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Haupttermin 2021 / Deutsch S.

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Thema 3: Individuum und Gesellschaft


Aufgabe 1

Schaulust

Verfassen Sie eine Textanalyse.

Lesen Sie den Essay Sind wir alle Voyeure? von Ernst Sittinger aus der Online-Ausgabe der
Tageszeitung Kleine Zeitung vom 11. Februar 2018 (Textbeilage 1).

Verfassen Sie nun die Textanalyse und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■ Beschreiben Sie die Problematik, die in der Textbeilage dargestellt wird.


■ Untersuchen Sie den Aufbau der Argumentation und die sprachliche Gestaltung des Essays.
■ Erschließen Sie mögliche Intentionen des Autors.

Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.

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S. 18/24 Haupttermin 2021 / Deutsch

Aufgabe 1 / Textbeilage 1

Schaulust ohne Schamgrenze

Sind wir alle Voyeure?


Passanten mit gezückten Handykameras behindern Helfer und stellen Unfallopfer bloß. Sind wir ein Volk
der Voyeure? Ist für Anstand niemand mehr zuständig? Anmerkungen aus dem toten Winkel

Von Ernst Sittinger und Einsatzkräfte einen Gut- Wesen? Oder bekommen wir
teil ihrer Energie, um sich den Würde und Empathie nur mehr
Bekanntlich ist meistens nicht die Weg durch die glotzenden Mas- per Strafgesetz? Die Antwort fällt
Technik das Problem, sondern ihr sen zu bahnen. Fassungslos ringen zwiespältig aus. Zunächst sollten 75
Gebrauch durch den Menschen. sie um rudimentäre Pietät: Blick- 40 wir uns eingestehen, dass niemand
Dieser Befund gilt besonders für dichte Tücher werden gespannt, immun ist gegen voyeuristische
unseren neuen Universalkörper- 5 Zuschauer des Ortes verwiesen. Reize. Der Sehsinn ist stark wie
teil: „Smart“ ist beim Smart- sonst keiner. Nicht das Großhirn,
phone nämlich nur das Gerät. Das Diese Mühe ist meist vergeblich. sondern das Stammhirn steu- 80
Bedienelement „Mensch“ dagegen Sensationsgier verdrängt jeden ert unsere Aufmerksamkeit. Dort
stellt sich häufig als geistig-mora- Skrupel, und das keineswegs nur 45 regiert nicht ethische Noblesse,
lische Sollbruchstelle des Gesamt- 10 hierzulande. In Deutschland for- sondern ein simpler Imperativ
systems heraus. dern bereits mehrere Bundeslän- des Überlebens: Wenn in deinem
der ein Anti-Gaffer-Gesetz: Wer Blickfeld etwas Überraschendes 85
Jüngster Beleg dafür sind die Ein- Rettungskräfte behindert oder passiert, musst du hinsehen, um
satzberichte von Unfallhelfern. Unfallopfer filmt, dem könnte 50 die Gefahr zu bewerten. So sichert
Sie klagen in letzter Zeit gehäuft bald bis zu ein Jahr Haft drohen. das „Tier Mensch“ (den Begriff
über ein abstoßendes Phänomen: 15 Auch Geldstrafen und die sofor- prägte einst der britische Zoologe
Sensationslüsterne Gaffer mit tige Abnahme des Handys werden Desmond Morris) sein Überleben. 90
gezückten Handykameras behin- diskutiert.
dern Rettungseinsätze und stellen Im Normalfall stellen wir frei-
ungeniert Opfer bloß. Speziell im Fest steht: Unter den wenig 55 lich an uns selbst den zivilisato-
Straßenverkehr scheint es keine 20 schmeichelhaften Wahrheiten, die rischen Anspruch der Triebkon-
Schamgrenze zu geben. Wenn es das Smartphone über die Natur trolle. Also sollte der Mensch in
kracht, wird erst einmal draufge- des Menschen offenbart, zählt der Lage sein, nach einem flüch- 95
halten – koste es, was es wolle. Das die schaurige Schau-Lust zu den tigen Blick auf ein Unfallgesche-
führt mittlerweile schon fast täg- übelsten Facetten. Nackte Neugier 60 hen entweder aktiv Hilfe zu leis-
lich zu beklemmenden Szenen. 25 und primitivste Schadenfreude ten. Oder, wenn das bereits andere
Anlässe gab es zuletzt in Wien, in schimmern frivol durch den fra- tun, diskret wegzublicken und sei-
Linz, in Graz. gilen Schmelz der Zivilisation. ner Wege zu gehen. 100
Der moralische Bankrott wird im
Wer den Schaden hat, bekommt Zoom der Kameralinsen bis zur 65 Gaffer waren allerdings auch schon
also erst einmal einen „Spot“. Viele Kenntlichkeit ausgeleuchtet, das vor dem Handyzeitalter ein Prob-
Schwerverletzte würden „schnel- 30 Versagen wird durch Megapixel lem. Die Begriffe „Schaulust“ und
ler auf YouTube als im Kran- technisch potenziert. „Sensationsgier“ verweisen darauf,
kenhaus“ landen, klagte kürz- dass der Mensch aus dem Beob- 105
lich ein Rotkreuz-Mann. Liegen Man muss also fragen: Sind achten des Unerhörten – und spe-
Verletzte oder gar Tote auf der wir seelenlose Voyeure? Ist der 70 ziell des ihn nicht persönlich tref-
Straße, dann brauchen Ersthelfer 35 Mensch noch ein mitfühlendes fenden Unglücks  – Lustgewinn

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zieht. Denn wer vom Hinsehen einst jeder respektierte. Drohnen und keiner kann sagen, er hätte
diskret absieht, der „verzichtet“ 110 blicken in Privathäuser, Satelli- 150 sie nie überschritten. Gerufene
ja auf das, was unter bohrenden ten starren durch Wolken, Wild- Geister verschwinden nicht. Inti- 190
Blicken zusehends zur Sehens- tierkameras setzen das Animali- mität ist heute so selten wie Stille
Unwürdigkeit verkommt. sche ins Bild. Sogar auf Toiletten oder Finsternis. Das Fernsehen
wird im Dienste der Sicherheit ist voll mit voyeuristischen For-
Wer hingegen zuschaut, verstoh- gefilmt. 155 maten. Wieso sollte also ein Pas-
len oder offen, verspürt die Angst- 115 sant seine Kamera ausgerechnet 195
lust des Noch-einmal-davon- Auf Facebook vereinigen sich dann abdrehen, wenn das Schick-
gekommen-Seins. Im wohligen (un-?)kultivierter Voyeurismus und sal einmal zufällig in seiner Blick-
„Schauer“ steckt das „Schauen“. fröhliche Selbstdarstellung zum distanz zuschlägt?
Der trügerische Schutz der manchmal peinlichen, oft bana-
Gruppe im urbanen Raum tut 120 len Panoptikum. Das Leben ist 160 Womöglich müssen wir heute
meist ein Übriges, um zivili- ein Bilderbuch: Ultraschall- und feststellen, dass die soziale Ent- 200
satorische Hemmschwellen zu Röntgenbilder, Babyfotos, Hel- grenzung untragbare Kollateral-
beseitigen. Schon vor 50  Jah- denposen sind dort zu bewun- schäden schlägt. Der Drang zur
ren beschrieben Psychologen den dern. Jeder ist Hauptdarsteller Selbstvergewisserung darf auch
„bystander effect“: Die Chance 125 mit Helmkamera, jeder führt in 165 im allgemeinen Nihilismus nicht
auf „prosoziales Verhalten“, also seinem Leben Regie. Das Recht dazu führen, dass alle Dämme 205
auf Hilfeleistung in Not, sinke am eigenen Bild wird als Berech- brechen. Was wir jedenfalls wei-
mit der Zahl der anwesenden tigung gedeutet, sich ständig ins terhin brauchen, ist die Kultur
Zuseher. Erklärt wird dies mit Bild zu setzen. Publico, ergo sum – der Mitmenschlichkeit: Zusam-
Überforderung, Unsicherheit und 130 ich veröffentliche, also bin ich. 170 menhalt, Mitgefühl, gegenseitige
„Diffusion der Verantwortung“: Hilfe. 210
In der großen Gruppe fühlt sich Auch wir Medien müssen uns
für Anstand niemand zuständig. einigen unangenehmen Fragen Die Chancen dafür stehen gar
Man kann den niederen Instink- stellen. Haben wir nicht im Über- nicht so schlecht. Mancherorts
ten ihren Lauf lassen. Wenn sich 135 schwang der Handyfizierung das sind frustrierte Unfallhelfer dazu
in so einer Situation eine inter- Publikum dazu aufgerufen, uns 175 übergegangen, die Gaffer ihrer-
essierte Ignoranz einnistet, dann Privatfotos zu senden? In welcher seits in Internet-Foren anzu- 215
gilt sensationsgeile Untätigkeit Weise spielen wir mit Sensation prangern. Diese Hilferufe sto-
als angemessenes Verhalten. Am und Aufmerksamkeit? Gewiss: ßen auf überwältigend positives
Ende sieht man den gepeinigten 140 Journalismus stellt Öffentlichkeit Echo beim Publikum. Es kann
Juden beim Straßenwaschen zu. her und erfüllt insoweit in profes- 180 natürlich sein, dass auch das wie-
sionellem Rahmen unverzicht- der nur eine neue flüchtige Welle 220
Dazu kommt heute die Allge- bare Aufgaben. Gegen die böse im Empörungsmedium Internet
genwart von Kameras, von pri- Unterstellung, wir würden nur ist. Aber wenn „soziale Medien“
vaten ebenso wie von offiziellen. plumpe Sensationsgier bedienen, dazu führen, dass wir unser
Vom Überwachungsstaat bis zum 145 wehren wir uns zu Recht. 185 eigenes Handeln sorgfältiger
selbst ernannten Blockwart set- abwägen, dann haben sie ihren 225
zen sich Datenjäger und -samm- Aber die Grenzen des Darstell- Namen womöglich doch noch
ler über Schranken hinweg, die baren sind in Bewegung geraten, verdient.  n

Hinweis: Die Zwischenüberschriften des Originaltextes wurden entfernt.

Quelle: http://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5369764/Schaulust-ohne-Schamgrenze_Sind-wir-alle-Voyeure [16.11.2020].

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INFOBOX

publico, ergo sum: abgeleitet von „cogito, ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“), einem Aus-
spruch des Philosophen René Descartes (1596 – 1650)

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