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Autorenverzeichnis
Kapitalismus, Sozialismus
und Demokratie neu gelesen
– Zusammengestellt von Harald Bluhm –
Editorial 2 Neunzehnhundert-
neunundachtzig
Kapitalismus, Sozialismus Raj Kollmorgen
und Demokratie neu gelesen Umbruch ohne Revolution?
Beitritt statt Transformation? 90
Harald Bluhm
Ein Plädoyer für neue Lesarten 3 Mihai Varga, Annette Freyberg-Inan
Demokratie okay, aber für alle?
Gary S. Schaal Demokratieunzufriedenheit
Irrationale Rationalität und und selektive Demokratie
rationale Irrationalität. in Mittel- und Osteuropa 104
Die Grenzen der Demokratie-
konzeption von Joseph Schumpeter 17 Dieter Segert
Sozialer Wandel in Osteuropa nach
Marcus Llanque 1989 und staatssozialistisches Erbe 120
Schumpeters Politische Ökonomie
und der Sozialismus 24
Besprechungen und Rezensionen
Christoph M. Michael
Joseph A. Schumpeter und die kreative Stefania Maffeis:
(Selbst-)Zerstörung des Kapitalismus 31 Zwischen Wissenschaft
und Politik. Transformationen
Nils Otter der DDR-Philosophie 1945-1993
Schumpeters Diagnose zu Wandel Rezensiert von Heike Guthoff 136
und Krisen im Kapitalismus 41
Klaus Müller:
Rainer Land Mikroökonomie. Eine praxisnahe,
Schumpeter und der New Deal 49 kritische und theoriegeschichtlich
fundierte Einführung mit
Aufgaben, Klausuren und Lösungen
*** Rezensiert von Jürgen Leibiger 138
Peter Niesen
Vom Nutzen der Toten für die Lebenden. Hauke Janssen:
Zu Jeremy Benthams Text 62 Nationalökonomie und
Nationalsozialismus.
Jeremy Bentham Die deutsche Volkswirtschaftslehre
Staatseinnahmen ohne Belastung oder: in den dreißiger Jahren
Heimfall statt Besteuerung 70 Rezensiert von Ulrich Busch 141
2 Berliner Debatte Initial 20 (2009) 4
Editorial
Mit diesem Heft beschließen wir den 20. Jahr- war. Es gibt wohl wenige Klassikerschriften,
gang unserer Zeitschrift, der nicht zufällig in deren Aktualität vor diesem Hintergrund so ins
das Jubiläumsjahr des „Europäischen Herbstes“ Auge fallen würde, wie Schumpeters Kapita-
gefallen ist. In gewisser Hinsicht ist auch Berliner lismus, Sozialismus und Demokratie aus dem
Debatte Initial ein „Kind der Revolution“ von Jahr 1942. Harald Bluhm hat für dieses Heft
1989. Besorgt ob der Ungewissheit über den Autoren gewonnen, die dafür plädieren, dieses
Ausgang der Umbruchprozesse, aber vor allem Werk mit Bezug auf die genannten aktuellen
motiviert durch das Erlebnis der Befreiung von Problemlagen neu zu lesen. Sein Artikel zum
Dogmatismus und parteistaatlicher Gängelung, Themenschwerpunkt ordnet die Schrift ein,
übernahm im Frühjahr 1990 eine Gruppe von wirft Interpretationsprobleme auf und stellt
Sozialwissenschaftlern um den Ostberliner Phi- die Beiträge vor.
losophen Peter Ruben die Nachfolgezeitschrift Ein zweiter Block von Artikeln resümiert
der Sowjetwissenschaft vom Verlag Volk und Resultate der Umbruchprozesse in Osteuropa.
Welt, um sie zu einem „Organ der sozialen Raj Kollmorgen diskutiert den besonderen
Aufklärung“, einer „Tribüne für die geistigen Charakter der Revolution in der DDR und die
Auseinandersetzungen“ um die Probleme der spezifische Logik der ostdeutschen Transforma-
„kommenden gesellschaftlichen Entwicklung“ tion. Dieter Segert argumentiert, dass vor dem
(Initial 4/1990, 442) zu machen. Eine unabhän- Hintergrund der in der spätsozialistischen Ära
gige, eigenständig gestaltete Zeitschrift – das geprägten Erwartungshaltungen der Bevölke-
war für uns ostdeutsche Gesellschaftswissen- rungen die dominierenden sozialen Tendenzen
schaftler fürwahr ein „revolutionäres Projekt“ der letzten 20 Jahre ein brisantes, Demokratie
und ein Erlebnis, das uns in den folgenden gefährdendes Potenzial erzeugt haben. Dass
Jahren immer wieder dazu antrieb, uns neuen sich dies schon heute auf beunruhigende Weise
Herausforderungen zu stellen. Dies betriff zeigt, verdeutlichen Mihai Varga und Annette
auch die Schwierigkeit, angesichts knapper Freyberg-Inan. Sie untersuchen, wie sich unter
Kassen der Hochschulen und Institute als mul- dem wachsenden Einfluss rechtsextremer Strö-
tidisziplinäres Journal gegenüber der Vielzahl mungen in Osteuropa auch „Parteien der Mitte“
disziplinärer Fachzeitschriften zu bestehen. in einen Teufelskreis des Populismus begeben,
Dies wäre kaum möglich gewesen, hätte sich der bei Aufrechterhaltung der formaldemokra-
die Zeitschrift nicht von ihrem Gründungsim- tischen Fassade die Grundlagen demokratischer
puls emanzipiert, jüngere Redakteure und eine Partizipation breiter Bevölkerungsgruppen
breite internationale Autorenschaft gewonnen systematisch unterminiert.
und sich neuen Themen zugewandt. Schließlich setzen wir unsere vor längerem
Heute, 20 Jahre nach dem annus mirabilis, begonnene Tradition von deutschsprachigen
wird über den Charakter und das Erbe des Erstveröffentlichungen klassischer Texte fort.
Staatssozialismus wieder intensiv diskutiert. Peter Niesen präsentiert Jeremy Benthams
Die aktuelle Weltwirtschaftskrise hat das Schrift „Staatseinnahmen ohne Belastung“
Verständnis des Kapitalismus stärker als je und stellt Bentham als politischen Theoretiker
zuvor seit 1989 problematisiert, und Politik- von hohem Rang vor, der weit mehr Aufmerk-
wissenschaftler fragen sich, ob und wie ange- samkeit verdient als den hierzulande üblichen
sichts zunehmend transnationalen Regierens Verweis auf seine Schrift zum Panopticon.
gehaltvolle Demokratie noch möglich ist – eine
Perspektive, die vor 20 Jahren kaum denkbar Jan Wielgohs
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 4 49
Rainer Land
welche Komponenten das Wunder, eben die se dieses transformierten Kapitalismus, dieser
Gesellschaft im Überfluss, erzeugt haben: die „Gesellschaft im Überfluss“, er sah auch schon
Dynamisierung der Lohnentwicklung, die Ein- einige der Probleme: die einseitige Ausrichtung
schränkung von (Einkommens-)Ungleichheit, der Konsumgesellschaft auf industriell produ-
die sozialen Sicherungen, die daraus folgende zierte Güter, die Vernachlässigung öffentlicher
antizyklische Stabilisierung der aus Lohn- und Güter, die problematische selbstreferenzielle
Transfereinkommen gespeisten Verbraucher- Rückkopplung von Produktion und Bedürfnis-
nachfrage, die aktive staatliche Investitions- sen, von Angebot und Nachfrage, die daraus
politik, die Kontrolle der Lohn-Preisspirale, folgenden falschen Wohlfahrtsmaße, die Ma-
nicht mittels Druck auf die Löhne über hohe nipulation der Konsumenten, die Gefahren der
Arbeitslosigkeit, sondern mittels staatlicher Inflation, die Herrschaft des Großkapitals.
Preisaufsicht. Er sieht die Maßnahmen des Schumpeter hatte die richtige Theorie,
New Deal als pragmatische Versuche einer aber die aus dieser Theorie heraus durchaus
unter dem Druck sozialer Unruhen stehenden fassbare Transformation des Kapitalismus in
Regierung, die die lange Depression der 1930er den 1930er bis 1950er Jahren erkannte er nicht.
Jahre zu überwinden versuchte, um politisch Soweit das erste Paradoxon von Kapitalismus,
zu überleben. Aber diese pragmatischen Sozialismus und Demokratie.
Experimente wurden in der Bündelung und Das zweite Paradoxon betrifft seine Pro-
mit der Durchsetzung über die Jahre mehr, gnose des Zerfalls des Kapitalismus in den
nämlich eine grundsätzliche Revision des Kapiteln 12 bis 14 von Kapitalismus, Sozialismus
„herkömmlichen Konzepts“ (Galbraith 1959: und Demokratie. Verfolgt man seine Begrün-
17ff.) der Wirtschaftswissenschaften und der dung, so ist die Argumentation schlüssig und
Wirtschaftspolitik. Erst als die Grundrichtung eher noch vorsichtig. Trotzdem hat sich die
schon etabliert war, kam Keynes, lieferte nach- Schlussfolgerung als faktisch falsch erwiesen.
träglich die Theorie zu den bereits begonnenen Der Kapitalismus ist nicht untergegangen, und
Maßnahmen. Aber das war wichtig: Keynes’ es ist auch kein Arbeiterkapitalismus2 daraus
Theorie bestärkte die „New Dealer“ und geworden, vom angenommenen „Sieg des
vermittelte ihnen eine neue Wahrnehmung Sozialismus“ ganz zu schweigen. Wie können
dessen, was sie taten. Mit Keynes wurde die eine gute Theorie und eine korrekte theore-
grundsätzliche Bedeutung des New Deal be- tische Ableitung zu einer Schlussfolgerung
wusst. Galbraith: „Die notwendigen Gesetze führen, die empirisch so daneben geht, zu
wurden 1935 verabschiedet. Sie waren damit einer derart unrichtigen Prognose? Das ist die
dem weltweit größten Angriff auf das orthodoxe zweite Paradoxie in Kapitalismus, Sozialismus
ökonomische Denken [gemeint ist das Erschei- und Demokratie.
nen von Keynes’ General Theory, R.L.] (…) um Meine Antwort auf diese Frage aber führt
ein Jahr voraus. Weder die Wirtschaftspolitik zum dritten Paradoxon. Der Fehler bestätigt
noch die Volkswirtschaftslehre würde jemals m.E. nämlich die Richtigkeit des evolutorischen
wieder die gleiche sein wie vorher. Niemand, Konzepts. Schumpeters falsche Schlussfolge-
der diesen Umschwung gesehen und erlebt rung kann man als gutes Argument für die
hat, hat jemals dieses Leuchten vergessen. grundsätzliche Gültigkeit seines wissenschaft-
Wir haben der Schöpfung beigewohnt.“ „Ein lichen Modells nehmen.
Vertreter der Handelskammer (…) fand, dass Schumpeter begründet seine These vom
ähnliche Maßnahmen den Niedergang des Rö- Niedergang des Kapitalismus mit seiner
mischen Reichs verursacht hätten. In Wahrheit evolutorischen Theorie, nachdem er vorher
aber dürfte es schwer fallen, eine Maßnahme alle Argumente, die aus nicht evolutorischen
zu nennen, die mehr dazu beigetragen hat, stationären „Wachstums“-Modellen folgen
die Zukunft des Kapitalismus zu sichern.“ könnten (Monopol, Investitionssättigung,
(Galbraith 1995: 116f.) Konsumsättigung, Fall der Profitrate), als nicht
Galbraith sah bereits in den 1950er Jahren schlüssig bzw. nicht hinreichend verworfen
nicht nur die grundsätzlich neue Funktionswei- hat. Seine Kernthese ist der Verfall der Un-
Schumpeter und der New Deal 51
ternehmerfunktion und damit die Erosion der und Verhaltenswandels (des Verhältnisses von
Evolutionsmaschine, die in seiner Theorie aus Kapital und Arbeit und des Verhältnisses von
drei Teilen besteht: a) den Innovationen und Wirtschaft und Staat) – zu einer Transformation
den Unternehmern, die sie implementieren, der Evolutionsmaschine selbst führen.
b) aus der Kreditemission und -demission in Da Schumpeter sehr wohl in der Lage war,
einem relativ verselbständigten Geldkapitalsy- sozioökonomische Innovationen als solche zu
stem, die die Implementation und Verbreitung erkennen (z.B. in seiner Kritik an Hayek; dort
dieser Innovationen, ebenso aber ihre Selek- wird die Entstehung der Gewerkschaften als
tion vermitteln, und c) aus der Zyklizität bei notwendiges Evolutionsprodukt der Konkur-
der Durchsetzung von Innovationsschüben, renz von Kapital und Arbeit begriffen, das die
die dadurch entsteht, dass Innovationen Regulation der Löhne, also die Funktionsweise
über Kreditgeldemission verbreitet und über eines wichtigen Teils der Evolutionsmaschine,
Kreditdemission selektiert werden, sich also verändert hat), sollte ihm eine solche Denkwei-
Expansion und „schöpferische Zerstörung“, se – also die Evolution der Evolution – nicht
Erzeugung bzw. Vernichtung von Geldkapital grundsätzlich fremd sein. Den New Deal aber
in den Prosperitäts- bzw. Rezessionsphasen konnte er so nicht sehen.
abwechseln. Die dritte Paradoxie lautet also: Eine konse-
Schumpeters These vom Verfall des Kapita- quente Weiterführung der Schumpeter’schen
lismus gründet sich auf die Unterminierung der evolutorischen Sozialökonomik, die Anwen-
Unternehmerfunktion im Zuge der Entstehung dung des Evolutionsprinzips auf den Evolution
von Großunternehmen, Massenproduktion erzeugenden (institutionellen) Apparat selbst,
und organisierter Forschung und Entwicklung würde zu anderen Schlussfolgerungen führen
durch angestellte Forscher und Manager, die als denen, die Schumpeter in Kapitalismus,
nicht mehr mit eigenem Risiko agieren, keine Sozialismus und Demokratie gezogen hat.
Unternehmer sind. Ein „organisierter Kapitalis- Sind Schumpeters Analysen aus den 1940er
mus“ kann nach Schumpeter die evolutorisch Jahren heute von Bedeutung – über den
zu definierenden Bedingungen der Existenz des theoriegeschichtlichen Gehalt und die intel-
Kapitals – den endlosen Prozess von Innova- lektuelle Freude am Nachvollzug und an der
tionen, Investitionen, Geldkapitalschöpfung Auseinandersetzung hinaus? Aus meiner Sicht
und Kapitalvernichtung – nicht aufrecht schon. Erstens ist seine evolutorische Theorie
erhalten. Der Verfall der Evolutionsmaschine längst nicht fruchtbar gemacht für die heutigen
ist der letzte Grund für den prognostizierten Wirtschaftswissenschaften. Zweitens aber
Niedergang des Kapitalismus als Wirtschafts- könnte es sein, dass es uns heute genauso geht
weise und Kulturform der Ungleichheit und des wie Schumpeter von 70 Jahren: Vor unseren
Familienvermögens (vgl. S. 516). Augen beginnt eine neue Zeit, aber wir sehen
Der Grund für Schumpeters Fehler ist sie nicht. Im Jahr 2008 lag der rechnerische
eine Inkonsequenz bei der Benutzung seines Beginn des 5. Kondratjew – nach Schumpe-
eigenen Evolutionsmodells, die mit seiner kon- ters Zeitrechnung. Dies war zuweilen Anlass
servativen Sicht auf die Gesellschaft seiner Zeit für Fragen danach, was dieser lange Zyklus
zusammenhängen mag. Hätte er seinen Ansatz wirtschaftlicher Entwicklung bringen könnte
weiter getrieben, sein Evolutionsprinzip auf die – eine neue industrielle Revolution, aber wel-
Evolutionsmaschine selbst angewendet, wären che? Die Energiewende vielleicht? Eine dazu
andere Schlussfolgerungen möglich gewesen. passende sozioökonomische Transformation,
Dann hätte die Frage nämlich gelautet: Welche aber welche? Den Ökokapitalismus? (vgl. Land
Transformationen der Unternehmerfunktion 2009a; 2009b)
bzw. des Innovationsprozesses könnten durch Die paradoxe Antwort lautet: Das wäre
sozioökonomische Evolution erfolgen? Und in denkbar; aber ob es auch wirklich wird, kann
welchem Maße kann der New Deal – verstan- man nicht wissen. Evolutorische Modelle des
den nicht als Krisenkompensation, sondern als sozioökonomischen Prozesses ermöglichen
Auftakt eines sozioökonomischen Struktur- keine Prognosen – im Unterschied zu den
52 Rainer Land
würden. Im ersten Fall würde die Dynamik Verwandlung der Unternehmer in eine Klasse
des Kapitalismus schwinden, im zweiten Fall von angestellten Bürokraten betrachtet, die ihre
würde eine bürokratisierte Wirtschaft, mögli- Stellung, nicht ihre Innovationskraft, benutzen,
cherweise eine sozialistische, oder eben auch um Managergehälter zu kassieren, die häufig
ein Arbeiterkapitalismus entstehen – es gäbe mit Leistung nichts zu tun haben, und die den
keine Unternehmer mehr, sondern nur noch Kapitalverwertungsprozess manipulieren, um
„Angestellte“, die von einem riesigen bürokra- politische Renten und Managergehälter durch
tischen Apparat verwaltet würden – oder eben Umverteilung statt durch Innovationsgewinne
sich selbst mittels dieses Apparates verwalten. zu erzielen.
„Wenn die kapitalistische Entwicklung – ‚der Trotzdem ist Schumpeters Diagnose und
Fortschritt‘ – entweder aufhört oder vollständig Prognose im Wesentlichen falsch. Denn die
automatisiert wird, wird sich die wirtschaft- tatsächliche Entwicklung der 1950er bis 1970er
liche Grundlage der industriellen Bourgeoisie Jahre lässt sich mit Schumpeters These nicht
letzten Endes auf Gehälter reduzieren, wie sie erklären. Weder kann man anhaltend stagnative
für gewöhnliche Verwaltungsarbeit bezahlt Tendenzen konstatieren – im Gegenteil, es war
werden – Überbleibsel von Quasirenten und die Zeit mit einem sehr hohen Wirtschafts-
monopoloiden Gewinnen ausgenommen, die wachstum über lange Zeit und parallel in sehr
vermutlich noch einige Zeit dahinvegetieren vielen Ländern – noch dominieren extensive
werden. Da die kapitalistische Unternehmung Faktoren; es handelte sich nicht um ein Wirt-
durch ihre eigensten Leistungen den Fortschritt schaftswachstum mit wenig Innovationen oder
zu automatisieren tendiert, so schließen wir unbedeutenden Innovationen. Im Gegenteil,
daraus, dass sie sich selbst überflüssig zu ma- das Wirtschaftswachstum war vor allem durch
chen – unter dem Druck ihrer eigenen Erfolge Innovationen und dadurch induzierte Steige-
zusammenzubrechen tendiert.“ (S. 218) Dabei rung der Arbeitsproduktivität getragen. In der
verliert die Bourgeoisie als Klasse nicht nur Nachkriegszeit von 1945 bis 1975 gab es einen
ihr Einkommen, sondern, „was unendlich viel gewaltigen Schub von Innovationen, angefan-
wichtiger ist“, auch ihre Funktion (ebd.). „Die gen von der fordistischen Massenproduktion
wahren Schrittmacher des Sozialismus waren und all den damit verbundenen Produkten,
nicht die Intellektuellen oder Agitatoren“ – dass Verfahren und Organisationsformen der Be-
es die Arbeiter mit ihrem Interesse an dem triebe und Unternehmen über die modernen
Erhalt der Arbeitsplätze und Einkommen in Infrastruktur-, Verkehrs- und Siedlungssy-
der kapitalistischen Produktionsmaschinerie steme bis hin zu den großen wissenschaftlich-
nicht sein können, hat Schumpeter an anderer technologischen Innovationen wie Kernkraft,
Stelle ausführlich dargelegt –, „sondern die Van- Raumfahrt, Elektronik und elektronische
derbilts, Carnegies und Rockefellers“ (S. 218). Datenverarbeitung.
Dies ist der Kern des Arguments, das dann nur Schumpeters These vom Sieg des Sozi-
noch ausgebaut wird durch sozialstrukturelle alismus in dieser Zeit hat sich bekanntlich
und kulturelle Elemente – etwa das Schwin- ebenso wenig bewahrheitet. Allerdings muss
den der um die Unternehmerklasse herum man dies einschränken. Angesichts einer
angesiedelten sozialen Gruppen und Milieus, Rückversicherung, die Schumpeter gemacht
die Zerstörung des institutionellen Rahmens, hat, ist es durchaus möglich, dass er noch recht
eine antikapitalistische Politik, die Auflösung bekommt – nämlich dann, wenn die derzeitige
der bürgerlichen Familie und die neuen, dem Weltwirtschaftskrise tatsächlich das Ende des
Kapitalismus feindseligen geistig-kulturellen Kapitalismus bedeuteten sollte. Schumpeter
Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. schrieb nämlich in dem in der deutschen Aus-
Man kann dies als eine weitgehend richtige gabe nicht enthaltenen 5. Teil, dass der „enorme
Darstellung der Entwicklungen der ersten industrielle Erfolg“ der USA (die Diffusion
Hälfte des 20. Jahrhunderts nehmen – gerade „dieses Erfolgs“ nach Europa, Japan und später
wenn man die Institutionalisierung und Büro- in weitere asiatische Länder hat Schumpeter
kratisierung des Innovationsprozesses und die kaum noch beobachtet) „unser Urteil über die
54 Rainer Land
Chancen des Systems des Privatunternehmens eine Mio. km Straßen, 77.000 Brücken und
beeinflusst – zumindest mit Blick auf eine kur- 20 Staudämme gebaut.
ze Distanz von ca. 50 Jahren“ (S. 382). Die 50 – Die landwirtschaftliche Produktion wurde
Jahre wären inzwischen um, den Sozialismus reduziert, um den Farmern rentable Preise
gibt es schon nicht mehr, den Kapitalismus zu schaffen, es wurden Mindestpreise für
immer noch, allerdings ist der nach einer lan- Agrarprodukte festgelegt. Der New Deal
gen Phase der Prosperität (1940er bis 1970er beinhaltete zudem die staatliche Über-
Jahre) seit 30 Jahren in einer Dauerdepression, wachung der Börsen, privater Gold- und
derzeit noch zusätzlich in einer dramatisch Silberbesitz wurden verboten (von 1933
ablaufenden Welt-Finanzkrise, von der man bis 1974). Ein Steuersystem mit niedrigen
nicht weiß, wie groß die realwirtschaftlichen Sätzen für Arme und hohen Sätzen für
Wirkungen letztlich sein werden. Reiche wurde eingeführt. (Das ist nur eine
Schumpeters Darstellung der Erosion der Auswahl.)
Unternehmerfunktion und der Umwandlung Allerdings – und dies ist bemerkenswert und
von Unternehmern in Manager ist zweifellos wichtig – wirkte der New Deal erst durch die
treffend und in der Tendenz theoretisch auch Kombination mit dem bis dahin größten kre-
zutreffend. Trotzdem sind seine Schlussfol- ditfinanzierten Investitionsschub aller Zeiten
gerungen – die Prognose einer Erosion ka- – ausgelöst durch den Eintritt der USA in den
pitalistischer Entwicklung in der absehbaren Zweiten Weltkrieg und die vorangegangenen
Zukunft – empirisch falsch. Kriegsvorbereitungen. Denn infolge dieses
Investitionsschubs boomten zunächst die
Rüstungsindustrie und die Investitionsgüterin-
Der New Deal als Auftakt zu einer dustrie und – man sollte es kaum glauben – am
Transformation des Kapitalismus meisten die Konsumgüterindustrie. Denn die
Arbeitskräfte wurden knapp, und unter den vom
Der New Deal war eine politische Reaktion auf New Deal gesetzten institutionellen Vorausset-
die Weltwirtschaftskrise 1929 und noch mehr zungen – zum Beispiel den neuen Konditionen
auf die daran anschließende lange Depression, für die Lohnverhandlungen, den Mindestlöh-
die in den USA erst 1938 zu Ende ging. Er war nen und sozialen Sicherungen – musste ein
ein pragmatischer Ausbruchsversuch, aber er wachsender Arbeitskräftebedarf dazu führen,
hat nach und nach die Blockaden der Depres- dass die Löhne in bis dahin ungeahnte Höhen
sion aufgebrochen. Mit welchen Maßnahmen stiegen. Und natürlich stiegen die Konsumaus-
versuchte die neue amerikanische Politik des gaben entsprechend mit. Genau dies machte
New Deal aus der Krise zu kommen? Schumpeter große Angst (Schumpeter 1943,
– Den Gewerkschaften wurde eine feste Teil V: 387), er fürchtete um die Investitionen
rechtliche Grundlage gegeben, ein formelles – grundlos, wie wir heute wissen.
Streikrecht wurde eingeführt. Kinderarbeit Der Krieg führte in den USA nicht zu einer
wurde verboten. Eine staatliche Rente und Politik des „Gürtel-enger-Schnallens“; im Ge-
eine Arbeitslosenversicherung wurden ein- genteil: Die USA versorgten auch noch Groß-
geführt, für Industriearbeiter Mindestlöhne britannien und andere Verbündete, lieferten
festgesetzt. Die Lohnentwicklung wurde Rüstungs- und Investitionsgüter, Lebensmittel
staatlich kontrolliert, vor allem, um fallende und Konsumgüter an die Sowjetunion und
Löhne zu verhindern. versorgten nach Kriegsende halb Europa wie ne-
– Die Arbeitszeit wurde auf eine 40-Stunden- benher mit. Genau dies war der Startpunkt eines
Woche verkürzt, ein freiwilliger Arbeits- neuen Kapitalismustyps, der die fordistische
dienst wurde organisiert, der für die Auf- Massenproduktion von Konsumgütern mit der
forstung und Bodenverbesserung eingesetzt produktivitätsorientierten Lohnentwicklung
wurde. Zur Wirtschaftsbelebung wurden im und dem sozialen Wohlfahrtsstaat zu einem
Rahmen eines staatlichen Investitionspro- neuen Regulationsregime verband.
gramms u.a. 122.000 öffentliche Gebäude, Dieser neue Weg einer progressiven sozialen
Schumpeter und der New Deal 55
Veränderung der institutionellen Regulation des noch wirksamer ausgestaltet, während in den
Kapitalismus (der Löhne, der Sicherungssy- USA ein Teil der begonnenen sozialen Regu-
steme und der öffentlichen Investitionen sowie lationen des New Deal in den 1950er Jahren
die Verknappung des Arbeitsangebots) musste nicht weiter ausgebaut, einige sogar wieder
im harten Kampf gegen die alten Interessen eingeschränkt wurden. Das Wirtschaftswunder
erzwungen werden. Roosevelt sagte am 31. war immer zugleich ein Konsumwunder, das
Oktober 1936 in einer Rede im Madison Square auch nach dem Krieg und bei erheblich gerin-
Garden: „Wir kämpfen seit vier Jahren erbittert geren Rüstungsausgaben weiter funktionierte.
gegen die Feinde dieses Friedens. Wir kämpfen Die Entwicklung von Varianten dieses Typs in
gegen die Hochfinanz und die Wirtschafts- Skandinavien und Japan zeigt, dass Teilhabeka-
bosse, die gewissenlosen Spekulanten, gegen pitalismus nicht notwendig auf eine Kriegs- und
die Klassenspaltung, den Partikularismus und Rüstungswirtschaft angewiesen war (vgl. zu
gegen die Kriegsprofiteure. Sie alle hatten sich Schweden Galbraith 1995: 135f.).
daran gewöhnt, die amerikanische Regierung Neuverfassung des Sozialen und Einstieg
als Anhängsel ihrer Geschäfte zu betrachten. in einen neuen Industrialisierungs- und Inve-
Wir wissen nun, vom organisierten Geld regiert stitionszyklus bedingten sich gegenseitig, die
zu werden, ist genauso gefährlich wie von der Formel lautete: Massenproduktion und Mas-
Mafia regiert zu werden. Jetzt hassen sie mich senkonsum, Kapitalverwertung und Teilhabe
und ich begrüße ihren Hass. In meiner ersten der Lohnarbeit am wachsenden Reichtum. Man
Amtszeit haben die Kräfte des Egoismus und kann diese auf den Konsum und die Risikoab-
der Gier in mir einen gleichwertigen Gegner sicherung beschränkte Form der „Teilhabe“
gefunden. In meiner zweiten Amtszeit werden spießig und borniert finden, und sie muss selbst-
sie in mir ihren Bezwinger finden“ (Roosevelt verständlich aus heutiger Sicht kritisiert werden.
1936). Sie schloss gerade keine Mitbestimmung über
Der wirtschaftliche Erfolg des New Deal, die Entwicklungsrichtungen der Technik und
der sich erst einige Jahre später – etwa ab 1938 Technologie, über die Arbeitsbedingungen,
– einstellte, basierte auf der Kombination eines über die inhaltliche Gestaltung der Konsum-
neuen technisch-ökonomischen mit einem neu- welten und keine umfassende Beteiligung an
en sozialökonomischen Modell. Das technisch- Bildung und Kultur ein, sie führte zur Manipu-
ökonomische Modell umfasste die fordistische lation der Konsumenten, war nicht mit einem
Massenproduktion, die economy of scale und das inhaltlich reichen und neuen Verständnis von
dazugehörige Muster industrieller Forschung, Demokratie und Individualität verbunden und
Entwicklung, Produktion und Nutzung der beendete nicht die Benachteiligung der Frauen
Natur; das sozialökonomische die Teilhabe der sowie andere Formen der sozialen, rassischen,
Arbeiter an der wirtschaftlichen Entwicklung religiösen oder sexuellen Diskriminierung. Und
in Form steigender Einkommen, wachsenden sie war auf die entwickelten kapitalistischen
Konsums und besserer sozialer Absicherung: Länder beschränkt, die damals nur wenig zur
die produktivitätsorientierte Lohnpolitik und der Überwindung der Unterentwicklung in der
Wohlfahrtsstaat. Das ökonomische Regulativ Dritten Welt beitrugen. Trotzdem war dies
war die Kopplung der Lohnentwicklung an die eine gewaltige kulturelle Revolution, denn sie
Produktivität und später auch der wichtigen beendete in den Ländern, in denen sie sich
Transfereinkommen und der Sozialleistungen durchsetzte, die Disziplin des Hungers. Not und
an die Lohnentwicklung. Elend waren nicht länger der Normalzustand
Dieser Typus wurde nach 1945 auf Deutsch- für die Mehrheit der Lohnabhängigen.
land und Japan übertragen, und er setzte sich in
verschiedenen Varianten in allen entwickelten
kapitalistischen Industriestaaten durch. Ge-
rade die sozialstaatliche Komponente wurde
in Europa, insbesondere in Skandinavien und
in Deutschland, nach dem Zweiten Weltkrieg
56 Rainer Land
nämlich kann eine Strategie der Krisenbe- Durchsetzung des Neuen zulasten des Alten
kämpfung genau die Probleme (auf mittlere bekommen können. Wenn man unterstellt, dass
Frist) lösen, die Schumpeter als Ursachen für der Weg aus der Krise, zumindest aus einer
den Niedergang des Kapitalismus angesehen langwelligen Rezession bzw. Depression, nur
hat. Die Transformation der Evolutionsma- evolutionär möglich ist, neue Innovationspo-
schine, des Innovationsprozesses selbst, wird tenziale, neue Selektionsrichtungen erfordert,
dann nämlich neben den Produkten, Techno- also die Konstruktion eines neuen Entwick-
logien und Organisationsformen als weiterer lungspfades und die Institutionalisierung seiner
Gegenstand von Evolution behandelt. Genau Bedingungen und Selektionskriterien, dann
dies geht aber über ein bloß technisch-techno- haben beide, Schumpeter wie Keynes, recht
logisches Verständnis von Innovationen und und unrecht zugleich. Es genügt nicht, bloß
Unternehmerfunktionen hinaus und klärt, wie den Motor zum Anspringen zu bringen und
Gesellschaften und gesellschaftliche Akteure auf derselben Straße weiter zu fahren, weil der
durch Innovationen die wirtschaftliche und Motor auf der alten Straße eben nicht mehr
soziale Evolution selbst, also das institutionelle anspringen wird, solange die Bedingungen
Gefüge, die Verfahren, die Unternehmerfunkti- für ein qualitativ anderes, neues Reservoir von
onen, die Mechanismen der Lohnbestimmung Innovationen nicht erzeugt wurden.
und der Preisfixierung, letztlich die Regulation Aber es reicht auch nicht, auf die Bereini-
als Selektion und Rekombination von tech- gung durch schöpferische Zerstörung über-
nischen und sozioökonomischen Innovationen flüssig gewordener Industrien, überflüssig
verändern. gewordener Arbeitskräfte und nicht rück-
Eine keynesianische Politik kann also zahlbarer Kredite bzw. der entsprechenden
(wie Schumpeter fürchtete) tatsächlich die Geldvermögen zu setzen und zu denken, der
Depression verschärfen, nämlich dann, wenn anschließende Aufschwung komme dann auto-
sie den erforderlich gewordenen Pfadwechsel matisch. Wenn man wie Schumpeter meint, der
verstellt, veraltete bzw. überflüssig gewor- folgende Zyklus sei nicht ein Weiterfahren auf
dene Betriebe rettet, überflüssig gewordene der selben Straße, sondern ein Zyklus, der von
Arbeitsplätze erhält, die Vernichtung von anderen Basisinnovationen getragen wird, der
Geldkapital (Schulden wie Vermögen) verzögert andere Bedingungen, auch sozioökonomische,
und so den Druck auf eine Transformation voraussetzt, dann muss auch klar werden, dass
des jeweils gegebenen historisch besonderen der Beginn eines neuen Zyklus nur durch die
Systems der Kapitalverwertungsregulation Konstruktion neuer Evolutionsbedingungen
nimmt. Sie kann aber auch diesen Transfor- möglich wird, also im Ergebnis eines kompli-
mationsprozess in Gang bringen, wenn sie zierten Suchprozesses.
die Nachfrageausfälle kompensiert, indem sie Anders gesagt: Der Weg aus der Krise ist
neue Entwicklungsrichtungen erschließt und nicht die Folge einer Bereinigung, sondern
die Transformation der Kapitalverwertung, die einer in der Krise vorangetriebenen Suche
Evolution der Evolutionsmaschine in Gang hält. nach neuen Potenzialen und den institutio-
Man könnte sich vorstellen, dass alte Betriebe nellen Bedingungen ihrer Erschließung. Die
nicht gerettet, aber neue auf- und ausgebaut Evolution der Evolutionsmaschine kommt
werden, überflüssig gewordene Arbeitsplätze nicht von allein in Gang, sondern im Ergebnis
nicht erhalten werden, aber neue Arbeitsplätze sozialer und politischer Auseinandersetzungen
entstehen, und Geldvermögen eben nicht per und Experimente um die alten und die neuen
se, sondern selektiv gerettet werden. Bedingungen. Das war Schumpeter durchaus
Allerdings: Ganz so einfach ist das nicht, nicht unbekannt, wenn man seine Rezension
denn zunächst einmal weiß niemand sicher, von Hayeks „Weg zur Knechtschaft“ (1987:
welches die schlechten alten und welches die 87) ansieht. Anders als Hayek sah Schumpeter
guten neuen Entwicklungen sind – vor allem die Gewerkschaften nicht als Störung eines
aber wird man politisch viel Zustimmung zur idealen Wettbewerbs-Kapitalismus, sondern
Rettung des Bestehenden, aber nur wenig zur als Resultat sozialökonomischer Auseinander-
60 Rainer Land
setzungen, als ein eigenes Evolutionsprodukt, Teil der den Depressionen obliegenden Aufgaben
die Erfindung einer Antwort auf das Problem ungelöst und vermehrt einen unverdauten Rest von
Störungen um eigene neue Störungen.“ Und Galbraith
der Krisen in der Regulation von Löhnen und kommentiert: „Wären Krisen stets milde verlaufen,
Arbeitsbedingungen. könnte der Begriff eines normalen Rhythmus, den
Wenn also der Weg aus der Krise durch man klugerweise nicht stören soll, eigentlich recht
erfreulich sein. Aber mit der Zeit wurden die Krisen
die Konstruktion eines neuen evolutorischen immer heftiger … Der orthodoxe Begriff des Kon-
Settings zustande kommt, dann kann man eine junkturzyklus bedeutete eine nie zur Ruhe kommende
keynesianische Politik der Krisenbekämpfung Angst, dass Armut der Normalzustand sein könnte,
als Teil dieser Auseinandersetzung, als Teil des ein ständiges Wachsen der Überzeugung, dass die
Klassenunterschiede unvermeidbar seien … Aber er
gesellschaftlichen Suchprozesses sehen, und es bedeutete eine noch viel weiter greifende Sorge, jener
käme bei einer Bewertung eben darauf an, ob sie vergleichbar, die einen Hausvater befällt, dem man
dazu beiträgt, Blockaden – durchaus im Sinne erklärt, er müsse im regulären Verlauf der Dinge damit
rechnen, dass sein Haus zu brennen anfängt und sein
der von Schumpeter aufgezeigten Reprodukti- Besitz ganz oder teilweise vernichtet wird. Das Feuer
onsprobleme des Kapitalverhältnisses und der dürfe er aber weder verhüten noch bekämpfen, weil es
Unternehmerfunktion – zu überwinden oder eine ganz bestimmte Aufgabe habe. Und die Gründung
nicht. Aus dieser Perspektive, wirtschaftliche einer Feuerwehr käme dem Versuch gleich, das Feuer
mit Benzin löschen zu wollen“ (Galbraith 1959: 59).
Entwicklung als Evolution der Evolution, las- 2 Schumpeters Bemerkungen zum „Arbeiterkapitalis-
sen sich die Positionen von Keynes und die mus“ (1947 [2005]. Anhang VI: 515) betreffen „das
von Schumpeter als vereinbar begreifen. Eine Ausmaß, bis zu dem die [ökonomische] Maschine dem
Interesse der Arbeiterschaft dienstbar gemacht werden
keynesianische Politik kann mehr, als bloß Kri- kann, ohne dass dies zum Stillstand der ökonomischen
senfolgen zu lindern, aber dann muss sie auf die Maschine führt“. Es wird behauptet, so Schumpeter
Erschließung neuer Entwicklungspfade zielen. weiter, ein solcher Kapitalismus werde sich auf unbe-
Genau dies ist jedoch der Grund, warum der grenzte Zeit behaupten können. „Das mag zutreffen,
doch bedeutet es nicht die Widerlegung meiner These.
New Deal letztendlich funktioniert hat – aber (…) Die Diagnosen, die auf der Wahrscheinlichkeit
auch erst nach einer gewissen Zeit und in Folge des Fortbestehens dieses Arbeiterkapitalismus hin
experimenteller Suchprozesse. Umgekehrt kann auslaufen, stützen sich stark auf die Extrapolation
eine Schumpeter’sche Strategie nicht bloß auf der gegenwärtigen erstaunlichen Entwicklung der
gesellschaftlichen Produktivkräfte. Ein solcher Schluss
Bereinigung durch schöpferische Zerstörung erscheint jedoch voreilig. Die Errungenschaften der
setzen, sie muss Suchprozesse nach neuen Vergangenheit waren die Errungenschaften eines
Entwicklungspfaden aktiv in Gang bringen. mehr oder weniger ungezügelten Kapitalismus. Es darf
nun nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass
der Arbeiterkapitalismus auch fernerhin die gleiche
Leistung erbringen wird“ (Vortrag, gehalten 1949, in:
Anmerkungen ebd.: 515f.).
Wir könnten ihn beruhigen. Wenn Schumpeter unter
* Der Autor dankt Ulrich Hedtke für Diskussionen, Arbeiterkapitalismus den US-Kapitalismus nach dem
Hinweise und Kritiken. New Deal verstehen wollte und wenn Leistung das
1 Schumpeter hat 1934 in Depression – Can We Learn Tempo des technischen Fortschritts, der Veränderung
from the Past Experience? zusammen mit sieben wei- der Produkte und Verfahren und die Wachstumsraten
teren Autoren in The Economics of Recovery Program meint, dann ist die Leistung nicht zurückgegangen,
seinen wesentlichsten Beitrag zur Diskussion des New sondern noch einmal deutlich gestiegen, vielleicht
Deal geleistet. Der Kern der Schumpeter’schen Kritik: nicht wegen der „Teilhabe“ – aber sie hat die Pro-
Die Politik kann nur die humane Lage der Betroffenen duktivitätsentwicklung, das Wachstum und auch
mildern, aber selbst nichts zur Erholung beitragen. Die das Wachstum der Kapitalerträge nicht untergraben.
Erholung wird nur echt sein, wenn sie nicht künstlichen Denn eine Lehre gegen die neoklassische Profittheorie
Impulsen entsprungen ist. Geld- und kreditpolitische kann man aus der Entwicklung der vergangenen 60
Maßnahmen helfen nicht, sie verschlimmern in der Jahre auch ziehen: Eine hohe Zuwachsrate der Pro-
Regel nur, denn es geht immer um eine Reorganisation duktivität bei stagnierendem Anteil der Profite am
der Realwirtschaft, und die kann geldpolitisch gerade Volkseinkommen ist auch für die Unternehmen und
verzögert werden (Hinweis von Ulrich Hedtke). ihre Gewinne allemal besser als ein steigender Anteil
John Kenneth Galbraith zitiert Schumpeter so: „In der Gewinne bei einem stagnierenden Gesamtertrag.
sämtlichen Fällen kam die Erholung von selbst … Insofern hat der fordistische Teilhabekapitalismus
Unsere Analyse veranlasst uns zu der Annahme, dass zwar die Mehrwertrate nicht mehr erhöht, aber die
die Erholung nur eine gesunde ist, wenn sie von selbst Masse der Profite und vermutlich auch die Profitraten
kommt. Denn eine Wiederbelebung, die lediglich stiegen wie nie zuvor – wenn auch nicht auf Kosten,
künstlichen Stimulantien zu verdanken ist, lässt einen sondern im Gleichklang mit den Löhnen.
Schumpeter und der New Deal 61
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