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Gendersensibles

Design/Textbuch
Gender-Sensitive
Design/Reader

Entweder
oder –
sowohl
als auch
Either/or –
as well as

Mit freundlicher Unterstützung der D.E.S.I.G.N Foundation


Impressum
Imprint

Medieninhaber / Verlag New Design University


Media owner / publisher Privatuniversität GesmbH
Mariazeller Straße 97a,
3100 St. Pölten Österreich / Austria
www.ndu.ac.at / office@ndu.ac.at

Herausgeber Ulrike Haele, Stefan Moritsch


Publisher

Redaktion Ulrike Haele, Magdalena Gansch


Editing

Lektorat Martin Ross


Copy Editing

Übersetzung Roy Culbertson


Translations

Grafische Gestaltung Sylvia Kostenzer, studio*dluxe


Graphic Design

Druck gugler*
Printing

Urheberrecht Das Urheberrecht der Texte


Copyright liegt bei den Autor*innen.
The authors retain copyrights
to their texts.
Alle Rechte vorbehalten.
All rights reserved.

©2020 New Design University


Privatuniversität GesmbH

ISBN 978-3-9503515-7-6

Ermöglicht durch D.E.S.I.G.N. Foundation


supported by
Inhalt
Contents

05–08 Ulrike Haele und Stefan Moritsch


Vorwort/Preface

09–36 Ulrike Haele


GENDER und/and DESIGN...

37–44 Friedrich von Borries


Ein Brief / A letter

45–64 Laura Haensler


Milch & Chips / Milk & Chips

65–76 Mayar El Bakry und depatriachise design


Bodies in/and Spaces

77–86 Christian Jurke


Über das Wesen der Dinge oder der
systemische Ansatz von Design und der
Sprache eines Produkts / About the essence
of things or the systemic approach of design
and the language of a product

87–108 Stefanie Wuschitz


Is this Feminist Hardware?

109–110 Zu den Autor*innen / About the authors


Ulrike Haele und
Stefan Moritsch
Vorwort/ Preface In the material culture that we designers,
to a large extent, have shaped, there is
a lack of awareness of gender aspects,
especially in design education. With the
semester topic “Either/or – as well as.
Gender-Sensitive Design” in the course
of studies ‘Manual & Material Culture’
at the New Design University, we would
In der von uns Designer*innen maß- like to make a practical and theoretical
geblich gestalteten materiellen Kultur contribution to closing this gap with
fehlt weitgehend das Bewusstsein für concrete works by our students and
Gender-Aspekte, in der Design-Ausbil- within the framework of an international
dung sowieso. Mit dem Semesterthema symposium.
„Entweder oder – sowohl als auch.
Gendersensibles Design“ im Studiengang This publication was produced in the
‚Design, Handwerk & materielle Kultur‘ an early summer of the corona period 2020.
der New Design University möchten wir Even in good times, gender issues are all
mit konkreten Arbeiten unserer Studieren- too often overlooked in the most diverse
den und im Rahmen eines international areas of life. In times of crisis, their
besetzten Symposiums einen praktischen invisibility grows, which becomes trans-
und theoretischen Beitrag leisten, um parent in arguments such as “First of all
diese Lücke zu schließen. it is about human lives, only then about
gender justice or civil rights”. Crises
Die vorliegende Publikation ist im reinforce traditional role models. Even
Frühsommer der Corona-Zeit 2020 ent- pandemic-related home office, homes-
standen. Schon in guten Zeiten wird die chooling and generally the shifting of life
Gender-Thematik in den verschiedensten into one’s own four walls have not led to
Lebensbereichen allzu oft übersehen. In a redistribution of unpaid care work.1
Krisenzeiten wächst ihre Unsichtbarkeit,
was an Argumenten wie „Erst einmal
gehe es um Menschenleben, dann erst 1  See https://www.wu.ac.at/en/vw3/research/current-pro-
jects/genderspecificeffectsofcovid-19/1blog (last accessed
um Geschlechtergerechtigkeit oder Bür- on 23 July 2020).
ger*innenrechte“ transparent wird. Krisen
verstärken traditionelle Rollenbilder. Auch
pandemiebedingtes Home-Office, Home-
Schooling und ganz allgemein die Ver-
Sometimes it is difficult to explain why
the debates on gender diversity and the
intertwined question of equality are still
needed – why the issue of the pink/light-
blue divided worlds of goods for children
is no small matter. If we assume that
lagerung des Lebens in die eigenen vier traditional gender roles and patriarchal
Wände haben nicht zu einer Umverteilung structures continue to shape our society,
von unbezahlter Sorgearbeit geführt.1 then of course the target-group oriented
design industry is not exempt from this.
Manchmal ist es schwierig zu erklären, Partial aspects of design such as gender
warum es die Debatten um Genderdiver- and material culture are linked to central
sität und die damit verschränkte Frage questions: How do we want to live? Do
der Gleichberechtigung noch braucht; we want to support the status quo or
warum die Sache mit den rosa/hellblau think of alternatives? Do we understand
aufgeteilten Warenwelten für Kinder eben design primarily as a service or also as a
keine Kleinigkeit ist. Wenn wir davon aus- tool for repairing a system in crisis?
gehen, dass traditionelle Geschlechter-
rollen und patriarchale Strukturen unse- Six contributions are dedicated to the
re Gesellschaft nach wie vor prägen, dann relationship between gender and design,
ist die zielgruppenorientierte Design- deal with different aspects thereof and
industrie davon selbstverständlich nicht enrich the ever-important professional
ausgenommen. Teilaspekte der Gestal- discourse – especially in these times.
tung wie Gender und materielle Kultur The introductory text identifies relevant
sind mit zentralen Fragen verbunden: areas of application for designers in the
Wie wollen wir leben? Wollen wir den context of gender and design, based
Status Quo stützen oder in Alternativen on work with students in the course of
denken? Verstehen wir Design vorrangig design studies. It also attempts at an
als Dienstleistung oder auch als Werk- approach, a discussion starter, with a
zeug zur Reparatur eines in der Krise juxtaposition of gender-sensitive and
befindlichen Systems?  gender-blind / gender-specific coded
design.
Sechs Beiträge widmen sich dem Verhält-
nis von Gender und Design, behandeln
unterschiedliche Aspekte und bereichern
den so wichtigen Fachdiskurs gerade
auch in diesen Zeiten. Der einleitende

1  Vgl. dazu https://www.wu.ac.at/en/vw3/research/cur-


rent-projects/genderspecificeffectsofcovid-19/1blog (zuletzt
aufgerufen am 23. Juli 2020).

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Friedrich von Borries, in a letter, reflects
on his unfinished text, on fluid bound-
aries between gender attributions,
chimeras and their possible location in
his political design theory.

Text identifiziert ausgehend von der Laura Haensler takes an ironic and at the
Arbeit mit Studierenden im Rahmen des same time critical look at the consump-
Designstudiums relevante Anwendungs- tion of food, its media representation and
bereiche für Designer*innen im Kontext the associated identity constructions.
Gender und Design und versucht eine The smallest everyday phenomena open
Annäherung, einen Diskussionsstarter mit up big questions about gender norms
einer Gegenüberstellung von gendersen- and the role of design.
sibler und genderblinder/genderspezi-
fisch kodierter Gestaltung. Mayar El Bakry and depatriarchise de-
sign use everyday scenes to describe the
Friedrich von Borries reflektiert in einem relationship between our bodies and the
Brief über seinen unvollendeten Text, designed (man-made) environment and
über fließende Grenzen zwischen den approach the underlying structures.
Geschlechterzuschreibungen, Chimären
und ihre mögliche Verortung in seiner
politischen Designtheorie.

Laura Haensler setzt sich auf ironische


und sogleich kritische Weise mit dem
Konsum von Lebensmitteln, dessen me-
dialer Repräsentation und damit verbun-
denen Identitätskonstruktionen. Kleinste
Alltagsphänomene eröffnen große Fragen
zu Geschlechternormen und der Rolle von
Gestaltung.

Mayar El Bakry und depatriarchise design


beschreiben mit Hilfe von Alltagsszenen
das Verhältnis unserer Körper mit der ge-
stalteten (man-made) Umwelt und nähern
sich den zugrundeliegenden Strukturen an.
Christian Jurke legt am Beispiel der
Designentwicklung der Bosch-IXO-
Produktlinie dar, dass Produktkommu-
nikation, die nach einem systemischen
Designansatz entwickelt wird, keine
Genderladung kennt.

Stefanie Wuschitz geht anhand zahlrei- Christian Jurke, using the design devel-
cher Beispiele eines neuen feministi- opment of the Bosch IXO product line
schen Materialismus und Strategien des as an example, explains that product
Hackens der Frage nach, was feministi- communication developed according
sche Hardware sein kann, und skizziert to a systemic design approach is not
damit die Grundlage für ein laufendes gender-laden.
Forschungsprojekt.
Stefanie Wuschitz, using numerous
Die Bandbreite der publizierten Beiträge examples of a new feminist materialism
zeigt, wie bereichernd die Perspektive des and strategies of hacking, explores the
gendersensiblen Designs für Theorie und question of what feminist hardware can
Praxis der Gestaltung sein kann. be, thus outlining the basis for an ongo-
ing research project.

The range of published contributions


shows how enriching the perspective of
gender-sensitive design can be for the
theory and practice of design.

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Ulrike Haele
GENDER und/and
DESIGN …
Das Verhältnis
„Gender“ bezeichnet die Geschlechtsidentität eines Menschen in Be-
zug auf kulturelle und soziale Deutungen, im Gegensatz (oder eigent-
lich in Ergänzung) zum biologischen Geschlecht, das die biologischen
Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Körpern definiert.
Verstanden als kulturelle Konstruktion, ist Gender keine Konstante,
sondern historisch und kulturell spezifisch und somit veränderbar. Ver-
standen als soziale Kategorie, ist Gender, analog zu Ethnizität, Nation
oder Klasse in Zusammenhang mit Machtverhältnissen zu sehen und
deswegen auch eine politische Kategorie. Hier trifft sich die politische
Lesart von Gender mit dem Verständnis vom politischen Wesen von
Design (von Borries 2016: 30; Fry 2011), das im Entwerfen alternati-
ver Zukünfte ein Veränderungspotenzial in sich birgt und sich seiner
Auswirkungen bewusst sein muss. Durch die Gestaltung formalästhe-
tischer Spezifika, Funktionen und Bedeutungen von Objekten werden
Designer*innen zu wichtigen Agent*innen in der sozialen Konstruktion
von Wirklichkeits- und Deutungszusammenhängen. „Entweder unter-
stützen wir den Status Quo (eine Entscheidung, die so oft unbewusst
getroffen wird) oder wir wählen einen Weg der Veränderung (was nur
wenige tun).“ (Fry 2011: Viii)

In akademischen und feministischen Kreisen, etwa in den Bereichen


Philosophie, Soziologie und Psychologie, ist Geschlechterdiversität seit
Jahrzehnten ein Diskussionsthema, die Debatten der bereits vierten
Feminismus-Welle oder zur Gender-Fluidität sind hier stellvertretend
zu nennen. Ab den 1980er-Jahren wurden Genderfragen auch in der
Designwissenschaft diskutiert. Designforscher*innen erwähnten
besonders die männliche Dominanz im Design (Buckley 1986; Attfield
1989; Rawsthorn 2017). Buckley (1986) verweist auf das wachsende
Interesse an weiblichen Positionen in Bezug auf Designpraxis und
-geschichte. Das Verhältnis von Gender und Design wird in zahlreichen
Beiträgen durch die morphologische oder produktsprachliche Analyse
(Haslinger 2006, Petersson McIntyre 2018, van Ost 2003) von Marktan-
geboten behandelt.

In der Designpraxis ist die Thematik, bis auf wenige Ausnahmen, nicht
verankert. Wenn über Geschlechterrollen, die implizit oder explizit in

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The relationship
“Gender” denotes the gender identity of a person in relation to cul-
tural and social interpretations, in contrast (or actually in addition)
to the biological gender, which defines the biological differences
between male and female bodies. Understood as a cultural construct,
gender is not a constant, but rather historically and culturally specific
– and therefore changeable. Understood as a social category, gender,
analogous to ethnicity, nation or class, is to be seen in connection
with power relations and therefore also as a political category. This is
where the political reading of gender meets with an understanding of
the political nature of design (von Borries 2016: 30; Fry 2011), which
has the potential for change in designing alternative futures and must
be aware of its consequences. Through the design of formally aes-
thetic characteristics, functions, and meanings of objects, designers
become important agents in the social construction of the contexts of
reality and interpretation. “We either support the status quo (a choice
so often made unknowingly) or we choose a path of change (which
few do).” (Fry 20011: Viii)

In academic and feminist circles – for instance in the areas of philoso-


phy, sociology and psychology – gender diversity has been a topic of
discussion for decades, the debates of fourth-wave feminism or gen-
der fluidity are representative here. Since the 1980s, gender issues
have also been discussed in design science. Design researchers par-
ticularly mentioned male dominance in design (Buckley 1986; Attfield
1989; Rawsthorn 2017). Buckley (1986) points to the growing interest
in female positions in relation to design practice and history. The
relationship between gender and design is dealt with in numerous
articles by the morphological or product language analysis (Haslinger
2006, Petersson McIntyre 2018, van Ost 2003) of market offers.

With few exceptions, this topic is not anchored in design practice.


When thinking about gender roles that are implicitly or explicitly
inscribed in design decisions, categories such as “typically male”
or “typically female” usually apply. The binary distinction between
individuals also runs through empirical gender research when it
comes to behavior, consumption habits, etc. (see Brandes 2017: 46):

Ulrike Haele / GENDER and DESIGN ....


Gestaltungsentscheidungen eingeschrieben sind, nachgedacht wird,
gelten meist Kategorien wie „typisch männlich“ oder „typisch weiblich“.
Die binäre Unterscheidung von Individuen zieht sich auch durch die
empirische Gender-Forschung, wenn es um Verhalten, Konsumge-
wohnheiten etc. geht (vgl. Brandes 2017: 46): „Es stehen uns für die
Interpretation vergeschlechtlichter Aktionen und Objektaneignungen
keine anderen Kategorien zur Verfügung als wiederum jene, die diese
genderstereotypen Aktionen und Objektaneignungen gesellschaftlich
hervorgebracht haben und ausmachen.“ (Brandes 2017: 48). Von einer
Befassung mit Gender-Diversität, alternativen Identitätskonzepten oder
Gender-Neutralität ist nur in seltenen Fällen die Rede.

Die Daten dahinter


Die Debatten über Geschlechterdiversität haben 2020 den Mainstream
erreicht, gesetzliche Rahmenbedingungen, etwa zur Angabe des Ge-
schlechts (neben ›männlich‹ oder ›weiblich‹ kann auch ›divers‹ genannt
werden) wurden angepasst. Gleichzeitig sind medial unterschiedlichs-
te Rollenbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit präsent, die Toleranz
gegenüber verschiedenen Auslegungen von Gender-Identitäten oder
sexuellen Orientierungen scheint in der öffentlichen Wahrnehmung ge-
stiegen zu sein. Die Geschlechterparität an Design-Ausbildungsstätten
ist erreicht, beispielsweise im Studiengang Design, Handwerk & mate-
rielle Kultur identifizierten sich im Jahr 2019 59% der Studierenden als
weiblich, an der Fakultät für Gestaltung der NDU waren es sogar 79%.
Im österreichischen Kreativwirtschaftsbericht aus dem Jahr 2017 wird
der Anteil der beschäftigten Frauen im Bereich Design mit 45 Prozent
angegeben (Kreativwirtschaft Austria 2017: 9f).

Inwiefern wirken sich diese gesellschaftlichen Veränderungen auf


unsere materielle Kultur aus? Wir leben nach wie vor, forciert formuliert,
in einer von Männern für Männer gestalteten Welt. Männer werden in
Hinblick auf Maße, Gewohnheiten und Anforderungen meist als Stan-
dard angenommen. Frauen werden, wenn überhaupt, als Abweichung
identifiziert. Eine Grundlage dafür können fehlende Daten zu den dar-
auf aufbauenden Gestaltungsentscheidungen sein.

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“There are no other categories available to us for the interpretation of
gendered actions and object appropriations, other than those which
have produced and characterized these gender-stereotypical actions
and object appropriations.”(Brandes 2017: 48). A discussion of gen-
der diversity, alternative identity concepts or gender neutrality is only
mentioned in rare cases.

The data behind it


The debates on gender diversity reached the mainstream in 2020
and legal framework conditions have been consequentially adjusted.
Gender specification, for example: in addition to “male” or “female”
one can also be called “diverse”. At the same time, a wide variety of
role models of masculinity and femininity are present in the media;
tolerance towards different interpretations of gender identities or
sexual orientations seems to have increased in public perception.
Gender parity at design training institutions has been reached, e.g. in
our “Manual & Material Culture” course, 59% of students identified as
female in 2019, and even 79% of the Faculty of Design at the NDU. In
the Austrian Creative Industry (KAT) report from 2017, the proportion
of women employed in the field of design was given as 45 percent
(Kreativwirtschaft Austria 2017: 9f).

How do these social changes affect our material culture? We still live,
forcedly formulated, in a world designed by men for men. Men are usual-
ly accepted as the standard in terms of dimensions, habits and require-
ments. Women, if identified at all, are done so as a deviation. A basis for
this could be that the design decisions are based on missing data.

Criado Perez (2019) describes how a world dominated by data ignores


half of the population (women) 1. Numerous case studies from history,
medicine, research and the data which is used as the basis for the in-
creasingly relevant AI applications describe the androcentric “Gender
Data Gap” and confirm feminist technology criticism (Wajcman 1994,
Saupe 2002).

1  The same applies to non-binary and trans people, people of color, the elderly, marginalized groups etc. Criado Perez is criticized
for restricting herself to the binary gender order. Nevertheless, their composition is an important indication that it cannot be that one
population group is declared the norm at the expense of others.

Ulrike Haele / GENDER and DESIGN ....


Criado Perez (2019) beschreibt, wie eine von Daten beherrschte Welt
die Hälfte der Bevölkerung (Frauen)1 ignoriert. Zahlreiche Fallbeispiele
aus der Geschichte, der Medizin, der Forschung bis hin zu jenen Daten,
die als Grundlage für die immer relevanter werdenden AI-Anwendun-
gen herangezogen werden, beschreiben den androzentrischen „Gen-
der Data Gap“ und bestätigen feministische Technikkritik (Wajcman
1994, Saupe 2002). In diesen Daten – Grundlagen zu Ergonomie, Biolo-
gie, Bedürfnissen und Unterschiedlichkeiten – kommen Frauen ent-
weder nicht vor, oder wenn es Daten zu Frauen gibt, werden sie nicht
getrennt dargestellt. Dahinter stecken keine generell bösen Absichten,
es fehlt allerdings das Bewusstsein, es fehlt Diversität an maßgeben-
den Positionen.

In Bezug auf Gestaltung sind die Ergebnisse schwere Türen, die für
Frauen mit einer Hand nicht öffenbar sind, Stiegen mit Glasböden, die
für Frauen unangenehm sind, Standard-Raumtemperaturen in klima-
tisierten Büros, die auf Basis des Metabolismus eines 40-Jährigen
70-kg-Mannes in den 1960er-Jahren berechnet wurden (vgl. Criado
Perez 2019: 113). Klaviertastaturen sind für die Durchschnittsmaße von
Männerhänden genormt (ebd: 157), Stimmerkennungs-Systeme re-
agieren nicht auf die Frequenzen weiblicher Stimmen (ebd: 162). „Von
Entwicklungs-Initiativen bis hin zu Smartphones, von medizinischer
Technik bis hin zu Elektroherden werden Werkzeuge (ob physisch
oder finanziell) ohne Bezug auf die Bedürfnisse von Frauen entwickelt,
und deshalb versagen diese Werkzeuge im großen Stil.“ (ebd: 191) Die
genderblinde Gestaltungspraxis kann ihre Wurzeln folglich auch in der
zugrunde liegenden Datenlage suchen, die in ihrer Erhebung biologi-
sche oder ergonomische Fakten, Bedürfnisse und Verhaltensweisen
nicht differenziert.

Der Markt
In Nischen setzt sich eine langsam wachsende Anzahl von Desig-
ner*innen kritisch mit Geschlechtervielfalt auseinander, es entstehen
Marken und Produktangebote (Chua 2019; Howarth 2015), die dezidiert

1  Dasselbe gilt wohl ebenso für nicht-binäre und Trans-Menschen, People of Color, Ältere, Randgruppen etc. Criado Perez wird
dafür kritisiert, sich auf die binäre Geschlechterordnung zu beschränken. Dennoch ist ihre Zusammenstellung ein wichtiger Hinweis
darauf, dass es nicht sein kann, dass eine Bevölkerungsgruppe auf Kosten anderer zur Norm erklärt wird.

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In these data - the basics of ergonomics, biology, needs and diffe-
rences - women either do not appear, or if there are data on women,
they are not shown separately. There are no generally evil intentions
behind this, but there is a lack of awareness and diversity in key posi-
tions.

In regards to design, the results are heavy doors that women can’t
open with one hand, glass-bottomed stairs that are uncomfortable for
women, and standard room temperatures in air-conditioned offices
based on the metabolism of a 40-year-old, 70-kg man – which was
calculated in the 1960s (Criado Perez 2019: 113). Piano keyboards
are standardized for the average dimensions of male hands (ibid:
157), voice recognition systems do not react to the frequencies of
female voices (ibid: 162). “From development initiatives to smartpho-
nes, from medical tech to stoves, tools (whether physical or financial)
are developed without reference to women’s needs, and, as a result
these tools are failing them on a grand scale.” (ibid: 191) Gender-blind
design practice can therefore also find its roots in the underlying
data, which in its survey does not differentiate between biological or
ergonomic facts, needs and behaviors.

The market
In niches, a slowly growing number of designers are critically exami-
ning gender diversity, creating brands and product offers (Chua 2019;
Howarth 2015) that are decidedly gender-neutral and propagate ideo-
logical gender neutrality/diversity. In the vast majority of consumer
goods, however, the gender factor is either not taken into account –
gender-blind products – or is served in a stereotypical way; encoded
in a gender-specific manner. The binary idea of ​​how we shop, get
dressed and live still prevails, designers usually anticipate the gender
of their users without question.

“Many products are designed as women’s and men’s items and


bought and used as such, and not just in fashion, cosmetics and
hygiene or children’s toys; here stereotypes are immediately visible
on the surface.” (Brandes 2017: 45) - It appears that these offers have
become more instead of less in the past two decades.

Ulrike Haele / GENDER and DESIGN ....


genderneutral sind und ideologische Geschlechterneutralität/-diver-
sität propagieren. In der großen Masse der Konsumangebote wird der
Faktor Geschlecht aber entweder nicht berücksichtigt – genderblinde
Produkte – oder auf stereotype Art und Weise bedient; genderspe-
zifisch kodiert. Die binäre Vorstellung davon, wie wir einkaufen, uns
anziehen und leben, herrscht weiter vor, Designer*innen antizipieren
das Geschlecht ihrer Nutzer*innen meist unhinterfragt.

„Viele Produkte werden als Frauensachen und Männersachen gestaltet


und als solche gekauft und genutzt, und das nicht nur in den Segmen-
ten Mode, Kosmetik und Hygiene oder Kinderspielzeug; hier werden
Stereotype lediglich bereits auf der Oberfläche unmittelbar sichtbar.“
(Brandes 2017: 45) – Gefühlt, sind diese Angebote in den vergangenen
zwei Jahrzehnten mehr anstatt weniger geworden.

Warum das so ist, dazu können nur Hypothesen zur Debatte gestellt
werden. Etwa jene, dass eine Produkt-Differenzierung nach binären Ge-
schlechtern zu einer Steigerung im Absatz führt, wobei Gestalter*innen
vor allem auf die Marktpotenziale von Design zielen. Oder eine Lesart
der massenhaften Verbreitung stereotyp gestalteter Produkte könnte
das Bedürfnis vieler Menschen nach Orientierung sein, frei nach Paw-
loff, jenes Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit etwa. Dazu referiert
Laura Haensler (S. 44) in ihrem Beitrag auf Retrotopia (Baumann 2018),
womit die Renaissance regressiver Werte und Normen in einer Welt,
in der scheinbar alles möglich ist, beschrieben wird. Oder eben die
Annahme, dass in unserer Dingwelt schlichtweg herrschende Macht-
verhältnisse und Repräsentationssysteme gespiegelt werden. Pierre
Bourdieu beschreibt mit dem Begriff der „symbolischen Gewalt“ jene
Phänomene, dass durch die Kategorisierung und Klassifizierung zwi-
schen den Geschlechtern (u.a.) die Anerkennung von Machtstrukuren
unterschwellig und alltäglich gesichert, und die Abwertung bestimmter
Menschengruppen normalisiert werden. Symbolische Gewalt ist „[…]
eine sanfte, selbst für ihre Opfer nicht wahrnehmbare und unbesiegba-
re Gewalt, die zum größten Teil über die rein symbolischen Kanäle der
Kommunikation und der Wahrnehmung (oder genauer gesagt, der Fehl-
interpretation), des Erkennens oder sogar des Fühlens ausgeübt wird“
(Bourdieu 2001: 3). Auch Buchmüller merkt an, dass die hierarchische

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Why this is so, only hypotheses can be put up for debate. For examp-
le, that a product differentiation according to binary genders leads to
an increase in sales, with designers primarily targeting the market po-
tential of design. Or a reading of the mass distribution of stereotyped
products could be the need of many people for orientation, the need
for social belonging, à la Pawloff. Laura Haensler (S. xy) talks about
this in her article in Retrotopia (Baumann 2018), which describes
the renaissance of regressive values ​​and norms in a world in which
everything seems to be possible. Or just the assumption that power
relationships and the prevailing systems of representation are mirro-
red in our world of things.

With the term “symbolic violence”, Pierre Bourdieu describes those


phenomena which, through the categorization and classification
between the sexes (i.a.), ensure that power structures are recognized
subliminally and routinely, and that the devaluation of certain groups
of people is normalized. Symbolic violence is “[…]a gentle violence,
imperceptible and invincible even to its victims, exerted to the most
part through the purely symbolic channels of communication and
cognition (or more precisely, miscognition), recognition, or even fee-
ling” (Bourdieu 2001: 3).

Buchmüller also notes that the hierarchical valuation is implicit in


gender-specific coded objects: “ This can be seen both in the higher
valuation of male versus female characteristics, abilities and behavior
as well as in the unequal distribution of socio-material opportunities
and resources [...].” (Buchmüller 2018: 27)

Design training
What we can and want to practice with students in the `Manual &
Material Culture’ course is a critical, “alternative” view of our material
culture. In the winter semester 2019, the chosen focus was on the
relationship between gender ideas and our designed environment. In
the course of the preparatory work, it emerged that the gender cate-
gory is not an integral part of design training (Kurz, Jerger 2020: 122).
An exception was the chair “Gender & Design” at KISD (Köln Inter-
national School of Design) from 1995-2015, headed by Uta Brandes,

Ulrike Haele / GENDER and DESIGN ....


Wertung in genderspezifisch kodierten Objekten implizit vorhanden ist:
„Das zeigt sich sowohl in der höheren Bewertung von männlich gegen-
über weiblich konnotierten Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltens-
weisen als auch in der Ungleichverteilung soziomaterieller Chancen und
Ressourcen […].“ (Buchmüller 2018: 27)

Die Designausbildung
Was wir im Studiengang ›Design, Handwerk & materielle Kultur‹ mit
Studierenden einüben können und wollen, ist der kritische, „andere“
Blick auf unsere materielle Kultur. Im Wintersemester 2019 war der
gewählte Fokus jener auf das Verhältnis von Gender-Vorstellungen und
unsere gestaltete Umwelt. Im Zuge der Vorarbeiten hat sich ergeben,
dass die Kategorie Gender als integraler Teil in der Designausbildung
nicht verortet ist (Kurz, Jerger 2020: 122). Eine Ausnahme bildete der
von Uta Brandes geleitete Lehrstuhl „Gender & Design“ an der KISD von
1995–2015, der sich an dezidiert an der Thematik interessierte Studie-
rende richtete.2

In unserem Fall war die Herausforderung, eine heterogene Gruppe


Studierender zu einem überwiegenden Teil erstmals mit dieser Per-
spektive zu konfrontieren. Das fehlende Bewusstsein für geschlechter-
gerechte Gestaltung wurde evident, die Reflektion jener Rollenbilder,
die in Produkten implizit oder explizit materialisiert sind, war Neuland.
Im ersten Schritt wurde Kritikfähigkeit geschult. Weiters wurden for-
malästhetische Aspekte wie Form, Materialien, Farbe, Symbolik und
Metaphern, sogenannte Gender-Codes diskutiert, die in der Gestaltung
von Produkten ablesbar sind. Ziel war eine Sensibilisierung für Gender
als soziokulturelle Konstruktion. Die gendersensible Perspektive für die
Semesterarbeiten wurde als Möglichkeitsraum präsentiert, von dem
alle (beide) Geschlechter profitieren können, wenn sie sich von binären
Oppositionen frei machen. Die Herausforderung bestand darin, vom
Perspektiven-Wechsel über die eigene Positionierung im Feld, von der
Definition einer individuellen Interessenslage hin ins konkrete Tun, Ent-
werfen und Umsetzen zu kommen.

2  Brandes, 2017: Gender Design. – Versammelt eine Reihe entstandener Projekte von Studierenden im Forschungsdreieck
Design–Gender–Projekt. Vgl. hier Quellenverzeichnis.

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which was aimed at students who were decidedly interested in the
topic.2

In our case, the challenge was to confront a heterogeneous group


of students for the first time with this perspective. The lack of awa-
reness of gender-equitable design became evident, the reflection
of those role models that are implicitly or explicitly materialized
in products was new territory. In the first step, critical skills were
trained. Furthermore, formal aesthetic aspects such as form, materi-
als, colour, symbolism and metaphors, so-called gender codes, were
discussed, which can be read in the design of products. The aim was
to raise awareness of gender as a socio-cultural construction. The
gender-sensitive perspective for the term projects was presented
as a space of possibility from which all (both) genders can benefit if
they free themselves from binary oppositions. The challenge was to
move from a change of perspective to one’s own positioning in the
field, from defining individual interests to concrete action, design and
realization.

The project activities


The bachelor students of `Manual & Material Culture’ deal with the
topic of gender-sensitive design and the range of projects that have
been developed confirms the potential of the chosen perspective for
solution-oriented and innovative design. A major focus was placed
on the exploratory approach; great importance was attached to the
research phase in order to be able to make informed design decisions
based on this. Even though the results were implemented in a wide
variety of ways, the 23 resulting works can be assigned to concrete
application contexts. Without any claim to validity beyond this, the
areas identified can also be a fruitful stimulus for the professional
practice of product design as areas for the implementation of gen-
der-sensitive design. These areas are represented here by selected
works from students:

2  Brandes, 2017: Gender Design. - Gathers a number of projects created by students in the research triangle Design-Gender-Pro-
ject. Cf. list of sources here.

Ulrike Haele / GENDER and DESIGN ....


Die Projektarbeiten
Die Auseinandersetzung der Studierenden im BA ›Design, Handwerk &
materielle Kultur‹ mit dem Thema Gendersensibles Design, die Band-
breite der entstandenen Projekte bestätigt das Potential der gewähl-
ten Perspektive für lösungsorientierte und innovative Gestaltung. Ein
wesentliches Augenmerk lag auf der forschenden Herangehensweise,
der Phase der Recherche wurde großer Stellenwert eingeräumt, um
darauf basierend informierte Gestaltungsentscheidungen treffen zu
können. Auch wenn die Ergebnisse sehr vielfältig umgesetzt wurden, die
23 entstandenen Arbeiten lassen sich konkreten Anwendungskontexten
zuordnen. Ohne Anspruch auf Gültigkeit darüber hinaus, können die her-
ausgearbeiteten Bereiche auch für die professionelle Praxis des Produkt-
designs als Bereiche zur Umsetzung von gendersensiblem Design eine
fruchtbare Anregung sein. Die Bereiche sind hier anhand ausgewählter
Arbeiten von Studierenden repräsentiert.

Critical Design ist als gestalterische Kultur- und Technologiekritik


(Buchmüller 2018: 143) anerkannt. Mit den Strategien des Critical
Design können Designer*innen Rollenbilder und damit verbundene
Phänomene zur Diskussion stellen (siehe Yvonne Rausch Plot Twist,
S.21) oder auf ironische oder kritische Weise mit Stereotypen brechen.
Das Projekt Rollentausch von Maria Scharl analysiert binäre Schön-
heitsvorstellungen und Normen, die in den vergangenen Jahrhunderten
Artefakte und Hilfsmittel hervorgebracht haben, mit deren Hilfe Körper
von Frauen auf teils schmerzhafte Art geformt und sexualisiert wurden:
hochhackiger Schuh, Büstenhalter oder Korsett. Mit dem entstandenen
Objekt werden Rollenbilder vertauscht, der oberflächliche Blick auf
Frauenkörper wird fiktiv zurückgeworfen. Ergebnis ist eine idealisieren-
de Körpermaske für Männer, die, ähnlich einengend und unangenehm
wie BH oder Korsett, für die Realität von starren Geschlechterrollen und
Schönheitsvorstellungen sensibilisiert.

20 | 21
Critical design is recognized as a creative critique of culture and
technology by design (Buchmüller 2018: 143). With the strategies of
critical design, designers can put role models and related phenome-
na up for debate (see Yvonne Rausch Plot Twist) or break with stereo-
types in an ironic or critical way. Maria Scharl’s project Role Reversal
analyses binary concepts of beauty and norms that have produced
artifacts and assistive devices in past centuries, with the help of
which women’s bodies were shaped and sexualized in a sometimes
painful way: high-heeled shoes, brassieres or corsets. With the
resulting object, role models are exchanged; the superficial view of

◊ MARIA SCHARL
Rollentausch /
Role Reversal

√ YVONNE RAUSCH
Plot Twist

Basierend auf realen Daten


wird die Ungerechtigkeit
des „Gender Pay Gap“ spie-
lerisch erfahrbar, Debatten
werden angeregt.

Based on actual data,


the injustice of the
„Gender Pay Gap“ can be
experienced playfully and
instigates debate.

Ulrike Haele / GENDER and DESIGN ....


Objekte für Kinder: Ein relevantes Anwendungsfeld stellt die Schaffung
von attraktiven, genderdiversen Angeboten für Kinder dar (siehe Irene
Haider Fantalousia, S. 23). In Recherchen erhoben Studierende, dass
Kinder bis zum sechsten Lebensjahr ihre grundlegende Geschlechts-
identität entwickeln, verbunden mit einem Verständnis zu Unterschie-
den, Konstanz und Stereotypen (Rohrmann 2020: 3). Gendersensibles
Design kann mit Objekten zur Unterstützung einer geschlechtsbewuss-
ten Pädagogik einen wesentlichen Hebel zur Überwindung von stereo-
typen Prägungen darstellen.

Das Projekt Strizzis – haptische Bausteine für Kinder von Teresa Egger
und Magdalena Manigatter fokussiert auf die Entwicklung von Ge-
schlechtsidentitäten bei Kindern. Die Designerinnen fanden heraus,
dass gerade im emotionalen Ausdruck große Differenzen zwischen den
Geschlechtern festzustellen sind. In enger Zusammenarbeit mit Päda-
gog*innen gingen sie der Frage nach, wie die Artikulation von und der
Umgang mit Emotionen im Kindesalter gefördert werden kann.
Die entstandenen Bausteine ermöglichen Kindern auf spielerische Art
und Weise und über haptische Erfahrungen, ein Ventil für ihre Emo-
tionen zu finden, oder diese zu repräsentieren. Formen und Farben
wurden frei von Gender-Codes definiert, unterschiedliche Oberflächen
und Befüllungen regen alle Sinne an.

22 | 23
ΩΩ TERESA EGGER
und MAGDALENA
MANIGATTER
Strizzis

∆ IRENE HAIDER
Fantalousia

Steckplattensystem für
phantasievolle Räume und
Kulissen als Gegenentwurf
zu Hellblau-Rosa-Spielwelten
für Kinder.

Slotted panel system for ima-


ginative rooms and scenes
as a counter-design to pink-
blue play worlds for children.

women’s bodies is fictitiously thrown back. The result is an idealizing


body mask for men, which, similarly constricting and uncomfortable
as bra or corset, sensitizes to the reality of rigid gender roles and ideas
of beauty.

Objects for children: A relevant field of application is the creation of


attractive, gender-diverse offers for children (see Irene Haider Fanta-
lousia). In research, students found that children up to the age of six
develop their basic gender identity, combined with an understanding
of differences, constancy and stereotypes (Rohrmann 2020: 3). Gen-
der-sensitive design can be an essential lever for overcoming stereo-
types with objects supporting gender-conscious pedagogy.

The project Strizzis (eng. Rascals) - haptic building blocks for children
by Teresa Egger and Magdalena Manigatter focuses on the develop-
ment of gender identities in children. The designers found out that
there are great differences between the sexes, especially in emotional
expression. In close cooperation with educators, they investigated the
question of how the articulation of and the handling of emotions can be
promoted in childhood. The resulting building blocks enable children
to find an outlet for their emotions or to represent them in a playful way
and through haptic experiences. Shapes and colors were defined free
of gender codes; different surfaces and fillings stimulate all senses.

Ulrike Haele / GENDER and DESIGN ....


Deutungsoffene, individualisierbare Produkte: Farbcodes und For-
men, welche die binäre Sichtweise auf Geschlecht verstärken, werden
vermieden. (siehe Fabian Wohlfarth-Kruckenfellner Holster-Clutch).
Ein weiterer Ansatz ist das individualisierbare Produkt (ergonomisch,
funktional sowie formal), das modular und flexibel von Nutzer*innen
konfiguriert wird. Objekte als offene, individualisierbare Bausätze, Mo-
dularität und die Einbeziehung der Nutzer*innen in die Ausgestaltung
des Entwurfs, das ist auch in Hinblick auf ökologische Langlebigkeit
eine zukunftsfähige Strategie (vgl. Haele 2017: 37).

Martin Koberwein hat in einer kleinen designethnografischen Studie


analysiert, wie sich die Inhalte von Badezimmer-Schränken einerseits
und die funktionalen Anforderungen andererseits, je nach Geschlechts-
identität unterscheiden. Der entstandene Badezimmer-Schrank bezieht
die Erkenntnisse ein und interpretiert den Kultklassiker heimischer
Badezimmermöbel, den Allibert, als Allibert*a neu. Die Funktionen
des Vorbilds aus den 70er-Jahren (Spiegel, Beleuchtung, Kästen, Ac-
cessoires) wurden zerlegt und modular neu angeordnet. Mittels 3D-
gedruckter Verbindungselemente können die einzelnen Teile je nach
ergonomischen und funktionalen Erfordernissen in die Lochrasterwand
eingehängt werden.

24 | 25
Openly interpretable, individualizable products: Color-codes and
forms that reinforce the binary view of gender are avoided. (see Fa-
bian Wohlfarth-Kruckenfellner Holster-Clutch). Another approach is
the customizable product (ergonomic, functional as well as formal),
which is configured modularly and flexibly by users. Objects as open,
customizable kits, modularity and the involvement of users in the
design is also a sustainable strategy in terms of ecological longevity
(see Haele 2017: 37).

∆ MARTIN KOBERWEIN
Allibert*a

◊FABIAN WOHLFARTH-
KRUCKENFELLNER
Holster - Clutch

Ein genderneutrales Acces-


soire als Verstau-Möglichkeit
reagiert auf das Phänomen,
das Taschen in Frauenkleidung
meist zu klein, zugenäht oder
gar nicht vorhanden sind.

A gender-neutral accessory
as a stowage option responds
to the phenomenon that
pockets in women‘s clothing
are usually too small, sewn up
or not available at all.

In a small design ethnographic study, Martin Koberwein has analyzed


how the contents of bathroom cabinets on the one hand and the fun-
ctional requirements on the other differ according to gender identity.
The resulting bathroom cabinet incorporates these findings and rein-
terprets the cult classic of domestic bathroom furniture, the Allibert,
as Allibert*a. The functions of the model from the 1970s (mirrors,
lighting, cabinets, accessories) have been dismantled and rearran-
ged in a modular fashion. Using 3D-printed connecting elements, the
individual parts can be hung in the perforated grid wall according to
ergonomic and functional requirements.

Ulrike Haele / GENDER and DESIGN ....


Objekte und Körperbilder: Artefakte, die den Körper kategorisieren
(Möbel, Bekleidung etc.) tragen zur Konstruktion und Verstärkung
von Geschlechterrollen bei. Im Spannungsfeld von Natürlichkeit und
Künstlichkeit, von gesellschaftlich produzierten Idealbildern (siehe
Isabella Fürst, Unrasiert, S. 27) bis zu Körperpolitiken können aus der
gendersensiblen Perspektive heraus Produkte für alternative Narratio-
nen entstehen.

Katharina Partik hat sich die Frage gestellt, wie ein unvoreingenom-
menes Bewusstsein für die Ästhetik des eigenen Körpers geschaffen
werden kann. Ausgehend von der Befassung mit Körperbildern, deren
ästhetischer Bewertung, der Beobachtung, dass die Gesamtansicht
des Körpers automatisch eine Geschlechtszuordnung mit sich bringt
und die Selbst-Wahrnehmung beeinflusst, wurden Ausschnitte von
Körperabbildun-
gen gewählt. In
den gewählten
Sequenzen wird
das Geschlecht
unwichtig, der
Bild-Ausschnitt
birgt eine eigene
Ästhetik in sich.
Von der Betrach-
tung anderer
Körper war der
logische Schritt
jener hin zur
Betrachtung des
eigenen Körpers,
in Fragmenten.
Das dazugehöri-
ge Spiegel-Objekt
Ego liefert immer
eine aktuelle
Abbildung des
Gegenübers.

26 | 27
∆∆ KATHARINA PARTIK
Ego

∆ ISABELLA FÜRST
Unrasiert / Unshaved

Wiederholtes Ansehen und


Erfahren steigern ästhetisches
Gefallen. Das Gefühl unrasierte,
stoppelige Haare zu berühren
wird mit Objekten, die gut in der
Hand liegen, kombiniert, das
Nachdenken über Schönheitsi-
deale wird angeregt.

Repeated viewing and


exposure enhances aesthetic
pleasure. The feeling of
touching unshaved, stubbly
hair is combined with objects
that are good to hold in the
hand, and reflection on beau-
ty ideals is stimulated.

Objects and body images: Artifacts that categorize the body (furni-
ture, clothing etc.) contribute to the construction and reinforcement
of gender roles. In the field of tension between naturalness and
artificiality, from socially produced ideal images (see Isabella Fürst,
Unrasiert) to body politics, products for alternative narratives can
emerge from a gender-sensitive perspective.

Katharina Partik has posed the question of how an unbiased awa-


reness of the aesthetics of one’s own body can be created. Based
on the examination of body images, their aesthetic evaluation, the
observation that the overall view of the body automatically entails
gender classification and influences self-perception, excerpts of body
images were chosen. In the selected sequences, gender becomes
unimportant; the image excerpt contains its own aesthetic. The logi-
cal step from the observation of other bodies was the observation of
one’s own body, in fragments. The corresponding mirror-object Ego
always provides a current image of the counterpart.

Ulrike Haele / GENDER and DESIGN ....


Alternative geschlechtsspezifische Angebote: Produkte können ent-
weder auf geschlechtsspezifische Anforderungen und neue Produkte
reagieren (siehe Daniela Cabrilo Menstruationstassenreinigung To-Go)
oder bestehende genderspezifisch kodierte Objekte umdeuten.

Jonas Tarmann hat ausgehend von einer Schmuck-Analyse Objektka-


tegorien identifiziert, die üblicherweise von einem binären Geschlecht
getragen werden. Für Menschen, die sich weiblich identifizieren,
benennt er Choker- oder Perlenketten, Bauchnabel-Piercings, Haar-
spangen oder Solitaire-Ringe als deutlich zugeordnete Schmuckstü-
cke. Der Solitaire-Ring, ein Fingerring mit einem einzelnen Diamanten
im Brillantschliff in einer Krappenfassung, hat sich zum Inbegriff des
Verlobungsrings entwickelt. Das Ergebnis der formalen sowie funk-
tionalen Neu-Interpretation dieses Solitaire-Rings ist ein Herren-Ver-
lobungsring, der die Entscheidung und den Bindungswillen beider
Seiten repräsentieren soll und Rollenklischees kritisch befragt. Jonas
Tarmann sieht den Ring LOSIAMO als Ermöglicher für die Gleichstel-
lung von Mann und Frau.

28 | 29
Alternative gender-specific offers:
Products can either react to gender-specific requirements and new
products (see Daniela Cabrilo Menstruationstassenreinigung (eng.
Menstrual Cup Cleaning) To-Go) or reinterpret existing gender-speci-
fic coded objects.

Based on a jewelry analysis, Jonas Tarmann has identified object


categories that are usually worn by a binary gender. For people who
identify themselves as female, he names choker or pearl necklaces,
navel piercings, hair clips or solitaire rings as clearly assigned pieces
of jewelry. The solitaire ring, a finger ring with a single brilliant-cut
diamond in a claw setting, has become the epitome of the engage-
ment ring. The result of the formal as well as functional reinterpreta-
tion of this solitaire ring is a men’s engagement ring that is intended
to represent the decision and the will to bind both sides and critically
questions role clichés. Jonas Tarmann sees the ring LOSIAMO as an
enabler for equality between men and women.

∆JONAS TARMANN
Losiamo

∆∆ DANIELA CABRILO
Menstruationstassen-
reinigung To-Go / Menstrual
Cup Cleaning To-Go

Eine Open-Source-Anleitung
für ein portables System aus
simplen Bestandteilen reagiert
auf die Herausforderung, Mens-
truationstasse in öffentlichen
Toiletten zu reinigen.

An open source instruction


for a portable system of
simple components responds
to the challenge of cleaning
menstrual cups in public
toilets.

Ulrike Haele / GENDER and DESIGN ....


Die Verortung
Die Formulierung „gendersensibles Design“ ist als wertfreies, nieder-
schwelliges Angebot für die Semesterarbeit mit Studierenden gewählt
worden. Gendersensibles Design soll sich hier als Strategie zwischen
dezidiert feministischen Positionen im Design einerseits und Inklusi-
vem Design andererseits verorten.

Ein wichtiger Beitrag zu einer Macht-kritischen und geschlechterinfor-


mierten Designmethodologie stammt von Sandra Buchmüller (2018).
Sie verknüpft feministische Theorie, Wissenschafts- und Technikkritik
mit Designforschung und gestalterischer Praxis und formuliert eine
feministische Methodik für Designforschung und -praxis. Feministische
Designpraxis verfolgt ihr zufolge insgesamt eine Enthierarchisierung
der Designer*innen/Nutzer*innen-Beziehung, hat also auch Auswir-
kungen auf den Designprozess selbst. Die Kritik an universalen Bedeu-
tungskategorien, das Öffnen des Blicks für Individuelles, Kontextuelles,
Situatives und Heterogenes sind dabei wesentliche Kriterien für femi-
nistische Designtheorie und -praxis (vgl. Buchmüller 2018: 250).

Um nicht all jene auszuschließen, die sich nicht als weiblich und/oder
als feministisch identifizieren, wurde keine dezidiert feministische Per-
spektive gewählt. Feminismus ist nach wie vor ein Reizwort und ruft bei
vielen Menschen negative Konnotationen hervor. Es gibt eine bedenk-
liche Differenz gibt zwischen dem, was die verschiedenen Feminismen
erreichen möchten, und wie sie in der Alltagswelt gesehen werden.
Bestätigt wurde diese Einschätzung durch Zurufe von Kollegen im
Rahmen der Semester-Programmierung, die fragten, ob denn ein Fo-
kus auf Genderfragen nicht überholt wäre, weil die Designdisziplinen
des Inklusiven Designs / Design for All ohnedies alle Abweichung von
der Norm mitberücksichtigen. Gender ist in diesen Teildisziplinen des
Designs neben generationellen Aspekten oder körperlichen Einschrän-
kungen ein Kriterium unter anderen. Eine Definition zu inklusivem De-
sign liefert das British Standards Institute (2006): „Die Gestaltung von
Massenprodukten und/oder Dienstleistungen, die für möglichst viele
Menschen zugänglich und nutzbar sind … ohne die Notwendigkeit
einer besonderen Anpassung oder eines speziellen Designs.“

30 | 31
The contextualization
The formulation of “gender-sensitive design” was chosen as a
value-free, low-threshold offer for semester work with students.
Gender-sensitive design is to be contextualized here as a strategy
between decidedly feminist positions in design on the one hand and
inclusive design on the other.

An important contribution to a power-critical and gender-informed


design methodology comes from Sandra Buchmüller (2018). She
links feminist theory, science and technology criticism with design
research and design practice and formulates a feminist methodology
for design research and practice. According to her, feminist design
practice pursues an overall de-hierarchization of the designer/user
relationship, thus also having an impact on the design process itself.
The criticism of universal categories of meaning and the widening
of horizons for the individual, contextual, situational and heteroge-
neous are essential criteria for feminist design theory and practice
(Buchmüller 2018: 250).

In order not to exclude all those who do not identify themselves


as female and/or feminist, no decidedly feminist perspective was
chosen. Feminism is still an emotive word and evokes negative con-
notations in many people. There is an alarming difference between
what the various feminisms seek to achieve and how they are seen
in the everyday world. This assessment was confirmed by calls from
colleagues during the semester programming, who asked whether
a focus on gender issues would not be outdated, since the design
disciplines of Inclusive Design / Design for All take into account all
deviations from the norm anyway. In these sub-disciplines of design,
gender is one criterion among others besides generational aspects
or physical limitations. The British Standards Institute (2006) provides
a definition of inclusive design: “The design of mainstream products
and/or services that are accessible to, and usable by, as many people
as reasonably possible... without the need for special adaptation or
specialized design.”

Ulrike Haele / GENDER and DESIGN ....


Aus der Disziplin des inklusiven Designs sind wesentliche Beiträge
hervorgegangen, einige zeichnen sich allerdings durch die Reduktion
auf den kleinsten gemeinsamen Nenner aus oder reagieren in ihrer
Gestaltung stigmatisierend (z. B. die ‚Jumbotasten‘ auf technischen
Produkten für ältere Nutzer*innen). Strategien des Inklusiven Designs
können dazu beitragen, genderneutrale Produkte zu entwickeln, darü-
ber hinaus erscheinen sie nicht dienlich. An dieser Stelle muss darauf
hingewiesen werden, dass es definitiv nicht hinreichend ist, Gender
als Abweichung von der Norm neben anderen Kriterien gleichwertig zu
behandeln. Dies zu tun bedeutet die Relativierung eines kulturell und
sozial entstandenen Phänomens, das exklusive Aufmerksamkeit und in
seiner Komplexität dezidierten Raum beanspruchen darf und soll.

Gendersensibles Design ist somit ein Angebot, aus der Disziplin des
Designs bewusst auf Gendervorstellungen hinzusehen, die in unsere
materielle Kultur eingeschrieben sind, und die Befassung mit Gender
im Designprozess aus ihrem Nischendasein zu befreien. Möglichst vie-
le Designer*innen sollen angesprochen werden, sich und ihre gestalte-
rische Tätigkeit von Gender-Kategorisierungen loszulösen, damit ihren
Handlungsspielraum zu erweitern und zu einer vielfältigen Gesellschaft
beizutragen.

Die Gegenüberstellung
Abschließend sollen die Erfahrungen aus der Projektarbeit und Ausei-
nandersetzung mit den Studierenden, sowie die Recherche-Arbeit zum
Spannungsfeld Gender und Design durch das Darstellen von Oppositi-
onen pointiert zusammengefasst, vermittelt und zur Diskussion gestellt
werden.

Wie unterscheiden sich genderspezifisch kodiertes Design oder gen-


derblindes Design, deren Angebote unsere materielle Kultur dominie-
ren, von einem Designprozess, der gendersensibel informiert ist? Die
Gegenüberstellung ist eine Annäherung, ein Denkanstoß, der die zu
Grunde liegenden Probleme adressiert und Unterschiede ausmacht.

32 | 33
The discipline of inclusive design has produced significant contribu-
tions, but some are characterized by a reduction to the lowest common
denominator or have a stigmatizing effect on design (e.g. the ‘jumbo
buttons’ on technical products for older users). Strategies of inclusive
design can contribute to the development of gender-neutral products;
beyond that they do not appear to be useful. Here it must be pointed
out that it is definitely not sufficient to treat gender as a deviation from
the norm alongside other criteria in an equivalent manner. To do this
means to relativize a culturally and socially developed phenomenon
that can and should claim exclusive attention and a decided space in
its complexity. Gender-sensitive design is thus an offer to consciously
look from the discipline of design at gender concepts that are inscribed
in our material culture and to liberate the preoccupation with gender
in the design process from its niche existence. As many designers as
possible should be encouraged to free themselves and their creative
work from gender categorizations in order to expand their scope of
action and contribute to a diverse society.

The juxtaposition
finally, the experiences from project works and discussions with
the students, as well as the research work on the interplay between
gender and design by presenting oppositions are being summarized,
communicated and put up for debate.

How does gender-coded design or gender-blind design, whose


offerings dominate our material culture, differ from a design process
that is informed in a gender-sensitive way? The juxtaposition is an
approach – some food for thought – that addresses the underlying
problems and identifies differences.
Gender-
spezifisch
kodiertes Gender-
Design/ sensibles
Gender- Design Gender-
blindes specific
Design coded Gender
design/ sensitive
Gender- Design
blind
design
MINDSET
EINSTELLUNG

Akzeptiert Macht- Hinterfragt Macht-


strukturen und die strukturen und die
Logik des Marktes Logik des Marktes

Fokussiert auf das Fokussiert auf das


Marktpotenzial von Veränderungspotenzial
Design von Design
Accepts power Questions power
Binäre Sichtweise Non-Binäre Sichtweise structures and the structures and the
auf Geschlecht auf Geschlecht logic of the market logic of the market

Focuses on the Focuses on the


market potential potential for change
of design in design

Binary perspective Non-Binary


of gender perspective of
gender

34 | 35
BASIS
GRUNDLAGE
Ist informiert Hinterfragt
durch Daten, zugrundeliegen-
die zu Gender de Daten oder
nicht schafft differen-
differenzieren zierende Daten Informed Questions
by data that underlying data
Trifft Hinterfragt does not or creates
Annahmen Annahmen differentiate differentiating
zu Gender- zu Gender- between data
Rollen Rollen the sexes

Makes Questions
assumptions assumptions
about gender about gender
roles roles

Setzt etablierte Verzichtet auf Gender-


Gendercodes in Form codes, setzt sie ironisch
und Funktion ein oder kritisch ein oder
METHOD

neutralisiert sie *
METHODE

Vordefinierte Farben, Formal und funktional


Formen und Funktio- modular und flexibel:
nen: definiert eröffnet Möglichkeits-
Möglichkeitsräume räume
Uses established Abandons gender
Produktdifferenzie- Produktdifferenzierungen gender codes in form codes, uses them
rungen aufgrund des aufgrund unterschied- and function ironically or critically
binären Geschlechts licher Bedürfnisse oder or neutralizes them*
Funktionen
Predefined colors, Formally and functio-
Hierarchischer Partizipativer shapes and functions: nally modular and
Designprozess Designprozess defines spaces of flexible: opens up
opportunity spaces of opportunity

Product differentiation Product differentiation


based on binary gender based on different
needs or functions

Hierarchical Participatory
design process design process

* Haslinger 2006: 4
Quellen
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36 | 37
Friedrich von Borries
Ein Brief / A letter

Liebe Ulrike,

nun sitze ich seit einigen Tagen immer wieder vor dem Computer,
starre auf den Bildschirm und weiß nicht, was ich schreiben soll. Oder
besser: wie ich es schreiben soll. Ich habe mir Notizen gemacht, wor-
über ich schreiben wollte, die ich nun mit Dir teilen möchte.

Ich wollte davon schreiben, dass ich den Begriff „sensibel“ schwierig
finde, weil er auf den ersten Blick positiv wirkt – einfühlsam, sensibel zu
sein ist ja eine durchweg positive Eigenschaft, aber der Begriff hat für
mich noch eine andere Konnotation, eine negative Zuschreibung. „Du
Sensibelchen“ war in meiner Kindheit ein Schimpfwort, es bezeichnete
jene Jungen, die nicht hart, nicht tough, nicht durchsetzungsfreudig
genug waren – womit das Themenfeld, mit dem sich Gender Sensible
Design befasst, zwar berührt ist, aber doch nicht in dem Sinne, wie der
Begriff „Gender Sensible Design“ verwendet werden möchte.

Friedrich von Borries / Ein Brief


Ich wollte davon schreiben, wie ich als Fünfzehn- oder Sechzehnjäh-
riger auf einer Party jemanden umgarnt habe (geflirtet, getanzt, was
auch immer), dessen Geschlecht ich nicht genau identifizieren konnte,
ein sehr weiblicher Mann oder eine sehr männliche Frau oder irgend-
etwas dazwischen – auf jeden Fall sehr schön und unheimlich attraktiv.
Aufbauend auf dieser Beobachtung hätte ich davon schreiben wollen,
wie schön, wie wertvoll, wie bereichernd ich es noch heute finde, wenn
Zustände nicht festgeschrieben, Grenzen nicht definiert sind, alles flie-
ßend gehalten wird, auch wenn das manchmal verunsichernd, anstren-
gend, herausfordernd ist.

Ich wollte von der Chimaira schreiben und von all den anderen mytho-
logischen Mischwesen: Mischwesen aus Mann und Frau, aus Mensch
und Tier, aus realem und fiktionalem Lebewesen. Mit der Chimaira/
Chimäre könnten wir eintauchen in die Welt der griechischen Götter
und Göttinnen. Von der Beschreibung ausgehend wollte ich in den
Vorstellungsraum eindringen, den Chimären und andere Mischwesen
eröffnen, die Welt der Phantasie, des Rollenspiels, des Un- und Überbe-
stimmten. Ich hätte vielleicht einen Exkurs unternommen zu anderen
Mischwesen, der ägyptischen Sphinx etwa, zu Pegasus, dem geflü-
gelten Pferd, zu den Zentauren, die halb Mensch und halb Pferd sind.
Vielleicht wären wir am Ende dieser Reise in die Welt der Misch- und
Fabelwesen zum Einhorn gekommen und hätten über seine vielfältige
Rezeption zwischen mittelalterlicher Mystik, zeitgenössischen Wurst-
verpackungen, Start-up-Finanzwelt und LGBTI-Szene nachgedacht.

Ich wollte im Anschluss an die Betrachtung der Welt der Misch- und
Fabelwesen der Frage nachgehen, warum in unserer Sprache der
Begriff „Chimäre“ auch dann verwendet wird, wenn etwas als Nich-
tigkeit, als eine unwichtige Einbildung (im Sinne von: „Das war doch
nur eine Chimäre/Schimäre“) beschrieben werden soll, womit meine
Überlegungen bei Aspekten von Ausgrenzung und Marginalisierung
durch Sprache hätten angelangen können. Und vielleicht wäre darin die
Antwort zu suchen, warum die antike Chimaira sterben musste.

Ich wollte davon schreiben, wie ich mit neunzehn oder zwanzig eine
Nacht in Frauenkleidern verbrachte, im engen Top und Minirock, rasiert

38 | 39
und geschminkt; wollte von der Lust und der Freude und den aufregen-
den und erschütternden Erlebnissen berichten, die mit diesem tem-
porären Rollenwechsel einhergingen. Ich wollte ein Plädoyer halten für
Travestie und ironisierende Genderklischees, die, wenn man sie über-
spitzt und übertreibt, wahnsinnig komisch und lustig sein können.

Ich wollte, aufbauend auf der Denkfigur der „Chimäre“, nochmal meine
„politische Designtheorie“ anschauen und das Kapitel „Selbstdesign“
erweitern, weil zum „Selbstdesign“ natürlich auch die Geschlechtsan-
passung oder -transformation gehört, und zum Entwerfen – als Gegen-
satz zum Unterwerfen – auch das Gestalten von hybriden Identitäten,
die weit über das hinausgehen, was heute unter Präfixen wie „trans/
inter“ diskutiert wird. Ich wollte das Bild der Chimäre nutzen, um das
Verhältnis von Mensch und Tier, von Biologie und Kultur, von Unterwor-
fenem und Entworfenem weiter zu denken.

Ich wollte das Kapitel „Gesellschaftsdesign“ aus dem selbigen Buch in


eine Richtung überdenken, die die Frage nach gesellschaftlichen Uto-
pien und der Erprobung von Freiheit so erweitert, dass das Erproben,
Erfahren, Experimentieren mit unterschiedlichen sexuellen Identitäten
seinen Raum bekommt, aber gleichzeitig – weil ich die Chimäre so
spannend finde – auch den anthropozentrischen Blick der Menschen
auf die Menschen durchbricht.

Aber, und das ist meine Schwierigkeit, ich finde dafür im Moment keine
Sprache. Mein Text kommt über das „ich wollte“ nicht hinaus. Er hat
kein Argument, so könnte man sagen. Mein Text bleibt, um den Gedan-
ken wieder aufzugreifen, eine Chimäre. Vielleicht ist es die Zeit, die mir
fehlt, vielleicht ist es die Zeit, in der ich gerade lebe, mit Gesichtsmaske,
Mindestabstand und Virenangst, vielleicht ist es meine deshalb leicht
depressive Grundstimmung, die mir sagt, „das können andere besser
als du“, was vielleicht aber auch einfach eine realistische Selbstein-
schätzung ist. Nun könnte ich mich disziplinieren, so wie ich es gelernt
habe; ich könnte meine Gedanken in eine Sprache pressen, die ich
beherrsche; die akademische Sprache, wie wir sie gewohnt sind zum
Beispiel, aber sowohl „disziplinieren“ als auch „beherrschen“ sind für
einen Text, der über den Rausch, über die Freude am Finden von und

Friedrich von Borries / Ein Brief


Ausbrechen aus seiner Geschlechtsidentität und über die Lust am
Sprengen von Rollenmodellen reflektieren will, die genau falschen Vor-
gehensweisen. Das Denken soll nicht diszipliniert und die Gedanken
sollen nicht von einer Sprache beherrscht werden. Das würde ihnen
die Freiheit nehmen. Und, so wie mir scheint, ist genau diese Sprachlo-
sigkeit ein wesentliches Merkmal im Umgang mit dem Thema, um das
es geht.

Ich hoffe, dass ich das, was ich hier anschneide, im Herbst werde
präzisieren können. Ich werde es versuchen, so wie ich auch mit die-
sem Brief versuche, einen Text zu schreiben, der dem Zustand meiner
Gedanken angemessen ist. Vielleicht wird mir dann eine angemessene
Form des Sprechens gelingen.

Wenn Du willst, kannst Du diesen Brief verwenden. Vielleicht findest


Du ihn aber auch absolut unbrauchbar. Das wäre auch völlig okay.
Wenn Du ihn verwendest, würde ich Dich aber bitten, ihm Luft zu las-
sen, für all das, was der Text beschreiben und bedenken wollte, wofür
der Text – und ich – aber keine passende Sprache gefunden haben.

Es grüßt herzlich
Friedrich

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Dear Ulrike,

I’ve been sitting down in front of the computer off and on for a few
days, staring at the screen and not knowing what to write. Or rath-
er: how I should write it. I have made notes about what I wanted to
write about, which I would like to share with you now.

I wanted to write about the fact that I find the term “sensitive”
difficult because it has a positive effect at first glance - being
sensitive is a thoroughly positive quality, but the term has another
connotation for me, a negative attribution. In my childhood, “Du
Sensibelchen” (eng. literally You Little Sensitive One, perhaps best
translated as Softy) was a swearword, it referred to those boys who
were not hard, not tough, not assertive enough – which touches on
the field of gender sensitive design, but not in the sense in which
the term “gender sensitive design” would be used.

I wanted to write about how, when I was fifteen or sixteen years


old, I was at a party and I ensnared (flirted with, danced with,
whatever) someone whose gender I couldn’t identify exactly, a
very feminine man or a very masculine woman or something in
between – in any case, very beautiful and incredibly attractive.
Based on this observation, I would have wanted to write about how
beautiful, how valuable, how enriching I still find it today, when
conditions are not fixed, boundaries are not defined, everything is
kept fluid, even if this is sometimes unsettling, exhausting, chal-
lenging.

I wanted to write about the chimera and all the other mythological
hybrid beings: a mixture of man and woman, of man and animal,
of real and fictional creatures. With the chimera we could dive
into the world of the Greek gods and goddesses. Starting from the
description, I wanted to enter the space of imagination, opened
up to the chimera and other mixed beings, the world of fantasy, of
role-playing, of the undefined and the over-determined. Perhaps I
would have made an excursion to other hybrid beings, such as the
Egyptian sphinx, to Pegasus, the winged horse, to the centaurs,

Friedrich von Borries / A letter


who are half man and half horse. Perhaps at the end of this jour-
ney into the world of mixed and mythical creatures we would have
come to the unicorn and reflected on its diverse reception between
medieval mysticism, contemporary sausage packaging, the start-up
financial world and the LGBTI scene.

Following my examination of the world of mixed and mythical crea-


tures, I wanted to pursue the question of why the term “chimera” is
used in our language even when something is to be described as
nullity, as an unimportant conceit (in the sense of: “Das war doch
nur eine Chimäre/Schimäre”), which would have allowed my re-
flections to reach aspects of exclusion and marginalization through
language. And perhaps the answer to why the ancient chimera had
to die could be sought in it.

I wanted to write about how I spent a night at the age of nineteen or


twenty in women’s clothes, in a tight top and miniskirt, shaved and
made up; I wanted to tell about the pleasure and joy and the excit-
ing and shattering experiences that went along with this temporary
change of roles. I wanted to make a plea for travesty and ironic
gender clichés, which, if exaggerated and hyperbolized, can be
hilarious and funny.

Building on the thinking figure of the “chimera”, I wanted to take


another look at my “political design theory” and expand the chap-
ter on “self-design”, because “self-design” naturally also includes
gender adaptation or transformation, and designing – as a contrast
to subjugation – also includes the creation of hybrid identities that
go far beyond what is discussed today under prefixes like “trans/in-
ter”. I wanted to use the image of the chimera to further think about
the relationship between man and animal, biology and culture, the
subjugated and the designed.

I wanted to rethink the chapter on “social design” from the same


book in a direction that expands the question of social utopias and
the testing of freedom in such a way that the testing, experiencing,
experimenting with different sexual identities gets its space, but at

42 | 43
the same time - because I find the chimera so exciting - also breaks
through the anthropocentric view of humans on humans.

But, and this is my difficulty, I can’t find a language for it at the


moment. My text doesn’t get beyond the “I wanted”. It has no argu-
ment, you could say. My text remains, to take up the thought again,
a chimera. Maybe it’s the time I’m missing, maybe it’s the time I’m
living in right now, with a face mask, minimum distance and fear
of viruses, maybe it’s my slightly depressive basic mood that tells
me “others can do that better than you”, which is perhaps simply a
realistic self-assessment. Now I could discipline myself, as I have
learned to do; I could squeeze my thoughts into a language that I
have mastered; the academic language, for example, as we are used
to it, but both “discipline” and “mastery” are exactly the wrong ap-
proaches for a text that wants to reflect on intoxication, on the joy of
finding and breaking out of one’s gender identity and on the pleas-
ure of breaking role models. Thinking should not be disciplined and
a language should not dominate thoughts. That would take away
their freedom. And, it seems to me, it is precisely this speechless-
ness that is an essential characteristic in dealing with the issue at
hand.

I hope that I will be able to specify what I am talking about here in


the autumn. I will try, just as I am trying with this letter, to write a
text that is appropriate to the state of my thoughts. Perhaps then I
will succeed in finding an appropriate form of speaking.

If you want, you can use this letter. Or perhaps you will find it abso-
lutely useless. That would also be completely okay. But if you use it,
I would ask you to give it some space for everything the text wanted
to describe and consider, but for which the text - and I - have not
found a suitable language.

Warmest regards,
Friedrich

Friedrich von Borries / A letter


Chimären
Chimeres
Laura Haensler
Milk & Chips
Das Essen eines Butterbrotes und der Griff in die Chipstüte verraten
mehr über eine Person als ihre Glutenunverträglichkeit oder Lakto-
seintoleranz. Der Konsum von Lebensmitteln dient als Spiegel unserer
Alltagskultur und gibt Aufschluss über gesellschaftliche Zustände
und Identitätskonstruktionen. Alle Gebrauchsgegenstände und Waren
unseres Alltags, so Mary Douglas, kommunizieren Botschaften (vgl.
Douglas 1978: 59f.). Lebensmittel agieren als soziale Artefakte, als
Vehikel, deren Angebot und die Art und Weise, wie sie wann, wo, mit
wem und womit konsumiert werden, gesellschaftliche Konstitutionen,
Bedürfnisse und Wünsche zum Ausdruck bringen; sie zeigen kulturel-
len Wandel und materialisieren soziale Phänomene. Roland Barthes
zufolge agieren Lebensmittel und der Konsum von Lebensmitteln als
Kommunikationssystem: Sie protokollieren Verwen-
Barthes, Roland dungen, Situationen und Verhaltensweisen und stellen
(1997): Toward a
Psychosociology of
Informationen her – sie bedeuten (vgl. Barthes 1997:
Contemporary Food 21). „One could say that an entire ‚world‘ (social en-
Consumption.
In: Counihan, Carole; vironment) is present in and signified by food“ (Barthes
van Esterik, Penny:
Food and Culture.
1997: 23).
A reader. New York:
Routledge, 20–27
Das Konsumieren von und Identifizieren mit Lebens-
mitteln gewinnt zunehmend an Bedeutung und dringt
immer kleinteiliger, pluralisierter und spezifischer in unseren Alltag ein.
In der Vergangenheit, so Barthes, wurden nur festliche Anlässe durch
Essen signalisiert; heute drücken sich Arbeit, Sport, Freizeit und Feiern
in und durch Ernährung aus (vgl. Barthes 1997: 25). Diese „Polysemie
des Essens“ (ebd.), die, so Barthes, die Moderne markiert, zeigt sich
einerseits in der wachsenden Pluralisierung des Akts des Essens
in alltäglichen Situationen und Riten und andererseits in dem damit
einhergehenden Angebot von Produkten und Dienstleistungen. Am
Beispiel der Milch lässt sich diese Verästelung und gleichzeitige Spezi-
fizierung deutlich und auf materialisierte Weise ablesen: Bezog man vor
rund 100 Jahren die Milch noch einmal wöchentlich beim Milchmann
aus dem Dorf, wird man heute im Supermarkt vor die Wahl aus über
170 Milchsorten (coopathome.ch) gestellt. Durch das Bedienen un-
terschiedlichster Ernährungsformen werden gleichzeitig die diversen
Lebensstile dahinter sichtbar: Vegan, teilentrahmt, wiesenfrisch, Bio
Demeter, Pro Montagna oder High Protein – die Wahl der Milch wird

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Eating a sandwich and reaching into a bag of chips reveals more
about a person than their gluten intolerance or their inability to fully
digest lactose. The consumption of food serves as a
Douglas, Mary mirror of our everyday culture and provides informa-
(1978): The world
of goods. Towards tion about social conditions and identity construc-
an Anthropology of
Consumption. New
tions. According to Mary Douglas, all everyday objects
York: Norton and goods communicate messages (see Douglas
1978: 59f.). Food acts as social artifacts, as a vehicle;
its supply and the way in which it is consumed – when, where, with
whom and with what – expresses social constitutions, needs and
desires; it shows cultural change and materializes social phenomena.
According to Roland Barthes, food and the consumption of food act
as a communication system: they record uses, situations and behav-
ior and produce information - they imply something (cf. Barthes 1997:
21). “One could say that an entire ‘world’ (social environment) is pres-
ent in and signified by food” (Barthes 1997: 23).

The consumption of and identification with food is growing in im-


portance and it is penetrating our everyday life in an increasingly
small, pluralized and specific way. In the past, according to Barthes,
only festive occasions were signaled by food; nowadays work, sport,
leisure time and celebration are expressed in and through food (cf.
Barthes 1997: 25). This “polysemy of eating” (ibid.), which, according
to Barthes, marks the modern age, can be seen on the one hand in
the growing pluralization of the act of eating in everyday situations
and rituals, and on the other hand in the accompanying offer of prod-
ucts and services. This ramification and simultaneous specification
can be seen clearly and in a materialized way in the example of milk:
About 100 years ago, milk was purchased from the milkman in the vil-
lage once a week. Today, the supermarket offers a choice of over 170
different types of milk (coopathome.ch). By serving the most diverse
forms of nutrition, the various lifestyles behind them become visible
at the same time: vegan, semi-skimmed, meadow-fresh, organic Dem-
eter, Pro Montagna or High Protein - the choice of milk becomes a
statement. What is poured into a glass is barely distinguishable from
the other, is negotiated on and through the packaging and transferred
into a language that can be experienced - the packaging design alone

Laura Haensler / Milch & Chips


zum Statement. Was eingeschenkt in ein Glas kaum voneinander un-
terscheidbar ist, wird auf und durch Verpackung verhandelt und in eine
erfahrbare Sprache transferiert – allein das Verpackungsdesign verleiht
dem Inhalt eine Story, skizziert die Markenidentität, die Target Group
und den zu konsumierenden Lifestyle. An Lebensmitteln lassen sich
nach einem fast schon seismographischen Prinzip gesellschaftliche
Strömungen, Bewegungen und Erschütterungen ablesen. Neuartige
Phänomene wie Sober Curiosity und Healthy Hedonism zeigen sich in
Lebensmitteln oder werden durch sie vorangetrieben: So erfährt der
bewusste Alkoholverzicht durch ein Redesign alkoholfreier Drinks und
Cocktails aktuell eine Entstigmatisierung. Statt Oran-
Haensler, Laura gensaft und Apfelschorle werden jetzt Curious Elixirs
(2019): Chips &
Cheats. Über das gereicht: Die organischen Tinkturen zelebrieren den
Entstellen von Normen. Genuss am Nüchternsein. Eingeschenkt und mit Limet-
Zürich: Masterarbeit
tenschnitz geziert, erwecken die Elixiere den Anschein
Baumann, Zygmunt
(2018): Retrotopia.
einer Margarita, die braunen Flaschen reihen sich in die
Frankfurt am Main: Ästhetik hipper Craft-Biere ein: Durch ein Moment von
Suhrkamp
Mimikry wird der Rechtfertigung und dem Erklärungs-
bedarf einer Alkoholabstinenz entgegengewirkt.

Ob vegane Mandelmilch oder Virgin Spritz: Essen und Trinken stiften


Zugehörigkeit und skizzieren Identitäten (vgl. Haensler 2019: 7). Dabei
agiert auch Geschlecht als irreduzibler Bestandteil: Esswaren und
Essenswahl haben einen fundamentalen Einfluss auf die Konstruk-
tion und Störung von Geschlechtsidentitäten (vgl. Baučeková 2015:
97). Im Verpackungsdesign von Lebensmitteln ist die Verhandlung
von Geschlecht omnipräsent; dabei werden derzeit zwei sich konträr
bewegende Richtungen sichtbar: Einerseits geraten im Zuge des
Megatrends Gender Shift hegemoniale Geschlechterkodierungen ins
Wanken: Reduktionistische Zuschreibungen und klischierte Rollen-
bilder werden durch neue Gestaltungsmaximen aufzubrechen und
zu hinterfragen versucht (vgl. Haensler 2019: 13). Andererseits zeigt
sich eine „Zurück zu“-Tendenz (Baumann 2018: 17): In seinem Buch
Retrotopia beschreibt Zygmunt Baumann die wachsende Sehnsucht
nach der untoten Vergangenheit, dem halbvergessenen Gestern und
der Renaissance regressiver Werte und Normen (vgl. Baumann 2018:
14). Eine Entwicklung, die sich auch im gegenwärtigen Genderdiskurs

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gives the content a story, outlines the brand identity, the target group
and the lifestyle to be consumed. Social currents, movements and
tremors can be read from food according to an almost seismographic
principle. Novel phenomena such as sober curiosity and healthy he-
donism can be seen in food or are being promoted by it: for example,
the conscious renunciation of alcohol is currently being destigma-
tized by a redesign of non-alcoholic drinks and cocktails. Instead of
orange juice and apple spritzer, Curious Elixirs are now being served:
the organic tinctures celebrate the pleasure of sobriety. Poured as a
gift and decorated with lime slices, the elixirs give the impression of
a margarita, the brown bottles are part of the aesthetics of hip craft
beers: Through a moment of mimicry, the justification and explana-
tion of an abstinence from alcohol is counteracted.

Baučeková, SilviaWhether vegan almond milk or virgin spritz: food


(2015): Dining room
and drink create a sense of belonging and outline
detectives. Analysing

identities (cf. Haensler 2019: 7). Gender also acts as


food in the novels
of Agatha Christie.
an irreducible component: food and choice of food
Newcastle upon Tyne:
Cambridge Scholard
Publishing have a fundamental influence on the construction
and disruption of gender identities (see Baučeková
2015: 97). The negotiation of gender is omnipresent in
the packaging design of food; two opposing directions are currently
becoming apparent: on the one hand, hegemonic gender codes are
being shaken up in the course of the megatrend Gender Shift: reduc-
tionist attributions and clichéd role models are being broken down
and questioned by new design maxims (cf. Haensler 2019: 13). On
the other hand, a “back to” tendency is emerging (Baumann 2018:
17): in his book Retrotopia Zygmunt Baumann describes the growing
longing for the undead past, the half-forgotten yesterday and the re-
naissance of regressive values and norms (cf. Baumann 2018: 14). A
development that is also evident in the current gender discourse: “In
the waves of an ever faster moving globalized world, the categoriza-
tion of the sexes into ‘man’ and ‘woman’ appears like a saving anchor.
(Haensler 2019: 13)

The resulting tension between gender shift and Retrotopia manifests


itself in current food products in the supermarkets we trust: Thus

Laura Haensler / Milch & Chips


zeigt: „In den Wogen einer sich immer schneller bewegenden globali-
sierten Welt erscheint die Kategorisierung der Geschlechter in ‚Mann‘
und ‚Frau‘ wie ein rettender Anker.“ (Haensler 2019: 13)

Das daraus resultierende Spannungsfeld aus Gender Shift und Retro-


topia manifestiert sich in gegenwärtigen Lebensmitteln im Supermarkt
unseres Vertrauens: So trifft das „erste ,genderneutrale‘ Bier“ (vgl.
Nudd 2011) Copenhagen, das sich durch das „minimal, stylish design
of its bottles“ (ebd.) von der männlich konnotierten Bierdomäne zu
lösen versucht, auf den britischen Broker’s Gin und den Ginlikör von
Pomp & Whimsy. Ersterer kommt in einer Weißglasflasche mit kleinem
Bowler-Hut als Deckel und einem Portrait eines Herrn in Anzug daher:
Worte wie Quality, Premium, traditional und classic versprühen das
Gefühl jahrelanger Erfahrung und damit einhergehen-
Nudd, Tim (2011): Is der Qualität: „Bewährte Handwerkskunst, gepaart mit
This the World’s First
Gender-Neutral Beer? dandyhafter Eleganz: Alte, aber untote Werte zeich-
https://www.adweek. nen durch eine Reinszenierung das romantisierte Bild
com/creativity/wor-
lds-first-gender-neu- eloquenter, gebildeter und qualitätsliebender Konsu-
tral-beer-131742/ (Letz-
ter Aufruf: 03.06.2020)
ment*innen, das sich am Phänomen des ,retrotopi-
schen‘ Moments bedient“ (Haensler 2019: 63). Ein Pro-
dukt, das auf plakative Weise mit männlich konnotierten
Bildern, Motiven und Symbolen vergangener Tage wirbt und seine 200
Jahre alte Tradition des Gin-Destillierens durch ein attraktives Redesign
zelebriert und ins Heute manövriert. Der „fancy“ Likör von Pomp &
Whimsy wirbt mit „a touch of feminity“ und verspricht ein wondrously,
delightful, natural, playful und sensorial Trinkerlebnis. Auf der Website
wird man mit „Hello Darling“ begrüßt, Produktshots zeigen den Ginlikör
neben kleinen Gläschen, gefüllt mit einer rosafarbenen Flüssigkeit und
essbaren Blüten. Der Alkoholgehalt des Gins liegt bei 30 Prozent und
somit weit unter dem Durchschnitt herkömmlichen Gins. So lädt der
gut betuchte Gentleman im feinen Zwirn zu einem hochprozentigen
Jack the Ripper (brokersgin.com/recipes/), während sich die Darlings
eine Violet Femme (pompandwhimsy.com/sipsandtips) zu Gemüte
führen.

Anhand dieser Beispiele zeigt sich bereits, dass Geschlecht eben nicht
nur auf der Oberfläche von Verpackungen verhandelt wird, sondern

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the “first ‘gender-neutral’ beer” (cf. Nudd 2011) Copenhagen, which
attempts to break away from the male-connoted beer domain through
the “minimal, stylish design of its bottles” (ibid.), meets the British
Broker’s Gin and the gin liquor of Pomp & Whimsy. The former comes
in a white-glass bottle with a small bowler hat as lid and a portrait
of a gentleman in a suit; words like quality, premium, traditional and
classic radiate the feeling of years of experience and the quality that
goes with it: “Proven craftsmanship paired with dandyish elegance:
old but undead values are re-staged to create a romanticized image
of eloquent, educated and quality-loving consumers who make use of
the phenomenon of the ‘retrotopian’ moment” (Haensler 2019: 63). A
product that boldly advertises with masculine-connoted images, mo-
tifs and symbols of bygone days, celebrating its 200-year-old tradition
of gin distillation with an attractive redesign and maneuvering it into
the present day. The “fancy” liquor from Pomp & Whimsy advertises
with “a touch of femininity” and promises a wondrously delightful,
natural, playful and sensorial drinking experience. On the website you
are greeted with “Hello Darling”, product shots show the gin liquor
next to small glasses filled with a pink liquid and edible flowers. The
alcohol content of the gin is 30 percent, which is far below the aver-
age for conventional gin. Thus the well-heeled gentleman in the finest
apparel invites you for a high-proof Jack the Ripper (brokersgin.com/
recipes/), while the darlings enjoy a violet femme (pompandwhimsy.
com/sipsandtips).

These examples already show that gender is not only negotiated on


the surface of packaging, but is already inherent in the expectations
of behavior and tastes constructed by keywords and sales promis-
es: these are often codes that cannot be grasped a priori, which are
unconsciously incorporated into the actions and consumption of
subjects and function according to a set of rules of cultural grammar
(cf. Haensler 2019: 111). “Cultural grammar is [...] an expression of
social power and domination relations, and its rules play an important
role in their production and reproduction. As an inner structure it
permeates the entire [...] social space” (Blissett; Brünzels 2012: 18f.).
Learning and practicing grammatical rules happens unconscious-
ly, adherence to them is largely considered “normal” and is rarely

Laura Haensler / Milch & Chips


bereits den durch Keywords und Verkaufsversprechen konstruierten
Erwartungen an Verhaltensweisen und Geschmäckern innewohnt: Da-
bei handelt es sich um oft nicht a priori fassbare Codes, die unbewusst
in das Handeln und Konsumieren von Subjekten einfließen und nach
einem Regelwerk kultureller Grammatik funktionieren (vgl. Haensler
2019: 111). „Kulturelle Grammatik ist […] Ausdruck gesellschaftlicher
Macht- und Herrschaftsbeziehungen, und ihre Regeln spielen eine
wichtige Rolle, bei deren Produktion und Reproduktion. Als innere
Struktur durchdringt sie den gesamten […] gesellschaftlichen Raum“
(Blissett; Brünzels 2012: 18f.). Das Erlernen und Einüben
Blissett, Luther; grammatikalischer Regeln geschieht unbewusst, sie
Brünzels, Sonja
(2012): Handbuch
einzuhalten gilt weitgehend als „normal“ und wird nur
der Kommunika- selten hinterfragt (vgl. Blissett; Brünzels 2012: 17). So
tionsguerilla.
Berlin/Hamburg: sind Verhaltensweisen, Uhrzeiten und Mengen von kul-
Assoziation A
turell und diskursiv konstruierten Kodierungen reguliert,
denen nicht zuletzt geschlechtsspezifische und oft re-
duktionistische Komponenten zugrunde liegen, die das Verhalten und
die Agency essender und trinkender Subjekte auf asymmetrische Wei-
se markieren. Verena Mayer schrieb in diesem Zusammenhang einen
Artikel in der Süddeutschen Zeitung über die Abwesenheit weiblicher
„Vorbilder“ im Kontext vom Konsum von Alkohol in Massenmedien:
„Wenn Frauen in Filmen und Serien trinken, dann sprudelnde Flüssig-
keiten oder pastellfarbene Cocktails, die so albern sind wie das Wort
‚Mädelsabend‘. Meistens sitzen sie kichernd zusammen und reden
über Schuhe und Sex.“ (Mayer 2019) Die Darstellung der trinkenden
Frau beschränke sich auf die „arme Alkoholikerin oder die beschwipste
Aufgedrehte“, während trinkende Männer als cool wirken, so Mayer
(vgl. Mayer 2019). Durch die Darstellung der trinkenden Frau in Mas-
senmedien werden rollenspezifische Handlungsräume und legitimierte
Verhaltensweisen abgebildet, die reduktionistische Annahmen über
Präferenzen und Geschmäcker tätigen (vgl. Haensler 2019: 105). Es
fehle an Vorbildern, so Mayer, an denen sich Protagonistinnen orientie-
ren können: „Wahrscheinlich müssen trinkende Frauen ihre Rolle erst
finden“ (Mayer 2019).

Ein anderes Beispiel normativer geschlechtsspezifischer Kodierungen


im Kontext von Foodkonsum liefert die Keyword-Suche bei shutter-

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questioned (cf. Blissett; Brünzels 2012: 17). Thus, behaviors, times
and quantities of culturally and discursively constructed codes are
regulated, which are not least based on gender-specific and often
reductionist components that asymmetrically mark the behavior and
agency of eating and drinking subjects. In this context, Verena Mayer
wrote an article in the Süddeutsche Zeitung about the absence of
female “role models” in the context of alcohol consumption in the
mass media: “When women drink in films and series, they drink fizzy
liquids or pastel-colored cocktails that are as silly as the phrase ‘girls’
night out’. Mostly they sit giggling together and talk about shoes and
sex.” (Mayer 2019) The depiction of the drinking woman is limited to
the “poor alcoholic or the tipsy hyper one”, while drinking men ap-
pear cool, according to Mayer (cf. Mayer 2019). The portrayal of the
drinking woman in mass media depicts role-specific spheres of action
and legitimized behavior that make reductionist assumptions about
preferences and tastes (cf. Haensler 2019: 105). According to Mayer,
there is a lack of role models by which female protagonists can orient
themselves: “Probably, drinking women first have to find their role”
(Mayer 2019).

Another example of normative gender-specific coding in the context


of food consumption is the keyword search at shutterstock.com. If
you search for the term depressed eating, 102 pictures appear on the
first page, and 83 of them show women as protago-
Mayer, Verena (2019): nists. The photographs show women in tears, lying on
Von Gläsern und
Gleichberechtigung. the couch or in bed or standing in front of the mirror.
https://sz-magazin. They eat ice cream, chips or chocolates straight from
sueddeutsche.de/
getraenkemarkt/ the package, surrounded by handkerchiefs and emp-
von-glasern-und-
gleichberechti-
ty food packages. The captions provide information
gung-86832/ (Letzter about the context: heartbroken, unhappy, lonely, fat,
Aufruf: 03.06.2020)
overweight, sad. They deal with topics such as rela-
tionship terminations, body norms, frustration and
loneliness; situations or states that can apparently be counteracted
by the consumption of a bucket of chocolate. The pictures are com-
posed in a completely different way with male protagonists: They
show men at the kitchen table with a child in a high chair or at the
workplace in the office. The captions of the pictures read as follows:

Laura Haensler / Milch & Chips


stock.com. Sucht man da nach dem Begriff depressed eating, erschei-
nen auf der ersten Seite 102 Bilder, und 83 von ihnen zeigen Frauen
als Protagonistinnen. Die Photographien zeigen Frauen unter Tränen,
auf der Couch oder im Bett liegend oder vor dem Spiegel stehend. Sie
essen Eis, Chips oder Pralinen direkt aus der Packung, sind umge-
ben von Taschentüchern und leeren Lebensmittelverpackungen. Die
Bildunterschriften geben Auskunft über den Kontext: Herz zerbrochen,
unglücklich, einsam, fat, overweight, traurig. Es geht um Themen wie
Beziehungsbeendigungen, Körpernormen, Frust und Einsamkeit.
Situationen oder Zustände, denen scheinbar mit dem Konsum eines
Schokokübels entgegengewirkt werden kann. Ganz anders setzen sich
dabei die Bilder mit männlichen Protagonisten zusammen: Sie zeigen
Männer am Küchentisch mit Kind im Hochstuhl oder am Arbeitsplatz
im Büro. Die Bildunterschriften der Bilder lesen sich wie folgt: Appetit-
verlust, mangelnder Appetit, sad businessman. Diese Situationen sind
nicht etwa durch einen übermässigen Konsum von Junk Food sondern
vielmehr durch den mangelnden Appetit markiert. Inhaltlich geht es
um das Gestresstsein im Alltag, Überforderung in der Arbeitswelt oder
mit Kindern – oder aber der Kontext wird gar nicht angesprochen oder
gewissermaßen neutralisiert. Es sind Situationen, die Leistungsdruck
oder übermäßige Erwartungshaltungen konkretisieren.

Die Untersuchung des essenden Menschen in Massenmedien stellt


auch in meiner Masterarbeit Chips & Cheats einen wichtigen Teil der
Forschung dar. Die im Jahre 2019 an der Zürcher Hochschule der
Künste in der Vertiefung Trends & Identity entstandene Arbeit beschäf-
tigt sich mit dem interdependenten Verhältnis von Food und Gender
und fragt, welchen Einfluss der Parameter ‚Geschlecht‘ auf die Art
und Weise hat, wie, wo, wann und mit wem Chips gegessen werden.
Kartoffelchips eigenen sich dabei hervorragend dazu, die Alltäglich-
keit der vorliegenden Thematik und den Diskurs an einem scheinbar
ordinären und niederschwelligen Lebensmittel sichtbar zu machen.
Bei Darstellungen von Chipskonsum durch Frauen zeigen sich unter-
schiedlich motivierte Szenarien, von denen ein prägnanter Zweig die
trauernde und unglückliche Frau darstellt: Sie liegt oder sitzt allein
im Bett, eingehüllt in schützende Bettdecken oder wärmende Strick-
pullover, von leeren Essensverpackungen flankiert und von Unglück

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loss of appetite, lack of appetite, sad businessman. These situations
are not marked by excessive consumption of junk food but rather by
a lack of appetite. In terms of content, it is a matter of being stressed
in everyday life, overstrained in the world of work or with children - or
the context is not addressed at all or, in a sense, neutralized. These
are situations that concretize pressure to perform or excessive ex-
pectations.

The investigation of the eating person in mass media is also an impor-


tant part of my master’s thesis Chips & Cheats. The work, which was
written in 2019 at the Zurich University of the Arts in the Trends &
Identity department, deals with the interdependent relationship be-
tween food and gender and asks what influence the parameter ‘gen-
der’ has on how, where, when and with whom chips are eaten. Potato
chips are an excellent way of making the everyday nature of this topic
and the discourse on a seemingly vulgar and low-threshold food visi-
ble. In depictions of chip consumption by women, variously motivated
scenarios emerge, of which a concise branch represents the grieving
and unhappy woman: She lies or sits alone in bed, wrapped in pro-
tective blankets or warming knitted sweaters, flanked by empty food
packages and marked by misfortune: The women depicted eat chips
out of grief, after break-ups or emotional instability (cf. Haensler 2019:
94). They are also pushed into invisibility: The fact that chips are only
consumed in states of emergency and hidden in the wardrobe or un-
der the blanket reinforces their absence from a woman’s regular and
happy everyday life (cf. Haensler 2019: 102). “There seems to have to
be a presence of certain emotional fissures and broken relationships
in order to be allowed to eat chips as a woman” (Haensler 2019: 95).

Excessive chip eating becomes apparent when the protagonists


portrayed are confronted with body images and body norms that they
- in their opinion - do not correspond to; the women portrayed are in
emotionally frustrated situations and interact with attributes such
as the bed as a place of retreat, tears, handkerchiefs and empty food
packages - the scenes are apparently given negative connotations
(cf. Haensler 2019: 102). The depiction of chip consumption by men
also manifests itself through various motifs and framings, with the

Laura Haensler / Milch & Chips


geprägt: Die dargestellten Frauen essen Chips aus Trauer, nach Bezie-
hungsbeendigungen oder emotionaler Instabilität (vgl. Haensler 2019:
94). Sie werden außerdem in die Unsichtbarkeit verdrängt: Dass Chips
nur in Ausnahmezuständen und versteckt im Kleiderschrank oder unter
der Bettdecke konsumiert werden, bestärkt deren Abwesenheit im
geregelten und glücklichen Alltag einer Frau (vgl. Haensler 2019: 102).
„Es scheint eine Präsenz gewisser emotionaler Einschnitte und zerrüt-
teter Verhältnisse geben zu müssen, um als Frau dem Essen von Chips
nachgehen zu dürfen“ (Haensler 2019: 95).

Ein exzessives Chipsessen zeigt sich, wenn die dargestellten Prota-


gonistinnen mit Körperbildern und Bodynorms konfrontiert werden,
denen sie – ihres Erachtens – nicht entsprechen; die dargestellten Frau-
en befinden sich in emotionalen Frustsituationen und interagieren mit
Attributen wie dem Bett als Rückzugsort, Tränen, Taschentüchern und
leeren Essenspackungen – die Szenerien sind augenscheinlich negativ
konnotiert (vgl. Haensler 2019: 102). Auch die Darstellung des Chips-
konsums durch Männer manifestiert sich anhand diverser Motivatio-
nen und Rahmungen, wobei der essende Mann im Wohnzimmer auf
der Couch die prägnanteste Szenerie markiert: Bestückt mit einer Dose
Bier widmet er sich einer TV-Serie oder einem Fußballspiel (vgl. Ha-
ensler 2019: 98). Die Chips werden aus Lust und zur Vervollständigung
einer vergnüglichen Szenerie gegessen – sie agieren als Genussmittel,
das inbrünstig, leidenschaftlich und mit geschlossenen Augen vertilgt
wird (vgl. Haensler 2019: 98). – Ein weiteres Motiv ist der Konsum von
Chips aus Langeweile: In Jogginghose sitzen oder liegen die Protago-
nisten auf der Couch und horten die Tüte Chips in ihrem Schoß (vgl. Ha-
ensler 2019: 99). Obwohl diese Szenen das Moment eines Faulenzers
oder gar Versagers vermitteln, unterscheiden sie sich dennoch stark
von den Darstellungen Chips konsumierender Frauen (vgl. Haensler
2019: 99). „Der Chipskonsum durch Männer in Jogginghose wird selten
hinterfragt, geniesst vielmehr die Position eines legitimierten Alltags-
zustands und muss weder durch emotionale Einschnitte noch durch
andere zerrüttete Verhältnisse gerechtfertigt werden. Die Chips agieren
dabei nicht als Kompensation oder Frustessen, sondern vielmehr als
konventioneller Snack, den man soeben mal im Schrank gefunden hat
und genussvoll zu konsumieren legitimiert ist“ (Haensler 2019: 99).

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eating man on the couch in the living room marking the most strik-
ing scenery: Equipped with a can of beer he devotes himself to a TV
series or a football match (cf. Haensler 2019: 98). The chips are eaten
out of lust and to complete a pleasurable scene - they act as a stim-
ulant that is consumed fervently, passionately and with closed eyes
(cf. Haensler 2019: 98). - Another motive is the consumption of chips
out of boredom: Wearing sweatpants, the protagonists sit or lie on
the couch and hoard the bag of chips in their laps (cf. Haensler 2019:
99). Although these scenes convey the moment of laziness or even
failure, they are nevertheless very different from the depictions of
women consuming chips (cf. Haensler 2019: 99). “The chip consump-
tion by men in sweatpants is rarely questioned, but rather enjoys
the position of a legitimate everyday state and does not have to be
justified by emotional cutbacks or other dysfunctional conditions. The
chips do not act as compensation or frustration, but rather as a con-
ventional snack that you have just found in the cupboard and which
is legitimized to be consumed with pleasure” (Haensler 2019: 99).
The protagonists are shown with their mouths open in these scenes
and are surrounded by attributes such as the cold beer, the remote
control and the couch.

Advertisements, images, TV series and films of popular culture have


a great influence on the reproduction of cultural grammar and on the
way gender is produced and presented: They depict scenes and sit-
uations that recipients orient themselves by or find themselves in (cf.
Haensler 2019: 105). Teresa de Lauretis writes in this context about
the social technology of a semiotic apparatus, through which an in-
terface between recipients and socially endowed codings is created
(cf. de Lauretis 1984: 14) - codings that are translated into their own
action through the imitation by recipients: “While codes and social
formations define positions of meaning, the individual reworks those
positions into a personal, subjective construction” (de Lauretis 1984:
14). By constantly quoting, learning and exercising a role, gender-spe-
cific codings are constituted that appear “natural”, according to
Judith Butler: “For as we have seen, the substantivist effect of gender
identity is performatively produced and forced by the regulatory pro-
cedures of gender coherence” (Butler 2014: 49). The resulting “social

Laura Haensler / Milch & Chips


Die Protagonisten werden in diesen Szenerien mit offenem Mund
gezeigt und sind umgeben von Attributen wie dem kühlen Bier, der
Fernbedienung und der Couch.

Werbung, Bilder, TV-Serien und Filme der Populärkultur haben einen


großen Einfluss auf die Reproduktion kultureller Grammatik und auf
die Art und Weise, wie Geschlecht her- und dargestellt wird: Sie zeigen
Szenerien und Situationen, an denen sich Rezipient*innen orientieren
oder sich in ihnen wiederfinden (vgl. Haensler 2019: 105). Teresa de
Lauretis schreibt in diesem Zusammenhang über die soziale Technolo-
gie eines semiotischen Apparates, durch den eine Schnittstelle zwi-
schen Rezipient*innen und sozial gestifteter Kodierungen hergestellt
wird (vgl. de Lauretis 1984: 14) – Kodierungen, die durch das Nach-
ahmen durch Rezipient*innen in ihr eigenes Handeln
De Lauretis, Teresa übersetzt werden: „While codes and social formations
(1984): Alice doesn’t.
Feminism, Semiotics,
define positions of meaning, the individual rework
Cinema. London: those positions into a personal, subjective constructi-
Macmillan
on“ (de Lauretis 1984: 14f.). Durch ein stetiges Zitieren,
Butler, Judith (2014):
Das Unbehagen der
Erlernen und Ausüben einer Rolle konstituieren sich
Geschlechter. Frankfurt geschlechtsspezifische Kodierungen, die „natürlich“
am Main: Suhrkamp
wirken, so Judith Butler: „Denn wie wir gesehen haben,
wird der substantivistische Effekt der Geschlechtsi-
dentität durch die Regulierungsverfahren der Geschlechter-Kohärenz
performativ hervorgebracht und erzwungen“ (Butler 2014: 49). Die
daraus resultierende, natürlich wirkende „soziale Realität“ wird wiede-
rum von Massenmedien zitiert und durch die Darstellung reproduziert.
Somit fungieren Serien wie ‚Gilmore Girls‘, ‚New Girl‘ oder ‚Family Guy‘
nicht nur als Spiegel, sondern auch als Rollenmodell für viele Zuschau-
er*innen (vgl. Recht 2008: 143). „Dadurch entsteht ein endloser, per-
petuierender Kreislauf, der sich durch das Zitieren und Reproduzieren
stetig neu konstituiert“ (Haensler 2019: 104). Dabei zeigt sich, dass das
mit einer gewissen Scham verbundene ‚Frustessen‘ durch Massen-
medien zu einem weiblichen Phänomen gemacht wird. Männer hinge-
gen essen Chips als Alltagsbeschäftigung auf legitimierte und selten
hinterfragte Weise.

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reality”, which appears natural, is in turn quoted by mass media and
reproduced by the representation. Thus series such as ‘Gilmore Girls’,
‘New Girl’ or ‘Family Guy’ function not only as a mirror but also as a
role model for many viewers (cf. Recht 2008: 143). “This creates an
endless, perpetual cycle that is constantly reconstituted through quo-
tation and reproduction” (Haensler 2019: 104). It becomes apparent
that the ‘stress eating’ associated with a certain amount of shame is
turned into a female phenomenon by mass media. Men, on the other
hand, eat chips as an everyday occupation in a legitimate and rare-
ly-questioned way.

To make this asymmetry visible, a six-piece cutlery set was created


as part of the Chips & Cheats diploma project. The tools deal in a
critical and ironic way with culturally and socially constructed eating
behavior, spaces for action and legitimate behavior in the context of
the consumption of chips with hands and fingers. The binary gen-
der codes extracted from films and TV series and the incorporated
cultural grammar are translated into physical tools
Barthes, Roland and at the same time made visible and presented
(1986): Sade, Fourier,
Loyola. Frankfurt am
in an exaggerated way. “Is not the best subversion,”
Main: Suhrkamp Barthes asks, “to distort the codes rather than destroy
Recht, Marcus (2008): them?” (Barthes 1986: 41) The translation into cutlery
(De)constructing focuses on the question of how the perpetuating cycle
the gendered Gaze:
Geschlechts- of reception, incorporation and reproduction can be
spezifische Blick-
hierarchien in der
disrupted and put up for debate. The food tools consist
TV-Serie „Buffy“. of a combination of recycled silver cutlery and plas-
In: Ruhl, Alexander;
Richard, Birgit (Hg.), ter positives of fingers and hands. The body literally
Konsumguerilla: Wider-
stand gegen Massenkul-
becomes cutlery itself, and the tools force one to
tur? Frankfurt am Main: adopt specific body postures and behaviors, and learn
Campus Verlag.
to eat chips with one’s own extremities. Three pieces
of cutlery deal with the subtle, quiet and stigmatized
consumption of chips - the tools play with the moment of hiding,
minimizing and decontextualizing. With the Kaukaschierklappe (eng.
mastication concealment lid), for example, one eats chips behind the
palm of one’s hand, the Kuppenklemme (eng. dome clamp) helps you
consume elegantly and thoughtfully, and the Daumendresche (eng.
thumb thresher) crushes the chips already in the palm of your hand,

Laura Haensler / Milch & Chips


Um diese Asymmetrie sichtbar zu machen, entstand im Rahmen des
Diplomprojekts Chips & Cheats ein sechsteiliges Besteckset. Die Tools
beschäftigen sich auf kritische und ironische Weise mit kulturell und
sozial konstruierten Essverhalten, Handlungsräumen und legitimierten
Verhaltensweisen im Kontext vom Konsum von Chips mit Händen und
Fingern. Die aus Filmen und TV-Serien extrahierten binären Gender-
kodierungen und die inkorporierte kulturelle Grammatik werden in
physische Tools übersetzt und zugleich überspitzt sichtbar gemacht
und dargestellt. „Ist die beste Subversion“, fragt Barthes, „nicht die
Codes zu entstellen, statt sie zu zerstören?“ (Barthes 1986: 41) Die
Übersetzung in Besteckteile fokussiert sich auf die Frage, wie der per-
petuierende Kreislauf aus Rezipieren, Inkorporieren und Reproduzieren
gestört und zur Debatte gestellt werden kann. Die Foodtools bestehen
aus einer Kombination aus rezykliertem Silberbesteck und Gipsposi-
tiven von Fingern und Händen. Der Körper wird buchstäblich selbst
zum Besteck, und die Tools zwingen zum Einnehmen spezifischer
Körperposen, Verhaltensweisen und Erlernen des Essens von Chips
mit den eigenen Extremitäten. Drei Besteckteile beschäftigen sich mit
dem subtilen, leisen und stigmatisierten Konsum von Chips – die Tools
spielen mit dem Moment des Versteckens, Minimierens und Dekon-
textualisierens. So isst man mit der Kaukaschierklappe Chips hinter
vorgehaltener Hand, die Kuppenklemme verhilft zu einem eleganten
und bedachten Konsum und die Daumendresche zerkleinert die Chips
bereits in der Handinnenfläche, so dass unangebrachte Geräusche und
Kaubewegungen minimiert werden. Drei Besteckteile thematisieren
das artikulierte, offensichtliche Essen von Chips. Die Tools maximie-
ren Geräusche in ihrer Lautstärke, skalieren Kauprozesse lupenartig
und provozieren die Öffnung des Mundes auf übertriebene Weise. Die
Rachenröhre wirkt wie ein Megaphon und verstärkt die Lautstärke wäh-
rend des Essens von Chips. Die Großglotzlupe agiert als Lupe – Mund,
Zunge und Zähne werden grotesk vergrößert, das ganze Gesicht gleich-
sam entstellt. Die Schlundspreize zwingt schließlich dazu, den Mund
auf schmerzhafte Weise weit zu öffnen.

Die Tools versuchen, den vorliegenden Diskurs in eine erfahrbare


Sprache zu transferieren und sichtbar zu machen. Dabei wohnen
dem Design nicht zuletzt epistemische Qualitäten inne: Durch das

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minimizing
Haensler, Laura (2019):
Chips & Cheats. Über
inappropri-
das Entstellen von Nor-
ate noise and
men. Zürich: Masterarbeit

chewing move-
ments. Three
pieces of cutlery address the
articulated, obvious eating of
chips. The tools maximize the
volume of noise, scale chew-
ing processes magnifyingly
and provoke the opening of the
mouth in an exaggerated way.
The Rachenröhre (eng. throat
tube) acts like a megaphone
and amplifies the volume
while eating chips. The Groß-
glotzlupe (eng. gawking glass)
acts as a magnifying glass
- mouth, tongue and teeth
are grotesquely enlarged, the
whole face is disfigured as
it were. The Schlundspreize
(eng. gullet spreader) finally
forces the mouth to open wide
in a painful way.

The tools attempt to transfer


the present discourse into
an experiential language and
make it visible. The design has
epistemic qualities: by eating
the chips with the tools, the
performativity of one’s own
extremities is questioned and
the learning of new behaviors
is forced. They attempt to
highlight a deformation and

Laura Haensler / Milch & Chips


Essen der Chips mit den Tools wird die Performativität der eigenen
Extremitäten hinterfragt und das Erlernen neuer Verhaltensweisen
erzwungen. Sie unternehmen den Versuch, durch Subversives Design
und gezielte gestalterische Eingriffe ein Entstellen und Umdenken zu
markieren (Haensler 2019: 119). Als Vermittlungstools zeigen sie auf,
wie mediale Darstellungen von Lebensmittelkonsum und das Angebot
des Marktes binäre und reduktionistische Bilder und Kodierungen re-
produzieren, die der Fülle, Diversität und Individualität von Geschlecht-
sidentitäten nicht gerecht werden. Sie verfolgen den Ansatz, die
bestehende Sprache und die daraus resultierenden Bilder durch das
Moment des Skalierens und Verzerrens mit neuen Inhalten und Bedeu-
tungen zu füllen. Design agiert hier sozusagen als Dioptrie, um soziale
und historische Konstitutionen, die sich durch das Dekodieren der
gestalteten Dinge unseres Alltags und deren Konsum ableiten lassen,
scharfstellen, lesen und verstehen zu können.

Design leistet aber nicht nur Übersetzungsarbeit, in dem es Bestehen-


des zu hacken und durch Collagen zu entstellen vermag; Design ist auch
– oder vielmehr – imstande, Zukünftiges zu entwerfen und noch nie
Dagewesenes und Unvorstellbares vorstellbar, lesbar und verstehbar zu
machen – Design hat eine politische Dimension und die Macht, in avant-
gardistischer Manier, Revolutionen, Veränderungen von Normen, Abläu-
fen und Strukturen ins Rollen zu bringen. Es bedarf einer Sprache, die
gegenwärtige Genderdebatte im und eben durch Design voranzutrei-
ben. Nicht aber etwa durch ‚genderneutrales‘ Design, dessen Maxime
ich als Oxymoron zu betiteln wage: Design soll und kann niemals neutral
sein – jedes Material, jede Farbe und jede Oberfläche ist historisch und
gesellschaftlich geprägt und unterliegt einem vergeschlechtlichten Dis-
kurs. Vielmehr plädiere ich für ein Design, das divers und spektral agiert;
ein Design, das nicht versucht, Gender zu negieren oder zu neutralisie-
ren, sondern das Subjekte in ihrer Individualität und Vielfalt ansprechen,
abbilden und repräsentieren kann. Es braucht ein Design, das nicht
nach retrotopischer Manier am Gestern festhält, sondern die Gegenwart
liest, versteht und abbildet, um Zukünftiges möglich und intelligibel zu
machen. Design kann Neues hervorbringen. Neues, das sich so divers,
pluralisiert und breit manifestiert, wie das Milchangebot im Kühlregal
des Supermarktes um die Ecke – und weit darüber hinaus.

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change in thinking through subversive design and targeted creative
interventions (Haensler 2019: 119). As mediation tools, they show
how media representations of food consumption and market supply
reproduce binary and reductionist images and codes that do not do
justice to the abundance, diversity and individuality of gender iden-
tities. They pursue the approach of filling the existing language and
the resulting images with new content and meanings through the
moment of scaling and distortion. Here, design acts as a diopter, so
to speak, in order to be able to focus, read and understand social and
historical constitutions that can be derived by decoding the designed
things of our everyday life and their consumption.

However, design does not only perform translation work by hacking


the existing and disfiguring it with collages. Design is also - or rather
- capable of designing the future and making the unprecedented and
unimaginable imaginable, readable and understandable; design has a
political dimension and the power to set in motion, in an avant-garde
manner, revolutions, changes in norms, processes and structures.
A language is needed to advance the current gender debate in and
through design. But not through ‘gender-neutral’ design, whose
maxim I dare to call an oxymoron: Design should and can never be
neutral - every material, every color and every surface is historically
and socially shaped and is subject to a gendered discourse. Rather,
I plead for a design that acts diversely and spectrally; a design that
does not attempt to negate or neutralize gender, but that can address,
depict and represent subjects in their individuality and diversity. What
is needed is a design that does not cling to yesterday in a retrotopian
manner, but reads, understands and depicts the present in order to
make the future possible and intelligible. Design can create some-
thing new. New things that are as diverse, pluralized and widely mani-
fested as the milk on offer in the refrigerated shelves of the supermar-
ket around the corner - and far beyond.

Bildnachweis S. 45, 61 / Photo Credits p. 45, 61: Laura Haensler

Laura Haensler / Milch & Chips


Mayar El Bakry und
depatriachise design
Bodies in/and Spaces

Wir möchten zu einer Reise einladen.


Einer Reise durch öffentliche Räume,
aus unseren persönlichen Perspektiven.
In verschiedenen Szenen möchten wir
mithilfe unserer Erfahrungen das Ver-
hältnis von Körpern mit der gestalteten
(Menschen- bzw. Männer-gemachten)
Umwelt besprechen. Das Persönliche
ist politisch, denn unsere eigenen Bio-
grafien und Erfahrungen beeinflussen
unsere Forschung, Lehre und Praxis.
Wir stellen persönliche Ansprüche, um
den vom Design-Patriarchat übernom-
menen Schein der Objektivität und
Neutralität aufzulösen. Persönlich zu
werden bedeutet, unsere Emotionen
zu diskutieren und, wie u.a. von der
Feministin Sara Ahmed vorgeschlagen,
unsere Erfahrungen zu katalogisieren.
Das Persönlich-werden erlaubt uns, Design scenes from everyday life
zu reflektieren und uns zu verbinden. A collaboration between Mayar El
So können wir unsere Positionalität Bakry and depatriachise design
analysieren und deutlich machen, dass
weder unsere noch irgendeine andere
Arbeit objektiv oder neutral ist, sondern
immer subjektiv.
• Persönlich werden wird oft als unprofes- We would like to invite you on a
sionell angesehen, weil jede Handlung, journey. A journey through public
die Frauen* unternehmen, um die patriar- spaces, from our personal perspec-
chalische Logik zu stören oder aufzulösen, tives. In various scenes, with the
automatisch als irrational, unangemessen help of our experiences, we would
oder schwach etikettiert wird. like to discuss the relationship of
• Persönlich werden entmystifiziert den bodies with the designed (man-made
Kanon und entlarvt die unterdrückenden as well as Man-made) environment.
Rollen von Geschlecht, Rasse und Klasse The personal is political, because our
bei der Konstruktion von Macht-Ungleich- own biographies and experiences
gewichten (McClure 2000:53-55). influence our research, teaching and
• Persönlich werden ermöglicht es uns, practice. We make personal demands
unsere eigene Stimme zu finden und un- in order to dissolve the semblance of
sere eigene visuelle, formale und textliche objectivity and neutrality adopted by
Landschaft zu gestalten. design patriarchy. Becoming personal
• Persönlich werden betont die diskriminie- means discussing our emotions and,
renden Werte und Standards des Designs. as suggested by feminist Sara Ahmed,
• Persönlich werden regt uns an, über die among others, cataloguing our expe-
Rolle des Geschlechts bei der Konstruktion riences. Becoming personal allows us
von Design als Disziplin zu reflektieren. to reflect and connect. In this way we
• Persönlich zu werden bedeutet aber auch, can analyze our positionality and make
eine Spaßkillerin (Killjoy) zu werden, wie it clear that neither our nor any other
Sara Ahmed herausgestrichen hat (Ahmed work is objective or neutral, but always
2017: S. 37). Es bedeutet, sich gegen die subjective.
Ungerechtigkeiten zu wehren, die Quel-
len der Unterdrückung herauszufordern • Getting personal is often regarded as
und auf Praktiken hinzuweisen, die den unprofessional because every action that
patriarchalischen Status Quo aufrecht- womxn take to disrupt the patriarchal
erhalten. Das kann frustrierend, wütend logic is automatically labelled as irration-
und ermüdend werden. Aber Killjoy bringt al, inappropriate or weak.
auch eine transformierende Wirkung mit • Getting personal demystifies the canon
sich. Sie kann befreiend sein, wenn wir uns and exposes the oppressive roles of gen-
bemühen, neue Praktiken zu schaffen, uns der, race and class in the construction
auf neue Inhalte zu konzentrieren und die of power imbalances (McClure 2000:
Bedingungen, unter denen wir arbeiten, in 53-55)
Frage zu stellen. • Getting personal allows us to find our
own voice and to shape our own visual,
Szene 1: 2020, Zürich, in einer Küche formal and textual landscape.
Ich stehe in meiner Küche und halte die • Getting personal highlights, the
kleine Falafelpresse in meiner Hand, alle discriminatory values and standards of
Zutaten stehen bereit. Dieser Gegenstand, design.
der Geruch – die gesamte Atmosphäre • Getting personal stimulates us to re-
versetzt mich zurück in meine Kindheit: flect on the role of gender in how design
Frühstück an einem Freitag am Küchen- as a discipline is constructed.

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tisch meiner Oma, wo wir frische Falafel • But getting personal also means
und gebratene Eier zubereiteten. Ich wuchs becoming a killjoy, as Sara Ahmed has
in Kairo auf. pointed out (Ahmed 2017: 37). It means
resisting injustice, challenging the
Die Küchenutensilien wie die Falafelpresse sources of oppression and pointing to
waren und sind ein Teil unseres Alltags. practices that maintain the patriarchal
Jeder dieser Gegenstände erzählt eine status quo. This can become frustrating,
Geschichte lokaler Industrie, Materialien, annoying and tiring. But killjoy also has a
Produktionsmethoden und Traditionen, per- transformative effect. It can be liberating,
sönlicher Beziehungen, Erinnerungen, die as we strive to create new practices, fo-
Geschichte einer Region (Südwestasiens cusing on new contents and challenging
und Nordafrika [SWANA Region]), ebenfalls the conditions in which we operate.
die Geschichte ihrer Kolonialisierung. Sie
tragen lokales Wissen in sich und geben Scene 1: 2020, Zurich, in a kitchen
dieses Wissen von Generation zu Generati- Standing in my kitchen holding a small
on weiter. Diese bescheidenen und prakti- falafel press while all the ingredients are
schen Küchenutensilien / Kochwerkzeuge ready, I’m reminded of my childhood.
wandern über Grenzen von Nationalstaaten This object, the smells of deep-frying
hinweg, genauso wie die Menschen, ihre falafel dough: It takes me back to the Fri-
Rezepte und Erinnerungen, sich anpassen days at my grandmother’s kitchen table
an lokale Kontexte. Sie sind mehr als reine where we prepared fresh falafel and fried
Werkzeuge, die uns helfen, Alltagsgerichte eggs. I grew up in Cairo.
zuzubereiten. Oft anonym gestaltet, können
sie zu Gesprächen über das unsichtbare The kitchen tools like the falafel press
und marginalisierte, uns umgebende De- were and are part of our everyday life.
sign anregen. Each of these objects tells a story of
local industry, materials, production
Als menschliche Wesen haben wir immer methods and traditions, personal
über das Kochen und Essen, und die dabei relationships, memories, the history
sich entfaltenden Gespräche, einen Sinn of a region (Southwest Asia and North
für Gemeinschaft entwickelt. Viele unserer Africa [SWANA region]), as well as the
Bräuche, Rituale und Traditionen sind history of its colonization. They carry
rund um das Konzept von Gemeinschaft local knowledge within them and pass
entstanden – gemeinsam essen, andere it along from generation to generation.
einladen, großzügig Mahlzeiten miteinan- These modest and practical kitchen
der teilen. Wir feiern und trauern mit Essen utensils / cooking tools migrate across
und Trinken. Wir beschließen Verträge, borders of nation states, just as people,
Übereinkommen und Verhandlungen über their recipes and memories, adapting to
eine geteilte Mahlzeit. Soziale Aspekte sind local contexts. They are more than mere
hier mit unserem Überleben als Mensch- tools that help us to prepare everyday
heit verwoben. dishes. Often designed anonymously,
they can stimulate conversation about
Als Designerin sehe ich außerdem the invisible and marginalized design
Parallelen zwischen dem Kochen und that surrounds us.

depatriachise design / Bodies in/and Spaces


der Gestaltung. In beiden Feldern wurde Each one tells a story of local indus-
manchen Traditionen historisch mehr Wert try, materials, production modes and
zugeschrieben als anderen. Die Haute Cui- traditions, of personal relationships,
sine wird geschätzt, überaus komplizierte memories, a region’s history, and also
Gerichte und die professionellen Köch*in- the story of colonization. The objects
nen, die sie kreieren, werden gefeiert, wäh- fluctuate across and beyond the borders
rend das tägliche, unordentliche Kochen zu of nation-states, as did the people, their
Hause und diejenigen, die es durchführen, recipes and stories, adapting to the local
nicht ihre angemessene Anerkennung contexts. They are more than mere tools
bekommen. Ähnlich im Design: die von helping prepare everyday meals.
ausgebildeten (meist weißen, männlichen)
Designer*innen entwickelten Traditionen As human beings, we have always de-
werden gefeiert – und die kreativen Entwür- veloped a sense of community through
fe und Ergebnisse der „anderen“ (Frauen*, cooking and eating, and the conversa-
Indigene, Amateur*innen) werden unsicht- tions that unfold in the process. Many of
bar gemacht, indem sie als Handwerk oder our customs, rituals, and traditions have
Hobby abgetan werden. Dieses binäre evolved around the concept of commu-
Denken – Design und Handwerk, Haute nity - eating together, hosting others,
Cuisine und Alltagsküche – führt dazu, dass generously sharing meals with each
das eine als überlegen und das andere als other. We celebrate and mourn with food
unterlegen angesehen wird, denn es spie- and drinks. We finalize contracts, treaties
gelt die vorherrschenden Erzählungen und or negotiations over a shared meal. It’s
Hierarchien innerhalb der Disziplinen wider. social but also distinctly connected to
our species survival.
Für mich sind Gestaltung und Kochen aller-
dings keine voneinander getrennten Felder. As a designer I also see parallels
Die Designhistorikerin Judy Attfield (2000) between cooking and design. In both
erinnert uns daran, dass „the experience fields, some traditions have historically
of designing is […] something that most been valued more than others. Haute
people do every day when they put together cuisine is appreciated, highly complex
a combination of clothes to wear or plan dishes and the professional chefs who
a meal.“ (Attfield 2000: S. 17) Und ihre create them are celebrated, while daily,
Kollegin Cheryl Buckley ermutigt uns dazu, messy home-cooking and those who do
Gestaltung nicht nur in der öffentlichen it do not get acknowledged. Similarly,
Sphäre zu sehen, sondern auch in „the in design: the traditions developed by
mundane practices involved in the design trained (mostly white, male) designers
or production of services in everyday life“ are celebrated - and the creative designs
(Buckley 2020) – wie das Kochen zu Hause. and results of the “others” (womxn,
Je nachdem, wer und wo wir sind, kommen indigenous, amateur) are made invisible
diese täglichen „Dinge“, wie etwa häusli- by dismissing them as crafts or hobbies.
che Arbeit, in unser Sichtfeld oder sogar This binary thinking - design and craft,
in unseren Weg, wie Sara Ahmed in ihrem haute cuisine and everyday cooking -
Buch „Queer Phenomenology“ schreibt. leads to one being seen as superior and
Wenn wir uns auf jene konzentrieren, die the other as inferior, because it reflects

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marginalisiert und aus Gesprächen und the prevailing narratives and hierarchies
Räumen ausgeschlossen werden, können within the disciplines.
wir einen besseren Blick auf die Küche und
den Küchentisch bekommen – als einen For me, however, design and cooking
Raum, in den alle delegiert wurden, die are not separate fields. Design historian
kein weißer, vermögender Mann waren, Judy Attfield (2000) reminds us that “the
aber auch als einen Rückzugsort für ge- experience of designing is [...] something
genseitige Unterstützung und Widerstand that most people do every day when they
gegen soziale Ungleichheiten. put together a combination of clothes
to wear or plan a meal.” (Attfield 2000:
Szene 2: 2018, Bahnhofstraße 17) And her colleague Cheryl Buckley
Zürich / Madre del Dios, Peru encourages us to see design not only in
Als Industriedesignerin habe ich gelernt, the public sphere, but also in “the mun-
jedes Material zu untersuchen/recherchie- dane practices involved in the design
ren, seine Eigenschaften zu analysieren, or production of services in everyday
seine Einsatzmöglichkeiten und Funkti- life” (Buckley 2020) - like home cooking.
onen zu bewerten. Und schließlich die Depending on who and where we are,
Produktionsmethoden zu bestimmen. An these daily “things”, such as domestic
dieser Stelle soll nun über die wirtschaft- work, come into our field of vision or
liche, politische und anthropologische even into our path, as Sara Ahmed writes
Bedeutung dieser Materialien nachge- in her book “Queer Phenomenology”. If
dacht werden. we focus on those who are marginalized
and excluded from conversations and
Neunzig Prozent des globalen Goldes spaces, we can get a better view of the
durchläuft in irgendeiner Phase seines kitchen and the kitchen table - as a space
Verarbeitungs- und Verkaufsprozesses to which all were delegated who were
die Schweiz. Ein Großteil dieses Goldes not white, wealthy men, but also as a
kommt aus Peru. Ein Großteil des peruani- retreat for mutual support and resistance
schen Goldes wird in illegalen Minen ge- against social inequalities.
wonnen. Die bekanntesten Goldraffinerien
sind in der Schweiz angesiedelt, ebenso Scene 2: October 2018, Bahnhof-
wie die Luxusmarken. Sie werden unter strasse Zurich / Madre del Dios, Peru
den zerstörten Wäldern von Peru extrahiert As an industrial designer, I have learned
und über die Schweiz an die Finanziers in to examine/research each material,
Europa gebracht. analyze its properties, evaluate its
applications and functions. And finally
Als ich durch die Bahnhofstraße, Zürichs to determine the production methods.
Fifth Avenue, schlenderte, konnte ich nicht At this point, I will now reflect on the
aufhören, mich über das sehr spezifische economic, political and anthropological
Frauen*bild zu wundern, das diese Pro- significance of these materials.
dukte fördern. Die weibliche Ausbeutung Ninety per cent of the global gold passes
begleitet das Gold vom Beginn seiner at some stage of its processing trans-
Gewinnung bis zur Schwelle eines jeden formation and sale process through
Hauses, das Goldwaren erwirbt. Ich denke Switzerland. Much of this gold comes

depatriachise design / Bodies in/and Spaces


über meinen Platz als Designerin inner- from Perú. Much of this Peruvian gold
halb dieser spezifischen Realität nach. is extracted in illegal mines. The most
prominent gold refineries are based
Die Ausbeutung von Frauen* folgt auf die in Switzerland, and so are the luxury
Gewinnung von Gold aus seinen Erzen. brands. Extracted from beneath the
Gold ist wörtlich und metaphorisch ein razed forests of Perú and brought to the
Symbol für die Verbindung zwischen financiers of Europe by way of Switzer-
Kapitalismus und Patriarchat. Der physi- land.
sche, brutale Missbrauch von Frauen* in
den illegalen Minen von Madre de Dios in Strolling through Bahnhofstrasse,
Peru steht offensichtlich in direktem Zürich’s Fifth Avenue, I couldn’t stop
Zusammenhang mit der patriarchali- wondering about the very specific image
schen Kontrolle über den weiblichen of womxn that these products foster. Fe-
Körper sowie mit ihrem sozialen Status male exploitation accompanies the gold
und ihrer Klasse. Kapital und Patriarchat from the very beginning of its extraction
verschlimmern zusammen die Unterdrü- until the threshold of each house which
ckung der Frauen*. acquires gold commodities. I am think-
ing about my place as a designer within
Die Enteignung und der Umlauf von Gold this specific reality.
fassen ein grundlegendes Merkmal des
Kapitalismus selbst zusammen, der nach Womxn’s exploitation follows gold
Silvia Federici eine ständige Infusion von extraction from its very ores. Gold is lit-
enteignetem Kapital erfordert, um sich erally and metaphorically a symbol of the
selbst zu verewigen (vgl. Federici 2004). umbilical connection between capitalism
Gold als solches spielt eine entschei- and patriarchy. Physical, brutal abuse of
dende Rolle bei der Aufrechterhaltung womxn in the illegal mines of Madre de
der Ausbeutung von Frauen* und ihrer Dios is obviously directly related to the
Unterdrückung. Tatsächlich ist der ge- patriarchal control over a female body as
samte Prozess der Goldgewinnung und well as to their social status and class.
-versorgung Teil des regenerativen Zyklus Capital and patriarchy combine to exac-
der ursprünglichen Akkumulation, die erbate the oppression of womxn.
durch koloniale Enteignung und kulturelle
Aneignung erleichtert wird, wovon indi- Gold´s expropriation and circulation
gene Frauen* aufgrund ihres Geschlechts summarize a fundamental characteris-
die größten Opfer sind. tic of capitalism itself, which, following
Silvia Federici, in order to perpetuate
Als Designerin interessiere ich mich für itself requires a constant infusion of ex-
Schmuck wie für jedes andere Objekt. propriated capital (Federici 2004). Gold
Im Gegensatz zu Stühlen oder Lampen, as such plays a crucial role in sustaining
durch seine enge Beziehung zum Körper, exploitation of womxn and their oppres-
spielt Schmuck jedoch eine wichtige kul- sion. Indeed, the whole process of gold
turelle Rolle innerhalb der Unterdrückung extraction and distribution is part of the
von Frauen* und ihren Körpern. Wie ein renewable cycle of primitive accumula-
Kleidungsstück wird Schmuck getragen, tion, which is being facilitated by colonial

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der die Haut berührt – er bezieht sich auf expropriation and cultural appropriation,
eine biologische, kulturelle und soziale of which indigenous womxn, due to their
Konstruktion des Körpers, auf dem er sich gender are the biggest victims.
befindet. Es gibt einen unbestreitbaren
sexuellen, politischen und wirtschaftli- As a designer, my professional eye is
chen Kontext. Durch die ausgestellten attracted to jewellery as to any other
Objekte – Verlobungsringe, Eheringe und object produced by craftswomxn and
Armbänder – präsentiert jedes Schaufens- craftsmen or by process of industrial-
ter ein sehr strukturiertes, spezifisches ized production. But unlike, for example,
Bild von Weiblichkeit, Sexualität, Gender chairs or lamps, jewellery plays a signif-
und Klasse. Jede Marke pflegt das Image icant cultural role in the oppression and
einer objektivierten Frau und fördert ownership of womxn and their bodies
gleichzeitig das Image eines mächtigen, through an intimate relation to the body
paternalistischen und wohlhabenden itself. Like a piece of clothing, jewellery
Mannes. Frauen* werden zunächst außer is worn, touching the skin — it relates
Gefecht gesetzt und dann objektiviert, to a cultural and social construction of
um Eigentum der fähigen, dominanten the body it is on. There is an undeniable
Männer zu werden. Und der Schmuck sexual, political and economic context.
wird in seiner weiten Definition verwen- Through the displayed objects — en-
det, um die Unterschiede zwischen Mann gagement rings, wedding bands, and
und Frau hervorzuheben. In dieser Welt bracelets — each shop window presents
existieren nur zwei Gender, innerhalb der a very structured, specific image of fem-
Binarität, es gibt kein Spektrum. Diese ininity, sexuality and class. Each brand
binäre Rollenverteilung ermöglicht nur nourishes the image of an objectified
dann eine Kontrolle, wenn sich eine Rolle womxn while encouraging one of a
von der anderen unterscheidet, wenn powerful, paternalistic and wealthy male.
die Hierarchie klar markiert ist und nur Womxn are at first being incapacitated,
dann, wenn der Prozess der misogynen then objectified to become a property
Unterordnung fortgesetzt werden kann. of the capable, dominant men. And the
Um den Kreislauf der patriarchalischen jewellery in its broad definition is used
Kontrolle wie mit dem Kapital zu erneuern, to emphasize the differences between
ist extrem wichtig Modelle ständig neu the male and the female. This binary of
aufzulegen, die dann den Status Quo roles, enables control, only when one
wiederholen und festigen. is distinct from another, only when the
hierarchy is clearly marked, only then the
Verlobungsringe sind ein gutes Beispiel process of misogynic subordination can
für männliche Vormachtstellung gegen- be perpetuated. Obviously, to renew the
über Frauen*. Sie kennzeichnen die Frau cycle of patriarchal control, as with the
als „reserviert/besetzt“. Ein solcher Ring capital, a constant new infusion of mod-
ist ein sichtbares Zeichen der Kontrolle els repeating and indurating the status
über die weibliche Sexualität, Fruchtbar- quo is crucial.
keit und „Verfügbarkeit“. Der Blick auf
die Ringe in einem Schaufenster in der Engagement rings are a good illustration
Bahnhofstraße erinnert mich an eine liebe of male supremacy over womxn, they

depatriachise design / Bodies in/and Spaces


Freundin, die heute selbst Schmuckdesig- mark the womxn as being “reserved’’. It
nerin ist und mir einst sagte, dass ein Verlo- is a visible sign of control over female
bungsring zwei Monate des Verlobtenlohns sexuality, fertility and “availability”. Look-
wert sein sollte. Ich erinnere mich, dass ing at rings in a shop window of Bahn-
ich von dieser Einsicht und ihrem Wissen hofstrasse reminds me of a dear friend,
darüber überrascht war. Ein Mann kann nowadays a jewellery designer herself,
sich also nicht nur durch einen Ring eine who once told me that an engagement
Frau aneignen, sondern sie wird auch zum ring should be worth two months of
Beweis seiner finanziellen Potenz. the fiancé’s wages. I recall being taken
aback by this piece of insight — and
Es ist nicht subtil, wie Juweliere eine solche by her knowledge of this. So not only
geschlechtsspezifische kulturelle Praxis through a ring, a man can appropriate a
annehmen und verbreiten. Der goldene womxn, but she also becomes some kind
Schmuck aus geeignetem Material, der un- of display of his financial potency.
ter prekären Bedingungen gewonnen und
von Gewalt, Ausbeutung und Unterwer- There is no subtlety in the way jewellers
fung der vor allem einheimischen Frauen* embrace and broadcast such gendered
befleckt wurde, wird als Luxusprodukt cultural practice. The golden jewellery
verkauft. made out of appropriated material, ex-
tracted in precarious conditions, stained
Und dann ist da noch Klasse. In der Ver- with violence, exploitation and subju-
mögenslücke, die zwischen den Schweizer gation of mostly indigenous womxn, is
Käufern von Gold und Schmuck und den- being sold as a luxurious product.
jenigen am anderen Ende des Spektrums
besteht, die Gold ausbeuten, sehe ich die And then, there’s class. In the wealth gap
Verewigung eines engen geschlechtsspe- that exists between Swiss purchasers
zifischen Verhältnisses zum Kapital über of gold and jewellery, and those at the
Kontinente hinweg. Die Unterdrückung other end of the spectrum exploiting and
von Frauen* dient dem Kapitalismus. Die exploited by gold, I see the perpetuation
Bemühung, die Körper von Frauen* zu across continents of an intimate gen-
kontrollieren, ist ein gemeinsamer Nenner dered relation to capital. As a tool, the
von Kapitalismus und Patriarchat. In diesem oppression of womxn serves capitalism
Zusammenhang dient Gold als Medium, to deal with the whole workforce to its
um diesen Kreislauf zu erneuern und den own benefit. The effort to control wom-
wirtschaftlichen und sozialen Status Quo xn’s bodies is a common denominator
zu stärken. of capitalism and patriarchy. Within this
context, gold serves a medium to renew
Szene 3: this cycle and reinforce economic and
2019, Wochenende, Stadtzentrum social status quo.
Es ist Samstagnachmittag und ich gehe
durch das Zentrum einer kleinen Stadt Scene 3
in Schweden. Ich habe meine Tage, und 2019, weekend, city center
ich brauche eine Toilette. Ich will nicht It is Saturday afternoon and I am walking
in irgendein Café gehen und ein Getränk through the center of a small city in

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bezahlen, nur um dessen Toilette benutzen Sweden. I have my period, and I need
zu dürfen. Also gehe ich in das nächste a bathroom. I don’t want to go to some
Einkaufszentrum und suche nach einem café and pay for a drink just to use its
Schild, das mich zu öffentlichen Toiletten toilet. So I go to the nearest shopping
führen kann. center and look for a sign that can lead
me to public restrooms.
Als ich endlich im 5. Stock ankomme,
stehe ich vor drei Türen und muss mich When I finally reach the 5th floor, I stand
entscheiden durch welche ich gehen in front of three doors and have to decide
will, gehen kann oder gehen soll. Wenn through which one I want to go, can go or
ich die Tür wähle, die ein Schild mit einer should go. If I choose the door that has
Person hat, die Hosen trägt – und ich trage a sign with a person wearing trousers -
Hosen – komme ich sehr wahrscheinlich in and I am wearing trousers - I will most
einen Raum mit mehreren Waschbecken, likely end up in a room with several sinks,
Einzelkabinen und Urinalen. Und außerdem single cabins and urinals. And besides,
werde ich bestimmt ein paar Männern I’ll probably run into a few men. And, of
begegnen. Und natürlich habe ich gelernt, course, I have learned that the symbol
dass das Symbol einer Person, die Hosen of a person wearing trousers stands for
trägt, für Männer steht – und nicht für alle, men – and not for everyone who wears
die Hosen tragen. Wenn ich durch diese Tür trousers. If I walk through that door, I will
gehe, werde ich sehr wahrscheinlich auch most likely create confusion, and experi-
Verwirrung erzeugen, und Unbehagen und ence discomfort and maybe even more
vielleicht sogar noch Negativeres erleben. negative things. But even opening the
Aber selbst das Öffnen der Tür, die eine door showing a person in a dress can put
Person im Kleid zeigt, kann mich in eine me in an uncomfortable situation.
unangenehme Situation bringen.
Some users of these toilets might
Manche Nutzer*innen dieser Toiletten question me being a womxn. Although I
könnten mein Frausein in Frage stellen. Ob- identify myself as a womxn, I do not fulfill
wohl ich mich als Frau identifiziere, erfülle all typical characteristics: I have short
ich nicht alle typischen Merkmale: Ich habe hair, today I don’t wear make-up, and
kurze Haare, heute trage ich kein Make-up, have chosen jeans and Doc Martens. It’s
und habe mich für Jeans und Doc Martens only an hour ago that I was addressed as
entschieden. Es ist gerade mal eine Stunde “young man” in the supermarket. – Okay,
her, dass ich im Supermarkt mit „junger so what about the third door? It shows a
Mann“ angesprochen wurde. – Okay, also pictogram of a person in a wheelchair – a
was ist mit der dritten Tür? Sie zeigt ein sign that, when set against the other two,
Piktogramm einer Person im Rollstuhl – ver- seems to suggest people with disabili-
glichen mit den beiden anderen Schildern ties have no gender. Anyway, this toilet is
scheint dieses Menschen mit körperlicher locked. So I go to the womxn’s toilet.
Beeinträchtigung ein Geschlecht vollkom- Behind the door there are four womxn
men abzusprechen. Wie auch immer, diese waiting for one of the few cubics to be-
Toilette ist abgeschlossen. Also gehe ich in come available. At least nobody seems
die Frauentoilette.  to mind my presence. But I still feel out

depatriachise design / Bodies in/and Spaces


Hinter der Tür stehen vier Frauen und of place, in this expensive shopping mall,
warten darauf, dass eine der wenigen where each and every one seems to
Kabinen frei wird. Zumindest scheint sich fulfill all heteronormative characteristics
keine an meiner Anwesenheit zu stören. to be clearly identified as either a womxn
Aber ich fühle mich dennoch fehl am or a man.
Platz, in diesem teuren Einkaufszentrum,
in dem jede und jeder alle heteronorma- Scientific studies make it clear that the
tiven Merkmale zu erfüllen scheint, um standard design of public toilets ignores
eindeutig als Frau oder Mann identifiziert and excludes not only womxn, but es-
werden zu können. pecially transgender people and people
who do not identify with either gender
Wissenschaftliche Studien machen (see Herman 2013). The design active-
deutlich, dass die standardmäßige ly contributes to fomenting conflicts
Gestaltung öffentlicher Toiletten nicht nur and exposing people to danger. Many
Frauen, sondern besonders Transgender transgender and non-binary persons are
und Personen, die sich mit keinem der denied access by other users or verbally
Geschlechter identifizieren, ignoriert harassed by them, for example by being
und ausgrenzt (vgl. Herman 2013). Die asked questions about their gender. Oth-
Gestaltung trägt aktiv dazu bei, Konflikte ers even experience physical violence.
zu schüren und Menschen Gefahren These groups often experience health
auszusetzen. Vielen Transgender und problems caused by avoiding public
non-binären Personen wird von anderen toilets.
Nutzer*innen der Zugang verweigert
oder sie verbal belästigt, indem ihnen After standing in line for a while, I can
beispielsweise Fragen nach ihrem Ge- finally go to one of the cubics. It is
schlecht gestellt wurden. Andere erleben equipped with a toilet and a sanitary
sogar physische Gewalt. Häufig treten in container. However, the sink is located
diesen Gruppen Gesundheitsprobleme outside the cubics. I just washed my
auf, die auf das Vermeiden öffentlicher hands but now I have to find out how to
Toiletten zurückgehen. close the door of the stall without getting
in contact with bacteria again. The inte-
Nachdem ich eine Weile angestanden rior design also makes it impossible for
habe, kann ich endlich in eine der Kabi- me to rinse my menstrual cup or wash
nen gehen. Sie ist mit einer Toilette und my hands before I leave the stall again.
einem Sanitätsbehälter ausgestattet. Das Public restrooms should be designed
Waschbecken befindet sich allerdings to be functional, safe and accessible to
außerhalb der Kabine. Ich habe mir eben all. The concept of large-capacity toilets
meine Hände gewaschen, muss jetzt aber with individual cubics must be replaced
herausfinden wie ich die Tür der Kabine by individual, disabled-accessible
schließen kann, ohne schon wieder mit rooms, each with one toilet, one sanitary
Bakterien in Kontakt zu kommen. Die container, one washbasin and no gen-
räumliche Gestaltung macht es außerdem der-specific labeling. In this way, not only
unmöglich, dass ich meine Menstrua- wheelchair users, but also children or
tionstasse ausspülen kann oder meine other people with accompaniment and

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Hände waschen kann, bevor ich die people with strollers would have enough
Kabine wieder verlasse. space.

Öffentliche Toiletten sollten so gestaltet Epilogue


sein, dass sie für alle funktional, sicher The scenes we have just presented can
und zugänglich sind. Das Konzept der now serve as a basis for a conversation.
Großraumtoiletten mit Einzelkabinen We have just shared personal experi-
muss unbedingt ersetzt werden durch ences. But these experiences are much
einzelne, behindertengerechte Räume more than individual occurrences. It is
mit je einer Toilette, einem Sanitärbe- no coincidence that we perceive public
hälter, einem Waschbecken und ohne spaces the way we do. Privilege and
geschlechtsspezifische Auszeichnung. discrimination function on a structural
So hätten nicht nur Rollstuhlfahrer*innen, level and in relation to characteristics
sondern auch Kinder oder andere Men- such as gender, sexual orientation, skin
schen mit Begleitung und Personen mit color, and many more. We now have the
Kinderwagen genügend Platz. opportunity to talk about these struc-
tures together and to discuss, within
Epilog these structures, the role of the design
Die Szenen, die wir gerade vorgestellt discipline and, more specifically, our role
haben, können uns nun als Grundlage as designers.
für ein Gespräch dienen. Wir haben eben
zwar persönliche Erfahrungen geteilt.
Diese Erfahrungen sind allerdings viel
mehr als individuelle Vorkommnisse.
Es ist kein Zufall, dass wir öffentliche
Räume so wahrnehmen, wie wir es tun.
Denn Privilegierung und Diskriminierung
funktionieren auf struktureller Ebene und
in Bezug auf Merkmale wie Geschlecht,
sexuelle Orientierung, Hautfarbe, und
viele mehr. Wir haben jetzt die Möglich-
keit, gemeinsam über diese Strukturen zu
sprechen und über die Rolle der Design-
disziplin und – ganz konkret über unsere
Rolle als Gestalter*innen – innerhalb
dieser Strukturen zu diskutieren.

depatriachise design / Bodies in/and Spaces


Quellen
Sources

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36, N. 1 (Winter). Cambridge: MIT Press de Niños, Niñas y Adolescentes – CHS aufgerufen am 19. Juli 2020)
ALTERNATIVO, Peru
Chess, Simone; Kafer, Alison; Quizar, Bildnachweis S. 65 / Photo Credit
Jessi; Udora Richardson, Mattie Kafer, Alison (2013): Feminist, Queer, p. 65: Anja Neidhardt
(2008): „Calling all Restroom Revolutio- Crip. Bloomington: Indiana University
naries!“, in: Mattilda Bernstein Sycamore Press
(Hg.): That’s Revolting! Queer Strategies
for Resisting Assimilation, Berkeley: Soft Neidhardt, Anja (2018): „Öffentliche
Skull Press, 216–235 Toiletten müssen sicher und zugänglich

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Christian Jurke
Über das Wesen
der Dinge oder der
systemische Ansatz
von Design und
der Sprache eines
Produkts

Christian Jurke
About the essence of
things or the systemic
approach of design
and the language of a
product
“A tool must get the
job done – and shine
like silver.”1

„Ein Werkzeug hat


silbern zu sein und
zu funktionieren.“1

Dieser Beitrag versteht sich als Auseinan-


dersetzung sowohl mit den Mechaniken
„ikonischer“ Produkte als auch mit den Zwi-
schentönen, die es zu ihnen gibt, und führt
das anhand der Designentwicklung des
aktuellen Bosch IXO 6 Akkuschraubers vor.
This article is intended as an examina-
Was macht eigentlich ein Objekt aus; was tion of both the mechanics of ‘iconic’
macht ein Produkt des Alltags zu einem products and the nuances that exist
ikonischen Ding, das für manche etwas between them, and demonstrates this
Besonderes, Reizvolles verkörpert oder with the design development of the cur-
es zu Etwas macht, das Relevantes in rent Bosch IXO 6 cordless screwdriver.
sich trägt? Welche Konsequenzen haben
etwaige an diese Fragen anschließenden What actually makes an object? What
Überlegungen dann für ein Designstudio, turns an everyday product into an iconic
als Herausforderung, einem Gebrauchs- thing that for some people embodies
gegenstand, dem Besonderheit und Reiz something special, something charm-
– oder gar ein neuer Impuls – nachgesagt ing, or turns it into something relevant?
werden soll, Relevantes und Wesentliches What are the consequences for a design
mitzugeben? studio of any considerations that follow
these questions; as a challenge to take
Es sind der Prozess und die Mechanik der an object of everyday use, which is said
bildhaft-semantischen Differenzierung, die to have something special and attractive
auf dem Polaritätensystem der Wahrneh- about it – even an entirely new momen-
mungspsychologie basiert, die bestätigen, tum – and give it something relevant and
dass die Impulse der Wahrnehmung (etwa essential?

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für ein bestimmtes Objekt, eine bestimm- It is the process and the mechanics of
te Art eines Produkts) analysiert, gemes- pictorial-semantic differentiation, based
sen und verglichen werden können; dass on the polarity system of the psycholo-
es also definierbare, gestaltbare Auslöser gy of perception, that confirm that the
und einen Ort für die Stimuli für diese impulses of perception (e.g. for a certain
Empfindungen gibt.1 Dass es also eine object, a certain type of product) can be
Antwort gibt auf die Frage, warum etwas analyzed, measured and compared; that
gefällt, warum etwas geschätzt oder so- there are thus definable, shapeable trig-
gar geliebt wird. Mindestens aber, warum gers and a place for the stimuli for these
etwas als das erkannt werden kann, was sensations.1 In other words, there is an
es sein soll oder was es ist. Wie also kön- answer to the question of why some-
nen wir als Gestalter wissen, wie wir mit thing is liked, appreciated or even loved,
einer strategischen Gestaltungshandlung and at the very least, why something can
eine bestimmte Wahrnehmung eines Ob- be recognized as what it should be or
jekts absichtlich auslösen? Andersherum what it is. So how can we as designers
– nicht als Frage, sondern als Feststellung know how we can deliberately trigger a
formuliert: Da wir als Gestalter können, certain perception of an object with a
müssen wir also wissen … Für jede, jeden, strategic design action? The other way
alle. round - not formulated as a question, but
as a statement: Since we as designers
Unsere „Produkt“- oder auch „Design“- can, we must therefore know... for every-
Wahrnehmung bedient sich dabei einer body and everyone.
Kodierung, die sich aus der Konfrontation
einer Tätigkeits- oder Aufgabenstellung, Our “product” or “design” perception
einer Nutzungshistorie und aus den makes use of a coding that is fed by the
persönlich sozialisierten, sozio-kulturellen confrontation of an activity or task, a his-
Dimensionen speist – gleichwohl aus tory of use and the personally socialized,
gewachsenen, meist regionalen Kultur- socio-cultural dimensions – but also by
memen, die eine konkrete Aussendung grown, mostly regional cultural patterns
von Signalen bündeln. Das Verständnis that bundle a concrete emission of sig-
und die Zuordnung eines Objekts und nals. The understanding and assignment
seiner Funktion sind somit vom Verstehen of an object and its function thus depend
dieser Sprache und der bedingt bewuss- on the understanding of this language
ten Reflexion der persönlichen Erwartung and the conditionally conscious reflec-
abhängig. Daher ist seine systemische tion of personal expectations. Therefore,
Wahrheit immer nur in einer beschränkt its systemic truth is always permissible
individuellen Bewertung zulässig. only in a limited individual assessment.

Ein ikonisches Objekt entwerfen To design an iconic object


Da die Herausforderung darin besteht, Since the challenge is to develop a “new”
einen „neuen“ Ansatz für ein künftiges approach for a future iconic product, to
ikonisches Produkt zu entwickeln, „neue“ discover and conquer “new” fields, it
Felder zu entdecken und zu erobern, so was important for us at NVGTR to face
war es für uns bei NVGTR wichtig, dass this truth and fully reflect this challenge.

Christian Jurke / Über das Wesen der Dinge ...


wir uns dieser Wahrheit stellen und diese Though the “silver” wrench – with not
Herausforderung vollumfänglich reflektie- only its conciseness, form & function,
ren. Dass der „silberne“ Werkzeug- but also its ubiquitousness, in other
schlüssel – seine bisherige Prägnanz, words, a product standard – need not
Form & Funktion, aber auch die Nut- apply to our work, we still must not allow
zungswelt, der bisherige Produktan- ourselves to ignore its relevance.
spruch also, für unsere Arbeit nicht gelten This systemic approach to design, which
muss, wir jedoch seine Relevanz nicht involves the examination, creative
außer Acht lassen durften. definition and balancing of more than 21
perceptual parameters (based on ISO EN
Dieser systemische Designansatz wie- NORM 924)2, was and is the key to the
derum, der die Auseinandersetzung, die strategic orientation of every product.
kreative Definition, die Balancierung von This is also true for the coding and con-
mehr als 21 Wahrnehmungsparametern sideration of language during the design
kennt (basierend auf der ISO EN NORM development of the current BOSCH IXO
9242), war und ist uns dabei der Schlüs- 6. This language, well formulated, thus
sel zur strategischen Ausrichtung eines determines the overall perception, gen-
jeden Produkts. So auch die Kodierung erates product presence with nuance,
und die Sprachfindung bei der Design- and in addition to the pure fulfillment of
entwicklung des aktuellen BOSCH IXO 6. the function it also creates a space for
Diese Sprache, wohlformuliert, bestimmt the “essence” of a thing. The essence of
also die Gesamtwahrnehmung, generiert a thing means here the non-sayable, the
neben der reinen Funktionserfüllung auch non-describable, the magic; or for some
mit Zwischentönen diese Produktpräsenz also the aura of a product, which makes
und schafft darüber hinaus einen Raum it, in an individual way, so desirable and
für das „Wesen“ eines Dings. Das Wesen possessable – a product ego, which can
eines Dings meint hier das Nicht-Sagbare, find itself at home amongst task fulfill-
Nicht-Beschreibbare, den Zauber oder ment, feature set and function, as well as
für manche auch die Aura eines Produkts, application history.
was es, immer ganz individuell, so begehr-
lich und besitzbar macht – ein Produkt-Ich, The semantic derivation of the canon
das zwischen aller Aufgabenerfüllung, of values to product attributes, structur-
Funktion, Featureset wie der Anwen- al architecture, design and materiality
dungshistorie beheimatet sein kann. as well as to the surface texture were
the selected and prioritized bridges of
Die semantische Ableitung des Wer- understanding of this non-verbal com-
tekanons auf Produktattribute, auf die munication. At the same time, it does
Aufbauarchitektur, die Formgebung, die not have any gender of it’s own accord.
Materialität wie auf die Oberflächenbe- The Bosch cordless screwdriver is first
schaffenheit waren dabei die ausgewähl- and foremost a tool of a global technical
ten und priorisierten Verständigungsbrü- brand – and perhaps therefore neutral
cken dieser non-verbalen Kommunikation. in itself.
Dabei kennt sie aus sich heraus keine
Genderladung. Der Bosch-Akkuschrauber

80 | 81
This is the design-theoretical foundation
of the design development of the per-
haps most playful (or also: most childlike,
colorful, cheerful, feminine, different,
ist zu allererst ein Werkzeug einer techni- unclear... ) tool from the Bosch company.
schen Weltmarke. Und vielleicht aus sich This product attribution, which has just
heraus somit neutral. been hinted at, is of course nonsense.
Because first of all: From our point of
Das ist der gestaltungstheoretische view, there is no need for a supposedly
Unterbau, der der Designentwicklung gender-relevant design typology of
des vielleicht verspieltesten (oder auch: products. There are only two sides of
kindlichsten, buntesten, fröhlichsten, the equation: the ergonomic-functional
weiblichsten, andersartigsten, unklars- and the product-cultural (the storied
ten …) Werkzeugs aus dem Hause Bosch socio-subcultural).
zugrunde liegt. Diese gerade eben an-
gedichtete Produktzuschreibung ist However, for those who design, an
natürlich Nonsens. Denn gleich vorab: understanding of language for a product
Es gibt aus unserer Sicht keine Notwen- is always and absolutely necessary, and
digkeit einer vermeintlich gender-rele- it requires knowledge of and con-
vanten Designtypologie von Produkten. stant reflection on its effect. This also
Es gibt nur zwei Seiten der Betrachtung: includes reflection on intellectual and
Die ergonomisch-funktionale und die manual skills and their formulation. For
produktkulturelle – die des Sozio-Subkul- the strategic and creative process of
turgeschichtlichen. the systemic design development of the
Bosch IXO 6 cordless screwdriver, we
Jedoch bedarf es für die, die gestalten, have accordingly considered, analyzed,
immer und unbedingt eines Verständ- discussed and applied these approaches,
nisses von Sprache für ein Produkt, und mechanisms and influencing variables.
es bedarf der Kenntnis und ständigen The principles of perception and cultural

Christian Jurke / Über das Wesen der Dinge ...


Reflexion seiner Wirkung. Dazu zählt memes served as a basic framework and
auch die Reflexion der intellektuellen wie described the space of expectations -
handwerklichen Fähigkeiten und ihrer supported by a narrative formulation
Formulierung. Für den strategischen and illustration of the potential and even
wie kreativen Prozess der systemischen the most remote application worlds and
Designentwicklung des Bosch IXO 6 usage scenarios. This opened up a view
Akkuschraubers haben wir dement- of both the possible and the necessary.
sprechend diese Herangehenswei- For a better orientation, all possible
sen, Mechaniken und Einflussgrößen design styles (contrary to the general
betrachtet, analysiert, diskutiert und assumption, there are exactly seven pure
angewendet. Die Wahrnehmungsprinzi- design styles) were then illustrated as
pien und Kulturmemes dienten uns dabei aesthetic clusters and a basic aesthetic
als Grundgerüst und haben den Raum design space was mapped within a
der Erwartungshaltungen beschrieben value scheme from simple to complex
– unterstützt von einer narrativen Formu- products, and, as a second evaluation
lierung und Bebilderung der potenziellen axis, from new to formal design forms
und auch abgelegensten Anwendungs- with historical reference.
welten und Nutzungsszenarien. Das hat
den Blick sowohl auf das Mögliche wie The user experience standard and its
auch auf das Notwendige eröffnet. Zur interdependent parameters have further
besseren Orientierung wurden dann focused the scope of action and set
alle möglichen Design-Styles (entgegen clear priorities. The moderated activity
der allgemeinen Annahme gibt es genau of user co-creation has sounded out
sieben sortenreine) als Ästhetik-Cluster expectations, preferences and fondness
illustriert und ein prinzipieller ästhetischer for coloring and material characteristics
Gestaltungsraum kartographiert, inner- (such as surface treatment), and never-
halb eines Werteschemas von einfachen
zu komplexen Produkten, und, als
zweite Wertungsachse, von neuen
bis zu formalen Designausprägungen
mit historischem Bezug.

Die User-Experience-Norm und


ihre miteinander in Abhängigkeit
stehenden Parameter haben
den Handlungsspielraum weiter
fokussiert und klare Schwerpunkte
gesetzt. Die moderierte Aktivität
einer Nutzer-Co-Creation haben
Erwartungen, Präferenzen und
Vorlieben für Farbgebung, Material-
ausprägung (wie etwa die Oberflä-
chenbehandlung) ausgelotet und
gleichwohl quantitativ präferiert.

82 | 83
Genau hierbei wurde einerseits für dieses theless quantified them preferentially.
Projekt das Wesen dieses Dings als eine On the one hand, it was precisely here
Art poetische wie anwendungshistori- that, through user participation, the
sche Verklärung durch die Nutzerbetei- essence of this thing was discovered for
ligung entdeckt, aber auch, durch ein this project as a kind of poetic as well
Abzählen und Hierarchisieren, eine ver- as application-historical romanticization.
meintlich demokratische, auf jeden Fall On the other hand, through counting
aber nachvollziehbare, marktpolitische and hierarchizing, a supposedly demo-
Zielrichtung des Produkts festgelegt: Es cratic, but in any case comprehensible,
ist ein kleiner, handlicher Akkuschrauber, market-political goal of the product was
der nicht mehr nur Werkzeug sein muss, established: It is a small, handy cordless
der es aus der Werkzeugkiste rausschaf- screwdriver, which no longer has to be
fen soll. Somit konnte, als Innovationsfeld, just another tool to make it out of the
ein definierter Bruch sowohl mit be- toolbox. Thus, as a field of innovation,
stehenden Farbschemata und Oberflä- a defined break with existing color
chenmustern als auch – bedingt – das schemes and surface patterns as well
haptische Materialerlebnis neu interpre- as – conditionally – the haptic material
tiert, konzipiert und in eine strategische experience could be reinterpreted, con-
Positionierung übertragen werden. Die ceived and transferred into a strategic
Neuplatzierung im Wohnbereich als positioning. The new positioning in
erster und letzter Buchstabe, hat dann the home as the alpha and the omega
zum Design, zur finalen Designsprache led to the final design language, which
geführt, die dann auch sehr erfolgreich was then tested very successfully and
und bestätigend getestet wurde. confirmed.

Polarisierend wurde dabei einerseits Polarizing on the one hand, the color
die Farbdirektion aktiv in Kauf genom- direction was actively accepted – a
men – weg von dem bisher typischen und far cry from the previously typical and
markenkonformen Grün, über etwa ein brand-compliant green, color choices
Neongrün, Lila, Cool Grey und viele ande- became, for example, neon green, pur-
re Varianten bis hin zu Rosé-Gold – ande- ple, cool grey and many other variants
rerseits hat man ein Leitmotiv und neues up to rose gold. On the other hand, a
Produktbild gekürt. Für eine mögliche leitmotif and new product image was
gender-spezifische Ausrichtung konnte chosen. A possible gender-specific ori-
weder ein Treiber noch ein Threshold entation could be inferred from neither
abgeleitet werden. Stereotypen hingegen driver nor threshold. Stereotypes, con-
wurden bewusst, wie auch vom Nutzer versely, were consciously implemented
gewünscht, umgesetzt, und zwar so weit, as desired by the user, to the extent that
dass in einem nachgereichten Nutzer- the wildest, most common and once
wettbewerb die wildesten, üblichsten und again the most popular combinations
erneut die beliebtesten Kombinationen could be “sampled” in a subsequent
„gesampelt“ werden konnten. Die von allen user competition. The winning combi-
Teilnehmern favorisierte Siegerkombina- nation favored by all participants is now
tion ist jetzt am Markt erhältlich. available on the market.

Christian Jurke / Über das Wesen der Dinge ...


Designentscheidungen Design decisions
Der Akkuschrauber BOSCH IXO 6 selber The cordless screwdriver BOSCH IXO
wurde also zu dem, was er jetzt ist, aber 6 itself thus became what it is now, but
auch zu dem, was Nutzer und Hersteller also what users and manufacturers
bereit waren und sind zu akzeptieren. were and are willing to accept. And that
Und das geht immer so weit, wie man always goes as far as one allows, invites
erlaubt, einlädt und begeistert, diese and inspires to expand this view and to
Sichtweise zu verschieben, zu erweitern show that diversity is an asset. As the
und zu zeigen, dass Vielfalt ein Zugewinn originator, not only of the BOSCH IXO
ist. Als Urheber, nicht nur des BOSCH 6, but generally as a design studio, we
IXO 6, generell als Designstudio beziehen take a stand and in this process always
wir Position und propagieren in diesem propagate our assessment for the genre
Zuge immer auch unsere Einschätzung and for future product creations:
für das Genre und für zukünftige Produkt-
kreationen: • The design of tangible “user experienc-
es” that have taken shape are first and
• Die Gestaltung anfassbarer, formgewor- foremost free and should, if at all, take
dener „User Experiences“ – sind zu aller- the user in general and thus the mech-
erst frei und sollten sich, wenn überhaupt, anisms of socio-cultural and perceptive
dann des Nutzers generell und damit psychological expectations and wishes
der Mechanismen der soziokulturellen as well as ergonomic and functional
wie der wahrnehmungspsychologischen needs into account and make the
Erwartungen und Wünsche wie auch der planned application available to them.
ergonomischen und funktionalen Bedürf-
nisse annehmen und sich die geplante • No gender-specific design is required.
Anwendung zu Dienste machen. What is needed, however, is a much
more balanced gender-specific, user-
• Es bedarf keines genderspezifischen oriented, and thus also ergonomic and
Designs. Es bedarf jedoch einer viel functional equilibrium.
stärker ausgewogeneren Balance einer
genderspezifischen, NutzerInnen-orien- • A product design is needed that takes
tierten, damit auch einer ergonomischen into account concrete influences:
wie funktionalen Ausgeglichenheit. perceptive and measurable as well as
cultural. But then not towards a balanced
• Es bedarf also eines Produktdesigns, account of a product presence and per-
das den konkret wahrnehmungsrele- ception equilibrium – i.e. an unspecific or
vant-messbaren wie auch den kulturellen even boring equilibrium – but towards a
Einflüssen Rechnung trägt. Aber dann product design for an enriching diversity
nicht hin zu einem ausgeglichenen Konto and a product-inherent unambiguity,
eines Produktpräsenz- und Wahrneh- which is important for sustainability.
mungsgleichstands – also ein Unspezifi- And which also necessarily inspires.
sches oder Langeweile gar –, sondern zu
einem Produktdesign für eine bereichern- • What is needed, still and much more,
de Vielfalt und einer produkt-inhärenten are strong designers and design teams

84 | 85
Eindeutigkeit, die wichtig ist für die who break up the stereotypical norm
Nachhaltigkeit. Und die unbedingt auch primacy in a positive and inclusive way.
begeistert. Also as a chance for the varied kinds of
uses as well as for the manufacturers as
• Es bedarf, immer noch und viel mehr, an expanded field.
starker DesignerInnen und Designteams,
die das stereotypische Normprimat positiv Conclusion
und für alle aufbrechen. Auch als Chance It can still become typical, typological
für die so unterschiedlichen Nutzarten wie or even stereotypical. But it should not
für die Hersteller als ein erweitertes Feld. be a differentiation towards ridiculous-
ness, because an ironic bottle opener
Fazit does not open a bottle. If it supports the
Es kann zwar weiter typisch, typologisch actual idea, the designed solution, which
oder gar stereotypisch werden. Es soll aber always has to be a “solution-for-the-
keine Differenzierung hin zur Lächerlich- good-of-the-people”, and thus does not
keit sein, denn ein ironischer Öffner macht exclude anybody, but invites everybody
keine Flasche auf. Wenn es die eigentliche and everyone to do with pleasure what
Idee, die entworfene Lösung, die immer it can do, then it is right. And in the best
eine „Lösung-für-den-Menschen-gut“ sein case it then brings out the essence of a
muss, unterstützt und damit niemanden thing. Because then you can love it. As
ausgrenzt, sondern, jede, jeden, alle ein- far as you can love an object.
lädt, das mit Freuden zu tun, was es kann,
dann ist es richtig. Und im besten Fall dann
1  This was said by Hannes Scheibnitz, workshop manager
das Wesen eines Dings mithervorbringt.
of the Frauenhofer Institute for Non-Destructive Testing IZFP
Weil dann kann man es lieben. Soweit man Saarbrücken, during an expert interview.
denn ein Objekt lieben kann.
2  A scientific method developed by CN St. Gallen GmbH
recognizes 15 pairs of values that are responsible as drivers for
the perception of objects. This model, which uses semantic
1  Das sagte Hannes Scheibnitz, Werkstattleiter des Frauenho- differentiation to approximate and locate cognitive perception,
fer Institut für zerstörungsfreie Prüfverfahren IZFP, Saarbrücken establishes the respective perceptual polarities in brain
beim Expert-Interview. regions according to Bishop’s Zurich model. It thus names,
locates and makes cognitive stimuli repeatedly measurable.
2  Eine von der CN St. Gallen Personalberatung entwickelte
wissenschaftliche Methode kennt 15 Wertepaare, die als Treiber 3  The ISO standard DIN EN ISO 9241, 11 says: “Usability is
für die Wahrnehmung von Objekten verantwortlich sind. Dieses the extent to which a product can be used by certain users
Modell, das mittels semantischer Differenzierung eine Annähe- in a certain usage context to achieve certain goals effectively,
rung und Verortung der kognitiven Wahrnehmung ermöglicht, efficiently and satisfactorily”.
legt dabei die jeweiligen Wahrnehmungspolaritäten in Hirnre-
gionen nach dem Züricher Modell von Bishop. Es benennt also, Photo Credit p. 77–82: Bosch
verortet und macht kognitive Stimuli wiederholt messbar.

3  Die ISO-Norm DIN EN ISO 9241, 11 sagt: „Usability ist


das Ausmaß, in dem ein Produkt durch bestimmte Nutzer in
einem bestimmten Nutzungskontext genutzt werden kann, um
bestimmte Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend zu
erreichen.“

Bildnachweis S. 77–82: Bosch

Christian Jurke / Über das Wesen der Dinge ...


Stefanie Wuschitz
Is This Feminist
Hardware?

„And in a knotted world of vibrant


matter, to harm one section of the web
may very well be to harm oneself.“
(Jane Bennett 2010, 13)
Das Erdbeben
Ende der 1990er-Jahre ereignete sich ein feministisches Erdbeben: es
hieß Judith Butler und warf jene Fragen neu auf, die zuvor von Arendt,
Foucault, Derrida und Latour1 gestellt worden waren. Inwieweit entsteht
unser Ich im Augenblick, und zwar in der Art, wie wir
Arendt, Hannah (1958): uns auf unsere Umgebung und die Menschen um uns
The Human Condition.
Chicago: Chicago
herum beziehen? Judith Butler erklärte, dass es kein
University Press angeborenes Selbst oder nicht einmal Geschlecht gibt,
Butler, Judith (1991): sondern, dass es durch Sozialisation und Gewohnhei-
Das Unbehagen der
Geschlechter (Gender ten ständig neu „performt“ und verkörpert wird (Butler
studies, Bd. 722). Frank-
furt am Main: Suhrkamp
2004). Der Pudel hat also keinen Kern, weswegen Kate-
gorisierungen, die sich auf diesen nicht-vorhandenen
Butler, Judith (2006):
Gender trouble: feminism Kern stützen, leider unbrauchbar sind. All jene Feminis-
and the subversion
of identity. New York:
men, die sich auf die Kategorie „Frau“ beziehen, entpup-
Routledge pen sich somit als ebenfalls unbrauchbar.
Butler, Judith (2009):
Die Macht der Ge-
schlechternormen und Die Aufräumarbeiten nach den Erschütterungen dieses
die Grenzen des Mensch-
lichen. Translated by
Erdbebens haben neue Ressourcen zu Tage befördert.
Karin Wördemann. Wenn wir uns selbst keiner Kategorisierung unterwer-
Frankfurt am Main:
Suhrkamp (= Undoing
fen, erweitert sich unser Blick. Salopp gesagt, wir kön-
Gender. New York: nen es dann aufgeben, uns selbst in die eigene Tasche
Routledge 2004)
zu lügen: ein menschliches Merkmal tritt nun mal nicht
Derrida, Jacques (1988):
„Signatur Ereignis Kontext immer gekoppelt mit einem anderen Merkmal auf. Die
[kommentiert (D)]“, in:
Ders.: Randgänge der
Verkopplung ist eine kulturell entstandene, erlernte
Philosophie. Wien: Verbindung, der wir uns aktiv entziehen können, die wir
Passagen, 291–314
eigentlich auch wieder verlernen können. Besonders
Foucault, Michel
(1988): Technologies of
das Loslassen und Verlernen alter, binärer Geschlech-
the Self. A Seminar with ternormen eröffnet uns schlagartig neuen Handlungs-
Michel Foucault. Editor:
Martin, L. H. et al. spielraum, so Butler. Zum Beispiel: eine Person, die
London: Tavistock
einen Penis trägt, kann auch simultan Röcke oder
einschlafende Neugeborene tragen und Frustrationen
durch Ausheulen verarbeiten. Eine Person, die Kinder gebären kann, ist
auch in der Lage eine millionenstarke Organisation zu repräsentieren,
Metall zu schweißen oder Gipfel im Himalaya zu besteigen. Begabung,
Interesse, Leistung … dies alles hängt nur zu einem viel geringeren Teil
von unseren Körpern ab, als von erlernten Wiederholungen, so Judith

1  Arendt 1958; Butler 1991; Derrida 1988; Foucault 1988; Latour 1991, 2007.

88 | 89
The earthquake
At the end of the 1990s, a feminist earthquake occurred: it was called
Judith Butler and raised anew those questions that had previously
been asked by Arendt, Foucault, Derrida and Latour.1 To what extent
does our ego emerge at the moment, and in the way we relate to our
surroundings and the people around us? Judith Butler explained that
there is no innate self or even gender, but that it is constantly being
“performed” and embodied anew through socialization and habits
(Butler 2004). The poodle therefore has no core, which is why catego-
rizations based on this non-existent core are unfortunately useless.
All those feminisms that refer to the category “woman” thus turn out
to be equally useless.

The cleanup efforts following the earthquake have brought new


resources to light. If we do not subject ourselves to categorization,
our view expands. To put it crudely, we can then give up lying to
ourselves: a human trait does not always occur in
Plant, Sadie (1998): conjunction with another trait. Coupling is a culturally
Zeroes + Ones: Digital
Women and the New developed, learned connection that we can actively
Technoculture. New York:
Doubleday
withdraw from, that we can actually unlearn again.
Latour, Bruno (1991):
According to Butler, letting go and unlearning old,
Technology is Society binary gender norms in particular suddenly opens up
Made Durable. In: Law,
John (Hg): A Sociology new scope for action. For example: a person who has
of Monsters. Essays on
Power, Technology and
a penis can also simultaneously wear skirts or carry
Domination, Sociological dozing newborns and process frustrations by having a
Review Monograph N°38,
103–132
good cry. A person who can bear children is also able
Latour, Bruno (2007):
to represent an organization of millions, weld metal
Eine neue Soziologie für or climb peaks in the Himalayas. Giftedness, interest,
eine neue Gesellschaft.
Frankfurt am Main: achievement ... all this depends only to a much les-
Suhrkamp
ser extent on our bodies than on learned repetition,
says Judith Butler. The earlier in childhood an action,
gesture or posture is learned, practiced and repeated, the sooner it
becomes flesh and blood. And into our thinking (Plant 1998).

The Frankfurt School developed similar concepts of thinking even


before Arendt, Foucault, Derrida, Latour and Butler (Fromm 1992).

1  Arendt 1958; Butler 1991; Derrida 1988; Foucault 1988; Latour 1991, 2007.

Stefanie Wuschitz / Is This Feminist Hardware?


Butler. Je früher in der Kindheit eine Handlung, Geste oder Haltung
erlernt, geübt und wiederholt wird, desto eher gehen sie in Fleisch und
Blut über. Und in unser Denken (Plant 1998).

Die Frankfurter Schule hat noch vor Arendt, Foucault, Derrida, Latour
und Butler ähnliche Denk-Konzepte entwickelt (Fromm 1992). Dennoch
konnten nicht einmal die kulturpessimistischen Vertreter der Frankfur-
ter Schule das ungeheure Ausmaß der bevorstehenden Digitalisierung
und Globalisierung erahnen. Um diese atemberauben-
Fromm, Erich (1990): den Veränderungen ohne Kategorisierungen begreifen
Die Furcht vor der
Freiheit. München: zu können, haben sich die Posthumanist*innen zusam-
Deutscher Taschen- mengetan. Karen Barad bewies, dass selbst im Nano-
buch Verlag
technologie-Bereich und gerade hier (und schon von
Barad, Karen (2017):
Meeting the Universe Niels Bohr) nachgewiesen worden ist, dass das Katego-
Halfway. Quantum
Physics and the Ent-
risieren keine gewinnbringende naturwissenschaftliche
anglement of Matter Praktik ist, zumindest wenn wir verstehen wollen, wie
and Meaning. Durham:
Duke University Press naturwissenschaftliche/physikalische Abläufe tatsäch-
Braidotti, Rosi (1996):
lich vor sich gehen und sie auch vorhersagbar machen
„Cyberfeminism with möchten (Barad 2007, 83–87). Denn sie sind relativ zu
a Difference.“ New Forma-
tions, no. 29, 1996, 9–25 einander und erlauben sich unintuitive Gleichzeitigkei-
Braidotti, Rosi (2002): ten (z.B. beim Welle-Teilchen-Dualismus).
Metamorphoses: towards
a materialist theory of
becoming. Cambridge Posthumanistin Rosi Braidotti hingegen schafft eine
UK: Polity Press
Vision für die Zukunft, wenn sie uns alle als im selben
Braidotti, Rosi (2019):
Posthuman Knowledge.
Boot sitzend beschreibt und endlich die dichte Verstri-
Cambridge UK: Polity ckung jedes einzelnen Lebewesens mit dem Leben an
Press
sich, bei unseren Entscheidungen mitdenken möchte.
Dieses Mitdenken macht Mühe, Mühe – „Trouble“, wie
Donna Haraway in die Debatte einbringt, richtig viel Mühe, die uns
Motivation gibt und unsere Kraft nährt (Haraway 2016). Kraft, um sich
den sich wandelnden Verstrickungen zähneknirschend immer wieder
aufs Neue zu stellen. Oder sich ihnen mit einer „fürsorglichen“ Einstel-
lung zu widmen, wie eine weitere Posthumanistin, nämlich Puig de la
Bellacasa hinzufügt (Bellasca 2017). T.J. Demos antwortet, dass wir
diese fürsorgliche Haltung gegenüber allen Wesen beibehalten sollten,
ohne uns doch wieder auf der trügerischen Eisscholle herkömmlicher
Kategorisierungen auszuruhen (Demos 2016). Denn während durch die

90 | 91
Nevertheless, not even the culturally pessimistic representatives of
the Frankfurt School could foresee the immense extent of the im-
pending digitalization and globalization. In order to be able to grasp
these breathtaking changes without categorization, posthumanists
joined forces. Karen Barad proved that even in the field of nanotech-
nology, and especially here (and already by Niels Bohr), it has been
proven that categorizing is not a profitable scientific practice, at least
if we want to understand how scientific/physical processes actually
happen and make them predictable (Barad 2007, 83-87). For they are
relative to each other and allow themselves unintuitive simultaneities
(e.g. in wave-particle dualism).

Posthumanist Rosi Braidotti, on the other hand, creates a vision for


the future when she describes us all as sitting in the same boat and
finally wants to consider the dense entanglement of
Haraway, Donna (2016): every single living being with life itself, in our decisi-
Staying with the Trouble:
Making Kin in the Chthu-
ons. This way of thinking causes trouble – “trouble”, as
lucene. Durham: Duke Donna Haraway brings into the debate, really a lot of
University Press, 38
trouble, which gives us motivation and nourishes our
Puig de la Bellacasa,
Maria (2017): Matters of strength (Haraway 2016). Strength to grudgingly face
care: speculative ethics
in more than human
the changing entanglements again and again. Or to
worlds, Posthumanities, devote ourselves to them with a “caring” attitude, as
Minnesota: University of
Minnesota Press another posthumanist, Puig de la Bellacasa, adds (Bel-
Bennett, Jane (2010):
lasca 2017). T.J. Demos replies that we should main-
Vibrant Matter. Durham tain this caring attitude towards all beings, without
and London: Duke Univer-
sity Press resting again on the deceptive ice floe of conventional
categorizations (Demos 2016). For while the climate
catastrophe is melting the ice around us, the conscious unlearning of
repeated, environmentally harmful, toxic everyday actions is the key
to recognizing and implementing alternatives. The last voice I would
like to hold out the microphone to for a statement in this discussion
is Jane Bennett, who contrasts the ‘hustle and bustle’ with the functi-
oning concept of a living and healthy democracy (Bennett 2010). For
by putting the experience of the complex entanglements of all beings
of our time at the center of our communities, we are taking a new
attitude towards politics. Deconstructing categorizations and norms
ultimately means resisting the temptations of racism, imperialism and

Stefanie Wuschitz / Is This Feminist Hardware?


Klimakatastrophe das Eis um uns herum wegschmilzt, ist das bewusste
Verlernen von wiederholten, umweltschädlichen, toxischen Alltags-
handlungen, der Schlüssel um Alternativen erkennen und umsetzen zu
können. Der letzten Stimme, der ich in dieser Diskussion das Mikrofon
zu einem Statement entgegenstrecken möchte, ist Jane Bennett, die
das funktionierende Konzept einer gelebten und gesunden Demokratie
dem ‚Trubel und Trouble‘ entgegenhält (Bennett 2010). Denn indem wir
das Erleben der komplexen Verstrickungen aller Wesen unserer Zeit ins
Zentrum unserer Gemeinschaften rücken, nehmen wir eine neue Hal-
tung gegenüber der Politik ein. Das Dekonstruieren von Kategorisierun-
gen und Normen, heißt schlussendlich auch, den Versuchungen des
Rassismus, Imperialismus und Sexismus zu widerstehen. Im besten
Falle verhilft es uns, autochthone Haltungen wertschätzen zu lernen
und indigene Strategien mitzutragen.

Cis Men
Manche Menschen haben dieses Erdbeben anders erlebt. Weiße, der
Mittelschicht von Industriestaaten zugehörige Menschen, denen schon
im Babyalter erklärt worden war, sie wären Männer, die mal das Ruder
übernehmen würden. Du bist „der“, der den Traktor, die Drohne, mög-
licherweise sogar den Staat lenken wird. Diese Menschen empfinden
keine Befreiung durch erodierende Normen, sie sehen sich plötzlich
jeglicher Kontrolle und Macht entzogen, die ihnen zustehen würde.
Ihnen scheint eine gewaltige Zunahme an Unsicherheit bevorzustehen,
statt der erhofften Hegemonie. Diese Angst kann lähmen, sich durch
Aggression entladen, von rechtspopulistischen Gruppierungen orche-
striert und für militärische Interventionen instrumentalisiert werden.
Doch die Mehrheit der Menschen, die zu so einer toxischen Maskuli-
nität sozialisiert wurden, empfinden die Dekonstruktion derselben als
langersehnte Befreiung und erweitern gerne ihren Handlungsspielraum
(Kelber 2015). Zum Beispiel queere Kunstschaffende sowie Kindergärt-
ner oder Menschen in Vaterkarenz. Wie verändern sich durch diese
massiven Werteverschiebungen klassisch maskuline, imperialistische,
gesellschaftlich-zentrale Baustellen? Wie verändern sie Technologie-
entwicklung? Nun, auch was Technologie und deren Entwicklung und
Design betrifft, bleibt kein Stein auf dem anderen. An Paradigmen, an
denen festgehalten worden war, wird nun emsig gerüttelt und gefeilt.

92 | 93
sexism. At best, it helps us to learn to value autochthonous attitudes
and to support indigenous strategies.

Cis men
Some people experienced this earthquake differently. White people
from the middle class of industrialized countries, who had been told
at a very young age that they were men who would take over the
helm. You’re “the one” who will drive the tractor, the
Murphy, Peter F (Ed.) drone, maybe even the state. These people do not
(2004): Oxford Reading
in Feminism. Feminism feel liberated by eroding norms; they suddenly find
and Masculinities. themselves deprived of all the control and power they
Oxford New York: Oxford
University Press, 9–10, would be entitled to. They seem to be facing a huge in-
25–26, 57–68
crease in insecurity instead of the hegemony they had
Cornelia Kelber (2015):
Gender Shift: Zukunft der
hoped for. This fear can be crippling, vented through
Geschlechter. Frankfurt aggression, orchestrated by right-wing populist groups
am Main: Zukunftsinstitut.
www.zukunftsinstitut.de/ and instrumentalized for military intervention. But the
artikel/gender-shift-zu-
majority of people who have been socialized into such
kunft-der-geschlechte-
rrollen/ Letzter Aufruf: toxic masculinity perceive the deconstruction of it
6. 7. 2020
as a long-awaited liberation and are happy to expand
their scope of action (Murphy 2004, Kelber 2015). For
example queer artists as well as kindergarten teachers
or people on paternal leave. How do these massive value changes
cause shifts in classically masculine, imperialist, socially centralized
construction sites? How do they change technological development?
Well, when it comes to technology and its development and design,
no stone is left unturned. Paradigms that had been held on to are now
busily shaken and polished. Is progress a priority? Is hardware hard?
Is technology masculine? Is it really necessary to keep opening up
new mines, speeding up equipment and conquering new markets?

Feminist Hardware
People who feel close to the feminist new materialism keep all the abo-
ve dynamics in mind to tell better stories. New stories that will allow
us to gently forge alliances between all those entangled and deeply
connected beings and the many processes they are immersed in. Our
research project entitled: “Feminist Hacking. Building Circuits as an Ar-
tistic Practice” has been trying to answer the question of what feminist

Stefanie Wuschitz / Is This Feminist Hardware?


Hat Fortschritt Priorität? Ist Hardware hart? Ist Technologie maskulin?
Müssen tatsächlich immer wieder neue Minen erschlossen, Geräte
beschleunigt, Märkte erobert werden?

Feministische Hardware
Menschen, die sich dem feministischen neuen Materialismus nahe
fühlen, behalten all die oben genannten Dynamiken im Auge, um bes-
sere Geschichten zu erzählen. Neue Geschichten, die es uns erlauben,
behutsame Allianzen zu schmieden, zwischen all jenen
Professor Ko (Seoul), verstrickten und fest verbandelten Wesen und den
A deep-learning-en-
hanced e-skin that can
zahlreichen Prozessen, in die sie vertieft sind. Unser
decode complex human Forschungsprojekt mit dem Titel: „Femininist Hacking.
motions
https://techxplore.com/ Building Circuits as an Artistic Practice“ versucht seit
news/2020-05-deep-le-
arning-enhanced-e-skin-
März 2020 die Frage zu beantworten, was feministi-
decode-complex-human. sche Hardware sein könnte. Vielleicht Hardware, die
html, Letzter Aufruf:
3. 7. 2020
sich auch unter den neuen Werten posthumanistischer
Kate Hartman, Botani-
Theorie noch herstellen lässt? Ohne auf die Verwegen-
calls, 2006 heit feministischer neuer materialistischer Haltungen
http://www.katehartman.
com/projects/botani- zu verzichten?
calls/ An open source
system that enables
communication between Aus welchen Elementen könnte diese Hardware be-
humans and houseplants
through telephone and stehen? Aus Haut und Haaren wie die Hardware von
twitter. Letzter Aufruf: Forschern der Seoul National University um Professor
3. 7. 2020
Ko? Die Sensoren, die das Forschungsteam entwickelt
Sarah Grand and Selena
Savic, Modeling Com- hat, befinden sich direkt in der Haut. Oder sind sie
munication with Slime
Mould
aus Schleim, wie von Sarah Grant und Selena Savic
http://digicult.it/articles/ untersucht wurde? Schleim, der eine Art „Erinnerung“
modeling-communicati-
on-with-slime-mould-ar- aufweist, ein proto-intelligentes Verhalten? Ist femi-
tistic-residency-with-sa-
nistische Hardware stattdessen möglicherweise aus
rah-grant/ Letzter Aufruf:
3. 7. 2020 Wasser und Salz, wie das Computerelement von Ioana
Vreme Moser, das eine umweltfreundliche Alternative
zu elektrischer Hardware darstellen soll? Aus Topfpflanzen wie Kate
Hartmanns „Botanicalls“, in dem Sensoren den Output von Pflanzen
verstärken, um deren „Bedürfnisse“ eindringlicher an Menschen kom-
munizieren zu können? Besteht feministische Hardware aus antiken
Goldfäden, Stickereien und feinem Gewebe wie der immer wieder neu
programmierbare 8-bit Computer von Irene Posch und Ebru Kurbak,

94 | 95
hardware could be since March 2020. Perhaps hardware that can still
be produced under the new values of posthumanist theory? Without
renouncing the audacity of feminist new materialistic attitudes?
What elements could this hardware consist of? Of skin and hair like
the hardware of researchers at Seoul National University around
Professor Ko? The sensors developed by the research team are loca-
ted directly in the skin. Or are they made of mucus, as
Ioana Vreme Moser, Sarah Grant and Selena Savic investigated? Mucilage
Fluid Memory. Fluidic
Computer (2019-2020)
that displays a kind of “memory”, a proto-intelligent
The piece displays a Lud- behavior? Instead, is feminist hardware possibly made
dite computer element
that runs on water and of water and salt, like Ioana Vreme Moser’s computer
salt. Once triggered with
water streams, It performs
element, which is supposed to be an environmentally
one simple process: it friendly alternative to electrical hardware? From potted
memorizes its previous
state, by storing its water
plants like Kate Hartmann’s “Botanicalls”, in which
flow condition. sensors amplify the output of plants to communicate
https://ioanavre-
memoser.com/ their “needs” to people more forcefully? Does feminist
post/190583999707/
fluid-memory-fluidic-com-
hardware consist of antique gold threads, embroidery
puter-2019-2020-the and fine fabric, such as the ever-reprogrammable 8-bit
Letzter Aufruf: 3. 7. 2020
computer by Irene Posch and Ebru Kurbak, built from
dozens of handmade and embroidered relays? Or does
feminist hardware consist only of electronic waste? Like the ironic
creatures of Sapu Upcycle. Or the copper of the Makerspace on the
garbage dump near Accra, which is made from electrical waste. Or is
the self-made respirator of the Afghan schoolgirls who developed the
robotic project called “Afghan Dreamers” from used motors feminist
hardware?

Is feminist hardware a concrete product, like the FairPhone, a modu-


lar, self-repairable smartphone, or like Fairlötet (eng. FairSolder), a
fairly-produced and purchasable solder? Or “Project Ara”, which was
unfortunately bought by Google from Motorola and then shut down,
which also wanted to generate more sustainable, repairable hardware
for the smartphone sector? Or more pragmatically: Doesn’t feminist
hardware tend to be intertwined circuits that are taken up for design
projects, as in Joshua Klein’s “Crow Box” project? In this project, birds
can learn to spot and collect coins from a bird’s eye view, which they
can use to buy food from a special vending machine.

Stefanie Wuschitz / Is This Feminist Hardware?


gebaut aus dutzenden handgemachten und gestickten Relays? Oder
besteht feministische Hardware lediglich aus Elektromüll? So wie die
ironischen Wesen von Sapu Upcycle. Oder dem aus Elektromüll ge-
wonnenen Kupfer des Makerspaces auf der Müllhalde bei Accra. Oder
ist das selbstgemachte Beatmungsgerät der afghanischen Schülerin-
nen, die das Robotic Projekt mit dem Namen „Afghan
Ebru Kurbak and Irene Dreamers“ aus gebrauchten Motoren entwickelt haben
Posch, Embroidered
Computer 8-bit program- feministische Hardware?
mable computer using
golden thread embroidery
https://www. Ist feministische Hardware etwa ein konkretes Produkt,
designboom.com/art/
irene-posch-ebru-kur- wie das FairPhone, ein modulares, selbst reparierbares
bak-embroidered-compu-
Smartphone, oder wie Fairlötet, nämlich ein fair her-
ter-01-16-2019/
und http://www. gestellter und käuflich erwerbbarer Lötzinn? Oder das
ireneposch.net/
Letzter Aufruf (beide):
leider von Google von Motorola aufgekaufte und dann
3. 7. 2020 stillgelegte „Project Ara“, das ebenfalls nachhaltige-
Sapu Upcycle re, reparierbare Hardware für den Smartphonesektor
https://sapu-upcycle.
com/ Letzter Aufruf: generieren wollte? Oder pragmatischer: Handelt es sich
3. 7. 2020
bei feministischer Hardware doch eher um ineinander
Crow Box
verschlungene Kreisläufe, die für Designprojekte aufge-
https://en.wikipedia.org/
wiki/Joshua_Klein und griffen werden, wie beim Projekt „Crow Box“ von Joshua
www.dailymail.
co.uk/sciencetech/
Klein? In dem Projekt können Vögel erlernen, aus der
article-2982961/ Vogelperspektive Münzen zu erspähen und zu sammeln,
The-feeder-trains-birds-
PAY-food-Crow-Box- mit denen sie bei einem speziellen Automaten Futter
teaches-corvids-collect-
coins-return-peanuts.html
kaufen können.
/ Letzter Aufruf:
3. 7. 2020
Zentral sind in all diesen Ansätzen Nachhaltigkeit und
das Einbetten von technologischen Abläufen in exis-
tierende Systeme, ohne diese zu stören; das Verstehen, Aufgreifen
und Schonen bereits vorhandener Kreisläufe und die darin erneuerten
Ressourcen. Die meisten der gerade erwähnten Akteure und Akteurin-
nen, Designer und Designerinnen, Künstler und Künstlerinnen machen
transparent, wie sie diese Hardware hergestellt haben. Viele tragen das
Label Open Source Hardware (OSH): um es anderen leichter zu machen,
an bereits gemachte Überlegungen anzuknüpfen, werden Baupläne,
Konzepte, Modelle für 3D-Druck oder PCB-Boards und -Manuals zum
Nachmachen online gestellt. Transparenz ist also ebenfalls eine wichtige
gemeinsame Qualität dieser Umsetzungen.

96 | 97
Central to all these approaches are sustainability and the embedding
of technological processes into existing systems without disrupting
them; understanding, taking up and preserving existing cycles and
the resources renewed within them. Most of the actors, designers, ar-
tists, and designers just mentioned make transparent how they have
produced this hardware. Many are labeled Open Source Hardware
(OSH): in order to make it easier for others to follow up on ideas alrea-
dy made, blueprints, concepts, models for 3D printing or PCB boards
and manuals are put online to be copied. So transparency is also an
important common quality of these implementations.

Our artistic research project is inspired by all these approaches. With


this in mind, we want to develop a PCB board that works without new
components. Instead, it should contain locally occurring metals, ele-
ments, scrap and organic materials or even components that can be
produced in self-construction to meet the demands of feminist artists
and designers. This group of “technology developers” is unfortunately
often not perceived as such; we don’t find them in big labs and hubs,
but rather in off-spaces, studios, hackspaces and citizen labs. These
spaces are a central interface between university ex-
Toupin, Sophie (2014): pert knowledge and situated knowledge brought in by
„Feminist Hackerspaces:
The synthesis of feminist
euphoric geeks, artists and brilliant autodidacts (Tou-
and hacker cultures“. pin 2014). Therefore, our research team works closely
Journal of Peer Producti-
on no. 5, 6 with all these groups: with the feminist hackspace Mz*
Baltazar’s Lab in Vienna, the artist space esc medien
kunst labor in Graz and international technical universities. The team
consists of Patricia J. Reis, Tagahui Torosyan and Stefanie Wuschitz,
all three of whom are based at the Academy of Fine Arts. Answering
our question “What is feminist hardware?” is a big challenge, because
supply chains of rare earths and other electrical components usually
remain untraceable, recycled hardware is unreliable and our project
has been scheduled for only three years. Nevertheless, it is possible
to find out about the working conditions of the producers, test old
components for reuse and recover valuable hardware from scrap. The
remaining hurdles are a stimulus to become creative. The answer to
our question will not be a paper document, but rather a speculative and
functional object that can be changed and reinvented through its use.

Stefanie Wuschitz / Is This Feminist Hardware?


Unser künstlerisches Forschungsprojekt wird von all diesen Ansät-
zen inspiriert. In diesem Sinne wollen wir ein PCB-Board entwickeln,
das ohne neue Bauelemente auskommt. Stattdessen soll es lokal
vorkommende Metalle, Elemente, Schrott und organische Materialien
bzw. selbst in Eigenbau erzeugbare Komponenten enthalten, um den
Ansprüchen von feministischen Künstler*innen und Designer*innen
gerecht zu werden. Diese Gruppe von „Technologieentwickler*innen“
wird leider oft nicht als solche wahrgenommen, wir treffen sie nicht in
großen Labs und Hubs an, sondern eher in Off-Spaces, Ateliers, Hack-
space- und Citizen-Labs. Diese Räume sind eine zentrale Schnittstelle
zwischen universitärem Expert*innen-Wissen und situiertem Wissen,
das euphorische Geeks, Künstler*innen und brillante Autodidakt*innen
einbringen (Toupin 2014). Deswegen arbeitet unser Forschungsteam
auch mit all diesen Gruppen eng zusammen: mit dem feministischen
Hackspace Mz* Baltazar’s Lab in Wien, dem Künstler*innen Raum esc
medien kunst labor in Graz und internationalen technischen Univer-
sitäten. Das Team besteht aus Patricia J. Reis, Tagahui Torosyan und
Stefanie Wuschitz, die alle drei an der Akademie der bildenden Künste
angesiedelt sind. Die Beantwortung unserer Frage „Was ist feministi-
sche Hardware?“ ist eine große Herausforderung, weil Lieferketten von
seltenen Erden und anderen Elektrobauteilen meist unnachvollziehbar
bleiben, recycelte Hardware unzuverlässig ist und unser Projekt auf nur
drei Jahre angesetzt wurde. Dennoch es ist möglich, sich über Arbeits-
bedingungen der Produzent*innen zu erkundigen, alte Bauteile für ei-
nen Wiedergebrauch zu testen und wertvolle Hardware aus Schrott zu
gewinnen. Die restlichen Hürden sind Anregung, um kreativ zu werden.
Die Antwort auf unsere Frage wird kein Paper, sondern ein spekulatives
und funktionales Objekt sein, das sich durch seine Verwendung verän-
dert und neu erfinden lässt.

Es existieren bereits zahllose wertvolle Plattformen, die die Herausfor-


derung, posthumanen Werten gerecht zu werden, über die Metaebene
lösen möchten, wie zum Beispiel die Dokumentationsplattform „i fix it“
oder „thingiverse“. Hier erlernen User und Userinnen, wie sie unkoope-
rative technische Geräte reparieren und mit Hilfe von 3D-Druck nötige
Ersatzteile zur Reparatur erhalten. Als Künstler*innen, Designer*innen
und Entwickler*innen kommen wir trotzdem nicht um die Frage herum,

98 | 99
There are already countless valuable platforms that want to solve the
challenge of doing justice to posthuman values via the meta-level,
such as the documentation platforms “i fix it” or “thingiverse”. Here,
users learn how to repair uncooperative technical devices and how to
use 3D printing to obtain necessary spare parts for repair. As artists,
designers and developers, we still can’t avoid the question of how
much it costs to realize our own projects. And what it would take
to be able to create your own projects with only five percent of the
technical devices currently consumed.

Individual resources
Impressive pioneering work has already been done for these consi-
derations as well. For example: the mixed media installation HAEM by
the artist Cecilia Jonsson. Together with Rodrigo Leite de Oliveira of
“The Netherlands Cancer lnstitute” she started a long process. She
collected placentas from friends and acquaintances that had given
birth to a child. In 2016, over seventy mothers voluntarily gave her
their placentas. The blood of the placenta transports oxygen from the
mother to the unborn child, and it contains a lot of iron.
Cecilia Jonsson Cecilia Jonsson extracted and compressed exactly this
https://www.ceciliajons-
son.com/4-haem iron from the placenta in a complicated process. From
Letzter Aufruf: 3. 7. 2020 the compact, actually metallic iron, she forged a mas-
Mary Maggic sive compass needle. A compass is certainly not con-
http://maggic.ooo/
Estrofem-Lab-2016 ventional hardware. But this project makes it possible
Letzter Aufruf: 3. 7. 2020
to feel how closely the human body is connected to
substances from the earth. The absorption of substan-
ces by the body is not a one-way street. Our bodies could therefore
become hardware manufacturers in the future.

Mary Maggic also points this out in her Estro Fem Lab. In internatio-
nal workshops she teaches participants how to extract estrogen from
their own urine. She combines DIY estrogen extraction with informa-
tion on the devastating contamination of water by artificially pro-
duced hormones for technologies such as drugs and contraceptives.
Biohacking here becomes an artistic practice that not only generates
new knowledge and stirring experiences, but also the finest estrogen.

Stefanie Wuschitz / Is This Feminist Hardware?


um welchen Preis eigene Projekte umgesetzt werden müssen? Und
was es brauchen würde, um in der Lage zu sein, mit nur fünf Prozent der
derzeit konsumierten technischen Geräte eigene Projekte umzusetzen.

Eigene Ressourcen
Auch für diese Überlegungen gibt es bereits beeindruckende Pionier-
arbeiten. Zum Beispiel die Mixed-Media-Installation HAEM der Künst-
lerin Cecilia Jonsson. Zusammen mit Rodrigo Leite de Oliveira des „The
Netherlands Cancer lnstitute“ begann sie einen langwierigen Prozess.
Sie sammelte Plazentas von Freundinnen und Bekannten, die ein Kind
geboren hatten. Im Jahr 2016 überließen ihr über siebzig Mütter freiwil-
lig ihre Plazentas. Das Blut der Plazenta transportiert Sauerstoff von der
Mutter zum ungeborenen Kind, und es enthält viel Eisen. Genau dieses
Eisen hat Cecilia Jonsson in einem komplizierten Vorgang aus den
Plazentas extrahiert und komprimiert. Aus dem kompakten, tatsächlich
metallischen Eisen schmiedete sie eine massive Kompassnadel. Zwar
ist ein Kompass keine herkömmliche Hardware. Doch macht dieses
Projekt spürbar, wie eng der menschliche Körper mit Substanzen aus
der Erde verbunden ist. Die Aufnahme von Substanzen durch den
Körper ist keine Einbahnstraße. Unser Körper könnte also in der Zukunft
Hardware-Hersteller werden.

Auch Mary Maggic weist in ihrem Estro Fem Lab darauf hin. In interna-
tionalen Workshops vermittelt sie Teilnehmer*innen, wie aus eigenem
Urin Östrogen gewonnen werden kann. Sie verbindet die DIY-Urin-Ge-
winnung mit Informationen über verheerende Verunreinigung von
Wasser durch künstlich hergestellte Hormone für Technologien wie
Medikamente und Verhütungsmittel. Biohacking wird
Paula Pin hier zu einer künstlerischen Praxis, die nicht nur neues
http://paulapin.net/#
Letzter Aufruf: 3. 7. 2020
Wissen und aufwühlende Erfahrungen, sondern auch
feinstes Östrogen hervorbringt.

Feministisches Hacken
Feministisches Hacken ist der unorthodoxe Umgang mit vorgefun-
denen Systemen durch eine non-binäre Sichtweise auf ‚Geschlecht‘.
Allmählich etabliert sich feministisches Hacken als künstlerische
Methode. Prominente Beispiele für feministische Hacker*innen sind

100 | 101
Feminist hacking
Feminist hacking is the unorthodox way of dealing with existing sys-
tems through a non-binary view of ‘gender’. Gradually, feminist ha-
cking is establishing itself as an artistic method. Prominent examples
of feminist hackers include Paula Pin (formerly Pechblenda), who
attempts to demystify gynecological devices and traces the colonial
history of the development of well-known gynecological instruments.
In her lab case there are numerous self-developed,
Ira Agrivine – improved OSH instruments through which workshop
Hacking to Live
www.youtube.com/ participants and patients regain autonomy over their
watch?v=r2CjhyEpG1 own bodies. Autonomy is also the basic motivation of
M&feature=youtu.be
Letzter Aufruf: 3. 7. 2020 Ira Agrivine’s project “DIY Water Purifier”, which she
developed with her Hackspace, Fablab and collective
HONF in Indonesia. With exclusively female participants, she uses
stones and other naturally occurring materials to construct simple
water filters to produce drinking water from the heavily polluted fresh
water of the rivers near Yogyakarta (in Java). She goes to underserved
villages and tries to inform especially mothers how they can get clean
water.

Tina Baumann, Julia Friesel and Marie Kochsiek have developed the
smartphone app “Drip”. First and foremost to document menstrual
cycles in a secure and confidential way without passing on data to
third parties. This means that no conclusions can be drawn about
the sexual orientation, social gender or life plans of the user. The
design of the app tries not to replicate binary gender norms through
aesthetics and application. The app also prevents targeted adverti-
sing to people in certain cycle phases that allegedly influence their
mental state.

Caroline Sanders is also working on the way data is collected. In her


AI workshops, she consciously and carefully generates a data set of
feminist texts together with participants in order to enable better/
more feminist text recognition, while at the same time criticizing the
conventional bias in machine learning systems. Her open source
database is available to the public and the “Feminist Data Set” can be
downloaded free of charge from her website.

Stefanie Wuschitz / Is This Feminist Hardware?


beispielsweise Paula Pin (früher Pechblenda), die versucht, gynäko-
logische Geräte zu entmystifizieren und die koloniale Geschichte der
Entwicklung bekannter Gynäkologie-Instrumente nachzuzeichnen.
In ihrem Lab-Koffer befinden sich zahlreiche selbst entwickelte, ver-
besserte OSH-Instrumente, durch die Workshop-Teilnehmende und
Patientinnen Autonomie über den eigenen Körper zurückerlangen. Au-
tonomie ist auch Grundmotivation des Projekts „DIY Water Purifier“ von
Ira Agrivine, das sie mit ihrem Hackspace, Fablab und Kollektiv HONF
in Indonesien entwickelt hat. Mit ausschließlich Teilnehmenden, die
sich als weiblich definieren, baut sie aus Steinen und anderen natürlich
vorkommenden Materialien, einfach herzustellende Wasserfilter, um
aus dem stark verschmutzen Süßwasser der Flüsse in der Nähe von Yo-
gyakarta (auf Java) Trinkwasser zu gewinnen. Sie geht dafür in unterver-
sorgte Dörfer und versucht besonders Mütter darüber zu informieren,
wie sie an sauberes Wasser gelangen können.

Tina Baumann, Julia Friesel und Marie Kochsiek haben die Smartpho-
ne-App „Drip“ entwickelt. In erster Linie, um auf sicherem und vertrau-
lichem Weg Menstruationszyklen zu dokumentieren,
Drip ohne dass Daten an Dritte weitergegeben werden.
https://bloodyhealth.
gitlab.io/ Letzter Aufruf:
Dadurch können keine Rückschlüsse auf sexuelle
3. 7. 2020 Orientierung, soziales Geschlecht oder Lebensplanung
der User*innen erstellt werden. Das Design der App
bemüht sich darum, keine binären Geschlechtsnormen durch Ästhetik
und Anwendung zu replizieren. Auch verhindert die App gezielte Wer-
bung auf Menschen in bestimmten, sie angeblich mental beeinflussen-
den Zyklusphasen.

Auch Caroline Sanders schraubt an der Art, wie Daten gesammelt


werden. In ihren KI-Workshops generiert sie gemeinsam mit Teilneh-
menden bewusst und sorgfältig einen Datensatz aus feministischen
Texten, um KI bessere/feministischere Texterkennung zu ermöglichen,
und kritisiert gleichzeitig die herkömmliche Bias in Machine-Lear-
ning-Systemen. Ihre Open-Source-Datenbank ist der Öffentlichkeit
zugänglich, und das „Feminist Data Set“ kann gratis von ihrer Website
geladen werden.

102 | 103
Similarities
At the center of all these projects, which were mentioned here as
examples of feminist hacking, is peer-to-peer knowledge transfer, th-
rough workshops, performance lectures and festivals. DIY and DIWO
(Do-It-Yourself and Do-It-With-Others) are regarded as basic princip-
les of cooperation. This kind of common and community work thus
are the fundaments of feminist hacking. In most cases a project idea
is fed by immediate need, essential necessity and acute urgency. It
is a bottom-up situation in which laypeople become experts because
they are striving of their own accord to resolve a conflict that directly
affects them. The process of searching, collecting, collating and wor-
king with others changes not only the technology being developed,
but also the feminist hackers themselves. They are formed by the pro-
cess – just as they themselves form a project. The actors overcome
technical bugs, social resistance and personal problems in order to
get closer to their goal and grow beyond themselves and into a new
role, while at the same time their project gains impact and significan-
ce through the new role they take on. The experience of the direct ap-
plication of the prototypes and designs and the direct exchange with
people who are also affected in workshops will have been meaningful
and knowledge-generating even if the project should fail.

In Feminist Hacking – as in posthumanism and feminist new materi-


alism – object and subject are understood as producing each other
anew, constituting each other. It is difficult to find symbols for this,
because the transformation and constant production and mutual
conditionality reduce reduction to a sign. To write about it oneself, i.e.
to use words as signs, is a stubborn matter. In her book “The Beau-
tiful Warriors: Technofeminist Praxis in the 21st Century”, the editor
Cornelia Sollfrank has gathered together important theoreticians of
this movement. She has succeeded in linking the cyberfeminism of
the 1990s with current positions of a techno-eco-feminism. Three ge-
nerations of feminists who see technology as an experimental layout
and/or artistic field of experimentation have their say. But even the
image of the warrior is not enough to deal with the feminist hacking
that is constantly changing and mutually constituting itself through
ritualizing processes. Barad explains this incident through the image

Stefanie Wuschitz / Is This Feminist Hardware?


Gemeinsamkeiten
Im Zentrum all dieser Vorhaben, die hier als Beispiele für feministisches
Hacken genannt wurden, steht Peer-to-peer-Wissensvermittlung, durch
Workshops, Performance Lectures, Festivals. DIY und DIWO (Do-It-
Yourself und Do-It-With-Others) gelten als Grundprinzipien der Zu-
sammenarbeit. Diese Art der Commons- und Community-Arbeit stellt
damit ein Grundprinzip feministischen Hackens dar. Meist wird eine
Projektidee durch unmittelbares Bedürfnis, essentielle Notwendigkeit
und akute Dringlichkeit gespeist. Es ist eine Bottom-up-Situation, in
der aus Laien Expert*innen werden, weil sie sich aus eigenem Antrieb
heraus um die Auflösung eines sie selbst direkt betreffenden Konflikts
bemühen. Dabei verändert der Prozess des Suchens, Sammelns,
Zusammentragens und Mit-anderen-Bearbeitens nicht nur die Tech-
nologie, die entwickelt wird, sondern die feministischen Hacker*innen
selbst. Sie werden durch den Vorgang geformt, so wie sie dabei ein
Projekt formen. Die Akteur*innen überwinden technische Bugs, soziale
Widerstände, persönliche Probleme, um ihrem Ziel näher zu kommen,
und wachsen dabei über sich selbst hinaus und in eine neue Rolle
hinein, während zeitgleich ihr Projekt durch die neue Rolle, die sie
einnehmen, an Schlag- und Aussagekraft gewinnt. Die Erfahrung der
direkten Anwendung der Prototypen und Entwürfe und der unmittelba-
re Austausch mit ebenfalls Betroffenen in Workshops wird selbst dann
sinnstiftend und wissensgenerierend gewesen sein, falls das Projekt
scheitern sollte.

Beim Feministischen Hacken – so wie im Posthumanismus und im


feministischen neuen Materialismus – werden Objekt und Subjekt als
sich gegenseitig neu hervorbringend verstanden; einander konstituie-
rend. Dafür ist es schwer, Symbole zu finden, denn das
Sollfrank, Cornelia (Hg.) Wandeln und stetige Hervorbringen und gegenseitige
(2018): Die schönen
Kriegerinnen. Techno-
Bedingen entzieht sich der Reduktion auf ein Zeichen.
feministische Praxis im Selbst darüber zu schreiben, also Wörter als Zeichen
21. Jahrhundert. Linz:
transversal texts einzusetzen, ist eine bockige Angelegenheit. In ihrem
Buch „Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische
Praxis im 21. Jahrhundert“ hat die Herausgeberin Cornelia Sollfrank
wichtige Theoretikerinnen dieser Bewegung versammelt. Es ist ihr
gelungen, den Cyberfeminismus der 1990er-Jahre mit aktuellen

104 | 105
of the wave. She shows that waves crossing each other produce so-
mething new, namely a new wave pattern, unlike what individual wa-
ves do. The phenomenon is called diffraction (wave deflection) and is
on the one hand actually a state into which matter gets when it meets,
but at the same time diffraction is also a good image for intersectio-
nal differences. For the troubles, the changes, the uncategorizable
conflicts, become something completely different when they collide
and fall into each other. Two stones plunged into a lake with a smooth
surface draw circles whose waves create diffraction patterns when
they meet. Barad proposes this kind of productive
Tsing, Anna (2015): disagreement as a method of finding out new things
The Mushroom at the
End of the World. through the mutually distracting wave movements.
Princeton: Princeton
University Press
Closing
Harding, Sandra
(1998): Is Science This view does not mean that we have to renounce any
Multicultural?: Postco-
lonialisms, Feminisms,
statement about the world. In contrast to postmoder-
and Epistemologies. nism, representatives of posthumanism emphasize
Bloomington and
Indianapolis: Indiana that reality can be researched scientifically, especially
University Press
by focusing on emerging diffraction patterns. These
Harding, Sandra patterns give us insight into complex, interlocked
(2009): „Standpoint
Theories: Productively processes and the materiality of their outcomes,
Controversial“, Hypatia
24(4), 192–200
be it production chains, electromagnetism or nano-
Haraway, Donna
technological phenomena (Tsing 2015, Barad 2007).
(1991): Situated However, these statements can only ever be made in
Knowledges: The Scien-
ce Question in Feminism relation to a certain situation, a certain constellation,
and the Privilege of
Partial Perspective. in:
in the intended configuration of the apparatus and at a
Simians, Cyborgs, and certain point in time from a fixed perspective. Feminist
Women: the Reinvention
of Nature. Feminist
theorists, such as Donna Haraway, have already done
Studies Vol. 14, No. preliminary work for this in the 1990s with the concept
3 (Autumn, 1988),
575–599. New York: of “situated knowledge” and the “standpoint theory”
Routledge
(Harding 1998, 2009; Haraway 1991). Accordingly,
designing, making transparent and documenting one’s
own standpoint and the scientific experimental layout is the central
and very responsible task of researchers and artistic researchers.

“To experiment is to create, produce, refine and stabilize phenome-


na...” (Hacking 1983, 230) - For our forthcoming research project,

Stefanie Wuschitz / Is This Feminist Hardware?


Positionen eines Techno-Öko-Feminismus in Zusammenhang zu
bringen. Drei Generationen von Feministinnen, die Technologie als
Versuchsanordnung und/oder künstlerisches Experimentierfeld be-
trachten, kommen darin zu Wort. Doch auch das Bild der Kriegerin tut
dem sich ständig im Wandel befindlichen und sich gegenseitig über
ritualisierende Vorgänge konstituierenden feministischen Hacken nicht
genüge. Barad erklärt diese Begebenheit durch das Bild der Welle. Sie
zeigt, dass einander kreuzende Wellen etwas Neues, nämlich ein neues
Wellenmuster ergeben, anders als das einzelne Wellen tun. Das Phä-
nomen wird Diffraktion (Beugung; Wellenablenkung) genannt und ist
einerseits tatsächlich ein Zustand, in den Materie gerät, wenn sie auf-
einandertrifft, gleichzeitig ist Diffraktion allerdings auch ein gutes Bild
für intersektionale Differenzen. Denn die Troubles, die Veränderungen,
die unkategorisierbaren Konflikte, werden zu etwas gänzlich anderem,
wenn sie aufeinander und ineinander fallen. Zwei in einen See mit glat-
ter Wasseroberfläche geplumpste Steine ziehen jeweils Kreise, deren
Wellen beim Aufeinandertreffen Diffraktionsmuster erzeugen. Diese
Art des produktiven Zerwürfnisses schlägt Barad als Methode vor, um
über die sich gegenseitig ablenkenden Wellenbewegungen Neues in
Erfahrung zu bringen.

Abschluss
Diese Sichtweise bedeutet nicht, dass wir auf jegliche Aussage in Be-
zug auf die Welt verzichten müssten. Anders als im Postmodernismus
betonen Vertreter*innen des Posthumanismus, dass die Wirklichkeit
sehr wohl wissenschaftlich erforschbar sei, gerade durch das Fokus-
sieren auf entstehende Diffraktionsmuster. Diese Muster geben uns
Einblick in komplexe, ineinander verzahnte Vorgänge und in die
Materialität ihrer Ausgänge, seien es nun Produktionsketten, Elektro-
magnetismus oder nanotechnologische Phänomene (Tsing 2015,
Barad 2007). Allerdings können diese Aussagen immer nur in Bezug
auf eine bestimmte Situation, eine gewisse Konstellation, die gewollte
Konfiguration des Apparatus sowie zu einem bestimmten Zeitpunkt von
einer festgelegten Perspektive aus betrachtet werden. Hierfür haben
feministische Theoretikerinnen wie Donna Haraway mit dem Begriff
„Situiertes Wissen“ und der „Standpoint Theory“ schon in den 1990ern
Vorarbeit geleistet (Harding 1998, 2009; Haraway 1991). Den eigenen

106 | 107
I would now like to interweave the fields described in this article;
firstly posthumanism (and the values of feminist new materialism)
and secondly the practice of feminist hacking by means of a playful
counter-reading in order to be able to observe their diffraction.

Two premises will guide us in this project: The conviction that there
is no essence that can categorize a person forever.
Hacking, Ian (1983): That all beings, on the contrary, are closely connected
Representing and
Intervening: Introductory with each other, so closely that the boundaries are
Topics in the Philosophy
of Natural Science.
physically fluid, the atoms are virtually fuzzy and frayed,
New York: Cambridge time is relative and all matter, whether in the form of a
University Press
marsh marigold, a hammerhead shark or a jet plane, is
ultimately composed of the same chemical elements of
the periodic table and will ultimately disintegrate into them again. This
conviction thus relies on the dissolution and solid, productive fusion of
the perceiver with the perceived.

The second premise is a basic attitude of longing that is taken over


again and again: to alleviate one’s own and others’ suffering, to grow
and live by oneself. The feminist hacking, the creativity, curiosity,
squeaky penetrance and functional naivety of intersectional, eco-fe-
minist hacking with its idealistic basic note is the integrative coun-
terpart to post-humanistic dissolution. By counter-reading Butler’s
concept of performativity with a feminist and ethical concept of
technology, outrageously prudent, carefully developed and sustainab-
ly caring technologies are created. Sometimes they disappear extre-
mely quickly, but sometimes they change their developers for the rest
of their lives.
Foucault, Michel (1985): The Use of Foucault, Michel (2013): Les nistan-who-made-a-cheap-ventilator-
Pleasure: The History of Sexuality, Volu- heterotopies. Le corps utopique. out-of-toyota-parts-1.1002439
me Two. New York: Random House Zwei Radiovortrage. Berlin: Suhrkamp Letzter Aufruf: 3. 7. 2020

Foucault, Michel (2001) / (1976): Wajcman, Judy (2006): „Techno- Feminist Data Set
In Verteidigung der Gesellschaft. Vorle- Capitalism Meets TechnoFeminism: https://carolinesinders.com/femi-
sungen am Collège de France (1975-6). Women and Technology in a Wireless nist-data-set/ Letzter Aufruf: 3. 7. 2020
Frankfurt/Main: Suhrkamp World“, Labour & Industry: a journal of
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Foucault, Michel (2009) [1981/82]: work, 16:3 (2006), 7 https://www.ifixit.com/
Hermeneutik des Subjekts. (Übers. Letzter Aufruf: 3. 7. 2020
Ulrike Bokelmann). Frankfurt am Main: Afghan Dreamers
Suhrkamp Verlag www.thenational.ae/world/mena/
Bildnachweis S. 87 / Photo Credit
the-all-female-robotics-team-in-afgha-
p. 87: Fairphone

Stefanie Wuschitz / Is This Feminist Hardware?


Standpunkt und die wissenschaftliche Versuchsanordnungen zu ge-
stalten, transparent zu machen und zu dokumentieren ist demnach die
zentrale und sehr verantwortungsvolle Aufgabe von Forschenden und
künstlerisch Forschenden.

„To experiment is to create, produce, refine and stabilize phenomena


…“ (Hacking 1983, 230) – Ich möchte für unser bevorstehendes For-
schungsprojekt nun die in diesem Artikel beschriebenen Felder, also
erstens Posthumanismus (und die Werte des feministischen neuen
Materialismus) sowie zweitens die Praxis des feministischen Hackens
durch ein spielerisches Gegenlesen miteinander verschränken, um ihre
Diffraktion beobachten zu können.

Zwei Prämissen werden uns bei diesem Vorhaben leiten: Die Über-
zeugung, dass es keine Essenz gibt, die einen Menschen für immer zu
kategorisieren vermag. Dass alle Wesen ganz im Gegenteil eng mitein-
ander verbunden sind, so eng, dass die Grenzen physikalisch fließend
sind, die Atome quasi fusselig und ausgefranst, die Zeit relativ und alle
Materie, ob in Form einer Sumpfdotterblume, eines Hammerhais oder
Düsenjets, sich im Endeffekt aus den gleichen chemischen Elementen
des Periodensystems zusammensetzt und schlussendlich wieder in
diese zerfallen wird. Diese Überzeugung rechnet also mit der Auflö-
sung und soliden, produktiven Verschmelzung des Wahrnehmenden
mit dem Wahrgenommenen.

Die zweite Prämisse ist eine immer wieder neu eingenommene sehn-
süchtige Grundhaltung: das eigene und fremde Leiden zu mildern,
selbst zu wachsen und zu leben. Das feministische Hacken, die Krea-
tivität, Neugier, quietschvergnügte Penetranz und funktionale Naivität
des intersektionellen, öko-feministischen Hackens mit seiner idealisti-
schen Grundnote ist der integrative Gegenpart zur posthumanistischen
Auflösung. Durch das Gegenlesen des Performativitäts-Konzepts von
Butler mit einem feministischen und ethischen Technologiebegriff,
entstehen unerhört umsichtige, sorgfältige entwickelte und nachhaltig
fürsorgliche Technologien. Manchmal sind sie extrem schnell wieder
verschwunden, aber manchmal verändern sie ihre Entwickler*innen für
den Rest ihres Lebens.

108 | 109
Zu den Autor*innen
About the authors

Laura Haensler studierte Kunstgeschichte Laura Haensler studied Art History and
und Gender Studies an der Universität Ba- Gender Studies at the University of
sel, sowie Design in der Vertiefung Trends Basel, as well as Design with a focus on
& Identity an der Zürcher Hochschule der Trends & Identity at the Zurich University
Künste. Sie arbeitet als freischaffende De- of the Arts. She works as a freelance
signerin und forscht im Bereich Gender, designer and researches in the field of
Design und Identitäten. gender, design and identities.

Mayar El Bakry ist Designerin, die an den Mayar El Bakry is a designer who
Peripherien des Grafikdesigns agiert. operates on the peripheries of graphic
Sie repräsentiert depatriarchise design, design. She represents depatriarchise
eine gemeinnützige praxisorientierte design, a non-profit praxis oriented
Forschungsplattform die untersucht, research platform that analyses how an
auf welche Weise eine intersektionale intersectional feminist perspective can
feministische Perspektive in Designpraxis, be applied to design practice, design
Designausbildung und Designforschung education and design research. It is co-
genutzt werden kann. Sie wird von Anja run by Anja Neidhardt and Maya Ober.
Neidhardt und Maya Ober geleitet. depatriarchisedesign.com
depatriarchisedesign.com
Ulrike Haele is assistant professor in the
Ulrike Haele ist Assistenzprofessorin im course of studies “Manual & Material
Studiengang „Design, Handwerk & mate- Culture” at the NDU in St. Pölten. She
rielle Kultur“ an der NDU in St. Pölten. Sie studied at the University of Applied Arts
studierte an der Universität für Ange- and the University of Vienna, and works
wandte Kunst sowie an der Universität as a design scientist, lecturer, curator
Wien, arbeitet als Designwissenschaft- and author on aspects related to the
lerin, Lehrende, Kuratorin und Autorin zu transformation of society.
Fragen des gesellschaftlichen Wandels.
Christian Jurke ist als Gründer Miteigen- Christian Jurke is the founder and
tümer der Designberatung NVGTR in co-owner of the design consultancy
München. Er studierte Bildhauerei am NVGTR in Munich. He studied sculpture
Nova Scotia College of Art and Design in at the Nova Scotia College of Art and
Halifax, Kanada, und Produktdesign an Design in Halifax, Canada, and product
der Hochschule der Bildenden Künste design at the Hochschule der Bildenden
Saar, Saarbrücken. Zahlreiche Vorträge, Künste Saar. Numerous lectures, among
u.a. am Massachusetts Institute of Tech- others at the Massachusetts Institute
nology, bei European Design Summit in of Technology, the European Design
Ljubljana, am Design Zentrum Stuttgart. Summit in Ljubljana, the Design Zentrum
Stuttgart.
Hans Stefan Moritsch ist Designer und
ordentlicher Professor an der New Design Hans Stefan Moritsch is a designer and
University in St. Pölten. Er leitet den Studi- full professor at the New Design Univer-
engang „Design, Handwerk & materielle sity in St. Pölten. He heads the course of
Kultur /// Manual & Material Culture”. studies “Manual & Material Culture”.

Friedrich von Borries ist ein deutscher Friedrich von Borries is a german archi-
Architekt, Kurator, Designtheoretiker tect, curator, design theorist and writer
und Schriftsteller mit Forschungs- und with a research and design focus on
Entwurfsfokus auf politische Fragen und political issues and the transformation of
gesellschaftliche Transformation. Eigenes society. He has his own project office in
Projektbüro in Berlin, seit 2009 Professor Berlin and has been Professor of Design
für Designtheorie an der Hochschule für Theory at the Hamburg University of Fine
bildende Künste Hamburg. Arts since 2009.

Stefanie Wuschitz betreibt als Post-Doc Stefanie Wuschitz conducts artistic


an der Akademie der bildenden Künste research as a post-doctoral fellow at the
in Wien künstlerische Forschung, sie Academy of Fine Arts in Vienna, she is
beschäftigt sich mit feministischem engaged in feminist hacking as an ar-
Hacken als künstlerische Methode sowie tistic method as well as critical practice
kritischer Praxis und ist Mitgründerin and is co-founder of the feminist hacker
des feministischen Hackerspaces Mz* space Mz* Baltazar’s Lab.
Baltazar‘s Lab.

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Gendersensibles Design befasst sich mit der Frage, in-
wiefern unsere gestaltete Umwelt und unsere Vorstellungen
von Geschlechterrollen zusammenhängen. Ausgehend von
konkreten Projekten, die im Studiengang „Design, Handwerk
& materielle Kultur“ an der NDU entstanden sind, werfen
vielschichtige Beiträge von Mayar El Bakry und depatriachise
design, Ulrike Haele, Laura Haensler, Christian Jurke,
Friedrich von Borries und Stefanie Wuschitz Schlaglichter
auf diesen wichtigen Teilaspekt der Gestaltung unserer
materiellen Kultur.

Gender-sensitive design deals with the question of the


interrelation between our designed environment and our
perceptions about gender roles. Based on concrete projects
that have been developed in the course of studies „Manual
& Material Culture“ at NDU, multi-faceted contributions by
Mayar El Bakry and depatriachise design, Ulrike Haele, Laura
Haensler, Christian Jurke, Friedrich von Borries, and Stefanie
Wuschitz highlight this important aspect of the design of our
material culture.

ISBN 978-3-9503515-7-6

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