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AHS 8 TA Schaulust
AHS 8 TA Schaulust
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Schaulust
Lesen Sie den Essay Sind wir alle Voyeure? von Ernst Sittinger aus der Online-Ausgabe der
Tageszeitung Kleine Zeitung vom 11. Februar 2018 (Textbeilage 1).
Verfassen Sie nun die Textanalyse und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:
Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
Aufgabe 1 / Textbeilage 1
Von Ernst Sittinger und Einsatzkräfte einen Gut- Wesen? Oder bekommen wir
teil ihrer Energie, um sich den Würde und Empathie nur mehr
Bekanntlich ist meistens nicht die Weg durch die glotzenden Mas- per Strafgesetz? Die Antwort fällt
Technik das Problem, sondern ihr sen zu bahnen. Fassungslos ringen zwiespältig aus. Zunächst sollten 75
Gebrauch durch den Menschen. sie um rudimentäre Pietät: Blick- 40 wir uns eingestehen, dass niemand
Dieser Befund gilt besonders für dichte Tücher werden gespannt, immun ist gegen voyeuristische
unseren neuen Universalkörper- 5 Zuschauer des Ortes verwiesen. Reize. Der Sehsinn ist stark wie
teil: „Smart“ ist beim Smart- sonst keiner. Nicht das Großhirn,
phone nämlich nur das Gerät. Das Diese Mühe ist meist vergeblich. sondern das Stammhirn steu- 80
Bedienelement „Mensch“ dagegen Sensationsgier verdrängt jeden ert unsere Aufmerksamkeit. Dort
stellt sich häufig als geistig-mora- Skrupel, und das keineswegs nur 45 regiert nicht ethische Noblesse,
lische Sollbruchstelle des Gesamt- 10 hierzulande. In Deutschland for- sondern ein simpler Imperativ
systems heraus. dern bereits mehrere Bundeslän- des Überlebens: Wenn in deinem
der ein Anti-Gaffer-Gesetz: Wer Blickfeld etwas Überraschendes 85
Jüngster Beleg dafür sind die Ein- Rettungskräfte behindert oder passiert, musst du hinsehen, um
satzberichte von Unfallhelfern. Unfallopfer filmt, dem könnte 50 die Gefahr zu bewerten. So sichert
Sie klagen in letzter Zeit gehäuft bald bis zu ein Jahr Haft drohen. das „Tier Mensch“ (den Begriff
über ein abstoßendes Phänomen: 15 Auch Geldstrafen und die sofor- prägte einst der britische Zoologe
Sensationslüsterne Gaffer mit tige Abnahme des Handys werden Desmond Morris) sein Überleben. 90
gezückten Handykameras behin- diskutiert.
dern Rettungseinsätze und stellen Im Normalfall stellen wir frei-
ungeniert Opfer bloß. Speziell im Fest steht: Unter den wenig 55 lich an uns selbst den zivilisato-
Straßenverkehr scheint es keine 20 schmeichelhaften Wahrheiten, die rischen Anspruch der Triebkon-
Schamgrenze zu geben. Wenn es das Smartphone über die Natur trolle. Also sollte der Mensch in
kracht, wird erst einmal draufge- des Menschen offenbart, zählt der Lage sein, nach einem flüch- 95
halten – koste es, was es wolle. Das die schaurige Schau-Lust zu den tigen Blick auf ein Unfallgesche-
führt mittlerweile schon fast täg- übelsten Facetten. Nackte Neugier 60 hen entweder aktiv Hilfe zu leis-
lich zu beklemmenden Szenen. 25 und primitivste Schadenfreude ten. Oder, wenn das bereits andere
Anlässe gab es zuletzt in Wien, in schimmern frivol durch den fra- tun, diskret wegzublicken und sei-
Linz, in Graz. gilen Schmelz der Zivilisation. ner Wege zu gehen. 100
Der moralische Bankrott wird im
Wer den Schaden hat, bekommt Zoom der Kameralinsen bis zur 65 Gaffer waren allerdings auch schon
also erst einmal einen „Spot“. Viele Kenntlichkeit ausgeleuchtet, das vor dem Handyzeitalter ein Prob-
Schwerverletzte würden „schnel- 30 Versagen wird durch Megapixel lem. Die Begriffe „Schaulust“ und
ler auf YouTube als im Kran- technisch potenziert. „Sensationsgier“ verweisen darauf,
kenhaus“ landen, klagte kürz- dass der Mensch aus dem Beob- 105
lich ein Rotkreuz-Mann. Liegen Man muss also fragen: Sind achten des Unerhörten – und spe-
Verletzte oder gar Tote auf der wir seelenlose Voyeure? Ist der 70 ziell des ihn nicht persönlich tref-
Straße, dann brauchen Ersthelfer 35 Mensch noch ein mitfühlendes fenden Unglücks – Lustgewinn
INFOBOX
publico, ergo sum: abgeleitet von „cogito, ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“), einem Aus-
spruch des Philosophen René Descartes (1596 – 1650)