Liebe, Verengung der Weltwahrnehmung, Erregung, Verwirrung, Eupho-
rie, Herzschmerz, Hitzeempfinden usw. Die Liebe stürzt uns ganz handfest

* Der besseren Lesbarkeit wegen, wird das generische Maskulinum verwendet. An-
dere Geschlechtsperspektiven werden ausdrücklich einbezogen.

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Einleitung: Lieben dürfen!

und körperlich in ein Gefühlschaos, das mal angenehm, mal quälerisch,


zwischen Hoffen und Bangen, Hingezogenheit und Verstoßensein, liebt
mich, liebt mich nicht hin und her schwankt. – Ein Gefühlskarusell, das
selbst dann nicht sofort anhält, wenn wir Gewissheit haben, und Liebe
zum bestätigten Gefühl wird oder wir die Bitternis der vergebliche Liebe
kosten müssen.
Das alles spricht für die tiefen neuronalen Wirkungen, die Liebe physio-
logisch bedeutet. Auf einer Beobachtungsebene, die die Biologie der Neu-
ronen, Neurotransmitter, Hormone und der Erregungszustände neurona-
ler Netze überschreitet, auf der also die “äußeren” Ursachen und Konse-
quenzen dieser Gefühlsmöglichkeiten in den Blick geraten, stellt sich da-
rüber hinaus die Frage, warum wir uns als Gattungswesen Mensch dann
und wann diesen Sturz in die Liebe und die mit ihr verbundene gefährli-
che Desorientierung überhaupt leisten? Warum haben wir ein solch kom-
plexes Gefühlssetup, wie das der Liebe überhaupt ausgeprägt – und an-
scheinend sehr erfolgreich ausgeprägt, so dass es uns bis heute erhalten ge-
blieben ist und in Gestalt des sozialen Konzepts und Praxis der “romanti-
schen Liebe” eine geradezu idealistische Überhöhung und Verallgemeine-
rung erfährt?
Was bringt uns die Liebe als Menschen für einen Vorteil? Evolutionsbio-
logisch erklärt, scheint Liebe die Attraktion zu erhöhen, Partner, vor allem
sexuelle Partner, zu suchen und zu finden. Warum sollten sich komplexe
Individuen, die versuchen, ihre körperliche Identität aufrecht und unbe-
schadet zu erhalten, einander gefährlich nähern und miteinander einlas-
sen? – Und warum sollten sie diesen Zustand aktiv suchen und versuchen,
ihm zumindest für eine gewisse Zeitspanne Dauer zu verleihen? Warum
sollte man andere, die man gar nicht kennt, von denen man gar nicht
weiß, was man von ihnen zu erwarten hat, an sich heranlassen und ihre
Nähe suchen? Dazu bedarf es einiger Überwindung und besser noch eini-
ger Anreize und Belohnungen auf der ganz elementaren Ebene des Körper-
empfindens. Anders gesprochen, es bedarf der Lust der Hingezogenheit,
des Glücksgefühls der Erfüllung, aber auch des fast suchtartigen Bestre-
bens seiner Wiederholung und Fortsetzung. Alles strebt nach der Lust zu
lieben und geliebt zu werden und alle Lust will Ewigkeit, auch die Liebes-
lust.
Die Evolutionsbiologie weist in diesem Zusammenhang besonders auf
den Vorteil der sexuellen Partnerschaft hin, die im Nachwuchs nicht nur
neue Genvarianten und damit die Möglichkeit zu neuen und umwelttaug-
licheren Fähigkeiten der Individuen hervorbringt, sondern es auch erlaubt,
für die biologische Reproduktion Kapazitäten der sexuellen Geschlechter

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Einleitung: Lieben dürfen!

über den Moment hinaus, für eine gewisse Dauer zu kombinieren. Liebe
und die Gefühle des Verliebtseins unterstützen die Suche nach attraktiven
Partnern. Sie treiben die Individuen zu Paaren, liefern ebenso eine wieder-
kehrende Selbstbestätigung eigener Attraktivität und sozialer Dominanz,
wie sie die Aufzucht von Nachwuchs als “Paargeschäft” erleichtern und die
Ausprägung sowie die Stabilisierung von Familienbindungen durch den
Lustgewinn des Liebens und Geliebtwerdens unterstützen (vgl. Fisher,
1994: S. 61f.).
Nun könnte man meinen, damit sei zur Liebe alles gesagt. Sie ist sozusa-
gen schon immer da. Sie gehört zu unserem Organismus, wie der Hunger
nach Nahrung und das drängende Bedürfnis hin und wieder nach Luft zu
schnappen. Diese Unbedingtheit der biologischen Liebesfähigkeit model-
liert wohl auch unsere Interessen als Menschen, sich auf das Karussell der
sexuellen Reproduktion zu setzen Partner zu suchen, Kinder zu zeugen
und aufzuziehen. Die evolutionäre Biologie treibt so gesehen die psychi-
sche Konstitution der Liebesverrückten hervor. Liebe, verstanden als biolo-
gische Gefühlsausstattung sexuell/intimer, sozialer Beziehungen, erscheint
als kulturübergreifende Universalie (vgl. etwa Jankowiak, Fischer, 1992:
S. 149ff.).
Auch wenn man diesen allzu biologistisch/deterministischen Erklärun-
gen der Liebe nicht folgen mag, wenn man sich lieber (!) hinter das indivi-
duelle “Interface” der Liebeslust begeben will, dorthin, wo Liebe ganz sub-
jektives Empfinden zu sein scheint, dann könnte man auch dabei bleiben,
zu sagen, Liebe ist eben ein individuelles Erleben, eine individuelle Praxis
des Körpererlebens, der Sinneswahrnehmungen, der individuellen Begrün-
dungen und Neigungen, die einzig den Liebessubjekten zusteht. Damit
würde diesen Liebessubjekten dann auch die Kompetenz zur einzig au-
thentischen Darstellung der Liebe zufallen.
Das bedingt zugleich das Faszinosum und die Schwierigkeit, fortan von
vielen individuellen Lieben sprechen zu müssen, die je nach dem, nur in
ihrer situativen Expression zu beobachten wären. Warum aber gibt es
dann Fassungen der Art und Weise, Liebe zu verstehen und vor allem den
anderen und vor den anderen zu zeigen, die über die vielen Details der
Praktiken individuell zu erleben hinausgehen? Wieso gehen wir heute,
wenn wir davon sprechen, jemand ist verliebt oder liebt, wie selbstver-
ständlich von einem ganz bestimmten Konzept der Liebesverhaltenswei-
sen und -begründungen, eben dem Konzept der romantischen Liebe aus,
auch wenn wir persönlich gar keine Kenntnis von all den Facetten und
Nuancen des symbolischen Zusammenhangs haben, den man mit “Ro-
mantik” etikettiert?

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Einleitung: Lieben dürfen!

Mit solchen Fragen, nach dem sozio-kulturellen Rahmen dessen, was


man in Hinblick auf Liebe meinen, tun, sagen, zeigen und vielleicht sogar
empfinden kann (vgl. Dion und Dion, 2005: S. 77ff.) und wie sich das im
Stil zu lieben niederschlägt, wird die Grenzen der individuellen Gefühls-
welt der Liebenden überschritten. Es öffnet sich ein soziales, um nicht zu
sagen soziologisches Panorama. Dieses gibt den Blick frei auf das Konzept
von Liebe, das den aktuellen Rahmen dafür absteckt, wie wir individuell
lieben dürfen, d. h. welchen sozial akzeptierten “Liebesstil” wir an den Tag
legen können. Ein Konzept, das vor allem den Rahmen dafür abgibt, wie
wir uns gegenseitig Liebe zeigen und damit verstehen können, dass es um
Liebe geht und um nichts sonst.
Mit dem überindividuellen Konzept von Liebe gerät ein Sinnspektrum
dessen in den Fokus der Beobachtung, was man im gesellschaftlichen Rah-
men unter Liebe und Verliebtsein, Liebesleiden und Liebeserweisen verste-
hen kann. Also dort, wo man auf andere Einzelne, Paare, Gruppen, Famili-
en trifft, die man nicht kennt, die aber dennoch, wie wir selbst wissen, wie
man Liebende und Liebe erkennt und was einen erwartet, wenn man liebt.
In Gestalt der Liebe der anderen sind wir mit einem die Gefühle der ein-
zelnen übergreifenden sozialen Totalphänomen konfrontiert.
Von einem Totalphänomen kann man deshalb sprechen, weil eine un-
terscheidbare Liebessemantik sowie eine unterscheidbare Art, Verliebtsein
zu kommunizieren in allen sozialen Situationen das markieren kann, was
wir unter Liebe und nicht unter Freundschaft, Familie, Herrschaft, Arbeit,
Eigentum usw. verstehen, obwohl all dies Perspektiven von Sozialität sind,
die mit denen der Liebe verknüpft sein können. Das gesellschaftliche Tot-
alphänomen der Liebe stellt sich also als eine “soziale Tatsache” im Sinne
Émile Durkheims dar (vgl. 1976: S. 88ff.), weil sich im überindividuellen
Verständnis von Liebe auch ausdrückt, wie wir mit anderen lieben dürfen,
ohne Irritationen bei anderen und uns selbst auszulösen.
Damit wird der Rahmen dafür offenkundig, wie wir Liebe gegenüber
anderen kommunizieren können. Ein sinnhaftes Bezugssystem wird sicht-
bar, das durch unsere ganz eigene Liebeskommunikation jeweils individu-
ell realisiert und aktualisiert wird, wenn wir darin nach seinen Spielregeln
kommunizieren und das wir mit unseren Aktualisierungen, kulturellen
Realisierungen und Bewertungen, immer ein wenig mitformen und in sei-
ner Ausformung beeinflussen, auch wenn wir es als Einzelne nicht in Gän-
ze und schon gar nicht im Moment verändern können.
Kurz gefasst lässt sich also sagen, dass bei dieser Betrachtungsweise die
Liebe der Gesellschaft sichtbar wird. Das meint nicht die Art, wie die Ge-
sellschaft uns liebt, denn die Gesellschaft ist kein Subjekt, das sich mit in-

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Einleitung: Lieben dürfen!

dividuellem Denken, Meinen und Fühlen auf uns bezieht und uns als Lie-
bespartnerin oder -partner wählt. Es meint vielmehr die Art der sozialen
Verhaltensweise(n) und sozial akzeptierten individuellen Vorstellungen
und Empfindungen, die als Liebe verstanden werden und sich in einer
ganz eigenen Sozialität der Liebe konkretisieren. Die Liebe der Gesell-
schaft bezeichnet also jenen allgemein zugänglichen Komplex an kommu-
nizierbaren Erwartungen einer Wahl von Liebessubjekten und -objekten
unter Bedingungen der individuellen und unbedingten Hingezogenheit,
der heute für alle gelte soll. – Es ist diese Liebe, die heute alle kommunizie-
ren und von der alle meinen, zu verstehen, was sie meint.
Damit sind wir von der Physiologie der Liebesgefühle über ihre Bin-
dungskapazitäten und überindividuellen Sinnbedingungen bei der Sozio-
logie der Liebe angekommen. Tatsächlich hat sich Soziologie bis heute so
wie mit anderen Phänomenen der Sozialität auch mit der Liebe beschäf-
tigt. Sie hat sich zumeist aber in kleinen Anläufen und Ausschnitten mit
der Liebe auseinandergesetzt. Dabei wurden Teilaspekte wie Ungleichheit,
Familie, Macht oder Konsum in den Mittelpunkt ihrer Beobachtungen ge-
rückt, bei denen nicht immer einsichtig ist, ob sie zum spezifischen Ver-
ständnis der Liebe und besonders der Liebe der Gesellschaft beitragen,
oder ob diese “auch” auf Liebe, Liebesverlangen und das Lieben Auswir-
kungen haben oder gar selbst von der Liebe in ihrer sozialen Entfaltung
beeinflusst werden.
Mit der Liebe der Gesellschaft wird hier die sinnhafte soziale Bedeutung
der Liebe unterschieden und der Frage nachgegangen, wie sie als Orientie-
rung des liebenden Empfindens und Handelns für alle und alles, was zur
Gesellschaft gehört, in Erscheinung treten kann. Da es dabei um die Ver-
mittlung von Liebe über die Grenzen unserer individuellen Meinungen,
Erlebnisse und Handlungspraktiken hinaus geht, soll dem vielleicht unge-
wöhnlichen Vorschlag des Soziologen Niklas Luhmann gefolgt und Liebe
als ein Medium sozialer Kommunikation verstanden werden. Das wird uns
im Weiteren immer wieder beschäftigen.
Mit “Medium” ist dann allerdings nicht etwas gemeint, was wir ansons-
ten im Alltäglichen durchgängig als Teil “der Medien” verstehen. Liebe als
Medium ist kein Massenmedium und hat keine Sende- und Empfangsgerä-
te. Sie kennt keine Einschaltquoten und Verkaufszahlen und man kann sie
auch nicht abonnieren oder herunterladen, wenn man die neuen kyberne-
tischen Interaktionsmedien wie das Internet vor Augen hat. Überall in der
individual-, massen- und interaktionsmedialer Kommunikation kann es
um Liebe gehen, kann Liebe Thema oder Motiv sein, aber das erfasst die
Eigenart noch nicht, die Liebe als Medium ausmacht.

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Im kritischen Anschluss an Talcott Parsons und über ihn hinausgehend


(vgl. Luhmann, 1974: S. 237f.), versteht Luhmann Liebe in ihrer medialen
Eigenart als einen verallgemeinerten Symbolkomplex spezifischer, an sich
unwahrscheinlicher Erwartungen, deren Verallgemeinerung und symboli-
sche Zuspitzung gerade diese unwahrscheinliche Erwartungen plausibili-
siert (1982: S. 24f.). Wenn wir davon sprechen zu lieben, dann werden mit
dem Verweis auf alles, was Liebe heute meint, Erwartung wahrscheinlich,
wie diejenige, völlig Fremde zum Zentrum des eigenen Wünschens, Han-
delns und Erlebens zu machen. – Und man geht ganz selbstverständlich
davon aus, dass man das von Liebe und von Liebenden erwarten kann.
Liebe stellt sich so als ein symbolisch generalisiertes Kommunikations-
medium (SGKM) dar. Wenn wir im Medium Liebe kommunizieren, dann
ruft es die verallgemeinerten Erwartungen dazu auf, wie wir unsere Emp-
findungen der unbedingten Hingezogenheit gegenüber anderen zeigen
können und was wir tun und meinen dürfen, wenn wir sagen: “ich liebe
dich!”.
Die folgenden Überlegungen werden um dieses SGKM Liebe kreisen,
wenn wir fragen, wie sich die Liebe der Gesellschaft entfaltet, welche sozia-
len Bedingungen dazu vorliegen, welche Konsequenzen zu erwarten sind
und was es bedeutet, wenn wir im Rahmen der Sozialität lieben dürfen
und meinen, dass wir unsere Verliebtheit ganz individuell erleben?
Dazu gilt es die Liebe in ihren kommunikativen Eigenarten, des “wie”,
der Art und Weise, wie Liebe zum Ausdruck gebracht werden kann, zu un-
terscheiden. Das heißt dann z. B. die Liebe von Freundschaft zu unter-
scheiden. Es gilt weiter zu zeigen, wie das Medium Liebe als Medium ope-
riert und es möglich macht, uns den anderen als diejenigen zu vermitteln,
die ein Ideal lieben und daran leiden, weil Sehnsucht und Passion wesent-
liche Bestandteile der symbolischen Zuspitzungen sind, in denen sich
das “höchste der Gefühle” mit anderen teilen lässt.
Dabei wird zu berücksichtigen sein, wie die Liebe der Gesellschaft zu
dem werden konnte, was wir heute an ihr lieben, wie selbstreflexiv und pa-
radox sie gebaut ist und wie sie uns dadurch zu Beobachtern zweiter Ord-
nung macht, die ständig auf der Hut sind, sich zu prüfen, ob und wie sie
lieben, wenn sie lieben.
Schließlich werden wir nach den Triebkräften für die Liebe der Gesell-
schaft fragen und fragen müssen, wie es dazu kommt, dass wir alle so ähn-
lich lieben, dass wir uns darauf verlassen können, dass die anderen auch
wissen, wie geliebt wird – im besten Falle uns. Es wird also z. B. danach zu
fragen sein, ob Liebe kapitalisiert, sexualisiert oder gar funktionalisiert
wird, was uns, wie all die anderen, in einem dauernden Kreislauf von Hof-

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fen und Enttäuschen zur Liebe treibt und immer wieder abstößt. Und viel-
leicht eröffnet uns das am Ende die Möglichkeit, die Frage zu verfolgen,
was das für die Zukunft der Liebe bedeuten könnte und das meint hier
wieder die Zukunft der Liebe der Gesellschaft, auf die wir uns beziehen,
wenn wir individuell lieben.
Wir werden dann vielleicht sehen können, dass wir, wenn wir lieben,
eine aus unserer Individualität, ihrer Emotionalität und unseren daraus re-
sultierenden Ansprüchen an uns selbst und an andere begründete Form
der Liebes-Intimität aufrufen, deren soziologische Bedingungen und Kon-
sequenzen über die Fragen persönlicher Neigungen, Zweierbeziehungen
und kultureller Bewertungen des Konzepts der romantischen Liebe hinaus
weisen.
Aber – und das weist über den Gegenstand hinaus auf die Bedingungen
der Möglichkeiten gesellschaftlicher Wirklichkeit – mit der Liebe der Ge-
sellschaft können wir nicht nur die Art zu lieben beobachten. Gerade
wenn es um die romantische Liebe und deren soziale Form, die Liebes-In-
timität geht, beobachten wir zugleich einen Modus der Verschränkung,
der wechselseitigen Durchdringung von Individuellem und Gesellschaftli-
chem. Genauer gesagt, beobachten wir mit der romantischen Liebe einen
Interpeterationsmodus von Individualität, der sich auf ganz eigentümliche
Weise nicht aus Gründen der Leistungserfüllung oder aus Rollenerwartun-
gen, sondern der Wertschätzung von Individualität begründet. Wir äußern
daher bereits hier zu Beginn die Vermutung, dass Veränderungen der In-
terpenetrationsmöglichkeiten von Individualität und Überindividualität
auch die Art und Weise beeinflussen, was wir und die anderen in Punkto
Liebe für normal halten.

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– Frech und froh –

Liebesqual verschmäht mein Herz,


Sanften Jammer, süßen Schmerz;
Nur vom Tüchtgen will ich wissen,
Heißem Äugeln, derben Küssen.
Sei ein armer Hund erfrischt
Von der Lust, mit Pein gemischt!
Mädchen, gib der frischen Brust
Nichts von Pein und alle Lust!

Johann Wolfgang von Goethe

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I. Die Freundschaft lieben

Warum zuerst die Freundschaft thematisieren? Vielleicht ist das sinnvoll,


um Liebe unterscheiden und zeigen zu können, dass Zuneigung, auch
starke Verbundenheit und geteilte Gemeinsamkeiten allein noch nicht
ausreichen, um über das sprechen zu können, was wir erwarten, wenn wir
sagen, jemand sei verliebt oder wenn wir gestehen, dass wir lieben?!
Zugegebenermaßen liegen beide Formen des Sichaufeinanderbeziehens
eng beieinander. Man kann Freundschaften gefühlsmäßig tief empfinden
und dabei sehr unmittelbar miteinander umgehen. Man kann in Freund-
schaften mit großer Hingezogenheit, Interessen und intime Details zu
Weltsichten oder gemeinsamen Erlebnissen teilen. Freunde und Freundin-
nen können sich einander unbedingt solidarisch zeigen und Freundschaf-
ten können ein Leben lang halten. Sie können vielleicht sogar zu einer
wichtigeren emotionalen und sozialen Konstante werden als Familienbin-
dungen oder schwankende Liebesverhältnisse (vgl. Schobin et al., 2016:
S. 143ff.), in denen sich die Liebespaare immer wieder anziehen und absto-
ßen. Das alles ist für Freundschaft nicht abzustreiten. Es ruft aber auch be-
reits die Indikatoren auf, die uns anzeigen, was charakteristisch für
Freundschaft und ihre soziale Unterscheidbarkeit ist.
Bleiben wir zunächst aber noch beim Verhältnis von Freundschaft und
Liebe. Dieses Verhältnis zeigt schon deshalb, dass Liebe und Freundschaft
ähnlich, aber nicht gleich sein mögen, weil es ein Verhältnis von etwas zu-
einander ist. Viele von uns haben das selbst bereits erlebt, sozusagen am ei-
genen Leibe, wenn die Übergänge zwischen Freundschaft und Liebe sowie
zwischen Liebe und Freundschaft durchlässig werden und zu fließen be-
ginnen. So scheint es möglich zu sein, sich von beiden Richtung aus, zwi-
schen Liebe und Freundschaft hin und her zu bewegen.
Da es hier soziologisch darum geht, die sozialen Kommunikationsbedin-
gungen und -verhältnisse von zunächst nur individuellen Gefühle und Er-
wartungen zu beobachten, gilt es zu beachten, wie dieser Übergang ver-
mittelt wird. Angezeigt wird das Kreuzen der Grenze der Beziehungsfor-
men von Liebe und Freundschaft etwa durch sprachliche Wendungen, die
uns wohl allen schon begegnet sind.
So kann man hören, wenn eine Liebe zu Ende geht, man wolle “Freun-
de bleiben” oder dass man “nur noch Freundschaft” füreinander empfin-
de. Man kann hören, dass eine Beziehung zunächst “nur freundschaftlich”

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I. Die Freundschaft lieben

gewesen sei, bevor sich daraus eine Liebe entwickelt habe. Vielleicht kann
man sich sogar vermeintlich alle Optionen offenhalten und möglichst lan-
ge im Grenzbereich zwischen Liebe und Freundschaft verweilen, wenn
man davon spricht, jetzt “eine Freundschaft+” zu leben, bei der auch Se-
xualität eine Rolle spielen darf.
Die kommunikativ sichtbaren Unterschiede zwischen Liebe und
Freundschaft werden noch deutlicher, wenn es um die Unbedingtheit der
Verbindlichkeit zwischen dem “Personal” der Beziehungsformen geht. So
sprechen wir von “einer” Freundin, “einem” Freund, wenn wir uns auf die
beziehen, die uns freundschaftlich verbunden sein sollen, aber von “mei-
ner” Freundin oder “meinem” Freund, wenn es um Liebe zwischen den
Beziehungspartnern geht. Schließlich kann man ohne größere Irritationen
auszulösen davon sprechen oder davon hören, dass man “einige Freunde”
oder “einen Freundeskreis” habe. Wenn hingegen von “einigen Geliebten”
die Rede ist oder wenn jemand so verwegen wäre, von seinem “Liebes-
kreis” zu sprechen, dann werden die Beziehungsverhältnisse auffällig. Sie
werden dann fast von selbst zum Ausnahmethema und deuten problemati-
sche, zumindest aber pikante, nicht ganz leicht zu handhabende, nicht
selbstverständliche Liebesumstände an.
Obwohl man also sogar sagen kann, man liebe seine Freunde, um darin
die Freude über die Freunde und die besondere Verbundenheit mit ihnen
hervorzuheben (wozu man gerade den Verweis auf die Liebe bemüht!), ist
es doch etwas anderes, seine Freundin oder seinen Freund zu lieben. Es ist
deshalb etwas anderes, weil damit ein Wechsel des sozialen Systems der in-
dividuellen Vergemeinschaftung verbunden ist.
Gerade diese Perspektive auf die Sozialität, also das Miteinandersein, das
jeweils charakteristisch für Freundschaft einerseits und Liebe andererseits
ist, macht die Gemeinsamkeiten deutlich, aber eben auch die Unterschie-
de. Freundschaft, so stellen wir in der Alltagspraxis fest, geht im Vergleich
zur Liebe von anderen Bedingungen aus und führt zu anderen Konsequen-
zen. Freundschaft weckt andere Erwartungen als Liebe und führt zu einer
anderen Form der Sozialität.
Freundschaft und Liebe zielen zunächst beide auf Vergemeinschaftung
ab. Das meint eine enge soziale Bezogenheit, bei der es in erster Linie auf
die genaue Kenntnis von Personen und ihrer persönlichen Merkmale und
erst in zweiter Linie auf deren Rollen ankommt. Beide Beziehungsformen
unterlaufen auf eine fast anachronistische Weise den Imperativ der moder-
nen Gesellschaft, soziale und funktionale Rolle einerseits und Persönlich-
keit andererseits bei der Vergesellschaftung getrennt zu halten. Vielleicht
wirken beide deshalb gerade heute so faszinierend. So können sie geradezu

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die Qualität authentischer und dauernder Werte zur individuellen Orien-


tierung gewinnen. Ihre Beziehungsmöglichkeiten entfalten sie scheinbar
jenseits der schnelllebigen, oberflächlichen und anonymen Interaktionsbe-
ziehungen der modernen Gesellschaft.
Freundschaft und Liebe führen in diesem Zusammenhang zudem beide
zu emotional grundierten, persönlichen Beziehungen, zwischen einander
zunächst fremden, nicht verwandten Personen. Charakteristisch für diese
Beziehungsformen sind weiter, dass hier Solidaritätsimperative gelten und
eine Intimität gemeinsamer Erfahrungen und Erwartungen kommuniziert
wird. Auch spielt die Vulnerabilität, die mit vertraulichen Selbstoffenba-
rungen verbunden ist, sowohl bei Freundschaft als auch bei Liebe eine
wichtige Rolle, wenn es darum geht, sich gegenseitig des intimen Charak-
ters der Beziehung zu versichern und ihn immer wieder zu aktualisieren.
Bei Liebe jedoch kommt eine individuelle Orientierung der Liebenden
hinzu, deren Unbedingtheit, die der Vertraulichkeiten, Solidaritätserwar-
tungen und geteilten Lebensperspektiven von Freundschaften deutlich
überschreitet. Gemeint ist das Begehren des Liebessubjekts, das damit im-
mer auch zum Objekt der Unbedingtheit wird. So lässt die Liebe heute im
Gegensatz zur Freundschaft die ungefragte Relevanz der Persönlichkeit des
Liebespartners für alle eigenen Orientierungen, ja sogar die Bestimmtheit
der Gefühle des anderen, für das eigene Empfinden sowie die selbstver-
ständliche Verfügbarkeit auch über den Körper des Liebespartners erwar-
ten.
Achtet man auf die entstehende Sozialität, so fällt deshalb für die Liebes-
beziehung eine Unbedingtheit der Vergemeinschaftung auf. Gerade in
ihrer sexuellen Körperbezogenheit darf diese Vergemeinschaftung durch-
aus existentiell genannt werden, da Sexualität die Perspektive von biologi-
scher Reproduktion und so eine Option auf eine Zukunft über den Tod
der Liebenden hinaus einschließt. Eine existentielle Grundierung der Ver-
gemeinschaftung, die heterosexuelle, aber auch homosexuelle Liebesbezie-
hungen affiziert und ihnen jenen ausschließlichen und exklusiven Charak-
ter verleiht.
Dass dennoch eine große Nähe zwischen Liebe und Freundschaft in der
Art der intimen Vergemeinschaftungen nicht nur soziologisch, sondern
auch alltagspraktisch auffällt, hat wohl auch gesellschaftshistorische Grün-
de. In der gesellschaftlichen Entwicklung fällt auf, dass Freundschaft und
Liebe in der Vergangenheit noch enger beieinanderlagen Sie lagen so eng
beieinander, dass man noch nicht von einer Ausdifferenzierung und damit
Freistellung der Liebe als eigener Beziehungsform, geschweige denn, als
symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium sprechen konnte.

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Geht man dazu der Frage nach, wie es zur Ausdifferenzierung von
Freundschaft und Liebe kommen konnte, so ist das gesellschaftliche Um-
feld, genauer gesagt, sind die Sinnbedingungen zu beobachten, unter de-
nen die jeweilige Sozialität intimer Vergemeinschaftungen zum Ausdruck
gebracht werden kann. Zu diesen Sinnbedingungen, die die Normalität
der Erwartungen dessen definieren, was man meinen, sagen und tun darf,
ist etwa das bevorzugte Differenzierungsmuster sozialer, sachlicher, zeitli-
cher und räumlicher Unterscheidungen einer Gesellschaft zu zählen.
Luhmann ging dabei davon aus, dass die moderne Gesellschaft vorran-
gig von einer funktionalen Differenzierung der Sinnbedingungen geprägt
ist. Individuen werden in dieser Gesellschaft nicht mehr, wie in segmentär
differenzierten Gesellschaften, über die Zugehörigkeit zu Familien, Clans
oder anderen sozialen Gruppe definiert. Sie lassen sich auch nicht mehr
vorrangig über die Rangunterschiede von Ständen oder Klassen bestim-
men, wie in einer stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft.
Stattdessen wird die gesellschaftliche Zu- und Einordnung von Individu-
en entlang von funktional definierten Rollenbeziehungen in vielfältigen
Kontexten möglich. Ein Individuum wird deshalb polykontextural durch
seine religiösen, familiären, partnerschaftlichen, politischen, wirtschaftli-
chen und anderen Beziehungen definiert. Und diese sollten ihm ohne An-
sehen seiner Persönlichkeit, der Familienzugehörigkeit oder seines Standes
offenstehen. Luhmann hält hierzu fest:
“Sie [die funktionale differenzierte Gesellschaft, Anm. UTh.] kann Per-
sonen nicht mehr den Teilsystemen zuordnen in dem Sinne, daß [sic!]
eine Person nur einem Teilsystem angehörte – die einen etwa eine rein
juristische Existenz führte, die andere nur erzogen würde. Der letzte
derart konzipierte Fall, den man um 1800 noch für möglich hielt, war
die Hausfrau und Mutter der bürgerlichen Familie. Auch das ist ein in-
zwischen abgeschlossenes Kapitel.” (1980: S. 30/31).
Und sollte derlei “Überspezialisierung” eines Individuums dennoch in der
modernen funktional differenzierten Gesellschaft zu Tage treten, so würde
das eben jene Normalität der polykontexturalen Zuordnung zu den unter-
schiedlichsten Funktionszusammenhängen stören. Man würde sich evtl.
über den “Nerd”, im Sinne eines zur Fachidotie neigenden Sonderlings,
lustig machen, die Frau bedauern, die “nur” Mutter und Hausfrau
und “sonst nichts” wäre oder fände die Einseitigkeit der Lebensweise sogar
verstörend und therapiebedürftig.
Für das Individuum selbst konkretisiert sich diese Vielfalt der Vergesell-
schaftung in den Fragen danach, “was es mir bringt”, etwa eine Familie zu

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gründen, eine Ausbildung zu machen, Geld anzulegen, wählen oder in die


Kirche zu gehen usw. Diese funktionalen Differenzierungsmuster sind in
ihrer vexierenden Flexibilität deshalb als immer wieder neu in Erschei-
nung tretende Mustern der Wahlmöglichkeiten, Bestätigungen oder Ent-
täuschung, in eine kulturelle Bewertung zeitlicher Dynamik etwa
des “Fortschritts” oder der “Beschleunigung” eingebettet. Das bedeutet in
Bezug auf diese Muster moderner Lebensperspektiven, immer zugleich der
Chance auf Veränderung und der Last der Unbeständigkeit gewahr zu
werden.
Vor diesem Hintergrund wird zum einen erkennbar, dass persönliche
und intime Beziehungen nicht mehr selbstverständlich hinter dem Vor-
rang von Gruppen- oder Schichtzugehörigkeiten verschwinden. Sie taugen
zum anderen aber auch nicht mehr als zentrales Motiv gesellschaftlicher
Integration. Stattdessen tritt der Eigenwert dieser Beziehungsformen her-
vor, der über funktionale Rollenintegration hinausweist und so eine an-
gebbare Funktion für die persönliche Vergemeinschaftung von Individuen
erfüllt, die sonst in ihrer Unwägbarkeit nur schwer gesellschaftlich an-
schlussfähig erscheinen.
Quasi im Rückschluss aus diesem Eigenwert der persönlichen und inti-
men Beziehungen von Freundschaft und Liebe wird deutlich, dass sie in
ihrer aktuellen Form ein Kind moderner gesellschaftlicher Sinnverhältnis-
se sind. So weist etwa Johannes F. K. Schmidt darauf hin, dass sich persön-
liche soziale Beziehungen in der modernen Gesellschaft selbst als solche
persönlichen Beziehungen erzeugen und darin sichtbar werden können
(2000: S. 78/79).
Sie reflektieren also nicht einfach soziale Verhältnisse, indem sie etwa
die ständischen Positionen in den Beziehungen widerspiegeln. Vielmehr
werden Freundschafts- und Liebesbeziehungen jetzt als individualisierte
persönliche Beziehungen möglich, weil sie sich von der Überindividualität
der Funktionsbeziehungen in der modernen Gesellschaft, wie etwa den Be-
ziehungen zu Organisationen, unterscheiden. Sie lassen die andere Seite
der unpersönlichen Rollen-Beziehungen als eigenständige persönliche Be-
ziehungen erkennbar und das meint kommunizierbar werden.
“Die strukturbildende Wirkung des kommunikativen Bezugs auf die
Individualität resultiert daraus, dass man zwar einerseits von einer
funktional differenzierten und polykontexturalen Gesellschaft mit ent-
sprechend fragmentierten kommunikativen Zugriffen auf das Indivi-
duum sprechen kann (...), andererseits gerade dadurch erst die 'Einheit
der Person das organisierende Prinzip der Kommunikation' (...) wer-
den kann: in der persönlichen Beziehung.“ (O. c.: S. 79).

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Im Zuge dieses gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesses ist zu be-


obachten, wie Liebe beginnt, sich von der Freundschaft zu unterscheiden
und schließlich andere Erwartungen und eine andere Form der persönli-
chen Beziehungen meint, als die Freundschaft. Dieser Prozess der Ausdif-
ferenzierung verläuft allerdings gesellschaftshistorisch genauso wenig
schlagartig, wie der Wandel gesellschaftlicher Differenzierung selbst. Viel-
mehr sind hierbei Experimente und Vorstöße ebenso charakteristisch, wie
das Beharren auf Traditionen oder die Überlagerung von Orientierungs-
mustern. Blickt man etwa auf die Literatur des 17. und 18. Jahrhundert, so
könnte man verwirrt feststellen, dass es zwischen Liebe und Freundschaft
hin und her, wenn nicht gar drunter und drüber geht (vgl. Kluckhohn,
1966).
Zwar können wir schon im 16. Jahrhundert bei Montaigne lesen, dass
man die Liebe zu Frauen nicht mit der (wahren) Freundschaft vergleichen
kann. Klopstock hingegen geht noch im 18. Jahrhundert davon aus, dass
Liebe und Freundschaft allenfalls zwei Pflanzen sind, die einer Wurzel ent-
springen (vgl. Schmidt, 2000: S. 80). Die hohen Intimitätserwartungen, die
wir heute der Liebe zurechnen, wurden zu dieser Zeit sogar eher an die
Freundschaft gerichtet.
Schmidt weist zudem darauf hin, dass auch die Soziologie des 20. Jahr-
hunderts noch eher die Differenz zwischen Liebe und Freundschaft gegen-
über derjenigen von dyadischen persönlichen gegenüber persönlichen
Gruppenbeziehungen betont (O. c.: 81 mit Verweis auf Friedrich Ten-
bruck, 1964). Eine Unterscheidungslinie, die angesichts von Freundeskrei-
sen und des Netzwerks virtueller Freunde in den sog. Social Media heute
eher anachronistisch wirkt (vgl. die Beiträge in Autenrieth, Neumann-
Braun, 2011: S. 177ff.; mit Bezug zu Jugendlichen vgl. Trost, 2013).
Blickt man noch weiter zurück, so scheint die Bedeutung von Freund-
schaft gegenüber derjenigen der Liebe sogar noch bedeutsamer gewesen zu
sein (vgl. Schmidt, 2000: S. 80). Dies wird besonders dann erkennbar,
wenn man ihre Bedeutung wiederum unter den gesellschaftlichen Diffe-
renzierungsbedingungen der Sinnverhältnisse betrachtet, die sich dann
auch in differenzierungstypischen kulturellen Semantiken von Freund-
schaft niederschlagen.
So fällt für segmentär differenzierte Gesellschaften auf, dass Freund-
schaften primär am fundamentalen Unterschied des Zugehörigen versus
Nichtzugehörigen orientiert sind. In segmentär differenzierten Gesell-
schaften bilden soziale Gruppen, besonders Familiengruppen, die sich auf-
grund verwandtschaftlicher Bindungen ausbilden, entwickeln und erhal-
ten und die zumindest im Kernverband abgegrenzte Territorien besiedeln,

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die sich wiederholenden Segmente der Gesellschaftsstruktur (vgl. Luh-


mann, 1997: S. 634ff.).
Aufgrund dieser Vergemeinschaftung über Verwandtschaftsbeziehun-
gen, die die charakteristische Sozialität und Symbolität dieser Differenzie-
rungsform darstellt, steht dem Gemeinschaftsmitglied hier als Anderer
nicht das Familienmitglied, sondern der Fremde gegenüber. Fremde ver-
körpern das in die Familiengruppe oder den Clan Nichteinordenbare (vgl.
O. c.: S. 643). Sie stellen ein Element der Beziehungslosigkeit, gar den po-
tenziellen Feind dar, mit dem man willkürlich verfahren, denen man ver-
treiben oder töten kann, der selbst aber auch die bekannte Welt der ge-
meinschaftlichen Beziehungen durch sein Auftreten irritiert.
Freundschaft ist deshalb die Beziehungsform, die das persönliche Ken-
nenlernen und Vereinnahmen von Fremden, vor allem von Nicht-Famili-
enmitgliedern, erlaubt und so die Familien- und Clangrenzen sinnhaft
überschreiten kann. Tenbruck hatte die Funktion von Freundschaft auf
einen Mangel von Familienstrukturen zurückgeführt, Komplexität redu-
zieren zu können (vgl. 1986: S. 274f.), weswegen Freundschaft als Form
einer “freiwilligen Institution” hinzutrete.
Ob es sich hier allerdings um die Kompensation eines Defizits an Re-
duktionskapazität gesellschaftlicher Komplexität von Familien handelt
oder ob es nicht um eine typische Antwort segmentärer Gesellschaften auf
Grenzfälle der Vergemeinschaftung geht, die nicht verwandtschaftlich zu-
zuordnen sind, mag dahingestellt sein. Auffallend ist, dass die Freund-
schaftssemantik segmentärer Gesellschaften einen deutlichen Bezug zur
grundsätzlichen Verbundenheit aufweist, die z. B. im Institut der “Bluts-
brüderschaft” nicht nur sprachlich an elementare familiale Bindung erin-
nert.
In der stratifikatorisch, nach sozialer Schichtung differenzierten Gesell-
schaft, ist dann mehr Spielraum, um von der Ähnlichkeit sozialer Grup-
pen und ihrer Territorien abzusehen. Stattdessen tritt jetzt eine vertikale
Differenzierung in Ober- und Unterschicht mit einer entsprechenden
strukturellen Ordnung von Rangfolgen und einer Semantik der Über- und
Unterordnung auf (vgl. Luhmann, 1997: S. 678ff.).
Diese Strukturierung kann mehr Komplexität sozialer Beziehungen auf-
nehmen und sortieren, weil die primären Differenzierungs- und Inklusi-
onsmechanismen nicht mehr alleine auf die Integrationskapazitäten von
Verwandtschaftsverhältnissen und Freund-Feind-Schemata angewiesen
sind. Man kann jetzt nach Besitz – z. B. am Boden (lat. dem Feudum) –
soziale Handlungschance zuordnen und so eine feudale Herrschaftsord-
nung ausprägen oder sich an Lehns- und Gefolgschaftsbeziehungen zu

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Fürsten orientieren (O. c.: S. 681). Die Platzierung des Personals in Rang-
position ist zwar auch Gegenstand dynastischer Überlegungen. Zur Be-
gründung gesellschaftlicher Ordnungskapazität reichen verwandtschaftli-
che Beziehungen, gar Familienbande aber nicht mehr aus (O. c.: S. 679).
Hier bedarf es der Konzentration politischer Macht und einer höheren Le-
gitimation, zumeist mit Verweis auf eine göttliche Ordnung, die dann für
alle gilt, auch für die, die nicht miteinander verwandt sind.
Freundschaft scheint hier ihren zentralen Orientierungswert für die In-
klusion Nicht-Verwandter in persönliche verwandtschaftsähnliche Bezie-
hungen zu verlieren. Allenfalls stellt sich die Frage, welchen Rang man der
Freundschaft und den Freunden einräumt, was, da Freundschaft nicht
kämpft, auf einen Tugendkatalog als Maßstab hinauslaufen kann. Und da-
bei kann deutlich werden, dass die Tugenden der Freundschaft von den so-
zialen Rangpositionen abhängen können (siehe etwa Della Casa, 1564:
S. 27ff.).
Entsprechend der Umorientierung der Differenzierungsstruktur gesell-
schaftlicher Unterscheidungsmöglichkeiten, expandiert auch das Konzept
von Freundschaft und wird dabei zugleich diffuser und mit zusätzlichen
Erwartungen aufgeladen (vgl. Epp, 1999). Das deutet wiederum auf eine
Modifikation der sozialen Beziehungen hin, die mit “Freundschaften” be-
schrieben werden kann.
Für das Beispiel der stratifizierten Feudalgesellschaft des europäischen
Mittelalters ist festzustellen, dass Freundschaften dazu dienten, Netzwerke
der Verbundenheit, der wechselseitigen persönlichen, aber auch der politi-
schen Unterstützung aufzubauen und abzugrenzen (vgl. Garnier, 2000).
Um lebenswichtige Beziehungen zu konsolidieren, verknüpften diese
Netzwerke der Freundschaft relevante Personen und Gruppen miteinan-
der (Epp, 1999: S. 130ff.; von Eickels, 2007: S. 32), wobei die Freund-
schaftsbeziehungen durchaus affektuell grundiert und etwa von Liebe
durchdrungen sein konnten. Die Liebe selbst bleibt der Freundschaft aller-
dings nachgeordnet (vgl. Roth, 2014: Online). Das überrascht aufgrund
der ausgreifenden, an den Notwendigkeiten von Schutz, Rangbestätigung,
Tugend und Solidarität orientierten Bedingungen und Konsequenzen von
Freundschaften allerdings kaum.
Die gesellschaftliche Strukturorientierung an Stratifikation sowie eine
sinnhafte Dimensionierung von Freundschaft, die über verwandtschafts-
ähnliche Beziehungsmöglichkeiten im Freund-Feind-Schema deutlich hin-
ausreicht, fallen bereits für die Hochkulturen der Antike, namentlich für
die griechischen Stadtstaaten auf. So weist Luhmann darauf hin, dass die
Semantik der Freundschaft in dieser Epoche vom Verhältnis Nahestehen-

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de/Fernstehende auf die Frage nach der Herstellung von Solidarität und
Zusammengehörigkeit umgestellt wird. Mit weiteren Verweisen stellt er
fest:
“Als philía wird Freundschaft aus diesen archaisch-gentilizischen
Strukturen ausdifferenziert und zugleich generalisiert als eine allge-
meine, auf die Gesellschaft bezogene Idee der Zusammengehörigkeit.
(...) Der Gegenbegriff der Feindschaft tritt zurück (das heißt: es bildet
sich ein Code: Freund oder nicht), und das Problem der Kriterien für
die Wahl von Freunden tritt in den Vordergrund. Das Nahestehen ist
dann nicht mehr Bedingung der Freundschaft, sondern Folge der Wahl
eines Freundes.“ (Hervorhebungen im Original; 1997: S. 327).
Das der Semantik zu Grunde liegende Beziehungskonzept von Freund-
schaft ist auf nicht-verwandtschaftliche Solidarbeziehungen fokussiert und
muss in sich dann je nach Reichweite und Begründung dieser Beziehungs-
möglichkeiten nach Arten von Freundschaften differenziert werden. Diese
reichen etwa von der Lustfreundschaft, über die politischen Freundschaft
bis zur Tugendfreundschaft – will man der einflussreichen Einteilung von
Aristoteles folgen. Solche “Freundschaftsmodelle” können dann nach
Maßgabe ihrer Folgen bewertet, also z. B. in einer Ethik der Freundschaf-
ten geordnet werden.
Eine derartige Zielbezogenheit von Freundschaft wirft Fragen auf, die
zugleich auf die Möglichkeiten hindeuten, Individuen in persönlichen Be-
ziehungen gesellschaftlich zu inkludieren und diese von ihrem Ziel her als
gute Möglichkeit einer Inklusion jenseits von Familie und Stand zu bewer-
ten. Anders gesagt, es werden Interpenetrationsmöglichkeiten für das ab-
weichende Andere auf der Grundlage von Vorstellungen über Handlungs-
möglichkeiten in sozialen Beziehungen – wie derjenigen der Freundschaft
– sichtbar. Angesichts einer komplexeren gesellschaftlichen Differenzie-
rung, wie beispielsweise in der griechischen Polis, wird Freundschaft für
die Ausformung einer Sozialität interessant, die Nicht-Naheliegendes inte-
grieren muss und kann.
Schmidt hat im Zusammenhang mit dem späteren Übergang von der
stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung und dem kulturellen
Übergang von einer traditionalen zu einer modernen Semantik, die Über-
legung ins Spiel gebracht, dass mit Freundschaft und dann vermehrt mit
Liebe Konzepte persönlicher Beziehung entstanden sind, die auf das Prob-
lem der Exklusionsidentität (Luhmann) von Individuen reagieren. Sie ma-
chen also an sich ausgeschlossene, weil z. B. nicht mehr eindeutig durch

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Rangordnungen gesellschaftlich beschreibbare, Individuen sozial an-


schlussfähig (2000: S. 82).
Man kann diese Reaktion auf die gesellschaftliche Nichtbestimmbarkeit
von Individuen und damit die Bedeutung von Freundschaft und Liebe
aber auch grundsätzlicher sehen, nämlich in der Schwierigkeit, die Fremd-
heit individueller Persönlichkeit überhaupt sozial aufzulösen. Ein Prob-
lem, das persönliche Beziehungen unmittelbar berührt und das dann in
den zeitgültigen Rahmen von Artikulierbarkeit und Handlungsmöglich-
keiten der aktuellen Sinnverhältnissen gemäß der jeweiligen gesellschaftli-
chen Differenzierung eingepasst werden muss.
Die Problematik, wie Liebe und Freundschaft überhaupt und ob sie
evtl. sogar eigenständig in Erscheinung treten und welche semantischen
Präferenzen ihre Bewertung erfährt, wird demzufolge immer dann kri-
tisch, wenn sich mit der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse auch
die Bestimmbarkeiten oder Nichtbestimmbarkeiten von Individuen än-
dert.
Die jeweils charakteristische Sozialität, etwa freundschaftlicher Bezie-
hungen, ist dann zugleich anspruchsvoll und aussichtsreich zu denken.
Luhmann an anderer Stelle:
“Sozialität konzediert auf diese Weise einen Überschuß [sic!] an Hand-
lungsmöglichkeiten und reduziert diesen Überschuß [sic!] in der gan-
zen Breite der Möglichkeiten durch einen zugeordneten Einschrän-
kungsbegriff – eben die philía im Sinne eines 'freundschaftlichen' In-
terpenetrierens der Personen, wofür ihre Unterschiedenheit (Indivi-
dualisierung), ihre Gleichheit (Artgleichheit) und ihre Selbsteferenz
gleichermaßen unerläßliche [sic!] Voraussetzungen bilden.“ (1981:
S. 216/217).
Unter der Perspektive der Differenzierung von Sinnverhältnissen, wie sie
etwa im Experiment mit der Neudefinition sowie der Auflösung von Be-
griffen der Freundschafts- und Liebessemantik nachvollziehbar werden,
geraten demzufolge sowohl Gemeinsamkeit, als auch die unterschiedli-
chen Spezialisierung von Freundschaft und Liebe in den Blick.
Beide sind Teil dieser Entwicklung von Sinnverhältnissen. Und beide
treiben diese Sinnverhältnisse mit ihrer Ausdifferenzierung weiter. Sowohl
die Konzepte von Freundschaft als auch die von Liebe stellen Lösungs-
möglichkeiten für das im Differenzierungsprozess von der segmentären
über die stratifikatorische bis zur funktionalen Differenzierung der Gesell-
schaftsstruktur zunehmend virulent werdende Inklusionsproblem indivi-
dueller Abweichung zur Verfügung. Sie erbringen diese Leistung, indem

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sie eine Sozialität der persönlichen Vergemeinschaftung individueller Per-


sönlichkeitsmerkmale möglich und das meint plausibel kommunizierbar,
kulturell legitimierbar und mit entsprechenden Handlungsoptionen ver-
sehbar machen.
Allerdings zeigen sich in diesem Prozess der Ausdifferenzierung auch
die Unterschiede zwischen Freundschaft und Liebe. In der modernen Ge-
sellschaft kann nämlich nicht nur der Wandel und die Neuheit individua-
lisiert werden (siehe das Paradebeispiel der individuellen Mode Esposito,
2004: S. 147f.). Im Zuge der funktionalen Differenzierung wird auch die
Frage nach der individuellen Bedürfnisbefriedigung in unterschiedlichen
sozialen Kontexten aufgeworfen – jeder ist schließlich einzigartig, zumin-
dest im Anspruch auf Selbstverwirklichung (O. c.: S. 79). Auf diese Weise
können nun aber auch Bedürfnisse individueller Körperlichkeit und Lust,
der biologischen Reproduktion sowie der persönlichen Anerkenntnis
durch Fremde, die nicht durch familiale Bindungen, Standescodex, religiö-
ses Bekenntnis oder politische Weltanschauung dazu verpflichtet sind, zu
sozialen Tatsachen werden.
Beispielhaft verdeutlicht etwa die Artikulation dieses Bedürfniskomple-
xes und seiner Folgen für die individuelle Biografie der Abweichung durch
die Psychoanalyse am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts
diesen Einbruch höchstpersönlicher individueller Dispositionen und Be-
dürfnisse in die Gesellschaft. Man möchte hier fast von einer “Psychisie-
rung” der “Form Person” (Luhmann) sprechen, die für das zwischen Soli-
darität, Tugend und Neigung aufgespannte Freundschaftskonzept des 18.
Jahrhunderts eine Erwartungsüberforderung darstellt.
Freundschaft scheint jetzt nicht mehr ausreichend legitimiert, um die-
sen Einbruch des individuell Unbedingten in die gesellschaftliche Kom-
munikation und Semantik, in die Beziehungsform einer solidarischer Ver-
gemeinschaftung des wechselseitigen Verständnisses und der Wertschät-
zung aufzunehmen. Kurz gesagt: Freundschaft taugt zumindest im Kon-
text der funktionalen Differenzierung nicht mehr dazu, auch die individu-
elle Partnerwahl von Sexual- und Lebenspartnern als selbstverständliche
Grundlage intimer Vergemeinschaftung zu begründen. Dazu war und ist
es den Individuen jetzt möglich, zu individuell, zu narzistisch und zu le-
benshungrig zu werden, als dass sie 'nur' Freunde und Freundinnen blei-
ben könnten.
Heute können wir feststellen, dass sich Freundschaft und Liebe trotz al-
ler Gemeinsamkeiten und der gesellschaftshistorisch gemeinsamen Wur-
zeln, voneinander unterscheiden. Bei allen Ähnlichkeiten zwischen beiden
Konzepten konkretisiert sich dieser Unterschied zwischen Freundschaft

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und Liebe letztlich in den unterschiedlichen Verhaltens- und Handlungs-


erwartungen und den dabei jeweils zu erwartenden spezifischen Bedingun-
gen und Konsequenzen.
Für Freundschaft lässt sich eine Intimität persönlicher Nähe erwarten,
die auf wechselseitiger Sympathie, personeller Kenntnis und Solidaritäts-
imperativen gegründet ist. Diese Intimität markiert eine charakteristisch
enge Beziehung der Freunde, die aber keine Exklusivität beanspruchen
muss. Sie kann zu einem Kreis oder Netzwerk von Freunden erweitert wer-
den ohne, dass dies gesellschaftlich irritieren muss. Ja, diese weitgehende
Inklusivität kann als normal für Freundschaften gelten.
Die Grenzen der Freundschaft liegen heute in der Unbedingtheit der Be-
ziehung. Freundschaftliche Beziehungen meinen nicht die vollständige
Vereinnahmung des anderen, als Maßstab für die vollständige Anerken-
nung der eigenen und der anderen Person, bis hin zur Anerkennung der
körperlich/sexuellen Wünsche und Bedürfnisse. Genau das ist die Grundla-
ge von Liebesbeziehungen (vgl. Luhmann, 1982: S. 13ff.; Fuchs, 2003:
S. 24). Ja, die Liebe überschreitet diese Grenze der wechselseitigen Aner-
kennung sogar noch in Richtung einer zumindest zeitweiligen Obsession
der emotional passionierten Inbesitznahme der ganzen Person des oder
der Geliebten.
Freundschaft ist daher im Gegensatz zu Liebe heute typischerweise kei-
ne soziale Beziehungsform im Ausnahmezustand wechselseitiger obsessi-
ver Vereinnahmung von Persönlichkeit und Körperlichkeit des unbekann-
ten Anderen.

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– Gedicht als Heiratsantrag –

Du bist so toll, bist eine Wucht,


ich liebe Dich, bist meine Sucht,
Bist und bleibst alles im Leben,
würd Dir so gerne ALLES geben,
Bist sensationell und auch sehr schlau,
Du bist einfach 'ne klasse Frau,
bin von Dir so sehr entzückt,
und immer noch nach Dir verrückt,
So wie Du bist, so bist Du gut,
Du hilfst mir, machst mir stetig Mut.
Du bist der wunderschönste Traum,
dass es das gibt, man glaubt es kaum.
(...)

Nun kribbelt es in meinem Bauch,


ich frage Dich, willst Du das auch?
Willst Du Dein Leben mit mir teilen?
so lang es geht mit mir verweilen?
Dann frag ich Dich jetzt, ganz genau:
bitte, bitte werd meine Frau!!!

Anette Pfeiffer-Klärle

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II. Die Gesellschaft lieben

Der Titel des Kapitels “die Gesellschaft lieben” mag ebenso seltsam klin-
gen wie der Buchtitel “Die Liebe der Gesellschaft”. Man möchte fragen,
wem sie wohl gelten mag, die Liebe der Gesellschaft? Wem mag sich die
Gesellschaft so höchstpersönlich, intim und im Ausnahmezustand ihrer
Gefühle zuwenden, wo sie doch noch nicht einmal ein Individuum ist?
“Die Gesellschaft lieben” suggeriert dann die Gegenrichtung der Bezie-
hung. Sind wir dann etwa aufgefordert, der Gesellschaft die intimste per-
sönliche Zuwendung entgegen zu bringen? Wäre das nicht zu viel ver-
langt? Zumindest im Alltäglichen nehmen wir “die Gesellschaft” doch
eher für all das in Haftung, auf das wir individuell keinen Einfluss haben.
Die Gesellschaft, das sind immer die anderen und noch dazu undurchsich-
tige Konzerne, politische oder bürokratische Organisationen, der Markt,
die Öffentlichkeit – anonyme soziale Zusammenhänge eben. Ein Liebesob-
jekt, gar ein Liebessubjekt sieht anders aus!
Beides ist hier nicht gemeint, obwohl in beidem bereits der Keim dessen
steckt, worum es in Bezug auf die Liebe als nicht nur individuellem Erle-
ben, sondern als gesellschaftlichem Phänomen geht.
“Die Gesellschaft lieben” meint dann nicht mehr und nicht weniger, als
dass wir immer dann, wenn wir heute in Liebe fallen, wenn wir unsere
Liebe bekennen, wenn wir verliebt sind, geliebt oder nicht geliebt werden,
uns mit sozialen Erwartungen konfrontiert sehen, die sich auf Ausdrucks-
möglichkeiten dieses individuellen Erlebens richten.
Diese Erwartungen sind als soziale Erwartungen überindividuell. Sie
hängen eben nicht nur von uns allein und von unseren individuellen Vor-
lieben (!) ab, die Liebe zu praktizieren. Sie hängen auch von dem ab, was
andere für angemessen, zulässig oder grenzwertig und für unzulässig er-
achten, um Personen mit den Eigenarten ihrer verkörperten Persönlichkeit
individuell in eine Sozialität intimer Beziehungen einzubinden.
Wie eben im Kapitel zur Freundschaft deutlich wurde, lieben wir mit
der Liebe immer auch ein Konzept der Liebe. Wir lieben neben den Objek-
ten und Subjekten unseres Begehrens immer auch dieses Konzept von Lie-
be, das den Rahmen gesellschaftlicher Liebesmöglichkeiten bis hin zu dem
absteckt, was wir uns als Liebe von anderen wünschen können. “Die Liebe
der Gesellschaft” meint dann genau dieses Sinnkonzept des für die Liebe

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II. Die Gesellschaft lieben

gangbaren Meinens, Wollens und Tuns aller einzelnen Liebenden, die in


der Gesellschaft ihre Liebe zum Ausdruck bringen.
An dieser Stelle soll etwas auf das nächste Kapitel vorgegriffen werden.
Das zu tun, ist deshalb sinnvoll, weil hier die gesellschaftlichen Ausdrucks-
möglichkeiten individueller Liebesvorstellungen und -praktiken als sozial
akzeptierte Form von Liebe angesprochen sind. Da es in diesem Zusam-
menhang um die Vermittlung dessen geht, was wir heute für Liebe halten,
soll an Luhmanns Idee von der Kommunikation als “Letztelement” (1984:
S. 192f.) jeder Sozialität und an sein Modell der Liebe als eines SGKM
(1997: S. 316ff.) angeschlossen werden.
Mit der “Liebe der Gesellschaft” ist also immer auch das mit der gesell-
schaftlichen Differenzierung evolutionär entstandene, bedeutungshaft zu-
gespitzte und in seiner Gültigkeit verallgemeinerte Medium “Liebe” und
seine Kommunikationsform der Liebes-Intimität gemeint, die wir als
Grundlage einer höchst speziellen persönlichen Vergemeinschaftung er-
warten und erfahren können. Das SGKM “Liebe” legt uns demzufolge die
Sinnbedingungen der Liebe und das heißt, die sozial akzeptierten Aus-
drucks- und Handlungsmöglichkeiten, ganz unweigerlich nahe, wenn wir
etwa sagen, jemand sei verliebt oder: “Ich liebe Dich”.
“In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein
Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken,
bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem
auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende
Kommunikation realisiert wird.“ (Luhmann, 1982: S. 23).
Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier wird nicht von einer sog. Mi-
kro-Makro-Differenz ausgegangen, die in der Soziologie vor allem der me-
thodologische Individualismus behauptet. Dabei wird angenommen, dass
die Wirklichkeit der Individuen ein eigener Mikrobereich sei, der erst über
verschiedene Zwischenschritte der Aggregation individueller Handlungen,
wie sie etwa James Coleman in seinem Modell der “Badewanne” skizziert
hat, den Makrobereich gesellschaftlicher Institutionen konstituiert (1991:
S. 10ff.).
Vielmehr wird hier davon ausgegangen, dass ein Individuum, das sich in
eine Situation doppelter Kontingenz begibt, wenn es anderen begegnet,
nicht anders kann, als diese anderen und sich selbst als “Personen” zu be-
obachten und sich eben darin immer schon als vergesellschaftetes Indivi-
duum zeigt (Luhmann, 1984: S. 154f.). Dies ist auch deshalb der Fall, weil
die wechselseitigen Identitätserwartungen und Erwartungserwartungen,
die dabei eine Rolle spielen, Kommunikationsmöglichkeiten begründen.

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II. Die Gesellschaft lieben

Die Individuen verschränken (interpenetrieren) sich kommunikativ mit


dem Gegenüber in einem sozialen System (wie kurzfristig dieses auch be-
stehen mag) (O. c.: S. 156f.). Die Gesellschaft wiederum aktualisiert ihren
überindividuellen Kommunikationszusammenhang immer wieder in den
kontingenten individuellen Begegnungen sozialer Interaktionen (O. c.:
S. 566).
Auch soll hier nicht in Abrede gestellt werden, dass es sehr variantenrei-
ches Erleben von Gefühlen der Hingezogenheit, Begierde und Intimität
geben kann. Ebenso scheint es naheliegend, dass sich die individuelle Er-
lebnisvielfalt in vielfältigen individuellen Praktiken zu lieben oder nicht
zu lieben äußert (mit Beispielen zu Jugendlichen Wellgraf, 2014: S. 313ff.).
Nur entfalten sich diese Liebespraktiken in einem Rahmen dessen, was
für Liebe und Liebende typischerweise als Normalität erwartet wird. Den
Liebenden wird also deutlich gemacht, dass sie möglicherweise Liebende
sind und dass das, was sie gerade praktizieren, vielleicht Liebe und nicht
Freundschaft ist. Und es würde nicht um Liebe in der heute vorliegenden
Form gehen, wenn das Abtasten der Grenzen dessen, was es sein könnte
und die Unsicherheiten darüber, wie man sich zu verhalten habe, zur er-
warteten wäre und das heißt zur charakteristischen Verwirrung der gezeig-
ten Gefühle und Handlungen gehören würde.
Vor dem Hintergrund der individuellen Praktiken zu lieben und ihrer
kulturell differenten Bewertungen kann man allerdings kritisieren, dass
das Konzept der individualisierten Liebe relativistisch, also z. B. vom kul-
turellen Kontext abhängig und daher nicht allgemeingültig sei. Man kann
das vor allem deshalb tun, weil sich der Liebescode gesellschaftlich als
überindividuelle Beschreibung des “wie” der Liebe als Liebessemantik ma-
nifestiert. Von Kulturtatsachen nehmen wir aber an, dass sie kulturell vari-
ieren, etwa aufgrund von gruppenspezifischen oder von sozialstrukturellen
Vorbedingungen.
Die romantische Liebe, begriffen als Semantik der Vermittlung sexueller
Partnerwahl auf der Grundlage individueller Gefühle und Bedürfnisse und
ihre Kommunikationsform der persönlichen Intimität, wird dann etwa als
nur regional gültiges oder gar als eurozentrisches Konzept begriffen (vgl.
Reddy, 2012). Für diese Liebeskultur kann sogar ein hegemonialer An-
spruch vermutet werden, etwa bei der Durchsetzung laizistischer Tenden-
zen, von Heteronormativität oder der patriarchalen Festlegung von Ge-
schlechtsrollen, vermutet werden (z. B. Coffey, 2013: S. 15f.). Liebe würde
also ihre Verbindlichkeit nur behaupten, um eine Art semantischen Kolo-
nialismus gegenüber den diversifizierten Praktiken (zu lieben) durchzuset-
zen.

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II. Die Gesellschaft lieben

Allerdings scheint auch gerade diese Annahme einer kolonialistischen


Projektion von “westlichen” Liebesverhältnissen und -erwartungen oft zu
verhindern, die “nicht-westlichen” Ausdrucksformen individueller Hinge-
zogenheit und intimer Sozialität ernst zu nehmen und sie überhaupt ange-
messen zu untersuchen (mit Bezug zu Afrika Schmidt, 2013: S. 93ff.).
Abgesehen davon bedeutet der Sachverhalt, dass evolutionäre Verände-
rungen von Sinnverhältnissen mit regionalen Schwerpunkten entstehen
und sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten sozial verbreiten kön-
nen, nicht, dass das ihren Entstehungs- und Wirkungszusammenhang hin-
reichend beschreibt. Fokussiert man nur darauf, dann betrachtet man die-
se Veränderungen gleichsam aus dem Blickwinkel des politischen Systems,
das politische Herrschaft (noch immer) vorrangig an der Organisations-
form territorialer Machtausübung orientiert, wie sie bspw. Nationalstaaten
darstellen (Luhmann, 2000: S. 210ff. zu den speziellen Problemen im welt-
gesellschaftlichen Kontext O. c.: S. 220ff.).
Dass diese territorialen Gewissheiten des Ineinssetzens von Macht- und
Orientierungsgrenzen gerade aufgrund des angesprochenen Differenzie-
rungswandels allerdings nicht mehr so eindeutig sind (O. c.: S. 225f.), ma-
chen die Komplexität von Regierungsbildungen, die grenzüberschreitende
Migration, die wirtschaftliche Globalisierung oder die umfassende Digita-
lisierung der Kommunikation sowie die globalen Umweltrisiken empi-
risch mehr als deutlich. So ist auch der Soziologie etwa bei der Beobach-
tung globaler Risikolagen aufgefallen, dass die territorialstaatliche Defini-
tion von Politik und politischem Handeln unter einen permanenten Legi-
timationsdruck geraten ist und sich evtl. Tendenzen der Transnationalisie-
rung von Politik und Staaten abzeichnen (vgl. etwa Beck, 1991). – Wir
können an dieser Stelle allerdings nicht weiter auf diese Diskussion einge-
hen.
Die relativistische Kritik des Konzepts der Liebe verkürzt die Sichtweise
sozusagen auf ihre regionalpolitische oder regionalkulturelle Dimension.
Dabei wird übersehen, dass das SGKM Liebe eine funktionale Antwort für
genau das Problem darstellt, anderen den unwahrscheinlichen Sachverhalt
vermitteln zu müssen, dass man die Partnerwahl mit der Einzigartigkeit
von individuellen Gefühlen begründet, also als ein sich selbst legitimieren-
des Bedürfnis.
Voraussetzung für diese Liebe der Gesellschaft ist demnach, dass indivi-
dualisierte Liebe und persönliche Intimität erst im Zusammenhang gesell-
schaftlicher Rahmenbedingungen zur Normalität für die Vermittlung von
Liebesinteressen werden, wenn sich das Problem individuell zu wählen
und individuell gewählt zu werden, erkennbar stellen kann. Erst dann

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II. Die Gesellschaft lieben

kann die Erwartung normal werden, sich zur Selbstverwirklichung im an-


deren auf das riskante Angebot der Liebe mit all seinen Unsicherheiten,
der Prämierung von Idiosynkrasien und den verdeckten Paradoxien einzu-
lassen.
Dazu müssen so unterschiedliche Faktoren zusammenwirken, wie Pro-
zesse der wirtschaftlichen Globalisierung, der inneren und äußeren Migra-
tion, des Wandels politischer und ökonomischer Partizipation, der Ge-
schlechtsrollen, Entwicklungen des medizinischen Fortschritts, der ver-
netzten Kommunikation, um nur einige zu nennen, zusammenwirken.
Und sie müssen so zusammenwirken, dass die Sinnverhältnisse, die an die
segmentäre oder stratifikatorische Differenzierung der sozialen Beziehun-
gen semantisch anschließen, nicht mehr oder nur noch bedingt ausrei-
chen, um die Partnerwahl strukturell als familial oder schichtspezifisch
und kulturell als traditional zu begründen. Erst dann kann es Bedarf und
Interesse geben, sich als individuell Liebende in Form bringen zu lassen.
Allerdings wird es hierbei kaum um einen plötzlichen Umschlag der
Sinnverhältnisse gehen. Das meint aber auch, dass das SGKM Liebe mit
seinen symbolischen Zuspitzungen bereits dann als Irritation tradierter,
am Kollektiv oder der Schicht ausgerichteter Konzepte der Partnerwahl
wirken kann, wenn die Problemlage individueller Partnerwahl noch gar
nicht als “normale” Erwartungen vordergründig in Erscheinung getreten
ist. Dafür sorgen schon die globale massen- und/oder interaktionsmediale
Kommunikationen der Liebe (vgl. mit Beispielen etwa Lau, 2012; zu Be-
funden der Medienethnographie Brosius, 2015: S. 187). Die dogmatischen
Gegenreaktionen, welcher religiösen, politischen oder weltanschaulichen
Ismen auch immer, belegen in diesem Zusammenhang dann aber nicht
die relativistische Irrelevanz der individualisierten Vorstellungen von Lie-
be, sondern gerade die Herausforderung, die von der Universalität des
Konzepts der individuellen Selbstbegründung ausgeht.
Entfaltet sich mit dem SGKM Liebe schließlich eine Normalität der in-
dividuell begründeten persönlichen Intimität, dann werden Lieben und
Liebende in der gesellschaftlichen Kommunikation mit den sozial akzep-
tierten Erwartungen dazu vergleichbar, eine Liebe zu lieben und Liebende
zu sein. Diese “Normalitätsprüfung” liegt auch darin begründet, dass das
intime Erleben der Liebe dann unter Veröffentlichungsdruck gerät, wenn
es sich auf andere bezieht und zur Grundlage eines gemeinsamen intimen
Erlebens und Handelns von Individuen werden soll, die nicht miteinander
verwandt und zumeist noch nicht einmal miteinander bekannt sind.
Liebesinteresse und Liebesfähigkeit, also die Hinweise auf individuelle
Disposition und individuelle Praxis, sind den anderen zu zeigen, wenn

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II. Die Gesellschaft lieben

man sie lieben und von ihnen geliebt werden will. Gleichfalls muss auf das
von anderen Gezeigte reagiert werden.
Damit werden individuelle Erwartungen vergleichbar und es werden
Ähnlichkeiten sichtbar, die “man” erwarten kann. So manifestiert sich ein
Rahmen öffentlicher Erwartungen des Intimen. Dieser Rahmen von ak-
zeptierten Erwartungen wird dann etwa massenmedial in den exemplari-
schen Personen und Szenarien der billigen und der teuren Liebesromane,
der Filme und Videos sowie der unendlich von Liebe, Leiden, Schmerz
und Wollust kündenden Pop-Songs verstärkt. Oder sie werden interakti-
onsmedial im Internet anhand all der großen und der kleinen Tinder-,
Twitter- oder Facebookdramen um Herz und Schmerz der Liebe perma-
nent verhandelt und bewertet, was man dann wieder massenmedial rück-
koppeln kann. – Ein Beispiel unter anderen zeigt uns “Mein Tinder Tage-
buch” in der “Brigitte” (2015: Online) oder gleich der ganze “Tinder-
Wahnsinn” (http://www.tinderwahnsinn.de).
Dieses Veröffentlichen und damit Verallgemeinern individueller Erwar-
tungen und Möglichkeiten zu lieben gilt nicht nur für die Anbahnung der
Liebe. Es gilt weiter auch für die Darstellung der exklusiven Form der Inti-
mität gegenüber anderen. Kornelia Hahn hat bspw. gezeigt, dass das Spiel
mit diesem Paradox der Liebe, das Innerliche und Intime als Exklusivität
den anderen zur Schau zu stellen, zum Grundmuster moderner Paarbezie-
hungen gehört. Ein vielleicht riskantes Spiel, dessen Risiko dort zum öf-
fentlichen Problem wird, wo es zum Schwur kommt:
“Seit der Romantik ist daher auch immer wieder die formelle Ehe-
schließung ein Diskussionsgegenstand: Zerstört die Ehe – die immer
eine explizite Veröffentlichung bedeutet – nicht die Grundlagen einer
Beziehung, die vorher als romantische Liebe verstanden werden woll-
te? Oder stellt die Eheschließung die krönende Präsentation der gegen-
seitigen Verbundenheit dar?“ (Hervorhebung im Original; 2000:
S. 253)
Diesen Rahmen der Liebe der Gesellschaft verdeutlicht das SGKM Liebe
in seinen symbolischen Zuspitzungen als Erwartungshorizont jeder Liebe-
spraktik. So hebt es etwa die Zumutung, unbekannte andere, zum Zen-
trum des eigenen Erlebens und Handelns zu machen, als höchst erstre-
benswert hervor. Das ist nur deshalb möglich, weil in der Zumutung zu-
gleich das Versprechen liegt, als individuell abweichende Person nicht nur
zum Zentrum des Begehrens, sondern sogar zum Maßstab des Verhaltens
anderer werden zu können. – Liebe setzt zur Akzeptanz des Unwahr-
scheinlichen das Interesse an Selbstverwirklichung gleichermaßen immer

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II. Die Gesellschaft lieben

schon voraus (Luhmann, 1997: S. 363) und steigert es zum Versprechen


seiner Erfüllung.
Mit der Liebe der Gesellschaft interpenetriert aber nicht nur Gesell-
schaft in die höchstpersönliche Intimität der Individuen, wenn sie der Lie-
bes-Code als Liebende geradezu prototypisch in Form bringt. Es gibt viel-
mehr auch eine “Gegenrichtung” der Durchdringung. Mit der Vergemein-
schaftung höchst eigensinniger Individuen und Individualitäten in der Lie-
bes-Intimität, die als soziale Form des SGKM Liebe entsteht, interpenetrie-
ren individuelle Idiosynkrasien in die Gesellschaft. Das kann geschehen,
weil diese Idiosynkrasien zur Grundlage für die Wahl einer sozialen Bezie-
hungsform gemacht und so kommunikabel sowie kulturell manifest wer-
den. Nicht anderes zeigen all die Symbole, Narrative, literarischen Erzäh-
lungen und heute auch die Chiffren der Vernetzungen von Einzigartigkeit
wie sie in den Interaktionsmedien zirkulieren, etwa in den sog. Social Me-
dia.
Mit dem Medium Liebe etabliert sich die Liebe der Gesellschaft also als
Wahrscheinlichkeit erfüllter individueller Vergemeinschaftung. Eine Er-
wartung, die den Code ausbuchstabiert, in dem man kommuniziert, wie
man sich Liebe wünschen, wie man sich auf Liebe beziehen und wie man
Liebe zeigen kann.
Weder das Medium Liebe selbst noch seine Codierung(en) sind dabei
eine unwandelbare soziale Tatsache, die wie ein ehernes Gesetz über allen
Orientierungen, Praktiken und allen Handlungen der Liebenden und de-
rer schwebt, die es werden wollen. Das Medium hat sich zusammen mit
den bereits angesprochenen gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen
selbst ausdifferenziert. Die Liebe der Gesellschaft, wie wir sie heute ken-
nen, ist also keine gottgegebene Himmelsmacht, sondern gesellschaftlich
entstanden.
Genauer gesagt ist die Form, individuelle Begierden und Gefühle sozial
zu beschrieben, anschlussfähig zu machen und damit auch zu kontrollie-
ren, gesellschaftlich entstanden. Das Medium Liebe ist erkennbar gewor-
den, hat sich gesellschaftlich entwickelt und konnte dadurch Probleme des
individuellen Ausdrucks von Hingezogenheit, Begehren und Partnerwahl
in einer sehr spezifischen Weise beantwortbar machen.
Dabei wurde es selbst zum Gegenstand von Erwartungen, mit anderen
und andere lieben zu können. Diese Erwartungen an die Liebe der Gesell-
schaft, also an das, was die anderen für Liebe halten, bauen ein Spannungs-
feld zu den individuellen Erlebnissen und Praktiken auf, lieben zu können
und zu lieben.

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II. Die Gesellschaft lieben

Man möchte in diesem Zusammenhang von “gespannten Erwartungen”


oder sogar von “überspannten Erwartungen” sprechen. Erkennbar wird
die inhärente Spannung an paradoxen Erwartungskonstellation, die für die
heutige Liebe typisch sind, etwa beim erwarteten Zufall oder dem genüssli-
chen Leiden. Auch das gehört zur spannenden Unwahrscheinlichkeit der
Liebe. In der Praxis der Liebe wird diese inhärente Widersprüchlichkeit
für gewöhnlich allerdings durch die Betonung von Erwartungen der voll-
kommenen Erfüllung verdeckt, dem letztendlichen Ankommen der Su-
chenden im jeweils anderen. Auch dies ist für das SGKM Liebe konstitutiv,
weil es seine Zumutungen plausibilisiert (siehe oben) – wir kommen da-
rauf zurück.
Weil dem SGKM Liebe ein individuell kaum auszuhaltendes und gesell-
schaftlich kaum zu stabilisierendes Spannungsverhältnis von Erwartungen
an die Normalität der Liebe und an eine individuell erfüllte Erlebnispraxis
zu Grunde liegt, bleiben der Liebescode und die sich darin ausdrückende
Sozialität der Intimität fragil. Sie sind anfällig für Irritationen der Erwar-
tungen und damit potenziell offen für individuelle und kollektive Suchbe-
wegungen nach Erwartungsbestätigung. Zumindest latent bleiben sie so
auch offen für Abweichungen von der Normalität der Liebe. Experimente
mit der sozial akzeptierten Liebespraxis bleiben möglich, um das Verspre-
chen der Liebe, erfüllt zu lieben, das sich an alle richtet, die lieben wollen,
im Einzelfall wieder bestätigen zu können.
Evolutionär gesprochen unterliegt die Entwicklung des SGKM Liebe
einem Variationsdruck, wie er von veränderten Umweltbedingungen im
Soziotop der Liebe ausgeht, etwa von einem Differenzierungswandel der
Gesellschaft. Der Druck, es mit Abweichung vom gesellschaftlichen Lie-
bescode zu versuchen, geht aber auch von den kleinen Veränderungen aus,
die bei seiner Reproduktion in den unzähligen Einzelfällen der Liebe statt-
finden.
Dieser Variationsdruck hat dazu geführt, dass sich die Liebe und die Lie-
bespraxis von Freundschaft unterscheiden konnten. Er hat auch dazu ge-
führt, dass Liebe heute andere Bedingungen und Konsequenzen individu-
eller Erfüllung und persönlichen Vergemeinschaftung in einer intimen
Paarbeziehung meint, als es noch vor 200 Jahren der Fall war.
Es ist demzufolge zu erwarten, dass die Liebe und ihr Code sowohl er-
kennbar als auch evolutionär unruhig und damit auch in Zukunft ent-
wicklungsfähig bleiben werden. Davon ist auszugehen, weil die paradoxen
Zuspitzungen des SGKM Liebe erhalten bleiben werden. Sie bleiben beste-
hen, wenn die Liebe weiterhin etwas so Unwahrscheinliches wahrschein-
lich machen soll, wie den gesellschaftlichen Einbezug der an sich nicht zu

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II. Die Gesellschaft lieben

vergesellschaftenden Individualität und wenn das als Grundlage für die Er-
füllung des Erlebens eben dieser Individualität dienen soll.
Bei der soziologischen Beobachtung der Liebe der Gesellschaft gerät also
nicht das schöne, ausschließliche, schmerzliche oder leidenschaftliche Ge-
fühl der Hingezogenheit zu anderen in den Blick. Es stehen auch nicht die
individuellen und partikularen Praktiken im Vordergrund der Betrach-
tung, mit der sich die Expression verkörperter Wünsche und Erfahrungen
im Einzelfall vollzieht.
Diese Soziologie der Liebe fragt mit Blick auf die Liebe der Gesellschaft
grundsätzlich nach der Eigendynamik, die die Vergesellschaftung durch
Liebe charakterisiert. Das bedeutet dann ebenso nach der Sozialisation von
Liebeserwartungen zu fragen, wie nach der gesellschaftlichen Evolution
dieser sozial akzeptierten Ausdrucksform der individuellen Wahl von Ge-
schlechtspartnern sowie der darauf aufbauenden Sozialität der Intimität.
Und damit verbunden stellen sich Fragen nach den kulturellen Reformu-
lierungen und Bewertungen individueller Gefühle und körperlicher Be-
dürfnisse.

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– Aus: "Die gestundete Zeit" –

(...)
Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.
(...)

Ingeborg Bachmann

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III. Das Medium lieben

Gewöhnungsbedürftig scheint schon der soziologische Hinweis zu sein,


dass die Liebe zumindest dann, wenn wir sie gestehen und damit zeigen,
gar nicht unsere intime Privatsache, sondern etwas sein soll, das wir mit
anderen teilen. So soll sich Liebe in einem Konzept dessen ausdrücken,
was gerade von anderen für normal in Sachen Liebe gehalten wird. Sich
dann aber noch vorzustellen, dass Liebe selbst ein Medium ist, dass wir al-
so im Grunde mit der Liebe ein Medium lieben oder doch zumindest un-
sere Liebe nur im Code des Mediums “Liebe” zum Ausdruck bringen kön-
nen, fordert die Erfahrungsgewohnheiten des persönlichen Empfindens
und der Exklusivität – etwa einer Paarbeziehung – deutlich heraus.
Doch genau darum geht es beim soziologischen Blick auf die Liebe der
Gesellschaft. Es geht darum, welche soziale Fassung die persönlichen Inter-
essen und Gefühle der individuellen Partnerwahl und der daran anschlie-
ßenden intimen, persönlichen Beziehungen erhalten, wenn sie kommuni-
ziert werden.
Liebe kann so gesehen keine Privatangelegenheit und noch weniger ein
intrinsisches Geschehen des Fühlens bleiben, wenn der Andere (Alter) er-
fahren soll, dass der Eine (Ego) verliebt ist. Mit der Kommunikation, mit
dem Zeigen und Vermitteln von Liebesinteressen, expandieren die Gefüh-
le in den sozialen Raum. Dabei ändern sie ihren “Aggregatzustand”, weil
sie jetzt nicht mehr Gedanken und Empfindungen bleiben können, son-
dern gezeigtes Verhalten und vermittelte Information werden müssen.
Beim Lieben von anderen wird die individuelle Liebe immer auch enteig-
net und in der Wiederaneignung durch die Liebenden und die, die sie be-
obachten, immer auch sozialisiert.
Deshalb soll hier dem Vorschlag von Luhmann gefolgt werden, das So-
ziale, also das Miteinandersein, als Realität der Kommunikation (des Ge-
meinmachens) und die Liebe als ein Medium aufzufassen, das die indivi-
duelle Partnerwahl und die persönliche Intimität in ganz eigener Weise so-
zial vermittelt. Dazu ist allerdings zu klären, was gemeint ist, wenn die Lie-
be als “Medium” verstanden wird.
Wir haben oben dazu bereits etwas vorgegriffen und gesehen, dass die
Liebe auch als Medium etwas anderes darstellt als das, was gemeinhin
mit “den Medien” assoziiert wird. Mit “Medien” sind umgangssprachlich,
aber auch in der Main-Stream-Mediensoziologie, zumeist Massenmedien

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III. Das Medium lieben

(vgl. Jäckel, 2005: S. 10), wie der Buchdruck, die Presse, das Fernsehen
oder der Rundfunk (manchmal auch noch das Internet) gemeint.
Dieser Medien-Begriff ist allerdings unzureichend, wenn man die me-
diale Qualität der Liebe erfassen will. Zwar hat Liebe, besonders in der Er-
scheinungsform als romantischen Liebe, schon etwas mit massenmedialer
Kommunikation zu tun. So vermitteln Massenmedien etwa in Zeitschrif-
ten, im Film oder in Fernseh- und in Radiosendungen, in der Form von
Nachrichten, Berichten, Spielshows, Werbung, Serien usw. Beispiele von
Lieben, Liebenden, Liebesbeweisen, Liebesschmerz usw. (vgl. zum Fernse-
hen Iványi, Reichertz, 2002; zu Frauen- und Männerzeitschriften, Köck et
al. 2009: S. 23ff.). Und sie vermitteln Beispiele zu den Reaktionen, die da-
rauf erwartet werden. Allerdings sind das nur die inszenatorisch oder pla-
kativ zugespitzten Darstellungen von Normalitätserwartungen der Liebe.
Diese Medien bringen nicht die sozial geteilte Art und Weise in Form, Er-
wartungen der individuellen Partnerwahl und persönlichen Intimität
überhaupt als Erwartungen der Liebe verstehen zu können.
Damit die Zuschauerinnen und Zuschauer also verstehen, dass in der
Serie diejenigen, die Händchen haltend die Szenerie betreten, die Lieben-
den sind, bedarf es eines Mediums, das genau dieses Verständnis von Lie-
besmerkmalen und -erweisen wahrscheinlich macht. Liebe ist deshalb kein
Massenmedium, sondern ein Medium, das die unwahrscheinlichen Erwar-
tungen, die mit Liebe verbunden sind, durch seine bedeutungshafte Zu-
spitzung verallgemeinert. Liebe tritt so als ein symbolisch generalisiertes
Kommunikationsmedium kurz: SGKM in Erscheinung.
Wie aber kommt es zur Ausprägung eines SGKM und was charakteri-
siert dann seine Kommunikationsspezifik? Hierzu muss man zunächst dar-
stellen, was Luhmann unter Kommunikation versteht. Kommunikation
stellt laut Luhmann keine Übertragung von Informationen von einem Ort
zum anderen und auch keine Übertragung von Informationen von Alter
zu Ego oder umgekehrt dar, wie das etwa die Informationstheorie, aber
auch manche Medientheorien darstellen (1984: S. 193).
Luhmann zu Folge handelt es sich bei Kommunikation vielmehr um
einen Prozess der Anregung sinnhafter Beobachtungen. In dessen Verlauf
wird eine Informationsauswahl, durch die Auswahl einer geeigneten Ver-
mittlung, so dargestellt, dass sie aus der Unterscheidung der gewählte
Form der Vermittlung und der Informationswahl rekonstruiert werden
kann (O. c.: S. 194f.).
In Luhmanns Diktion gesagt, stellt sich Kommunikation als ein Prozess
von drei aufeinander bezogenen Sinnselektionen dar. Bei Kommunikation
wird Information (was wird kommuniziert) von der Mitteilung (wie wird

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III. Das Medium lieben

kommuniziert) und vom Verstehen (warum wird kommuniziert) unter-


schieden (ebd.).
Eine solche Konzeption von Kommunikation trägt soziologisch der Si-
tuation der doppelten Kontingenz und der Konstruktion von Erwartungen
über die soziale Wirklichkeit Rechnung. Ego und Alter können sich dann,
wenn sie sich begegnen, nicht wechselseitig in die Köpfe schauen. Deshalb
herrscht bei beiden ein Zustand der Unwägbarkeit und der unterstellten
Erwartungen vor (O. c.: S. 156). Sie können diesen instabilen Zustand nur
durch Versuche der Kommunikation zu einem stabileren System bestätig-
ter Erwartungen umformen. Dabei “tauschen” sie allerdings keine Infor-
mationen “aus”, so als ob es sich um Objekte handeln würde. Stattdessen
machen sie sich vielmehr wechselseitig ein Bild vom jeweils anderen und
dem, was er wollen könnte.
Mit diesen Annahmen über soziale (nicht technische) Kommunikation
wird deutlich, wie fragil, und das heißt bei Luhmann “unwahrscheinlich”,
das Zustandekommen und die Fortsetzung von Kommunikation und da-
mit auch das Zustandekommen und die Fortsetzung von sozialen Syste-
men ist. Kommunikation muss sich gleichsam fortwährend gegen die En-
tropie sozialer Kontingenz bewähren und kann nur bestehen, wenn dazu
unablässig Unwahrscheinlichkeitsprobleme gelöst werden (1981: S. 26).
Im Anschluss an Luhmann, aber im Interesse einer konziseren Modellie-
rung von Kommunikationsmedien über ihn hinausgehend, sind diese
grundlegenden Probleme der Kommunikation als Unterscheidungsproblem
(wie wird Information unterscheidbar?), als Aufmerksamkeitsproblem (wie
kann die Aufmerksamkeit auf die Mitteilung fokussiert werden?) und als
Verstehensproblem (wie kann die Information so aus der Mitteilung rekon-
struiert werden, dass im Sinne ihrer Unterscheidung mit weiterer Kommu-
nikation an sie angeschlossen werden kann?) zu definieren (Thiedeke,
2012: S. 134ff.).
Medien, verstanden als sozio-technisch operierende Mechanismen zur
Strukturierung von kontingentem Sinn (O. c.: S. 145), sind eine Möglich-
keit neben anderen, diese Unwahrscheinlichkeitsprobleme der Kommuni-
kation zu beantworten. Das bedeutet dann aber auch, dass es nicht “die
Medien” gibt und dass Medien auch nicht ausschließlich, noch nicht ein-
mal vorrangig, mit Massenmedien gleichzusetzen sind.
Vielmehr haben sich als Problemlösungsoptionen drei Typen von Medi-
en herausgebildet (O. c.: S. 146ff.). Es sind 1. Unterscheidungsmedien ent-
standen, die die Unterscheidbarkeit von Information verbessern, etwa Bil-
der, Zeichen, Piktogramme usw. 2. haben sich Aufmerksamkeitsmedien eta-
bliert, die die Aufmerksamkeit auf Mitteilungen, Mitteilungsverhalten und

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-techniken konzentrieren. Dazu zählen dann etwa die Individualmedien


wie Sprache und Schrift, die Massenmedien wie Druck, Film, Fernsehen
und Radio sowie die kybernetischen Interaktionsmedien wie Computer
und Computernetze. Schließlich sind 3. im Prozess der Medienevolution
Verstehensmedien entstanden, die vor allem den Erfolg der Kommunikati-
on, also eine im Sinne der gewählten Informationen sozial passende Fort-
setzung der Kommunikation, wahrscheinlicher machen. Zu ihnen zählen
die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie z. B. Macht,
Geld, Wahrheit und Liebe.
Legt man der Beobachtung und Beschreibung dieser Ausdifferenzierung
unterschiedlicher Medientypen eine evolutionäre Perspektive zu Grunde,
wird ihre wechselseitige Verflechtung deutlich, aber auch ihr Verhältnis
zur gesellschaftlichen Entwicklung von Sinnverhältnissen.
“Die Steigerung der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen – das
ist die Formel, die Gesellschaftstheorie, Evolutionstheorie und Theorie
der Kommunikationsmedien verbindet. Die Normalisierung unwahr-
scheinlicher Gesellschaftsstrukturen stellt höhere Ansprüche an die
Kommunikationsmedien, sie spiegelt sich in ihrer Semantik, und Evo-
lution ist das Konzept, das erklären soll, wie so etwas zustandekommt
[sic!].“ (Luhmann, 1982: S. 10).
Die differenzierten Medien stellen selbst variierende Versuche dar, auf die
Komplexitätssteigerung von Sinnbedingungen der Kommunikation so zu
reagieren, dass die Vermittlung dieser Kommunikation auch unter den
komplexeren Bedingungen wahrscheinlich bleibt. Dabei bauen die ver-
schiedenen Medien in ihrer Entwicklung aufeinander auf, lösen sich aber
nicht gegenseitig ab. Sie unterscheiden sich vielmehr voneinander, weil sie
unterschiedliche Komplexitätsprobleme mit spezifischen medialen Ant-
worten beantworten. – Ein Aufmerksamkeitsmedium, wie die Schrift, re-
agiert etwa auf das Problem, die Aufmerksamkeit auf die Mitteilung Ab-
wesender zu lenken. Ein SGKM reagiert auf das Problem zu vermitteln,
warum man unwahrscheinliche Handlungs- und Erlebnisalternativen wäh-
len soll.
Gerade deshalb stehen all diese Medien in einer co-evolutionären Wech-
selbeziehung zueinander. Sie stehen damit aber auch in einer co-evolutio-
nären Wechselbeziehung zum Differenzierungswandel der Sinnverhältnis-
se der Gesellschaft, weil sie als Problemlösungen für grundlegende Kom-
munikationsprobleme die Ausprägung komplexerer Sinnstrukturen kom-
munikativ ermöglichen.

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Hierzu zwei Beispiele zur Komplexitätssteigerung, die mit Medien mög-


lich wird, wenn man mit ihnen Komplexitätsprobleme beantwortet: So
werden mit dem Medium der Schrift die Grenzen der Anwesenheit der
Kommunizierenden überschritten, indem die Spuren ihrer Kommunika-
tionen materiell kondensieren. Wer schreibt, kann über den Abgrund von
Zeit und Raum kommunizieren. Texte können als ewige Wahrheiten be-
handelt oder vergleichend kritisiert werden, sie bleiben statuarisch und
man kann sich auf das, was geschrieben steht, berufen, ohne den Schrei-
benden je begegnet zu sein (Thiedeke, 2012: S. 167ff.).
Das SGKM Geld hingegen steigert die Wahrscheinlichkeit des mittelba-
ren Eigentumstransfers und der Abstraktion von Besitzverhältnissen.
Wenn Geld als SGKM zahlt, dann wird der unwahrscheinliche Eigentums-
transfer wahrscheinlich und zwar weitgehend unabhängig von den persön-
lichen Beziehungen der Zahlenden (siehe schon Simmel, 1958: S. 297ff.).
Diese müssen dann noch nicht einmal mehr danach fragen, was Geld ist
oder woraus sein Wert besteht, so lange man darauf vertraut, dass es beim
nächsten Eigentumswechsel wieder zahlt usw.
Getrieben von der zirkulären Komplexitätsdynamik von Möglichkeiten
und Voraussetzungen (Thiedeke, 1997: S. 177f.) haben sich im Laufe der
co-evolutionären Entwicklung der Kommunikationsmedien die SGKM
wie Macht, Geld, Wahrheit und Liebe, erst dann ausdifferenziert, als ein
Niveau der Kommunikationskomplexität erreicht worden war, auf dem
das Verstehen von Handlungs- und Erlebnisalternativen und damit der so-
ziale Erfolg der Kommunikation unwahrscheinlicher wurde.
“Wenn das Gesellschaftssystem und die für es mögliche Umwelt kom-
plexer werden, nimmt auch die Selektivität der Festlegungen zu. Was
immer mitgeteilt werden muß [sic!], wird zur Auswahl aus mehr ande-
ren Möglichkeiten. Dadurch wird die Motivation zur Übertragung
und Annahme von Selektionsleistungen unwahrscheinlicher.“ (Luh-
mann, 1982: S. 21/22)
Am Erreichen dieses Komplexitätsniveaus der Kommunikation sind Medi-
en wie Sprache, Schrift oder Massenmedien, die evolutionär früher in Er-
scheinung getreten sind, durch die mit ihnen etablierten Problemlösungen
ursächlich beteiligt. Ein Wirkungsmechanismus scheint dabei in der Be-
günstigung des Wandels der Differenzierung gesellschaftsstruktureller
Sinnverhältnisse durch neue mediale Kommunikationsformen zu liegen.
Das lässt sich etwa beim Übergang von der stratifizierten zur funktionalen
Differenzierung anhand der Rolle, die gedruckte Texte (Giesecke, 1991:
S. 209ff.; 329ff.) und dann die massenmediale Verbreitung exemplarischer

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Ereignisse und Personen gespielt haben (Thiedeke, 2012: S. 245ff.), beob-


achten.
Die mit der Vervielfältigung gedruckter Texte einhergehende Vielfalt an
Meinungen, Nachrichten und Wissen hat sowohl die Möglichkeit eröffnet,
abweichende Meinungen, Nachrichten und anderes Wissen kennenzuler-
nen, wie es die Festlegung von Standpunkten, Haltung und verbindlichem
Wissen voraussetzungsvoller und damit unwahrscheinlicher gemacht hat.
Die u. a. von dieser Entwicklung massenmedialer Kommunikation ge-
triebene Entwicklung der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft
(siehe zum Buchdruck Luhmann, 1997: S. 299f.) baut auf anspruchsvolle-
ren Kommunikationsverhältnissen, d. h. auf voraussetzungsreichen Sinn-
verhältnissen auf. Es stellt sich daher die Frage, wie dann die medienspezi-
fische Antwort aussehen könnte, um den gemeinten Sinn in sozialen
Handlungssituationen rekonstruieren und anschlussfähig für weitere Kom-
munikationen halten zu können?
Die SGKM scheinen eine solche Problemlösung gesellschaftlicher Inte-
gration von kontingenten Handlungen darzustellen, wie sie für die Aus-
prägung von Sinnverhältnissen der funktionalen Differenzierung charakte-
ristisch sind.
Bereits der Soziologe Talcott Parsons hatte in seiner Handlungssystem-
theorie SGKM als intermediäre Strukturen postuliert (Gould, 1976:
S. 493ff.). Sie haben seiner Ansicht nach die Aufgabe, zwischen den Funk-
tionssystemen der Gesellschaft zu vermitteln und auf diese Weise zur Sta-
bilität ihrer Strukturen beizutragen.
Luhmann, der im Gegensatz zu Parsons nicht vorrangig nach dem
Strukturerhalt, sondern nach der Unwahrscheinlichkeit sozialer Systeme
fragt, geht bei seiner Modellierung der SGKM als Problemlösungsmecha-
nismen für Unwahrscheinlichkeitsprobleme des Verstehens-Erfolgs der
Kommunikation allerdings erheblich weiter. 1997 beschreibt er die Funk-
tion der SGKM in seiner Gesellschaftsanalyse “Die Gesellschaft der Gesell-
schaft” wie folgt:
“Sie übernehmen die Funktion, die Annahme einer Kommunikation
erwartbar zu machen in Fällen, in denen die Ablehnung wahrschein-
lich ist. (…) Sie reagieren auf das Problem, daß [sic!] mehr Informati-
on normalerweise weniger Akzeptanz bedeutet” (S. 316).
SGKM sind in der Lage diese Funktion zu entfalten, weil sie an sich un-
wahrscheinliche Erwartungen des Erlebens und Handelns durch Verallge-
meinerung und Bedeutungsaufladung als den Einzelfall übergreifende Sin-
nalternative erscheinen lassen. Sie lassen diese Erwartungen als Alternative

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dessen erscheinen, was in diesem Fall für das eigene Erleben und Handeln
gewählt werden könnte, weil “man” es in diesem Fall wählt – also unter
Beachtung der Bedingungen und Symbole des Mediums durch alle, die in
diesem Medium kommunizieren.
“Man kann eine zugemutete Kommunikation annehmen, wenn man
weiß, daß [sic!] ihre Auswahl bestimmten Bedingungen gehorcht; und
zugleich kann derjenige, der eine Zumutung mitteilt, durch Beach-
tung dieser Bedingungen die Annahmewahrscheinlichkeit erhöhen
und sich selbst damit zur Kommunikation ermutigen. Damit wird je-
nes Doppelproblem der Täuschung und der Akzeptanz zugleich ge-
löst, oder doch normalisiert. Man erhöht die Sicherheit, daß [sic!] jene
Bedingungen beachtet werden, obwohl sie ihrerseits hochselektiv sind
und keineswegs jede gewünschte Konstellation abdecken, man signali-
siert diese Selbstfestlegung durch den Gebrauch der entsprechenden
Symbole, die den Gebrauch des Mediums bezeugen, und verdient sich
auf diese Weise die Aussicht auf Annahme der Kommunikation.“ (O.
c.: S. 321).
Treten SGKM solcherart als “Erfolgsmedien” für die Fortsetzung unwahr-
scheinlicher Kommunikationen auf, dann kann ihre Bestätigung von allen
(also: sozial) für jeden Einzelfall (also: individuell) als normal (also: sozial
akzeptiert) erwartet werden. Auf diese Weise bringen gesellschaftlich eta-
blierte SGKM Sinn – die Auswahl von Unterscheidungen – in Form. Diese
Konditionierung von Sinnverhältnissen durch die SGKM realisiert sich in
ihren je spezifischen Codierung dessen, was kommunikativ dargestellt und
verstanden werden kann (O. c.: S. 359f.). SGKM konditionieren mit ihren
semantischen Codes also die Art und Weise, wie die Wahl des Erlebens
und Handelns als gesellschaftlich akzeptiert kommuniziert werden kann.
So kann dann, wenn im SGKM Macht kommuniziert wird, verstanden
werden, dass das Handeln von Alter das Handeln von Ego in der Konstella-
tion von Befehl und Gehorsam festlegt. Beim SGKM Geld kann verstan-
den werden, dass das Handeln von Alter das Erleben von Ego hinsichtlich
der Motivation festlegt, Eigentum gegen Geldzahlungen herzugeben. Das
SGKM Wahrheit plausibilisiert für alle, dass dann, wenn Alter Beweise
vorlegt, Ego erleben kann, dass es Alter um bestätigte und nicht um be-
hauptete Gewissheit geht, also um ein Verstehen von Wissen nicht von
Glauben (vgl. O. c.: S. 336). – Auf Liebe kommen wir gleich zu sprechen.
Da es kein Medium ohne die von ihm gebildete Kommunikationsform,
verstanden als Form des Sinns, zu Meinen zu Wollen oder zu Tun, gibt,
koppeln auch die SGKM die herumgeisternden Sinnmöglichkeiten mit

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ihren Kommunikationscodes (also ihren Erwartungsplausibilitäten) zu


spezifischen Formen, in denen wir uns dann sozial begegnen. Bei Macht
gewinnt das Medium Form als Herrschaft, bei Geld als Zahlungen und die
Form, die Wahrheit gewinnt, sind die Beweise, in denen sie sich fortwäh-
rend durch uns zu bestätigen hat.
Heruntergebrochen auf die Alltagskommunikation bedeutet deren For-
mung durch die Kommunikationsformen der SGKM, dass wir für ge-
wöhnlich genau wissen, was von uns und anderen zu erwarten ist, wenn es
ums Herrschen, Zahlen oder Beweisen geht. Wir wissen, dass wir erwarten
können, anders zu handeln oder anders zu erleben, je nachdem, ob es um
Macht, Geld oder Wahrheit geht. Und wir wissen, dass Macht nicht zahlt
und Wahrheit nicht herrscht oder Geld beweist, auch wenn wir das beim
Moralisieren gerne anderes sehen. – Scheinbar regiert Geld die Welt; aber
wenn Macht gekauft wird, ist es für uns keine Selbstverständlichkeit, son-
dern Korruption.
Das alles gilt auch für die Liebe. Auch die Liebe macht als SGKM un-
wahrscheinliche Erwartungen durch symbolische Zuspitzung und Verall-
gemeinerung annehmbar und in einer liebestypischen Art und Weise,
einem spezifischen Code, kommunizierbar – sei er passioniert, roman-
tisch, partnerschaftlich oder gar konsumistisch ausgeformt. Damit es um
Liebe geht, muss der Code auf die Unwahrscheinlichkeit verweisen, ge-
liebt zu werden und zu lieben.
Das heißt konkret, es muss kommunizierbar werden, dass wir erleben,
dass unbekannte andere uns gegenüber handeln, als seien wir mit unserer
individuellen Idiosynkrasien das Zentrum ihres Wollens und Tuns, wenn
sie uns lieben und als handelten wir so, als seien ihre Idiosynkrasien das
Zentrum unseres Wollens und Tuns, wenn wir ihnen die Liebe erweisen.
Um diese Unwahrscheinlichkeit noch wahrscheinlicher zu machen, muss
mitkommuniziert werden, dass die Motivation, dieses Erleben und Han-
deln zu erwarten, ausschließlich in individuellen Gefühlen zu finden sein
soll, die deshalb im Grunde unerklärlich bleiben.
Anders gesagt, die Liebe der Gesellschaft ist auf raffinierte Weise, näm-
lich sozial akzeptiert, durch individuelle Gefühle begründet und damit der
Kontrolle durch soziale Gruppen und Formierungen entzogen, was dann
z. B. einer klassenspezifischen Heiratspolitik einen skandalöse Hautgout
verleiht. Deshalb darf auch heute, etwa im Weltbestseller Fifty Shades of
Grey, wenn er Erfolg beim Massenpublikum haben will, Mr. Grey nicht et-
wa eine Angehörige von “old” oder “new Money” zur Heirat ketten und
peitschen. Eine Konstellation, die in Tateinheit mit dem BDSM-Motiv als
Steigerung der Unwahrscheinlichkeit intimer Leidenschaft, die Interpre-

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ten durchaus ins Grübeln bringt, darf es doch im Konzept der Liebe als
Wahlmodus nur um das eigene und damit das nicht manipulierte Gefühl
gehen. – Aber vielleicht liegt ja in der Unsicherheit individueller Gefühle
gerade der Schlüssel zur Restabilisierung gesellschaftlicher Ordnung (so
mit Blick auf Geschlechtsrollen z. B. Illouz, 2013: Online)?
Das heißt aber nichts anderes, als dass es normal erscheint, dass wird
dann, wenn es um Liebe geht, die noch unbekannte oder absonderliche In-
dividualität anderer zum Zentrum unseres Wollens und Fühlens und da-
durch zum Maßstab unseres Handelns machen sollen. Genau das will die
Geliebte oder der Geliebte erleben. Wir (Ego) handeln aufgrund dessen,
was der oder die andere (Alter) erlebt.
Genauer sollte man allerdings sagen, wir handeln aufgrund dessen, was
wir erwarten, das der oder die andere erlebt. Auch bei der Liebe realisiert
sich “nur” eine symbolisch vermittelte (also mediale) Kommunikation.
Liebe entfaltet wie jedes SGKM dabei eine spezielle Konstellation von Er-
wartungen und Erwartungserwartungen.
Dass auch Liebe sich in kommunizierbaren Projektionen von Eintre-
tenswahrscheinlichkeiten des Verhaltens und Handelns ereignet, liegt da-
ran, dass auch Liebe die undurchsichtigen Persönlichkeiten, die in doppel-
ter Kontingenz aufeinandertreffen, nicht durchdringen kann. Die “black
boxes” werden nicht zu “white boxes”, nur weil sie meinen, sich zu lieben.
Das ist nicht der Fall, obwohl Liebe genau das nahelegt, indem sie voraus-
eilende Liebeshandlungen von Ego, in Erwartung des Liebeserlebens von Al-
ter erwartbar macht.
Die Erwartungskonstellation, die mit Liebe einhergeht, ist demnach er-
kennbar voraussetzungsreich, um nicht zu sagen: komplex. Die gegenseiti-
gen Erwartungen zielen (und das wird auch noch kommunizierbar) als
Grundlage einer sozialen Beziehung auf den Ereignishorizont des Psychi-
schen. Mehr noch, sie zielen auf den Erwartungshorizont der psychophysi-
schen Konstitution der Liebessubjekte, ohne ihn jemals erreichen oder gar
durchdringen zu können. – Man möchte hier schon sagen: kein Wunder,
dass Liebe zum Scheitern verurteilt ist!
Was dabei nach Luhmann hervorsticht, ist die ausgeprägte Asymmetrie,
die zwischen den Erwartungen von Ego, der oder die sich verliebt, und Al-
ter herrscht, wenn er oder sie geliebt werden soll.
“Das Besondere (und wenn man so will das Tragische) der Liebe liegt
in dieser Asymmetrie, in der Notwendigkeit, auf Erleben mit Handeln
zu antworten und auf Schongebundensein mit Sichbinden.“ (O. c.:
S. 26)

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Aber genau diese Tragik, den Erwartungshorizont von Alter durchdringen


zu sollen, um liebend handeln zu können, wird durch die Asymmetrie der
Erwartungskonstellation des SGKM Liebe nicht nur verdeckt, sie wird ge-
radezu zur Chance des Liebeserweis umgedeutet.
“Die Asymmetrie von Erleben und Handeln enthält dann die Chance
des Zuvorkommens: Man kann sich nach dem Erleben des anderen
richten, auch wenn er noch nicht entsprechend gehandelt hat, auch
wenn er noch kein Wunsch geäußert, noch keine Zurechnung auf sich
selbst auf sich genommen hat.“ (O. c.: S. 27).
Auch wenn sie soziologisch, psychologisch oder gar therapeutisch gut he-
raus präpariert werden kann, sollte man vielleicht dennoch nicht allzu
sehr bei der Erwartungsasymmetrie von Liebesverhältnissen verweilen,
weil die Codierung des Mediums die symbolische Steigerung von Erwar-
tungen dazu nutzt, sie zu verdecken.
Ohne hier von Reziprozität im Sinne eines einfachen Gabentauschs der
Art, du schenkst mir einen Liebesbeweis, ich schenke Dir einen Liebesbe-
weis, auszugehen, scheint für die Motivation Egos, Liebe zu wagen und so-
gar in Liebesvorleistung zu treten, die Erwartung aussichtsreich zu sein,
dass dann, wenn Alter die Liebe erwidert, Egos Erleben ebenfalls zum Zen-
trum des Handelns von Alter werden kann.
In der Liebe liegt, wie bereits angedeutet, das verführerische Verspre-
chen nicht nur zu lieben, sondern ebenfalls geliebt zu werden. Das bedeu-
tet, vielleicht selbst die unwahrscheinliche Erfahrung machen zu können,
mit der eigenen Eigenart – wie seltsam diese von außen auch bewertet wer-
den mag –, mit der individuellen psychophysischen Konstitution und allen
darauf aufbauenden Bedürfnissen und Obsessionen geliebt und so zum
Maßstab der Handlungen eines anderen gemacht zu werden und sich diese
Erwartung wiederum im eigenen Gefühl des Angenommenseins bestäti-
gen zu können.
Die Beobachtung dieser wahrlich komplexen Erwartungskonstellation,
die das SGKM Liebe im Code seiner Liebeskommunikation als selbstver-
ständlich ausgibt, macht zweierlei deutlich. Zum einen zeigt sie an, was
Liebe als SGKM, und das meint als Liebe der Gesellschaft für die Gesell-
schaft, zu leisten in der Lage ist.
Wenn auf der Grundlage individueller Gefühle und Bedürfnisse eigen-
ständig geliebt werden kann, dann eröffnet genau das eine Ansatzpunkt
für die gesellschaftliche Einbindung abweichender Individualität in der
Kommunikationsform der Intimität. Wie oben bei der Ausdifferenzierung
(oder sollte man besser “Auseinanderdifferenzierung” sagen?) der Freund-

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schaft und der Liebe deutlich wurde, kann Liebe so zur Grundlage eines
sozialen Systems persönlicher Vergemeinschaftung werden, das “alles” um-
fasst, was individuell ist – bis hin zum körperlichen Begehren der Sexuali-
tät und ihrer Kultivierung im lustvollen Verlangen der Erotik.
Luhmann zu Folge wird in der modernen Gesellschaft auf diese Weise
keine Extensivierung der Personalisierung sozialer Beziehungen erreicht,
die man als “Mehr an personalen Beziehungsmöglichkeiten” verstehen
kann. Dafür scheinen eher kybernetische Interaktionsmedien wie das In-
ternet mit Formen wie den Social Media zu taugen. Was mit der Kommu-
nikation im SGKM Liebe erreicht wird, ist eine Intensivierung der sozialen
Geltung individueller Eigenschaften in Form eines Beziehungstyps
der “zwischenmenschlichen Interpenetration” (O. c.: S. 14).
Damit wird andererseits deutlich, warum das SGKM Liebe, abgesehen
von der durch mediale Kommunikation gesteigerten Komplexität dessen,
was es zu verstehen gilt, erst unter den Sinnbedingungen der funktional
differenzierten Gesellschaft zum kommunizierbaren Erwartungsmodus
der Wahl von Intimpartnern werden kann. Das scheint paradoxerweise da-
rin zu liegen, dass in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft
soziale Beziehungen in hohem Maße gar nicht mehr auf der persönlichen
Kenntnis von Interaktionspartnern beruhen müssen, weil man sich entwe-
der an deren Rollen halten kann oder sie über Funktionssystemen und
dann besonders über funktionssystemspezifische Organisationen vermit-
telt werden. Wobei die Vermittlung durch Organisationen bis hin zur ge-
sellschaftlichen Vermittlung und Kontrolle körperlicher Bedürfnisse rei-
chen kann (Luhmann, 1997: S. 382) und die individuellen Körper sich
dann zum Kreuzungspunkt gesellschaftlicher Entscheidungen etwa der
Unterwerfung und der Produktivität entwickeln (Foucault, 1976: S. 37).
“Wie in keiner Gesellschaft zuvor gibt es unwahrscheinliche, kontin-
gente, nicht als Natur interpretierbare Verläßlichkeiten [sic!], die nicht
durch Personenkenntnis gedeckt sein können.“ (Luhmann, 1982:
S. 14).
Und gerade dadurch, durch die Unpersönlichkeit von Interaktionskontak-
ten und -partnern, wird die Selbstverständlichkeit der sozialen Definition
der Person über soziale Gemeinschaften – seien deren Gemeinsamkeiten
familial, religiös, regional, schichtspezifisch oder sonst wie ausbuchstabiert
– schlicht überstrapaziert. Das macht die Herausforderung kenntlich, wie
denn die Personen, die immer alles zu gleich sein und mit allen und allem
Möglichen in Kontakt treten können, sozial noch zu verorten wären.

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Da für jede Person anzunehmen ist, dass sie darin den anderen gleicht,
dass die Konstellation ihrer Fähigkeiten sozial zu partizipieren und
ihrer “sozialen Kreise” (Simmel), an denen sie partizipiert, in Bezug zu den
anderen ungleich ist, muss der Schlüssel zur Verortung darin liegen, wie
sich die jeweilige Person selbst positioniert und positionieren kann. Es
wird jetzt also wichtig, sozial nachvollziehen zu können, zu welchem
Weltbezug die jeweilige Person individuell in der Lage sein könnte und
wie sie ihn herzustellen vermag. Mit begriffsgeschichtlichem Tenor vorge-
tragen liest sich das bei Luhmann dann so:
“Für dem Begriff des Individuums heißt dies unter anderem: daß [sic!]
die alte Spezifikationsrichtung: Lebewesen > Mensch > Angehöriger
einer Schicht > Bewohner einer Stadt bzw. eines Landes > Angehöriger
eines Berufs > Angehöriger einer Familie > Individuum, ihren Sinn
verliert und gerade die Individualität, früher das Konkreteste, jetzt das
allgemeinste des Menschen wird. Demzufolge kann auch das, was frü-
her als hochkontingent gelten mußte [sic!], jetzt als notwendig begrif-
fen und durch Weltbezug charakterisiert werden. Andererseits hebt
diese Neufassung, diese Definition des Individuums durch einzigartige
Weltkonstitution, die bis etwa 1800 geltende Auffassung des Individu-
ums als Natur auf.“ (Hervorhebungen im Original, O. c.: Anmerk. 4,
S. 16/17).
Mehr noch, so möchte man hinzufügen, werden auch die quasi natürli-
chen Bedingungen, etwa sexuelle Differenzen und Orientierungen, dann
zur Konstruktion, wenn sie sozial als individuelle Positionierungen oder
zumindest doch als Arrangement der individuellen Selbstdarstellung des
Weltbezugs begreifbar werden – und für die Liebe der Gesellschaft zur Er-
wartungskonstruktion, die es zu erahnen und nach der es zu handeln gilt,
will man den oder die andere lieben.
Das SGKM Liebe stellt den Individuen der modernen Gesellschaft somit
einen Code zur Verfügung, in dem Liebe und Intimität so ausgedrückt
werden können, dass sie sich als kompatibel zu den komplexen Kommuni-
kationsbedingungen der Interpenetration von Individuen in die funktio-
nal differenzierte Gesellschaft erweisen.
Dieser Code fasst Liebe und Intimität als sozial akzeptierten Ausdruck
einer romantischen, auf Gefühlen basierenden, individuellen Wahl dessen,
was man begehrt. Der Liebescode des SGKM überbrückt dabei die Idiosyn-
krasien der Individuen, indem er sie gerade zum Wunsch des Begehrens
der Liebespaare steigert und sie so als ideales Ziel der Liebessehnsucht er-
scheinen lässt.

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Mit der Kommunikation im SGKM Liebe wird es möglich, Personen


und ihre höchst individuelle Weltsichten und Bedürfnisse zur gesellschaft-
lichen Strukturierung heranzuziehen. Das hat dann aber die paradoxe Fol-
ge, dass Liebe und ihre Kommunikationsform der Intimität die Kontingenz
zur Struktur erhebt. Liebe ist deshalb nur darin zu kontrollieren, dass sie
unkontrollierbar ist. Sie ist nur darin zu verstehen, dass sie unverständlich
bleibt. Und sie ist nur so zu kommunizieren, dass man, wenn man liebt,
möglichst wenig darüber spricht und schreibt, wie man liebt.
Es mag daher, wenn man das Medium Liebe sichtbar werden lässt, we-
nig verwundern, dass man mit der Liebe eine sehr paradoxe Sinnkonstella-
tion einer Vernunft der Unvernunft liebt, die von den Herzen formuliert
wird. Und es verwundert nicht, dass dies einen Ausnahmezustand im
Übertritt vom Persönlichen ins Gesellschaftliche (und zurück) markiert,
für den der Code die semantischen Chiffren der “Blindheit” oder gleich
der (lustvollen?) “Passion”, des Leidens an der “Liebeskrankheit” bereit
hält.

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– Last Christmas –

Letztes Jahr an Weihnachten habe ich dir mein Herz geschenkt,


aber schon am nächsten Tag hast du es wieder weggeworfen.
In diesem Jahr erspare ich mir die Tränen und verschenke es an jemand ganz
Besonderen.
Weißt du, gebranntes Kind scheut das Feuer!
Und so halte ich zwar Abstand, aber meine Augen kann ich trotzdem nicht von
dir lassen.
Sag mal, Schatz, erkennst du mich denn gar nicht?
Gut, es ist immerhin ein Jahr her und eigentlich überrascht es mich auch nicht.
Na ja, dann: Fröhliche Weihnachten!
Damals hab' ich mein Herz eingepackt und an dich geschickt.
“Ich liebe dich” stand auf der Karte, und genauso hab ich es auch gemeint.
Heute weiß ich, was für ein Dummkopf ich war.
Aber trotzdem bin ich mir sicher: Wenn du mich jetzt küssen würdest, du
würdest mich wieder genauso rumkriegen.
(...)

Wham!
[Übersetzung UTh.]

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IV. Die Unvernunft lieben

“Schlaflos sitze ich im Bett. Es ist zwei Uhr morgens. Ich google etwas,
das mir fremd ist, mich durcheinanderwirbelt: 'Er ruft nicht an, ob-
wohl...' Nee anders: 'Warum ist er plötzlich so kühl?' Herrje, klingt das
bescheuert, wie eine 13-Jährige, die sich bei Dr. Sommer ausheult. Ich
bin aber Ende 30. Binnen Sekunden schubsen mich diese Sätze in ver-
zweifelte Liebes-Chats, in denen alle Männer 'Schweine' sind. Ich lege
mein Handy weg. Bin doch kein Liebesopfer! Und er ist auch nicht
einer dieser Kerle. Er heißt Matti. Der Mann, in den ich mich kürzlich
verknallt habe und der mich nun maximal verwirrt.“ (Jassner, 2017:
S. 133).
Liebe verwirrt maximal, tut weh, macht blind, macht zum Opfer von Ge-
fühlsexplosionen und raubt den Verstand! Das klingt gefährlich und fühlt
sich vielleicht auch so an. Bei Risiken und Nebenwirkungen helfen Arzt
oder Apotheker allerdings kaum weiter. Vielleicht hilft doch noch Dr.
Sommer, jener “Briefkastenonkel” aus der Jugendzeitschrift Bravo, der Ge-
nerationen von “Liebesopfern” mit Rat zur Seite stand? Vielleicht hilft gar
die Zuflucht zur unabsehbaren Ratgeberliteratur in Sachen Liebe, in der
eine regelrechte Liebes-Sex-und-Partnerschafts-Therapieindustrie bemüht
zu sein scheint, ein letztes Bollwerk der Rationalität gegen die heran bran-
denden Verzweiflungstsunamis der Liebenden zu errichten.
Nur hat Liebe augenscheinlich wenig mit Verstand und Vernunft,
sprich mit Ratio, zu tun. Der Eindruck kollidiert allerdings mit Erwartun-
gen, wonach die moderne Gesellschaft sich durch Rationalität von der tra-
ditionalen Gesellschaft unterscheiden soll (vgl. etwa Weber, 1981: S. 20f.).
Sie hat wohl eher mit dem Gegenteil zu tun. Wir lieben mit der Liebe
der Gesellschaft die Unvernunft; wir kommunizieren den emotionalen
Ausnahmezustand, wenn wir im Liebescode unsere Verliebtheit anzeigen
und alle können es sehen, hören, vielleicht sogar (nach-)fühlen oder sind
gar selbst ganz und gar unvernünftig “verknallt”.
Für die Liebe der Gesellschaft, so wie wir sie uns heute in einer leiden-
schaftlichen, durch Gefühle begründeten und noch dazu romantischen Er-
scheinungsform vorstellen, scheint aber gerade das charakteristisch zu sein.
Es wird als normaler Ausdruck des Verliebtseins erwartet und zeigt so, ne-
ben dem Ausnahmecharakter des Liebens und Geliebtwerdens, auch das
Engagement der Liebenden an. Ein Engagement des Sentiments, das im

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IV. Die Unvernunft lieben

Code nicht zuletzt durch die allenthalben umherschwirrenden Herzen


und Herzchen symbolisiert wird.
Der Code zeigt in seinen Symbolen und Sinnbildern auch die Verletz-
lichkeit an, jene prekäre Lage, in die wir manövriert werden, wenn es um
Liebe geht. Blicken wir gesellschaftshistorisch etwa auf die Allegorien zu-
rück, die mehr leisten, als nur vergleichende Hinweise auf kulturelle Se-
mantiken zu liefern (vgl. Pfeiffer, 1977: S. 575ff.) und blicken wir hierbei
auf die Allegorie, in denen die Liebe angezeigt wurde, so fällt der niedliche
kleine Bengel auf, der Amor verkörpert. Oft einer schönen, lächelnden Ve-
nus als Göttin des Liebesschicksals beigegeben, hält der kleine Geflügelte
Pfeil und Bogen in Händen. Er ist also bereit nicht nur loszuschwirren –
unberechenbar in seinem Flug, mal hierhin, mal dahin gewendet. Er ist
auch bereit, Pfeile abzuschießen, die verletzen, wenn sie tief ins Herz der
Getroffenen dringen. Noch dazu haben diese Pfeile kleine Widerhaken,
damit man sie nicht allzu schnell und allzu leicht wieder aus dem Fleisch
ziehen kann.
So niedlich das alles daherkommen mag, es deutet neben der süßen
Lust, zum Wildbret der (unkontrollierbaren) Liebesjagd zu werden und
sich so dem Gefühl des Begehrens und der Leidenschaft hinzugeben und
nichts sonst erklären zu müssen, auch die Qualen an, die jene vom Liebes-
schicksal Getroffenen zu leiden haben. Liebe ist außerordentlich: Sie ist
das süße Begehren des ersehnten und doch schicksalhaften Erleidens des
Liebens selbst, so wird uns augenfällig vorgeführt. Und wer ein vom Pfeil
durchbohrtes rotes (!) Herz als Graffito an der Wand, im Liebesbrief oder
als Emoji sieht, der weiß, was die Stunde geschlagen hat.
Einen Moment sollte man aber noch bei der Betrachtung der Darstel-
lungen von Allegorien verweilen, wie wir sie etwa ab dem 16. Jahrhundert
und besonders aus dem 17. und 18. Jahrhundert kennen, also jener Über-
gangszeit, in der sich mit dem gesellschaftlichen Differenzierungswandel
auch das allgemeinverbindliche SGKM Liebe mit seinem Liebescode der
Kommunikation und seiner Kommunikationsform der Intimität gesell-
schaftlich etabliert (Luhmann, 1982: S. 18). Hier fallen die unterschiedli-
chen Darstellungen der Allegorien für die Liebe und die Vernunft auf, die
die jeweils unterschiedlichen Erlebnis- und Handlungserwartungen sym-
bolisieren.
So tritt die Vernunft als stolze Siegerin in Erscheinung. Sie erhebt sich
über das Trieb- und Lasterhafte, aber auch über den Glauben, denn ihre
Herrschaft gründet auf dem Nachdenken, Abwägen und Prüfen, nicht auf
dem Fühlen, Behaupten und Meinen. Selten fehlt das Attribut des Zepters.
Die Vernunft verführt nicht oder bittet, die Vernunft herrscht im strahlen-

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den Glanz der Nachvollziehbarkeit. Manchmal ist ihr die Allegorie der
Stärke, der rohen Kraft, beigegeben, die sie in Ketten führt wie einen
Hund, der bei Fuß zu laufen hat oder sie triumphiert gar über die Allego-
rie der Religion und des Glaubens.
Ganz anders kommt die Allegorie der Liebe daher. Sie ist zumeist als
nackte Venus dargestellt, mal verschämte, mal hintergründig lächelnde
Verführung zur Lust, die sich aber auch in sich gekehrt zeigen kann – ganz
des Erlebens ihrer Wirkung bewusst. Nicht selten wird sie von Symbolen
der Fülle und der Fruchtbarkeit wie einer Schar kleiner Kinder umlagert,
das alles in frühlingshafter Landschaft, hier schlägt alles aus, hier treibt es
und sprießt – Frühlingserwachen.
Oft ist ihr nicht nur der kleine Amor beigegeben, sondern auch noch
ein sichtlich in Leidenschaft erglühter Kriegsgott Mars. Der aber hat längst
sein Kriegshandwerk vergessen. Er findet sich in der Rolle des Werbenden
wieder, während Amor bereits nach seinem Schwert greift, ohne allerdings
selbst Pfeil und Bogen fallen zu lassen. Die Waffen der Liebe sind nicht die
Waffen des Krieges, hier herrscht nicht das Zepter, sondern die leiden-
schaftliche Berührung glühender Innerlichkeit.
Wie an diesen allegorischen Symbolisierungen der Vernunft und der
Liebe unschwer zu erkennen ist, handelt es sich um ungleiche Schwestern.
Vielleicht kämpfen sie sogar um die Vorherrschaft über das, was man an
Erleben und Handeln in persönlichen Begegnungen erwarten darf. – Wird
hier kalkuliert und nachvollzogen oder wird gefühlt und gehofft? Beides
scheint sich gegenseitig auszuschließen.
Tatsächlich fällt der Code der so unvernünftigen Hingezogenheit und
Ergebenheit an die, die man gar nicht kennt, nicht so einfach vom Him-
mel – jedenfalls nicht gesellschaftlich! Das SGKM der passionierten und
romantischen Liebe, mit seinem Liebescode und der Sozialität der Intimi-
tät von Geschlechtspartnern, hat sich in einem lagen Kampf von Vermu-
tungen, Meinungen, von Versuchen und Irrtümern als eigenständige Ori-
entierung für individuelles Erleben und Handeln herausgebildet.
Die Liebe musste, um ihren Code durchzusetzen, der sich nach Luh-
mann etwa im 18. Jahrhundert an der Unterscheidung von “plai-
sir”/“amour” für die Grenzziehung der Intimbeziehungen orientiert, erst
über die Vernunft siegen (zur Evolution des Codes O. c.: S. 50ff.). Dass sie
gesiegt hat erkennen wir heute daran, dass es uns als ganz selbstverständ-
lich erscheint, dass Liebe nicht vernünftig sein kann. Rationalität ist nur
schwer leidenschaftlich zu lieben und wo dies geschieht, ist die Katastro-
phe nah, wie uns historisch vielleicht der Fall Robespierres vor Augen
führt.

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Schon im 16. Jahrhundert findet dieser Wettstreit der Orientierungen


der Unwahrscheinlichkeit seinen Ausdruck im direkten Aufeinandertref-
fen der Vernunft und der Liebe, in der beide etwa im “Dialogue de
L'Amour et de la Raison” von 1667 um das Ideal einer vernünftig geordne-
ten Art der Liebe streiten. Die Vernunft tritt dabei als Sachwalterin der
überkommenen Anforderungen der Gesellschaft nach “geordneten Ver-
hältnissen” der Partnerfindung auf. Sie vertritt “vernünftige” Gründe sich
zu paaren, wie den Vorrang der familialen Bestimmung und der stratifika-
torischen Homogamie der Ehepartner (O. c.: S. 119/120). Sollte die Ver-
nunft nicht in diesem Sinne walten können, dann drohe das Chaos der ge-
sellschaftlichen Unordnung einer ungeregelten Partnerwahl.
Der Liebe wird darob von der Vernunft vorgeworfen, sie stehe in Oppo-
sition zu den gesellschaftlichen Anforderungen der geordneten Gatten-
wahl und sei deshalb unverantwortlich. Die Liebe hingegen leugnet ihr In-
teresse am leidenschaftlichen Gefühl nicht, das mal hier, mal dort, den
einen und die andere in die Erregung des Begehrens versetzt. Sie betont ge-
gen die Vernunft der nachvollziehbaren Gründe, Kalkulationen und Ord-
nungen aber eine ganz eigene Vernunft der Herzen, die sich nur schwer
kontrollieren oder gar vorausberechnen und arrangieren lässt. Damit wird
zugleich deutlich, dass man über die tiefen Gefühle der Herzen zwar ver-
nünftig räsonieren kann, sie damit aber noch lange nicht kennt, solange
man sie nicht erlebt.
“Das Problem besteht darin, dass, obwohl über Esprit gesprochen wer-
den und man sich darüber mit anderen auseinander setzen kann, sich
die Ordnung des Herzens als unerkennbar erweist und damit eine
neue Dimension von Undurchsichtigkeit markiert wird, die umso fins-
terer wird, je größer die Kenntnisse und das Bewusstsein werden: “Wer
seinen Verstand kennt, kennt nicht immer sein Herz.«(...)“ (Esposito,
2004: S. 73).
Die Behauptung einer eigenen Vernunft der Liebe hat sozial weitreichende
Folgen. Mit der Vernunft des Fühlens legt die Liebe der Partnerwahl ein
Prinzip zu Grunde, das eine schichtübergreifende Gleichheit des Erlebens
überall dort behauptet, wo die Herzen mehr oder weniger zufällig von
Amors Pfeil getroffen werden.
“Diese [ihre eigenen Vernunftgründe; UTh.] beruhen wesentlich auf
der Behauptung einer eigenen Domäne, also eigener Herrschaftsan-
sprüche. Die Eltern begehen einen Fehler, wenn sie die Liebe nicht
konsultieren, bevor sie über die Ehe ihrer Kinder entscheiden. Und
was Standesunterschiede und die Fatalität der Liebe über Standesgren-

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zen hinweg betrifft, so lautet das entscheidende Argument der Liebe,


sie mache die Liebenden gleich und hebe die Standesunterschiede ge-
rade auf (…).“ (Luhmann, 1982: S. 120).
Die Liebe sieht sich also nicht als erratische Unvernunft rein beliebiger
Partnerwahl. Sie stellt sich stattdessen als Vernunft eigener Ordnung dar.
Die Liebe folgt bei der Partnerfindung nicht etwa keiner Logik, wie ihr die
Vernunft vorhält, sondern einer eigenen, allerdings höchst anspruchsvol-
len und in sich paradoxen Logik. Ihren Sehnsüchten und Erwartungen
liegt eine Logik der Passion zu Grunde. Die Liebe als amour passion ratio-
nalisiert also die Lust am Leiden und mehr noch das Vertrauen in den Zufall
der Gefühle, etwa bei der sprichwörtlichen “Liebe auf den ersten Blick”.
Damit stellt die Liebe als gesellschaftliche Kraft der individuellen, inti-
men Vergemeinschaftung ein sehr eigenes Begründungsinstrumentarium
zur Verfügung. Dieses macht es möglich, noch so abwegig erscheinende
Liebeserwartungen als erstrebenswerten Ausdruck einer überall und jeder-
zeit gültigen, alle Standesgrenzen, Interessen, ja alle Biographien übergrei-
fenden individuellen “Auswahl” dessen darzustellen, was einen selbst wählt
(Amors Pfeil trifft ins Herz eines Individuums) und daher nur zu erleben
und nur mit Bezug auf das Erleben anderer zu erhandeln ist.
Auch wenn in der Praxis der Partnerwahl wohl zumeist Homogamie
vorherrscht, sich also gleich und gleich gerne paart (vgl. Asendorpf, Banse,
2000), gesetzmäßig festgelegt gar für eine “richtige” Liebe unabdingbar, ist
es nicht. Ja die Liebeslogik lebt sozusagen von der Erwartung, dass sich
noch die extremsten Gegensätze anziehen können und dürfen. Auch die
Empirie fördert beides zugleich zu Tage, es paaren sich die Ähnlichkeiten
und die Widersprüche (vgl. Kutzki, Orczewski, 2016).
Das überrascht wenig, da mit der Etablierung des SGKM Liebe der Mo-
dus der Partnerwahl bzw. seine Kommunikation von (sozial-)strukturellen
auf individuelle (emotionale) Begründungen umgestellt wird. Damit gel-
ten jetzt kaum kontrollierbare Bedingungen als Maßstab der Partnerwahl,
was gesellschaftlich zudem nur über die Generalisierung symbolischer Zu-
spitzungen zu erschließen ist.
Auch aus einer sozialpsychologischen Perspektive auf Paarbeziehungen
als spezifische soziale Mikrosysteme muss man daher konstatieren, dass der
Erfolg der Partnerwahl zum großen Teil nicht von synchronisierten Fakto-
ren, sondern von Bedingungen abhängt, die von den Liebenden wechsel-
seitig gar nicht vollständig zu erschließen sind – mit anderen Worten, dass
es tatsächlich vom Zufall abhängt, wo Amors Pfeil trifft und stecken bleibt
(Witte, Putz, 2003: S. 22).

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Die Liebe plausibilisiert somit Wahlverhalten auf der Grundlage höchst


individueller Kontingenzen als selbsterklärende, leidenschaftliche Hinga-
be. – Man kann eben nicht anders, wenn der Pfeil im Herzen steckt und
das Gefühl die Regentschaft übernimmt. So erweist sich die Eigenlogik des
SGKM Liebe in ihrer inhärenten Paradoxie nicht nur als komplex, sondern
gerade dadurch als höchst modern.
Diese Liebe ist vor allem darin modern, dass sie am Zufall und Wechsel-
fall im Einzelfall orientiert ist. Darauf scheint es in einer Gesellschaft anzu-
kommen, die individuelle Teilhabe und das heißt, individuell abweichen-
de Teilhabe, als Regelfall ausgibt – was eine zentrale, gesellschaftliche Re-
gelung des Individuellen ausschließt (vgl. Luhmann, 1997: S. 805).
In dieser Kontingenz-Logik spiegelt das SGKM Liebe jedoch nicht nur
die kulturelle Perspektive der funktional differenzierten Gesellschaft wi-
der, die ihren Ausdruck in der Orientierung am Modernen findet, also an
dem, was als neu und abweichend originell, im Sinne einer ständigen In-
novation gegen das Traditionelle und Unwandelbare gilt (Esposito, 2004:
S. 26). Das SGKM Liebe bildet in seiner paradoxen Eigenlogik auch die
kontingenten Bedingungen der universellen gesellschaftlichen Teilhabe
auf der Grundlage von Fähigkeiten, Aufgaben, Leistungen sowie von Be-
dürfnissen oder Neigungen im Einzelfall ab, die weder in Toto vorausbere-
chenbar noch planbar oder gar nach Schichthintergrund festzulegen sind.
Es geht dabei, wenn nicht um eine Inklusion der Individualität qua Ex-
klusion, so doch um eine Inklusion qua Exklusivität in die Gesellschaft.
Hierbei gelten nicht zuletzt Bedingungen der sozialen Handhabung und
kulturellen Beschreibung von Individualität, die sich grundsätzlich von
den vormodernen Bedingungen der stratifizierten Gesellschaft unterschei-
den.
“Vor allem aber erhielt man Individualität, indem man sich in eine be-
reits gegebene soziale Ordnung einfand und nicht, indem man von
dieser Ordnung aufgrund der eigenen unwiederholbaren Eigenschaf-
ten abwich. Individualität erhielt man qua Inklusion in die und nicht
qua Exklusion aus der Gesellschaft – indem man sich anpasste und da-
mit die Ausbildung von Erwartungen bestätigte.“ (O. c.: S. 46).
In der Konsequenz mag heute in der modernen Gesellschaft eine Vor-
standsvorsitzende über ein anderes kulturelles, soziales oder ökonomisches
Kapital verfügen als der Callcenter Mitarbeiter in dem Unternehmen, das
von ihr geleitet wird, worauf etwa Pierre Bourdieu hinweisen würde (zu-
sammenfassend 1983: S. 183ff.). Sie mag sich also an den “feine Unter-
schieden” anderer Liebesbeweise erfreuen, sich an anderen Orten mit

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ihren Liebenden treffen, auf ein weit größeres soziales Netzwerk potenziel-
ler Liebespartner zurückgreifen können, sozial attraktiver erscheinen usw.
als ihr Mitarbeiter mit seiner schichtspezifisch reduzierten Kapitalausstat-
tung. Sie wird sich dennoch der Logik des von ihr erlebten Gefühls der
Hingezogenheit, des Verlangens und Begehrens als Grundlage ihres Erle-
bens von Liebe und ihres Liebeshandelns unterwerfen müssen.
Sie wird sich dieser Logik der Liebe aussetzen müssen, weil es nicht
mehr als normaler Ausdruck des Verliebtseins gilt, die Wahl des Liebes-
partners, der Liebespartnerin aus ihren Kapitalinteressen oder denen ihrer
sozialen Kreise zu begründen, ohne auf eine alte, traditionelle, sprich un-
moderne und deshalb skandalöse Logik der Partnerwahl zurückzufallen.
Die Liebe entwickelt eine sehr spezielle Kontingenz-Logik. Sie erlaubt
es, Abweichung als Norm auszugeben. So kann die Einheit der Differenz,
wie Luhmann sagen würde, die universale Geltung des funktionalen Inklu-
sionsprinzips der Gesellschaft für potentiell alle partikularen Einzelfälle in
plausible und sozial akzeptierte Begründungen für eine individuelle Erleb-
nis- und Handlungspraxis des Liebens und Geliebtwerdens übersetzt wer-
den.
Mit diesen “modernen” Lösungen für kontingente Ordnungen der So-
zialität steht die Liebe nicht allein da – und gerade darin zeigt sich die um-
fassende gesellschaftliche Entwicklungsperspektive. Kontingenz-Logiken,
die paradox argumentieren, wenn sie komplexe Sinnverhältnisse in Orien-
tierungs- und Handlungsmöglichkeiten übersetzen, finden sich auch bei
anderen SGKM. So erzwingt Macht die Durchsetzung von Handlungen,
weil Gewalt vermieden werden soll (Luhmann, 1975: S. 23f.), Geld zahlt
für Besitz, weil man es weggeben kann (Luhmann, 1997: 349f.) und Wahr-
heit gewinnt ihre Geltung aus der Relativierung ihrer Beweise in der Kritik
(O. c.: S. 369, 273f.).
Die Liebe mit ihrer Logik der in sich widersprüchlichen Gefühle und
Handlungen ist demzufolge als legitimes Kind ihrer Zeit, die Regentin un-
serer höchst persönlichen gesellschaftlichen Angelegenheiten. Sie ist des-
halb auch ein legitimes Kind ihrer gesellschaftlichen Strukturbedingungen
und als Liebe der Gesellschaft durch und durch modern. Sich dem Be-
schuss mit Amors Pfeilen auszusetzen, heißt jetzt das Unwägbare, Zufälli-
ge, Deviante, das Entgrenzte als Grund für die Wahl des höchst Eigenen
angeben zu dürfen. Es bedeutet aber auch, sich dem Regiment der Lie-
beslogik unterwerfen zu müssen und fortan im Reich der Paradoxien sein
persönliches Glück zu finden.
Die Liebe hat also, was die eigenlogische Begründung von Intimbezie-
hungen anbelangt, gegen die Vernunft mit ihrem an einer allzu offensicht-

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IV. Die Unvernunft lieben

lichen Hierarchie der Ordnungen orientierten Plausibilitätskonzept ge-


siegt – zumindest was die Begründung der Partnerwahl angeht. Sie kann
jetzt die tradierten gesellschaftlichen Kontrollansprüche an die Liebesbe-
ziehungen zurückweisen. Diese kontrolliert sie fortan in eigener Regie
nicht irrational – wie es der Vernunft erscheinen mag –, sondern gemäß
ihrer eigenen und höchst eigenwilligen Variante von Vernunft (Luhmann,
1982: S. 121). Man muss schon den Regeln der Liebe folgen, wenn man
zur individuellen Ausnahme des oder der Begehrten werden will. Die Lie-
be siegt, wo sich hingegeben werden soll.
Mit der Liebe als SGKM wird es plötzlich für jeden zur Normalität, die
eigene Unvernünftigkeit einer Sozialbeziehung zu Grunde zu legen, in der
höchst persönliche Angelegenheiten geregelt werden. Und damit kann
man bei aller Unvernunft doch vernünftig handeln – zumindest kann man
in seinem Ausnahmeverhalten als normal erscheinen.
Man verfällt jetzt erwartungsgemäß geradezu dem “Liebeswahn”, wenn
man sich verliebt und liebt. Dieser Liebeswahn zeichnet sich dadurch aus,
dass wir gelernt haben, unsere individuelle Unvernunft, unsere Liebes-
blindheit zu lieben (allerdings leidend zu lieben), die jetzt gesellschaftlich
legitim gelebt werden kann.
Vielleicht ist dem Leiden hier auch kaum auszuweichen. Da persönli-
ches Erleben und Handeln der Maßstab sind, gilt es, die Unvernünftigkeit
in eigener Verantwortung zu balancieren. Beim Liebeswahn hat man dem-
zufolge selbst auf dem schmalen Grat des als normal erwarteten Ausnah-
meverhaltens einerseits und der Pathologie andererseits zu balancieren,
wenn man sich als Liebende oder Liebender zeigt. Aber wo die Gefahr ist,
wächst das Rettende auch. Wenn die Ausnahme zur Regel wird, gibt es
Vorbilder, Rezepte und Tests des Verhaltens. So kann uns etwa der Ro-
man, mit süßem Kitsch ummantelt, die bittere Pille verabreichen, dass der
Liebeswahn letztlich dazu anhalten soll, die Versprechen der Liebe einzu-
halten (vgl. McEwan: 2000) und die Psychotherapie weiß Rat, zumindest
hinsichtlich der Diagnose (vgl. etwa Payk, 2015: S. 229).
Wer liebt, der oder die befindet sich nicht nur außer sich, er oder sie er-
wartet das auch vom Gegenüber. – Wie sonst sollte über all die allegori-
sche Symbolik hinaus das außerordentliche persönliche Engagement, der
Erlebnisübernahme des anderen ins eigene Handeln angezeigt werden?!
Das scheint geradezu die Voraussetzung zu sein, sich überhaupt dem ande-
ren, der anderen zu öffnen. Daher all die Forderungen und Anforderung
in der Liebeskommunikation nach Öffnung, Gehenlassen, Spontaneität
und Authentizität an das Lieben, die so gar nichts mit der distanzierten Be-
trachtung eines vernünftigen, logischen Kalküls zu tun haben. Ja, die

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IV. Die Unvernunft lieben

selbsternannten philosophischen und therapeutischen “Seelsorger” der


Liebeskranken erheben die Ekstase als Heraustreten aus dem verkapselten
Ich sogar zum Gradmesser der wahren Liebesbeziehung, auf deren Nacht-
seite nur der Absturz in die Hölle einer solipsistischen Beziehungslosigkeit
drohen kann (beispielhaft Schmidt, 2010: S. 83).
Dennoch ist die kommunizierte Liebe alles andere als eine beliebige
Lust am Über-die-Stränge-schlagen. So macht Peter Fuchs deutlich:
“Die ganze Verrücktheit, die man ihr zuschreibt, an der man sie erken-
nen soll, der befristete Wahnsinn für den man sie hält, ist der deutli-
che Effekt einer bestimmten kommunikativen Struktur, die in die Tie-
fe der Person hineinrechnet, um sie zur Gänze zu erreichen, um sie als
EINS konstruieren zu können. Der Wahn der Liebe ist mithin alles an-
dere als wahnsinnig, er ist systematisch oder, wenn Sie so wollen, syste-
misch.“ (2003: S. 38).
Aus der “Tiefe der Person” bricht dann, wenn wir individuell lieben wol-
len, wenn wir individuell geliebt werden wollen, das auf, was wir sind. Die
unauslotbaren Abgründe der Psyche werden dann ebenso kommunikabel,
wie die unbegreifbaren Eigenarten des Körpers. All das, soll mit dieser
Kommunikation sozialisiert, soll eine Zweiheit als soziale Einheit werden.
Neben der Aufwertung der je eigenen Idiosynkrasie zum Zentrum des Er-
lebens und Handelns des jeweils anderen, ist das das zweite Versprechen
der Liebe und die Herausforderung an die Liebenden.
Mit Zweckrationalität, herrschaftsfreien Diskursen und vernünftigem
Kalkül ist hier wenig auszurichten und noch weniger zu beherrschen, weil
mit der Liebe die Unwägbarkeit der Individuen in der Gesellschaft an-
kommt. Mit der Liebe heißt es jetzt, die Unwägbarkeit dessen, was in den
Köpfen und den Körpern anderer steckt, für sich ernst nehmen zu sollen,
ja sich gar nichts anderes als Lebenssinn vorstellen zu können.
“Unmöglich!“ würde die altgediente Vernunft hier ausrufen. Und die
Liebe würde vielleicht entgegnen: “Nicht, wenn man die Paradoxie als
Strategie der Vernunft schätzt!“
Tatsächlich erscheint es beim Blick hinter die Kulissen alles andere als
einfach, sich den so eigenen Sinnbedingungen der Liebe, ihrer eigentümli-
chen Vernunft des Irrationalen auszusetzen. Lieben, genauer gesagt, die
Liebeskommunikation im Medium Liebe so zu führen, dass man liebt und
geliebt wird, ist voraussetzungsvoll, wenn wir uns mit den Paradoxien
konfrontieren, die wir mit der Liebe lieben lernen müssen.
Aber gerade das gehört zur Eigenlogik der Liebe, dass sie die Paradoxien
in der Selbstverständlichkeit der Irrationalität der Gefühle gleichsam ver-

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schwinden lässt. Das SGKM Liebe steigert die Unwahrscheinlichkeit des


Liebens und Geliebtwerdens mit allem, was dazugehört, zum süßen Leiden
und macht die Wirrungen und Irrungen der verliebten Partnerwahl, die
Leiden-Schaften der Hingezogenheit und die Un-Möglichkeiten der Erfül-
lung zum Normalfall einer Liebe, für die wir uns angewöhnt haben, die
Bezeichnung “romantisch” zu verwenden. Ja sie macht diese ganzen Irra-
tionalitäten und Widersprüchlichkeiten zur Bedingung sine qua non einer
engagierten, tiefen, einer “richtigen” Verliebtheit und Liebe (vgl. Luh-
mann, 1982: 83). – Anders kann es sich nicht anfühlen, anders kann es
nicht aussehen, wenn uns Amor nicht mit süßem Kuss, sondern mit sei-
nem scharfen, kleinen Pfeil zur Liebe weckt.
Soziologisch, gar mediensoziologisch fällt an dieser Stelle noch mehr
auf. So unterscheidet sich die Liebe hier weder von anderen SGKM noch
grundsätzlich von anderen Kommunikationsmedien, wie etwa den Indivi-
dualmedien (bspw. Sprache, Schrift), den Massenmedien (bspw. Presse,
Rundfunk, Fernsehen) oder den kybernetischen Interaktionsmedien
(bspw. Computer und Computernetze). Alle Kommunikationsmedien
sind in der Regel in der Kommunikation selbst unsichtbar (Thiedeke,
2012: S. 119f.). Wir kommunizieren in ihren medialen Kommunikations-
formen und nur in diesen. Wir sprechen nicht Sprache, sondern führen
Gespräche, wir sehen nicht das Fernsehen, sondern eine Sendung und wir
spielen ein Computerspiel, aber nicht den Computer usw.
Kommunikationsmedien werden typischerweise auch nicht zum Thema
der Kommunikation. Das bietet Möglichkeiten, die Paradoxien zu verde-
cken, die sich mit dem komplexen Operieren der Medien unter den Bedin-
gungen komplexer Sinnverhältnisse ergeben. In Bezug auf die SGKM heißt
das, dass ihr Zuspitzungsmechanismus von Unwahrscheinlichkeiten ver-
deckt wird, die in Paradoxien münden. Wir zahlen an der Supermarktkas-
se, ohne uns Gedanken darüber zu machen, dass hier eine nur noch durch
das Vertrauen in ihren Wert gedeckte Anweisung auf Waren und Dienst-
leistungen (Geld) kauft. Erst dann, wenn z. B. die Echtheit des Geldscheins
in Zweifel gezogen wird, wird für einen Moment das Medium Geld in sei-
ner Medialität sichtbar und damit zugleich kritisch.
Auch in der Liebe sind Gespräche darüber, ob man sich liebt und was
ein geeigneter Liebeserweis ist, wie “man sich die Liebe überhaupt vor-
stellt” usw. eher als Krisensymptom der Akzeptanz jener Unwahrschein-
lichkeit aufzufassen, das Leiden an der Liebe zu lieben.
Genau das wird hier in Frage gestellt oder gar zum therapeutischen An-
wendungsfall erklärt. Glaubwürdig lieben, im Erleben und Handeln ganz
bei sich und beim anderen, bei der anderen sein, kann man nur, wenn

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IV. Die Unvernunft lieben

man als Liebender, als Liebende fühlt und handelt, nicht wenn man re-
flektiert, was Liebe ist und wie man dabei fühlt und handelt. Glaubwürdig
lieben kann man schwerlich, wenn man erkennt, dass die Liebe in sich Wi-
dersprüchliches von einem verlangt, das kaum zu erfüllen ist, weil die Pa-
radoxie uns von jeder Position des Meinens sofort auf die ebenso gültige
Gegenposition verweist. – Kann man das Leiden lieben, wo man doch lei-
det, wenn man liebt?
Hier muss man offenkundig nicht nach dem Gegenteil und seinen Fol-
gen fragen, sondern sich der Unmöglichkeit hingeben. Es gilt das Paradox
aufzulösen, ohne aus dem Zustand des Verliebtseins oder Geliebtwerdens
herauszufallen. Mit der ganz eigenen, eigentlich unaussprechlichen Ver-
nunft der Liebeskommunikation entsteht mithin eine Normalität der Pa-
radoxie und gerade keine Normalität der Widersprüche.
Es geht daher beim Lieben der Unvernunft, wohl weniger darum, dass
man Widersprüche und “Spannungsverhältnisse” aushält, wie z. B. Günter
Burkart meint:
“Auch andere Spannungsverhältnisse und Widersprüche werden der
Liebe zugeschrieben, etwa Zufall vs. Ordnung, Rationalität vs. Irratio-
nalität, Freiheit vs. Zwang oder Egoismus vs. Altruismus.“ (2018: S. 8).
Gerade das scheint uns die Liebe in ihrer eigenartigen Vernunft gar nicht
abzuverlangen. Mit der Normalität der Liebesverwirrung, mit dem Schick-
salhaften im Verlieben und Geliebtwerden, mit der Unerklärlichkeit von
Gefühlen, werden eben jene kontingenten Ordnungen der Sozialisation
des höchst Individuellen möglich, in denen es um die Ordnung des Zu-
falls, die Rationalität der Emotionen, die Freiheit zum Binden oder den
Egoismus der Hingabe gehen kann, ohne dass hier Widersprüche zu erklä-
ren wären.
Wir können die Unvernunft lieben, wenn wir lieben und sie entlastet
uns davon, die Vereinbarkeit von Widersprüchen beweisen zu müssen. –
Und wenn man das von uns verlangen sollte, dann geht es nicht mehr um
das Lieben und Geliebtwerden.
Das schafft vorher nicht dagewesene Möglichkeiten, individuelle Gefüh-
le, Neigungen und Obsessionen als sozialen Normalfall auszugeben, wenn
man den Partner oder die Partnerin als Objekt des eigenen Begehrens und
als Subjekt des eigenen Handelns wählt. Und es verführt dazu, das Ideal
der romantischen Liebe zum Maßstab für das Ausdrücken und die Reali-
sierung höchst persönlicher Erfahrungen und Erwartungen zu machen.

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– I'll Be Waiting –

Er hat dein Herz gebrochen


und dich deiner Seele beraubt.
Und tief in dir ist nur noch ein großes Loch, das schmerzt.
Du brauchst erst mal etwas Zeit für dich allein,
um wieder zu dir selbst zu finden.
Ich bin der, der dich wirklich liebt, Baby.
Und ich habe schon die ganze Zeit an deine Tür geklopft.
Solange ich lebe, werde ich auf dich warten.
Solange ich atme, werde ich für dich da sein.
Ruf' mich wann immer du willst, ich werde auf dich warten.
Und wann immer du mich brauchst, werde ich für dich da sein.

Lenny Kravitz
[Übersetzung UTh.]

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V. Das Ideal lieben

Angesichts der Unwahrscheinlichkeitssteigerungen, mit denen das SGKM


Liebe jede Liebeskommunikation formt und so die Komplexität seiner in-
härenten Paradoxien überdeckt, müsste erkennbar werden, dass man mit
der Liebe, besonders mit dem derzeit gültigen Code der romantischen Lie-
be, nicht tatsächliche Verhältnisse liebt, sondern ein Ideal. Und das umso
mehr, wenn die romantische Liebe die Unwahrscheinlichkeiten von Zufall
und individueller Leidenschaft als Grundlage einer beständigen Sozialität
von individuellen Intimbeziehungen ausgibt – wir bemerken schon die
ausgesprochen hohen und “unrealistischen” Anforderungen, die nur
durch ihre Formulierung deutlich werden. Luhmann hält dazu fest:
“Auf diese Situation, in der die Liebessemantik mit Anforderungen auf
Dauersinngebung für personale Welten in Konflikt gerät, regiert die
Romantik durch Flucht in die Übersteigerung.“ (1982: S. 182)
Die Kommunikation im Medium (romantischer) Liebe erscheinen so gera-
dezu als ein ungewolltes, aber erwünschtes Hantieren mit idealtypischen
Personen (die Liebenden), Perspektiven (die Innerlichkeit der Gefühle)
und Zielen (die ewige Intimität der Liebenden). Wie Max Weber in der
Entwicklung seiner idealtypischen Methodik der verstehenden Soziologie
gezeigt hat, zeichnet sich der Idealtyp dadurch aus, dass Merkmale eines
sozialen Phänomens, die als typisch gelten, zu reinen und damit idealen
Charakteristika gesteigert werden. Weber war sich dabei bewusst, dass die-
se Steigerung eine Überzeichnung darstellt, die nicht mit der tatsächlichen
empirischen Erscheinungsweise des Phänomens als “Realtypus” zu ver-
wechseln ist (1951: S. 190ff.).
Ähnlich bilden auch die Verheißungen und Anforderungen der Liebe
an die Liebenden übersteigerte Erscheinungsformen der charakteristischen
Merkmale, Verhaltensweisen und Praktiken von Lieben, Liebenden und
Liebesbeziehungen ab. In ihren Realformen treten sie dann wohl selten
oder nur zeitweilig so eindeutig auf.
Zur Normalität der sozial akzeptierten Erwartungen an die Liebe gehört
es aber, dass ihrer intimen Sozialität so unwahrscheinliche Bedingungen
zu Grunde liegen, dass nur wenig Spielraum für Wahrscheinliches bleibt.
Das wird auch für die Liebenden deutlich, und nicht nur an den mal sü-
ßen, mal schmerzlichen Unsicherheiten zu Beginn der Liebe, sondern vor

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V. Das Ideal lieben

allem dann, wenn die Liebe dauert – nicht zuletzt deshalb, weil sie Erwar-
tungen einer ewigen Dauer des Überraschenden, Außergewöhnlichen, ja
des Außersichseins weckt.
Sowohl in der Forschung zum sozialen Phänomen Liebe als auch in den
alltäglichen Erfahrung mit der Liebe werden, auch dann, wenn sie erwi-
dert wird und sich zum Lieben auch das Geliebtwerden hinzugesellt, dro-
hende Enttäuschungen oder doch zumindest die anspruchsvollen Voraus-
setzungen sichtbar, die die Liebe den Liebenden abverlangt. In der alltägli-
chen Wirklichkeit der Liebes-Intimität wird nach dem Happy End eben
nicht “abjeblend” – wie es Tucholsky in dem Gedicht “Danach” 1930 for-
mulierte. In dem an die Verliebtheit evtl. anschließenden “Beziehungs-
film” müssen wir schon weiter mitspielen.
Besonders dann, wenn die Liebe zum sozialen System der Liebes-Intimi-
tät wird, scheint sich der “Honigmond” der Liebeserwartungen von Auße-
ralltäglichkeit und Unbedingtheit zu verschleiern. Nur allzu oft deuten die
jetzt auftretenden Erwartungsmuster auf eine wilde Fahrt zwischen der
Skylla des Liebesideals und der Charybdis der realisierten Sozialität der In-
timität hin:
“Man will geliebt und verstanden werden, man will offen miteinander
umgehen, über alles aufrichtig reden und sich dennoch nicht verletz-
ten; man will auch im Sexuellen eine gewisse Freiheit, wünscht sich
aber dennoch nichts sehnlicher als dass der Partner treu sein möge;
man möchte intensiven Anteil am Gefühlsleben des Partners haben
und dennoch sein eigenes Leben führen. Je höher diese Ansprüche
sind, desto schwieriger sind sie zu erfüllen, desto schneller stellt sich
die Enttäuschung über den Partner ein.“ (Burkart, 2018: S. 190)
Wie wir gesehen haben fordert der Liebescode, in dem wir unsere Liebe
ausdrücken müssen, von uns sowohl ein ausgeprägtes Einfühlungsvermö-
gen in das Erleben eines fremden Alter als auch die Anpassung unseres
Verhaltens und Handelns an dieses fremde Erleben. Hier wird das Ablesen
der Wünsche “von den Augen”, d. h. ohne tiefere Fragen und Diskussio-
nen, ebenso als typisches Merkmal eines angemessenen Umgangs zwischen
den Liebenden erwartet, wie die Exklusivität einer gemeinsamen Welt,
die “niemand sonst versteht” und in der fragloser Konsens im Fühlen und
Tun als Grundlage erwartet wird. Das alles sollte dann mit leidenschaftli-
chem Engagement (das so heftig ist, dass es schmerzt) und tiefstem Ver-
ständnis für die geschätzte Einzigartigkeit des Anderen zum Ausdruck ge-
bracht werden.

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V. Das Ideal lieben

Soziologischer gesprochen bündelt sich in den idealisierten Erwartun-


gen der romantischen Liebe die Unmöglichkeit einer Vergemeinschaftung
der “grenzenlos steigerbaren Individualität” (Luhmann) wie in einem
Brennglas und erscheint zugleich als Anforderung und als Versprechen.
Das nur für die Liebenden wahrnehmbare Gefühl der individuellen Hin-
gezogenheit (Reichertz, Iványi, 2002: S. 32) soll die Grundlage der von den
Liebenden geteilten Sozialbeziehung sein: “Das romantische Paar gilt als
hoch individualisiert, man liebt sich gegenseitig in seiner jeweiligen Ein-
zigartigkeit” notiert Günter Burkart zusammenfassend (2018: S. 35).
Die Idealisierung wird also zur “Geschäftsgrundlage” der Sozialität und
da es um das Ideal der Liebe geht, wird die Sozialität der Liebe dabei nicht
nur durch die eigene Vernunft der Irrationalität inhaltlich begründet
(siehe oben). Sie wird gleichsam zum virtueller Raum, der von außen
nicht erfassbaren Gefühle, die nur den Liebenden gehören und somit den
Profanitäten des Alltags enthoben sind. Burkart fährt fort:
“Die romantische Liebesbeziehung wird oft als 'transzendent' bezeich-
net, weil sie in gewisser Weise aus der sozialen Realität ausgeklammert
ist. Sie lässt sich nicht nur unter Bezug auf die soziale Welt mit ihren
Regeln und Verpflichtungen rechtfertigen. Sie ist weder durch Moral
noch durch Vernunft begründbar. Deshalb ist in der Liebe gewisser-
maßen 'alles erlaubt'.“ (a.a.O.)
Es geht bei der Liebe heute also nicht mehr um das Ideal eines offenkundi-
gen moralisch/normativen Musters, dem die Liebenden nacheifern und
dem sie sich anpassen sollen. Das Ideal der romantischen Liebe kommt
heute raffinierter und zugleich trivialer daher. Es baut auf den Selbstver-
ständlichkeiten von Paradoxien auf, die der Code für die Liebeskommuni-
kation codifiziert. Das ist deshalb der Fall, weil zur Idealität der Liebesbe-
ziehung die Freiheit des individuellen Erlebens und Handelns gehört –
verstanden als Ausdruck der liebenswerten Individualität der Liebenden.
Die Orientierung an einer “richtigen” romantischen Liebe, die als “nor-
mal” erscheint, hat sich sozusagen von der Orientierung am gesellschaftli-
chen Vorbild auf die Orientierung an der Laune der Liebenden umge-
stellt. “Wirklich” ist sie deshalb nur von diesen selbst im exklusiven Be-
reich ihrer wechselseitigen emotionalen Bezogenheit zu erfahren – von au-
ßen aber genau so zu erwarten.
Für die Liebe gilt, dass sie die Idealität, die im Schutzraum außeralltägli-
cher individueller Gefühlszustände herrscht, als eigene Realität (und eige-
ne Logik) ausgeben kann. Es tritt eine weitreichende Entkopplung von der
Gravitation alltäglicher Lebensverhältnisse ein, die etwa Partnerschaften

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V. Das Ideal lieben

bestimmen, wenn z. B. über den Tausch von Leistungen und darüber ge-
sprochen werden muss, wer den Müll runterbringt und wie Geschlechter-
gerechtigkeit herzustellen sei usw.
Im Idealzustand der romantischen Liebe sind die Liebenden davon ent-
hoben. Ihre höchst individuelle Ausdrucksweise zu lieben, darf disparitä-
tisch – ja ungerecht – sein (vgl. Burkart, 1998: S. 36), denn sie kann als
Ausdruck liebenswerter Eigenart und der Besonderheit “unserer Liebe” er-
wartet werden, die ohnehin “nur wir verstehen”. Die um sich selbst krei-
senden Liebenden werden so in die Lage versetzt, Asymmetrien gar nicht
mehr wahrzunehmen oder sogar als Identitätsbestätigung zu handhaben
(vgl. Thagaard, 1997). An die Stelle der Kalkulation von Reziprozitäten tre-
ten jetzt zufällige Gaben (Koppetsch, 1998: S. 115), die als fällige Geschen-
ke interpretiert werden können. Man sieht sich und die exklusive Welt der
Liebesbeziehung durch die romantische Brille und wird durch Romantik,
sprich durch fraglose Akzeptanz, jenseits aller Vernunftgründe, belohnt
und so von rationalistischen Ansprüchen erlöst (Corsten, 1993: S. 66).
Es fällt leicht, diese Idealisierung romantischer Liebeswahrnehmung als
unrealistisch, gar als weltfremd zu kritisieren. Besonders irritierend wirkt
die selbstgenügsame Selbstbezüglichkeit der Liebenden, wenn sie als Ideal-
zustand zur Grundlage dauernder Intimbeziehungen, gar noch einer Ehe
werden soll und nicht nur die individuelle Partnerwahl motiviert.
“Gerade daß [sic!] für die Liebe nur die Liebe zählt, heißt zwar, daß
[sic!] sie eine Welt für sich konstituiert – aber eben auch: für sich eine
Welt. Es geht dabei um mehr als um wechselseitige Anpassung, um
mehr als um wechselseitige Beglückung, die ja an der Erschöpfung der
Bedürfnisse und an Gewöhnung rasch vergehen müßte [sic!]; es geht
um die Konstitution einer Sonderwelt, in der die Liebe sich immer
wieder neu informiert, indem sie das, was etwas für den anderen be-
deutet, ihrer Reproduktion zu Grunde legt.“ (Luhmann, 1982:
S. 177f.)
Als Folge der Unwahrscheinlichkeitssteigerung in der Kommunikation des
SGKM Liebe erscheint sie jedoch unausweichlich und gerade nicht als un-
realistische Übertreibung (jedenfalls nicht vorher oder in der Phase der
Verliebtheit), sondern als Ausdruck der ungewöhnlich inspirierenden
Möglichkeiten zu lieben und geliebt zu werden, ja vielleicht sogar weiter
zu lieben und geliebt zu werden.
Wir hatten darauf bereits unter dem Stichwort des “Versprechens” der
Liebe Bezug genommen. Die Liebe verspricht dem Individuum vollständig
als das, was es als Individuum sein sollte, nämlich eine unteilbare Einheit,

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V. Das Ideal lieben

der wie auch immer besonderen psychischen, körperlichen und sozialen


Identitätsaspekte, angenommen zu werden. Mehr noch: Sie verspricht so,
als einzigartiges Individuum, auch “erwünscht” zu sein.
Dieses weitreichende und eigentlich uneinlösbare Versprechen markiert
aber nur die eine, sozusagen die individuelle Seite der Möglichkeiten sozia-
ler Akzeptanz, wie sie sich als liebende Fraglosigkeit darstellen. Mit der ro-
mantischen Liebe wird aber noch eine weitere, unwahrscheinliche Integra-
tionsmöglichkeit als realisierbar ausgegeben, die auf die gesellschaftliche
Seite der sozialen Inklusion von Individualität abzielt.
Unter der Voraussetzung, dass geliebt wird, wird nichts weniger als ein
sozialer Modus zur Interpenetration von Individuen mit all ihren Kontin-
genzen in die Gesellschaft versprochen. Das Gelingen dieser Interpenetrati-
on scheint unter romantischen Bedingungen fast selbstverständlich, weil
die Sozialität, die mit der Liebe möglich wird, jenes enge Umkreisen von
zwei Sternen der Einmaligkeit, auf nichts anderem als auf der Kommuni-
kation unabdingbarer Gefühle gründet.
Mit der Entwicklung hin zu einer funktional differenzierten Gesell-
schaft, wie wir sie zuerst in Europa ab dem 16. und 17. Jahrhundert beob-
achten können, schwächt sich für die Individuen die Orientierung am Kol-
lektiv und an Rangordnungen ab. Auch bei der Partnerwahl sind die Indi-
viduen jetzt im wahrsten Sinn des Wortes mehr “auf sich gestellt”.
Damit tritt ein Inklusionsproblem deutlicher hervor, das in einer Ge-
genüberstellung der Ferne einer komplexen und in den Details ihrer Bezie-
hungsmöglichkeiten undurchdringlichen Gesellschaft einerseits und der
Nähe persönlicher Beziehungen von Individuen andererseits zum Aus-
druck kommt. Die Einzelnen (man möchte jetzt fast sagen: die Vereinzel-
ten) können vor der unpersönlichen Gesellschaft fremder Anderer Zu-
flucht in der intimen Nähe der Bekannten suchen.
Diese Möglichkeit vor dem Unbekannten der Gesellschaft im individu-
ell Bekannten Zuflucht zu finden, ist eine weitere Verheißung, die die Lie-
be durch Idealisierung plausibilisiert. Die Liebes-Intimität darf deshalb
nicht nur als vor der Gesellschaft “geschützter Raum”, sondern sogar als
Sphäre des Genusses von exklusiven Erlebnissen mit dem geliebten Ande-
ren verstanden werden (vgl. Burkart, 2018: S. 35).
Wenn nicht als Geliebte oder Geliebter, wie dann soll sich das Individu-
um im fremden Anderen wiederfinden, will es nicht auf die flatterhaften
Sympathien von “Freundschaft”, die kalkulierte Kongruenz von “Interes-
sen”, die Gnade von “Verständnis” oder den Formalismus organisatori-
scher “Fälle” hoffen? Und wie wäre jene Befriedigung beim umfassenden

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V. Das Ideal lieben

Einbezug des Individuums, wie es eben ist, zu erwarten, wenn nicht durch
die romantische Liebe?
Die romantische Liebe radikalisiert im Rahmen ihrer harmlos und häu-
fig trivial erscheinenden Liebeskonstellationen der kleinen Ausnahmewel-
ten intimer Liebesbeziehungen die Möglichkeiten, individuelle Gefühle,
Körper, Meinungen und Wünsche in die Gesellschaft einzubeziehen. Sie
radikalisiert die Interpenetration, die hier nicht über die Rolle, Profession
oder den Fallcharakter der Individuen verläuft. Sie radikalisiert Interpene-
tration mit allen Konsequenzen, die ein gesellschaftliches Kopieren und
Vergrößern des Einzelfalls, und sei es als exemplarisches Liebespaar im
Film, im Roman oder als Vernetzung individueller Liebesinteraktionen in
den Beziehungsnetzen der Likes und Dislikes im Internet, für die sozial ge-
teilten Vorstellungen darüber haben kann, was als Individualität “geht”.
Mag man “Interpenetration” hierbei auch nicht als “vollständige Durch-
dringung” individueller und gesellschaftlicher Orientierungs- und Hand-
lungsperspektiven verstehen, sondern “nur” von deren “Verschränkung”
ausgehen, so hat die zunehmende Konturierung von Individualität doch
Konsequenzen sowohl in Hinblick auf die Irritation der gesellschaftlichen
als auch der individuellen Fassung von Individualität. Es überrascht des-
halb nicht, dass die Soziologie diese Irritation mit Sinn für Dramatik
zur “Individualisierungsthese” steigert (siehe Beck, 1983) oder dass das
Verständnis von moderner Individualität als erwünschte und “gepflegte”
Einzigartigkeit selbst als romantisch erscheint (Eberlein, 2000).
Auf eine sehr unmittelbare Weise dringt mit der Liebe als gesellschaft-
lich etabliertem SGKM die individuelle Liebeskommunikation, als Soziali-
tät der Intimität codiert und im Ideal der romantischen Liebe plausibili-
siert, Individuelles ebenso in die Gesellschaft ein und wird zur sinnhaften
Unterscheidungskategorie, wie Gesellschaftliches in die Individualität ein-
dringt.
Die in Liebesbeziehungen als selbstverständlich erwarteten individuel-
len Ausnahmen können zur regelhaften Grundlage sozial kontingenter Ord-
nung werden. Aber nicht nur das. Individuell gezeigte Praktiken der Liebe,
aber vor allem individuelle Erwartungen, werden als emotionale und trieb-
hafte Wünsche und Ansprüche der Liebenden zu einem gesellschaftlichen
Tatbestand, der die kollektiven Diskurse und Narrative, etwa der Subjekti-
vität, irritiert. Was gehört wohin, wodurch ist das Subjekt als Individuum
definiert, was hebt sich in Intim-Beziehung auf, was wird zur definitori-
schen Kraft, sind nur einige Fragen, die sich jetzt in den Kontexten der ge-
sellschaftlichen Definition des Individuellen außerhalb und innerhalb der
Gesellschaft stellen – und besonders dort, wo das vorher Ausgeblendete,

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V. Das Ideal lieben

wie etwa die Subjektivität von (liebenden und geliebten) Frauen gesell-
schaftlich sichtbar wird (vgl. Rosenhaft, 1993: S. 19ff.).
Individuell hat man allerdings für die geäußerten und entäußerten Vor-
lieben, Eigenarten, Obsessionen und Praktiken dann, wenn man liebt und
gar in eine Intim-Beziehung eintritt, den Preis der Vergesellschaftung zu
zahlen. So kann das Liebesgegenüber Ansprüche des “Wir” formulieren,
die durch die Normalität des Unwahrscheinlichen der romantische Liebe
gedeckt sind. Der oder die andere kann Einfühlung, gar grundlegenden
Konsens fordern und sogar unausgesprochen voraussetzen, wenn geliebt
werden soll.
Wie selbstverständlich etwa der Anspruch auf fraglosen Konsens für die
Liebenden gilt, zeigen die Untersuchungen zum Konsens in jungen Ehen,
wobei Konsens als Generalisierung von Erwartungsübereinstimmung zu-
gleich selbst als Idealtypus erscheint.
Nach Alois Hahn weisen Intimbeziehungen aufgrund ihrer unsicheren
und institutionell kaum abzusichernden Erwartungssituation einen hohen
Vertrauensbedarf auf (1983: S. 214). Dieser kann aber nicht als Systemver-
trauen realisiert werden – anscheinend auch nicht als Vertrauen in die In-
stitution Ehe mit ihren rechtlich garantierten Rahmenbedingungen gegen-
seitiger Solidaritätspflichten (siehe z. B. Tyrell, 1988). Aufgrund der emo-
tionalen Grundlage von Ehen, die auf romantischen Kriterien der Partner-
wahl basieren, ist hier persönliches Vertrauen erforderlich, das sich am
idealen Erwartungshorizont fragloser Übereinstimmung der Liebespartner
orientiert, besonders in Bezug auf intime oder persönliche Meinungen
und Haltungen etwa zur Sexualität und Kindererziehung (Hahn, 1983:
S. 216).
Dass diese idealisierte Vertrauenserwartung kaum etwas mit den realen
Übereinstimmungen der Meinungen und Haltungen bei den liebenden
Ehepartnern zu tun hat, fällt allerdings nicht auf – oder besser gesagt: es
sollte nicht auffallen, wenn Konsens als Ausdruck einer normalen Liebes-
beziehung verstanden wird. Gerade weil hier Individuen mit höchst eige-
nen biographischen Erfahrungen, Wünschen, Fähigkeiten und Bedürfnis-
sen aufeinander treffen, ist die tatsächliche Übereinstimmung in den inti-
men Bereichen bei den Paaren am Anfang ihrer Beziehungen tatsächlich
nur bei 50 % der Paare gegeben, 25 % weisen sogar deutlich konträre Mei-
nungen auf (a.a.O.: S. 220). Im Laufe der Beziehungen wächst der Kon-
sens, aber anscheinend nicht durch Liebe, sondern durch Praxis und Ge-
wöhnung – oder sollte man sagen, durch zunehmende Ähnlichkeit der
Partner?

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V. Das Ideal lieben

Das romantische Ideal der harmonischen Liebesbeziehung macht also


Konsensfiktionen zur Vertrauensgrundlage der Sozialität der Liebesbezie-
hung (a.a.O: S. 22f.), die nicht thematisiert oder an den partnerschaftlichen
Realitäten getestet werden, obwohl die Nähe des Umgangs miteinander
und das intime Kennenlernen doch gerade diese “Aufklärung” der tatsäch-
lichen Übereinstimmung erleichtern sollten (a.a.O.: S. 225). Die Liebesbe-
ziehung der so unterschiedlichen Individuen basiert vielmehr auf der gene-
ralisierten Annahme einer gesteigerten Unwahrscheinlichkeit, dem Kon-
sens, Konsens zu haben.
Diese durch Idealisierung von Übereinstimmung aktiv herbeigeführte
Kongruenz scheint dann nicht nur persönlich glücklich zu machen (vgl.
Murray et al., 1996). Die konsensvernarrten Liebespaare entsprechen im
intimen Einzelfall auch den Konsenserwartungen der Liebesnormalität,
die sich selbst davor schützt, ihre Idealisierung von Übereinstimmung
durch die Realität der Verschiedenheit der liebenden Individuen zu ge-
fährden.
“Es existiert also nicht nur ein hoher Konsensanspruch, sondern zu-
gleich und damit aufs engste verbunden die Erwartung, den anderen
gänzlich zu verstehen und von ihm verstanden zu werden.“ (Hahn,
1983: S. 217) aber: “Die Tests, die riskiert werden, sind dann, so lange
die Liebe währt, keine experimenta crucis. Sie schonen Fiktionen, so
lange sie noch gebraucht werden.“ (a.a.O: S. 226).
Wenn Interpenetration keine Einbahnstraße ist, auf der die Individuen
ihre höchst individuellen Gefühle und Bedürfnisse zur Grundlage des Lie-
besmiteinanders machen, dann dringen – wie bereits ausgeführt – auch ge-
sellschaftliche Wert- und Handlungsperspektiven in die Definitions- und
Verhaltensmöglichkeiten der verliebten Individuen ein.
Das bedeutet für die Liebe der modernen Gesellschaft, dass sie auch un-
ter funktionaler und professioneller Perspektive eingeschätzt wird. So wer-
den etwa die gesellschaftlich für normal erachteten Liebesbedürfnisse und
ihre Äußerungen als Maßstab für die gesellschaftliche Integrationsfähigkeit
verwendbar und erscheinen ab dem 19. Jahrhundert gar als Maßnahmen
für die Planbarkeit des Erhalts und der Wiederherstellung individueller
Leistungsfähigkeit (vgl. Hull, 1988: S. 53f.). Die Liebe und die Liebenden
werden analysiert, psychologisiert und therapiert, was sich dann bis in die
Trivialisierungen der aktuell ausufernden Ratgeberliteratur zu Liebe und
Liebesbeziehungen nachverfolgen lässt (vgl. zur Übersicht etwa Scholz et
al., 2013). Oder sie werden von Seiten der Sozialwissenschaften ermahnt,
sich über den Status ihrer Ungleichheit(en) selbst aufzuklären und durch

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V. Das Ideal lieben

allzu große Innerlichkeit nicht an der “Verleugnung der sozialen Welt”


(Bourdieu, 1987: S. 796) mitzuwirken.
“Männer und Frauen werden in diesem Diskurs angehalten, sich als
autonome Individuen mit Authentizitätsanspruch zu betrachten, un-
abhängig von sozialen Einbindungen, insbesondere unabhängig von
vorgegebenen Geschlechtsrollen. Das Subjekt soll sich als psycholo-
gisch komplexes Individuum begreifen, das genauer über sich selbst
nachdenkt. Für die romantische Liebe bedeutet dies, dass man der
Empfindung der Liebe nicht mehr 'blind' folgen, sondern über deren
Bedeutung reflektieren sollte. Die Liebe wird also reflexiv, d. h. der
kommunikativen Vernunft stärker zugänglich.“ (Burkart, 2014: S. 89)
Der Eindruck liegt dann nicht fern, dass die romantischen Liebesbeziehun-
gen, gerade aufgrund der ihnen zu Grunde liegenden kontingenten Ord-
nung des Individuellen, zu einem Irritationsobjekt gesellschaftlicher Kritik
werde konnte.
“Was unsere Liebesbeziehungen strukturiert, ist weitgehend im Wol-
len und Fühlen festgeschrieben. Damit fühlt es sich nach wie vor pri-
vat und persönlich an. Und noch immer ist der Sache mit Selbstreflexi-
on nicht beizukommen. Das Bewusst-Machen von Ungleichheiten
führt offenbar noch nicht zu einem Wandel.“ (Bethmann, 2010:
S. 233)
So laufen die Diskurse der Aufklärung, der Kapitalismus- und Machtkritik
bei der Liebe anscheinend ebenso ins Leere, wie die Narrative der Gender-
und Ungleichheitsdebatten die Idealisierungen der lustvollen Passion
kaum zu erfassen scheinen. Man kann zwar durchaus versuchen, die ro-
mantische Liebe als Ausdruck marktförmiger Mechanismen zu begreifen
(Illouz, 2003) oder der Idee verfallen, die Liebe sei politisch, also unter
Machtperspektiven zu fassen. – Letzteres stellt eine Überlegung dar, deren
Begründung heute einigen Aufwand zu erfordern scheint, wenn dazu z. B.
erst “postkolonial-feministische, intersektional-genderkritische, buddhisti-
sche, literarische und essayistische Perspektiven” zu fusionieren sind (siehe
Hornscheidt, 2018). Darüber hinaus provoziert diese Vorstellung geradezu
die Frage, ob die Politik dann nicht auch “mehr Liebe” bräuchte (etwa
Nussbaum, 2014)? –
Allerdings lassen sich die SGKM Liebe und Macht nicht einfach gegen-
einander austauschen oder erfüllende Liebesbeziehungen ökonomisch kal-
kulieren. Zwar kann man jede Situation, in der nicht alles da ist, was man
will oder in der nicht alles gewollt wird, was da ist, unter den Gesichts-

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V. Das Ideal lieben

punkten von Angebot und Nachfrage als “Markt” beschreiben. Die Tatsa-
che, dass man nicht alle gleichzeitig lieben oder von allen gleichzeitig ge-
liebt werden kann, also eine Auswahl von Liebeschancen stattfinden muss,
deckt sich als Begründung der Hingezogenheit jedoch nur schwer mit den
Erwartungen der Innerlichkeit, wie sie die Liebeskommunikation vermit-
telt.
Wer seiner Geliebten oder seinem Geliebten verrät, dass man sie oder
ihn deshalb liebe, weil das zum eigenen Vorteil gereicht und sich für die
Kalkulation eigener Optionen “rechnet”, der wird sich fragen lassen müs-
sen, wofür dann noch die Liebe bei der Partnerwahl gebraucht wird. Man
könnte sich doch so viel besser auf die Taxierungen der sozialen Status-
wahl verlassen, wie sie standesbewusste Eltern beherrschen, die nach “der
guten Partie” für ihre Kinder suchen. Oder man könnte von der Kapitali-
sierung aller Lebensverhältnisse ausgehen und den Liebespartner oder die
-partnerin für Ihre Zuwendung und Liebeserweise bezahlen, um deren
Leistungsbereitschaft und die Qualität ihrer Leistungen zu garantieren.
Ähnlich verhält es sich mit der Machtperspektive. Liebesbeziehungen
mögen von der Ressourcenausstattung der Liebenden, ihren individuellen
Fähigkeiten, Gefühle zu entwickeln und auszudrücken oder sich in diese
einzufühlen und von der Lust am Dominieren her sehr asymmetrisch sein.
Wenn die Asymmetrie dazu führt, dass das Dominieren nicht als Lust er-
lebt, sondern offensichtlich als Vermeidungsalternative angedroht wird,
um das Handeln des einen durch das Handeln des anderen festzulegen,
dann spielen Gefühle der Hingezogenheit und Einfühlung in das Erleben
des anderen als Orientierung des eigenen Handelns keine Rolle mehr. –
Man muss dann auch die Idiosynkrasien der anderen nicht mehr schätzen,
allenfalls fürchten.
Schließlich gibt die scheinbare Entrücktheit individueller Intimbezie-
hungen der romantischen Liebe Anlass zur Kritik, dass sich die Idealisie-
rung von Beziehungen, die auf der irrationalen Faszination an individuel-
len Ausnahmen beruhen, überlebt hat. Stattdessen scheint eine Ära der
realistischen, partnerschaftlichen Liebe anzubrechen (vgl. Giddens, 1993).
Die Liebenden begegnen sich hier als Vertragspartner, die permanent be-
müht sind, Gleichberechtigungs-, Sorge- und Versorgungsforderungen aus-
zuhandeln und so auszugleichen. Die Liebe nimmt den Charakter einer
endlosen Tarifverhandlung an, Kündigung (vgl. Schneider, 2009: S. 678)
und Streiks mit eingeschlossen.
Vielleicht kann man dies als Versuch werten, die Liebe an die Rationali-
tätserwartungen der modernen Gesellschaft anzuschließen (ähnlich Leu-
pold, 1983: S. 322) und dabei zu einer “Verwissenschaftlichung” der Liebe

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V. Das Ideal lieben

zu kommen (Illouz, 2011: S. 293ff.). Statt der Unvernunft ist fortan die
Vernunft zu lieben, wenn etwa die rationalisierte Partnerschafts-Liebe als
realistisches, gar aufklärerisches Projekt ausgegeben wird, wie es etwa Jane
Austin mit der Figur des rationalen Liebhabers in ihren Romanen vor-
macht (Evans, 1998: S. 266). Eine solche vernünftige Liebe soll davor
schützen, in die Ungleichheitsfallen romantischer Liebesverwirrung zu
tappen. Die partnerschaftliche Liebe ist demzufolge kein Spaß, sondern
nimmt den Charakter ernsthafter Arbeit, ja harter Verhandlungen an (Bur-
kart, 2000: S. 186ff.).
Diese Perspektive der Liebenden als soziale Vertragsparteien tritt jedoch
zum einen sehr milieugebunden in Erscheinung (vgl. Koppetsch, Burkart,
1999) und wird zum anderen mehr behauptet, als in der Praxis der Liebes-
beziehungen eingelöst – was von den Paaren auch illusionslos registriert
wird (vgl. Cornelißen, Barthmann, 2013). Die Transformation von Liebes-
in rationalisierte Aushandlungsbeziehungen wird anscheinend deshalb er-
schwert, weil die individuellen Positionen der Vertragsparteien nicht zur
Unparteilichkeit der vollständigen Annahme des geliebten anderen passen.
Zudem enttäuscht die Artikulation von konfligierenden Positionen die Er-
wartung bereits im Ansatz, das Erleben des jeweils anderen in der Liebe zu
fühlen und nicht erst explizit zu diskutieren.
Infolge seiner übersteigerten Erwartungen von ewiger Übereinstim-
mung und emotionaler Hingezogenheit bei der Vergemeinschaftung indi-
vidueller Gefühle und Begierden zieht ein Ideal wie die romantische Liebe
zweifellos Kritik auf sich, die sich dann auch als Ideologiekritik der Liebe
formulieren lässt (vgl. Evans, 1998: S. 273f.). Ob es dabei aber realistisch
ist, die idealen Erwartungen der romantischen Liebe gegen Idealvorstel-
lungen von Liebespartnern auszutauschen, die ihre Gemeinsamkeiten in
einem Gerechtigkeitsdiskurs finden und sich in ihren Aushandlungen vom
Individuum an sich zum Subjekt für sich entwickeln, bleibt dahingestellt.
So hebt etwa Burkart mit Blick auf die Besonderheiten der sozialen Inklu-
sion von Emotionen und Leiblichkeit in der Praxis von Liebes-Beziehun-
gen hervor:
“Wenn wir die Liebe als Praxis verstehen, d. h. als Beziehungsform, die
leiblich-emotional verankert ist und daher leibliche Kommunikation
stärker betont als diskursive Verständigungsformen, dann verstehen
wir vielleicht besser, warum die Liebe eher resistent ist gegenüber
Überformungen durch Diskursrationalität und Gleichheitsrhetorik.
Als Praxis in diesem Sinne kann die Liebe eine starke Bindungskraft
erzeugen, weil sie im geschützten Raum der Intimität Leidenschaft
und Hingabe zulässt und öffentlich debattierte Ansprüche an Partner-

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V. Das Ideal lieben

schaftlichkeit und Gerechtigkeit situativ ausklammern kann.“ (2014:


S. 97)
Hinsichtlich der gesellschaftlichen Differenzierung lässt sich zudem fest-
stellen, dass die Kritik in ihrer Irritation an den Paradoxien der kontingen-
ten Ordnung von Liebesbeziehungen wohl die Persistenz der Differenzie-
rungs- und damit der Sinnbedingungen der Gesellschaft unterschätzt.
Vor dem Hintergrund des Interpenetrationsproblems von Individuen in
eine funktional differenzierte Gesellschaft stellt die romantische Liebe im-
mer noch einen Modus der Partnerwahl zur Verfügung, der gerade in sei-
ner idealen Perspektive als eine plausible und damit funktionale Möglich-
keit für die soziale Inklusion von fühlenden Individuen in die Gesellschaft
und für deren psychophysische Befriedigung durch Anerkennung ihrer
Wünsche beim Eingehen einer romantischen Intim-Beziehung erscheint.
Die Kritik unterschätzt also die Interpenetrationsleistung der Liebe als
SGKM in der funktional differenzierten Gesellschaft im Vergleich zu den
Möglichkeiten, die rationale Diskurse für die Inklusion von Individuen
mit ihren Gefühlen und Körpern bieten (vgl. Burkhart, 2014: S. 97).
So hat sich das Liebesideal seit dem 17. Jahrhundert von einer Idealisie-
rung der moralischen Perfektion zu einer idealen Normalität der individu-
ellen Wahl aufgrund von Gefühlen entwickelt (Luhmann, 1982: S. 51).
Jetzt wird weder nach dem Erreichen moralischer Perfektion – auch nicht
in Fragen der Gerechtigkeit – noch nach der völligen Selbstkontrolle der
Gefühle durch die Vernunft gestrebt, sondern nach der Freiheit zur Hinga-
be, die man, weil man einem Paradox folgt, zugleich sucht und erleidet.
Wie Luhmann hervorhebt, kann in der romantischen Liebe nicht mehr
die Perfektion eigener und fremder Freiheiten gesucht werden, aber ihre
Erfüllbarkeit und mehr noch die Dauer ihrer Erfüllbarkeit (O. c.: S. 57ff.).
Die alltägliche Entparadoxierung der Liebeserwartungen wird somit nicht
mehr durch Rückgriff auf Rangfolgen, Moralität und so möchte man hin-
zufügen, auch nicht mehr über Rationalisierung erreicht, weil es um die
Unmittelbarkeit einer Sozialität ganzer Individuen geht. – Daran ändern
auch die Rationalisierungsstrategien der Therapeuten und der Ratgeber
nichts, weil sie Erfüllung durch Arbeit, nicht durch Lust versprechen. Es
bleibt nur das Verschieben der vernünftigen Problemlösung auf die Zu-
kunft und der Seufzer, dass bei der nächsten Liebe, in der nächsten Bezie-
hung alles anders wird.
Die Entparadoxierung führt nur über die romantische Steigerung der
Widersprüchlichkeiten zur Liebe. Sie ist so zugleich plausibler Ausdruck
der Ausnahmesituation, in der eines möglich sein soll: die völlige Annah-
me der Individualität durch einen anderen, aus nichts weniger als der Lust

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V. Das Ideal lieben

des Begehrens. Damit werden die Paradoxien der Liebe in allen Sinndi-
mensionen zur Grundlage romantischer Beziehungen. Sie sind zugleich
Ausdruck für die Eindringtiefe des SGKM Liebe in die Normalität der ro-
mantischen Beziehungskommunikation, die auf diese Weise gar nicht
mehr als Ideal oder Illusion erscheint, sondern als Selbstverständlichkeit.
“Wenn schließlich die Autonomie von Intimbeziehungen durchge-
setzt und zur Reflexion gebracht ist, genügt für die Begründung die
(unerklärliche) Tatsache, daß [sic!] man liebt. Als selbstreferentieller
Kommunikationszusammenhang rechtfertigt die Liebe sich selbst.“
(Hervorhebung im Original, O. c.: S. 51/52)
Bei einer Liebesbeziehung können wir daher in der sozialen Sinndimensi-
on als normal erwarten, uns selbst im anderen zu finden. Wir gehen in der
Sachdimension vom Konsens der Verschiedenheit aus und wir erwarten die
Dauer des Vergänglichen als normales Versprechen in der Zeitdimension der
Liebeskommunikation.
Mit großer Selbstverständlichkeit suchen wir die Bestätigung dieser
überhöhten und im Grunde unrealistischen Erwartungen als Anzeichen
einer “gelungenen” Liebe. Und genau das macht uns in unserem Erleben
und Tun zum Teil des selbstverständlichen Ideals, das wir mit der Liebe
der Gesellschaft lieben.

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– Jupiterteilchen –

Jetzt ist sie wieder zurück in der Atmosphäre, Teilchen vom Jupiter in ihren
Haaren, hey
Sie benimmt sich wie der Sommer und kommt daher wie der Regen
Erinnert mich daran, dass es eine Zeit gibt, sich zu ändern, hey
Seit ihrer Rückkehr vom Mond lauscht sie wie der Frühling und redet wie der
Juni, hey, hey
(...)

Aber sag mir, bist Du an der Sonne vorbeigesegelt


hast Du die Milchstraße erreicht
um zu sehen, dass alle Lichter nur matt schimmern
und dass der Himmel überbewertet ist?
(...)
Jetzt ist sie zurück vom Urlaub der Seele
bahnt sich ihren Weg durchs Sternbild
sie versuchts mit Mozart, während sie Tae-Bo macht.
Erinnre mich daran, dass da Platz ist um zu Wachsen, hey.
(...)

Aber sag mir, bist Du an der Sonne vorbeigesegelt


hast Du die Milchstraße erreicht
um zu sehen, dass alle Lichter nur matt schimmern
und dass der Himmel überbewertet ist?

Train
[Übersetzung Udo Thiedeke]

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VI. Das Kapital lieben

Heute scheint es nahe zu liegen, die soziale Welt vorrangig als kapitalisti-
schen Zusammenhang zu deuten und also anzunehmen, dass Kapitalien
alle sinnhaften Unterscheidungen bestimmen bzw. diese sich als Tauschak-
te von Kapitalien beschreiben ließen.
Die Soziologie ist davon nicht ausgenommen. Man hat allerdings den
Eindruck, dass sich die Soziologie dann, wenn sie so argumentiert, die
Sichtweise der Wirtschaft zu eigen macht. Danach konstituiert sich Gesell-
schaft als Markt, in dem soziale Beziehungen wirtschaftliche, nach Knapp-
heiten kalkulierte, Tauschbeziehungen darstellen. Alles kann so als Kapi-
talressource auf einem Kapitalmarkt behandelt werden: Die Familienzuge-
hörigkeit, die Machtpolitik, der religiöse Glaube, der Kunstgeschmack, die
Arbeits- und Produktionsbeziehungen sowieso, die Identität sozialer Grup-
pen und Milieus, der Krieg und der Frieden, warum also nicht auch die
Liebe – ja, sogar die romantische Liebe?!
Unter dieser Beobachtungsperspektive scheint es ganz selbstverständlich
zu sein, dass man mit der Liebe der Gesellschaft immer auch das Kapital
liebt, wie auch Burkart mit leicht resigniertem Unterton feststellt:
“Aber vielleicht muss die Liebe, wenn sie ihre Bedeutung als Basis von
Paarbeziehungen nicht verlieren will, unter kapitalistischen Bedingun-
gen einen gewissen Grad an Ökonomisierung in Kauf nehmen.“ (2018:
S. 301).
Nicht nur das! Die romantische Liebe fällt angeblich dem wilden, deregu-
lierten Kapitalismus anheim, der als neoliberale Entgrenzung von Waren-
und Dienstleistungsmärkten daherkommt. Liebe und die Sexualität als
Motor des Begehrens geraten durch den neoliberalen Kapitalismus an-
scheinend in den Sog einer völlig entgrenzten Kapitalisierung, die schließ-
lich sogar zur “neosexuellen” Sexualität führt (vgl. Sigusch, 1998). Intime
Kontakte, das Begehren, die liebende Hingabe, alles soll jetzt warenförmig
und auf einem Partnerschaftsmarkt getauscht werden, auf dem alle um die
Gunst aller konkurrieren (vgl. Illouz, 2003: S. 27ff.). Es bleibt den Lieben-
den also gar nichts anderes übrig, wenn sie individuell lieben wollen, als in
die Kommerzialisierung der Liebe einzuwilligen, denn: “(...) die kommer-
zialisierte Sprache der individuellen Selbstverwirklichung [ist] im Augen-
blick die einzige, die wir gut genug verstehen, um unsere Beziehungen

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VI. Das Kapital lieben

einem Projekt der Autonomie, der Gleichberechtigung und der emotiona-


len Erfüllung zu öffnen.“ (Illouz, 2011: S. 324)
Es überrascht daher nicht, dass diese umfassende Kapitalisierungsdia-
gnose oft mit einer moralisierenden Kritik verbunden wird. – Jetzt muss
man also auch noch die Liebe an die Kräfte der Märkte verloren geben,
ausgerechnet die Liebe! Die Idee der Transformation der Liebe in eine Ware
auf deregulierten Märkten schließt dabei an die Diagnose von der “großen
Transformation” bei Karl Polanyi an, der als Konsequenz der Kapitalisie-
rung aller Lebensbereiche eine moralische Entbettung des gesellschaftli-
chen Lebens, eine Anomie durch ökonomische Deregulation vorhersagte
(vgl. Polanyi, 1944).
So betrachtet scheint unter den Bedingungen des als neoliberal verstan-
denen Kapitalismus für die Liebe eine Amoralisierung durch Waren- und
Marktförmigkeit einzutreten. So hält etwa Eva Illouz bei ihrer soziologi-
schen Erklärung “warum Liebe weh tut” im Anschluss an Polanyi zur
Transformation der “romantischen Wahl” der Liebe fest:
“Was wir als 'Triumph' der romantischen Liebe in den Beziehungen
zwischen den Geschlechtern bezeichnen, bestand vor allem darin, daß
[sic!] die individuelle Liebeswahl aus dem moralischen und sozialen
Gewebe der Gruppe herausgelöst wurde und selbstregulierende Kon-
traktmärkte entstanden. Die modernen Kriterien zur Beurteilung eines
Liebesobjekts sind von öffentlich geteilten moralischen Rahmenbedin-
gungen entbunden.“ (2011: S. 81).
Auch angesichts des in der Liebe geltenden Vertrauens in Konsens, dessen
Fiktionalität jedoch nur wenig für eine moralische Verankerung der Liebe
in der Gesellschaft taugt, erscheint es aber durchaus fraglich, ob eine sozio-
logische Erklärung der Liebe von ihrer Moralität oder von einer Demorali-
sierungsdiagnose ausgehen kann. Allenfalls ist nachvollziehbar, warum
sich die “kritische” Beobachtung der Liebe gerade auf Geld und Macht fo-
kussiert.
So generalisieren die SGKM Geld und Macht in ihren Unwahrschein-
lichkeiten der Erlebnis- und Handlungsmotivation deutliche Asymmetrien
zwischen Ego und Alter. Diese offenkundigen Asymmetrien auf der Ebene
der Interaktionen sind der Ausgangspunkt für entsprechend exkludierende
Formen von Sozialität. Bei Geld mündet die Asymmetrie im Gegensatz
von Nicht-Haben versus Haben (bzw.: von “Soll” und “Haben”) (Luh-
mann, 1997: S. 348ff.). Machtbeziehungen sind wiederum offensichtlich
am Gegensatz von Ohnmacht und Macht orientiert (O. c.: S. 355ff.).

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VI. Das Kapital lieben

Bei näherer Betrachtung ist Liebe in Hinblick auf ihre soziale Formbil-
dung, die in der Exklusivität der Liebesbeziehung viel ausschließt, wenn
sie einschließt, kaum weniger asymmetrisch gebaut. Amors Geister schei-
den sich an der so schmerzlichen Grenze zwischen lieben und nicht lie-
ben. Allerdings ist das Potential, Ausschließlichkeit als Grenze von Soziali-
tät zu markieren, im Vergleich zu Geld oder Macht bei der Liebe weit stär-
ker verdeckt.
Anstatt an strukturellen, sprich gesellschaftlichen Rahmenbedingungen,
wie sie etwa die Geldwirtschaft oder die politische Herrschaft kennzeich-
nen und anstatt an einer Zuspitzung ihrer Unwahrscheinlichkeiten auf
Quantifizierbares, wie Summen beim Geld oder Ressourcen bei der
Macht, orientiert sich die Form der Liebes-Intimität an individuellen Dis-
positionen und Gefühlen. Für die Liebe ist eben kein Zentralbankrat und
keine Wahlkommission zuständig, wohl aber individuell empfundene Nei-
gungen, Stimmungen und vor allem Leidenschaften.
Genau hier, auf der Ebene der Begegnungen von Alter und Ego, postu-
liert die romantische Liebe die Geltung der Gleichheit, Erlebende und
Handelnde zu sein. Die Positionen wechseln, wenn geliebt und widerge-
liebt wird. Die Lust am Liebesleiden betrifft jedoch beide Liebenden, ja sie
wird von beiden gesucht. Beide sind lustvolle Opfer amouröser Zufälle –
und können es nicht lassen, sich deren Unausweichlichkeit zu versichern.
Von beiden wird die Hingabe an das Erleben des anderen im Ausdruck des
Liebeshandelns erwartet. Was die Liebe symbolisch auf die Spitze treibt,
das ist die Symmetrie der Asymmetrien individueller Unwahrscheinlich-
keiten des Erlebens und Handelns.
Liebe scheint einzig von der Empfindungsfähigkeit der Liebenswilligen
und vom Zufall des richtigen Moments, also von individuell kontingenten
Faktoren abzuhängen. Anders kann die Richtige oder der Richtige nicht
gefunden werden. Diese Faktoren können aber, um die Unwahrscheinlich-
keitssteigerungen des Mediums zu plausibilisieren, nur individuell und
nicht aus sozialen Strukturen oder dem Besitz von Ressourcen abgeleitet
werden (O. c.: S. 28f.). Das muss man gerade soziologisch im Blick behal-
ten, wenn man Liebe als Code einer Kommunikation begreift, die indivi-
duelles Erleben und Handeln als Intimität vermittelt, die sich selbst aus
der persönlichen Individualität der Beteiligten aktualisiert.
Die Liebe und die Liebenden sind damit allerdings nicht als sozial oder
gesellschaftlich “entkoppelt” zu denken. Dass man sich die Liebe individu-
ell vermittelt bedeutet nicht, dass die soziale Umwelt der Liebenden, die
Freunde und Freundinnen, die Familienangehörigen und die gesellschaft-
liche Kommunikation der Liebesnormen, die in den Normalitätserwartun-

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VI. Das Kapital lieben

gen an eine (romantische) Liebe zum Ausdruck kommt, keinen Einfluss


auf die Liebe der Liebenden hätten – darauf hat etwa Stephanie Bethmann
(2013) hingewiesen.
Man sollte dabei allerdings den Identitätserhalt des sozialen Systems, das
als romantische Intimbeziehung mit der Liebeskommunikation Form ge-
winnt, in seiner idiosynkratischen Gravitation nicht als von der Gesell-
schaft isoliert oder im Gegenschluss als nur dann realisierbar begreifen,
wenn alle anderen es anerkennen (z. B. O. c.: S. 197ff.). – Das mag Sache
einer (Liebes-)Heirat als Ausdruck der gesellschaftlichen Formalisierung
von Geschlechtspartnerschaft sein. Eine Liebesbeziehung beginnt aber sel-
ten im Bett mit den anderen, diese verstecken sich eher in der sozial geteil-
ten Normalitätserwartung zu ihrer Exklusivität.
Hat man sich zur Kommunikation individueller Beziehungen im Code
des SGKM Liebe entschlossen, dann muss dieser “äußere” Einfluss immer
wieder in der Liebeskommunikation in Liebeserleben und -handeln über-
tragen werden. Die Liebenden haben darauf nicht in erster Linie als Freun-
de oder Familienmitglieder oder Teile der Gesellschaft, sondern als Lieben-
de zu reagieren, wenn sie sich ihrer Liebe versichern wollen und die Identi-
tät des sozialen Systems der Liebes-Intimität erhalten bleiben soll.
Symptomatisch dafür ist etwa, dass Verhandlungen der Liebenden, wie
mit Umweltanforderungen und den anderen umzugehen sei, in intimen
medialen Kommunikationsformen, wie früher meist in Briefen, heute in
Mails, SMS oder Messanger-Notifications stattfinden und dabei oft betont
wird, dass man sich auf diese Weise bewusst von störenden Umwelteinflüs-
sen schützen will oder muss, um sich ganz auf den Partner einstellen zu
können (vgl. zur Herstellung von Intimität in Liebesbriefen Bauer, 2017:
S. 231ff.; Asen, 2017: S. 325ff.)
Es gehört deshalb zu den symbolisch zugespitzten Erwartungen, z. B. in
den medialen Formen der Liebesromane, Theaterstücke oder Liebesfilme,
dass die Exklusivität der Liebes-Intimität gegen äußere Einflüsse behauptet
wird oder dass sie, wenn sie sich als zu schwach, zu sehr “den Umständen
ausgeliefert” erweist, dramatisch daran “zerbricht” – wie etwa in Shake-
speares “Romeo und Julia”.
Die Exklusivität der Formbildung und des Formerhalts in der Kommu-
nikation des SGKM Liebe wird weit stärker als bei Geld oder Macht als
persönliche um nicht zu sagen private Angelegenheit der Liebenden verstan-
den. – Das ist deshalb der Fall, weil das Medium Sozialität als vor allem
auch körperliches Begehren der Idiosynkrasien der anderen oder des ande-
ren kommuniziert (Luhmann, 1982: S. 149).

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VI. Das Kapital lieben

Sollten Geld oder Macht eine ähnliche Individualisierung der Generali-


sierung leisten, so müssten deren soziale Formbildungen strukturell weit
stärker dereguliert sein als diejenigen der Liebe. – Vielleicht kommt gerade
deshalb im Gefolge deregulierter Märkte und einer vermeintlich dadurch
bedingten Deregulierung der Politik (vgl. Beck, 2000: S. 19ff.) der Ein-
druck auf, Liebe verwandele sich mit der Individualisierung von Kapital in
ein individuell konsumierbares Produkt.
Wird aber der Warencharakter der Liebe als ihr wahrer Charakter be-
hauptet und dies anhand einer Ungleichheit produzierenden Liebes-Inti-
mität verdeutlicht, dann kommt man nicht umhin, der romantischen Lie-
be eine umfassende Entromantisierung zu attestieren. Solcherart indivi-
dualisierte und individuell “kommodifizierte” Liebe und Intimität folgen
in erster Linie der kapitalistischen Rationalisierung von Soll und Haben
und als politische Ökonomie gedacht, den taktischen sowie den strategi-
schen Kalkulationen zwischen Macht und Ohnmacht.
Da der moderne Kapitalismus spätestens seit Weber als rationaler Kapi-
talismus verstanden wird, scheint als Kehrseite der ökonomischen Rationa-
lisierung für die Liebesbedingungen eine Ernüchterung, Entzauberung
und Desillusionierung eingetreten zu sein (vgl. Illouz, 2011: S. 281ff.). Die-
se Denkfigur tritt im Übrigen als “ideologische Verquerung der wahren
Liebe” bereits bei Horkheimer und Adorno in Erscheinung (2001: S. 80f.;
besonders S. 89).
Wie allerdings hätte man sich die Paarbeziehungen in der Vormoderne,
etwa unter den Sinnbedingungen der stratifizierten Gesellschaft, vorzustel-
len? Worin könnte hier der Rausch, die Verzauberung und die Illusionie-
rung der Liebenden gelegen haben, wenn man nicht die “minniglich”
Dichtung des Mittelalters oder die Galanterie an den Höfen des Absolutis-
mus als Liebesnormalität ausgeben will?
Gerade mit ihren Konsens- und Ewigkeitsfiktionen gefühlsmäßiger Aus-
nahmezustände, die gleichzeitig Versprechung und Begründung der nur
noch individuellen Partnerwahl sind, erscheint die romantische Liebe hin-
gegen als charakteristisches Phänomen der Moderne.
Die romantische Liebe stellt in ihrer Selbst- wie in ihrer Fremdreferenz
die Liebenden von den vormodernen familialen und ständischen Vorga-
ben bei der Partnerwahl im Sinne einer sozial und individuell akzeptierba-
ren Selbstverständlichkeit frei. Sie macht damit in ihrer Entwicklung seit
dem 17. Jhr. einen sozialen Inklusionsmodus für den Einbezug von nicht
näher rationalisierbaren Abweichungen im Weltbezug von Individuen ver-
fügbar (Luhmann, 1982: S. 168).

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VI. Das Kapital lieben

Wir hatten im Rahmen der Abweichungsverstärkung der “unvernünfti-


gen Liebe” bereits darauf hingewiesen, dass sich so die Verzauberung und
Illusionierung der Partnerwahl bei der romantischen Liebe als Strategie
der Entparadoxierung des SGKM Liebe und damit als Reaktion auf die
Komplexität der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft lesen
lässt. Sie ist somit nicht einer vormodernen Ära der verzauberten und an
sich selbst berauschten Liebe zuzuordnen, die erst durch die kapitalisti-
schen Vermögensstrategien sowie die Instrumentalisierung der Machtspie-
le um Haben oder nicht Haben entzaubert und entfremdet würde.
Letzterer Eindruck wäre auch nicht durch die vielfältigen Antworten ge-
deckt, die die funktionale Differenzierung auf das Problem der Inklusion
von Einzelfällen in potenziell alle Funktionssysteme geben muss. Diese be-
treffen nicht nur den Einbezug in die Wirtschaft und die Politik. Individu-
elle Anschlussfähigkeit muss auch für Intimbeziehungen, Freundschaften,
Familien und Ehen realisierbar sein, die so den Charakter sozialer Funkti-
onssysteme neben Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion usw. anneh-
men, weil durch sie spezifische Inklusionsprobleme der gesellschaftlichen
Teilhabe adressiert werden.
Damit soll keinesfalls bestritten werden, dass sich im Vor- und Umfeld
des Liebens z. B. potenzielle Liebes-Partner unter rationalen Gesichtspunk-
ten vorfiltern und auswählen lassen. – Das prominenteste Beispiel dazu
sind wohl die Matchingtabels der Interessen, Lebensweisen und -verhält-
nisse beim Online-Dating und in den Social Media des Internets (vgl.
Hitsch et al. 2010).
Ebenso ist es möglich und gängig, Konsumpotenz mit Statussymbolen
zu signalisieren und zur Distinktion einen feinen Habitus zu pflegen (vgl.
Bourdieu, 1992: 405ff.). Man kann darauf hoffen, dadurch als die bessere
Wahl gegenüber den anderen zu erscheinen, die auch geliebt werden wol-
len. All das wird ebenso praktiziert, wie sich die Angehörigen ähnlicher so-
zialer Verkehrskreise mit ähnlicher Kapitalausstattung wahrscheinlicher
begegnen als Angehörige anderer sozialer Kreise (O. c.: S. 286ff.).
Nur ob es dann bei all der feinen Distinktion zwischen den Statushomo-
logen auch “funkt”, ist dahingestellt. Ob sich Zwei ineinander verlieben
und nicht nur Interessen, Ressourcen und Sympathien teilen, muss letzt-
lich Amors schwirrendem Pfeil überlassen bleiben, wenn es um die ro-
mantische Ausnahmesituation der Liebe gehen soll.
Auch Burkart formuliert deshalb Zweifel hinsichtlich der Planbarkeit
der Liebe durch das rationalisierte Arrangement ihrer Rahmenbedingun-
gen:

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VI. Das Kapital lieben

“Enttäuschungen sind damit vorprogrammiert, und vielleicht werden


gerade hier die Grenzen der Rationalisierung der Paarbildung beson-
ders deutlich, denn die Entstehung einer Liebesbeziehung lässt sich
auch durch eine optimale Wahlprozedur nicht erzwingen”. (2018:
S. 311f.)
Die rationale Kalkulation der Statusprojektion verfehlt das romantische
Ziel. Sie macht die Kommunikation im Medium Liebe mundtot, weil sie
eine andere Sprache als die der romantischen Liebe spricht, nämlich die
der ökonomischen Abwägung der Vorteile sozialer Beziehungen. Sie legt
einen Wechsel des Mediums der Kommunikation zwischen den sich nä-
hernden Individuen nahe.
Zur Kapitalisierung der Liebe lässt sich allerdings auch anders argumen-
tieren. Wenn sich die Liebe selbst nicht als kapitalistisch durchrationali-
siert darstellt, vielleicht haben sich dann, wie bei Webers “protestantischer
Ethik”, Kapitalismus und Liebe parallel entwickelt und aufgrund
einer “Wahlverwandtschaft” (Weber im Rückgriff auf Goethe) wechselsei-
tig ermöglicht? Burkart geht mit Bezug auf Weber auch diesem Gedanken
nach:
“Als die romantische Liebe ihren Siegeszug begann, war der Kapitalis-
mus noch im Frühstadium, d. h. es gab noch keinen ausgeprägten
Massenkonsum, und die extreme Ausbeutung der Arbeitskraft ließ kei-
ne 'Liebe zur Arbeit' aufkommen. (…). Der Kapitalismus ist, so gese-
hen, kein Gegner der Liebe, sondern erfüllt geradezu die Funktion
einer Entstehungsbedingung für romantische Liebe: Erst mit der kapi-
talistischen Trennung von Produktion und Reproduktion (...) entstand
jene Sphäre der Privatheit und Intimität, in der sie sich entwickeln
konnte. Kapitalismus und Liebe waren jeweils Verheißungen einer
besseren Welt, die “frei” von überkommenen sozialen Abhängigkeiten
sein sollte: freie Lohnarbeit, freie Märkte, freie Liebe.“ (O. c.: S. 306f.).
Diese Argumentation zielt weniger auf die Rationalisierung der Liebe als
auf den Stellenwert der Individualisierung ab. Das kapitalistische Wirt-
schaften und die damit verbundene Definition des Werts von Personen
nach ihrer ökonomischen Potenz (Vermögen) und dem Wert ihrer Ar-
beitskraft (Preis) lässt sich so als eine Bedingung der Möglichkeit für eine
andere gesellschaftliche Wahrnehmung von Individuen verstehen. Die In-
dividualisierung des Kapitalismus muss dann allerdings als nur ein Instru-
ment in einem Konzert von vielfältigen fördernden Bedingungen für die
Freistellung der Individuen verstanden werden.

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VI. Das Kapital lieben

Ähnliche Bedingungen der Möglichkeiten neben der Kapitalisierung in-


dividueller Lebensverhältnisse stellen die politische Gewaltenteilung dar
(Montesquieu), die Idee, den Menschen zum autonomen Subjekt zu erzie-
hen (Rousseau), die Konsolidierung von Machtmonopolen, die die indivi-
duelle Verinnerlichung von Peinlichkeitsnormen motiviert (Elias), das
Entstehen einer autonomen Kunst, mit der die Realitätswahrnehmung so-
wie die ästhetische Wahrnehmung des Individuums als Realität des Imagi-
nären entdeckt wird (Luhmann), die individuell zu erfüllende Berufsethik
(Weber), um nur einige wenige Beispiele zur Beobachtung des Perspektiv-
wechsels anzuführen.
Die Möglichkeit sich (Frei-)Zeit und “schöne Dinge” nach eigenem Gus-
to zu erkaufen und zu konsumieren stellt angesichts dessen vielleicht gar
keine hinreichende Bedingung oder die treibende Kraft dar, um die Part-
nerwahl auf individuell erlebbare Gefühle als Maßstab des Handelns um-
zustellen. Deshalb wird im Gegenzug auch danach gefragt, ob bei der
Wahlverwandtschaft von Liebe und Kapital, die Liebe nicht den Kapitalis-
mus und das Kapital romantisch werden lässt?
So soll nach Lawrence Stone (1990) der “affektive Individualismus”, der
etwa im England des 17. Jahrhunderts zu einem Orientierungswandel bei
Gründung und Entfaltung der Familie, der Eltern-Kind-Beziehung aber
auch zur moralischen Unabhängigkeit der Liebespaare beitrug, die Durch-
setzung des Kapitalismus entscheidend mitgetragen haben. Aber nicht nur
das. Der Kapitalismus scheint sich, wenn er erst einmal in den Dschungel
der Affekte geraten ist, selbst in eine “romantischen Ethik” zu verwandeln
und so zum Geist des Konsums zu werden (vgl. Chambbell, 1987). Noch-
mals Burkhart im Anschluss an Edward Shorter (1975), Alan Macfarlane
(1978):
“Die Liebe hat nicht nur die Individualisierung der Paarbildung geför-
dert, sondern auch den Kapitalismus – metaphorisch gesprochen 'emo-
tional aufgeladen', d. h. mit der intimen Privatsphäre entstand die
Hintergrundfolie einer privaten Gefühlswelt mit Sehnsüchten und Be-
dürfnissen, die langfristig die kapitalistische Konsumökonomie antrei-
ben konnte (…).“ (Burkhart, 2018: S. 306f.)
Illouz wiederum erfasst die angebliche Romantisierung des Kapitalismus
und die Kapitalisierung der Romantik nicht als parallele Entwicklungen,
sondern als eine “Überschneidung” von Rationalisierung und Emotionali-
sierung (Illouz, 2006: S. 13f.) oder kurz: von Konsum und Liebe. Das ro-
mantische Rendezvous wird demnach zur Ware verdinglicht und mit
der “Romantisierung der Waren” zum “Geist des Konsumismus” (Illouz,

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VI. Das Kapital lieben

2003: S. 61ff.). Als Mechanismus dazu wird das Entstehen von Massen-
märkten benannt (O. c.: S. 28f.), wie sie mit dem modernen Kapitalismus
im 19. und 20. Jhr. zunächst in Europa und den USA entstehen. Hier wer-
den die Accessoires und Dienstleistungen, die man zum Lieben benötigt,
als Freizeitgüter für ein Massenpublikum angeboten.
Die Absatzwerbung hilft dann dabei nicht mehr nur die, die keinen Ge-
schmack haben, mit Geschmack (Luhmann, 1996: S. 89), sondern auch
die, die ihre Gefühle noch nicht auszudrücken wissen, mit Romantik zu
versorgen. Die Produkte der Kulturindustrie, die das besorgen, werden
nach Illouz auf diese Weise selbst romantisiert. – Sie werden mit einer “ro-
mantischen Aura” aufgeladen, die einen Verblendungszusammenhang ent-
stehen lässt, in dem die ökonomischen Warenangebote und Werbeverspre-
chen im romantischen Schein verschwinden (2003: S. 43f.).
Was aber ist mit “Überschneidung” gemeint? Nur weil die Werbung für
den Absatz der Produkte und Dienstleistungen mit Attraktivität argumen-
tiert und romantische Chiffren für das emotionale Etikettieren von Kon-
sumgütern und Dienstleistungen nutzt, nur weil sie behauptet, man könne
Liebesglück kaufen, und nur weil entsprechende Konsumgüter als Lie-
beserweise an den Stichtagen romantisierten Konsums wie dem Valentins-
tag gekauft werden, heißt das noch lange nicht, dass die Ware die Liebe ist.
Fraglich bleibt, ob der ökonomische Konsum die Funktion übernehmen
kann, das Erleben der Geliebten oder des Geliebten zu fühlen und han-
delnd auszudrücken, auch wenn er ein messbares Signal für die Motivati-
on sein mag, sich genau damit zu beschäftigen.
Zwar wirken z. B. die Werbeversprechen des Kapitalismus (oder sollte
man besser von “Konsumismus” sprechen?) “Kaufe Produkte oder Dienst-
leistungen, um dein Glück zu erleben” zunächst eindrucksvoll. Sie erschei-
nen wie die Glücksversprechen der romantischen Liebe. Noch dazu sind
sie auch auf Individuen abgebildet und werden von der Werbung in ihren
Darstellungen quasi “vorab” plakativ simuliert.
Allerdings bleibt fraglich, ob die Kommunikation im SGKM Liebe und
seinem Code der romantischen Liebe weiterhin funktionieren würde,
wenn deutlich wäre, dass man das Glück kaufen muss. Wenn das romanti-
sche Glücksversprechen damit gleichzusetzen wäre, dann wären etwa die
Versprechungen der Prostitution mit sexuellen Dienstleistungen “Liebe zu
kaufen” (vgl. Benkel, 2018: S. 249ff.) für bare Münze zu nehmen. Die
Dienstleistung wäre mit dem Glückserleben gleichzusetzen, sozial akzep-
tiert und gewünscht zu sein. Stattdessen wird bei der Bewirtschaftung der
Sexualität der Liebe gegen Geld vorrangig eine Dienstleistung für alle ge-
liefert, die zahlen können, egal ob sie fühlen oder nicht.

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VI. Das Kapital lieben

Wie würde man es wohl bewerten, wenn die Geliebte oder der Geliebte
betont: “Ich liebe Dich, weil ich mit diesem teuren Geschenk endlich mei-
ne Liebe zu Dir ausdrücken kann!“. Dabei dürfen Accessoires, mit denen
die Liebe erwiesen werden soll, durchaus gekauft sein und sie dürfen etwas
kosten, um mit dem Liebesgeschenk zu zeigen: Du bist mir etwas wert.
Was aber nützen die teuersten, am raffiniertesten mit romantischer Sym-
bolik aufgeladenen Präsente, wenn keine Bereitschaft (mehr) besteht, das
Erleben des anderen zum Maßstab des auf ihn bezogenen Handelns wer-
den zu lassen und das in den eigenen Affekten auszudrücken?
Wäre es so einfach, dass der Konsum romantisierter Güter und Dienst-
leistungen die Liebe substituiert und dass wir uns mit ihrem Konsum Lie-
be gleichsam erkaufen, dann würde die emotionale Selektivität der indivi-
duellen Partnerwahl in sich zusammenbrechen. Dann könnten wir jede
und jeden lieben, den wir uns kaufen können und warum sollte man dann
nicht gleich die Waren und Dienstleistungen selbst lieben?
Das mag vielleicht Objektophile, Unternehmerinnen und Unternehmer
und Anhängerinnen und Anhänger der “kritischen” Theorie begeistern.
Nur wie ist es dann mit dem Erleben der Waren und Dienstleistungen be-
stellt, die in einer romantischen Liebesbeziehung fraglos vom Liebenden
erfühlt und erhandelt werden müssten?
Die Absurdität macht die Selektivität des SGKM Liebe deutlich – oder
anders gesagt: Wer im Konsum die volle Bestätigung seiner Individualität
findet, der oder die braucht sich nicht mehr auf das süße Leiden der Liebe
einzulassen. Er oder sie lässt sich auf etwas ganz anderes ein, denn die
Kommunikation im Medium Geld macht deutlich, dass es bei allen und
allem um Preise und Bezahlen geht.
“Das Medium läßt [sic!] sich daraufhin nach Maßgabe der Preise, die
bei Transaktionen zu zahlen sind, zu jeweils bestimmten Formen kop-
peln. Dabei ist zu beachten, daß [sic!] Transaktionen auf beiden Seiten
monetär kalkuliert werden auch wenn es um Tausch von Gütern ge-
gen Geld geht.“ (Hervorhebung im Original, Luhmann, 1997: S. 350)
So liebt man bei aller individuellen Emotionalisierung auch im Kapitalis-
mus nicht das Geld, weil es einen nicht widerliebt, und “alle Menschen”
müssen in der funktional differenzierten Gesellschaft nicht nur freien Zu-
gang zu Markt und Konsum, also zur Wirtschaft, haben, sondern zu allen
Funktionssystemen. Insofern würde, wenn die These von der überlagern-
den Romantisierung zutrifft, nicht nur der Kapitalismus durch den freien
Zugang der Individuen (mit ihren Gefühlen), sondern dadurch ebenso die

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VI. Das Kapital lieben

Politik, das Recht, die Kunst, die Wissenschaft, die Religion usw. emotio-
nalisiert werden.
Wenn Liebe einen sozialen Inklusionsmodus individuell abweichender
Gefühle, Neigungen und Idiosynkrasien neben anderen Möglichkeiten des
gesellschaftlichen Einbezugs, etwa eine an Kapitalien orientierte Bewer-
tung individuellen Vermögens, verfügbar macht, dann greift die soziologi-
sche Erklärung der Liebe der Gesellschaft als kapitalisierte Liebe zu kurz.
Das ist auch dann der Fall, wenn kapitalistische Rahmenbedingungen das
Kennenlernen potenzieller Liebespartner oder die Realisierungsbedingun-
gen von Liebes-Beziehungen beeinflussen. Insofern erscheint der Befund,
Liebe sei ein Produkt von Klassenstrukturen, die Ungleichheit produzie-
ren, überpointiert.
Der Befund formuliert das Problem allerdings mehr als “griffig”. So soll
etwa nach Bourdieu die Partnerwahl vom klassenspezifischen Habitus der
Liebenden abhängen, also von der Verhaltensverinnerlichung ökonomi-
scher, sozialer, kultureller und symbolischer Kapitalausstattungen. Mit der
ökonomisch konsumierbaren Romantik würden dann auch Ungleichhei-
ten konsumiert oder im Konsum bestätigt (vgl. Illouz, 2003: S. 38ff.).
Wie kann aber die Bestätigung von Ungleichheiten zum Code der Lie-
beskommunikation passen, der die Überwindung stratifizierender Un-
gleichheitsfaktoren behauptet? Vielleicht dadurch, so lautet die Antwort
der Ungleichheitskritik, dass man die Liebe gleichzeitig als Versprechen
des sozialen Aufstiegs versteht:
“Diese Alchemie der [romantischen, Anm. UTh.] Liebe ist jedoch in
erster Linie sozial, denn sie ist Ausdruck der Hoffnung, dass sich un-
günstige Umstände in edle verwandeln lassen und dass Liebe Men-
schen vereinen kann, die sonst durch Barrieren der Klasse, der Natio-
nalität und der Herkunft getrennt sind.“ (Illouz, 2003: S. 229).
Fast scheint es, als sei hier wieder von der “guten Partie” die Rede, mit der
sich bei einer geschickt arrangierten Ehe eine bessere Kapitalausstattung
und damit sozialer Aufstieg erreichen lässt. – Das wäre dann aber gerade
jene Form der Partnerwahl, die Liebe durch eine Entkopplung ihrer eige-
nen Plausibilität vom geplanten Arrangement zu überwinden verspricht
(Luhmann, 1982: S. 166). Ist Liebe also vorrangig als Mittel des sozialen
Aufstiegs oder gar der Völker- und Menschenverständigung über soziale
Barrieren hinweg zu verstehen? Wird deshalb geliebt?
Wird die romantische Liebe so verstanden, dann erscheint sie als morali-
sches Versprechen, die Ungerechtigkeiten ungleich verteilter Handlungschan-
cen zu beseitigen. Die “romantische Kompetenz”, also die Fähigkeit, die

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VI. Das Kapital lieben

Liebe der Gesellschaft zu lieben, lässt sich so als Kompetenz deuteten, „(...)
die sich durch Zugang zu sprachlichen, kulturellen, ökonomischen und
zeitlichen Ressourcen auszeichnet.“ (Hervorhebungen, UTh.; Illouz, 2003:
S. 231).
Angesichts der weiter bestehenden individuellen Ungleichheiten impli-
ziert das aber, dass man kritisch “erkennen” kann, dass Liebe als “Mytholo-
gie der Klassenlosigkeit” (Illouz) nicht vom “Elend der Welt” (Bourdieu)
erlöst, weil sie diesen Gerechtigkeitsanspruch der Überwindung von Klas-
senschranken nicht einlösen kann. Wie sollte sie auch? Die romantische
Liebe verspricht doch nicht Gerechtigkeit und noch weniger Erlösung,
sondern nur Begehrtsein und ewige Leidenschaft.
Tatsächlich wirkt romantische Liebe viel grundsätzlicher, nämlich als
Interpenetrationsmechanismus jeder individuellen Abweichung, weil sie
verspricht, dass Abweichungen nicht verbessert, sondern geliebt werden –
gerade gegen die moralischen und Verstandeskontrollen der anderen (vgl.
Luhmann, 1982: S. 138).
Mit der Liebe ist die Möglichkeit zur Inklusion in eine Sozialität affektu-
ellen Begehrens und affektueller Hingabe gegeben, egal, ob dabei eine in-
dividuell abweichende Ausstattung mit Kapitalien, Habitusformen, sexuel-
len Orientierungen, biographischen Prägungen oder von ethnisch, kultu-
rell sowie medial abweichende Erfahrungen, Konsumgewohnheiten, ästhe-
tische Interessen, Bildungsniveaus, religiöse Orientierungen und so weiter
vorliegt.
Es stellt sich also zum Ende die Frage, was die soziologische Beobach-
tung einer Kapitalisierung der Liebe eigentlich im Blick hat? Setzt sie tat-
sächlich an der Unwahrscheinlichkeitssteigerung des SGKM Liebe an?
Wird die Ökonomisierung der romantischen Liebe etwa darin realisiert,
dass Liebesfähigkeit als günstiger Einkauf von Aufmerksamkeit verstanden
wird oder betrifft die Notwendigkeit zur Kalkulation nicht eher die He-
rausforderung, angesichts endlicher Ressourcen von Zeit, Geld und Aner-
kennung, den Beziehungsalltag miteinander zu ordnen?
So fällt auf, dass sich die Kritik der kapitalisierten Liebe häufig auf Paar-
beziehungen und Ehen konzentriert. Bei genauerem Hinsehen überrascht
das auch nicht. Paarbeziehungen, besonders Ehen, waren immer auch öko-
nomisiert – besonders dort, wo es um sozioökonomische Absicherung
ging oder gehen musste (siehe ein aktuelles Beispiel aus dem ländlichen
Pakistan, Zaman, Wohlrab-Sar, 2010: S. 155ff.).
“Utilitaristische Erwägungen – was bringt es mir, was nützt es mir? –
werden auch für die Privatsphäre [unter Bedingungen des modernen
Kapitalismus; Anm. UTh.] plausibler. Der Angriffspunkt der Ökono-

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VI. Das Kapital lieben

misierung ist dabei jedoch nicht in erster Linie die Liebe, sondern das
Partnerschaftsmodell, die am Vertragsdenken und der Vertragsgerech-
tigkeit orientierte Beziehung.“ (Burkhart, 2018: S. 313).
Diese Art der Ökonomisierung beginnt sogar noch vor den Verträgen. Sie
beginnt mit der Abwägung der wirtschaftlichen Potenz potenzieller Part-
ner – häufig noch unter einer geschlechtsspezifischen Perspektive, die sich
auf die Versorgungspotenz der Männer und die Reproduktionspotenz der
Frauen bezieht (vgl. etwa Krüger, Born, 2000: S. 203ff.). Sie setzt sich in
der Kalkulation sozialer Aufstiegsmöglichkeiten und den Überlegungen
zur Sicherung dynastischer Linien fort und findet ihren alltäglich Aus-
druck in der Frage, wer der beiden Partner das höhere Einkommen hat
und welcher Lebensstandard mit einem bestimmten Partner zu realisieren
ist.
All diese Abschätzungen bezogen und beziehen sich aber auf Fragen der
Produktion und Reproduktion gemeinsamer Lebensverhältnisse, von
Nachwuchs oder von verwandtschaftlichen Netzwerken, die soziales Kapi-
tal vermehren (vgl. Lenz, 2009: S. 284f.). Das Taxieren von Attraktivitäts-
merkmalen und die Entwicklung einer Infrastruktur der Partnerschaft
taugt hingegen selbst nur schlecht als Argument für die romantische Lie-
be, verstanden als Modus der Wahl von Geschlechtspartnern.
Auch genügt es nicht als Beleg für die Kapitalisierung der Liebe festzu-
stellen, dass sich die Liebenden als Partner auf einem Partnerschaftsmarkt
begegnen – also sich in jener Öffentlichkeit bewegen, in der sich die Wirt-
schaft in der Gesellschaft selbst beobachtet (Luhmann, 1988: S. 107).
Wäre das der Fall, dann ginge es unter Bedingungen des modernen Ka-
pitalismus somit um eine in Geld quantifizierte Berechnung der individu-
ell einzusetzenden Mittel (Kosten) sowie der nach Abzug der Kosten ein-
zunehmenden Erträge (Gewinne). Im wahrsten Sinne ginge es um nichts
mehr und nichts weniger! Insofern muss man sogar konstatieren, dass sich
Intimbeziehungen und ihre Kommunikation vor der “Erfindung” der ro-
mantischen Liebe als viel ausgeprägter ökonomisiert und wohl auch ver-
machtet dargestellt haben als danach.
Dem widerspricht nicht, dass Paare, auch Liebespaare, dann, wenn sie
kaufen, Teil der Wirtschaft sind. Ja sie können all das kaufen, was sich in
ökonomischer Knappheit ausdrücken, also bewirtschaften und kapitalisie-
ren, lässt. So ist etwa das Finden attraktiver Partnerinnen und Partner öko-
nomisch knapp oder die Aufmerksamkeit für die eigene Attraktivitätsdar-
stellung. Knapp sind die Dauer und Verlässlichkeit von Intimbeziehungen,
die Originalität und Kreativität mit Liebeserweisen so umzugehen, dass sie

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VI. Das Kapital lieben

dem Erleben der Geliebten oder des Geliebten entsprechen (kurz: die Lie-
besfertigkeit).
Hier lohnt es sich, Kapital zu haben und Kapitaleinsatz zu kalkulieren,
um mit mehr oder weniger geschicktem Ressourcenumgang, Bedingungen
für Aufmerksamkeit, Selektivität, Dauer und Originalität herzustellen.
Und hier lassen sich entlang der jeweiligen Milieuerfahrungen mit der un-
gleichen Ausstattung an Kapitalien und der ungleichen Fertigkeit im Um-
gang mit diesen Kapitalien Differenzen, z. B. bei der Bewertung von ro-
mantischen Accessoires oder Praktiken, zumindest qualitativ unterschei-
den (vgl. Illouz, 2003: S. 234ff.).
Die Liebespaare verlassen aber die Liebes-Intimität, wenn sie versuchen,
Zuneigungsmöglichkeiten nach Aufwand und Ertrag zu kalkulieren oder
gar gegen Geld zu kaufen. In diesem Fall wird aus der Liebeskommunika-
tion eine Kommunikation im Medium Geld.
Soll sich die Liebesbeziehung gar in ökonomischen Ressourcen spie-
geln, etwa in der Frage, was für die Dauer der Liebe bedeuten könnte, dass
man mehr oder weniger Kapital hat, so müssen auch diese ökonomischen
Sachverhalte in die Gefühle des Begehrens, der Hingezogenheit und des
Angenommenseins übersetzt werden.
Das kann durchaus eine Herausforderung sein. So kann der Anspruch
von Familien, zur ökonomischen Absicherung von Zweierbeziehungen
der jeweiligen Familienmitglieder mit den Sehnsüchten der Liebenden,
füreinander die Welt zu sein, heftig kollidiert. Beispielhaft illustrieren Äu-
ßerungen in Liebesbriefen gerade diesen Konflikt (vgl. Asen, 2017:
S. 340ff.). Aber die Liebenden können dann auch zu dem Urteil kommen,
dass Geld nicht so wichtig sei, wenn es ums Fühlen geht, auch wenn das
objektiv betrachtet nicht der Fall ist und die Trennungsrate von Paarbezie-
hungen mit ökonomisch unsicheren Rahmenbedingungen eine andere
Sprache sprechen mag (vgl. Peuckert, 2012: S. 317ff.).
Nur ist Liebe eben kein Ratenkredit und auch keine empirische Sozial-
forschung. Liebe tendiert in ihrer Konzentration der exklusiven Liebes-In-
timität auf die individuellen Gefühle der Liebenden zur Fiktionalisierung
im Sinne einer Gleichheitsfiktion der Liebenden hin. – Und das ist mehr
als nur ein Gleichheitsversprechen; es ist die Praxis romantisch zu Lieben.

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– Bella Donna –

Sie hält im Arm dich, streichelt zart.


Schon zitterst du vor Lust.
Ihr Duft umschwebt dich wie ein Hauch.
Schmiegst dich an ihre Brust.
Du willst sie schmecken, trinkst ihr Gift.
Ihr Körper ist so weich.
Doch jeder Tropfen den du trinkst
schwächt dich. Schon wirst du bleich.
Dir ist's egal, denn du weißt auch,
dass andre Männer leiden,
weil sie dir diese Superfrau
die Bella Donna, neiden.
Dann irgendwann gewinnt ihr Gift.
Du stirbst, sie erbt dein Geld.
Der Nächste Bella Donna nimmt.
So geht’s halt auf der Welt.

I. Köhler-Terz

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VII. Den Sex lieben

Geht Sex ohne Liebe? Und geht Liebe ohne Sex? So ist man versucht
grundsätzlich zu fragen, wenn man sich mit der Liebe der Gesellschaft aus-
einandersetzt, wie sie mit der funktional differenzierten Gesellschaft ent-
standen ist. Man muss dann feststellen, dass Sex ohne Liebe sehr wohl und
wohl auch nicht allzu selten vorkommt. Soll Liebe aber im romantischen
Code kommuniziert werden, dann ist sie ohne Sex kaum vorstellbar.
Das mag überraschen, wenn man sich Romantik als gefühlvolle Inner-
lichkeit der Liebenden denkt. Ist Liebe nicht die innige Kommunikation
der umfassenden Wertschätzung des oder der anderen sowie der Ausgangs-
punkt von Partnerschaftsperspektiven der Zweisamkeit, die Gemeinsames
den alltäglichen Statusspielchen, der Hetze und der Gier entrücken?
Hier scheinen Hardcore-Tatsachen, das Begehren und die Begierden der
Körper auf den ersten Blick den erwarteten Gleichklang liebender Aner-
kenntnis der Liebespartner zu stören. Sexualität ist Körperlichkeit der di-
rekten, unmittelbaren Art, eine Körperlichkeit, die nicht fragen will, ob es
harmonisch opportun ist, wenn man Lust am Haben haben will.
Tatsächlich scheint vor allem in der Idealisierung der romantischen Lie-
be, wie sie uns in der symbolischen Steigerung der Annahmezumutung
der ganzen Person des Geliebten oder der Geliebten gegenübertritt, ein Pa-
thos des “reinen Begehrens” auf. Es mag sein, dass es sich dabei um eine
Sichtweise in einer deutschen Tradition handelt, Empfindsamkeit und
Zärtlichkeit der romantischen Liebe moralisch aufzuladen, um sie so als
eine Art “höhere” Vernunft von den “niederen”, den tierischen, Trieben
der Sexualität abzugrenzen (vgl. Luhmann, 1982: S. 145). Es erinnert zu-
gleich an die noch stark vernunftbetonte Motivation der ehelichen Liebe
im 19. Jhr., die sich als verständige Gefühlsgemeinschaft versteht (vgl. Ro-
senbaum, 1982: S. 264).
Im romantischen Liebeskitsch der Romane, Serien, Popsongs und der
Massenware der Valentinstagsdevotionalien wird dieses Pathos der innerli-
chen Liebe dann sogar bis ins Absurde trivialisiert. Man hat den anderen
aufgrund seiner einmaligen Persönlichkeit zu lieben, man liebt sie, weil sie
so ein “wundervoller Mensch ist” (viel wundervoller, als alle anderen!) und
nicht, weil man so gierig, um nicht zu sagen “geil”, auf den sexuell attrakti-
ven Körper ist.

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VII. Den Sex lieben

Wenn sexuelles Begehren hier vorkommt, dann tritt es in einer seltsam


artifiziellen, um nicht zu sagen, kastrierten Form zu Tage. Eine romantisch
trivialisierte Form, die ihre eigene moralische Rechtfertigung verschämt
gleich mitkommuniziert (fifty shades of grey), vielleicht weil damit für den
allfälligen Gebrauch jetzt auch die dunklen Seiten romantischen Fühlens
ans Licht der Easy-going-Liebe gehoben werden. – An dieser Stelle ist also
nicht unbedingt Jürgen Link zu folgen, wonach der Liebes-Kitsch nur die
weißen, quasi familientauglichen Seiten, des romantischen Liebescodes er-
fassen würde (1996: S. 179). Oder das Begehren kippt ins Exzesshafte
des “Sex and Drugs and Rock'n'Roll” (I can get no satisfaction) und
sprengt damit vermeintlich die Grenzen der romantischen Liebe durch
Lust am Konventionsbruch, was allerdings keine Erfindung des
Rock'n'Roll ist (vgl. Luhmann, 1982: S. 139).
Man könnte daher annehmen, Sex und romantische Liebe passten nicht
so recht zusammen. Der Sex sei eher das Triebhafte, das moralisch ausge-
klammert, ggf. in Kauf genommen werden muss, wenn es zur Liebes-Inti-
mität zwischen den Liebenden kommt. Der Sex als nicht romantisierbarer
Rest, sozusagen die unzähmbare Natur, die sich nicht durch Idealisierung
oder Konventionalisierung im Rahmen dessen, was man für eine romanti-
sche Liebe hält, zivilisieren lässt und so als Faszinosum und Bedrohung an
den Rändern der bürgerlichen, auf Ehe ausgerichteten Liebesexistenz, sein
Unwesen treibt. Beide Einschätzungen verfehlen nicht nur die Komplexi-
tät der Beziehung zwischen körperlichem Begehren und Liebeskommuni-
kation, sie lassen auch die Bedingungen der gesellschaftlichen Differenzie-
rung außer Acht, unter denen das SGKM Liebe “funktional” wird, also er-
forderlich und innovativ zugleich.
Die im Rahmen der funktional differenzierten Gesellschaft liebenden
Individuen folgen nicht mehr dem Minneideal einer adeligen Oberschicht
und dokumentieren auf diese Weise standestypische Kulturfertigkeiten an-
hand einer poetischen Kunstform (vgl. Bumke, 1986: S. 572). Für eine ge-
sellschaftlich als normal wahrgenommene Liebe gilt es auch nicht mehr,
die Rangfolge idealer Tugenden zu beachten (vgl. Luhmann, 1982:
S. 128f.) oder mit einer reinen Liebe in den Olymp der Wesensgleichheit
aufzusteigen.
All das wäre nicht tauglich für die gesellschaftliche Teilhabe von allen
Individuen, verstanden als ganze Personen mit Eigenheiten. In eine Sozia-
lität der romantischen Liebe einzutreten bedeutet in der funktional diffe-
renzierten Gesellschaft, die ganze Person des anderen zu begehren. Dieses
Begehren meint nicht nur das psychische, sondern eben auch das physi-
sche Verlangen (Fuchs, 2003: S. 45; 48). Und dabei wird die Sexualität

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VII. Den Sex lieben

selbst vom rohen Begehren am unbekannten Körper zum Liebeserweis an


der ganzen Person – ich möchte Dich kennen und erkennen, mit Haut
und Haar!
Das wird – man ahnt es schon – in der Liebeskommunikation aber nicht
diskutiert. Es wird nicht offen angesprochen und wenn, dann mit der Stei-
gerung ins Faszinierende oder mit ironischer Überpointierung, bis hin zu
einem impliziten Bewusstsein für die Spielräume des Obszönen in der Lie-
be (Luhmann, 1982: S. 151). “Ich liebe Dich, wegen Deinem geilen Arsch!“
kann man auch als Liebender und Liebende sagen. Das kann als Steige-
rung der Liebeskommunikation verstanden werden (auch deshalb liebe
ich Dich) oder eine raffinierte Volte darstellen, die meint: Und wegen al-
lem anderen. Wenn aber sonst nichts liebenswert wäre, wäre da keine Lie-
be zur ganzen Person.
Das Habenwollen des anderen, der anderen meint in der romantischen
Liebe, ich will alles von Dir haben. Dass das auch den Körper mitmeint,
bedarf eigentlich keiner gesonderten Betonung. Es wäre auch seltsam, wä-
re der Körper bei “alles” nicht gemeint. Alles andere aber, die ausschließli-
che Konzentration auf den Körper, ist purer Sex (Fuchs, 2003: S. 46).
Die individuelle, romantische Liebe bezieht also die Sexualität der lie-
benden Körper als Teil der Intimität ebenso mit ein, wie sie damit auf die
individualisierte Auswahl von Geschlechtspartnern verweist. Die Körper
der Liebenden werden so zu einem Teil jener intimen Sozialität, die das
SGKM Liebe mit seinem Code zur sozialen Form kristallisieren lässt.
Gerade weil der Körper der Personen mit einbezogen werden, geht es
beim Lieben der ganzen Person aber um durchaus Existentielles und
Grundsätzliches. Das betont den Ausnahmecharakter und die Ausschließ-
lichkeit der Wahl, die mit dem auch körperlichen Begehren und Begehrt-
werden der Liebespartner getroffen wird und hebt die Exklusivität der
Zweierbeziehung der Liebes-Intimität hervor.
Die Wahl eines begehrten Körpers meint tiefgehend Kreatürliches. Das
Körperliche wird im Sexuellen zum Ausdruck der “Selbständigkeit des
Körpers” (Lautmann, 2002: S. 28 mit Verweis auf Walter, 1998: S. 532.).
Man könnte sogar von einer Art selbstverständlichem Sexismus sprechen,
der sich nicht rechtfertigt, weil er kein Gesellschaftsmodell für die Vergabe
von Handlungschancen, sondern gerade Privatsache sein und bleiben will.
In den Schlafzimmern und hinter den Büschen gibt es wenig Anlass poli-
tisch korrekt zu reden und zu handeln, weil die anderen wegsehen und
weghören müssen. – Und in der Liebessemantik schwingt hierzu der Un-
terton mit, die Liebe hätte in ihrer Natur (Sexualität) geradezu ein Recht

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VII. Den Sex lieben

darauf, sich der Fesseln der Gesellschaft zu entledigen (vgl. Luhmann,


1982: S. 139).
Im Sinne einer grundlegenden körperlichen Bedürftigkeit geschlechtli-
cher Erregung und Befriedigung ist das Begehren der Körper, bei aller kul-
tureller Rahmung, Vorgaben und Bewertung selbst, in dem Moment, in
dem es zum Bezug auf andere Körper wird, nicht diskursiv. Das Begehren
weist vielmehr auf eine Auflösung der Grenzen des Selbst im Fühlen hin
und ereignet sich so im Wahrnehmen und nicht zuerst in der Kommuni-
kation (Luhmann, 1989: S. 130ff.). Es ist insofern reflexiv für die Selbstver-
wirklichung der Körper, denen es Lust bereiten soll und bereitet, aber
nicht reflektiert im Sinne eines pro- oder antinormativen Vergleichs.
Der Einbezug der Sexualität der liebenden Körper ist jedenfalls bei der
romantischen Liebe selbstverständlicher Ausdruck des Einanderwollens
und braucht in der Regel nicht gesondert, als Ziel oder Negation der Inti-
mität kommentiert zu werden. Dem widerspricht nicht, dass damit Bedin-
gungen gegeben sind, unter denen das Begehren als Teil der Weltübernah-
me des geliebten Gegenüber, das in der romantischen Liebe fraglos unter-
stellt ist, zum sozialen Maßstab wird, an dem man individuell scheitern
kann (Lautmann, 2002: S. 334, mit Verweis auf Gehards et al. 1992: S. 82.).
Diese Problematik verweist vielmehr auf die überindividuelle Formung
der Interpenetration dieses so persönlichen Verlangens und Begehrens.
Betrachten wir den Sachverhalt aus der allgemeineren, sprich der gesell-
schaftlichen Perspektive, so rückt die Kommunikation im SGKM Liebe
wieder in den Fokus der Beobachtung. Wenn wir “ja” zur Liebe sagen und
andere zum Ziel unseres Erlebens und Handelns machen, sagen wir
auch “ja” zu deren sexuellen Körpern mit all ihren Besonderheiten, Wün-
schen und Obsessionen. Und wir müssen realisieren, dass uns diese im Fall
der Fälle sehr nah kommen. – Das kommuniziert der Code der romanti-
schen Liebe ganz selbstverständlich mit, bzw. ermöglicht die Darstellung
dieser körperlichen Nähe als selbstverständlich Erwartbares (Luhmann,
1982: S. 32).
Die Ausschließlichkeit der Wahl der ganzen, auch körperlich gemein-
ten, Person der Geliebten oder des Geliebten, das damit verbundene “sehr
nah kommen” und “nah sein”, stellt deshalb die vielleicht umfassendste so-
ziale Interpenetration von individuellen Persönlichkeitsaspekten dar. Nach
Luhmann geschieht das nicht durch eine oberflächliche oder nur an Nütz-
lichkeitsaspekten orientierte Bewertung. Die Interpenetration der ganzen
individuellen Personen meint, dass man sich emotional zustimmend oder
ablehnend zum Weltbezug des Individuums verhalten muss, in dessen
Weltbezug man selbst als Teil dieser Welt vorkommt (1982: S. 24/25) –

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VII. Den Sex lieben

und wir fügen hinzu: auch als Teil der körperlichen Affekte und Reaktio-
nen.
Die Form der Liebes-Intimität erlaubt dann die umfassende Interpene-
tration der Liebenden in die Gesellschaft. Realisiert wird das auf paradoxe
Weise. Die Form der Sozialität schließt höchst Persönliches sozial ein, in-
dem sie das höchst Persönliche anderer ausschließt. Das liegt an der spezi-
fischen Form, besser: an der Art, der Formbildung der Intimität der Inter-
penetration. Sie verlangt ein individuelles Bestätigungsverhalten, das per-
sönlich durch Zuneigung zur einzigartigen oder Abneigung gegenüber der
unmöglichen Person bestimmt und damit nur schwer extern zu kommuni-
zieren ist (O. c.: S. 25) – oder eben nur mit der Begründung, man sei in die
oder den verliebt oder nicht verliebt, kommuniziert werden kann. In die-
ser formbildenden Operationsweise des Codes der Liebeskommunikation,
mit dem das individuelle Fühlen des Begehrens und nicht dessen gesell-
schaftliche Ideologie sozialisiert wird, liegt die Ursache für die Exklusivität
der Liebes-Intimität.
Soll die Interpenetration von ganzen Personen im Intimsystem gelingen
und so auch die Körper mit interpenetrieren, dann steigert das gleichzeitig
die Unwahrscheinlichkeit der intimen Kommunikation. – Man stelle sich
die Anforderung vor, die die Identität dieses sozialen Systems belastet,
gleichzeitig und fühlend in das Erleben und die Sinnlichkeit eines Frem-
den, einer Fremden einzudringen und sie zum Maßstab des eigenen Emp-
finden und Handelns mit einem davon überzeugten Körper zu machen!
Alles andere als die Exklusion, als der Ausschluss der Intimitätszumu-
tungen anderer, würde sowohl die Interpenetrationsleistung als auch die
Identitätsanforderung des sozialen Systems der Liebes-Intimität gefährden.
Alles andere würde zur destabilisierenden Herausforderung der umfassen-
den und eindringlichen Bezugnahme im Erleben und Handeln der körper-
lich Liebenden werden.
“So liegt es nahe, ins Modell der Intimkommunikation sexuelle Bezie-
hungen einzubeziehen, um sie nicht zur Irritation werden zu lassen:
Als Umweltbeziehungen eines der Partner des Intimsystems würden
sie zur permanenten Störquelle.“ (Luhmann, 1982: S. 149)
Und als Umweltbeziehungen beider Partner würden sie die Identität des
Intimsystems in Intimitäten auflösen – so wäre zu ergänzen. Eine solche
Konstellation von Intimitäten würde die soziale, sprich: kommunikative
Anschlussfähigkeit der Intimität, also das, was in der Liebeskommunikati-
on als intim zu verstehen ist, in Hinblick auf den individuellen Weltbezug

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eines fühlenden Körpers, auf den man sich selbst fühlend beziehen will,
richtungslos werden lassen.
In dieser paradoxen Konstellation der Interpenetration durch Exklusion
– und angesichts der komplexen Problemlage versteht man, dass sie nicht
anders als paradox sein kann – leistet das SGKM Liebe etwas höchst Un-
wahrscheinliches. Es macht Körper und Körperlichkeit sozial anschlussfä-
hig. Im Grunde müsste man sogar noch weiter gehen und davon sprechen,
dass Liebe sogar die verkörperte Psyche des Begehrens sozial anschlussfä-
hig macht. In der Liebe der Gesellschaft wird unser Körper mit all seinem
Begehren zum “Körper der Gesellschaft”.
Nun kann man dagegenhalten, sexuelle Intimität kenne auch ande-
re “Orte”, “Personen”, “Gelegenheiten”, als sie in der Intimität des Sich-
fühlenwollens der romantischen Liebe gegeben sind – evtl. haben sich die-
se anderen Möglichkeiten sexueller Intimität sogar vermehrt (vgl. Maasen,
1998: S. 213). Konkreter noch wird der Körper in der medizinischen oder
künstlerischen Kommunikation vergesellschaftet. Beide Funktionssysteme
beziehen sich in ihren Kommunikationen auf Körperlichkeit sowie auf die
Körper von Personen in konkreten Ausprägungen.
Das ist zunächst nicht von der Hand zu weisen. Allerdings fällt sowohl
für die Medizin als auch für die Kunst auf, dass hier Körper zu Objekten
werden. Deren Bezug zur Psyche der Individuen, denen diese Körper gehö-
ren, wird auf eine diagnostisch/therapeutische oder handwerklich/artifizi-
elle Weise geradezu verfremdet. Man mag sich nur die Darstellungen ana-
tomischer Wachspuppen sowie von Präparaten in medizinischen Schau-
sammlungen oder Plastiken und andere künstlerische Darstellungen von
Personen ansehen, um zu verstehen, was damit, über den rein professionel-
len Umgang mit den Körpern hinaus, für Medizin und Kunst gemeint ist.
In der Medizin erscheint der Körper in seiner Darstellung als Funktions-
zusammenhang der Organe. Oder er erscheint in den Beispielen der Patho-
logie geradezu ins abstoßend Absurde verfremdet und jeden Gefühls ent-
kleidet:
“Es entsteht eine obszöne Bilderwelt ohne Innerlichkeit, in der der
Körper als Ding erscheint (…). In der Medizin wird der Körper zur
bildlichen Norm erhoben, der der Entregelung, Entartung, des Häßli-
chen [sic!] unterworfen ist.“ (Hervorhebung im Original, Schmidt,
1998: S. 56).
Die Körperdarstellungen der Kunst transzendieren hingegen den Körper
im Diesseits. Er wird Ausdrucksmittel für die Vermittlung archetypischer
oder prototypischer Wahrnehmungsmöglichkeiten potenzieller innerer

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und äußerer Körperrealitäten, die über den konkreten Körper hinauswei-


sen (vgl. Sander, 2011: Online).
So ist der Körper in der Medizin Objekt der Therapie und nichts sonst –
auch und gerade, wenn er nackt ist. Die nackte Haut etwa ist dabei kein
Zielpunkt der Lust. Ganz im Gegenteil: Sie wird als Organ der Hygiene,
Indikator der Gesundheit und Angriffspunkt salutorischer Bestrebungen
und ist durch die Aktivitäten der körperlichen Lust sogar gefährdet (vgl.
etwa Frey, 2011: S. 104f.). Die Sexualität der Körper scheint sich vor allem
über ihre “Störungsbilder” zu erschließen und dann “behandeln” zu lassen
(vgl. Stirn et al., 2014). Diese medizinische Haltung mündet in einem pro-
fessionell/distanzierten Umgang mit dem Körper, wie ihn die funktionale
Spezifik bei emotionaler Neutralität in der Arzt-Patienten-Interaktion ver-
deutlicht (vgl. Parsons, 1965: S. 37). – Falls es dazu ein SGKM “Heilung”
geben sollte (dessen Ausdifferenzierung bedürfte weiterer Untersuchun-
gen), wäre die Unterscheidung krank versus gesund ein Hinweis auf einen
entsprechend formal wirkenden Code der medizinischen Heilungs-Kom-
munikation über den Körper.
In der Kunst ist der Körper Thema künstlerischer Gestaltung und darin
immer “Material” oder besser Medium, um mehr und anderes, als eben
den Körper, zu zeigen (Luhmann, 1995: S. 177). – Und wenn man hier als
SGKM Ästhetik annimmt, nicht etwa “Kunst”, wie Luhmann schreibt
(1997: S. 351ff.), und damit das Funktionssystem, “die Kunst der Gesell-
schaft”, zugleich als dessen SGKM ausgibt, das die Form der sozialen Un-
wahrscheinlichkeit erzeugt, dann geschieht dies auch für die Körper von
Personen. Im Code der ästhetischen Kommunikation werden sie entlang
der Unterscheidung gestaltet/gegeben zugeordnet, also nicht unter der Per-
spektive, wie etwas ist, sondern was man daraus macht.
Eine solche professionelle und semantische Verfremdungsdistanz zu den
individuellen Körpern, die Medizin und Kunst einen Umgang mit Kör-
pern erlaubt, ohne dass persönliche Intimbeziehungen eingegangen wer-
den müssen, ist für die Liebe aber gerade untypisch. – Das heißt nicht, dass
etwa im trivialen Ärzteroman oder in einschlägigen Fernsehserien Liebes-
beziehungen keine prominente Rolle spielen würden, ihre Darstellung
scheint sogar generetypisch zu sein (vgl. Boll, 1994: S. 86.f.). Aber dann
geht es eben nicht um medizinische, sondern um eine romantisch/eroti-
sche “Behandlung”.
In der Liebe wird diese, die Körper verfremdende, Distanz aufgegeben.
Sie muss auch aufgegeben werden, denn in den begehrenden und begehr-
ten Körpern findet die Liebeskommunikation einen materiellen Referenz-
punkt, um die Qualität der Leidenschaft und die mehr oder weniger ge-

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schickt eingesetzten Möglichkeiten, persönliche Hingezogenheit zum Aus-


druck zu bringen.
Soziologisch gesprochen greift das gesellschaftliche Medium, in dem die
Liebeskommunikation stattfindet, hier auf die Körper durch. Diese wer-
den, wie es Luhmann beschreibt, in einer Art kommunikativer Symbiose
an die Form des Mediums gekoppelt. Mit anderen Worten Sexualität ist
der symbiotische Mechanismus, der in der Liebeskommunikation die Körper
der Liebenden in die Kommunikationsform der Intimität einbindet (Luh-
mann, 1982: S. 31ff.).
Die biologische Metaphorik der Symbiose verweist darauf, dass beide
Seiten, das Medium und die sexuellen Körper, so miteinander verbunden
sind, dass sie sich wechselseitig unterstützen. Der Vorteil dieser Symbiose
aus der gesellschaftlichen Perspektive ist darin zu sehen, dass die individu-
elle Körperlichkeit im Code der romantischen Liebe vergesellschaftet wird
und das sogar im Ausnahmezustand sexueller Erregungen, der Obsessio-
nen und Fetischisierungen.
Körperlichkeit im Ausnahmezustand kann auf diese Weise gesellschaft-
lich prosozial und nicht nur pathologisch oder ästhetisch zurechenbar wer-
den und eine kommunikative Adresse erhalten, über die sie integriert
wird. Die individuellen, sexuellen Körper erfahren hingegen für ihre ganz
eigenen Bedürfnisse soziale Anerkennung. Sie werden in der Exklusivität
der Liebes-Intimität begehrt, gewollt, befriedigt. Die ganze Person ist auch
in ihrer erregten Körperlichkeit gemeint und steht im Fokus der Aufmerk-
samkeit dieses sozialen Systems, weil die Person in der romantischen Liebe
immer auch ein erotischer Körper ist. Das motiviert wiederum die Reflexi-
vität der Liebeskommunikation, die sich auf den Wahnsinn der Unsicher-
heit (auch noch des uneinschätzbaren körperlichen Begehrens) einlassen
kann, weil mehr dahinter steht (vgl. O. c.: S. 36f.).
Liebe ist, was die Symbiose der symbolischen Generalisierungen mit
dem Handfesten und Tatsächlichen anbelangt, keine Ausnahme. Alle
SGKM weisen solche symbiotischen Mechanismen auf, die auf materielle
Objekte oder Körper verweisen (Luhmann, 1997: S. 318ff.). Bei Macht ist
es die physische Gewalt, die letztlich die Körper zwingt, sich zu unterwer-
fen. Bei Geld bezieht sich dieser Verweis auf die zu befriedigenden Bedürf-
nisse und auf die Frage nach der Deckung der Zahlungsfähigkeit, also die
Materialität von Besitz. Das SGKM Wahrheit ist an die empirische Wahr-
nehmung der unterscheidenden Sinne gekoppelt und Ästhetik an das sinn-
liche Erleben des Gestalteten in Form von Affekten wie Schmerz, Ekel,
Lust, Erhebung usw.

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SGKM moderieren im Gegensatz zu Funktionssystemen oder Organisa-


tionen die Kommunikation individueller Motivationen des Erlebens und
Handelns weit unmittelbarer. Sie müssen sich daher auch auf die individu-
elle Körperlichkeit beziehen, die Motivationen motiviert. Das allerdings
muss geschehen, ohne das Bewusstsein des jeweiligen Individuums kom-
munizieren zu können. In der Kommunikation wird daher vor allem die
Oberfläche der wahrnehmbaren Körpersignale oder der Materialität von
Objekten unterscheidbar und der Codierung der medialen Kommunikati-
on unterworfen.
Demzufolge geht es in der medialen Kommunikation der Liebe zwar
nicht um das Erkennen von Gedanken. Es geht auch nicht um Meinungs-
übereinstimmungen, aber darum, das Reizen der reizbaren Körper zu erle-
ben oder nicht zu erleben, und mit diesen Körpern dann zu handeln oder
nicht zu handeln. – Und damit kann das Potential eines “eigentümlich
nichtlogischen Interpenetrationshorizonts” (Luhmann) für die Kommuni-
kation erschlossen werden.
“In all diesen Fällen (…) [der SGKM; Anm. UTh.] scheint das Hinab-
reichen in die organische Sphäre wesentlich zu sein. Eine so fundierte
Kommunikation kann den Organismus gleichsam mitüberzeugen.
Dieser Bezug muß [sic!] daher in den Kommunikationsmedien mitin-
stitutionalisiert werden.“ (Luhmann, 2008: S. 44).
In der Liebe ist dieser symbiotische Mechanismus überaus eng mit der Lie-
beskommunikation verzahnt, schon weil vielfach “ohne Worte” nur mit
Körpergesten kommuniziert und aus der Mimik das Erleben des geliebten
Gegenübers abgelesen wird (etwa an der “Augensprache”, vgl. Luhmann,
1982: S. 29). Die Liebeskommunikation gehorcht dazu per se nur ihrer ei-
genen idiosynkratischen Vernunft des leidenschaftlichen Sehnens. Sie wird
gleichsam selbst körperlich begründet und durch die Nähe und Aus-
schließlichkeit des Begehrens zumindest latent gegen andere oder die Öf-
fentlichkeit abgegrenzt.
Diese Art der unmittelbaren Kopplung der medialen Kommunikation
an reizbare Körper hat deshalb über die privaten Erfahrungen hinaus ge-
sellschaftliche Auswirkungen. Die körperlich/sexuelle Verankerung des
Liebescodes fundiert die Liebes-Intimität und begründet ihren sozialen Ex-
klusivitätscharakter (O. c.: S. 32). Das gilt dann auch für Spielart der Lie-
bessemantik, wie die Polyamorie, die die Möglichkeit behauptet, dass meh-
rere Liebespartner einander gleichzeitig lieben.
Infolge der Unmittelbarkeit des Begehrens der geliebten Körper gelieb-
ter Personen, erzeugt eine Öffnung der Liebes-Intimität gegenüber ande-

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ren einen Rechtfertigungsdruck, die sozioemotional komplexen, polyamu-


rösen Beziehungskonstellationen nicht irgendwie, sondern leidenschaft-
lich unter Kontrolle zu halten. Eine Möglichkeit dies im Code der roman-
tischen Liebe zu realisieren scheint, neben der Unterscheidung eher ro-
mantischer Primär- und eher sexueller Sekundärbeziehungen (vgl. Balzari-
ni et al., 2017: Online), der Verweis auf die Ergänzung persönlicher, vor
allem sexueller Bedürfnisse zu sein. Deren Erfüllung außerhalb der beste-
henden Liebes-Intimität, soll wohl das befriedigende Erleben gerade dieser
Liebes-Intimität verbessern (vgl. Moors, et al. 2017). Das erweckt allerdings
den Anschein, als sei man in der Zweit- oder Drittbeziehung in Bezug auf
die eigene Körperlichkeit noch jemand anderer. Genauer gesagt, es wirkt,
als sei man in der bisherigen Liebe vom Liebespartner oder der -partnerin
im (vornehmlich sexuellen) Erleben nicht vollständig erreichbar gewesen.
Dass es auch hier um die Ausschließlichkeit des Selbst-gemeint-seins
geht, zeigen zum einen die schwer suspendierbare Eifersucht, wenn sexuel-
le Zweit- und Drittpartner oder -partnerinnen die ganze Aufmerksamkeit
der Liebenden beanspruchen (vgl. Pieper, Bauer, 2014: S. 14). Eine Proble-
matik, die bei intimen “Zusatzbeziehungen” allerdings schon gegenwärtig
war, bevor man sie als “polyamurös” verstand (vgl. Hörner, 1999). Zum
anderen wird dies an den sozialen “Versuchsanordnungen” deutlich, in de-
nen Haupt- und Nebenbeziehungen arrangiert werden, wobei sich die Lie-
bes-Intimität tendenziell in Freundschaftsnetzwerken und Netzwerken
sporadischer Sexualkontakte aufzulösen scheint. Was einem im Labor der
Vielfalt komplizierter Konstellationen übrigbleibt, ist dann vielleicht auf
die Selbstreflexivität der “poly” Liebenden zu setzen oder ausgedrückt in
einem Sprachgebrauch, der an die Bildungsdimension der Vervollkomm-
nung durch Liebe erinnert: auf deren “Reife”.
“Doch was geschieht mit C und D? C unterhält eine für ihn/sie exklusi-
ve Liebesbeziehung zu A, weiß aber – aufgrund der verabredeten
Transparenz – sowohl von B als auch von D. Die Liebesbeziehung von
A zu B ist insofern für C problematischer, als sich hier Konflikte be-
züglich Sexualität, Intimität und anderer Liebesansprüche ergeben
können. Aus einer organisatorischen Sicht bedarf es – neben dem Aus-
halten der Eifersucht – vor allem eines von allen Beteiligten betriebe-
nen und optimierten Zeitmanagements, um für allseits zufriedene Lö-
sungen zu sorgen. Ob das gelingt, hängt von der jeweiligen Reife der
beteiligten Individuen ab.“ (Wetzel, 2014: S. 15).
Die Crux bei der vorbehaltlosen Öffnung der Liebes-Intimität für alle, die
wollen, scheint darin zu liegen, dass im Liebescode des SGKM Liebe, kör-

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perliche Sinnlichkeit mitkommuniziert wird und die körperliche Sinnlich-


keit damit selbst eine Perspektive des Liebens und Geliebtwerdens dort als
Möglichkeit erhält, wo sich die Frage nach ihrer sozialen Form stellt.
“Man kann bei Liebe nicht nicht an Sinnlichkeit denken, so wie umge-
kehrt Avancen in Richtung sexueller Beziehungen die Frage der wah-
ren oder der nur vorgetäuschten Liebe aufwerfen.“ (Luhmann, 1982:
S. 35).
Wo es um Sex als Bezugnahme auf die ganze Person geht, soll auch körper-
lich verschmolzen werden, was sich aufeinander bezieht – zumindest zeit-
weilig. Sexualität fördert damit die Kontrolle der Leidenschaften, in dem
sie die Liebes-Intimität als leidenschaftliche Ausnahmesituation der Liebe
entlang der sexuellen Beziehung abgrenzt und so Leidenschaftlichkeit
durch Leidenschaft kontrolliert.
An ihr sollen die anderen nicht teilhaben, weil sie nicht Teil der atemlo-
sen Begierde sein können, die alles an der Person der Liebenden erfasst will.
Romantische Liebe bietet in der Form der sexuell begründeten Liebes-Inti-
mität demzufolge Raum für das Erleben und Ausleben von sexueller Inti-
mität als Teil des Kennenlernens individueller Persönlichkeitsperspektiven
der Liebenden. Darin macht sie die sozial akzeptierte Beschränkung dersel-
ben auf das Liebespaar kommunikabel.
Individuelle, leidenschaftliche Entgrenzung wird in der speziellen Form
der romantischen, sexuell begründeten Liebes-Intimität gesellschaftlich be-
grenz- und handhabbar und zwar für all die unbekannten anderen, die das
Liebespaar und seine körperlichen Attraktionen sowie Bedürfnisse weder
persönlich kennen noch unmittelbar einschätzen können. Die Zügellosig-
keit, die im Potential der sexuellen Leidenschaftlichkeit der Liebe liegt,
wird, als Angelegenheit nur für die Liebenden, erwartbar und damit gesell-
schaftlich plausibilisiert, verallgemeinert und integriert (vgl. auch Luh-
mann, 2008: S. 67).
Hieraus resultieren entsprechende Normalitätserwartungen an das, was
zwischen Liebenden “geht” und zwischen nicht Liebenden “nicht geht”.
Diese werden u. a. an den Irritationen deutlich, die eine Öffnung der sexu-
ellen Liebes-Intimität für andere gesellschaftlich nach sich zieht (zur damit
verbundenen Stigmatisierung vgl. etwa Moors et al., 2013: S. 52ff.).
Auch der Exklusionscharakter der Liebes-Intimität selbst kann “von au-
ßen” betrachtet vermeintlich irritierende Konsequenzen nach sich ziehen.
Das ist etwa dann der Fall, wenn sich Außenstehende, die eine Liebesbezie-
hung bewerten und gerne ein Wörtchen mitzureden hätten, wer sich da
mit wem paart, nur darüber wundern können, welches Maß an Ungleich-

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heit Liebe produziert und aushält. Geradezu skandalös scheint zu sein,


dass Ungleichheiten auch bei noch so insistierenden Fingerzeigen der an-
deren, von den Liebenden nicht als Problem gesehen werden wollen.
Nicht nur, dass den Liebenden hier jedes schlechte Gewissen abgeht. Sie
scheinen in ihrer platonischen Höhle wie Komplizen der Zweisamkeit so-
gar aktiv an der Verschleierung und Selbstentfremdung zu arbeiten (O. c.:
S. 234).
Angesichts der Eigengesetzlichkeiten der romantischen Liebe, besonders
eben der körpergebundenen Exklusivität der Intim-Beziehung, wird je-
doch deutlich, dass sich die Liebenden gerade in den körperlichen Un-
gleichheiten “wollen”. Sie werden sich darin in ihrer spezifischen Indivi-
dualität wahrnehmbar. Soll körperlich geliebt werden, braucht man die
anderen mit ihren noch so gut gemeinten Ratschlägen zum fairen Interes-
senausgleich nicht, insofern es den Liebenden (noch) auf die Faszination
der Unmittelbarkeit ankommt, den Anderen “ganz” erleben und “haben”
zu wollen wie er nun einmal ist. – Andernfalls würde der geliebte Andere
austauschbar. Man könnte sagen, er würde mittelbar und die Sexualität da-
mit pornographisch oder gar obszön (vgl. Luhmann, 1982: S. 151).
In der romantischen Liebe ist Sex auf diese Weise selbstverständlicher
Teil der Liebeskommunikation – im Code codiert und in der Praxis prakti-
ziert. Sexualität in der Liebe bleibt daher, so lange sie Gefühl und Code
koppelt, diffus und damit für die Intimität integrativ, weil sie im individu-
ellen Empfinden offen für das Empfinden der Liebenden ist.
“Geben und Nehmen, Belohnen und Zurückhalten, Bestätigen und
Korrigieren bleibt möglich, läßt [sic!] sich aber schwer feststellen und
schwer auf Interessen oder gar Absichten zurechnen. Momente und
Intentionen des Tausches, des Sanktionierens, des Belehrens und Ler-
nens erfüllen ihre Funktion, lassen sich aber kaum auseinanderziehen,
individuelle zurechnen und zur Rede stellen. Sie verschmelzen ins Un-
unterscheidbare.“ (O. c.: S. 32/33).
Wird der symbiotische Mechanismus sichtbar, weil etwa darüber geredet
werden muss, wie, wo, wann, warum man wie oft Sex hat oder haben soll-
te, dann ist das in der Regel kein Liebesspiel, sondern ein Anzeichen dafür,
dass es in der Liebe nicht mehr “stimmt”. Das Verhandeln der Richtigkeit
oder Unrichtigkeit der symbiotischen Kopplung ist ein Krisensymptom für
die Stabilität der Form der Intimität (vgl. Fuchs, 2003: S. 47). Kommt es
dazu, dass der symbiotische Mechanismus zur “Verhandlungsmasse” zwi-
schen den Liebenden wird, dann kann gerade das der Sexualität die Selbst-
verständlichkeit rauben (Luhmann, 1982: S. 29).

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Fraglich erscheint dann, ob man den Geliebten oder die Geliebte (noch)
vollumfänglich in ihrem auch körperlichen Erleben erfasst. Tritt diese Irri-
tation ein, dann ist sie, entsprechend der symbiotischen Kopplung von
Code und Körper, umfassend. Sie erfasst die soziale, sachliche und zeitli-
che Sinndimension der Kommunikation gleichzeitig, in dem unsicher
wird, ob man den anderen so will, wie er ist und das von Anfang an und
bis ans Ende aller Zeiten.
Die Operationsweise des symbiotischen Mechanismus, der die liebenden
Körper an den Code der Liebe koppelt, hat demzufolge seinen Vorteil
nicht in der Explikation der körperlichen Fundierung des Begehrens –
dem anscheinend auch die (behauptete) Sprachferne der Sexualität (vgl. et-
wa Lautmann, 2002: S. 238) entgegen zu stehen scheint. Der Vorteil liegt
eher darin, das Diffuse kommunikabel und die Kommunikation diffus,
nämlich vom Spüren und Fühlen abhängig zu machen. Das plausibilisiert
wiederum die Möglichkeit, körperlich ungleich zu empfinden, ungleich
bedürftig und gerade darin wechselseitig als gleich, nämlich mit “Haut
und Haaren” liebend, wahrnehmbar zu sein. Diese Ungleichheit der Kör-
perlichkeit ist damit ebenso wie die Gleichheit des Begehrens Normalitäts-
erwartung der sexuellen Liebe und kein Makel der Ungerechtigkeit.
“Auch relativ unbalancierte Beziehungen können dank dieser Diffusi-
tät des sexuellen Kontakts noch als gleich und als gleich begünstigend
und als unvergleichbar erlebt werden. (…) Deshalb kann auch in
einem Maß, das sonst kaum erreichbar ist, unterstellt und erwartet
werden, daß [sic!] das eigene Erleben auch das des Partners ist.“ (Luh-
mann, 1982: S. 33).
Nicht nur ungleiche körperliche und psychische Bedürfnisse können so im
Code der Liebe aufeinander bezogen werden. Das körperliche Begehren
als Ausdruck der Liebe zur ganzen Person ist auch weitgehend unabhängig
von der sexuellen Orientierung der Liebespartner, sofern sie für beide ge-
nau das kommunizierbar macht: die ganze Person mit ihrer Körperlichkeit
zu wollen.
Bisexuelle, Homosexuelle, Transsexuelle, Intersexuelle mögen gesell-
schaftlich Diskriminierung erfahren, indem ihnen Handlungschancen
oder Rechte aufgrund der sexuellen Orientierung vorenthalten sowie ein-
geschränkt werden. Verlieben können sie sich trotzdem. Sie können gera-
de auch wegen ihrer Orientierung geliebt und, ebenso wie die heterosexu-
ell orientierten Liebenden, zur Vorlage romantischer Trivialisierung wer-
den (vgl. Burston, Richardson, 2005). Für die Kommunikation im SGKM
der romantischen Liebe spricht nichts dagegen, dass mit diesen Formen

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des körperlichen Begehrens die Liebe zueinander zum Ausdruck gebracht


und eine Intimbeziehung eingegangen sowie gelebt werden kann (vgl.
Gammerl, 2013). – Was dann wiederum mit eigenen kulturellen Konnota-
tionen kommuniziert werden kann, etwa zum Verständnis davon, wie ro-
mantisch das körperliche Begehren sein und wo es wie gezeigt werden soll
(siehe für die Verwendung der Dating-App “Tinder” durch homosexuelle
Männer MacKee, 2016: S. 8f.).
Das hängt wiederum damit zusammen, wie die Intimität sozial plausibi-
lisiert wird. Wenn der Wahlmodus des Geschlechtspartners auf individuel-
le Orientierung am Erleben und Begehren umgestellt ist und wenn indivi-
duelle Eigenheiten und nicht mehr vordringlich sozialer Status, Besitz, Fa-
milienzugehörigkeit usw. die Kriterien der Partnerwahl bis hin zur Wahl
der sexuellen Körper bestimmen, dann muss sich die Individualität der
Auswahl, sprich: das eigene Erleben, als Ziel für die Bildung und Stabilisie-
rung der sozialen Form darstellen lassen. – Und das meint eben der Ten-
denz nach, die Ausblendung externer Vorbedingung für (körperliche) Lie-
be (Luhmann, 1982: S. 36).
Die sexuelle Liebes-Intimität zielt damit nicht mehr in erster Linie auf
soziale (Verwandtschaft) und biologische (Kinder) Reproduktion ab. Die
sexuellen Beziehungen der romantischen Liebe müssen von keiner Repro-
duktionsideen inspiriert sein (zur Sexualität als Lebensstil vgl. Giddens,
1993: S. 24). Sie können nur um die wechselseitige Bestätigung des Erle-
bens und Handelns der Liebenden kreisen. Das Ziel der Liebe und aller
auf dem Code der romantischen Liebe aufbauenden Formen von Sozialität
ist jetzt die Selbstverwirklichung der Liebenden. – Und das gilt selbstre-
dend auch für die selbstbestimmte Verwirklichung der eigenen Sexualität
(Luhmann, 1982: S. 150/151).
Es gilt dann auch und in erheblichem Maße für die formalisierte Varian-
te einer durch Liebe eingeleiteten und ggf. sogar getragenen Liebes-Intimi-
tät: die Ehe (vgl. Burkhart, 2018: S. 116ff.). Luhmann hat hierzu darauf
hingewiesen, dass die Ehe deshalb zur Protagonistin einer romantischen
Liebessemantik werden konnte, weil durch die zunehmende Ausdifferen-
zierung der Funktionssysteme der Gesellschaft und ihre damit einher ge-
henden Selbstreproduktion auch die Gründung von Familien in stärkerem
Maße auf selbstreferente Perspektiven, das meint, auf die individuell be-
gründete Gattenwahl, umgestellt werden musste (O. c.: S. 184).
Man kann dazu ergänzen, dass diese Umorientierung besonders in
Deutschland mit dem Auftreten einer neuen soziokulturellen Trägergrup-
pe der funktionalen Differenzierung kulturell legitimiert wird, die sich
als “Bildungsbürgertum”, d. h. über erworbene Möglichkeiten der Selbst-

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VII. Den Sex lieben

formung definiert (Lepsius, 1993: S. 304f.; 310f.). Das trägt dazu bei, den
Ehevorstellungen romantische Ideen, vornehmlich aus der Literatur, zu in-
jizieren. Diese kulturelle Aufladung der Semantik der Ehe mit dem roman-
tischen Liebescode (vgl. Kuckhohn, 1966: S. 343ff.) lässt das Eheideal der
romantischen Selbstverwirklichung als Dauerbestätigung und Dauerher-
ausforderung auch der körperlichen Zuneigung ab dem 19. Jh. als (an-
spruchsvollen) Normalfall der bürgerlichen Ehe erscheinen (Rosenbaum,
1982: 285ff.). Die außereheliche Sexualität hingegen wird eher als charak-
teristisch für die nicht bürgerlichen Milieus verstanden (Segalen, 1990:
S. 165f., 172ff.).
Für die Ehen selbst, die sich über den Partnerwahlmodus der romanti-
schen Liebe anbahnen, also unter Berücksichtigung der gemeinsamen Se-
xualität der potentiellen Ehepartner, suggeriert ihre Romantisierung, dass
der leidenschaftliche Moment, in dem Amors Pfeil in den Körper fährt,
auf Dauer gestellt werden könne. Zumindest sind die Ehepartner gehalten,
ihre Sexualität im Sinne eines gemeinsamen Erlebens des (andauernden)
Ausnahmecharakters ihrer Intimbeziehung zu pflegen und ihre Liebe da-
mit immer wieder neu zu bestätigen (Luhmann, 1982: S. 178). – Und man
kann für die Ehepartner nur darauf hoffen, dass sich diese Anforderung als
Entwicklungsgeschichte geteilter Intimität kommunizieren lässt (vgl. O. c.:
S. 170).
Darin sollte die Ehe etwas Besonderes sein, schon um in der Ehe auch
dem Gebot der Selbstverwirklichung als Motivation der Selbstbestimmung
(und nicht umgekehrt) der individuellen Ehepartner zu genügen. – An-
dernfalls droht die Scheidung, nicht nur vom Tisch, sondern auch vom
Bett. Mit der romantischen Aufladung der Ehe zu einer dauernden Liebes-
beziehung wird also auch die Sexualität in der Ehe zur gesellschaftlichen
Normalität. Die Verbindung von Sex und Ehe erscheint sogar so normal,
dass es trotz allem, was neben und über die Ehe hinaus an sexuellen Begeg-
nungen möglich ist, irritiert, würde man die Ehe nicht mit Sexualität iden-
tifizieren.
“Die Frage, ob man Sexualität in der Ehe richtig/weniger richtig/falsch
fände, ist noch nie gestellt worden, so absurd scheint sie zu sein. Wohl
aber wird danach gefragt, ob glückliche sexuelle Beziehungen für eine
gute Ehe wichtig seien.“ (Lautmann, 2002: S. 344).
Zugleich ist unschwer zu erkennen, dass diese Fassung der Liebe, bei der
die Interpenetration von Individuen mit ihren Körpern in die Liebes-Inti-
mität und der Wahlmodus von Geschlechtspartnern Ausdruck individuel-
ler Selbstverwirklichung sein soll, eine beträchtliche Herausforderung für

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VII. Den Sex lieben

die liebenden Individuen darstellt. Dabei bringt diese gesellschaftliche He-


rausforderung den individuellen Selbstumgang gleich zweifach in Form.
Ob und wie man dem gerecht werden und damit sein persönliches Glück,
sprich erfüllende Befriedigung, finden kann, ist jetzt nicht nur ein An-
spruch an eine “gelungene” Selbstverwirklichung. Die Bewältigung der He-
rausforderung – also deren “Gelingen” – fällt in die Selbstverantwortung je-
der und jedes einzelnen.
Die das Selbst entlastenden Rückzugsmöglichkeiten hinter die Bollwer-
ke ständischer, familiärer oder moralischer Fremdbestimmungen, wie sie
noch die sozialstrukturelle Situation der stratifizierten und der Klassenge-
sellschaft kennzeichnen und die den Individuen bei der Partnersuche kei-
ne (individuelle) Wahl und sogar “das Körperliche” zweitrangig erschei-
nen lassen (vgl. Luhmann, 1982: S. 146), sind weitgehend weggefallen. Mit
der Interpenetration der Individuen als auch körperlich einzigartige Perso-
nen in die Liebes-Intimität interpenetrieren die gesellschaftlichen Norma-
litätserwartungen von einer individuell selbst zu verwirklichenden Sexuali-
tät zugleich in den Verantwortungsbereich der Individuen. Sie konfrontie-
ren diese selbst mit den Anforderungen an den “richtigen Sex”, der indivi-
duell für beide (!) in der Liebesbeziehung erfüllend sein soll. – Eine An-
spruchslage, die durch gesellschaftliche Anforderungen an ausgeglichene
Geschlechtsbeziehungen und individuelle “sexuelle Kompetenz” (vgl. Leu-
pold, 1983: S. 319) noch gesteigert werden kann.
Mit der individuellen Interpenetration der körperlichen, romantischen
Liebe verbinden sich demnach Anforderungen, die individuell nur schwer
zu bewältigen sind. Die mannigfaltigen Beratungs- und Therapieangebote,
die den Sex der Liebe, etwa in praktische Tipps, für die liebesgemäße
Handhabung des eigenen und fremden Körpers übersetzen, lassen sich
hierzu jedenfalls als ein Indikator für den daraus resultierenden Orientie-
rungsbedarf verstehen oder gleich als Heraufkommen einer problemorien-
tierten, “pure relationship” (Giddens, 1993).
Ob man sich davor in die Idealisierung der Sexualität in der Liebe flüch-
tet oder in eine gelangweilte Routine “sexueller Pflichten”, die durch “Sei-
tensprünge” oder polyamuröse Experimente aufgefrischt werden soll, ob
man sich Therapie und Tantra zuwendet, die Selbstreflexion als Folge der
selbst zu verantwortenden Selbstverwirklichung betrifft immer auch die
Körper der liebenden Personen. So wird diese elementare, alles an der Per-
son betreffende, Selbstreflexion in der Liebes-Intimität unweigerlich zum
Teil des Erlebens und Handelns der anderen oder des anderen, das Erfül-
lung will und darin wiederum Leiden schafft.

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– R.I.P. –

Ich sag' "Ruhe in Frieden!"... zu dem Mädchen, das du bisher immer in mir
gesehen hast.
Ihre Tage sind vorbei, Baby, die ist Vergangenheit!
Ja, ich hab’ mich entschieden, dir alles von mir zu geben. Also komm näher,
Baby, komm näher!
Ich bin bereit für dich.
Alles was früher war, hab’ ich über den Haufen geworfen.
Hab’ mich völlig umgekrempelt, hab ein neues Kleid übergezogen und den
Reißverschluss hochgezogen.
Und jetzt, jetzt warte ich nur noch drauf, dass mein Parfum deinen Pullover
durchnässt.
Also komm schnell her, je eher, umso besser!
Und keine Ausreden, ein 'Nein' lass ich nicht gelten!
Das hier ist mein Spiel, und die Rolle, die du darin spielst, die bestimme ganz
allein ich.
Folge gefälligst meinen Anweisungen! Worauf wartest du noch?
Ja, ich hab’ drüber nachgedacht und entschieden: Heute Nacht, das wird deine
Nacht!

Rita Ora

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VIII. Das Leiden lieben

Mit der Umstellung des Modus der Partnerwahl auf die individuelle,
durch Gefühle, Neigungen und Begierden begründete, romantische Liebe,
ist viel geschehen, was zur sozialen Realisierung individueller Persönlich-
keitsaspekte und zu dem beigetragen hat, was der Begriff “Selbstverwirkli-
chung” abbilden will. Die solcherart in die Gesellschaft interpenetrierten
Individuen zahlen jedoch auch einen hohen Preis für die Sozialisierungsfä-
higkeit ihrer höchst persönlichen Idiosynkrasien. So fordert die romanti-
sche Liebe von jedem Einzelnen, Leidenschaft zu zeigen. Das sprachliche
Kompositum deutet es schon an, damit ist nicht nur rückhaltloses persön-
liches Engagement im Erleben und Handeln gemeint. Man hat sich dem
Leiden auszusetzen, das die Liebe mit dieser Forderung schafft, wenn man
im Liebescode sozialer Beziehungen kommuniziert.
Die Positionierung der romantisch Liebenden als Begehrende, die das
Innerste ihrer Persönlichkeiten gegenüber fremden Anderen entäußern
müssen, ja geradezu danach suchen, hat eine längere Vorgeschichte. Diese
soll an dieser Stelle nicht nochmals nacherzählt werden. Schlaglichtartig
lässt sich aber erhellen, worin die Wandlung der Semantik, der kulturell
bewerteten Erzählung dessen liegt, was Partnerwahl sein soll und wie da-
mit das Leiden in die Liebe kam, das es jetzt zumindest “mit” zu lieben
gilt.
So war es notwendig, um die Beziehung von Individualität, Höchst-
schätzung der Idiosynkrasien (von anderen und dadurch der eigenen!) und
höchstem (auch körperlichem) Engagement im Medium Liebe kommuni-
zieren zu können, die gesellschaftlich gültige Semantik der Partnerwahl
mit ihrem Bezug zu Herrschaft und Besitz aufzubrechen. Die hier einset-
zende Umorientierung gewinnt ab dem 18. Jhr. in Europa an Boden.
Folgt man Luhmann, dann war es bis ins 18. Jhr. hinein gesellschaftli-
che Normalität, die Gattenwahl auf die Reproduktionsnotwendigkeit
einer über Generationen fortbestehenden Familie zu beziehen. Die Gatten-
liebe selbst erschien als ehrfürchtiges Anerkenntnis der Herrschaftsord-
nung eines patriarchal ausgerichteten Haushalts. Dem korrespondierte die
Liebe des Hausherren, aber weniger zu den Eigenheiten der Mitglieder des
Haushalts, als zu seinem Eigentum, also: “Haus und Besitz, Frau und Kin-
der” (1982: S. 164).

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VIII. Das Leiden lieben

Mit der Umstellung der Sinnverhältnisse der Gesellschaft auf Unter-


scheidungen, die sich primär auf Funktionen und weniger auf soziale Sta-
tuspositionen oder verwandtschaftliche Bindungen beziehen, wird diese
Sichtweise und mit ihr die bisherige Normalität der Partnerwahl fragwür-
dig. Sie erfasst immer weniger das, was gesellschaftlich wichtig ist, um sich
daran im Erleben und Handeln bei Entscheidungen zu orientieren. Die
Ausdifferenzierung der SGKM Macht, Geld und Liebe, die coevolutionär
zur Umstellung gesellschaftlicher Leitunterscheidungen auf funktionale
Differenzierung voranschreitet, treibt den Zusammenhang von Herrschaft,
Besitz und Partnerwahl auseinander. Jetzt wird es normal, jeweils etwas
anderes zu erwarten, wenn man sagt, man befiehlt, kauft oder liebt.
Eng damit verbunden ist ein Wandel der Bedeutung von Individualität
für die Wahl des Geschlechtspartners und die Entfaltung von Intimbezie-
hungen. War Individualität zunächst deshalb von Interesse, um nichtstän-
dische Bindungen etwa der Seele zu Gott im Jenseits oder der Beziehung
von Freunden im Diesseits zu markieren, so wandelt sich diese Perspektive
im 18. Jhr. unter dem vordergründigen Einfluss der Philosophie und der
romantischen Literatur, besonders des Romans (Luhmann, 1995: S. 127
mit Bezug zu Watt, 1957). Das Individuum wird als sich selbst bestimmen-
des “Subjekt” (lat. Subjectum = das sich selbst Unterworfene) zum einzig-
artigen Zentrum des Welterlebens stilisiert.
Jetzt kann das Unwahrscheinliche erwartet werden und es wird erwar-
tet, dass man die gemeinsame Welt, die man mit der Intimbeziehung er-
lebt, durch das Welterleben des anderen oder der anderen erfährt. Die In-
timbeziehung wird somit zum gemeinsam erzeugten Erlebnisraum. Eine
emotionale Verdichtung, die sich beispielsweise bei künstlerischen oder li-
terarischen Darstellungen im Naturschönen zur Metapher des romanti-
schen Erlebnisraums der Naturerfahrung stilistisch überhöhen lässt (vgl.
Preisendanz, 1967, S. 54ff.).
Deshalb ist der romantische Blick der Liebe wohl immer wieder auf er-
habene und damit anrührende Naturphänomene gerichtet, etwa Sonnen-
auf- und Sonnenuntergänge, rauschende Wasserfälle und Wälder oder den
funkelnden Sternhimmel (vgl. für die englische Literatur Kullmann, 1995:
S. 123ff.; 271ff., 288ff.). Zumindest ist das in der Trivialisierung künstleri-
scher Perspektiven auffällig, mit der sich die Chiffre des romantischen Er-
lebnisraums in den Alltag der Liebeserlebnisse übersetzt, etwa in den Dar-
stellungen auf Liebespostkarten, in den Handlungskulissen der Triviallite-
ratur, den Szenerien der Liebesfilme, den Designs der Profile auf Dating-
Plattformen oder den Instagram-Posts im Internet. Der kitschig schöne

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VIII. Das Leiden lieben

Naturraum ist zum Signalement eines gemeinsamen Erlebnisraums ro-


mantischen Sentiments geworden.
Hierbei ist aber zu betonen, dass die Intim-Beziehung als Form des
SGKM Liebe zum gemeinsamen Erlebnisraum der je individuellen Selbstver-
wirklichungen (der Plural wird bewusst verwendet) wird. Im Prozess der
Ausdifferenzierung einer romantischen Semantik des Mediums Liebe ent-
wickelt sich also auch die Form des Mediums weiter, die der Sozialität die
Grenzen zieht. Im Erlebnisraum der Intimität erleben sich die Liebenden
im anderen (in dessen jeweiligen Liebes-Handlungen) und müssen diese
Selbstfindung dem geliebten anderen wiederum vorleben. – Das alles hat
mit leidenschaftlichem Engagement zu geschehen. Sonst ist nicht glaub-
würdig zu vermitteln, dass das Erleben des anderen der Ausgangspunkt des
eigenen Handelns ist und umgekehrt, jedenfalls nicht als Liebe.
“Man kann in Liebe nur so handeln, daß [sic!] man mit genau diesem
Erleben des anderen weiterleben kann. Handlungen müssen in die Er-
lebniswelt eines anderen eingefügt werden; und sie dürfen doch ihre
Freiheit, ihre Selbstgewähltheit, ihren Ausdruckswert für Dauerdispo-
sitionen dessen, der handelt, damit nicht verlieren. Sie dürfen gerade
nicht als Unterwerfung, als weiche Fügsamkeit, als Nachgiebigkeit
oder als Konfliktvermeidungsverhalten erscheinen. Mit einem 'na mei-
netwegen' ist keine Liebe zufrieden. Sie fordert, daß [sic!] nur der, der
liebt, so handeln kann.“ (Luhmann, 1982: S. 219f.)
Diese überaus anspruchsvolle, und im Grunde kaum erfüllend zu realisie-
rende, Reflexionshaltung ist als Glück zu verstehen. Sie kann auch kaum
anders verstanden werden, will man diese gegenseitige Übernahme von
Selbstverwirklichungsperspektiven nicht nur aushalten oder als ambitio-
nierten Prozess der Selbsterziehung und des Selbstlernens durchlaufen,
sondern als Teil der eigenen Selbstbestätigung suchen und genussvoll erle-
ben. – Man hat glücklich zu sein, dass man liebt und geliebt wird und das
heißt an den Unmöglichkeiten, was Dauer, Tiefe, Kenntnis der Liebe und
der Liebenden betrifft, lustvoll zu leiden.
Luhmann betont dabei, dass diese anspruchsvolle Reflexivität der lie-
benden Individuen aufeinander, besonders in der zeitlichen Sinndimensi-
on der Liebeskommunikation, Konsequenzen zeitigt. Liebende müssen
den Moment lieben. Es bleibt ihnen gar nichts anders übrigen. Sie sind da-
rauf angewiesen, zur gleichen Zeit, das Gleiche zu tun – und das meint in
der Liebes-Intimität auch, das Gleiche zu erleben. Luhmann schreibt dazu:
“Intimität ist der Begriff für die Verschmelzung des Glücks zweier Lie-
bender, die darin besteht, daß [sic!] das Glück für beide in genau den

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VIII. Das Leiden lieben

gleichen Handlungen liegt. Dies ist nur möglich, wenn die Zeit ausge-
schaltet wird, wenn jeder dem folgt, was der Moment ihm eingibt.“
(O. c.: S. 176).
Um die Interferenz mit den anderen Sinndimensionen im Blick zu behal-
ten, denn das Medium wirkt auf alle Sinndimensionen, und für uns Beob-
achter zeigt sich daran die Steigerung der Unwahrscheinlichkeit von Moti-
vation und Erfüllung, wenn geliebt wird, ist für die Sachdimension zu no-
tieren, dass dieser Stillstand im ewigen Augenblick nur dann möglich
wird, wenn die Liebenden auch in den Themen der Liebeskommunikation
die Rationalität zu Gunsten der Leidenschaft zurücktreten lassen. – Es ist,
wie es ist und da es Liebe ist, ist es gut. In der Sozialdimension schließlich
sind die Liebenden fortan darauf konzentriert, die eigenen Ausnahmecha-
raktere, in ihrer liebenden Bezogenheit aufeinander als “Einheit der Zwei-
heit” (Fuchs, 2003: S. 43) zu verstehen.
Man versinkt beim Lieben aber nicht nur im Moment des Glücks, um
sich selbst in der Zweiheit ganz zu erleben. Man wächst gleichzeitig im Er-
leben der anderen oder des anderen über sich hinaus, erschließt sich –
durchaus auch schmerzliche – neue Dimensionen der Selbsterfahrung. So-
ziologisch wäre festzuhalten, dass man die Interpenetration des eigenen In-
dividuellen ins gemeinsame Soziale der Liebes-Intimität am eigenen Leib
als Grenzüberschreitung der Identität, zumindest aber der Identitätsmög-
lichkeiten, erlebt und dass dies weitere Handlungen motiviert.
Das allerdings kann nur schwer kalkuliert werden, auch wenn gerade
die Realisierung von Liebesbegegnungen Vorbereitungen der Liebenden
erfordert. Die Liebe ist so unsicher wie das Glück und zumindest darin er-
wartbar. Und darin, dass man das weiß und dass beide, die lieben, das wis-
sen und doch auf dauerndes Glück hoffen, liegt ein weiterer Grund dafür,
dass wir mit der Liebe, wenn wir lieben, auch unser Leiden lieben. So kön-
nen wir der Paradoxie der Leidenschaft nicht mehr entkommen: Wir erlie-
gen dem Liebesleiden selbst und steigern es in der Liebesbeziehung sogar
noch, wenn wir leidenschaftlich lieben.
“Wehrlosigkeit in bezug [sic!] auf die eigene Passion und Raffinesse in
bezug [sic!] auf die des anderen treten in einen Steigerungszusammen-
hang – je mehr Leidenschaft, desto mehr Umsicht und durchdachte
Verhaltensplanung, und dies auf beiden Seiten, wenn beide der Passi-
on des anderen noch unsicher sind und die Situation insofern als
asymmetrisch erleben.“ (Luhmann, 1982: S. 76).
Dennoch kann es bei aller Verhaltensplanung bei der Darstellung von Lei-
denschaft in der Liebe, für die Liebe selbst keinen geplanten, keinen arran-

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VIII. Das Leiden lieben

gierten Startpunkt und noch nicht einmal ein zeitliches Ziel geben (für
Ehen und Partnerschaften hingegen schon). Auch ihre Entwicklung bringt
nur die Gewissheit, dass alles auf der Unwägbarkeit der Gefühle basiert. –
Gerade die ausgeprägte Emotionalisierung der romantischen Liebe plausi-
bilisiert diesen Zug der Liebeskommunikation und macht ihn schmerzlich
bewusst. Es bleibt nur, auch daran lustvoll zu leiden, dass die Liebe voraus-
setzungslos wie ein Zufall beginnt und ihr Verlauf Schicksal ist.
Luhmann hebt in diesem Zusammenhang die Absolutheit der Liebe
hervor:
“Die Kombination Zufall/Schicksal besagt dann: daß [sic!] das voraus-
setzungslose Beginnen die Bedeutung der Liebesbeziehung nicht be-
einträchtigt, vielmehr als Unabhängigkeit von jeder Außenprägung
diese Bedeutung gerade steigert, sozusagen verabsolutiert.“ (1982:
S. 181).
Mit anderen Worten, die Liebenden haben nur sich selbst, ihre Gleichzei-
tigkeit und ihre Themen. Sie sind gefangen im Sinnhorizont der Intimität,
der der Ereignishorizont ihres Handelns und Erlebens im Angesicht der
ungeheuren Gravitation ist, die von der Singularität ihrer einzigartigen
Liebe ausgeht.
Sich von dieser Singularität einfangen zu lassen, ist wohl das Einzige,
was den Liebenden bleibt, wenn nicht die Selbstwidersprüchlichkeiten des
Liebescodes von dauerndem Zufall (Zeitdimension), Einheit der Zweiheit
(Sozialdimension) und unaussprechlichen Themen (Sachdimension) offen-
sichtlich werden sollen. Wenn die Unmöglichkeit der Absolutheit der Lie-
be in all diesen Sinndimension nicht die Form der Liebes-Intimität spren-
gen soll, dann bleibt nur das Ergeben. Es bleibt nur der Fatalismus der Ek-
stase, das unbedingte einander Wollen, egal wie lange und womit.
Im Zusammenhang mit dem Ideal der romantischen Liebe war schon
einmal angesprochen worden, dass die Liebe im Versprechen der völligen
Akzeptanz eigener Individualität durch einen an sich Fremden, die Para-
doxien plausibilisiert, die mit dem SGKM nicht nur in der Steigerung der
Unwahrscheinlichkeit der Motivation zu Erleben und zu Handeln in Er-
scheinung treten, sondern die Ausdruck der komplexen Sozialbeziehun-
gen sind, die entstehen, wenn Individualität über Fühlen begründet und
sozial kommuniziert werden soll.
Hier nun ist hinzuzufügen, dass diese Plausibilisierung nicht nur als
Selbstverständlichkeit daher kommt und sozusagen als “Kollateralscha-
den” der blinden Vernunft der Liebe unausweichlich erscheint. Die Blind-
heit ist nicht nur die notwendige Folge gefühlsbegründeter Interpenetra-

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VIII. Das Leiden lieben

tionen. Sie ist zugleich als “sehende Blindheit” (Luhmann) die Belohnung
für die Akzeptanz des Kontingenten.
Sie erscheint als süße Lust an einem Begehren, das bedingungslos zu
sein hat, in seinem sich einlassen, auf alles, was der Begehrte bedeutet. –
Die Liebe verlangt gleichsam eine paradoxe, eine blinde Selbstreflexivität,
blinder Beobachter, wenn sie sich selbst im Gegenüber erkennen wollen.
Anders gesagt, die Liebe verlangt das bedingungslose Fühlen des Soseins
im Moment, in dem beide aufeinandertreffen, um das Dasein zu rechtferti-
gen.
Über diese sozusagen persönliche oder sollte man sagen: intime Dimen-
sion des lustvollen Leidens, das die Singularität der Paradoxien im Innern
des sozialen Systems der Liebes-Intimität stabilisiert, gewinnt die Passion,
als auch heute noch wirksamer Teil des romantischen Liebescodes, gesell-
schaftliche Bedeutung. Man könnte sagen, sie gewinnt eine Außenwir-
kung, die in der Plausibilisierung kontingenter Ordnung liegt.
Erkennbar ist das an der von Luhmann für die Ausdifferenzierung des
SGKM Liebe und seines Kommunikationscodes beschriebene Verände-
rung der Perspektivierung von Leidenschaft. Die Passion wird vom passi-
ven Erdulden zu einer Bedingung sozialer Systembildung, in der die Un-
wägbarkeit als das Erwartete ausgegeben werden kann und sogar der Zu-
fall erwartbar wird (siehe 1982: S. 73 Anm. 8).
“Dann wird die Semantik der Passion verwendet, um institutionalisier-
te Freiheiten zu decken, das heißt abzuschirmen und zugleich zu ver-
decken. Passion wird zur Handlungsfreiheit, die weder als solche noch
in ihren Wirkungen gerechtfertigt zu werden braucht. Aktivität wird
als Passivität, Freiheit als Zwang getarnt.“ (O. c.: ebenda).
Diese seltsame Konstruktion von Kontingenzspielräumen, die erst dadurch
eröffnet werden, dass sie sich im Leiden der Hingabe zumindest an die Lie-
be, wenn nicht gar an den Geliebten, verstecken und damit durch Ausliefe-
rung und Preisgabe der Kontrolle erreicht werden, liegt eine fast
schon “postrational” zu nennende, innovative Möglichkeit sozialer System-
bildung. Die “institutionalisierten Freiheiten”, die für einen durch persön-
liche Gefühle, Neigungen, Zuneigungen und Begierden begründeten Part-
nerwahlmodus nichts weniger vorgeben, als die Institutionalisierung von
Unwägbarkeit zur Grundlage sozialer Systembildung werden zu lassen,
weisen auf die besondere Stellung der Liebe als gesellschaftlichem Inklusi-
onsprinzip hin.
Die romantische Liebe stellt gerade in ihrer Kapazität, Komplexität in
Paradoxien einzufangen und durch Leidenschaft am Unwägbaren aufzulö-

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VIII. Das Leiden lieben

sen, eine neue Antwort für das Problem der Selbsterzeugung sozialer Ord-
nung unter Bedingungen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung von an
sich kaum integrierbaren Abweichungen der Individualität(en) dar. Das
meint, dass die Paradoxien für die Wirklichkeit der Liebes-Intimität nor-
mal werden können, weil die doppelte Kontingenz, der in der Liebe so un-
mittelbar aufeinander bezogenen Individuen nicht auf das psychische
Empfinden, sondern auf die soziale Systembildung bezogen sind (O. c.:
S. 76).
In seiner paradoxen Konstruktion ist die leidenschaftliche Liebe demzu-
folge als ein komplexitätstaugliches Inklusionsprinzip anzusehen, mit dem
kontingente persönliche Bedürfnisse und Gefühle vergesellschaftet wer-
den. Dieser Sachverhalt weist weit über die Fragen hinaus, wie sich Ge-
schlechtspartner finden und ob Liebe als Grundlage der Ehe taugt, wie ro-
mantisch romantische Partnerschaften heute noch sind oder wie gleich sie
sein müssten, um dem Ideal der Homonormativität zu genügen.
So weist die romantische, leidenschaftliche Liebe als gesellschaftlicher
Inklusionsmodus des eigentlich nicht Inkludierbaren nicht nur über die
Frage hinaus, wie der soziale Einbezug von Individualität durch leiden-
schaftliche Liebe die Vorstellungen von Gleichheit in ihrer normativen
Fassung als Gerechtigkeit beeinflusst. Sie suspendiert ebenso die kausal-ra-
tionalistischen Annahmen reziproker, materieller und gefühlsmäßiger
Tauschbeziehungen.
Als postrationaler Inklusionsmodus bedarf die romantische, leiden-
schaftliche Liebe der Rationalität von Vertragsverhältnisses als Maßstab für
die soziale Geltung der individuellen Wahl von Geschlechtspartnern nicht.
Liebe operiert auf der Grundlage von Konsens nicht von Dissens, der die
Aushandlungsversuche von (Vertrags-)Partnern motiviert (vgl. Leupold,
1983: S. 320).
Gerade die selbstwidersprüchliche Figur eines nicht nur ertragenen, son-
dern sogar lustvoll gesuchten Leidens an der Liebe verdeutlicht, dass man
die moderne, funktional differenzierten Gesellschaft kulturell nicht mehr
einfach mit Rationalität und Rationalismus identifizieren kann. Das wird
besonders dann problematisch, wenn alle Individuen als fühlende Perso-
nen mit sehr eigenartigen Bedürfnissen und nicht mehr nur als wert- oder
zweckrational und allenfalls noch als traditional handelnde Akteure, auf-
geklärte Subjekte oder Leistungsempfänger beschrieben und damit inklu-
diert werden.
Die kulturelle Beschreibung der modernen Gesellschaft als rationale Ge-
sellschaft muss man wohl ohnehin als Verkürzung einer wesentlich kom-
plexeren Sinnformation lesen. Die Verkürzung resultiert daraus, dass man

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VIII. Das Leiden lieben

als Motor gesellschaftlicher Entwicklungen vor allem die Wirtschaft (ideo-


logischer gesagt: “den Kapitalismus”) verstand und versteht. Das betrifft
nicht nur die Version antithetischer ökonomischer Klassen, wie bei Marx,
sondern auch die Sichtweise der Wirtschaft als einen sozio-kulturellen
Sinnbereich, wie bei Weber, der gleichsam neben der Gesellschaft steht –
eben: Wirtschaft und Gesellschaft, sie aber dennoch mit seinen Prinzipi-
en “rationaler Betriebsführung” kulturell motiviert.
Unter einer solchen, auf ökonomische statt auf soziale Tatsachen fixier-
ten Perspektive, drängt sich Rationalität als Beschreibungsmaßstab für die
Modernität auf und lässt leicht den zentralen Aspekt soziokultureller Dif-
ferenzierung der modernen Gesellschaft übersehen, die Orientierung aller
Sinnbereiche an Neuheit, Veränderung und Antitraditionalismus (auch
der Wirtschaft, hier verstanden als Innovation und Marktdynamik).
In diesem Zusammenhang kann man sich allerdings auch nicht darauf
beschränken, wie es die aktuelle Soziologie in Teilen tut, Liebe nur als Pra-
xisform zwischenmenschlicher Beziehung zu betrachten, die irgendwie
eine Art “safe space”, einen Schutzraum gegen die Rationalität und die Ra-
tionalismen der modernen Gesellschaft erzeugt, nur weil in der Liebes-In-
timität Leidenschaftlichkeit und scheinbare Irrationalität praktiziert,
sprich: hier soziologisch protokolliert werden. So wie wir z. B. bei Burkart
lesen:
“Wenn wir die Liebe als Praxis verstehen, d. h. als Beziehungsform, die
leiblich-emotional verankert ist und daher leibliche Kommunikation
stärker betont als diskursive Verständigungsformen, dann verstehen
wir vielleicht besser, warum die Liebe eher resistent ist gegenüber
Überformungen durch Diskursrationalität und Gleichheitsrhetorik.
Als Praxis in diesem Sinn kann die Liebe eine starke Bindungskraft er-
zeugen, weil sie im geschützten Raum der Intimität Leidenschaft und
Hingabe zulässt und öffentlich debattierte Ansprüche an Partner-
schaftlichkeit und Gerechtigkeit situativ ausklammern kann.“ (Hervor-
hebung im Original; 2018: S. 317f.)
So kann man zwar die Liebes-Intimität als Reservat der Leidenschaftlich-
keit beschreiben, versteht aber nicht, warum die Kommunikation der Lie-
be kaum anders zum Erleben und Handeln motiviert, als darin, dass man
das Leiden der Liebe zu lieben lernt. Man versteht erst, warum das SGKM
Liebe seinen Kommunikationscode derart mit Paradoxien auflädt, dass sie
nur durch die Blindheit der Hingabe so akzeptabel, ja liebenswert für den
Antrieb eigenen Erlebens und Handelns werden können, wenn man nach
dem sozialen Problem fragt, auf das eine solch anspruchsvolle Kommuni-

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VIII. Das Leiden lieben

kationsform antwortet, die so viel Leiden gerade für die in ihr kommuni-
zierten Individuen schafft.
Die Liebe der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft gibt
mit der Forderung nach Leidenschaft für das Unwägbare eine kontingenz-
sensible Antwort, auf die sich aufdrängenden Fragen der Einheit der Diffe-
renzen des Individuellen. Sie gibt sehr eigenartige Antworten auf Fragen,
die mit der Wahrnehmung der paradoxen Gleichheit der Individualität
verbunden sind, die besagt, dass wir als Individuen nur darin alle gleich
sein können, dass wir ungleich sind.

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dein körper noch immer eine schelmische
formel
[…]
klaus lage ist schlimm, aber mit dir zu ertragen

Stefan Heuer

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IX. Die Zukunft lieben

Mit der romantischen, leidenschaftlichen Liebe ist eine Codierung des


SGKM “Liebe” entstanden, die den Wahlmodus von Geschlechtspartnern
auf die Grundlage individueller Idiosynkrasien, Gefühle und individuellen
Begehrens stellt. Auf diese Weise formt das Medium Liebe den Sinn der
Liebeskommunikation und erlaubt die Unterscheidung einer ganz eigenen
Form sozialer Beziehungen. Mit dem Eintritt in die Liebeskommunikation
kann sich das soziale System der Liebes-Intimität gegen seine gesellschaftli-
che Umwelt, etwa andere soziale Systeme, abgrenzen.
Durch die Fundierung der romantischen Liebe in der Kommunikation
individuellen, gefühlsbetonten Erlebens und Handelns erweist sich die
Liebe aber nicht nur als Zündfunke für den Selbstaufbau eines einzigarti-
gen sozialen Systems. Liebe stellt zugleich einen Interpenetrationsmodus
von Individualität in die Gesellschaft dar. Und da es bei der Interpenetrati-
on um wechselseitige Verschränkung geht (vgl. Luhmann, 1984: S. 290),
dringen auch die gesellschaftlichen Wahrnehmungen der Expressionen
von Individualität in die Selbstreflexionen individueller Selbstverwirkli-
chung ein.
Persönlichkeitsaspekte, sogar höchstpersönliche Aspekte der individuel-
len Identität, werden bei der Liebe nicht ausgeklammert. Im Gegenteil, in-
dividuelle Identitätsaspekte werden mit der Kommunikation der Lieben-
den notwendig in der Liebes-Intimität vergemeinschaftet. Diese Form der
Interpenetration setzt also sehr nah an den differenten Individuen an und
behandelt ihre emotionalen Bedürfnisse und Begierden nicht als einzuhe-
gende Gefährdungen, sondern als sozial anschlussfähiges Faszinosum. All
das entfaltet sich zwischen den Liebenden im gesellschaftlichen Exklusi-
onsbereich der Liebes-Intimität. Hier fallen demzufolge Ausschließlichkeit
(Selektion) und Einschließlichkeit (Höchstrelevanz) notwendig zusammen
(Tyrell, 1987: S. 571).
Diese besondere Kapazität von Liebe, Individualität auf der Basis von
Persönlichkeitsaspekten und persönlichen Bedürfnissen bis hin zu körper-
lichen Begierden gesellschaftlich einzubeziehen, lässt Liebe allerdings als
ein besonders fragiles SGKM erscheinen. Es stellt sich daher die Frage nach
der Zukunft der Liebe, vor allem, wenn sich der gesellschaftliche Umgang
mit Individualität, besonders ihre kulturelle Bewertung und ihre Interpe-
netrationsmöglichkeiten weiterentwickeln.

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IX. Die Zukunft lieben

Am Ende unserer Reise zur Liebe der Gesellschaft stehen daher Überle-
gungen zur Entwicklung ihrer Codierung von Intimität. Obwohl dies zu
Teilen ein spekulatives Vorhaben bleiben muss – die Zukunft findet eben
noch nicht statt – erscheint es schon deshalb geboten, weil das SGKM Lie-
be selbst erst in gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen entstanden
ist. So lässt sich begründet vermuten, dass das SGKM Liebe mit seinen
Kommunikationsmöglichkeiten höchstpersönlicher Individualitätsaspekte
auch in Zukunft Veränderungen durch die Evolution gesellschaftlicher
Differenzierung erfahren wird.
Diese Zukunft scheint nicht unproblematisch für den Bestand der ro-
mantischen Codierung der Liebe zu sein. Schon Luhmann hatte gegen En-
de seiner Reflexionen über die historische Genese des Liebescodes festge-
stellt:
“Die Form des Codes scheint sich vom Ideal über das Paradox zum
Problem hin gewandelt zu haben, und das Problem wäre dann ganz
einfach: einen Partner für eine Intimbeziehung finden und binden zu
können. Skepsis gegenüber Hochstimmungen jeder Art verbindet sich
mit anspruchsvollen, hochindividualisierten Erwartungshaltungen.
Die Alternative des Abbrechens und des Alleinlebens wird als Lebens-
plan ernst genommen und verstanden.“ (1982 S. 197).
Gesellschaftlich korrespondieren die Wandlungen der Liebe vom durch
Leidenschaft plausibilisierten Paradox hin zum plausiblen (!) Problem mit
der Entwicklung der Differenzierungsbedingungen der modernen Gesell-
schaft. Namentlich sind damit die Umstellungen der Erwartungen an die
normale Individualität von sozialer Ähnlichkeit auf originelle Abweichung
gemeint. – “Man” sollte in dieser Massengesellschaft eben alles, nur
kein “Massenmensch” sein (vgl. etwa Schimanck, 2002: S. 163ff.).
Für eine Gesellschaft, die sich kulturell als “modern” beschreibt, d. h. an
Variation und Innovation und nicht mehr an Anpassung und Tradition
orientiert ist und die von der Unbeständigkeit des Bestehenden ausgeht
(Luhmann, 1991: S. 89, mit Bezug zu Novalis: S. 104), bedeutet das am In-
dividualitätsproblem die Unterscheidung von Person und Rolle zu schär-
fen.
Es bedeutet weiter, eine kulturelle Definition der Individualität für nor-
mal zu halten, die subjektiv, also in ihrer Begründung nur sich selbst un-
terworfen ist, nur im Selbstbezug definiert werden kann (vgl. Luhmann,
1995: S. 126) und so die Abweichung zur Gesetzmäßigkeit der Identität er-
hebt. Letzteres hat Rousseau so paradigmatisch, wie literarisch auf den
Punkt gebracht, wenn er bekennt:

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IX. Die Zukunft lieben

“Je ne suis fait comme aucun de ceux que j’ai vus; j’ose croire n’être
fait comme aucun de ceux qui existent. Si je ne vaux pas mieux, au
moins je suis autre.“ (1765–70: S. 3) ["Ich bin wie niemand, den ich
sonst kenne; ich wage zu glauben, daß ich wie niemand bin, der sonst
existieren mag. Wenn ich auch nicht besser bin, so bin ich wenigstens
anders."]
Im Zusammenhang der gesellschaftlichen Kommunikation geht das mit
einer Schärfung der Differenz von Persönlichem und Unpersönlichem ein-
her bzw. der Öffnung oder Schließung von Kommunikation für Aspekte
persönlicher Identitäten.
„Die Radikalität der Veränderung, verglichen etwa mit dem Zeitraum
1780–1830, läßt [sic!] sich nicht an der Radikalisierung von Themen,
am Übersteigern von Idealisierung, von Kritik usw. ablesen. Sie ergibt
sich aus sozialstrukturellen Entwicklungen und besteht letztlich darin,
daß [sic!] die moderne Gesellschaft die Unterscheidung von persönli-
chen und unpersönlichen Beziehungen radikalisiert.“ (Luhmann,
1982: S. 205)
Im gleichen Maße aber, wie anonyme Kontakte in der modernen Gesell-
schaft zum Normalfall und Unpersönlichkeit zur Alltagserfahrung wird
(vgl. mit weiteren Verweisen Reuter, 2002: S. 111ff.), schwindet auch die
Selbstverständlichkeit des Erkennens und Anerkennens, aber auch des ge-
ordneten sozialen Inbeziehungsetzens von Individuen. Die Verbindlich-
keit von Lebensorientierungen nimmt ab, wie sie etwa noch für dörflichen
Gemeinschaftsbeziehungen mit ihren eingeschränkten Spielräumen der
Individuierung (vgl. Chassé, 1996: S. 17; am Beispiel der Jugendkultur vgl.
Neurath, 2012: S. 106ff.), zumindest aber für die Lebenserfahrungen, Eti-
kette und den kulturellen Habitus von Angehörigen gleicher sozial-morali-
scher Milieus gegolten hatte (vgl. für das katholische Sozialmilieu, Lepsius,
1993: S. 39f.).
Hinsichtlich des Wandels der Liebe als Kommunikationscode, Aus-
gangspunkt sozialer Formbildung und als Interpenetrationsmodus von Ab-
weichung bedeutet das, darauf zu achten, was als Individualität gesell-
schaftlich möglich ist. Es meint danach zu fragen, wie Individualität gesell-
schaftlich entworfen und als normal erwartet werden kann? Und “man”
fragt sich damit konkret: Wie konform, wie abweichend, wie ähnlich, wie
einzigartig, wie askriptiv, wie deskriptiv, wie synthetisch usw. dürfen diese
Individuen sein, um als Personen sozial handhabbar, also erwartbar zu er-
scheinen?

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IX. Die Zukunft lieben

Daraus ergeben sich pragmatische Probleme: Wie kann man Individuali-


tät etwa wahrnehmbar, gar kommunizierbar machen, obwohl es sozial
nach wie vor keinen unmittelbaren kommunikativen Zugang zu den psy-
chischen Systemen gibt (vgl. Luhmann, 1995: S. 38f.), die sich die indivi-
duellen Persönlichkeiten dieser Personen ausdenken? – Hier mögen evtl.
normative Projektionen oder psychotherapeutische Interventionen weiter-
helfen.
Wie nicht anders zu erwarten, erzeugt die entstehende doppelt paradoxe
Situation einer Normalisierung der Abweichung durch eine Inklusion, die auf
Exklusivität des Intimen setzt, Abstoßungseffekte an den Grenzen der Liebe.
Diese können es den Liebenden dann gerade in der funktional differen-
zierten modernen Gesellschaft erschweren, in einer gesellschaftskonfor-
men sprich: normalen Weise zu lieben.
Zu diesen Abstoßungseffekten zählt etwa, dass die Trennung von Rol-
len- und Persönlichkeitserwartungen so gar nicht zu den Vergemeinschaf-
tungsbedingungen der Liebes-Intimität zu passen scheint. Das persönliche,
leidenschaftliche Engagement soll doch gerade die Motivation des gemein-
samen Erlebens und Handelns antreiben. Folglich kann die individuali-
sierte Liebe so gegen die Ausklammerung von Persönlichkeit aus unper-
sönlichen Rollenkontexten in Stellung gebracht werden.
Dazu zählt aber auch die Herausforderung der Selbstverwirklichung, die
darin liegt, in der “Einheit der Zweiheit” dennoch Erwartungen an die
Originalität der abweichenden und deshalb einzigartigen Individualität
des Geliebten wach zu halten. Aus all dem resultieren in Punkto romanti-
sche Liebeskommunikation letztlich symptomatische Anlauf- und Koordi-
nationsschwierigkeiten. Sie kommen etwa in den Problemen zum Aus-
druck, wie und wann man “persönlich”, gar “intim” werden soll:
“Anders als je zuvor wird damit die Differenz persönlich/unpersönlich
zur konstitutiven Differenz, (…) Das heißt schon auf dieser Grundlage-
nebene ganz praktisch, daß [sic!] sowohl im Erleben als auch im Han-
deln Schwierigkeiten des Anfangens auftreten, weil man in Situatio-
nen, die primär durch unpersönliche Erwartungen geordnet sind, ein
Interesse am Persönlichen sehen und zum Ausdruck bringen muß
[sic!], ohne dafür über gesellschaftlich geprägte Anlaufformen (Galan-
terie) zu verfügen (…).“ (Hervorhebungen im Original; O. c.: S. 205).
Das verweist auf das “Zukunftsproblem” der romantischen Liebe. So ist
begründet davon auszugehen, dass ein veränderter sozialer Umgang mit
subjektivierter Individualität Erwartungsirritationen in Hinblick auf das
soziale Funktionieren der Liebe wenn nicht auslösen, so doch forcieren

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IX. Die Zukunft lieben

würde. Die Tauglichkeit der romantischen Liebe als Code zur Inklusion
der individuellen Wahl von Geschlechtspartnern stünde auf dem Prüf-
stand sozialer Akzeptanz.
Das muss jedoch nicht zwangsläufig das Ende der Liebe bedeuten. Die
Erwartungsirritationen könnten vielmehr als Motivation für Suchbewe-
gungen nach einem gesellschaftlich zutreffenderen, postromantischen,
vielleicht “faktischen” (im Sinne einer individuell designten oder gemach-
ten) Code der Liebe dienen.
Eine solche Entwicklung würde soziologisch zugleich auf umfassendere
Veränderungen der sinnhaften Differenzierung der Gesellschaftsstruktur
hindeuten. Es ginge nicht nur darum, inwiefern die romantische Liebe für
die, die lieben wollen und lieben und für diejenigen, die das bewerten,
heute noch einen tragfähigen Code darstellt, um die individuelle Partner-
wahl plausibel kommunizieren zu können.
Allerdings erscheint es eher unwahrscheinlich, dass sich einzelne SGKM
und ihre Codes spontan verändern und so in Widerspruch zum primären
Differenzierungsprinzip aller Sinnunterscheidungen der Gesellschaft gera-
ten. Würde etwa die Liebe eine solch singuläre Veränderung erfahren,
dann müsste, wer liebt, es auf sich nehmen, in Konflikt mit allen Normali-
tätserwartungen funktionaler Inklusion zu geraten. Liebende würden mit
ihrem Erleben und Handeln im Widerspruch zur Repräsentation von or-
ganisatorischen Entscheidungen, zur persönlichen Partizipation über Rol-
len, zur Nachrangigkeit von Stratifikation und Verwandtschaft für die so-
zio-kulturelle Orientierung usw. stehen. Obwohl man Liebenden sozial
viel Ungewöhnliches zutraut und sie deshalb wohl auch für “blind” hält,
wäre das ein hoher Preis für die Selbstverwirklichung durch leidenschaftli-
che Partnerwahl.
Ein tiefgreifender Differenzierungswandel von Sinnunterscheidungen
in der Gesellschaft würde wahrscheinlich alle generalisierenden Medien
gleichermaßen betreffen. Und “betreffen” meint dann, ihre Möglichkeiten
kritisch werden lassen, den Erfolg sinnhafter Form- und sozialer Systembil-
dung zu erhöhen. Die Codierungen der SGKM müssten andere Schwer-
punkte aufweisen, andere Paradoxien plausibilisieren, um Erleben und
Handeln weiterhin motivieren zu können. Anders würde man sich nicht
mehr verstehen. Der “Erfolg” der “Erfolgsmedien” (Luhmann) bliebe un-
gewiss.
SGKM, die kommunikativ so operieren, dass sie Unwahrscheinlichkei-
ten nur manchmal generalisieren und Unterscheidungen nur zufällig
strukturieren, sind für eine Absicherung von Anschlusskommunikationen
wertlos. Wenn mal das kontingente Begehren, mal die Vorbereitung mit

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IX. Die Zukunft lieben

Therapeuten oder die Diskussion in der Männergruppe und ein anderes


Mal der Abgleich von Vermögenswerten die Wahl des Geschlechtspartners
bestimmt, wenn einmal Emotionen, einmal Kalkül, das andere Mal Ideolo-
gie der gleichermaßen plausible Grund für das Wählen des Partners sein
soll, dann kann Liebe alles Mögliche sein, auch eine Banküberweisung.
Das führt dazu, dass man in Hinblick auf die Zukunft der Liebe, d. h.
ihrer gesellschaftlichen Codierung, soziologisch eine ungewöhnliche Be-
obachtungsperspektive einnehmen muss, will man das ganze Panorama in
den Blick bekommen. Zu den soziostrukturellen und soziokulturellen Be-
dingungen treten dann die grundlegenden medialen Kommunikationsbe-
dingungen der Gesellschaft hinzu, in der geliebt werden soll. Sie sind in
ihrer Entwicklungsdynamik zu beobachten. Die Frage danach, “wie” über-
haupt kommuniziert werden kann und nicht nur “was” oder “warum”, ge-
winnt soziologische Bedeutung (vgl. Thiedeke, 2012: S. 133ff.) – auch in
Bezug auf die Zukunft der Liebe.
Entlang dieser Frage nach dem “wie” der Kommunikation, kann über
den Modus sozialer Erreichbarkeit und über die Möglichkeit, Mittel und
Praktiken Beziehungen aufzubauen, zu stabilisieren und wieder abzubau-
en verhandelt werden. Mediale Kommunikationsbedingungen sind also
auch hinsichtlich der Möglichkeiten, Individualität und Gesellschaft zu in-
terpenetrieren, soziologisch zu berücksichtigen.
Damit ist ganz allgemein die Ausdifferenzierung der SGKM selbst ange-
sprochen. Macht, Geld, Liebe usw. treten als selbständige, sinnstrukturie-
rende Symbolkomplexe in Erscheinung. Sie prägen eigene Argumentati-
onstechniken und Entparadoxierungsstrategien des Verstehens aus und er-
höhen dadurch die selektive, auf einen bestimmten Sinn gerichtete, An-
schlussfähigkeit von Kommunikation.
Spezifischer betrachtet, ist die Entwicklung der Art und Weise betroffen,
wie man Liebe symbolisch und verallgemeinert kommunizieren kann.
Hier könnte sich etwa die Frage stellen, ob das SGKM irgendwann nicht
mehr selektiv genug wirkt, um Erleben und Handeln in einer bestimmten
sinnhaften Weise durch individuell Gefühle zu motivieren? – Liebe wäre
dann nicht mehr “der Rede wert”, wenn alles Mögliche die Inklusionsleis-
tungen der begehrenden Anerkenntnis abweichender Individualität über-
nehmen könnte.
Was würde etwa aus der Liebe werden, wenn Liebe sich auf etwas be-
zieht, was selbst gar nicht zum Erleben und Handeln motiviert werden
kann. Wenn man objektophil ist, dann kann man zwar davon sprechen
Bagger oder Schmuck zu lieben, nur erwidern “die Geliebten” die Liebe
auch und wird deren “Weltsicht” zum Teil der eigenen Idiosynkrasie und

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IX. Die Zukunft lieben

vice versa? Als welche Liebe würde das gesellschaftlich kommuniziert wer-
den – als tugendhafte, passionierte, romantische, rationalistische Liebe?
Neben fundamentalen Veränderungen dessen, was ein SGKM und wie
es etwas symbolisiert, sind im Zuge der Medienentwicklung auch Modifi-
kationen in den Vermittlungsmöglichkeiten der SGKM, etwa der Codie-
rung, vorstellbar.
So weist bereits die Differenzierungsgeschichte Übergänge von einer
Liebe der Tugenden zu einer Liebe der Passionen und weiter zur Liebe ro-
mantischer Leidenschaften auf (Luhmann, 1982: S. 49ff.). Dabei hat die
Funktion an Bedeutung gewonnen, die eigene Individualität zum Zen-
trum leidenschaftlichen Begehrens werden zu lassen (O. c.: S. 169) und
deshalb immer auch Selbstverwirklichung zu meinen, wenn man
sagt: “Ich liebe Dich!“.
Der Code von Geld zeigt analoge Veränderungen, etwa bei den Codie-
rungen von Zahlungen. Diese haben sich von Zahlungsweisen, die materi-
elle Werte codieren und so das konkrete Vermögen von Geld – zu zahlen –
symbolisieren, zu Zahlungsweisen entwickelt, die überwiegend als Be-
schreibungen von “Wertstellungen”, eben als “Gut-“ oder “Lastschriften”
auftreten. Deren Wert liegt letztlich nur noch darin, dass und wie man
ihrer Geltung vertraut (vgl. Luhmann, 1997: S. 394).
Betrachtet man schließlich noch Macht als Beispiel für Codeevolution,
so fällt eine Entwicklung von öffentlicher Gewaltausübung hin zur Sym-
bolisierung von Macht in Insignien und Institutionen der Disziplinierung
oder sozialen Ordnung auf. – Und erst das lässt Machtausübung “panop-
tisch” werden (vgl. zur Disziplinierung Foucault, 1976: S. 173ff.). Die Co-
dierung verweist jetzt nicht mehr auf die Gewalt selbst, sondern auf das
Potential und die Techniken, Macht auszuüben und koppelt sie an Legiti-
mitäts- oder gar an Rechtsfragen, wie Macht verliehen, kontrolliert oder
entzogen wird.
Die Codierung der Macht kommuniziert also die Relativität der Macht-
ausübung mit. Man kann das als Tribut an dem Beteiligungsprimat der
funktional differenzierten Gesellschaft und die nur relative Priorisierung
ihrer Funktionssysteme – auch der Politik (vgl. Luhmann, 1981: S. 22f.) –
verstehen. Daran wird zugleich die erhöhte Wahrscheinlichkeit der Moti-
vation deutlich, der Durchsetzung von Macht Folge zu leisten (Luhmann,
1997: S. 204), wenn sie sich etwa als “gesatzte”, d. h. qua Satzung sortierte
und beschränkte Macht darstellt (vgl. Weber, 1972: S. 124ff.).
Die Veränderung medialer Kommunikationsbedingungen geht demzu-
folge mit der Entwicklung gesellschaftlicher Strukturbedingungen einher.
Sie werden von diesen Strukturbedingungen irritiert oder stabilisiert und

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IX. Die Zukunft lieben

wirken selbst wiederum irritierend und stabilisierend. Man kann diese ver-
schränkte Irritation als Komplexitätsdynamik charakterisieren (Thiedeke,
1997: S. 177), die nicht auf SGKM beschränkt bleibt.
Mit den differenzierten Problemlagen gesellschaftlicher Kommunikati-
on formen sich auch differenzierte Medien aus. Ein Reichweitenproblem
der Kommunikation kann man medial z. B. nicht dadurch lösen, dass man
noch heftiger liebt, mehr Vermögen zum Zahlen hat oder befielt, lauter zu
schreien. Hier helfen wohl eher Schrift, Telefon oder die Massenmedien
weiter.
Entwicklungen medialer Kommunikation betreffen deshalb nicht nur
eine einzige mediale Kommunikationsform. Sie geschehen in einem Netz
von Interferenzen analog zum Differenzierungswandel von Sinnbedingun-
gen, der in seinen Konsequenzen ebenfalls nicht nur eine Sinndimension
berührt.
Kommen beispielsweise massenmediale Kommunikationsmöglichkeiten
hinzu, dann ändern sich nicht nur Formen des Gesprochenen oder Ge-
schriebenen, sondern auch die Formen von Zahlungen oder von Herr-
schaft und ebenso die Form der Liebes-Intimität, was die Bedeutung von
literarischen Romanvorlagen, etwa für das “Erlernen” paradoxer Passionen
(vgl. Luhmann, 1982: S. 80f.), und mit der Massenpresse dann von trivia-
len Romanen (vgl. mit weiteren Verweisen Nusser, 1991: S. 21ff.; 45ff.) für
die Romantisierung der Liebe anzeigt.
Es ist deshalb davon auszugehen, dass das Auftreten und die Entwick-
lung neuer Aufmerksamkeitsmedien, wie von Computern und Computer-
netzen (etwa des Internets), die als kybernetische Interaktionsmedien operie-
ren (Thiedeke, 2012: S. 251f.), die Operationsmöglichkeiten und Operati-
onsweise der SGKM, d. h. auch der Liebe, beeinflusst. Versteht man Medi-
en als sozio-technische Mechanismen zur Strukturierung kontingenten Sinns (O.
c.: S. 145), dann ist zudem davon auszugehen, dass ein solcher Einfluss um-
fassend ausfällt und dass er im Symbolkomplex der Liebe eben nicht nur
die Art der kommerziellen Ausbeutung oder Methodiken der Partnerwahl
– die “Technologien der Wahl” (Illouz) – betrifft.
Bei der Beobachtung der Entwicklungsmöglichkeiten der Liebe geht es
also nicht um einen Exkurs zum Online-Dating im Rahmen einer wie im-
mer gearteten “Romantik 2.0” (vgl. Schuldt, 2013). Es geht gerade mit
Blick auf die Liebe der Gesellschaft um die gesellschaftliche Etablierung
kybernetischer Interaktionsmedien, weil die Kommunikation mittels sym-
bolgenerierender Maschinen einen erheblichen Einfluss auf die Genese
und Generalisierbarkeit von Symbolkomplexen der sozialen Motivation
von Erleben und Handeln der Individuen vermuten lässt.

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So haben sich dadurch in den letzten beiden Dekaden neue Möglichkei-


ten eröffnet, virtuelle Kontakte aufzubauen. Man ist jetzt individuell in der
Lage, schier unübersehbare “Freundeskreise” und Netzwerke von “Follo-
wern” zu unterhalten und miteinander zu verbinden, um sich wechselsei-
tig mit “Likes” und “Dislikes” die Meinung zu sagen. Wertschätzung, Sym-
pathie sowie Ablehnung und Antipathie können ausgedrückt werden, ob-
wohl man nicht repräsentativ über ein Massenmedium oder exklusiv indi-
vidualmedial, etwa persönlich face-to-face kommuniziert. Schon rein
quantitativ hat sich etwa die Nutzung von Social-Network-Communities
in den sog. Social Media zwischen 2007 und 2015 nur für Deutschland fast
verdreifacht. Instant-Messanger-Dienste wie etwa WhatsApp nutzen in
Deutschland 2015 59 % der Internetnutzenden ab 14 Jahren, in der Grup-
pe der 14 bis 29-jährigen sogar 85 % (Tippelt, Kupferschmitt, 2015: S. 443)
Die Computerbasierung der Kommunikation scheint gerade für die An-
bahnung von Liebesbeziehungen Potentiale zu eröffnen (vgl. Döring,
2010, S. 34ff.; zur Verbreitung von Online-Dating vgl. Aretz et al., 2017:
S. 8ff.). Das mag überraschen, wenn man an die nüchternen Grundlagen
dieser Kommunikationstechnik, wie Digitalisierung und Computierung,
denkt. Aber bereits programmtechnisch lassen sich mittels entsprechender
Algorithmen Kontaktnetzwerke herstellen und vor allem sichtbar machen.
Die Vorlieben, mit denen sich die Liebenden in ihren persönlichen Profi-
len im Netz präsentieren, können so automatisch in Übereinstimmung ge-
bracht und beim sog. “Matching” aufeinander bezogen werden (zur Funk-
tionsweise eines Machting-Algorithmus bei Tinder siehe das US Patent
9,959,023 B2 vom Mai 2018: Online, zur Diskussion der Effizienz vgl.
Hitsch et al., 2010: S. 152ff.).
Sozial erzeugt die Virtualisierung des Persönlichen auf der Grundlage
vermittelter, gleichwohl aber individuell gesteuerter Kontakte eine parado-
xe Kommunikationssituation mittelbarer Unmittelbarkeit (vgl. Thiedeke,
2012: S. 286), die anscheinend Freiräume eröffnet, die eigene Schüchtern-
heit zu überwinden. Man muss sich “beim Daten” nicht im Café gegen-
übersitzen, persönlich auf der Straße, im Club oder im Konferenzraum
oder wo auch immer mit all dem Herzklopfen und den feuchten Händen
begegnen. Man hat Abstand beim “Abtasten”.
Im Netz kann man aus der “sozialen Deckung” (Thiedeke, 2008: S. 57)
heraus auf die Jagd nach attraktiven Partnerinnen und Partnern gehen und
so stärker, schöner, mutiger auftreten als beim unmittelbaren Begegnen.
Trotz all dem liebt man aber wohl kaum die Technologie der Wahl – falls
sie überhaupt ins Bewusstsein der Liebessuchenden treten. Wer liebt schon
die Algorithmen der Chatforen, wer liebt die Märkte, wer liebt Amors Bo-

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IX. Die Zukunft lieben

gen und Köcher, wenn es darauf ankommt, dass das Herz erbebt, wenn
sein Pfeil trifft.
Die Bedeutung der “Kontaktmärkte” (Illouz) des Online-Datings im In-
ternet für das Finden und Wählen einer Geschlechtspartnerin oder eines
Geschlechtspartners wird zudem offenkundig sowohl von der Presse als
auch von den Liebesuchenden selbst deutlich überschätzt. Online-Dating-
und Casual-Dating-Plattformen werden für die Liebesanbahnung gegen-
über Social-Media-Plattformen wie Facebook oder anderen interessenba-
sierten Treffpunkten im Internet mehr Bedeutung zugemessen, als sie em-
pirisch haben. Wirksam für das Entdecken des Begehrens ist also weniger
dessen perfekte technische Systematisierung. Stattdessen muss auch hier
dem Zufall des Kennenlernens durch zwanglose Begegnungsmöglichkei-
ten Raum gegeben werden. Burkart fasst dazu zusammen:
“Etwa ein Drittel aller Paare kommt im Freundes- und Bekanntenkreis
bzw. in der Nachbarschaft zustande. Etwa zwanzig Prozent der Paare
haben sich am Arbeitsplatz oder im Bildungssystem kennengelernt.
Ein Viertel bis ein Drittel der Paare lernte sich in Freizeitinstitutionen
kennen. (…) Angaben zu Kontaktanzeigen oder Heiratsvermittlungen
lagen in älteren Studien bei zwei oder drei Prozent. Etwa fünf Prozent
der Paare, so neuere Studien, haben sich über das Internet kennenge-
lernt – allerdings nicht primär über Online-Börsen und Agenturen,
sondern eher im Rahmen sozialer Netzwerke, deren primärer Zweck
nicht unbedingt die Partnersuche ist. (Das bestätigt die alte These, dass
man leichter einen Partner findet, wenn man keinen sucht). Bei Paa-
ren, die noch keine fünf Jahre zusammen sind, ergeben sich für das In-
ternet noch etwas höhere Anteile: 6 Prozent der Paare gaben an, sich
auf Online-Börsen kennengelernt zu haben, und sogar 10 Prozent über
soziale Netzwerke (Allensbach 2012).“ (2018: S. 71).
Die Codierung von Liebe unter interaktionsmedialen Kommunikationsbe-
dingungen ist demnach nicht nur von einem technologischen Wandel ge-
trieben, bei dem es darum geht, überall erreichbar zu sein, die Paarprofile
beim Data Mining kommerziell abzuschöpfen oder Verpaarungsbedürfnis-
se algorithmisch zu steuern. Wenn Medien sozio-technisch operieren und
wenn sie dabei Sinn kontingent strukturieren, dann hat das Auftreten neu-
er Medientechnologien immer auch soziale Sinnwirkungen (vgl. Thiedeke,
2012: S. 107f.). Es hat Auswirkungen darauf, wie man unterscheiden kann,
was man meinen und tun kann und welche Sozialität man daher für mög-
lich und normal erwartet (zu Normalitätserwartungen vgl. O. c.: S. 151).

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IX. Die Zukunft lieben

In unserem Fall bedeutet das, dass die Verwendung von Computer und
Internet als neue Kommunikationsmedien möglicherweise dazu beiträgt,
Individualität anders wahrnehmen zu müssen und die Persönlichkeitsas-
pekte der damit verbundenen Identitäten auch bei der Liebe gesellschaft-
lich anders einzubetten. Bei der Beobachtungen zur Zukunft der Liebe der
Gesellschaft liegt der Fokus also weniger auf der Liebe oder den Paarbezie-
hungen selbst. Im Zentrum der Beobachtung stehen vielmehr die Sinnbe-
dingungen der gesellschaftlichen Kommunikation individueller Identität.
So ist davon auszugehen, dass sich mit der Kommunikation im Interface
einer gesteuerten und steuernden Interaktion, in der Menschen mit Men-
schen, aber auch Menschen und Maschinen sowie Maschinen und Maschi-
nen miteinander interagieren, das individuelle Erleben von Welt als kom-
munizierbares Ereignis ändert. D. h. Es verändert sich die Beobachtung
(das Unterscheiden von Unterscheidungen) der idiosynkratischen Beob-
achter von System-Umwelt-Beziehungen.
Da damit das Interpenetrationsproblem von Individualität berührt ist,
geht es allerdings nicht nur um das Problem der Individuen, über die
Identität mit sich selbst, soziale Anschlussfähigkeit zu gewinnen. Das
Problem taucht sozusagen als “andere Seite der Medaille” in der gesell-
schaftlichen Variante auf, wie in einer modernen Gesellschaft soziale Ord-
nung möglich sein kann, wenn die Individuen als Subjekte nicht selbstver-
ständlich in gesellschaftlichen Strukturen aufgehen, weil sie auch sozial
nicht zuerst über ihre Beziehungen, sondern ihre Eigenschaften definiert
sind.
“Wenn wir ein Individuum in seiner Individualität charakterisieren
wollen, charakterisieren wir es nicht durch seine Beziehungen zu anderen,
sondern durch seine Beziehung zu sich selbst und, da dies tautologisch
ist, durch seine auf Grund dieser Selbstbeziehung erworbenen Eigen-
schaften.“ (Hervorhebungen UTh.; Luhmann, 1995: S. 126)
Wie aber ist soziale Ordnungsbildung in einer Gesellschaft möglich, die
sich mit der Inklusion des Abweichenden in Form von subjektivierter In-
dividualität auseinandersetzen muss, wenn die “riskanten Freiheiten” (vgl.
Beck, Beck-Gernsheim, 1984) eben nicht nur für die Individuen selbst, son-
dern für alle anderen ebenso riskant sind? Letztlich scheint sich diese Pro-
blemlage zumindest soziologisch auf die Frage zuzuspitzen, „(...) in wel-
cher Weise die Gesellschaftsstruktur Beliebigkeit einschränkt.“ (Luhmann,
1980: S. 17).
Tatsächlich ist davon auszugehen, dass sich das Problem sozialer Ord-
nung als Integrationsproblem individueller Identitäten mit dem Anwach-

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sen individueller Synthesemöglichkeiten von Identität(en) nicht ent-


schärft, sondern eher noch verkompliziert. Symptomatisch hierfür sind
Gedankenexperimente mit sozialen Ordnungsformen von Identitäten, die
bspw. von einem Netzwerk sozialer Phänomene ausgehen, die in
einem “turbulent context” zu verknüpften und damit zu kontrollierten
Identitäten werden (White, 1992: S. 1). Hierbei sind nicht nur Identitäten
von Personen gemeint, die durch ihre Beziehungen beschrieben und ge-
ordnet werden. Das soll vielmehr auch im Fall jener personalen und nicht
personalen Wesenheiten gelten, die sich als “Aktanden” (vgl. Latour, 2005:
S. 55) wechselseitig mit ihren Möglichkeiten, Praktiken zu praktizieren
(Agency), in ihren Eigenarten definieren und damit ein “Netz der Hybri-
de” aufspannen (Latour, 1996: S. 372).
Für die mediale Kommunikation, also die Kommunikation im gesell-
schaftlichen Zusammenhang, tritt das Problem jetzt nicht mehr nur als
utopisches oder dystopisches Beispiel (vgl. Grüne, 2018) massenmedialer,
gesellschaftlicher Selbst- und Fremdbeschreibungen in Erscheinung. Es
stellt sich, angesichts individuell vernetzter Kommunikation, nicht mehr
nur als Spezialproblem soziologischer Analyse, der Kunst, der Seelsorge
oder der Psychotherapie. Das Problem ist Teil der Alltagsrealität geworden
und wird in alltagsweltlichen Sinnkontexten kommuniziert.
So lange gesellschaftliche Beschreibungen primär an repräsentativen
Formen orientiert waren, wie sie für eine Gesellschaft normal erscheinen,
die ihren kommunikativen Selbstbezug vornehmlich durch massenmedia-
le Kommunikation realisiert (Thiedeke, 2012: S. 201), war es noch mög-
lich, das Problem als kommunikative Abstraktion der individuellen Ab-
weichungen zu behandeln. In dem Fall wird das jeweilige Individuum auf
der gesellschaftlichen Ebene als “Form Person” (Luhmann, 1991) behan-
delt, deren Identität eine kommunikative Attribution darstellt. Sie reprä-
sentiert die kommunizierbaren Erwartungen eines auf ein Individuum ab-
gebildeten Sets abweichender Möglichkeiten. Je nach sozialem Kontext,
dem sie zugerechnet wird, variiert dann das, was die Person erwarten lässt.
In organisatorischen Kontexten etwa wird die Zurechnung durch orga-
nisationsspezifische Erwartungen stark eingeschränkt und durch Formali-
sierung so abgesichert, dass das Individuum, auf das sich die Attribution
der Person bezieht, austauschbar erscheint. So sind etwa die Erwartungen
zu den persönlichen Befindlichkeiten eines “Antragstellers” oder ei-
nes “Kunden” deutlich begrenzt. Im Gegenzug lässt sich so die Integration
– also die durch Anspruchsrechte und Leistungspflichten begrenzte Inklu-
sion – in die Funktionssysteme der funktional differenzierten Gesellschaft
(vgl. Stichweh, 1988: S. 262ff.) auch für “Einzelfälle” realisieren und gesell-

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schaftlich, über die Einzelfälle hinaus, einordnen. Mit Bezug auf den Staat
als Organisationsform der Politik merkt Maren Lehmann dazu an:
„(...) der mediatisierte Staat ist eine Organisation bzw. genauer ein Ge-
flecht von Organisationen, das den Einzelnen in ein moderates, näm-
lich durch Entscheidungen vermitteltes Verhältnis zur Gesellschaft
bringt. Die Organisation ist eine Zweitversion der Gesellschaft in der
Gesellschaft, ein Parasit ihrer Variabilität, ein Parasit auch ihrer Fun-
dierung in Differenzen (...)“ (2015: S. 325f.)
Der Attributionsspielraum der Erwartungen an eine Person kann aber
auch deutlich erweitert sein. Das ist etwa an der Codierung der Erwartun-
gen der romantischen Liebe ablesbar. Hier wird die Person überhaupt erst
dadurch erwartbar, dass sie ihr Innerstes in Form von Gefühlen, Wün-
schen, Begierden als Teil ihres idiosynkratischen Weltzugangs zu erkennen
gibt. Genau diese Innerlichkeit sollte sie gegenüber dem geliebten Gegen-
über möglichst nach Außen kehren und darf das dann wiederum ebenso
erwarten, wenn die Liebe erwidert wird. Aus der Perspektive ihrer gesell-
schaftlichen Einordnung wird die liebende Person damit gleichzeitig
zum “Experten” oder zur “Expertin” und zum “Fall”, den es zu “behan-
deln” gilt. Man denke etwa an die Gleichzeitigkeit von Publikums- und
Leistungsrollen für die Beteiligten von Intimbeziehungen in der funktio-
nal differenzierten Gesellschaft (Stichweh, 1988: S. 272f.).
An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass es nicht über-
rascht, dass diese sozial “explosive” Form der gefühlsorientierten und so-
mit “innerlichen” Personenattribution für die gesellschaftliche Interpene-
tration von Individuen bei der Liebe sozial sowohl kommunikativ, als
auch semantisch im “Containment” der exklusiven Paarbeziehung einge-
schlossen ist.
Individuelle Identität wird also ganz entsprechend der Möglichkeiten
der Repräsentation auch in der Praxis des Umgangs mit Personen als sozia-
le Abstraktion behandelt. Als Zurechnung ist sie formal begrenzt oder ent-
faltet sich erst in den Exklusionsbereichen der Gesellschaft, wie etwa im
Spiel (vgl. Thiedeke, 2010: S. 17ff.). – Und erst diese sind dann gesellschaft-
lich inkludiert.
Als Indikator für diese Inklusion des Exklusiven können nicht zuletzt
die umfangreichen, teilweise ideologisierten “Diskurse” über Paarbezie-
hungen und ihre Verbindung zu Liebeskonzepten dienen (vgl. Burkart,
2018: S. 245ff.). Die Synthesemöglichkeiten der Individuen, sich selbst zu
erfinden und darüber in der Gesellschaft zu verwirklichen, bleiben struk-

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turell anhand gesellschaftlicher Problemlösungserfordernisse auf diese


Weise begrenzt und kontrollierbar.
Der grundsätzliche Wandel der gesellschaftlichen Wirksamkeit indivi-
dueller Synthesemöglichkeiten scheint sich heute aber auf einer anderen,
viel konkreteren Ebene zu vollziehen und so – quasi “von unten” – die Lo-
gik der Repräsentation zu unterwandern. Gemeint ist die Ebene der Ver-
mittlung von Synthesemöglichkeiten sprich, die Ebene der medialen Reali-
sierung von Kommunikation.
Wenn bei den interaktionsmedialen Mitteilungen im Kommunikations-
prozess alle, die kommunizieren und all das, was mitkommuniziert, an ein
computerbasiertes sozio-technisches Interface angeschlossen sind, so wird
die Art und Weise wie kommuniziert wird für die gesteuerten und steuern-
den Strukturierungsmöglichkeiten des Sinns der Kommunikation geöff-
net.
Die Kommunikationsbedingungen der Vermittlung sind jetzt selbst Teil
der Synthese von Sinnmöglichkeiten. Die heute viel diskutierten Anwen-
dungen der “künstlichen Intelligenz” (KI) erscheinen dazu als zugespitzte
Illustration. Digitale Assistenten oder Bots verstehen nichts, weil sie die
Unterscheidung von Unterscheidungen, nämlich von Information und
Mitteilung, nicht wiederum als selbst gewählte und bewertete Unterschei-
dung beobachten. Das eigenständige computerbasierte Verstehen als Er-
gebnis etwa von Lernprozessen und Grundlage neuer Lernprozesse ist da-
her weiterhin eine Herausforderung der sog. starken KI, die menschliche
Verstehens- und Lernprozesse maschinell reproduzieren will (vgl. etwa Ka-
plan, 2017: S. 82ff.). Die heutigen “smarten” digitalen Assistenten steuern
bislang nur Mitteilungsmuster.
Obwohl sie in ihrem Operieren selbst “sinnblind” sind, strukturieren sie
gleichwohl den Sinn von Kommunikation. Sie sortieren z. B. Unterschei-
dungsmöglichkeiten und wirken so auf das Verstehen der Kommunikati-
on und deren Anschlussfähigkeit ein. – Das ist etwa der Fall, wenn Social
Bots das “Meinungsklima” in Diskussionen der Social Media beeinflussen
(vgl. Ross et al., 2019: Online) oder ein Chat-Bot (ein Beispiel unter vielen:
https://www.lovebot.me/) “Tipps” gibt, wie ein Identitätsprofil für mehr
Erfolg beim Flirten zu gestalten ist.
Diese kybernetische Strukturierung von Sinnmöglichkeiten beeinflusst
deshalb auch die Art und Weise, durch Kommunikation eine individuelle
Person zu sein. Dieser Einfluss ist jedoch nicht mehr vor allem an den er-
eignishaften Statusänderungen der Weltwahrnehmung (Informationen)
und auch nicht mehr vorrangig am Verstehen von “Inhalten” der media-
len Kommunikation festzumachen.

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Auf der Basis der derzeit verwendeten Digitalcomputer bedeutet das, al-
les, was digital kommuniziert, wird digitalisiert. Alles, was digitalisiert ist,
wird berechnet. Alles, was berechnet wird, wird zum Material einer gestal-
teten und gesteuerten Synthese. Im Kontext der Computernetze wie dem
Internet vollzieht sich diese Synthese zudem paradox, nämlich massenhaft
individuell (Thiedeke, 2012: S. 281ff.), in mittelbarer Unmittelbarkeit (O. c.:
S. 274f.) der mittels Berechnung verknüpften, berechnenden Individuen.
Erstmals verwirklicht sich das Diktum von Marshall McLuhan “the me-
dium is the massage” (1968: S. 17). Es besagt, dass das Medium selbst in sei-
ner Art zu kommunizieren und nicht das, was “darüber” vermittelt wird
(“die Inhalte”), den sinnstrukturierenden Unterschied der Kommunikati-
on bedingt. Eigentlich müsste man angesichts der Kommunikation in ky-
bernetischen Interaktionsmedien sogar sagen, dass das Medium jetzt die
Welt (der Weltsichten) geworden ist: “The medium is the world!“
Ein Indikator für diese Entwicklung mag die Umstellung der individuell
unterscheidbaren Identität von Personen sein. Sie wandelt sich von der At-
tribution einer einheitlichen, über unterschiedliche Handlungssituationen
hinweg konsistenten, Identität zu einem Arrangement von Identitätsaspek-
ten, deren Expression je nach sozial-thematischem Kontext der interakti-
onsmedialen Kommunikation variiert, wodurch z. B. “Konsistenzlücken”
(“contextual gaps” vgl. Hull et al., 2011) im erwarteten Verhalten auffällig
werden oder “unpassende” Identitätsaspekte den gerade kommunmikativ
aktiven sozialen Kontext stören können (“context collapse” vgl. Marwick,
boyd, 2011). Kommunizierte Identität wird so aspektgetrieben zur Kompo-
sition einer Art “Multität”, wobei andere jeden kommunizierten Aspekt als
bewussten Identitätsausdruck wahrnehmen können (vgl. Baym, 2010:
S. 120). Der Zusammenhalt einer als authentisch verstandenen Identität er-
fordert dann ein aufwendiges Identitätsmangement (vgl. Maireder, Ausser-
hofer, 2013: Online).
Das mündet jedoch nicht zwangsläufig in die Katastrophe dissoziierter
Identitäten, die sozial nicht mehr anschließbar sind, weil sie in ihrem Sta-
tus des Weltbezugs (wer ist die Person, wer will die Person sein, worauf be-
zieht sie sich in ihrer Persönlichkeit?) nicht mehr erwartbar wären.
Die Identitätsaspekte der Form Person werden bei ihrer Kommunikati-
on im Interface interaktionsmedialer Kommunikation vielmehr durch ein
Netzwerk aufeinander verweisender Bezüge gesteuerter (eben: kyberneti-
scher) Gestaltung wieder integriert. Das Prozessieren von Kommunikation
durch kybernetische Interaktionsmedien, das als Berechnung beliebiger
Variablen zu beschreiben ist, lässt die hier kommunizierten Identitäten
synthetisch werden, weil auch sie berechenbar sind – was etwa in den Fi-

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guren einer “algorithmischen Identität” (vgl. Cheney-Lippold, 2011:


S. 165) sowie von Facebook oder Google kreierten “Data-Doubles” (vgl.
Raley, 2013: 127) öffentliche Aufmerksamkeit erregt.
Da die kommunikativen Operationen im Interface durch die Computer
realisiert werden, erscheint individuelle Identität in dieser Sichtweise als
algorithmisch kontrollierte und aggregierte Matrix an Identitätsaspekten.
In ihrer jeweiligen, einzigartig abweichenden, Konfiguration definieren sie
die Unverwechselbarkeit der Person im gesellschaftlichen Umgang.
Oberflächlich betrachtet scheinen die interaktionsmedial kommunizier-
ten Identitäten zu einer Agglomeration von Daten verdichtet, in die alles,
was vernetzt ist, hineinschreibt und herausliest. Deshalb liegt hier ein Ma-
nipulationsverdacht nahe. Irgendetwas, das für gewöhnlich individuell un-
zugänglich bleibt, seien das Algorithmen, der Staat, die Geheimdienste,
die Konzerne oder gar die Macht selbst, scheint diese Matrix an Identitäts-
aspekten aus Gründen der Steuerung, Kontrolle, Vermarktung oder Be-
herrschung panoptisch zu beobachten und zu manipulieren (vgl. für ande-
re Andrejevic, 2014: S. 182; zur gesellschaftlichen Problematik etwa des
sog. Predictive Policing vgl. Goudert, 2015: Online). Sie scheinen eine re-
präsentative Selbstbeschreibung individueller Identität zu ihren Zwecken
zu erzeugen, ja geradezu zu erzwingen.
Diese Beobachtung könnte allerdings zu kurz greifen. Sie wirkt noch be-
fangen durch Affekte, wie sie das massenmediale Dauerfeuer an exemplari-
schen Ereignissen und Personen als Normalitätserwartung im repräsentati-
ven Sinnhorizont massenmedialer Öffentlichkeit hervortreibt (Thiedeke,
2012: S. 335ff.).
Im Interface der interaktionsmedialen Kommunikation sind aber nicht
nur repräsentative, exemplarische, sondern alle individuellen Haltungen
und Akteure mit ihren Erwartungen, auch zu ihrer sozialen Einschätzbar-
keit und Berechenbarkeit, verbunden. Alle wollen voneinander wissen,
was gilt. Welche Identität wird z. B. individuell in bestimmten themati-
schen Kontexten – etwa beim Casual- oder Online-Dating – ausgespielt?
Wie werden die Identitätsaspekte offenbart? – Daraus scheint sogar unmit-
telbare, emotionale Gratifikation zu resultieren (vgl. Huang, 2016: S. 128).
Das macht es so attraktiv, z. B. bei Facebook oder Twitter aktiv zu sein
und zu beobachten, wer mit wem verfreundet wird, wer, was, wann, wo
liked oder disliked, wie Tweets geretweetet werden, wer sich auf welche
Weise über Onlinepetitionen oder Follower definiert, wie vielfältig oder
beschränkt sich Persönlichkeit in Instagram-Posts abbildet usw. Das macht
es für die, die Lust an der Vernetzung und “Verlikung” von selbst darge-
stellten Identitäten aus der Distanz beobachten, so unverständlich, wenn

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sie sich etwa über das “Privacy Paradox” (Barnes, 2006: Online) wundern,
das im Grunde nur ein einfacher Widerspruch zwischen der Kenntnis
mangelnden Datenschutzes und der Lust an Selbstoffenbarung in den So-
cial Media (genauer Taddicken, 2014: S. 265ff.) ist.
Findet diese selbst- und fremdreflexive Vernetzung von Identitätsaspek-
ten als Karneval unmöglicher Möglichkeiten statt, dann ist die Beobach-
tung und Kontrolle von individueller Identität und damit die kyberneti-
sche Vernetzung synthetischer Personen aber nicht mehr pan-, sondern
nur noch multioptisch zu erfassen. Die Matrix der durch Computer als
Medien ermöglichten Erwartungen – der Sinnhorizont des “Cyberspace” –
erscheint nicht nur fremd-, sondern auch selbstkonstruiert (vgl. Thiedeke,
2004: S. 133ff.).
So kann eine synthetische Identität entstehen, deren Individualität
durch Vernetzung von Synthesemöglichkeiten definiert wird und deren
Regelmäßigkeit zumindest anhand der Projektförmigkeit vermutet wer-
den kann, in der sich die synthetischen Identitäten ähneln. – Das alles
muss man sich als Geschehen vorstellen, das sich niederschwellig fast “ne-
benbei” realisiert. Man kommt in der Regel ganz ohne Programmierkennt-
nisse aus. Die Synthese geschieht einfach dadurch, dass man sich “ins
Netz” begibt und dort kommunikativ “bewegt”.
Damit ist also mehr und anderes gemeint als nur die Anhäufung, Ver-
knüpfung und Auswertung von Daten zu den vernetzten Individuen. De-
ren Identitätsprobleme unter Bedingungen der sog. “Digitalisierung” las-
sen sich nur unzureichend als Personalisierung durch Algorithmen (vgl.
Napoli, 2014; Schweiger, 2017) und Probleme des Datenschutzes (vgl. Gay-
ken, 2016: Online) beschreiben. Auf diese Weise werden die Erwartungen
zum Entgrenzungspotential der kybernetischen Synthesemöglichkeiten
unterschätzt. Gemeint sind Erwartungen, überall eingreifen zu können,
nichts mehr als gegeben hinnehmen zu müssen, Effekte eigener Eingriffe
sofort und nicht erst nach Abwarten zu realisieren, selbst die Regeln zu de-
finieren, sich vielleicht sogar omnipotent zu fühlen.
Der Prozess, in dem sich solche Entgrenzungserwartungen formieren ist
allerdings nicht per se als Demokratisierung zu begreifen – was durchaus
enttäuschte Erwartungen nach sich ziehen kann (symptomatisch Augstein,
2017). Sie sind zumindest auf den ersten Blick auch nicht anhand von vor-
dergründigen Strukturvariablen wie sozialen oder “digitalen” Ungleichhei-
ten oder von Strukturkonflikten, etwa um politische Partizipation, zu er-
fassen.
Man muss vielmehr die Verschiebungen von Haltungen und Praxen als
Expressionen dieser Erwartungen beobachten, die sich konstruktiv oder

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destruktiv auf Selbstmachen, Selbstsorge, Selbstästhetisierung, Vertrauen


in kybernetische Techniken und Misstrauen gegenüber Repräsentation
und Professionalität bis hin zu Selbstjustiz beziehen (vgl. die Beiträge in
Holfelder, Schönberger 2017; Heyen et al., 2019; Liebert 2015: Online)
und die in kybernetisch gesteuerte und sich selbst steuernde kontingente
Ordnungen münden. Scott Lash hat eine solche Formation von Entgren-
zungserwartungen in einem Übergang von einer hegemonen zu einer post-
hegemonen Ordnung der Ermächtigung pointiert zusammengefasst:
“If the hegemonic order works through a cultural logic of reproduc-
tion, the post-hegemonic power operates through a cultural logic of in-
vention, hence not of reproduction but of chronic production of eco-
nomic, social and political relations.“ (2007: S. 56)
Der kybernetisch ermöglichten Selbstermächtigung sollte auch deshalb
Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil der Sinnhorizont dessen, was bei
interaktionsmedialer Kommunikation normal erscheint, auch dann und
für die gilt, die selbst gar nicht oder nur gelegentlich interaktionsmedial
kommunizieren.
Zum Ausdruck kommt das in meist wenig beachteten Effekten der Ver-
netzung, besonders bei der interaktionsmedialen Kommunikation in den
Social Media. Hier wird die Beschreibung der individuellen Identitäten
und die soziale Positionierung ihrer Anschlussfähigkeit fast en passant
z. B. über eigene und fremde “Likes” realisiert (vgl. etwa Coté, Pybus,
2011: S. 55). Aspekte der Selbstkontrolle über die Zirkulation von Identi-
tätsaspekten und Darstellungen (vgl. für Online-Dating Gibbs et al., 2011:
S. 90) gewinnen an Bedeutung als Grundlage von selbstoffenbarenden
Identitätserzählungen und von Sozialkapital, das wiederum die Bereit-
schaft zur interaktionsmedialen Selbstoffenbarung unterstützt (vgl. Trepte,
Reinecke, 2012: S. 1109). In der Folge können regelrechte Archive von
Identitätsaspekten erzeugt und Individualität so als interaktionsmediale
Sozialität generiert werden.
“Moreover, (…), it is precisely this social value propels the production
of our digital arcives. Our data profiles are, in this sense, not just sites
of surplus value but important spaces for sociality, and hence subjec-
tivization. Yet such digital archives only exist when social and econo-
mic relations elide.“ (Pybus, 2015: S. 236)
Die Besonderheit der kybernetischen Individualität liegt somit weniger da-
rin, dass hier Daten prozessiert und etwa bei den Korrelationen des Data
Minings in den Big-Data-Beständen geclustert werden (vgl. Reichert,

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2014). Das Ergebnis der interaktionsmedialen Operationen im Interface ist


nicht nur ein Arrangement des Gegebenen, der “Daten” (Datum = lat. “das
Gegebene”).
Im Anschluss an die von Villém Flusser gemachte Unterscheidung (Flus-
ser, 1998: S. 214) ist vielmehr zu behaupten, dass jetzt nicht nur eine Indi-
vidualität der Daten, sondern eine Individualität der Fakten (Faktum =
lat. “das Gemachte”) möglich geworden ist. Diese individuell produzier-
ten, individuellen Identitäten sind zudem selten isoliert, wenn sie interak-
tionsmedial kommuniziert werden. Sie werden vernetzt geteilt, durch ver-
netzte Kontakte vermittelt, bewertet und so wiederum neu synthetisiert.
Flusser hatte in einer Zeit, in der die allgemeine mobile Vernetzung über
Interaktionsmedien noch keine Alltagsrealität war, die zutreffende Intuiti-
on:
“Wir haben uns selbst – unsere 'Selbste' – als eine derartige 'digitale
Steuerung', als Verwirklichung von Möglichkeiten dank dichter Streu-
ung zu begreifen. Wir müssen uns als Krümmungen oder Ausbuch-
tungen im Feld einander kreuzender, vor allem zwischenmenschlicher
Relationen verstehen. Auch wir sind 'digitale Komputationen' aus
schwirrenden Punktmöglichkeiten.“ (O. c.: S. 212).
Für eine gesellschaftliche Ordnung des Abweichenden ist mit den sozio-
technischen Kommunikationsbedingungen der kybernetischen Interakti-
onsmedien jedenfalls eine Sinngrundlage gegeben, auf der soziale Ord-
nungsbildung durch Synthese des Differenten tatsächlich möglich er-
scheint.
Anders noch als zu Simmels Zeiten, der eine soziale Ordnung als Zu-
sammenhang von individuellen Synthesen entworfen hatte (vgl. Simmel,
1922: S. 21ff.), aber die Bedingungen ihrer Wechselwirkung kaum nach-
vollziehbar erklären konnte (vgl. Luhmann, 1981: S. 253), erscheint jetzt
die Synthese aller mit allen und allem als digital realisierte und korrelativ
verknüpfte Beschreibungen individueller Identitäten plausibel. Und sie er-
scheinen plausibel, weil an die vernetzten Identitätsbeschreibungen wiede-
rum soziale Formen und Systembildungen etwa von sozialen Netzwerken
oder virtuellen Gemeinschaften und Gruppen (vgl. Thiedeke, 2008:
S. 54ff.) anschließen.
Individualität wird so in ihrer einzigartigen Verschiedenheit als Schnitt-
punkt von Selbst- und Fremdbeschreibungen kommunizierbar. In “alten”,
noch am massenmedialen Sinnhorizont orientierten Termini könnte man
davon sprechen, dass Individualität zwischen den Polen von Öffentlichkeit
und Privatheit entsteht. Jetzt aber – und das ist neu im Sinnhorizont der

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Interaktionsmedien – geschieht dies, in dem alle medial Kommunizieren-


den die Expression dieser Individualität durch ihre Kommunikatio-
nen “einregeln” (vgl. Dickel, 2012: S. 345).
Abgesehen davon, dass die individuelle Art und Weise sich im Netz zu
bewegen, automatisch und begleitend zu Identitätsmustern verdichtet
wird – etwa durch Technologien des “frictionless sharing” (vgl. van Dijck,
2013: S. 65ff., 155ff.), postet man nicht nur selbst Bilder auf Instagram,
tweetet auf Twitter und tindert auf Tinder. Auch die vernetzten Freunde
beschreiben oder ergänzen die Identitätsdarstellungen ihrer Freunde schon
alleine durch ihren für andere sichtbaren Kontakt und ihre Bewertungen
und Kommentare – etwa durch Verwendung des “Like”-Buttons bei Face-
book (vgl. Eranti, Lonkila, 2015: Online; zur Funktionalität vgl. Sumner et
al., 2017: Online), vor allem aber, indem man Meinungen, Erfahrungen,
Wünsche oder Bedürfnisse sowie soziale Statusmeldungen “teilt” (vgl. Di-
ckel, 2012: S. 336).
In der Art und Weise wie diese Ordnung in den Interaktionsmedien zu
Stande kommt und wie sie sich reproduziert, liegt allerdings ein erhebli-
ches Irritationspotential für die primäre, funktionale Differenzierungs-
struktur der Gesellschaft mit ihren spezialisierten Zuständigkeiten sozialer
Teilsysteme. Semantisch wird die Wahrnehmung eines grundsätzlichen
Wandels von Sinnbedingungen anhand von Utopien und Dystopien einer
durch Computierung und Digitalisierung geprägten Gesellschaft daher
auch kontrovers diskutiert (vgl. Dickel, 2013: S. 331; vgl. für utopische und
dystopische “Wellen” Schrape, 2016).
Das Hereindrängen individueller Abweichungen und ihre Strukturie-
rung anhand idiosynkratischer Kriterien der personalisierten Netzwerke
scheint das Problem zu verschärfen, das schon darin bestanden hatte, die
Teilweltsichten einer in spezialisierte Teilsysteme differenzierten Gesell-
schaft so aufeinander zu beziehen, dass die offensichtlichen Unterschiede
soziale Ordnungsbildung nicht verhindern. Damit erscheint einerseits ein
Begriff von Einheit, etwa derjenige der “Gesellschaft”, kritisch und zu-
gleich werden Unterschiede zur “Geschäftsgrundlage” sozialer Ordnung.
Maren Lehmann hat das für die funktional differenzierte Gesellschaft mit
Bezug auf Dirk Baeckers Überlegungen zur “nächsten Gesellschaft” (2007)
pointiert zusammengefasst:
“Er [der Gesellschaftsbegriff; Anm. UTh.] bezeichnet jenen Rahmen,
in dem soziale Ordnung in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht
durch Differenzierung und nicht durch Identifizierung erreicht wird,
in dem es auf Kommunikation und nicht auf Communio ankommt
(…). Im ‚und nicht’ liegt das differenzierende, funktionale Moment,

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IX. Die Zukunft lieben

das die Gesellschaft bestimmt. Die Elemente dieser Ordnung sind in


allen ihren Varianten Unsicherheiten und deshalb in allen ihren Vari-
anten ‚Kontrollprojekte’ (...).“ (2015: S. 312f..)
Bislang hatte die “Lösung” dieses Ordnungs- und Kontrollproblems in
einer Repräsentation von Einheit, z. B. von Gesellschaft, anhand funkti-
onsspezifischer Teilprobleme bestanden, also etwa im Betreiben von Ge-
sellschaftswissenschaft, in der künstlerischen Kritik an Gesellschaft, im An-
mahnen gesellschaftlicher Verantwortung durch Religion, im Bezug auf
die Gesellschaft der anderen, die nicht zur Intimität einer Liebes-Beziehun-
gen gehören usw. Oder wie André Kieserling notiert: “Jedes Teilsystem re-
präsentiert die moderne Gesellschaft, aber nur dann, wenn das Thema die
eigene Zuständigkeit berührt.“ (2001: S. 185)
Medial wurde dieses Problem in der Vergangenheit mit dem Entstehen
der massenmedialen, an exemplarischen Ereignissen und Personen orien-
tierten, Öffentlichkeit aufgefangen (Thiedeke, 2012: S. 338ff.). Deren inte-
grative Leistungsfähigkeit lag bisher darin, dass sich in ihr alle Teilsysteme,
aber auch alle kommunikativ an die gesellschaftliche Kommunikation an-
geschlossenen Individuen, repräsentativ gespiegelt sehen konnten (vgl.
Luhmann, 1996: S. 184f.). Für die Politik repräsentierte sie die öffentliche
Meinung, für die Religion eine Heilsgemeinschaft, für die Wirtschaft den
Markt und für Individuen Bedeutung. Auch Abweichung wurde hier re-
präsentativ vermittelt, also anhand von etwas, das die Abweichung selbst
beispielhaft vertritt, aber nicht die Abweichung selbst ist.
Mit der öffentlichen massenmedialen Kommunikation war und ist aber
unweigerlich ein Authentizitätsproblem verbunden (vgl. Thiedeke, 2012:
S. 342). Es kann sich mal als Verdacht der Entfremdung durch die Machen-
schaften der “Kulturindustrie” (Horkheimer, Adorno, 1969), mal als Ver-
dacht der Wirklichkeitsverfremdung durch die “Lügenpresse” (vgl. etwa
Hagen, 2015) artikulieren und betrifft selbst die Authentizität individuel-
ler Selbstverwirklichung bzw. deren gesellschaftliche Vermittlung. So hält
etwa Markus Schroer zur Problematik öffentlichkeitswirksamer Selbstthe-
matisierung unter massenmedialen Kommunikationsbedingungen fest:
“Die Selbstthematisierung ist folglich nicht mehr länger als solipsisti-
sche Übung ohne Zuschauer und Publikum vorstellbar wie beim Ta-
gebuchschreiber, auch richtet es sich nicht auf ein konkretes Gegen-
über wie etwa beim Brief. Selbstthematisierung heute erfolgt vielmehr
vor allem öffentlich und expressiv, mit möglichst vielen Zuschauern
bzw. vor möglichst großem Publikum. Dabei muss heute jegliche
Selbstthematisierung, will sie sozial wirksam werden, durch das enge

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Nadelöhr der öffentlichen Aufmerksamkeit, die als knappste Ressour-


cen aller Waren in der politischen Ökonomie der Postmoderne gelten
kann (…).“ (2010: S. 280).
Vermutlich hat gerade diese Irritation die Suche nach alternativen, media-
len Kommunikationsmöglichkeiten forciert, die potenziell allen einen un-
mittelbaren, vermeintlich authentischen Zugang zur Kommunikation der
Gesellschaft versprechen. Mit der interaktionsmedialen Kommunikation
scheint die authentische Selbstvermittlung individueller Identitäten (vgl.
etwa zur Namenswahl Gatson, 2011: S. 230f.; zu authentischen Identitäts-
konstruktionen Hu et al., 2015) gerade aus pseudonymen und thematisch
spezialisierten Online-Kontexten heraus (vgl. Wängqvist, Frisén, 2016:
S. 145f.) und mit der Grundierung der eigenen, “echten” (auch negativen)
Emotionen nun nicht nur privat im Bekannten- oder Freundeskreis, son-
dern im gesellschaftlichen Maßstab möglich – siehe etwa die positiven Re-
aktion auf Offenheit und Neurotizismus auf Facebook (Barekt-Bojmel et
al., 2016: S. 790).
Es kann deshalb eine Art Hyperindividualisierung sichtbar werden, die
auch die Kommunikationsnormen der funktional differenzierten Gesell-
schaft herausfordert und eine Krise der Repräsentation nach sich zieht. Es
wird eine Tendenz zur spontanen, authentischen, und das bedeutet immer
auch zur emotionalisierten, Selbstentäußerung individueller Haltungen,
Ideen, Bedürfnisse und Begierden erkennbar. Zugleich wird interaktions-
medial eine detaillierte Abbildbarkeit der Einzelnen anhand von Identi-
tätswerten, Relationen und Reputationswerten möglich. Was der Soziolo-
gie Anlass genug ist, eine neue, nicht mehr klassenspezifische, sondern hy-
perindividuelle Ungleichheit zu vermuten (Mau, 2017: S. 273ff.).
Aber diese Form individueller Selbstvermittlung geht noch über das hi-
naus, was die massenmediale Kommunikation an “fünfzehn Minuten
Ruhm” (Warhol) für jeden versprochen hatte. Die hyperindividualisierte
Selbstvermittlung übertrifft die Möglichkeiten und Probleme, massenme-
dialer Aufmerksamkeitsinszenierung schon durch ihre paradoxe Eigenheit
als zufällige Inszenierung aufzutreten. Um als Individuum Aufmerksamkeit
zu erlangen, muss man nur individuell vernetzt im Interface kommunizie-
ren.
Jetzt kann jede Form des Identitätsarrangements, jede Form des individu-
ellen Welterlebens und Handelns in der vernetzten Kommunikation sicht-
bar werden und intentional oder automatisch an jede andere individuelle
Weltperspektive angeschlossen werden. Alle Digitalisierten sind damit in
die Lage versetzt und herausgefordert, ein darauf eingestelltes Vernet-

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zungsmangement zu betreiben, wenn sie ins Interface der Interaktionsme-


dien eingebunden sind.
“Es ist also gerade die Medialität des Netzwerks, die unterschiedliche
Kontexte miteinander in Beziehung setzt – und damit aber auch jene
Praktiken der User transformiert, die es ihnen erlauben, diese Kontex-
te zu unterscheiden und zu wechseln.“ (Barth, 2016: S. 472)
Es mag sich um noch so spezialisierte, originelle oder abseitige Entwürfe
von Welterleben und Welterhandeln handeln, als dass sie jetzt keine Form
der Aufmerksamkeitspräsentation fänden. Sie mögen noch so speziell sein,
im Netz lässt sich jemand oder eine Gruppe finden, der oder die sie wahr-
nimmt, unterstützt, wertschätzt oder sich damit auseinander setzt, sie ab-
lehnt oder bekämpft (zu Demarginalisierungs- und Empowerment-Effek-
ten vgl. Eichenberg, Döring, 2006: S. 144ff.; zur Bildung Gewalt verherrli-
chender Gruppen vgl. Paton, 2012: S. 216ff.) – was sich bis zu “Candy-“
oder “Shit-Storms” (vgl. die Beiträge in Haarkötter, 2016) steigern kann.
Aber auch Übertreibungen stellen Anschlusskommunikationen dar.
Diese interaktionsmediale Hyperindividualisierung lässt den Einzelfall
origineller oder irritierender Weltwahrnehmungen selbst und nicht mehr
nur sein Beispiel oder seine Kategorie etwa in der individuellen Ausstel-
lung von “Coolness” (vgl. Barth, 2016: S. 477) kommunikabel werden. Sie
zerfällt bei interaktionsmedialer Kommunikation somit nicht mehr in ato-
misierte Absonderlichkeiten und isolierte Ideen. Sie lässt sich auch nicht
mehr einfach der marginalisierten Kategorie seltsamer Verhaltensweisen
von Sonderlingen zuordnen, auch wenn der “Nerd” eine, vor allem mas-
senmedial, beliebte Figur bleibt, um allzu sehr mit den Computern ver-
schmolzene Individuen als skurrile Außenseiter vorzuführen (vgl. Kendall,
1999).
In der Struktur des Interfaces, die auf der Vernetzung von Berechnun-
gen basiert, wird dann bei der interaktionsmedialen Kommunikation
nicht nur der beispielhafte Einzelfall des individuellen Meinens und Wol-
lens eingefangen. Interaktionsmediale Strukturierung mündet auch nicht
ausschließlich in den Serviceergebnissen einer mehr oder minder komfor-
tablen digitalen Überwachung, so dass Amazon weiß, welches Buch oder
welches elektronische Gadget der “Einzelfall” als nächstes wünschen wird
oder dass die Polizei durch “digitale Forensik” darüber Kenntnis hat,
wann, welches Individuum, welche Straftat an welchem Ort, zu welcher
Zeit begehen wird (vgl. Beck, McCue, 2009: S. 18ff.).
Hyperindividualisierung, wie sie das Internet hervortreibt, wird jetzt
vielmehr als Einheit der Differenz möglich, obwohl sie im Verständnis einer

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noch von Repräsentation geprägten gesellschaftlichen Kommunikation


vor allem als exzessiver Einzelfall wahrnehmbar erscheint.
Die tatsächliche Entwicklung medialer Kommunikation ist aber wohl
bereits weiter fortgeschritten. Jetzt werden die Ähnlichkeiten zwischen
den Abweichungen berechnet und miteinander kontaktiert. Sie werden so
zum Material neuer individueller Synthesen, was semantisch Anlass gibt,
über eine “Kultur des Remixes” als Prinzip von Vergemeinschaftung zu
spekulieren (vgl. Stalder, 2009: Online). Sie könnte sich vielleicht – so die
Hoffnung – zumindest als neue Arbeitshaltung mit subversivem Potential
erweisen (vgl. Negri et al., 1998).
Mit diesem interaktionsmedialen Kontaktschluss entstehen Brücken the-
matischer und emotionaler Gemeinsamkeiten sowie Strukturen der Aner-
kennung und Selbstbestätigung. Alle und alles können und kann allgemei-
ne Gültigkeit behaupten und zum Teil gesellschaftlicher Weltwahrneh-
mung werden, weil nichts mehr isolierbar, sondern alles wirksam und Be-
dingung seiner Synthese ist.
Wohin das im Detail, gerade in Hinblick auf die Interpenetration von
Individualität(en), führen wird, ist bislang mehr zu vermuten, als in seinen
empirischen Auswirkungen genau zu erfassen. Mit der Etablierung der
konnektiven Hyperindividualisierung kann zumindest eine Infragestel-
lung von Vorstellungen einer eindeutigen, ein Individuum repräsentieren-
den, Identität und damit verbunden, der eindeutigen Identifizierung einer
Person anhand eingegrenzter Persönlichkeitsmerkmale vermutet werden.
– Vielleicht lassen sich die Versuche, Personen anhand immer “fälschungs-
sicherer”, z. B. biometrischer Merkmale, zu identifizieren, als symptomati-
sche Reaktion auf eben diese Entwicklung deuten (vgl. Engemann, 2018).
Welche Konsequenzen das für die vergesellschafteten individuellen
Identitäten hat, wenn wir diese als kommunizierbare Attributionen von
Persönlichkeitsvariablen auf Individuen verstehen, ist ebenfalls noch unge-
wiss. In der interaktionsmedialen Kommunikation der Computernetze ge-
hören kontextuell variierende Identitäten, abgebildet in den selbst gewähl-
ten Nicknames (vgl. etwa Lindholm, 2013: S. 437; Hoppe et al., 2018:
S. 226f.) und selbst gestalteten Profilen oder gar Avataren auf diver-
sen “Plattformen” in den Social Media oder Online-Computerspielen (vgl.
Trost, 2014: 27ff.), zur Normalität der Individualisierung. Das Individuum
tritt hier mit einer Wolke von thematisch differenzierten Identitäten in die
Cloud des Interfaces ein.
Vielleicht resultiert, anlog zu der Forderung eines Rechts auf Privatsphä-
re, aus dieser Entwicklung interaktionsmedialer Individualisierung eines
Tages die Forderung eines Rechts auf Identitäten? Vielleicht lässt sich dann

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IX. Die Zukunft lieben

mit gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit einfordern, ein Individuum


vieler, miteinander im Interface der interaktionsmedialen Kommunikation
korrelierter Identitäten und somit ein Multividuum und gerade kein Divi-
duum (vgl. etwa Raunig, 2015) zu sein?
Da wir darauf (noch) keine Antworten haben, aber auch, weil davon die
Möglichkeiten in der Gesellschaft zu lieben vermutlich nicht unbeeinflusst
bleiben werden, kehren wir an dieser Stelle zur romantischen Liebe zu-
rück. Wir hatten argumentiert, dass Veränderungen der Art und Weise,
Liebe im SGKM mittels einer romantisch/leidenschaftlichen Codierung zu
kommunizieren, im gesellschaftlichen Rahmen mit den Entwicklungen
der Kommunikation von Individualität korrespondieren, evtl. sogar von
ihr abhängen. Noch pointierter gesagt: Diese Veränderungen werden heu-
te nicht ausschließlich, aber sehr weitreichend vom Umgang mit dem
Problem bestimmt, dass individuelle Identitäten mit all ihren Aspekten
der Abweichung durch interaktionsmediale Kommunikation in ihrer je-
weiligen Banalität, Performativität und Paradoxalität wahrnehmbar und
kommunikabel werden. – Und “kommunikabel werden” bedeutet für den
Zusammenhang der selbstreferenziellen Kommunikationen der Gesell-
schaft: “wirksam werden”.
Wir erinnern uns: Probleme mit der Kommunikation idiosynkratischer
Persönlichkeitsaspekte waren funktional bisher dadurch gelöst worden,
Rolle und Person gegeneinander zu isolieren. Diese Isolation der hohen
Spannungen individueller Fähigkeiten und Ansprüche gegen die geregel-
ten Erwartungsmuster von Rollen war bislang vor allem von Organisatio-
nen geleistet worden. Diese haben dazu sachlich begründete selektive Mit-
gliedschaften ausgeformt (vgl. Luhmann, 1997: S. 844). Bei diesen organi-
satorischen “Isolationsmaßnahmen” sind allerdings erhebliche Verluste an
sozialer Wirksamkeit der persönlichen Identitäten hinzunehmen, die sich
etwa der “Professionalisierung” oder “emotionalen Entfremdung” ausge-
setzt sehen. Daraus kann einerseits eine Wahrnehmung unzureichen-
der “Unsicherheitsabsorption” für individuelle Erwartungen durch Orga-
nisationen resultieren (vgl. Luhmann, 1997: S. 44; 845). Andererseits kann
eine, durch interaktionsmediale Kommunikationsmöglichkeiten erst mas-
senhaft ermöglichte, aber unvorhergesehene, “Einmischung” individueller
Ansprüche in die Entscheidungsprozesse von Organisationen gesellschaft-
lich relevant werden (vgl. zu politischen Organisationen Wallner, 2018:
S. 63ff.).
Mit der Individualisierung der persönlichen gesellschaftlichen Partizipa-
tion ist nun ein Interpenetrationsdruck von Seiten der Individuen entstan-
den, die nicht nur Anträge stellen oder Rollen erfüllen, sondern Partizipa-

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tion als Selbstverwirklichung ihrer Identitäten darstellen wollen. Diese


Kommunikation des Individuellen lässt sich nicht mehr vollständig mittels
der Kapazitäten von Rollen und Rollen-Sets kontrollieren, d. h. als fremd-
referente Beobachtung gesellschaftlich externalisieren oder mit den Erwar-
tungen “gelungener Sozialintegration” normativ einbinden (vgl. etwa
Henning, 2018: S. 106f.).
Teilweise wird dieses Problem durch kontingenzsensiblere Interpenetra-
tionsmechanismen entschärft, deren “evolutionäre Karriere” bereits mit
der Ausprägung der funktionalen Differenzierung zu beobachten war und
die Individualitätsüberschüsse gesellschaftlich einfangen. Ihre Leistungsfä-
higkeit, die auf der Zuspitzung von Unwägbarkeiten beruht, wird seman-
tisch in einem Gestus des Widerstands, zumindest der Reserve gegenüber
den Rationalitäten gesellschaftlicher Ordnungen, betont – etwa in der
Frontstellung: Liebe versus Rationalität (vgl. Burkhart, 2014: S. 96f.). Die-
se, auf die Kontingenz der individuellen Abweichung besser eingestellten,
Mechanismen machten und machen individuelle Persönlichkeitsaspekte
inklusive ihrer emotionalen und körperlichen Bedingungen kommunika-
bel und zugleich typisierbar.
Beispielhaft dafür sind die Mode und die Liebe zu nennen. Während
Mode die Selbstgestaltung von verkörperter Individualität konsumistisch
in einer hoch stilisierten Öffentlichkeitswahrnehmung gesellschaftlich re-
flexionsfähig werden lässt (vgl. Thiedeke, 2009: S. 183ff.), verspricht (ro-
mantische) Liebe die Authentizität des völligen Begehrens individueller
Idiosynkrasien zumindest für den gesellschaftlichen Exklusionsbereich der
Liebes-Intimität (vgl. Luhmann, 1982: S. 178).
Angesichts der medialen Weiterentwicklung gesellschaftlicher Kommu-
nikation, deren sinnhafte Wirkungen über die quantitativen Steigerungsef-
fekte der Effizienz von Kommunikation hinausgehen, ist nun aber zu fra-
gen, ob die romantische Liebe mit ihrer paradoxen Codierung intimer
Kommunikation, ihre herausgehobene Bedeutung für eine emotional be-
gründete Interpenetration von Individualität aufrecht erhalten kann? Diese
Fragestellung ist bislang kaum erschöpfend zu beantworten. Eine Fülle an
Folgefragen, die sich anschließen, lässt aber ihre erhebliche gesellschaftli-
che Reichweite vermuten:
So steht etwa die Funktionalität der romantischen Liebe als Mechanis-
mus zur sozialen Aufwertung von Individualität in Frage. Brauchen Indivi-
duen trotz all der situativen Expressionsmöglichkeiten idiosynkratischer
Individualität bei interaktionsmedialer Kommunikation – wir denken an
den Authentizitätskult der Social Media – die romantische Liebe noch, um
die unbedingte Wertschätzung ihrer individuelle Identität zu erleben?

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Auf dem Prüfstand stehen ebenso die Leistungen des SGKM Liebe, Un-
wahrscheinlichkeit nicht nur zu absorbieren, sondern als Ziel und Erfolg
der Liebe zu propagieren. Ist es inzwischen nicht so, dass aus der Unwahr-
scheinlichkeit, die eigene Abweichung als Ausgangspunkt für soziale
Formbildung, also für Vernetzung, ansehen zu können, mit den interakti-
onsmedialen Verknüpfungsmöglichkeiten eine Wahrscheinlichkeit gewor-
den ist?
Damit wird auch die Formbildung des SGKM Liebe selbst in Frage ge-
stellt. Ist etwa die Form der Vergemeinschaftung des Höchstpersönlichen
in der Liebes-Intimität, die ein exklusives soziales System für die Lieben-
den begründet, noch zeitgemäß? Bietet der Exklusionsraum der Liebes-In-
timität weiterhin die bevorzugten Bedingungen der Möglichkeiten, um
die eigene Individualität als Welterleben einer idiosynkratischen Identität
darzustellen, die von einer oder einem ausgewählten anderen in einem Be-
reich “sozialer Sicherheit” erlebt und erhandelt werden kann?
Das wirft die Frage nach der Formüberschreitung auf. Vielleicht macht
es die Entgrenzung sinnhafter Beschränkungen der Körperlichkeit und der
sozialen Einordnung in der virtuellen Wirklichkeit möglich, jede Wahl,
auch die einer Geschlechtspartnerin oder eines -partners, mit beliebigen
individuellen Vorlieben und Vorstellungen öffentlich und nicht mehr ex-
klusiv zu begründen. Oder macht sie es sogar wahrscheinlich, ein solch be-
gehrtes Gegenüber aus vernetzten Identitätsaspekten selbst zu erzeugen?
Schließlich und endlich stellt sich die Frage, worin die Selbstverwirkli-
chung der Individualität(en) fortan begründet ist: etwa in Selbst- statt in
Fremdkontrolle? Vielleicht muss man sich bei der Orientierung im Cyber-
space, dem Sinnhorizont interaktionsmedialer Kommunikation, weniger
darauf verlassen, zur Selbstverwirklichung als Individuum von jemand an-
derem gewollt und akzeptiert zu werden, weil mehr Anreize der Bestäti-
gung des Selbst darin liegen, ein (selbst-)erzeugtes und (selbst-)gestaltetes
Individuum zu sein.
Möglicherweise liegt die Antwort auf all diese Fragen im jetzt vermittel-
baren Unmittelbaren individueller Identitäten begründet. Man könnte ver-
muten, dass die pseudonyme Kommunikationssituation des Internets es
denen, die nach Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung suchen, leich-
ter macht, ihre Körperlichkeit selbst auszuspielen, in dem sie z. B. ihre
ganz eigene Sexualität netzöffentlich ausleben (vgl. Eichenberg, Döring,
2006: S. 151). Eine Vermutung, die sich, über die Pseudonymisierung hi-
naus, etwa an der Grenzpraxis des “Outings” sexueller Orientierung und
ihrer Entwicklung von der “moral panic” zur “Sichtbarkeitspolitik” verfol-
gen lässt (Bruns, 2017: S. 136).

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IX. Die Zukunft lieben

Die Verführung liegt hier wohl darin, das eigene Begehren absolut zu
setzen und zum Maßstab jeder weiteren Begegnung zu machen. Das Netz
scheint es nicht nur zu erlauben, aus der sozialen Deckung heraus zu kom-
munizieren, sondern auch genügend Raum dafür zu bieten, ähnlich Ge-
sinnte zu finden. So wird man bestärkt die Schranken festgelegter Rollen
bei der Expression eigener Obsessionen und Fetische gar nicht erst beach-
ten zu müssen, was dann zumindest das Beginnen von “Affären” erleich-
tern kann.
Damit ist wieder die individuelle Seite der gesellschaftlichen Interpene-
tration von Individualität angesprochen. Hier wird sichtbar, was das
SGKM in der Verallgemeinerung von zugespitzten Unwahrscheinlichkei-
ten leistet, nämlich die Motivation zur individuellen und nicht nur zur so-
zialen Selektion von Erleben und Handeln. – Auf diese Weise fällt aller-
dings auch das auf, was jetzt aus dem Kommunikationsbereich des SGKM
Liebe auswandert.
Unter den Bedingungen des Cyberspace kann eine individuelle Persön-
lichkeit als “Persona”, also als eine Art selbstgestaltete und selbst gespielte
Identitätspuppe und nicht mehr nur als Person in Erscheinung treten, die
eine Form fremder Attributionen darstellt (vgl. Thiedeke, 2005: 81f.). Die-
se Persönlichkeit muss nicht in erster Linie von einer anderen Persönlich-
keit oder sozialen Gruppe, noch nicht einmal durch ihre sozialstrukturelle,
soziokulturelle oder sozialstatistische Zuordnung, in ihrem Selbstsein be-
stätigt werden, um motiviert zu sein, zu wählen und so sozial anzukom-
men.
Die generalisierte Motivation, die bei interaktionsmedialer Kommunika-
tion für alle gilt, die ans Interface angeschlossen sind, wird für diese Per-
sönlichkeit durch die (Selbst-)Kontrolle über die Steuerungs- und Gestal-
tungsmöglichkeiten der eigenen Identitätsdarstellungen vermittelt. Und
sie bietet jetzt jenen Raum für affektive und körperliche Selbstvermittlung,
den bislang die Liebes-Intimität der romantischen Liebe versprochen hat-
te.
Ihre soziale Bestätigung als “anerkannte Abweichung” oder sogar
als “Originalitätsvorbild” erfährt sie nicht mehr durch wechselseitige Über-
nahme des Welterlebens durch die Liebenden. Die Motivation zur Interpe-
netration in die Gesellschaft resultiert jetzt aus der Vernetzung mit ande-
ren selbst erzeugten und gesteuerten Identitäten, die “das gleich wollen
und machen”. Ihre soziale Bestätigung ergibt sich aus den Protokollen so-
zialer Anerkenntnis und automatischer Verortung im Netz (vgl. Bennett,
Segerberg, 2012: S. 752) der Vorlieben und Abneigungen, Fähigkeiten und
Beschränkungen, Routinen und Exzesse.

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IX. Die Zukunft lieben

All dies lässt sich noch weiter auf die Motivation sich individuell über
das Netz “einzubringen” zusammenziehen, weil jetzt die eigenen Ansprü-
che als individuelle Äußerungen, individuell bedingter Erwartungen spon-
tan und unmittelbar selbst kommuniziert werden können. Zumindest ver-
meintlich können sie so gesellschaftlich, aber unter selbstgesetzten Bedin-
gungen, “zu Gehör” gebracht werden. Die Kommunikation von Ansprü-
chen, das stellte Luhmann bereits vor der massenhaften Verfügbarkeit von
Internetzugängen fest, ist der Modus in dem Individualität in Unterschei-
dung zur Welt selbstreflexiv wird – was “damals” in der gesellschaftlichen
Dimension jedoch allenfalls punktuell in Intimbeziehungen sowie reprä-
sentativ etwa im Roman oder der Sozialforschung möglich war.
“Der Anspruch Individuum zu sein, ist nicht jene differentia indivi-
dualis der Scholastik, nicht einfach die Festlegung der Diesheit des In-
dividuums durch einen Unterschied zu allem anderen. Er ist der An-
spruch auf Ansprüche, ist ein Ansprüche generierendes Prinzip, mit
dem man Informationen gewinnen, die Welt testen und sich dabei zu-
gleich selbst bestimmen kann.“ (1995: S. 136)
Da es um individuelle Perspektiven auf die Interpenetration von Indivi-
dualität(en) geht, ist man versucht, diese Entwicklung psychopathologisch
als Selbstbestätigung eines algorithmisch verstärkten Narzissmus zu deu-
ten (zur Forschungssituation vgl. McCain, Campbell, 2016: Online). Zu-
mindest muss man dann aber einen recht paradoxen, weil vernetzten Nar-
zissmus diagnostizieren und der romantischen Liebe die Selbstbestätigung
eines sozial verstärkten Narzissmus bescheinigen.
So oder so kommt man möglicherweise nicht um die soziologische Ver-
mutung herum, dass die romantische Liebe unter Sinnbedingungen ge-
wandelter medialer Kommunikationsbedingungen an Exklusivität für die
Inklusion von individuellen Abweichungen und an Exklusivität für die
Selbstverstärkung narzisstischer Persönlichkeiten einbüßen könnte.
Angesichts der Unmöglichkeiten, die Paradoxien der romantischen Lie-
be auf Dauer auszuhalten und ihr Versteckspiel mitzuspielen sowie ange-
sichts der Möglichkeit, romantische Liebes-Beziehungen fortan als Aus-
nahmepassionen statt als Regelfall der individuelle Partnerwahl gesell-
schaftlich wertzuschätzen, mag es dahingestellt bleiben, ob das für die Lie-
be der Gesellschaft einen Verlust an Liebesfähigkeit, sprich an emotional
begründetem Einbezug individueller Ansprüche, die Welt zu deuten, be-
deuten würde.

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Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart.

Hubert Fichte an Leonore Mau

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X. Die Liebe lieben!

Die vorangegangenen Beobachtungen zur Liebe der Gesellschaft machen


zunächst deutlich, dass die immer noch primär als romantisch verstandene
Liebe eine anspruchsvolle Kommunikation der individualisierten Wahl
von Geschlechtspartnern sowie der darauf gegründeten Sozialität der Lie-
bes-Intimität darstellt. Die Liebe der Gesellschaft zu lieben ist alles andere
als einfach. Das liegt unter anderem daran, dass die Liebe schon dann,
wenn geliebt wird, kein individuelles Gefühl und keine individuelle Be-
findlichkeit mehr bleibt, sondern zu einer besonderen Kommunikation
zwischen den Liebenden wird, die sozial paradoxerweise durch den Ver-
weis auf individuelles Fühlen, Leiden oder Begehren der verliebten Perso-
nen codiert ist. So gilt sie als sozial akzeptiert. So wird sie als normal er-
wartet. Das hat man selbst zu erwarten, wenn man liebt oder mit Verlieb-
ten umgeht, die “miteinander romantisch werden”.
Daraus folgt weiter, dass die Liebe als Kommunikationsform der indivi-
dualisierten Partnerwahl sowie der exklusiven Intimität zwischen den Lie-
benden und dadurch auch als Kommunikationsform individueller Selbst-
verwirklichung nicht als “etwas Privates” außerhalb der sozialen Struktu-
rierungsprozesse der Gesellschaft stattfindet.
Wenn wir aber davon sprechen, dass die Liebe der Gesellschaft im Rah-
men sozialer Strukturen stattfindet, dann liegt das Augenmerk nicht da-
rauf, ob und wie die Liebe oder die Liebenden in einer Sozialstruktur ver-
ortet werden. Es geht nicht in erster Linie um deren Zuordnung zu sozia-
len Statusgruppen, die sich nach dem Zugang zu ökonomischen, kulturel-
len, sozialen oder symbolischen Ressourcen unterscheiden oder zu sozia-
len Milieus (vgl. etwa Otte 2004; Hradil, 2006), in denen sich ein milieuty-
pischer Liebesstil entfalten kann (vgl. Klein, 2001; Burkart, 2018: S. 136f.).
Dass Liebe überhaupt als eigenständiger sozialer Sachverhalt kommuni-
ziert werden kann und auf diese Weise Erleben und Handeln motiviert,
hängt vielmehr mit den grundlegenden gesellschaftlichen Differenzie-
rungsprozessen von sinnhaften Unterscheidungsmöglichkeiten zusam-
men. Erst sie erlauben es, etwa bei der funktionalen Differenzierung der
Gesellschaft, Liebe nicht mehr vorrangig in Abhängigkeit von Familie, Re-
ligion oder sozialem Stand, sondern als eigene gesellschaftliche Beteili-
gungsmöglichkeit der Liebenden zu verstehen. Hierin sind wir also dem
differenzierungstheoretischen Ansatz Luhmanns gefolgt, der Liebe deshalb

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X. Die Liebe lieben!

als funktional ausdifferenziertes, symbolisch generalisiertes Kommunikati-


onsmedium (SGKM) versteht (vgl. Luhmann, 1982: S. 21ff.).
Liebe ist demzufolge heute zum eigenständigen Faktor gesellschaftlicher
Sinndifferenzierung einer Gesellschaft geworden, die in ihren Kommuni-
kationen alle Unterscheidungen primär funktional begründet und sich
kulturell als “modern” versteht, d. h. durch Neuheit und Abweichung,
statt durch Tradition und Ähnlichkeit legitimiert (vgl. Gay, 2008: S. 24ff.).
Die Liebe der Gesellschaft nur als regionale kulturelle Verhaltensnorm
oder als eine situative Praxis irgendwie inkorporierten Wissens zu verste-
hen, greift daher zu kurz. In den ihr zu Grunde liegenden Bedingungen
der Möglichkeiten sowie in den Bedingungen der Möglichkeiten, die mit
dem SGKM Liebe für die Produktion, Reproduktion und Destruktion von
Sozialität erst entstehen, wirkt Liebe als Teil sinnhafter Unterscheidungs-
prozesse und -strukturen des Kommunikationszusammenhangs der Gesell-
schaft.
So wie wir sie heute als romantische, leidenschaftlich auszulebende und
individuell begründete Liebe verstehen, erscheint sie als evolutionäres, also
nur mäßig planbares Ergebnis gesellschaftlicher Differenzierung und zu-
gleich – neben anderem – als ein Einflussfaktor für die weitere Entwick-
lung dieser Differenzierung. Sie kann sowohl als Beitrag zu möglichen so-
zialen Systembildungen fungieren als auch als deren Irritation wirken. Da-
durch wird sie in ihrer Vertrautheit und in ihrer Unwägbarkeit zum Ge-
genstand kultureller Bewertungen und semantischer Beschreibungen.
Liebe leistet demzufolge einen spezialisierten Beitrag zum Wahrnehmen
und Kommunizieren der sozialen Welt sowie zum Erleben und Handeln
in dieser sozialen Welt. Indem das SGKM Liebe, die Liebe romantisch
kommunikabel macht, zeigt sich über die gesellschaftliche Bewertung des-
sen hinaus, was bei der Liebe geht oder nicht geht, auch ihre spezielle Leis-
tungsfähigkeit als Inklusionsmodus von Individualität in die funktional
differenzierte Gesellschaft.
Die Wahl des Geschlechtspartners nach den Kriterien individuellen Füh-
lens sowie unter Bezug auf idiosynkratrische Persönlichkeitsaspekte und
die Erwartung, dann selbst auf die gleiche Art und Weise gewählt zu wer-
den, machen die Interpenetration die wechselseitige Durchdringung oder
Verschränkung des eigentlich nicht Zugänglichen mit der gesellschaftli-
chen Kommunikation möglich. Diese Möglichkeit der Inklusion des indi-
viduell Abweichenden durch Interpenetration mit dem gesellschaftlich Er-
wartbaren ist anscheinend so anregend, dass eine soziale Systembildung
des Unwahrscheinlichen davon initiiert und im Fortgang stabilisiert wer-
den kann. So soll und kann etwas so zufälliges, wie die romantische Liebe,

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Ausgangspunkt und Reproduktionsmöglichkeit dauerhafter, gefühlsgrun-


dierter Intimbeziehungen sein.
Gelingt das, dann kann die Liebes-Intimität variierende Strukturformen
annehmen. Sie reichen von tendenziell offenen und möglicherweise sehr
kurzfristigen “Affären” über das “Konkubinat”, der relativ dauerhaf-
ten “außerehelichen Beziehungen”, bis hin zur “Liebesheirat” mit anschlie-
ßender Ehe, die nicht mehr irgendwann von selbst endet, sondern in
einem formalen Rechtsakt geschieden werden muss (vgl. Burkart, 2018:
S. 123ff.). Die Ausschließlichkeit der Wahl und die enge Bezogenheit von
Alter auf Ego und umgekehrt scheint sogar einen regelrechten Automatis-
mus zu bedingen, wonach Beziehung und Bindung bis hin zur formal ver-
ankerten Ehe nicht oder nur schwer abgelehnt werden kann, wenn Liebe
im Spiel ist (vgl. Leupold, 1983: S. 301).
Diese Unausweichlichkeit des Einzigartigen begründet sich im Code der
romantischen Liebe dadurch, dass das SGKM die Annahme einer so un-
wahrscheinlichen Kommunikationsofferte, wie die Zumutung, sich an je-
mand Fremden mit seinen höchst eigenen Idiosynkrasien und Weltbezü-
gen zu binden (vgl. Luhmann, 1997: S. 344), dadurch motiviert, dass das
eigentümliche Erleben von Alter der Maßstab für das Handeln Egos und
vice versa sein soll. Die Ausnahme als Regel, die Zufälligkeit des Fälligen,
fordert die Aufmerksamkeit der Liebenden füreinander und die Konzen-
tration aufeinander und auf nichts sonst heraus und sie forciert die Sehn-
sucht danach, diesem unwahrscheinlichen Glücksfall, rückhaltloser An-
nahme der eigenen Person, Dauer zu verleihen.
Man will die andere, den anderen unbedingt, weil sie oder er einen
selbst will und man will, dass das nicht aufhört. Das SGKM prämiert diese
Erwartungskonstellation durch das Versprechen rückhaltloser und endlo-
ser Sonderschätzung der individuellen Einzigartigkeit. Bei der Wahl der
Liebenden und als Grundlage einer intimen Beziehungsform dirigiert das
SGKM Liebe mit diesem individuellen Ansatz der Gefühlswahrscheinlich-
keiten die Motivation, das Unwahrscheinliche, dass das abweichende
Fremde als Ausgangspunkt des eigenen Weltbezugs gewählt und gewollt
wird, zu erleben und zu erhandeln.
Das bedeutet aber nichts anderes, als dass Individualität bestimmend für
die Sinngrenzen des Erlebens und Handelns der liebenden Individuen
wird – und korrekterweise sollte man angesichts dieser Konstellation vom
Plural sprechen, wonach die Individualitäten (der Liebenden) hier bestim-
mend werden. Ihre individuellen Idiosynkrasien, die sonst das gesellschaft-
lich Diffuse markieren, werden durch die Generalisierung dieser Erwar-
tungen und mit der kulturellen Symbolik des Mediums Liebe gesellschaft-

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lich eingebunden. Das Abweichende und Besondere gewinnt universelle


Relevanz (vgl. ebenda). Allerdings ist dann nicht nur die Liebeskommuni-
kation paradox gebaut, die ihre Offenheit füreinander aus dem Bezug auf
das Abgeschlossene der Intimität miteinander gewinnt. Die Sozialität der In-
terpenetration von Individualität (der Liebenden) ist es ebenfalls.
Sie ist gerade dadurch als soziales System der Gesellschaft eingebunden,
dass sie sich exklusiv unter Bezug auf Individualität und nicht auf Soziali-
tät abgrenzt und dies vor allem in der Form der Zweierbeziehung als funk-
tionales Differenzierungskriterium behaupten kann. Anders als soziale Sys-
teme, wie etwa die Politik, die Wissenschaft, die Kunst, die Wirtschaft, die
Familie usw., die einen Bezugspunkt der Öffnung zur Gesellschaft behaup-
ten, um ihre Geschlossenheit selbstbezüglicher Kommunikationen als Spe-
zialisierung im Dienste etwa des Gemeinwohls, des Fortschritts, der ästheti-
schen Bildung, des Wohlstands oder der Sozialisation zu legitimieren, ist
Liebe anscheinend nur für die Liebenden da, die sich gefunden haben und
umeinander kreisen. – Nicht umsonst erscheint die Ausdifferenzierung der
Liebes-Intimität von außen betrachtet auch als soziale Regression auf Indi-
viduelles (vgl. Slater, 1963 zitiert nach Luhmann, 1982: 189f.).
So etwas hat sinnhafte, sprich sachliche, zeitliche, vor allem aber soziale
Konsequenzen. So steigert das SGKM mit seinen Kapazitäten, die Parado-
xien der Anforderungen und Ansprüche, die sich in dieser Wahrschein-
lichkeitsbehauptung des Unwahrscheinlichen verbergen, durch Verallge-
meinerung zur Normalitätserwartung. Und es wird sie damit als Selbstver-
ständlichkeit trivialisieren, die für alle überall und zu jeder Zeit gelten soll
(vgl. Luhmann, 1982: S. 215).
Die nicht nur latente, sondern manifeste Spannung zwischen Höhen-
flug der Realisierbarkeit des Außergewöhnlichen und Trivialisierung all
der Liebeserweise und -schwüre ist wohl der Preis, den alle, die lieben wol-
len, für das “Erfolgsmodell” der romantischen Liebe zahlen müssen. Sie ist
zugleich Ergebnis der Konstellation, Sozialität nicht nur überindividuell
zu erfahren, sondern als Teil der persönlichen Selbstverwirklichung verste-
hen und möglicherweise sogar leben zu dürfen.
Jene äußerst heikle Form des Einbezugs von Personen als Individuen
mit eigenartigen individuellen Identitäten in die Gesellschaft differenzier-
ter sozialer Funktionssysteme, die im Falle der Liebe zunächst nicht durch
formale Organisation realisiert wird, mündet also in eine soziale Ordnung,
die als manifestierte, vielleicht sogar notwendige Spannung erscheint. Hier
lässt sich nicht nur nicht verbergen, dass es sich um eine kontingente Ord-
nung handelt. Liebe setzt geradezu auf das Versprechen einer Ordnung
durch den Zufall der Unwägbarkeit.

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Gerade unter dem Primat der Beteiligungsmöglichkeit aller Personen an


allen gesellschaftlichen Funktionssystemen (vgl. Stichweh, 1988; Luh-
mann, 1997: S. 1025f.), die im Zuge dieser Differenzierung zunehmend als
Personen mit individuellen Ansprüchen auffallen (und nur so als Individu-
en auffallen, vgl. Luhmann, 1995 S. 135f.), kann die romantische Liebe mit
ihren kontingenten Vergemeinschaftungskapazitäten von Individualitäten
alle Formen von Intimbeziehungen affizieren. Das trifft sogar auf formali-
sierte Vertragsverhältnisse von Geschlechtspartnerschaft zu, wie sie Ehen
darstellen.
Die Liebe kann sich dabei gleichzeitig von anderen Formen der Intim-
beziehungen unterscheiden und sich beispielsweise von der Freundschaft
abstoßen. Das hat zur Folge, dass mit der Ausdifferenzierung der Liebe der
Freundschaft die Legitimität entzogen wird, exklusive Intimbeziehungen,
unter Bezug auf individuelles, auch und gerade körperliches Begehren, zu
begründen. Die Liebe kontrolliert dabei ihre Grenzbildung aber so, dass
sie diese andere Form intimer Vergemeinschaftung durch die Anziehung
eigener Formbildungsmöglichkeiten, etwa das Spiel mit den Grenzen
einer sog. “Freundschaft+“ (vgl. Vedder, 2017: S. 156ff.), irritieren, sprich
Fragen nach der Stabilität von Sinngrenzen des Intimen provozieren kann.
Mit dem Lieben von auffallend abweichenden Individuen sind demzu-
folge offensichtliche Unwägbarkeiten verbunden. Würde es nicht so wi-
dersprüchlich klingen, könnte man für die Kommunikation der Liebe und
ihre Sozialität von systematischen Unwägbarkeiten sprechen. Auch wenn
die Idealisierung der Bedeutung romantischer Liebe zumindest Paradoxien
wie jene, Leiden zu schaffen, wenn man Erfüllung (für beide) realisieren
will, durch die Plausibilität der Ausnahmesituation einer realisierten Liebe
verdeckt, bleibt die Unwägbarkeit ständige Begleiterin der Liebe.
So gehen mit dem kontingenten Ordnungsmuster der Liebes-Intimität
allfällige Irritationen einher. Das ist etwa dann der Fall, wenn die romanti-
sche Liebe mit ihrer Inklusion des Exklusiven, eben des Höchstpersönlichen,
zur Grundlage einer zumindest teilweise so öffentlichen Angelegenheit
wie einer Ehe werden soll, die Elemente der Wertverbindlichkeit und mit-
hin institutionellen Charakter aufweist.
Semantisch kumuliert diese spannungsreiche Konstellation heute in ent-
sprechend zugespitzter Kritik an der Kultur der romantische Liebe. So ent-
zündet sich ideologische Kritik am exklusiven Charakter der Zweierbezie-
hungen der Liebenden. Solche Beziehungen werden als Relikte bürgerli-
cher, patriarchaler Lebensformen interpretiert, die Monogamie normativ
überhöhen und entweder heteronormativen Performativitäten der Ge-
schlechter Vorschub leisten oder Ausdruck einer trivialisierten und kom-

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merzialisierten Romantisierung von in Wirklichkeit entfremdeten Paarbe-


ziehungen sein sollen (als Beispiel vgl. fremdgenese, 2005: online). Kritik
äußert sich aber auch hinsichtlich der Praxis persönlicher Bindungen, die
auf Liebe beruhen. Ganz pragmatisch scheint es unmöglich zu sein, Paar-
beziehungen, gar noch Ehen, dauerhaft als Liebesbeziehungen zu leben,
wenn sie mit den wenig romantischen Anforderungen des Alltags kon-
frontiert werden (vgl. Burkart, 2018: S. 174f.).
Ob diese Kritiken berechtigt sind, ob sie die strukturelle Problematik,
die aus der kontingenten Ordnung sozialer Beziehungen fühlender Indivi-
duen resultiert, überhaupt angemessen erfassen, mag dahingestellt bleiben.
Kulturelle Semantiken, die Beschreibungen und Bewertungen des “wie”
der Realisierung von Sozialität, sind immer auch als Experimentierfeld des
Wollens und Meinens anzusehen. Sie müssen weder die Wirklichkeit ge-
sellschaftlicher Differenzierung oder ihre Sinnstrukturen exakt abbilden,
auch wenn deren Komplexität ihre Bedingungen der Möglichkeiten defi-
niert. Noch müssen sie sich bei deren beschreibender Reflexion “auf der
Höhe der Zeit” befinden. – Sie können avantgardistisch voraus- oder kon-
servatorisch nachlaufen (vgl. Luhmann, 1989: S. 7f.). Der kulturelle Dis-
kurs ist darüber hinaus selbst keiner methodisch kontrollierten Beobach-
tung und Beschreibung verpflichtet.
Im Zusammenhang mit der strukturellen Entwicklung einer Individua-
lisierung von Sozialität, wie sie der Code der romantischen Liebe als Erfolg
einer sozial anschlussfähigen Wahl von Erleben und Handeln plausibili-
siert und zur Sozialität der Liebes-Intimität formt, fällt allerdings eine er-
kennbare Differenzierung von Liebe und Partnerschaft auf. Genauer sollte
man wohl von den unterschiedlichen Perspektiven bei der Interpenetrati-
on individualisierter Personen sprechen, die dann offenkundig hervortre-
ten, wenn soziale Systembildungen und deren Grenzerhalt zum Thema
werden. Für die in der Liebes-Intimität Vergemeinschafteten ist dann da-
von auszugehen, dass diese Perspektive der Interpenetration eher individu-
ell und für die außerhalb ihrer Grenzen stehenden eher überindividuell
orientiert ist.
Die mit der Eigenartigkeit der Interpenetrationsmöglichkeiten der Liebe
akzentuierten Unterschiede zwischen dem, was die Individuen füreinander
im “Rausch der Sinne” bedeuten mögen und was dieser sich so exklusiv
abgrenzende und schwer einschätzbare soziale Zusammenhang für die an-
deren bedeuten könnte, provoziert Fragen nach der Tragfähigkeit von Lie-
be für soziale Beziehungen. Die gesellschaftliche Bewertung der Legitimi-
tät der romantischen Liebe als Mechanismus der Wahl und Interpenetrati-

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on tritt deshalb als Problematisierung von Stabilität und Funktionalität


von Liebesbeziehungen in Erscheinung.
Hinsichtlich der Unterscheidung von Liebe und Partnerschaft stellt et-
wa Andrea Leupold fest, dass mit der Umstellung der Wahl- und Bezie-
hungsmodalitäten von Geschlechtspartnern auf die romantische Liebe
als “Geschäftsgrundlage” für die daraus resultierenden Intimbeziehungen
eine Individualisierung der Intimpartner im Sinne ihrer Personalisierung
stattfindet. Sie werden dann beispielsweise in der Ehe weniger anhand
ihrer Funktionsrollen als Ehegatten und stattdessen, auch in Bezug
zur “angeheirateten” Verwandtschaft, vielmehr als Personen mit begehr-
ten, wertzuschätzenden oder auszuhaltenden Eigenschaften wahrgenom-
men (1981: S. 306). Rollenerfüllung kann so als Chance zur Selbstverwirk-
lichung gesehen werden.
Ein Indikator dafür ist nach Leupold, dass in den durch Liebe grundier-
ten Beziehungen der intimen Kommunikation und dem persönlichen
Meinen nicht ausgewichen werden kann. Ja man ist sogar versucht, dann,
wenn der Partner nicht “zuhören” will oder “gesprächsbereit” ist, sich die
intime Kommunikation anderweitig zu organisieren (O. c.: S. 307).
Die Stabilität der Intimbeziehung wächst dadurch allerdings nicht.
Ganz im Gegenteil: Insgesamt fällt eine zunehmende Instabilität von In-
timbeziehungen ab dem 20. Jhr. auf, was wohl wiederum im Zusammen-
hang mit der Verschiebung der Formbildung von gesellschaftlichen auf in-
dividuelle Strukturaspekte steht. Folgerichtig wird der Zusammenhang
deshalb thematisch auch als Frage nach einer “Angst vor Bindung” verhan-
delt, die dafür verantwortlich sein könnte (vgl. etwa Peuckert, 2015:
S. 23ff.). Das plausibilisiert für biografische Lebensentwürfe zumindest
Phasen des Alleinseins als bewusstes “Singledasein” (vgl. Luhmann, 1982:
S. 197). Der Zusammenhang verdichtet sich schließlich auch semantisch in
der Beschreibung der Liebes-Intimität als einer interdependenten Differen-
zierung des (romantischen) Liebes- und des (rationalisierten) Partner-
schaftsbegriffs (Leupold, 1983: S. 309).
Die Semantik der Partnerschaft erscheint daher heute geradezu als Alter-
native zur Semantik der romantischen Liebe (O. c.: S. 314). Mit dem Be-
griff der Partnerschaft wird sozusagen der Umweltbezug jeder Liebes-Inti-
mität (auch der Liebes-Ehen) ausdifferenziert und damit von Vorläuferbe-
griffen abgegrenzt, die sich auf den Modus der Binnenverhältnisse etwa
von (Liebes-)Ehen bezogen hatten. Leupold hält hinsichtlich dieser Ent-
wicklung fest:
“Die hier zu Grunde liegende Evolution kann man folgendermaßen
kurz zusammenfassen. Die 'companion role' beschreibt die Rolle einer

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Person in Hinsicht auf ihr Gegenüber in der Ehe. 'Companionship' or-


ganisiert ein innerfamiliales Beziehungsgeflecht, das heißt u.a. Bezie-
hungen zwischen Rollen. 'Partnerschaft' schließlich regelt die Relatio-
nen von inner- und außerfamilialen Beziehungen der Ehepartner und
ist wegen dieser Reflexivität mit zunehmend prekären Gleichgewichts-
lagen befasst.“ (O. c.: S. 315)
“Umweltbezug” der Liebes-Intimität meint aber auch, dass gesellschaftli-
che Maßstäbe, wie sie in den kommunikativen Codes und Programmen
anderer sozialer Systeme etwa der Politik, der Erziehung, der Wirtschaft,
der Familie oder der Freundschaft entwickelt wurden und verwendet wer-
den, zur Bewertung des Erlebens und Handelns der Individuen in einer
Partnerschaft dienen. “Partnerschaft” kann deshalb Unterschiedliches mei-
nen und verschiedene soziale Beziehungen charakterisieren. So können als
Partnerschaft auch die Beziehungen unter Unbekannten, ja sogar von ima-
ginären Gemeinschaften wie Nationen (vgl. Anderson, 2006: S. 26) oder
von institutionellen Akteuren gelten wie etwa in “Sozialpartnerschaften”
(vgl. Haipeter, 2012: S. 387ff.).
Indem sich Liebes-Intimität als Partnerschaft versteht, kommen unper-
sönliche und überindividuelle Aspekte für die Beziehungsform ins Spiel,
die die Exklusivität der Liebes-Intimität dann allerdings fragwürdig er-
scheinen lassen (Leupold, 1983: S. 315). – Man kann sogar den Eindruck
gewinnen, dass eine Liebesbeziehung, wenn sie als Partnerschaft verstan-
den wird, eher auf organisatorischen Prinzipien basiert. Anders scheint
eine umfassende Interpenetration der individuellen Identitäten der Indivi-
duen gar nicht möglich, wenn die unterschiedlichsten gesellschaftlichen
Erwartungen aus differenten Systemkontexten Beachtung finden sollen.
Zumindest tendenziell greift die funktional differenzierte Gesellschaft mit
der Partnerschaft sozusagen auf das funktionale “Standardmodell” der In-
terpenetration von Personen als “Anspruchsberechtigte” oder “Fälle” zu-
rück.
Anders als die destabilisierende Wirkung, die polyamuröse oder offene
Partnerschaften für die Exklusivität des emotionalen Bezugs auf individu-
elle Weltsichten haben können, resultiert die Destabilisierung der Liebes-
Intimität durch Partnerschaft daraus, dass sie den Ungleichheitsnihilismus
der romantischen Liebe negiert und die Intimität der Selbstverwirklichung
zur permanenten “Verhandlungsmasse” der Beziehung macht (O. c.:
S. 316). Lässt sich in romantischen Liebesbeziehungen der Anspruch ex-
klusiver Selbstverwirklichung im Begehren der eigenen Individualität
durch den liebenden anderen behaupten, so rückt bei der partnerschaftli-
chen Beziehung der gleiche Anspruch auf unabhängige Selbstverwirkli-

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chungsmöglichkeiten der Partner ins Zentrum der Kommunikation (vgl.


ebenda).
Gilt Partnerschaft als Bezugspunkt der Vergesellschaftung von Indivi-
dualität, dann kommen aber nicht nur vertragsförmige Aushandlungs-
komponenten hinzu. Die Öffnung in Richtung vielfältiger individueller
Beziehungsmöglichkeiten erzeugt Leistungserwartungen hinsichtlich der
Fähigkeiten zur Selbstverwirklichung durch Selbstmanagement der An-
spruchsprimate. Und nicht nur das: Wird Gleichberechtigung der An-
spruchsprimate der Partner in der Beziehung unterstellt, dann sind diese
ggf. eben auch gegeneinander durchzusetzen (vgl. O. c.: S. 317).
Damit dominieren Verhandlungsprozesse die Kommunikation in der
Liebes-Intimität. Als Grundlage des eigenen Handelns treten die Abwä-
gung von Reziprozität (Austauschprozesse) und die Möglichkeit zur Be-
hauptung von Ansprüchen (Durchsetzungsalternativen) an die Stelle des
Erlebens des Anderen. Als Stabilisierungsstrategie für die immer noch kri-
tische Systemkommunikation der Liebes-Intimität bieten sich deshalb statt
Konsensfiktionen (vgl. Hahn, 1983) nun Konfliktfiktionen an. Die fortdau-
ernde Reproduktion der Beziehung gründet nicht mehr auf dem fraglos
vorausgesetzten Einverständnis der Liebenden, sondern auf der vermute-
ten Überlegenheit offener Auseinandersetzungen zwischen den Partnern
(Leupold, 1983: S. 320). – So wird eine konflikthafte Verhandlungskom-
munikation zur Regel, die auf die bekannte Formel “wir müssen reden” zu
bringen ist.
Während die intime Vergemeinschaftung von Individualität im Code
der Liebessemantik auf die Exklusivität der ganz eigenen Welt abzielt, in
der sich die Liebenden in den geliebten Individualitäten wechselseitig Selbst-
verwirklichungsmöglichkeiten eröffnen, ersetzt Partnerschaft diese Perspekti-
ve durch einen nach außen anschlussfähigen, aber auch fremdbestimmten,
Anspruch auf gleiche Selbstverwirklichungschancen der Partner. Legitimiert
wird dies mit der Idee, dass sich die Partner partnerschaftlich verbinden,
weil sie sich auf gesellschaftlich standardisierte Werte wie Chancengleich-
heit, Geschlechtergerechtigkeit, Entfaltungsrechte, neuerdings ein Recht
auf Abweichung oder “Diversität” usw. berufen können. Von hier aus er-
scheint die Exklusivität der Liebes-Intimität dann als ein Prinzip, das eine
sozial anschlussfähige Entfaltung von Individualität hemmt (O. c.:
S. 322f.), was bspw. in der oben angeführten Kritik der “bürgerlichen
Zweierbeziehung” zum Ausdruck kommt.
“Öffnung der Systemgrenze, strukturelle Affinität zu den Wertprinzi-
pien anderer Teilsysteme und die radikalisierte individualistische Rhe-
torik verstehen sich als Korrektur dieser Defizienzen, und insofern als

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sie die Inklusion aller Personen in alle Funktionssysteme einfordern,


vermitteln sie die Durchsetzung der ausnahmslosen Geltung der Struk-
turprinzipien der funktionalen Differenzierung.“ (O. c.: S. 324)
Auf diese Weise interpenetrieren die Bedingungen, Diskurse und Narrati-
ve der funktional differenzierten Gesellschaft in den Code der romanti-
schen Liebe und in die Kommunikationsmuster ihrer Sozialität. Die Inter-
penetration abweichender Individualitäten verwirklicht sich dann als Ver-
gesellschaftung und nicht mehr als Vergemeinschaftung, wenn statt idio-
synkratischer Gefühle, reziproke Aushandlungen zum grundlegenden Un-
terscheidungsprinzip aller Motivationen zur Liebes-Kommunikation ge-
macht werden.
Der Code der romantischen Liebe wird durch diese Aufnahme gesell-
schaftlicher Erwartungen fragil, wenn es darum geht, Idiosynkrasien sozial
relativ fraglos einzubinden. Alle Inklusionsperspektiven funktionaler Teil-
systeme der Gesellschaft können den Code jetzt irritieren. Der Erfolg der
Liebes-Intimität, die soziale Anschließbarkeit von Personen als Individuen
mittels einer intimen Kommunikationsform, hängt dann von externen
Systemrationalitäten ab. Im Rückblick auf die Ausdifferenzierung der pa-
radoxen, irrationalen Vernunft der Liebe gegen die Vernunftansprüche der
Gesellschaft könnte man davon sprechen, dass die Vernunft der Gesell-
schaft als Rationalität der Funktionsperspektiven nun die Herrschaft über
die Liebe beansprucht. Vielleicht erscheint es Giddens deshalb so plausi-
bel, als Grundlage der “pure relationship” eine Art deliberative Demokra-
tie der Selbstwahrnehmungen (vgl. 1992: S. 189f.) “für alle Fälle” des Zu-
sammenlebens anzunehmen.
Festzuhalten bleibt, dass sich die Liebe der Gesellschaft in der Semantik
der Partnerschaft wesentlich mehr Rationalitätsansprüchen ausgesetzt
sieht, als nur denen, die mit Ökonomisierung, Algorithmisierung, Thera-
peutisierung oder Ideologisierung benannt werden. Ebenso darf es als Irr-
tum jener von der “kritischen Theorie” inspirierten Kritik gelten, dass es
bei der Liebe in der modernen Gesellschaft um die Rationalitäten psycho-
ökonomischer Rangunterschiede und ihrer Ungleichheitsimperative gin-
ge. Liebe, nicht mehr romantisch, sondern als Code der “Verpartnerschaft-
lichung” verstanden, hat sich ebenso den Strukturierungssprüchen von Er-
ziehung, Wissenschaft, Politik, Kunst, Religion, Familie usw., sprich aller
Funktionssysteme zu stellen, weil all diese in Partnerschaften zu individu-
ellen Beteiligungsansprüchen umformuliert werden können. Und deren
gleiche Geltung ist in der partnerschaftlichen Beziehung durchzusetzen, je-
denfalls nicht zu versagen.

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Die Entfaltungsprobleme der Liebe der Gesellschaft basieren deshalb


wohl auf mehr, als nur auf Anonymisierungs- und Distanzierungstenden-
zen, wie sie durch die formale Trennung von Rolle und Persönlichkeit
und einer mangelnden Anleitung zum zwanglosen Kennenlernen und Lie-
ben unter diesen Bedingungen resultieren sollen (vgl. Luhmann, 1982:
S. 205). Mannigfaltige, mehr oder weniger professionell vorgetragene, Rat-
geberangebote oder die “Technologien der Wahl” (Illouz, 2011: S. 319),
die von den Verpaarungsalgorithmen der diversen Dating- und Paardiens-
te im Internet beaufsichtigt werden, reagieren gerade auf diese Problem-
konstellation des nicht mehr zufälligen Beginns der Liebesbeziehungen.
Stattdessen sollte man daran erinnern, dass bei der Umorientierung des
Codes der Liebe vom romantischen Fühlen und leidenschaftlichen Han-
deln auf die Rationalität von Gleichheitsansprüchen und Aushandlungs-
konflikten in den Partnerschaften verkannt wird, wofür die Liebes-Intimi-
tät als soziales System mit ihren über das SGKM Liebe laufenden, roman-
tisch codierten Kommunikationen eigentlich fungiert. Für die romanti-
sche begründete Liebe hat sich in der Evolution gesellschaftlicher Differen-
zierung die Funktion entwickelt und stabilisiert, die kontingente Verge-
meinschaftung individueller Abweichungen zu ermöglichen. Für die Indi-
viduen hinter den Personen eröffnete das bisher die Chance, mit der
höchst eigensinnigen Andersartigkeit idiosynkratischer Begierden, Nei-
gungen oder Weltsichten sozial inkludieren zu können und dazu gerade
keiner Vertragsverhältnisse zu bedürfen oder zum Fall von organisatorisch
ausbuchstabierten “fremden” Systemrationalitäten zu werden.
Vielleicht wurde die romantische Liebe deshalb als Liebe der Gesell-
schaft noch nicht suspendiert. Ihre spezifische Funktionalität als emotional
operierender Interpenetrations- und Inklusionsmodus von Individuali-
tät(en) erscheint immer noch viabel, also im Dschungel der Vergesellschaf-
tungalternativen “überlebensfähig”. Ein Sachverhalt der vielleicht gerade
an den Irritationen einer pädagogisierenden Kritik plastisch zum Ausdruck
kommt. Hier konstatieren Kritikerinnen und Kritiker zur romantischen
Liebe, dass die Liebenden nichts dazugelernt hätten, weil sie sich beim Lie-
ben letztlich nur in “Legitimationsstrategien” (vgl. Bethmann, 2010:
S. 234) subjektivierter Ungleichheitsverhältnisse üben, was wohl unter-
stellt, dass die Liebenden immer noch nicht erwachsen geworden seien.
Angesichts der Anspruchsdiskurse, die im Zusammenhang mit der Ver-
gesellschaftung von Personen in intimen Beziehungen verhandelt werden,
stellt sich wohl die Frage, was man denn lieben möchte in den Intimbezie-
hungen: den anderen, sich selbst, effektive Problemlösungen oder herr-
schaftsfreie Partnerschaftsdiskurse?

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Die differenzierte Sichtweise, zu der die gebotenen Optionen zu nötigen


scheinen, bedingt jedenfalls die Reflexion der Liebe selbst. Man scheint
nicht umhin zu können, sich bewusst zu machen, was und wie man liebt
und lieben sollte, wenn man die Liebe liebt, die gesellschaftlich für normal
gehalten wird. Zumindest nötigt der Reflexionszwang zur Abschätzung
der motivationalen Kapazitäten romantischer Liebe für Selbstverwirkli-
chung und Zusammensein durch die Liebeswilligen.
Eine romantische, vom Zufall der Herzensgefühle geleitete Liebe kann
dann vielleicht besonders die Verliebtheit als plausible Begründung der
emotionalisierten Wahl von Geschlechtspartnern motivieren. Für länger-
fristige Intimbeziehungen erscheint es hingegen sinnvoll, dass andere, all-
tagstauglichere Modi der Motivation gemeinsamen Handelns hinzutreten.
Gemeint sind jene Modi, die sozusagen Schnittstellenfunktionen zur An-
spruchsintegration von Individuen und anderen sozialen Systemen erfül-
len können.
Man ist auch in einer Liebesbeziehung in einer funktional differenzier-
ten, modernen Gesellschaft nicht nur Liebender. Zugleich ist man das
Kind seiner Eltern, Wähler, Konsument, gelegentlich Patient oder gar Arzt
usw. Auch dazu, dass hier jeweils wieder individuelle Ansprüche geäußert
und behauptet werden können, muss ein Liebespaar eine gemeinsame Po-
sition finden, ohne jedes Detail lieben zu müssen. – Manchmal genügt da-
zu vielleicht auch wohlwollendes Ausblenden oder Taktgefühl (zur Bedeu-
tung vgl. Neidhardt, 1979: S. 647f.), so dass die Maschinerie des Dissens-
ausgleichs gar nicht erst anlaufen muss.
Schlussendlich drängt sich die Frage auf, ob beim lieben der Liebe der
Gesellschaft mehr oder weniger alles so bleibt, wie gehabt und allenfalls
die Unterschiede in den Liebes- und Partnerschaftsansprüchen je nach in-
dividueller Figuration deutlicher hervortreten?
Die romantische Liebe würde weiterhin die Kommunikationen der indi-
viduellen Wahl eines Geschlechtspartners codieren. Sie würde für die zu-
fällige, gefühlsbetonte Wertschätzung eigener und fremder Idiosynkrasien,
Bedürfnisse und Begehrlichkeiten die notwendige Plausibilität liefern. Die
romantische Liebe würde somit vor allem die soziale Handhabung der
Kontingenzen des “Verknallens” und “Datens” individueller Personen in
einer individualisierten Gesellschaft ermöglichen.
Die durch Liebe initiierten Partnerschaften wären demhingegen das
pragmatische Alltagsmodell intimer Sozialität. Es würde den Eindruck er-
wecken, zur Übersetzung individueller Ansprüche in das gemeinsame Le-
ben einer Intimbeziehung eher zu taugen, weil die Motivation zur Soziali-
tät der Nähe hier von den Konsensfiktionen des zufälligen Glücks auf die

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Konfliktfiktionen der Verhandelbarkeit fälliger Probleme umgestellt ist.


Gerade das kann die Anschließbarkeit von Intimpartnern an die organisa-
torischen Inklusionsmechanismen der Gesellschaft suggerieren.
Diese Differenzierung der Motivationen zur Intim-Beziehung legt ihr
Sortieren je nach selbstreferenten (individuellen) oder fremdreferenten
(gesellschaftlichen) Ansprüchen an die Liebes- und Partnerschaftspraxis
nahe. Das scheint zugleich ein probates Mittel der Komplexitätsreduktion
in einer durch abweichende Individualitäten irritierten Gesellschaft zu
sein.
Allerdings erkauft man sich die intellektuelle oder pragmatische Reflexi-
vität des SGKM Liebe damit, dass das Medium durch die fortwährende
Selbstthematisierung in seiner Funktionalität kritisch wird, weil seine ge-
neralisierende Zuspitzung von Unwahrscheinlichkeit nicht mehr selbstver-
ständlich erscheint. – So können die Paradoxien der Liebe als Gründe ihres
Scheiterns aus dem Schatten der Plausibilität einer romantischen Verliebt-
heit treten, die behauptet, sich über alle Widersprüche hinwegzusetzen,
weil in der Liebes-Intimität eben “alles geht”.
Die Diskurse um die Differenz von Liebe und Partnerschaft oder um
eine neue Einheit partnerschaftlicher Romantik lenken zudem von der
Problematik ab, dass sich die Bedingungen der Möglichkeiten für die
funktionale Ausdifferenzierung der Kommunikation des SGKM Liebe im
romantischen Code vielleicht auf einer ganz anderen Basis ändern könn-
ten, als derjenigen der Liebespraxis.
Gemeint sind diejenigen evolutionären Anpassungen der Sinndifferen-
zierung, mit denen sich eine Gesellschaft auf die Herausforderungen ein-
stellt, individuell abweichende Identitäten in die Kommunikationen sozia-
ler Systeme einzupassen. Eine Anpassungsleistung, die entscheidend dafür
ist, dass Systemoperationen an individuelle Identitätsaspekte und nicht
nur an Personen anschließen können, wenn Individualität zu einem Fak-
tor gesellschaftlicher Sinnstrukturierung geworden ist.
Jene Anpassungen konkretisieren sich vor allem in Fragen nach dem
Stellenwert, der dem Umgang mit der Individualität von Personen gesell-
schaftlich zugemessen wird, also anhand von Fragen wie z. B.: Wie wird
die Wahrnehmung individueller Selbstbeschreibungen, besonders von
Selbstverwirklichungsansprüchen, gesellschaftlich realisiert? Sind hierzu
neue Interpenetrationsmodi im Entstehen begriffen oder operieren bereits
kommunikativ? Wird das in charakteristischen semantischen Formen ge-
sellschaftlicher und individueller Beschreibungen reflektiert? Deutet sich
Letzteres etwa im Schwinden der Bedeutung vormals verbindlicher onto-
logischer Unterscheidungen und in den Experimenten mit neuen Ontolo-

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gien über angeblich gesellschaftskonstitutive Entitäten sowie in den Fun-


damentalismen von Anspruchshaltungen oder der Affirmation von Diver-
sität an?
Beim heutigen Kenntnisstand lässt sich das wohl nur mehr oder weniger
begründet vermuten. Was sich allerdings bereits empirisch konkretisiert,
ist ein tiefgreifender Wandel der gesellschaftlichen Kommunikationsbe-
dingungen.
Als wesentlicher Faktor der Irritation dieser Bedingungen kann das Auf-
kommen von computergestützte, kybernetischen Interaktionsmedien (vgl.
Thiedeke, 2012: S. 251f.) wie etwa des Internets gelten. Der damit verbun-
dene Wandel geht allerdings über die disruptive Entwicklung infrastruktu-
reller Kommunikationskapazitäten (vgl. Weber, 2017: S. 3ff.) hinaus. Mit
dem Wandel medialer Kommunikationsbedingungen ist vielmehr eine
Veränderung der Sinnbedingungen, der Möglichkeiten zu unterscheiden
verbunden – z. B. von Individualität(en) und Gesellschaft.
Wie sehr die Codierung des SGKM Liebe als romantische Liebe die Se-
mantik der Kommunikationen der Liebes-Intimität formen kann, hängt
wohl davon ab, wozu sich die Individuen im Erleben und Handeln moti-
viert sehen. Bei der romantischen Codierung meint das, wie bei der sozia-
len Inklusion individueller Personen ein unmittelbarer Bezug zu deren
idiosynkratischen Gefühlen, Ansprüchen und Begierden deutlich werden
kann.
Gerade darin erwächst dem SGKM Liebe mit seiner romantisch codier-
ten Kommunikation aber neuerdings Konkurrenz. So scheinen die inter-
aktionsmedialen Kommunikationsmöglichkeiten, wie sie sich etwa in den
Kommunikationsformen der Social Media konkretisieren, die individuelle
Expression und soziale Bestätigung eben der individuellen Gefühle, An-
sprüche und Begierden in einer bisher unvorhersehbar direkten Art und
Weise massenhaft individuell zu ermöglichen.
Individualitäten mit samt ihren forcierten emotionalen und körperli-
chen Identitätsaspekten sind jetzt, über die Ausnahmen therapeutischer
oder intimer Selbstentäußerungen hinaus, im gesellschaftlichen Maßstab
möglich. Individualitäten können sich nun gesellschaftlich als Regelfall
von Selbstdarstellungen verwirklichen, die überall, zu jeder Zeit, für alle
und alles, was ans Interface der vernetzten Kommunikation angeschlossen
ist, auf Selbstbestätigung in den Beziehungsnetzen der Likes und Dislikes
setzen (vgl. Toma, Hancock, 2013; Hajok, Zerbin, 2015: S. 64ff.; mit ent-
sprechender Selbstbeobachtung vgl. Toma, Carlson, 2015: S. 93ff., aber
nicht ohne Unterhaltungswert vgl. Trepte, Reinecke, 2010: S. 217). – Und
dabei sind selbstverständlich die Risiken, unter Erwartungsdruck zu gera-

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ten und “verworfen” zu werden, individuell selbst zu verantworten und zu


tragen (am Beispiel von YouNow vgl. Henning, 2015: S. 205f.), was sich im
Übrigen ähnlich wie bei der individualisierten Wahl von Geschlechtspart-
nern bei der romantischen Liebe darstellt.
Das erlaubt die kommunikative Interpenetration von Individualitäten,
die jetzt nicht mehr nur offen dargestellt werden können, wie sie sind und
wie sie empfunden werden. Die kommunikative Interpenetration von In-
dividualitäten, die offenkundig individuell gestaltet, gesteuert und kollek-
tiv zu virtuellen Gruppen oder Gemeinschaften und durch den Einsatz
von Algorithmen zu Strukturen von Korrelationen vernetzt werden, schei-
nen der exklusiven Intimität der romantischen Liebe ein Angebot auf inklu-
sive Intimität der expressiven Netz-Individualitäten gegenüber zu stellen.
Individuell hat man jetzt also die Wahl zwischen zumindest zwei Möglich-
keiten der kontingenten Selbstverwirklichung des Höchstpersönlichen
und dessen sozial bestätigter Sonderschätzung: sich romantisch in die je-
weils andere Weltsicht zu verlieben oder sich kybernetisch entgrenzt mit
der eigenen Weltsicht an andere anzuschließen und sich so zu vernetzen.
Hierbei sind im Übrigen noch nicht einmal Überlagerungseffekte der
romantischen mit den kybernetischen Interpenetrationsmöglichkeiten be-
rücksichtigt. Die ganze Aufregung um die Kommunikationsformen des
Online-Dating scheint aber darin ihren Ausgang zu nehmen und im Grun-
de unfruchtbare Diskussionen darüber zu fördern, ob die Kommunikation
im Netz körperliche Liebesbegegnungen “ersetzen” könne oder nicht (ein
Beispiel unter vielen: Milz et al., 2014).
Vor dem Hintergrund einer individuellen Auswahlsituation zwischen
kontingenten Interpenetrationsmöglichkeiten von Individualitäten er-
scheint die romantische Liebe zumindest nicht mehr “die” Option, son-
dern nur noch “eine” Option unter anderen zu sein, sich individuell mit
allem, was dazu gehört, sozial selbst zu verwirklichen. – Und hierauf
scheint der neue Schwerpunkt der Paradoxie zu liegen, nicht mehr auf
dem notwendigen Zufall oder dem Genuss des Leidens.
Es ginge also schon längst nicht mehr um die Frage, ob die romantische
Liebe als Motivation eines intimen Erlebens und Erhandelns von eigenar-
tig individuellen Personen, getrieben durch Bildungs-, Gleichheits- und
ökonomischen Anforderungen, überflüssig wird. Vielmehr geht es an-
scheinend bereits um die Repositionierung der medialen Möglichkeiten,
die kontingente – also durchaus auch die gefühlsbetonte, irrationale und
körperorientierte – Interpenetration von Individualitäten in die Gesell-
schaft und in die Verhaltenspraxis der Individuen hinein zu kommunizie-
ren.

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Eine solche Repositionierung würde bedeuten, dass das SGKM Liebe


mit seiner romantischen Codierung seine zentrale Stellung für die Motiva-
tion und Legitimation der individuellen Wahl von Geschlechtspartnern
und der Begründung einer Sozialität der Liebes-Intimität zu Gunsten an-
derer Mechanismen der Kommunikation kontingenter Interpenetrations-
modi einbüßt. Romantisch zu lieben wäre nur eine weitere Möglichkeit,
Sonderschätzung für die Expression einer eigenen Sinnwelt zu erlangen,
die man mit individuellen Fähigkeiten, Ansprüchen und Obsessionen er-
zeugt.
Vielleicht würde das zu einer Enttrivialisierung der romantischen Liebe
beitragen? Sie würde vielleicht besonders geschätzt und bewusster gewählt
werden? Romantisch zu lieben würde dann den besonderen Stellenwert
der strukturellen Einordnung der eigenen, abweichenden Persönlichkeit
in der Form der exklusiven Zuwendung der Liebenden markieren.
Sollte dem so sein, dann würde das vor allem die selbstbewusste Beob-
achtung dessen erfordern, was man will oder tut, wenn man romantisch
liebt, statt etwa zu “liken”. Es würde die Selbstreflexivität der Liebe als Le-
gitimation zur Motivation forcieren, das Unwahrscheinlich wahrscheinlich
werden zu lassen. Man müsste also schon die Liebe lieben, wenn man un-
bedingt geliebt werden und lieben will. Aber auch dann wird man – und
wohl noch offensichtlicher, als es im Rahmen der Normalität einer triviali-
sierten Romantik der Fall war – die Liebe der Gesellschaft lieben müssen.
Darum kommt man nicht herum und das schon deshalb nicht, weil diese
Liebe davon abhängt, wie wir abweichende Individualitäten zum Aus-
gangspunkt kontingenter sozialer Ordnungen machen wollen und kön-
nen.
Angesichts der bereits eingetretenen Individualisierung der Gesellschaft
und deren Steigerung in Form einer interaktionsmedialen Hyperindivi-
dualisierung könnte sich das als schwer abschätzbare, aber doch liebens-
werte Herausforderung darstellen. Das wäre wohl schon allein deshalb der
Fall, weil die anderen, die wir lieben könnten, heute so vielfältig geworden
sind wie wir selbst, wenn wir für uns und für die anderen wirklich werden
wollen.

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