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Berliner Debatte

Initial

20. Jg. 2009


4
Kapitalismus, Sozialismus und
Demokratie neu gelesen
Llanque
Schumpeter und
der Sozialismus
Schaal
Grenzen der
Demokratiekonzeption
Land
Schumpeter und
der New Deal
Niesen,
Bentham Heimfall statt
Besteuerung
Varga
Demokratie okay, Freyberg-Inan
elektronische Sonderausgabe
ISBN 978-3-936382-65-5 aber für alle?
© www.berlinerdebatte.de
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 4
Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal
© GSFP – Gesellschaft für sozialwissenschaft­liche Preise: Ab 2009 Einzelheft 15 €,
For­schung und Publizistik mbH. Herausgegeben bis 2008: Einzelheft 10 €, Doppelheft 20 €
im Auftrag des Vereins Berliner Debatte INITIAL Einzelhefte werden per Post mit Rechnung ver-
e.V., Präsident Peter Ruben. Berliner Debatte Initial schickt.
erscheint viermal im Jahr.
Jahresabonnement: 2009: 39 €, Ausland zuzüglich
Redaktion: Harald Bluhm, Ulrich Busch, Erhard Porto. Studenten, Rentner und Arbeitslose 22 €,
Crome, Birgit Glock, Wolf-Dietrich Junghanns, Nachweis beilegen. Ermäßigte Abos bitte nur direkt
Cathleen Kantner, Thomas Müller, Ingrid Oswald, bei Berliner Debatte Initial per Post oder per Fax
Dag Tanneberg, Udo Tietz, Andreas Willisch, Ru- bestellen.
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Autorenverzeichnis

Jeremy Bentham, * 1748, † 1832, Marcus Llanque, Prof. Dr.,


englischer Philosoph Politikwissenschaftler, Universität Augsburg
Harald Bluhm, Prof. Dr., Christoph M. Michael, M.A.
Politikwissenschaftler, Martin-Luther- Politikwissenschaftler, Martin-Luther-
Universität Halle-Wittenberg Universität Halle-Wittenberg
Ulrich Busch, Dr. oec. habil., Peter Niesen, Prof. Dr.,
Netzwerk Ostdeutschlandforschung, Politikwissenschaftler, Institut für Politikwis-
TU Berlin senschaft, Technische Universität Darmstadt
Annette Freyberg-Inan, Prof. Dr., Nils Otter, Prof. Dr.,
Politikwissenschaftlerin, Wirtschaftswissenschaftler, Fachhochschule
Universität Amsterdam Kärnten
Heike Guthoff, M.A., Dieter Segert, Prof. Dr.,
Philosophin, Promovendin an der FU Berlin Politikwissenschaftler, Universität Wien
Raj Kollmorgen, Prof. Dr., Gary S. Schaal, Prof. Dr.,
Soziologe, Otto-von-Guericke-Universität Politikwissenschaftler, Helmut-Schmidt-
Magdeburg Universität Hamburg
Rainer Land, Dr. sc. oec., Mihai Varga, M.A.,
Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Universität Amsterdam
Thünen-Institut Bollewick
Jürgen Leibiger, Dr.,
Wirtschaftswissenschaftler, Dozent für Volks-
wirtschaftslehre, Dresden
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Kapitalismus, Sozialismus
und Demokratie neu gelesen
– Zusammengestellt von Harald Bluhm –

Editorial 2 Neunzehnhundert-
neunundachtzig
Kapitalismus, Sozialismus Raj Kollmorgen
und Demokratie neu gelesen Umbruch ohne Revolution?
Beitritt statt Transformation? 90
Harald Bluhm
Ein Plädoyer für neue Lesarten 3 Mihai Varga, Annette Freyberg-Inan
Demokratie okay, aber für alle?
Gary S. Schaal Demokratieunzufriedenheit
Irrationale Rationalität und und selektive Demokratie
rationale Irrationalität. in Mittel- und Osteuropa 104
Die Grenzen der Demokratie-
konzeption von Joseph Schumpeter 17 Dieter Segert
Sozialer Wandel in Osteuropa nach
Marcus Llanque 1989 und staatssozialistisches Erbe 120
Schumpeters Politische Ökonomie
und der Sozialismus 24
Besprechungen und Rezensionen
Christoph M. Michael
Joseph A. Schumpeter und die kreative Stefania Maffeis:
(Selbst-)Zerstörung des Kapitalismus 31 Zwischen Wissenschaft
und Politik. Transformationen
Nils Otter der DDR-Philosophie 1945-1993
Schumpeters Diagnose zu Wandel Rezensiert von Heike Guthoff 136
und Krisen im Kapitalismus 41
Klaus Müller:
Rainer Land Mikroökonomie. Eine praxisnahe,
Schumpeter und der New Deal 49 kritische und theoriegeschichtlich
fundierte Einführung mit
Aufgaben, Klausuren und Lösungen
*** Rezensiert von Jürgen Leibiger 138
Peter Niesen
Vom Nutzen der Toten für die Lebenden. Hauke Janssen:
Zu Jeremy Benthams Text 62 Nationalökonomie und
Nationalsozialismus.
Jeremy Bentham Die deutsche Volkswirtschaftslehre
Staatseinnahmen ohne Belastung oder: in den dreißiger Jahren
Heimfall statt Besteuerung 70 Rezensiert von Ulrich Busch 141
2 Berliner Debatte Initial 20 (2009) 4

Editorial

Mit diesem Heft beschließen wir den 20. Jahr- war. Es gibt wohl wenige Klassikerschriften,
gang unserer Zeitschrift, der nicht zufällig in deren Aktualität vor diesem Hintergrund so ins
das Jubiläumsjahr des „Europäischen Herbstes“ Auge fallen würde, wie Schumpeters Kapita-
gefallen ist. In gewisser Hinsicht ist auch Berliner lismus, Sozialismus und Demokratie aus dem
Debatte Initial ein „Kind der Revolution“ von Jahr 1942. Harald Bluhm hat für dieses Heft
1989. Besorgt ob der Ungewissheit über den Autoren gewonnen, die dafür plädieren, dieses
Ausgang der Umbruchprozesse, aber vor allem Werk mit Bezug auf die genannten aktuellen
motiviert durch das Erlebnis der Befreiung von Problemlagen neu zu lesen. Sein Artikel zum
Dogmatismus und parteistaatlicher Gängelung, Themenschwerpunkt ordnet die Schrift ein,
übernahm im Frühjahr 1990 eine Gruppe von wirft Interpretationsprobleme auf und stellt
Sozialwissenschaftlern um den Ostberliner Phi- die Beiträge vor.
losophen Peter Ruben die Nachfolgezeitschrift Ein zweiter Block von Artikeln resümiert
der Sowjetwissenschaft vom Verlag Volk und Resultate der Umbruchprozesse in Osteuropa.
Welt, um sie zu einem „Organ der sozialen Raj Kollmorgen diskutiert den besonderen
Aufklärung“, einer „Tribüne für die geistigen Charakter der Revolution in der DDR und die
Auseinandersetzungen“ um die Probleme der spezifische Logik der ostdeutschen Transforma-
„kommenden gesellschaftlichen Entwicklung“ tion. Dieter Segert argumentiert, dass vor dem
(Initial 4/1990, 442) zu machen. Eine unabhän- Hintergrund der in der spätsozialistischen Ära
gige, eigenständig gestaltete Zeitschrift – das geprägten Erwartungshaltungen der Bevölke-
war für uns ostdeutsche Gesellschaftswissen- rungen die dominierenden sozialen Tendenzen
schaftler fürwahr ein „revolutionäres Projekt“ der letzten 20 Jahre ein brisantes, Demokratie
und ein Erlebnis, das uns in den folgenden gefährdendes Potenzial erzeugt haben. Dass
Jahren immer wieder dazu antrieb, uns neuen sich dies schon heute auf beunruhigende Weise
Herausforderungen zu stellen. Dies betriff zeigt, verdeutlichen Mihai Varga und Annette
auch die Schwierigkeit, angesichts knapper Freyberg-Inan. Sie untersuchen, wie sich unter
Kassen der Hochschulen und Institute als mul- dem wachsenden Einfluss rechtsextremer Strö-
tidisziplinäres Journal gegenüber der Vielzahl mungen in Osteuropa auch „Parteien der Mitte“
disziplinärer Fachzeitschriften zu bestehen. in einen Teufelskreis des Populismus begeben,
Dies wäre kaum möglich gewesen, hätte sich der bei Aufrechterhaltung der formaldemokra-
die Zeitschrift nicht von ihrem Gründungsim- tischen Fassade die Grundlagen demokratischer
puls emanzipiert, jüngere Redakteure und eine Partizipation breiter Bevölkerungsgruppen
breite internationale Autorenschaft gewonnen systematisch unterminiert.
und sich neuen Themen zugewandt. Schließlich setzen wir unsere vor längerem
Heute, 20 Jahre nach dem annus mirabilis, begonnene Tradition von deutschsprachigen
wird über den Charakter und das Erbe des Erstveröffentlichungen klassischer Texte fort.
Staatssozialismus wieder intensiv diskutiert. Peter Niesen präsentiert Jeremy Benthams
Die aktuelle Weltwirtschaftskrise hat das Schrift „Staatseinnahmen ohne Belastung“
Verständnis des Kapitalismus stärker als je und stellt Bentham als politischen Theoretiker
zuvor seit 1989 problematisiert, und Politik- von hohem Rang vor, der weit mehr Aufmerk-
wissenschaftler fragen sich, ob und wie ange- samkeit verdient als den hierzulande üblichen
sichts zunehmend transnationalen Regierens Verweis auf seine Schrift zum Panopticon.
gehaltvolle Demokratie noch möglich ist – eine
Perspektive, die vor 20 Jahren kaum denkbar Jan Wielgohs
Berliner Debatte Initial 20 (2009) 4 49

Rainer Land

Schumpeter und der New Deal*

Drei Paradoxien wahrgenommen, auch wenn er sein schon


19341 grundsätzlich ablehnendes Urteil in
Schumpeter begründete in den 1940er Jahren Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie in
Zweifel an der Zukunft des Kapitalismus. etwas mildere Worte kleidete und pragmatische
Gleichzeitig aber entstand vor seinen Augen, Gründe für diese Politik zugesteht (Schumpeter
in den USA der späten 1930er und der 1940er 1947 [2005]: 109, 515. Alle folgenden Verweise
Jahre, diese Zukunft (eine Zukunft auf Zeit, ohne explizite Angabe einer Quelle beziehen
nicht auf ewig!) – und zwar mit dem New Deal. sich auf diese Literaturangabe).
Schumpeter hatte eigentlich alle theoretischen Er ist zu früh gestorben, und er war in
Instrumente, sie zu erkennen. Aber er erkannte seinen letzten Lebensjahren verbittert. Es mag
sie nicht. Er lehnte den New Deal ab. Er sah sein, dass dies Gründe dafür sind, dass er die
den Beginn des größten Investitionsbooms, des Gelegenheit zur Bestätigung seiner Theorie und
größten Produktivitäts- und Wachstumsschubs, zur Revision seiner Prognosen zwischen 1945
den es jemals gegeben hatte, er sah eine Reihe und 1950 nicht erkannt hatte. Richtiger aber ist
von neuen einzelnen Tendenzen – etwa die wohl, dass die Bedeutung des New Deal als der
Massenproduktion, die bis dahin nie da gewe- institutionellen Basis einer Transformation des
sene Rate der Lohnsteigerung und die vorher nie Kapitalismus erst aus einer sehr viel späteren
denkbar gewesene Einkommensumverteilung Perspektive erkannt werden konnte.
durch die Steuerpolitik des Staates, – aber er Aus heutiger Sicht kann man den New Deal
sah diese nicht als Elemente eines neuen sozio- als den Beginn der Transformation des Kapita-
ökonomischen Settings, das den Kapitalismus lismus der großindustriellen Expansion (etwa
für wenigstens einen langen Zyklus (von 50 bis 1890er bis 1930er Jahre) in einen Teilhabekapi-
60 Jahren) retten könnte, er sah nicht den Ge- talismus (1940er bis 1970er Jahre) betrachten.
burtsakt eines neuen Kapitalismustyps, sondern John Kenneth Galbraith (1908–2006), damals
ein bedrohliches Szenarium des Niedergangs. ein junger Mann, eine andere Generation, der
Er hasste Roosevelt; aber subjektive Ablehnung Schumpeter gut kannte – es sieht so aus, als
hat Schumpeter im Prinzip (siehe seine Haltung seien Galbraith und Schumpeter in Harvard
zum Sozialismus) nicht daran gehindert, objek- sogar etwas befreundet gewesen (vgl. Galbraith
tiv zu urteilen. Das im New Deal entstehende 1995: 56), aber Galbraith wurde in den 1930er
neue sozioökonomische Setting, das man im Jahren zum überzeugten „New Deal­er“ und
Sinne der Theorie von Schumpeter als Durch- Keynesianer und leitete eine der mit der
setzung einer technischen, organisatorischen Administration des New Deal beauftragten
und sozialökonomischen Basisinnovation Bundesbehörden, zudem gerade diejenige, die
interpretieren könnte, als den Auftakt zur 4. mit den staatlichen Preiskontrollen beauftragt
Kondratjew-Welle in Schumpeters Zählung, war, sicher ein rotes Tuch für Schumpeter –
hat er nicht erkannt. Schumpeter hat den New Galbraith beschrieb in dem 1958 erschienenen
Deal mehr oder weniger als Fehlentwicklung Buch Gesellschaft im Überfluss sehr genau,
50 Rainer Land

welche Komponenten das Wunder, eben die se dieses transformierten Kapitalismus, dieser
Gesellschaft im Überfluss, erzeugt haben: die „Gesellschaft im Überfluss“, er sah auch schon
Dynamisierung der Lohnentwicklung, die Ein- einige der Probleme: die einseitige Ausrichtung
schränkung von (Einkommens-)Ungleichheit, der Konsumgesellschaft auf industriell produ-
die sozialen Sicherungen, die daraus folgende zierte Güter, die Vernachlässigung öffentlicher
antizyklische Stabilisierung der aus Lohn- und Güter, die problematische selbstreferenzielle
Transfereinkommen gespeisten Verbraucher- Rückkopplung von Produktion und Bedürfnis-
nachfrage, die aktive staatliche Investitions- sen, von Angebot und Nachfrage, die daraus
politik, die Kontrolle der Lohn-Preisspirale, folgenden falschen Wohlfahrtsmaße, die Ma-
nicht mittels Druck auf die Löhne über hohe nipulation der Konsumenten, die Gefahren der
Arbeitslosigkeit, sondern mittels staatlicher Inflation, die Herrschaft des Großkapitals.
Preisaufsicht. Er sieht die Maßnahmen des Schumpeter hatte die richtige Theorie,
New Deal als pragmatische Versuche einer aber die aus dieser Theorie heraus durchaus
unter dem Druck sozialer Unruhen stehenden fassbare Transformation des Kapitalismus in
Regierung, die die lange Depression der 1930er den 1930er bis 1950er Jahren erkannte er nicht.
Jahre zu überwinden versuchte, um politisch Soweit das erste Paradoxon von Kapitalismus,
zu überleben. Aber diese pragmatischen Sozialismus und Demokratie.
Experimente wurden in der Bündelung und Das zweite Paradoxon betrifft seine Pro-
mit der Durchsetzung über die Jahre mehr, gnose des Zerfalls des Kapitalismus in den
nämlich eine grundsätzliche Revision des Kapiteln 12 bis 14 von Kapitalismus, Sozialismus
„herkömmlichen Konzepts“ (Galbraith 1959: und Demokratie. Verfolgt man seine Begrün-
17ff.) der Wirtschaftswissenschaften und der dung, so ist die Argumentation schlüssig und
Wirtschaftspolitik. Erst als die Grundrichtung eher noch vorsichtig. Trotzdem hat sich die
schon etabliert war, kam Keynes, lieferte nach- Schlussfolgerung als faktisch falsch erwiesen.
träglich die Theorie zu den bereits begonnenen Der Kapitalismus ist nicht untergegangen, und
Maßnahmen. Aber das war wichtig: Keynes’ es ist auch kein Arbeiterkapitalismus2 daraus
Theorie bestärkte die „New Dealer“ und geworden, vom angenommenen „Sieg des
vermittelte ihnen eine neue Wahrnehmung Sozialismus“ ganz zu schweigen. Wie können
dessen, was sie taten. Mit Keynes wurde die eine gute Theorie und eine korrekte theore-
grundsätzliche Bedeutung des New Deal be- tische Ableitung zu einer Schlussfolgerung
wusst. Galbraith: „Die notwendigen Gesetze führen, die empirisch so daneben geht, zu
wurden 1935 verabschiedet. Sie waren damit einer derart unrichtigen Prognose? Das ist die
dem weltweit größten Angriff auf das orthodoxe zweite Paradoxie in Kapitalismus, Sozialismus
ökonomische Denken [gemeint ist das Erschei- und Demokratie.
nen von Keynes’ General Theory, R.L.] (…) um Meine Antwort auf diese Frage aber führt
ein Jahr voraus. Weder die Wirtschaftspolitik zum dritten Paradoxon. Der Fehler bestätigt
noch die Volkswirtschaftslehre würde jemals m.E. nämlich die Richtigkeit des evolutorischen
wieder die gleiche sein wie vorher. Niemand, Konzepts. Schumpeters falsche Schlussfolge-
der diesen Umschwung gesehen und erlebt rung kann man als gutes Argument für die
hat, hat jemals dieses Leuchten vergessen. grundsätzliche Gültigkeit seines wissenschaft-
Wir haben der Schöpfung beigewohnt.“ „Ein lichen Modells nehmen.
Vertreter der Handelskammer (…) fand, dass Schumpeter begründet seine These vom
ähnliche Maßnahmen den Niedergang des Rö- Niedergang des Kapitalismus mit seiner
mischen Reichs verursacht hätten. In Wahrheit evolutorischen Theorie, nachdem er vorher
aber dürfte es schwer fallen, eine Maßnahme alle Argumente, die aus nicht evolutorischen
zu nennen, die mehr dazu beigetragen hat, stationären „Wachstums“-Modellen folgen
die Zukunft des Kapitalismus zu sichern.“ könnten (Monopol, Investitionssättigung,
(Galbraith 1995: 116f.) Konsumsättigung, Fall der Profitrate), als nicht
Galbraith sah bereits in den 1950er Jahren schlüssig bzw. nicht hinreichend verworfen
nicht nur die grundsätzlich neue Funktionswei- hat. Seine Kernthese ist der Verfall der Un-
Schumpeter und der New Deal 51

ternehmerfunktion und damit die Erosion der und Verhaltenswandels (des Verhältnisses von
Evolutionsmaschine, die in seiner Theorie aus Kapital und Arbeit und des Verhältnisses von
drei Teilen besteht: a) den Innovationen und Wirtschaft und Staat) – zu einer Transformation
den Unternehmern, die sie implementieren, der Evolutionsmaschine selbst führen.
b) aus der Kreditemission und -demission in Da Schumpeter sehr wohl in der Lage war,
einem relativ verselbständigten Geldkapitalsy- sozioökonomische Innovationen als solche zu
stem, die die Implementation und Verbreitung erkennen (z.B. in seiner Kritik an Hayek; dort
dieser Innovationen, ebenso aber ihre Selek- wird die Entstehung der Gewerkschaften als
tion vermitteln, und c) aus der Zyklizität bei notwendiges Evolutionsprodukt der Konkur-
der Durchsetzung von Innovationsschüben, renz von Kapital und Arbeit begriffen, das die
die dadurch entsteht, dass Innovationen Regulation der Löhne, also die Funktionsweise
über Kreditgeldemission verbreitet und über eines wichtigen Teils der Evolutionsmaschine,
Kreditdemission selektiert werden, sich also verändert hat), sollte ihm eine solche Denkwei-
Expansion und „schöpferische Zerstörung“, se – also die Evolution der Evolution – nicht
Erzeugung bzw. Vernichtung von Geldkapital grundsätzlich fremd sein. Den New Deal aber
in den Prosperitäts- bzw. Rezessionsphasen konnte er so nicht sehen.
abwechseln. Die dritte Paradoxie lautet also: Eine konse-
Schumpeters These vom Verfall des Kapita- quente Weiterführung der Schumpeter’schen
lismus gründet sich auf die Unterminierung der evolutorischen Sozialökonomik, die Anwen-
Unternehmerfunktion im Zuge der Entstehung dung des Evolutionsprinzips auf den Evolution
von Großunternehmen, Massenproduktion erzeugenden (institutionellen) Apparat selbst,
und organisierter Forschung und Entwicklung würde zu anderen Schlussfolgerungen führen
durch angestellte Forscher und Manager, die als denen, die Schumpeter in Kapitalismus,
nicht mehr mit eigenem Risiko agieren, keine Sozialismus und Demokratie gezogen hat.
Unternehmer sind. Ein „organisierter Kapitalis- Sind Schumpeters Analysen aus den 1940er
mus“ kann nach Schumpeter die evolutorisch Jahren heute von Bedeutung – über den
zu definierenden Bedingungen der Existenz des theoriegeschichtlichen Gehalt und die intel-
Kapitals – den endlosen Prozess von Innova- lektuelle Freude am Nachvollzug und an der
tionen, Investitionen, Geldkapitalschöpfung Auseinandersetzung hinaus? Aus meiner Sicht
und Kapitalvernichtung – nicht aufrecht schon. Erstens ist seine evolutorische Theorie
erhalten. Der Verfall der Evolutionsmaschine längst nicht fruchtbar gemacht für die heutigen
ist der letzte Grund für den prognostizierten Wirtschaftswissenschaften. Zweitens aber
Niedergang des Kapitalismus als Wirtschafts- könnte es sein, dass es uns heute genauso geht
weise und Kulturform der Ungleichheit und des wie Schumpeter von 70 Jahren: Vor unseren
Familienvermögens (vgl. S. 516). Augen beginnt eine neue Zeit, aber wir sehen
Der Grund für Schumpeters Fehler ist sie nicht. Im Jahr 2008 lag der rechnerische
eine Inkonsequenz bei der Benutzung seines Beginn des 5. Kondratjew – nach Schumpe-
eigenen Evolutionsmodells, die mit seiner kon- ters Zeitrechnung. Dies war zuweilen Anlass
servativen Sicht auf die Gesellschaft seiner Zeit für Fragen danach, was dieser lange Zyklus
zusammenhängen mag. Hätte er seinen Ansatz wirtschaftlicher Entwicklung bringen könnte
weiter getrieben, sein Evolutionsprinzip auf die – eine neue industrielle Revolution, aber wel-
Evolutionsmaschine selbst angewendet, wären che? Die Energiewende vielleicht? Eine dazu
andere Schlussfolgerungen möglich gewesen. passende sozioökonomische Transformation,
Dann hätte die Frage nämlich gelautet: Welche aber welche? Den Ökokapitalismus? (vgl. Land
Transformationen der Unternehmerfunktion 2009a; 2009b)
bzw. des Innovationsprozesses könnten durch Die paradoxe Antwort lautet: Das wäre
sozioökonomische Evolution erfolgen? Und in denkbar; aber ob es auch wirklich wird, kann
welchem Maße kann der New Deal – verstan- man nicht wissen. Evolutorische Modelle des
den nicht als Krisenkompensation, sondern als sozioökonomischen Prozesses ermöglichen
Auftakt eines sozioökonomischen Struktur- keine Prognosen – im Unterschied zu den
52 Rainer Land

in der gängigen Wirtschaftswissenschaft do- die institutionellen, sozioökonomischen und


minanten Wachstumsmodellen, die im Kern technologischen Elemente eines neuen, des
stationäre Modelle sind, in denen sich einzelne 4. Kondratjew, des bis dahin größten Booms
Faktoren in ihrer Größe, nicht aber in ihrer wirtschaftlicher Entwicklung „aller Zeiten“,
Qualität ändern (Wachstum der Ressourcen, der im Zweiten Weltkrieg begann und bis in
der Produktivität, technischer Forschritt). Es die 1970er Jahre anhielt.
handelt sich also um Veränderung von Größen Schumpeter schrieb gerade in dieser Zeit
in qualitativ gleich bleibenden Systemen. Solche Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie – es
Modelle ermöglichen Prognosen, haben aber sollte ursprünglich ein Buch über Sozialismus
den Nachteil, dass die Prognosen in der Regel werden –, in dem er unter anderem auch
falsch sind, weil die wirkliche Wirtschaft eben verschiedene Thesen zum Niedergang des Ka-
nicht nur einfach wächst, sondern evolviert. pitalismus prüfte. Die meisten Begründungen
Handelt es sich hingegen um Evolution, also für den Untergang des Kapitalismus lehnte er
um Veränderung der Qualität, andere Produk- ab, doch seine Prognose ist trotzdem negativ:
tionsmittel, andere Produkte, andere Produkti- Der Kapitalismus wird untergehen, weil die
onsfunktionen, dann erscheint dies auch in sich Voraussetzungen für seine Dynamik, die aus
verändernden Größen, aber diese sind dann der seiner Konstruktion als sozioökonomischer
abstrakte Ausdruck nicht prognostizierbarer Evolutionsmaschine folgen, erodieren und
qualitativer und struktureller Veränderungen letztendlich aufgehoben werden. Es gibt zwar
der Produkte und Verfahren, des Verhaltens, der keine zwingenden Gründe, den Niedergang
Bedürfnisse, der Kultur und der Sozialstruktur. aufgrund einer zurückgehenden Wachstums-
Der Unterschied zwischen bloßem Wachstum rate anzunehmen; die Existenz von Monopolen
und Entwicklung, die abstrakt wie Wachstum lehnt er als Ursache für einen zwingenden
erscheint, ist eine der wichtigsten und in der Niedergang des Kapitalismus ebenfalls ab.
Wirtschaftswissenschaft sträflich missachte- Auch die Theorien schwindender Investiti-
ten erkenntnistheoretischen und sachlichen onschancen oder etwa das Marx’sche Gesetz
Fragen. Wirtschaftsinstitute haben Modelle, des tendenziellen Falls der Profitrate oder das
die Prognosen ermöglichen. Die evolutorische Keynes’sche Modell eines „Gleichgewichts ohne
Sozialökonomie hat wissenschaftliche Modelle, Wachstum und Investitionen“ – ganz gleich,
die der Realität besser entsprechen, mit denen für wie relevant man sie hält – können aus
sich begründen lässt, warum Prognosen über seiner Sicht für einen finalen Untergang des
evolutorische Transformationen hinweg nicht Kapitalismus nicht herangezogen werden.
möglich sind. Aber – so Schumpeter nun wörtlich – er
Schumpeter war der erste, der eine evo- werde „eine andere Theorie vortragen über
lutorische sozioökonomische Sicht theo- das, was letzten Endes den Kapitalismus töten
retisch ausgearbeitet hat, und unter dieser wird“ (S. 184). Für Schumpeter – das kann
Voraussetzung sind auch seine Argumente in man inzwischen als bekannt unterstellen – ist
Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie zu es das Schwinden der Unternehmerfunktion,
betrachten. Mir scheint es letztendlich nicht die den Niedergang des Kapitalismus zur Folge
möglich, diese Argumente auf der Basis einer haben wird.
nicht evolutorischen Wirtschaftstheorie, sei sie Dabei fasst er aber zwei Möglichkeiten ins
neoklassisch oder keynesianisch, sachgerecht Auge: Der Innovationsprozess selbst kommt
zu reproduzieren und voll zu verstehen. zum Erliegen, damit würde der Fortschritt auf-
hören. Oder aber der Innovationsprozess wird
„automatisiert“ – etwa in Großunternehmen
Der Niedergang der mit bürokratisch arbeitenden Forschungs- und
Unternehmerfunktion Entwicklungsabteilungen, Vermarktungsab-
teilungen, Werbeabteilungen, die aus dem
Schumpeter ging es in den 1940er Jahren, wie ungewissen Innovationsgeschehen einen
es uns heute geht: Vor seinen Augen entstanden „planmäßig“ ablaufenden Prozess machen
Schumpeter und der New Deal 53

würden. Im ersten Fall würde die Dynamik Verwandlung der Unternehmer in eine Klasse
des Kapitalismus schwinden, im zweiten Fall von angestellten Bürokraten betrachtet, die ihre
würde eine bürokratisierte Wirtschaft, mögli- Stellung, nicht ihre Innovationskraft, benutzen,
cherweise eine sozialistische, oder eben auch um Managergehälter zu kassieren, die häufig
ein Arbeiterkapitalismus entstehen – es gäbe mit Leistung nichts zu tun haben, und die den
keine Unternehmer mehr, sondern nur noch Kapitalverwertungsprozess manipulieren, um
„Angestellte“, die von einem riesigen bürokra- politische Renten und Managergehälter durch
tischen Apparat verwaltet würden – oder eben Umverteilung statt durch Innovationsgewinne
sich selbst mittels dieses Apparates verwalten. zu erzielen.
„Wenn die kapitalistische Entwicklung – ‚der Trotzdem ist Schumpeters Diagnose und
Fortschritt‘ – entweder aufhört oder vollständig Prognose im Wesentlichen falsch. Denn die
automatisiert wird, wird sich die wirtschaft- tatsächliche Entwicklung der 1950er bis 1970er
liche Grundlage der industriellen Bourgeoisie Jahre lässt sich mit Schumpeters These nicht
letzten Endes auf Gehälter reduzieren, wie sie erklären. Weder kann man anhaltend stagnative
für gewöhnliche Verwaltungsarbeit bezahlt Tendenzen konstatieren – im Gegenteil, es war
werden – Überbleibsel von Quasirenten und die Zeit mit einem sehr hohen Wirtschafts-
monopoloiden Gewinnen ausgenommen, die wachstum über lange Zeit und parallel in sehr
vermutlich noch einige Zeit dahinvegetieren vielen Ländern – noch dominieren extensive
werden. Da die kapitalistische Unternehmung Faktoren; es handelte sich nicht um ein Wirt-
durch ihre eigensten Leistungen den Fortschritt schaftswachstum mit wenig Innovationen oder
zu automatisieren tendiert, so schließen wir unbedeutenden Innovationen. Im Gegenteil,
daraus, dass sie sich selbst überflüssig zu ma- das Wirtschaftswachstum war vor allem durch
chen – unter dem Druck ihrer eigenen Erfolge Innovationen und dadurch induzierte Steige-
zusammenzubrechen tendiert.“ (S. 218) Dabei rung der Arbeitsproduktivität getragen. In der
verliert die Bourgeoisie als Klasse nicht nur Nachkriegszeit von 1945 bis 1975 gab es einen
ihr Einkommen, sondern, „was unendlich viel gewaltigen Schub von Innovationen, angefan-
wichtiger ist“, auch ihre Funktion (ebd.). „Die gen von der fordistischen Massenproduktion
wahren Schrittmacher des Sozialismus waren und all den damit verbundenen Produkten,
nicht die Intellektuellen oder Agitatoren“ – dass Verfahren und Organisationsformen der Be-
es die Arbeiter mit ihrem Interesse an dem triebe und Unternehmen über die modernen
Erhalt der Arbeitsplätze und Einkommen in Infrastruktur-, Verkehrs- und Siedlungssy-
der kapitalistischen Produktionsmaschinerie steme bis hin zu den großen wissenschaftlich-
nicht sein können, hat Schumpeter an anderer technologischen Innovationen wie Kernkraft,
Stelle ausführlich dargelegt –, „sondern die Van- Raumfahrt, Elektronik und elektronische
derbilts, Carnegies und Rockefellers“ (S. 218). Datenverarbeitung.
Dies ist der Kern des Arguments, das dann nur Schumpeters These vom Sieg des Sozi-
noch ausgebaut wird durch sozialstrukturelle alismus in dieser Zeit hat sich bekanntlich
und kulturelle Elemente – etwa das Schwin- ebenso wenig bewahrheitet. Allerdings muss
den der um die Unternehmerklasse herum man dies einschränken. Angesichts einer
angesiedelten sozialen Gruppen und Milieus, Rückversicherung, die Schumpeter gemacht
die Zerstörung des institutionellen Rahmens, hat, ist es durchaus möglich, dass er noch recht
eine antikapitalistische Politik, die Auflösung bekommt – nämlich dann, wenn die derzeitige
der bürgerlichen Familie und die neuen, dem Weltwirtschaftskrise tatsächlich das Ende des
Kapitalismus feindseligen geistig-kulturellen Kapitalismus bedeuteten sollte. Schumpeter
Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. schrieb nämlich in dem in der deutschen Aus-
Man kann dies als eine weitgehend richtige gabe nicht enthaltenen 5. Teil, dass der „enorme
Darstellung der Entwicklungen der ersten industrielle Erfolg“ der USA (die Diffusion
Hälfte des 20. Jahrhunderts nehmen – gerade „dieses Erfolgs“ nach Europa, Japan und später
wenn man die Institutionalisierung und Büro- in weitere asiatische Länder hat Schumpeter
kratisierung des Innovationsprozesses und die kaum noch beobachtet) „unser Urteil über die
54 Rainer Land

Chancen des Systems des Privatunternehmens eine Mio. km Straßen, 77.000 Brücken und
beeinflusst – zumindest mit Blick auf eine kur- 20 Staudämme gebaut.
ze Distanz von ca. 50 Jahren“ (S. 382). Die 50 – Die landwirtschaftliche Produktion wurde
Jahre wären inzwischen um, den Sozialismus reduziert, um den Farmern rentable Preise
gibt es schon nicht mehr, den Kapitalismus zu schaffen, es wurden Mindestpreise für
immer noch, allerdings ist der nach einer lan- Agrarprodukte festgelegt. Der New Deal
gen Phase der Prosperität (1940er bis 1970er beinhaltete zudem die staatliche Über-
Jahre) seit 30 Jahren in einer Dauerdepression, wachung der Börsen, privater Gold- und
derzeit noch zusätzlich in einer dramatisch Silberbesitz wurden verboten (von 1933
ablaufenden Welt-Finanzkrise, von der man bis 1974). Ein Steuersystem mit niedrigen
nicht weiß, wie groß die realwirtschaftlichen Sätzen für Arme und hohen Sätzen für
Wirkungen letztlich sein werden. Reiche wurde eingeführt. (Das ist nur eine
Schumpeters Darstellung der Erosion der Auswahl.)
Unternehmerfunktion und der Umwandlung Allerdings – und dies ist bemerkenswert und
von Unternehmern in Manager ist zweifellos wichtig – wirkte der New Deal erst durch die
treffend und in der Tendenz theoretisch auch Kombination mit dem bis dahin größten kre-
zutreffend. Trotzdem sind seine Schlussfol- ditfinanzierten Investitionsschub aller Zeiten
gerungen – die Prognose einer Erosion ka- – ausgelöst durch den Eintritt der USA in den
pitalistischer Entwicklung in der absehbaren Zweiten Weltkrieg und die vorangegangenen
Zukunft – empirisch falsch. Kriegsvorbereitungen. Denn infolge dieses
Investitionsschubs boomten zunächst die
Rüstungsindustrie und die Investitionsgüterin-
Der New Deal als Auftakt zu einer dustrie und – man sollte es kaum glauben – am
Transformation des Kapitalismus meisten die Konsumgüterindustrie. Denn die
Arbeitskräfte wurden knapp, und unter den vom
Der New Deal war eine politische Reaktion auf New Deal gesetzten institutionellen Vorausset-
die Weltwirtschaftskrise 1929 und noch mehr zungen – zum Beispiel den neuen Konditionen
auf die daran anschließende lange Depression, für die Lohnverhandlungen, den Mindestlöh-
die in den USA erst 1938 zu Ende ging. Er war nen und sozialen Sicherungen – musste ein
ein pragmatischer Ausbruchsversuch, aber er wachsender Arbeitskräftebedarf dazu führen,
hat nach und nach die Blockaden der Depres- dass die Löhne in bis dahin ungeahnte Höhen
sion aufgebrochen. Mit welchen Maßnahmen stiegen. Und natürlich stiegen die Konsumaus-
versuchte die neue amerikanische Politik des gaben entsprechend mit. Genau dies machte
New Deal aus der Krise zu kommen? Schumpeter große Angst (Schumpeter 1943,
– Den Gewerkschaften wurde eine feste Teil V: 387), er fürchtete um die Investitionen
rechtliche Grundlage gegeben, ein formelles – grundlos, wie wir heute wissen.
Streikrecht wurde eingeführt. Kinderarbeit Der Krieg führte in den USA nicht zu einer
wurde verboten. Eine staatliche Rente und Politik des „Gürtel-enger-Schnallens“; im Ge-
eine Arbeitslosenversicherung wurden ein- genteil: Die USA versorgten auch noch Groß-
geführt, für Industriearbeiter Mindestlöhne britannien und andere Verbündete, lieferten
festgesetzt. Die Lohnentwicklung wurde Rüstungs- und Investitionsgüter, Lebensmittel
staatlich kontrolliert, vor allem, um fallende und Konsumgüter an die Sowjetunion und
Löhne zu verhindern. versorgten nach Kriegsende halb Europa wie ne-
– Die Arbeitszeit wurde auf eine 40-Stunden- benher mit. Genau dies war der Startpunkt eines
Woche verkürzt, ein freiwilliger Arbeits- neuen Kapitalismustyps, der die fordistische
dienst wurde organisiert, der für die Auf- Massenproduktion von Konsumgütern mit der
forstung und Bodenverbesserung eingesetzt produktivitätsorientierten Lohnentwicklung
wurde. Zur Wirtschaftsbelebung wurden im und dem sozialen Wohlfahrtsstaat zu einem
Rahmen eines staatlichen Investitionspro- neuen Regulationsregime verband.
gramms u.a. 122.000 öffentliche Gebäude, Dieser neue Weg einer progressiven sozialen
Schumpeter und der New Deal 55

Veränderung der institutionellen Regulation des noch wirksamer ausgestaltet, während in den
Kapitalismus (der Löhne, der Sicherungssy- USA ein Teil der begonnenen sozialen Regu-
steme und der öffentlichen Investitionen sowie lationen des New Deal in den 1950er Jahren
die Verknappung des Arbeitsangebots) musste nicht weiter ausgebaut, einige sogar wieder
im harten Kampf gegen die alten Interessen eingeschränkt wurden. Das Wirtschaftswunder
erzwungen werden. Roosevelt sagte am 31. war immer zugleich ein Konsumwunder, das
Oktober 1936 in einer Rede im Madison Square auch nach dem Krieg und bei erheblich gerin-
Garden: „Wir kämpfen seit vier Jahren erbittert geren Rüstungsausgaben weiter funktionierte.
gegen die Feinde dieses Friedens. Wir kämpfen Die Entwicklung von Varianten dieses Typs in
gegen die Hochfinanz und die Wirtschafts- Skandinavien und Japan zeigt, dass Teilhabeka-
bosse, die gewissenlosen Spekulanten, gegen pitalismus nicht notwendig auf eine Kriegs- und
die Klassenspaltung, den Partikularismus und Rüstungswirtschaft angewiesen war (vgl. zu
gegen die Kriegsprofiteure. Sie alle hatten sich Schweden Galbraith 1995: 135f.).
daran gewöhnt, die amerikanische Regierung Neuverfassung des Sozialen und Einstieg
als Anhängsel ihrer Geschäfte zu betrachten. in einen neuen Industrialisierungs- und Inve-
Wir wissen nun, vom organisierten Geld regiert stitionszyklus bedingten sich gegenseitig, die
zu werden, ist genauso gefährlich wie von der Formel lautete: Massenproduktion und Mas-
Mafia regiert zu werden. Jetzt hassen sie mich senkonsum, Kapitalverwertung und Teilhabe
und ich begrüße ihren Hass. In meiner ersten der Lohnarbeit am wachsenden Reichtum. Man
Amtszeit haben die Kräfte des Egoismus und kann diese auf den Konsum und die Risikoab-
der Gier in mir einen gleichwertigen Gegner sicherung beschränkte Form der „Teilhabe“
gefunden. In meiner zweiten Amtszeit werden spießig und borniert finden, und sie muss selbst-
sie in mir ihren Bezwinger finden“ (Roosevelt verständlich aus heutiger Sicht kritisiert werden.
1936). Sie schloss gerade keine Mitbestimmung über
Der wirtschaftliche Erfolg des New Deal, die Entwicklungsrichtungen der Technik und
der sich erst einige Jahre später – etwa ab 1938 Technologie, über die Arbeitsbedingungen,
– einstellte, basierte auf der Kombination eines über die inhaltliche Gestaltung der Konsum-
neuen technisch-ökonomischen mit einem neu- welten und keine umfassende Beteiligung an
en sozialökonomischen Modell. Das technisch- Bildung und Kultur ein, sie führte zur Manipu-
ökonomische Modell umfasste die fordistische lation der Konsumenten, war nicht mit einem
Massenproduktion, die economy of scale und das inhaltlich reichen und neuen Verständnis von
dazugehörige Muster industrieller Forschung, Demokratie und Individualität verbunden und
Entwicklung, Produktion und Nutzung der beendete nicht die Benachteiligung der Frauen
Natur; das sozialökonomische die Teilhabe der sowie andere Formen der sozialen, rassischen,
Arbeiter an der wirtschaftlichen Entwicklung religiösen oder sexuellen Diskriminierung. Und
in Form steigender Einkommen, wachsenden sie war auf die entwickelten kapitalistischen
Konsums und besserer sozialer Absicherung: Länder beschränkt, die damals nur wenig zur
die produktivitätsorientierte Lohnpolitik und der Überwindung der Unterentwicklung in der
Wohlfahrtsstaat. Das ökonomische Regulativ Dritten Welt beitrugen. Trotzdem war dies
war die Kopplung der Lohnentwicklung an die eine gewaltige kulturelle Revolution, denn sie
Produktivität und später auch der wichtigen beendete in den Ländern, in denen sie sich
Transfereinkommen und der Sozialleistungen durchsetzte, die Disziplin des Hungers. Not und
an die Lohnentwicklung. Elend waren nicht länger der Normalzustand
Dieser Typus wurde nach 1945 auf Deutsch- für die Mehrheit der Lohnabhängigen.
land und Japan übertragen, und er setzte sich in
verschiedenen Varianten in allen entwickelten
kapitalistischen Industriestaaten durch. Ge-
rade die sozialstaatliche Komponente wurde
in Europa, insbesondere in Skandinavien und
in Deutschland, nach dem Zweiten Weltkrieg
56 Rainer Land

Evolution als Kombination zunimmt. Ohne Massenproduktion keine


technischer und sozioökonomischer dynamisch steigenden Masseneinkommen.
Innovationen – Zur Erweiterung von Dies hat Galbraith mit seinen Thesen zur
Schumpeters Modell doppelten Rückkopplung der Bedürfnisent-
wicklung an die Produktionsentwicklung und
Die politische Konstellation der 1930er Jahre der Nachfrageentwicklung an die Entwicklung
in den USA machte es möglich, dass sich zwei des Angebots ausgezeichnet dargestellt – und
Prozesse verbanden: a) die Entwicklung der kritisiert (Galbraith 1959: 155ff.).
fordistischen Massenproduktion und b) der Das Erschließen dieses Felds technolo-
Kampf um eine Verbesserung der sozialen gischer Entwicklung ist an die Durchsetzung
Lage der Lohnabhängigen, gerade in der Krise. der sozioökonomischen Innovation, an die
Wichtig ist: Die Grundlage des neuen Zyklus Transformation des Kapitalismus der groß-
war nicht nur eine technische Revolution. Die industriellen Expansion (vom Aufschwung
grundlegende Neuerung ist eine Kombination der 1890er Jahre bis in den Ersten Weltkrieg,
genau dieser technologischen mit genau jener Abschwung 1920 bis 1937, Erholung etwa ab
sozioökonomischen Basisinnovation. Die 1938) in einen Teilhabekapitalismus gebunden.
Basisinnovation des Produktionssystems, die Diese Transformation war nur möglich, weil und
fordistische Massenproduktion (eingeschlossen soweit sie Entwicklungsgrenzen des vorherigen
Produkte, Verfahren, Organisationsformen und Typs kapitalistischer Entwicklung überwand
Konsumtionsweisen, nach deren Ausdifferen- und die Blockaden der langen Depression
zierung also ein sehr großes und komplexes löste. Der Teilhabekapitalismus (ca. 1938 bis
Bündel von Innovationen), kombinierte sich in die 1970er Jahre) kann aus dieser Sicht als
mit den institutionellen Veränderungen der Überwindung der Entwicklungsgrenzen des
Regulation des Verhältnisses von Kapital und Kapitalismus der großindustriellen (koloni-
Lohnarbeit, nämlich der produktivitätsorien- alen und militärischen) Expansion bzw. 1938)
tierten Lohnpolitik einschließlich der Folgen, verstanden werden, also des Kapitalismus, den
die dies für die sozialen Sicherungssysteme Hilferding, Hobson, Bucharin, Luxemburg und
und die Dynamisierung der Sozialtransfers, Lenin in ihren damaligen Schriften vor Augen
die Regulierung der Arbeitsbedingungen, das hatten. Das von diesen Autoren gesehene Pro-
Arbeitsrecht usw. usf. hatte. Nach Ausdifferen- blem dieses Kapitalismustyps bestand darin,
zierung wurde dies ebenfalls ein großes Bündel dass die Reproduktion des Kapitalverhältnisses
zusammenhängender sozioökonomischer eine stets steigende Akkumulation, also ständig
Innovationen. neue innere oder äußere Felder für Investitionen
Beides geht nur in Kombination und konnte benötigte, die nicht ohne Weiteres gegeben
sich in den 1930er bis 1950er Jahren auch nur waren. Da die Löhne kaum stiegen – jedenfalls
in Wechselwirkung entwickeln. Die Innova- nicht im Maße der Produktivität (dafür fehlte
tionspotenziale der Massenproduktion, dem damals ein gesellschaftliches Regularium, aber
nun zentralen Faktor der Produktivitätsge- es war auch kulturell indiskutabel) –, konnte
winne, konnten nur genutzt werden, wenn die der produzierte Mehrwert nur in zusätzliche
Nachfrage nach Massenprodukten dynamisch Maschinerie und zusätzliche Arbeit investiert
stieg. Mit der Produktivität steigende Mas- werden. In der industriellen Revolution des
seneinkommen waren also die Bedingung für 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit den ra-
die Durchsetzung der Massenproduktion von sant steigenden Arbeiterzahlen war das kein
Konsumgütern. Andererseits ist eine dynami- Problem; doch nach dem Gründeraufschwung
sierte Lohnentwicklung nur möglich, wenn die hatte der Industriekapitalismus bereits ein
damit realisierte Konsumtion überwiegend aus Produktivitätsniveau erreicht, das eine domi-
kostengünstigen Industrieprodukten besteht, nant extensive Reproduktion innerhalb einer
also nicht aus einem traditionellen Sektor einzelnen Volkswirtschaft ausschloss. In der
stammt, und wenn dieses Sortiment von Kon- Luxemburg’schen Fassung folgte daraus: Es
sumgütern ständig qualitativ und quantitativ war nicht mehr ohne Weiteres möglich, den
Schumpeter und der New Deal 57

produzierten Mehrwert zu akkumulieren, nur Die Effekte der Produktivitätsentwicklung


durch externe Landnahme. Kolonialismus, würden zu gleichen Teilen der Vergrößerung
Krieg und Rüstung waren die notwendigen des Kapitals wie der Steigerung der Lohnein-
Folgen dieses Reproduktionstyps. Nun aber kommen und der davon abhängigen Transfer­
schieden sich die Geister. Während Luxemburg einkommen zufallen – eine Proportion, von der
eine zunehmende Krise des Kapitalismus und Schumpeter übrigens zeigte, dass sie in einer
den schließlichen Zusammenbruch schlussfol- zentral verwalteten sozialistischen Wirtschaft
gerte, hielten Lenin und Bucharin den Übergang ganz genauso eingestellt werden müsste.
zu einem rein intensiven Reproduktionstyp für Die theoretisch mögliche Überwindung der
möglich. Nur der theoretisch auch denkbare Evolutionsbarriere des Kapitalismus der groß-
Ausweg, den nicht mehr akkumulierbaren industriellen Expansion (1890–1938) kollidierte
Mehrwert in Form steigender Löhne aufzu- natürlich zunächst mit der institutionellen,
brauchen und den Absatz durch wachsenden politischen und kulturellen Verfasstheit der
Konsum der Arbeiter sicherzustellen, schien gegebenen Gesellschaft, teilweise auch mit
unter den Bedingungen einer kapitalistischen ihrer technischen Struktur, die eben auf die
Ordnung ganz ausgeschlossen, weil es dem Produktion von Investitionsgütern zentriert
Sinn der Kapitalverwertung zu widersprechen war. Eine tiefe Krise und eine Politik der Experi-
schien. Selbst Keynes hielt eine durch steigende mente mit institutionellen Innovationen waren
Löhne induzierte Nachfrageentwicklung zwar erforderlich, um auf diesen Pfad einschwenken
für notwendig, aber nur durch sozialpolitische zu können – und genau dies hat der New Deal
Interventionen des Staates zu erreichen. geleistet. Dass Experimente nicht fehlerlos sein
Die Grenzen des Kapitalismus vor der Welt- können, versteht sich von selbst.
wirtschaftskrise und -depression (1929–1938)
bestanden in fehlenden Investitionsfeldern –
die Industrialisierung war abgeschlossen, die Schumpeter und Keynes – unvereinbar?
weitere Entwicklung der Industrie erfolgte
nicht mehr dominant extensiv (die Zahl der Anders als Schumpeter glaubte, hat der New
Arbeiter wuchs langsamer als die Produktion, Deal der 1930er Jahre – wenn man ihn etwas
weil die Produktivität schnell stieg), sondern komplexer und hinsichtlich der Wirkungen
zunehmend intensiv, die Expansion der Kon- längerfristig betrachtet – die Erosion des Ka-
sumtion scheiterte an den Grenzen einer hinter pitalismus nicht verstärkt, sondern zu einem
der Produktivität zurückbleibenden, also an neuen Typ von Kapitalismus geführt, den ich
den Reproduktionskosten der Arbeit (dem Teilhabekapitalismus genannt habe. Dieser
Marx’schen Wert der Ware Arbeitskraft) ori- Kapitalismustyp hat gerade durch Evolution
entierten Lohnentwicklung. Der eine Ausweg die von Schumpeter dargestellten Probleme des
schien die militärische Expansion, die Erobe- Kapitalismus der 1920er und 1930er Jahre auf
rung und die Eingliederung anderer Völker; eine Sicht von ca. 50 Jahren bewältigt – bevor
bekanntlich der Weg, den Deutschland, Italien das damit erschlossene Entwicklungspotenzial
und Japan erprobten und an dem ihre Regime etwa in den 1970er bis 1980er Jahren wieder
scheiterten. erschöpft war und die Reproduktion des Kapi-
Die andere mögliche Lösung war eine talverhältnisses erneut in eine anhaltende Krise
Transformation des Kapitalverhältnisses derart, geriet, die nicht allein durch die Bereinigung
dass die Löhne im Mittel entsprechend der von Disproportionen, nicht allein durch die
Produktivität steigen, weil dann nämlich die Vernichtung überschüssigen Geldkapitals
Steigerung der Nachfrage genau der Steigerung („Platzen von Blasen“) und auch nicht allein
der Produktion entsprechen würde, allerdings durch keynesianische Geld- oder Finanzpo-
um den Preis einer nicht mehr steigenden, son- litik überwunden werden kann, sondern die
dern um ein konstantes Niveau schwankenden nach einer Transformation des institutio-
Mehrwertrate im Sinne von Marx bzw. einer nellen Settings der Kapitalverwertung, nach
etwa gleichbleibenden bereinigten Lohnquote. einem Pfadwechsel der industriellen und der
58 Rainer Land

sozioökonomischen Entwicklung, also einem Nachfragerückgang (Sparen, negative Rück-


Strukturwandel der sogenannten Realwirt- kopplungen in der Einkommensentwick-
schaft verlangt. lung) am eigentlichen Problem vorbei. Der
Dabei kann eine keynesianische Ausga- Nachfragerückgang ist bei Schumpeter die
ben- und Investitionspolitik, die ja zunächst Folge eines durch Innovationen ausgelös­
darauf gerichtet ist, Nachfrageausfälle durch ten Strukturwandels, und er wird am Ende
zusätzliche Ausgaben des Staates (eigentlich des Innovationsbooms wirksam, wenn neue
ganz gleich, wofür) zu kompensieren, durchaus Produkte massenhaft auf den Markt strömen,
hilfreich sein. Zunächst schon, indem sie die alte Produkte keine Nachfrage mehr finden
Wirkungen der Krise mildert; noch mehr aber, und die Unternehmen beginnen, ihre Kredite
wenn die Investitionen, die den Nachfrageausfall zurückzuzahlen, die Demission von Kreditgeld
kompensieren sollen, zugleich den institutio- also größer wird als die Emission. Wenn man
nellen und strukturellen Transformationspro- nun durch „künstlich“ induzierte Nachfrage
zess unterstützen, der die realwirtschaftlich den Bereinigungsprozess behindert, u.a. den
relevanten Entwicklungsschranken überwindet. Untergang überflüssig gewordener Industrien
Dies war im Zuge des New Deal geschehen, verhindert, die deflationäre Preisbereinigung
und dies könnte auch heute geschehen, wenn nicht zulässt, die Rückführung der in der Pros­
die weltweiten Konjunkturprogramme nicht perität überhöhten Löhne beschränkt und die
nur Nachfrageausfälle kompensieren, sondern Vernichtung dysfunktional gewordener Geld-
einen Pfadwechsel der industriellen Entwick- vermögen durch die Abschreibung der nicht
lung einleiten. mehr einzubringenden Kredite abfedert, dann
Insofern muss man nicht auf einer Unver- verlängert und vertieft man die Rezession zu
einbarkeit eines Schumpeter’schen und eines einer Depression. Genau so sah Schumpeter
Keynes’schen Standpunkts beharren. Sicher, den New Deal. Hinzu kam seine persönliche
aus der Sicht von Schumpeter geht es bei einer Abneigung gegen Roosevelt und sein Ärger
langwelligen Krise, also z.B. der Überlagerung über Keynes, dessen wissenschaftliches Modell
der Kondratjew- und der Juglarrezession er für schlechter hielt als sein eigenes, weil
1929 bis 1933, vor allem um einen realwirt- es kein evolutorischer Ansatz war. Natürlich
schaftlichen Bereinigungsprozess. Die einzig war er auch sauer, dass Keynes ihm zweimal
wirklich populär gewordene Formel Schum- zuvorgekommen war, erst in der Geldtheorie
peters lautet: schöpferische Zerstörung. In der und dann mit der General Theory, während er
Kondratjewprosperität (1890er bis 1914) und mit seinen Konjunkturzyklen wieder zu spät
der Juglarprosperität (1920er Jahre) hatten sich kam und die erhoffte Anerkennung ausblieb.
strukturelle Ungleichgewichte zwischen den Er musste das Gefühl haben, dass Keynes ihm
alten und den neu entstandenen Industrien jedes Mal zurief, „ich bin schon da“, dabei aber
gebildet, zugleich war ein Berg von finanziellen nur ein (im Vergleich zu Schumpeters eigenen
Verbindlichkeiten aufgehäuft worden, der nun Produkten) mieses Halbfabrikat präsentierte.
abgetragen werden musste. Es ging also um die Sieht man eine keynesianische Politik nur
Beseitigung überflüssig gewordener Betriebe als Mittel, einen aus allerdings systematischen
und Arbeitspotenziale. Die Vernichtung von Gründen ins Stocken geratenen Wachstums-
Geldkapital im Sinne der selektiven Bereinigung prozess wieder in Gang zu bringen (der Motor
des im Zuge eines Evolutionszyklus geschaf- springt wieder an, das Fahrzeug fährt dann auf
fenen Kreditvolumens war für Schumpeter eine der gleichen Straße weiter wie vorher), dann
notwendige Subfunktion eines Pfadwechsels besteht Schumpeters Kritik zu Recht. Sieht
der industriellen Produktion, nicht umgekehrt. man eine keynesianische Politik als Mittel einer
Deshalb musste er Keynes ablehnen. Finanz- institutionellen Transformation (also einer
krisen sind durch Schumpeters Brille gesehen Evolution der Evolutionsmaschine selbst, d.h.
keine reinen Finanzkrisen. der Art und Weise, wie Innovationen hervor-
Aus dieser Perspektive geht das Keynes’sche gebracht, selektiert und rekombiniert werden),
Modell der Erklärung einer Depression durch dann sieht die Sache anders aus. Genau dann
Schumpeter und der New Deal 59

nämlich kann eine Strategie der Krisenbe- Durchsetzung des Neuen zulasten des Alten
kämpfung genau die Probleme (auf mittlere bekommen können. Wenn man unterstellt, dass
Frist) lösen, die Schumpeter als Ursachen für der Weg aus der Krise, zumindest aus einer
den Niedergang des Kapitalismus angesehen langwelligen Rezession bzw. Depression, nur
hat. Die Transformation der Evolutionsma- evolutionär möglich ist, neue Innovationspo-
schine, des Innovationsprozesses selbst, wird tenziale, neue Selektionsrichtungen erfordert,
dann nämlich neben den Produkten, Techno- also die Konstruktion eines neuen Entwick-
logien und Organisationsformen als weiterer lungspfades und die Institutionalisierung seiner
Gegenstand von Evolution behandelt. Genau Bedingungen und Selektionskriterien, dann
dies geht aber über ein bloß technisch-techno- haben beide, Schumpeter wie Keynes, recht
logisches Verständnis von Innovationen und und unrecht zugleich. Es genügt nicht, bloß
Unternehmerfunktionen hinaus und klärt, wie den Motor zum Anspringen zu bringen und
Gesellschaften und gesellschaftliche Akteure auf derselben Straße weiter zu fahren, weil der
durch Innovationen die wirtschaftliche und Motor auf der alten Straße eben nicht mehr
soziale Evolution selbst, also das institutionelle anspringen wird, solange die Bedingungen
Gefüge, die Verfahren, die Unternehmerfunkti- für ein qualitativ anderes, neues Reservoir von
onen, die Mechanismen der Lohnbestimmung Innovationen nicht erzeugt wurden.
und der Preisfixierung, letztlich die Regulation Aber es reicht auch nicht, auf die Bereini-
als Selektion und Rekombination von tech- gung durch schöpferische Zerstörung über-
nischen und sozioökonomischen Innovationen flüssig gewordener Industrien, überflüssig
verändern. gewordener Arbeitskräfte und nicht rück-
Eine keynesianische Politik kann also zahlbarer Kredite bzw. der entsprechenden
(wie Schumpeter fürchtete) tatsächlich die Geldvermögen zu setzen und zu denken, der
Depression verschärfen, nämlich dann, wenn anschließende Aufschwung komme dann auto-
sie den erforderlich gewordenen Pfadwechsel matisch. Wenn man wie Schumpeter meint, der
verstellt, veraltete bzw. überflüssig gewor- folgende Zyklus sei nicht ein Weiterfahren auf
dene Betriebe rettet, überflüssig gewordene der selben Straße, sondern ein Zyklus, der von
Arbeitsplätze erhält, die Vernichtung von anderen Basisinnovationen getragen wird, der
Geldkapital (Schulden wie Vermögen) verzögert andere Bedingungen, auch sozioökonomische,
und so den Druck auf eine Transformation voraussetzt, dann muss auch klar werden, dass
des jeweils gegebenen historisch besonderen der Beginn eines neuen Zyklus nur durch die
Systems der Kapitalverwertungsregulation Konstruktion neuer Evolutionsbedingungen
nimmt. Sie kann aber auch diesen Transfor- möglich wird, also im Ergebnis eines kompli-
mationsprozess in Gang bringen, wenn sie zierten Suchprozesses.
die Nachfrageausfälle kompensiert, indem sie Anders gesagt: Der Weg aus der Krise ist
neue Entwicklungsrichtungen erschließt und nicht die Folge einer Bereinigung, sondern
die Transformation der Kapitalverwertung, die einer in der Krise vorangetriebenen Suche
Evolution der Evolutionsmaschine in Gang hält. nach neuen Potenzialen und den institutio-
Man könnte sich vorstellen, dass alte Betriebe nellen Bedingungen ihrer Erschließung. Die
nicht gerettet, aber neue auf- und ausgebaut Evolution der Evolutionsmaschine kommt
werden, überflüssig gewordene Arbeitsplätze nicht von allein in Gang, sondern im Ergebnis
nicht erhalten werden, aber neue Arbeitsplätze sozialer und politischer Auseinandersetzungen
entstehen, und Geldvermögen eben nicht per und Experimente um die alten und die neuen
se, sondern selektiv gerettet werden. Bedingungen. Das war Schumpeter durchaus
Allerdings: Ganz so einfach ist das nicht, nicht unbekannt, wenn man seine Rezension
denn zunächst einmal weiß niemand sicher, von Hayeks „Weg zur Knechtschaft“ (1987:
welches die schlechten alten und welches die 87) ansieht. Anders als Hayek sah Schumpeter
guten neuen Entwicklungen sind – vor allem die Gewerkschaften nicht als Störung eines
aber wird man politisch viel Zustimmung zur idealen Wettbewerbs-Kapitalismus, sondern
Rettung des Bestehenden, aber nur wenig zur als Resultat sozialökonomischer Auseinander-
60 Rainer Land

setzungen, als ein eigenes Evolutionsprodukt, Teil der den Depressionen obliegenden Aufgaben
die Erfindung einer Antwort auf das Problem ungelöst und vermehrt einen unverdauten Rest von
Störungen um eigene neue Störungen.“ Und Galbraith
der Krisen in der Regulation von Löhnen und kommentiert: „Wären Krisen stets milde verlaufen,
Arbeitsbedingungen. könnte der Begriff eines normalen Rhythmus, den
Wenn also der Weg aus der Krise durch man klugerweise nicht stören soll, eigentlich recht
erfreulich sein. Aber mit der Zeit wurden die Krisen
die Konstruktion eines neuen evolutorischen immer heftiger … Der orthodoxe Begriff des Kon-
Settings zustande kommt, dann kann man eine junkturzyklus bedeutete eine nie zur Ruhe kommende
keynesianische Politik der Krisenbekämpfung Angst, dass Armut der Normalzustand sein könnte,
als Teil dieser Auseinandersetzung, als Teil des ein ständiges Wachsen der Überzeugung, dass die
Klassenunterschiede unvermeidbar seien … Aber er
gesellschaftlichen Suchprozesses sehen, und es bedeutete eine noch viel weiter greifende Sorge, jener
käme bei einer Bewertung eben darauf an, ob sie vergleichbar, die einen Hausvater befällt, dem man
dazu beiträgt, Blockaden – durchaus im Sinne erklärt, er müsse im regulären Verlauf der Dinge damit
rechnen, dass sein Haus zu brennen anfängt und sein
der von Schumpeter aufgezeigten Reprodukti- Besitz ganz oder teilweise vernichtet wird. Das Feuer
onsprobleme des Kapitalverhältnisses und der dürfe er aber weder verhüten noch bekämpfen, weil es
Unternehmerfunktion – zu überwinden oder eine ganz bestimmte Aufgabe habe. Und die Gründung
nicht. Aus dieser Perspektive, wirtschaftliche einer Feuerwehr käme dem Versuch gleich, das Feuer
mit Benzin löschen zu wollen“ (Galbraith 1959: 59).
Entwicklung als Evolution der Evolution, las- 2 Schumpeters Bemerkungen zum „Arbeiterkapitalis-
sen sich die Positionen von Keynes und die mus“ (1947 [2005]. Anhang VI: 515) betreffen „das
von Schumpeter als vereinbar begreifen. Eine Ausmaß, bis zu dem die [ökonomische] Maschine dem
Interesse der Arbeiterschaft dienstbar gemacht werden
keynesianische Politik kann mehr, als bloß Kri- kann, ohne dass dies zum Stillstand der ökonomischen
senfolgen zu lindern, aber dann muss sie auf die Maschine führt“. Es wird behauptet, so Schumpeter
Erschließung neuer Entwicklungspfade zielen. weiter, ein solcher Kapitalismus werde sich auf unbe-
Genau dies ist jedoch der Grund, warum der grenzte Zeit behaupten können. „Das mag zutreffen,
doch bedeutet es nicht die Widerlegung meiner These.
New Deal letztendlich funktioniert hat – aber (…) Die Diagnosen, die auf der Wahrscheinlichkeit
auch erst nach einer gewissen Zeit und in Folge des Fortbestehens dieses Arbeiterkapitalismus hin­
experimenteller Suchprozesse. Umgekehrt kann auslaufen, stützen sich stark auf die Extrapolation
eine Schumpeter’sche Strategie nicht bloß auf der gegenwärtigen erstaunlichen Entwicklung der
gesellschaftlichen Produktivkräfte. Ein solcher Schluss
Bereinigung durch schöpferische Zerstörung erscheint jedoch voreilig. Die Errungenschaften der
setzen, sie muss Suchprozesse nach neuen Vergangenheit waren die Errungenschaften eines
Entwicklungspfaden aktiv in Gang bringen. mehr oder weniger ungezügelten Kapitalismus. Es darf
nun nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass
der Arbeiterkapitalismus auch fernerhin die gleiche
Leistung erbringen wird“ (Vortrag, gehalten 1949, in:
Anmerkungen ebd.: 515f.).
Wir könnten ihn beruhigen. Wenn Schumpeter unter
* Der Autor dankt Ulrich Hedtke für Diskussionen, Arbeiterkapitalismus den US-Kapitalismus nach dem
Hinweise und Kritiken. New Deal verstehen wollte und wenn Leistung das
1 Schumpeter hat 1934 in Depression – Can We Learn Tempo des technischen Fortschritts, der Veränderung
from the Past Experience? zusammen mit sieben wei- der Produkte und Verfahren und die Wachstumsraten
teren Autoren in The Economics of Recovery Program meint, dann ist die Leistung nicht zurückgegangen,
seinen wesentlichsten Beitrag zur Diskussion des New sondern noch einmal deutlich gestiegen, vielleicht
Deal geleistet. Der Kern der Schumpeter’schen Kritik: nicht wegen der „Teilhabe“ – aber sie hat die Pro-
Die Politik kann nur die humane Lage der Betroffenen duktivitätsentwicklung, das Wachstum und auch
mildern, aber selbst nichts zur Erholung beitragen. Die das Wachstum der Kapitalerträge nicht untergraben.
Erholung wird nur echt sein, wenn sie nicht künstlichen Denn eine Lehre gegen die neoklassische Profittheorie
Impulsen entsprungen ist. Geld- und kreditpolitische kann man aus der Entwicklung der vergangenen 60
Maßnahmen helfen nicht, sie verschlimmern in der Jahre auch ziehen: Eine hohe Zuwachsrate der Pro-
Regel nur, denn es geht immer um eine Reorganisation duktivität bei stagnierendem Anteil der Profite am
der Realwirtschaft, und die kann geldpolitisch gerade Volkseinkommen ist auch für die Unternehmen und
verzögert werden (Hinweis von Ulrich Hedtke). ihre Gewinne allemal besser als ein steigender Anteil
John Kenneth Galbraith zitiert Schumpeter so: „In der Gewinne bei einem stagnierenden Gesamtertrag.
sämtlichen Fällen kam die Erholung von selbst … Insofern hat der fordistische Teilhabekapitalismus
Unsere Analyse veranlasst uns zu der Annahme, dass zwar die Mehrwertrate nicht mehr erhöht, aber die
die Erholung nur eine gesunde ist, wenn sie von selbst Masse der Profite und vermutlich auch die Profitraten
kommt. Denn eine Wiederbelebung, die lediglich stiegen wie nie zuvor – wenn auch nicht auf Kosten,
künstlichen Stimulantien zu verdanken ist, lässt einen sondern im Gleichklang mit den Löhnen.
Schumpeter und der New Deal 61

Literatur Roosevelt, F.D. (1936): Madison Square Garden Speech,


http://history.sandiego.edu/gen/text/us/fdr1936.
Galbraith, John Kenneth (1959): Gesellschaft im Überfluß. html, Übersetzung: Howard 2008 und eigene Über-
München, Zürich setzung
Galbraith, John Kenneth (1968): Die moderne Industrie- Schumpeter, Joseph A. (1934): Depression – Can We
gesellschaft. München, Zürich Learn from the Past Experience? In: The Econom-
Galbraith, John Kenneth (1995): Die Geschichte der ics of Recovery Program, 3-21, wiederveröff. in:
Wirtschaft im 20. Jahrhundert. Hamburg Essays of J.  A. Schumpeter, ed. by R.  V. Clemence,
Galbraith, John Kenneth (2009): Der große Crash 1929. Cambridge 1951
München Schumpeter, Joseph A. (1943): Kapitalismus, Sozialismus
Howard, Dick (2008): Die amerikanische Demokratie und Demokratie, Teil V, zit. nach der Arbeitsübersetzung
nach Bush. In: Berliner Debatte Initial 19 (2008) 1/2, von Marc und Ulrich Hedtke 1996. Die Seitenzählung
S. 115-119 entspricht den englischen Ausgaben seit der 2. Aufl.
Howard, Dick (2009): Obamas Herausforderungen. Im von 1946
Inland die Wirtschaft, für die Außenpolitik eine neue Schumpeter, Joseph A. (1947): Kapitalismus, Sozialismus
Strategie? In: Die Kommune 2/2009, S. 6-13 und Demokratie, 1. Aufl. 1947, zit. nach der 8. Aufl.,
Land, Rainer (2009a): Die globale Energiewende und die Tübingen 2005
politische Agenda von Barack Obama. In: Berliner Schumpeter, Joseph A. (1961): Konjunkturzyklen, 2 Bde.,
Debatte Initial 20 (2009) 2. S. 62-66 Göttingen 1961
Land, Rainer (2009b): Transformationen des Kapitalismus, Schumpeter, Joseph A. (1965): Geschichte der ökonomi-
Roosevelt und Obama. In: Theater der Zeit, Arbeits- schen Analyse, Bd. II, zit. nach Göttingen 2007
buch 18 (2009): Welten Wenden, S. 74-79 Schumpeter, Joseph A. (1987): Beiträge zur Sozialöko-
Luxemburg, Rosa (1975): Die Akkumulation des Kapitals. nomik. Wien
In: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 5. Berlin Swedberg, Richard (1994): Joseph A. Schumpeter. Eine
Biographie. Stuttgart
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