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Die Principien Der Ethik - Spencer
Die Principien Der Ethik - Spencer
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Phil2270.31.5Bd . Mar , 1895.
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1
Mittheilung .
Mit dieser II. Abtheilung des I. Bandes der „ Principien
66
der Ethik ist Band I complet ; die I. Abtheilung erschien
1879 unter dem Titel „ Die Thatsachen der Ethik “ . -- Der
frühere Titel und das Vorwort sind durch die dieser Ab
theilung beiliegenden zu ersetzen.
Die II. Abtheilung des II . Bandes der „ Principien der
Ethik " erscheint nächstes Jahr, womit auch Bd . II complet ist .
vrak .
O
System
der
synthetischen Philosophie
von
Herbert Spencer.
X. Band.
STUTTGART .
Die
von
Herbert Spencer.
I. Band.
STUTTGART .
1879. 1894.
P 51
hil 2270.31.5
2-9
68
ARVARD COLLEGE
Al3.21
, 1893
FFR 14 1895
LIBRARY
Walke fun
r d.
de
Vorwort.
Ein Blick auf den Prospect über das „ System der synthe
tischen Philosophie "(in der Vorrede zu den 99 Grundlagen der
Philosophie") zeigt, dass die hier vorliegenden Capitel den ersten
Theil des Werkes über die Principien der Ethik bilden, mit
welchen das ganze System abschliessen soll . Da nun aber der
zweite und dritte Band der Principien der Sociologie noch
nicht veröffentlicht sind , so erscheint dieser Anfang des darauf
folgenden Werkes mithin nicht in der gehörigen Reihenfolge.
Vorwort. VII
Bemerkung .
Das zweimalige Auftreten der Nummern 111 und 112 für Paragraphen
am Ende des I. und am Anfang des vorliegenden II. Theiles wird dadurch
erklärt, dass die beiden letzten Paragraphen des I. Theiles, im Originale als
„Anhang zum XVI. Capitel" ohne Nummernbezeichnung erschienen, vom Über
setzer des Theiles mit Nummern versehen wurden. Der Übersetzer des vor
liegenden II . Theiles glaubte die Paragraphenzahlen nicht ändern zu dürfen ,
um Verweisungen auf Original und Übersetzung nicht ungleich werden zu
lassen. Solche auf §. 111 und §. 112 beziehen sich also immer auf den
II. Theil. Der Übersetzer.
Inhalt.
438
Vorwort .
Cap. I. Das Handeln im Allgemeinen .
" II. Die Entwickelung des Handelns
2 III. Gutes und böses Handeln • • 22
27 IV. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 51
" V. Der physikalische Standpunkt . . 70
19 VI. Der biologische Standpunkt 82
23 VII. Der psychologische Standpunkt 112
39 VIII. Der sociologische Standpunkt . 145
" IX. Kritik und Erläuterungen • 164
23 X. Die Relativität von Leiden und Freuden 190
" XI. Egoismus versus Altruismus . 204
" XII. Altruismus versus Egoismus 219
27 XIII. Untersuchung und Compromiss 238
" XIV. Versöhnung · 262
22 XV. Absolute und relative Ethik • 280
" XVI. Der Umfang der Ethik 306
I
I
י
1
I. Capitel.
§. 1 .
das Übrige fehlt. Man nehme den Anfang und das Ende einer
Beweisführung weg und der Rest beweist gar nichts . Das vom
Anklager abgegebene Zeugniss führt leicht irre, wenn nicht die
Aussage , welche der Vertheidiger vorbringt, dagegen gehalten wird.
§. 2 .
Das Handeln ist ein Ganzes und zwar in gewissem Sinne ein
organisches Ganzes , ein Aggregat gegenseitig von einander abhängen
der Handlungen, welche ein Organismus ausführt. Diejenige Ab
theilung oder diejenige Seite des Handelns, mit welcher sich die
Ethik beschäftigt, bildet einen Theil dieses organischen Ganzen
einen Theil, dessen Componenten jedoch in unauflösbarer Verbindung
mit dem Übrigen stehen. Nach allgemeiner Auffas hat die
Moral nicht das mindeste damit zu thun, wenn ich das Feuer schüre
oder eine Zeitung lese oder eine Mahlzeit zu mir nehme. Auch
das Öffnen des Fensters zum Lüften des Zimmers oder das An
ziehen eines Überrockes bei kaltem Wetter gelten als Handlungen ,
welche keinerlei ethische Bedeutung haben . Alles dies jedoch bildet
einen Theil des Handelns. Das Benehmen , welches wir gut, und
das Benehmen, welches wir böse nennen , wird zugleich mit dem
Benehmen, welches wir als gleichgültig bezeichnen , in die Vorstel
lung vom Benehmen im Ganzen mit einbegriffen. Jenes Ganze,
von welchem die Ethik nur einen Theil bildet, ist eben das Ganze ,
das aus der Theorie vom Handeln im Allgemeinen besteht, und
dieses Ganze muss begriffen werden , bevor der Theil begreiflich sein
kann. Betrachten wir diesen Satz noch etwas genauer.
In erster Linie, wie sollen wir das Handeln definiren? Es ist
nicht coextensiv mit der Gesammtheit der Thätigkeiten, obgleich es
nahezu damit zusammenfällt. Thätigkeiten wie diejenigen eines Epi
leptischen in einem Anfall werden nicht in unsere Vorstellung von
Handeln einbegriffen : diese Vorstellung schliesst absichtslose Thätig
keiten aus. Und indem wir diese Ausschliessung aussprechen, stellt
sich uns auch zugleich alles das vor Augen, was darin eingeschlossen
ist. Die sich ergebende Definition von Handeln lautet entweder :
Zwecken angepasste Handlungen , oder : die Anpassung von Hand
lungen an Zwecke, jenachdem wir hauptsächlich die besonders ge
staltete Gruppe von Handlungen in's Auge fassen oder nur an die
Form derselben denken . Und das Handeln im weitesten Sinne muss
in solchem Umfange aufgefasst werden , dass es sämmtliche An
6 Die Thatsachen der Ethik. Cap. I.
§. 3.
Wir sind vollständig vertraut mit dem Gedanken an eine Ent
wickelung der Structur in der aufsteigenden Reihe der thierischen
Formen. In erheblichem Maasse sind wir auch mit dem Gedanken
vertraut, dass eine Entwickelung der Functionen pari passu mit
der Entwickelung der Structur vor sich gegangen sei . Nun haben
wir jedoch noch einen Schritt weiter zu thun und uns einen Begriff
von der Entwickelung des Handelns in ihrer Wechselbeziehung mit
dieser Entwickelung der Structur und der Functionen zu bilden.
Diese drei Gegenstände müssen scharf aus einander gehalten .
werden. Die Thatsachen , welche die vergleichende Morphologie zu
sammenstellt, bilden unzweifelhaft ein Ganzes, das , obgleich es
weder im Allgemeinen noch im Besondern ohne Bezugnahme auf
Thatsachen, welche der vergleichenden Physiologie angehören , be
handelt werden kann , doch im Wesentlichen unabhängig dasteht.
Ebenso einleuchtend ist es, dass wir unsere Aufmerksamkeit aus
schliesslich auf jene fortschreitende Differencirung und Combination
der Functionen beschränken können , welche die höhere Ausbildung
der Structur begleiten, wobei wir also nichts weiter über das Wesen
und den Zusammenhang der Organe aussagen, als was ohnedies in
der Beschreibung ihrer gesonderten und vereinigten Thätigkeiten
gegeben ist. Und die Lehre vom Handeln steht getrennt von der
Lehre von den Functionen da , wenn vielleicht nicht so scharf da
von getrennt, wie diese es von der Lehre von der Structur ist ,
doch immerhin scharf genug, um sie im Wesentlichen selbständig
erscheinen zu lassen . Denn jene Functionen , welche bereits in
mannichfaltiger Weise zusammengesetzt sind, um das zu Stande zu
bringen, was wir gewöhnlich als einzelne Körperthätigkeiten be
zeichnen, müssen sich in endlos verschiedener Weise abermals zu
sammensetzen, um jene Coordination von Körperthätigkeiten hervor
zubringen, welche unter Handeln verstanden wird.
Wir beschäftigen uns mit Functionen im eigentlichen Sinne,
so lange wir dieselben als innerhalb des Körpers ablaufende Vor
§. 3. Die Entwickelung des Handelns . 9
§. 4.
er ebenso wie der Fisch auszuüben hat, ihren Zwecken weit besser
angepasst. Durch das Gesicht sowohl als auch wahrscheinlich durch
den Geruch nimmt er seine Nahrung auf verhältnissmässig weite
Entfernungen wahr, und wenn sich gelegentlich die Nothwendigkeit
zur Flucht herausstellt, so findet dieselbe mit verhältnissmässig
grosser Geschwindigkeit statt. Der hauptsächliche Unterschied aber
liegt darin , dass ganz neue Gruppen von Anpassungen hinzu
gekommen sind. Wir finden combinirte Thätigkeiten , welche die
Ernährung erleichtern - das Abbrechen saftiger und fruchttragen
der Zweige , die Auswahl nährender Dinge aus einem ziemlich weiten
in seinem Bereich liegenden Gebiete ; und in Fällen der Gefahr wird
die Sicherheit nicht allein durch die Flucht, sondern, wenn nöthig ,
auch durch Vertheidigung oder Angriff erlangt, wobei die Stoss
zähne, der Rüssel und die massigen Füsse vereint zur Verwendung
kommen. Ferner beobachten wir mancherlei Hülfsthätigkeiten in
Anpassung an Hülfszwecke : er geht in den Fluss, um sich abzu
kühlen, und verwendet den Rüssel als Werkzeug, um sich Wasser
über den Körper zu spritzen ; er benutzt einen abgebrochenen Zweig ,
um sich die Fliegen vom Rücken zu scheuchen ; er gibt bestimmte
Signaltöne von sich, um die Heerde zu warnen, und passt seine
eigenen Handlungen solchen Tönen an, wenn sie von andern aus
gehen. Der Erfolg aber dieses höher entwickelten Handelns ist
offenbar der, dass das Gleichgewicht der organischen Thätigkeiten
eine weit längere Zeit hindurch gesichert bleibt.
Und wenden wir uns nun zur Betrachtung des Handelns der
höchsten Säugethiere, der Menschen, so finden wir nicht nur, dass
die Anpassungen der Handlungen an Zwecke sowohl zahlreicher als
auch besser sind als bei den niedrigeren Säugethieren , sondern wir
finden auch dasselbe Verhältniss bei einer Vergleichung der Thätig
keiten der höhern mit denjenigen der niedrigeren Racen. Wir mögen
.
irgend einen der zu erstrebenden Hauptzwecke herausgreifen, stets
sehen wir ihn vom Civilisirten mit grösserer Vollkommenheit er
reicht als vom Wilden , und überdies beobachten wir , wie jener ver
hältnissmässig zahlreiche Nebenzwecke erreicht, welche die Haupt
zwecke unterstützen. Wie verhält es sich z. B. mit der Ernährung ?
Die Speise wird mit grösserer Regelmässigkeit entsprechend dem
Nahrungsbedürfniss aufgenommen, sie ist von besserer Qualität, sie
ist frei von Verunreinigungen, mannichfaltiger und besser zubereitet.
Wie steht es mit der Wärme ? Die Eigenschaften der zur Beklei
14 Die Thatsachen der Ethik. Cap. II.
dung verwendeten Dinge sind dem Stoff wie der Form nach weit
überlegen und ebenso ist es die Anpassung derselben an das Be
dürfniss jedes Tages und jeder Stunde. Wie steht es mit der Woh
nung ? Der Gegensatz des äussern Anblicks zwischen dem aus Gras
und Ästen geflochtenen Schutzdach , wie es sich der niedrigste
Wilde baut, und dem Wohnhaus des civilisirten Menschen ist nicht
grösser als der Gegensatz in der Zahl und Wirksamkeit der An
passungen von Handlungen an Zwecke, wie sie in der innern Ein
richtung derselben zum Ausdruck kommen. Und vergleichen wir
mit den gewöhnlichen Thätigkeiten eines Wilden die alltäglichen
Thätigkeiten in der civilisirten Welt - z. B. das Geschäft des
Kaufmanns , das vielfache und complicirte, über lange Zeiträume
sich hinziehende Unterhandlungen erfordert, oder die Arbeiten eines
Beamten, für die er sich durch umfassende Studien vorzubereiten
hat und die täglich in zahllos verschiedenen Formen erledigt werden.
müssen, oder politische Besprechungen und Agitationen , welche bald
auf die Durchsetzung dieser Maassregel und bald auf die Abschaf
fung einer andern gerichtet sind so zeigen sich uns ganze Grup
pen von Anpassungen von Handlungen an Zwecke, die nicht allein.
an Mannichfaltigkeit und Verwickeltheit alles Ähnliche bei niederen
Menschenrassen unendlich übertreffen , sondern für welche die letz
teren überhaupt kein Analogon darbieten. Und mit dieser grösseren
Vervollkommnung des Lebens, wie sie das Ergebniss der Verfolgung
weit zahlreicherer Zwecke ist, verbindet sich auch jene Zunahme
der Lebensdauer, welche den höchsten Zweck bildet .
Hier macht sich nun zugleich das Bedürfniss geltend, diese
Vorstellung von dem sich entwickelnden Handeln zu ergänzen . Denn
dasselbe ist in der That eine vervollkommnete Anpassung von Hand
lungen an Zwecke, die nicht allein die Verlängerung des Lebens
befördert, sondern ganz hauptsächlich den Inhalt des Lebens ver
mehrt. Ein Rückblick auf die oben gegebenen Beispiele lehrt schon ,
dass nicht die Länge der Lebensdauer an sich den Maassstab für
die Entwickelung des Handelns bilden kann, sondern dass auch die
Quantität des Lebens mit in Rechnung gezogen werden muss. Eine
Auster, deren Bau sich den fein vertheilten Nahrungsstoffen an
gepasst hat, welche in dem von ihr herbeigestrudelten Wasser ent
halten sind, und die durch ihre Schale beinah vor jeder Gefahr
geschützt ist, kann leicht ein höheres Alter erreichen als ein Tinten
fisch, welcher so weit überlegene Fähigkeiten besitzt , sich in zahllos
§. 5. Die Entwickelung des Handelns . 15
§. 5.
§. 6.
Wollten wir jedoch nun annehmen, dass die Entwickelung des
Handelns ihre Vollendung gefunden habe, wenn eine vollkommene
Anpassung von Handlungen an Zwecke erreicht ist , welche dem
individuellen Leben und der Aufziehung der Nachkommenschaft
dienen, so wäre dies eine irrthümliche Folgerung . Oder, wie ich
vielmehr sagen sollte, es ist ein Irrthum, zu glauben , dass die eine
oder die andere dieser Arten des Handelns ihre höchste Form er
reichen könne, ohne dass eine dritte Form des Handelns, deren wir
erst noch zu gedenken haben, zugleich ihre höchste Form erreicht.
Die zahllosen Geschöpfe aller Arten , welche die Erde erfüllen ,
können nicht ganz von einander getrennt leben , sondern befinden
sich stets mehr oder weniger in Gegenwart anderer - sie beein
flussen sich gegenseitig. Die Anpassungen von Handlungen an
Zwecke, die wir soeben betrachtet haben , stellen ja zum grössten
Theile Componenten jenes " Kampfes um's Dasein " dar, welcher
zwischen Gliedern einer und derselben Species wie zwischen
Angehörigen verschiedener Species ausgefochten wird, und ziem
lich allgemein wird eine erfolgreiche Anpassung , welche dem
einen Geschöpfe gelungen ist, irgend einen Misserfolg in der An
passung bei einem andern Geschöpfe derselben oder einer andern
Art mitbedingen. Damit der Fleischfresser leben kann , müssen
Pflanzenfresser zu Grunde gehen, und wenn seine Jungen aufgezogen
werden sollen, so müssen die Jungen von schwächeren Geschöpfen
ihrer Ernährer beraubt werden. Die Erhaltung des Habichts und
seiner Brut bedingt den Tod vieler kleiner Vögel, und damit sich
kleine Vögel vermehren können , muss ihre Nachkommenschaft mit
zahllosen Opfern von Würmern und Larven aufgefüttert werden.
Die Wettbewerbung zwischen Gliedern derselben Species hat ähn
liche , obschon weniger auffällige Resultate zur Folge. Der Kräftige
reisst oft gewaltsam die Beute an sich, welche der Schwächere sich
erworben hatte. Das wilde Thier nimmt gewisse Jagdgebiete für
sich in Beschlag und vertreibt andere seiner Art nach weniger
günstigen Plätzen . Auch bei den pflanzenfressenden Thieren gilt
dasselbe die bessere Nahrung sichern sich die kräftigeren Indivi
duen, während die schwächeren und schlechter genährten entweder
§. 6. Die Entwickelung des Handelns . 19
§. 7.
III . Capitel .
§. 8.
Indem wir die Bedeutungen eines Wortes in verschiedenen Ver
bindungen mit einander vergleichen und beobachten, was sie gemein
sam haben, lernen wir die wesentliche Bedeutung des Wortes kennen ,
und von einem Worte , das sehr mannichfaltig angewendet wird ,
lässt sich die Hauptbedeutung am besten dadurch ermitteln, dass
man jene Anwendungen desselben unter sich vergleicht, welche am
weitesten von einander abweichen . Versuchen wir nun auf diesem
Wege festzustellen, was gut und böse bedeutet.
In welchen Fällen bezeichnen wir ein Messer, eine Flinte, ein
Haus als gut ? Und welche Besonderheit veranlasst uns, von einem
schlechten Regenschirm oder einem schlechten Paar Stiefel zu
sprechen? Die hier durch die Wörter gut und böse ausgesagten
Charaktere sind nicht dem Gegenstande selbst innewohnende Merk
male, denn wenn man von menschlichen Bedürfnissen absieht, so
haben solche Dinge weder ein Verdienst, noch einen Fehler. Wir
nennen vielmehr diese Sachen gut oder böse , jenachdem sie gut
oder schlecht dazu geeignet sind, gewisse durch sie beabsichtigte
Zwecke zu erreichen. Ein gutes Messer ist dasjenige , welches gut
schneidet ; eine gute Flinte ist eine solche, mit der sich weit und
sicher schiessen lässt ; ein gutes Haus ist ein solches, das im rich
tigen Maasse den Schutz , die Behaglichkeit und die Bequemlichkeit,
§. 8. Gutes und böses Handeln. 23
die man darin suchte, gewährt. Umgekehrt bezieht sich die vom
Regenschirm oder von dem Paar Stiefel behauptete Schlechtigkeit
auf ihr Unvermögen, die betreffenden Zwecke zu erfüllen : den Regen
abzuhalten und die Füsse in angenehmer Weise zu schützen unter
gleichzeitiger Berücksichtigung eines guten Aussehens.
Ebenso verhält es sich, wenn wir von unbelebten Gegenständen
zu unbelebten Thätigkeiten übergehen. Wir nennen einen Tag
schlecht, wenn Stürme uns verhindern , gewissen Wünschen nach
zukommen . Ein gutes Jahr ist der Ausdruck, den man zu brauchen
pflegt, wenn das Wetter die Hervorbringung werthvoller Ernten
begünstigt hat. - Wenden wir uns nun von leblosen Dingen und
Handlungen zu lebendigen , so finden wir gleichfalls , dass diese
Wörter in ihrer gebräuchlichen Anwendung auf die gewünschte
Leistungsfähigkeit Bezug haben. Die Güte oder Schlechtigkeit eines
Wachtelhundes oder eines Spürhundes , eines Schafes oder eines
Ochsen bezieht sich im einen Fall darauf, dass ihre Thätigkeiten
zur Erreichung der Zwecke geeignet sind, für welche die Menschen
sie zu verwenden pflegen, und im andern Falle auf die Eigenschaften
ihres Fleisches, insofern sie dieses zur Ernährung des Menschen
passend erscheinen lassen. ――― Und ebenso pflegen wir jene Hand
lungen des Menschen , welche vom moralischen Standpunkt aus be
trachtet gleichgültig sind , je nach ihrem Erfolg oder Misserfolg zu
den guten oder zu den schlechten zu rechnen . Ein guter Sprung
ist ein Sprung, der mit Absehung von allen entfernteren Zwecken
das unmittelbare Ziel richtig erreichen lässt , und ein Stoss am
Billard wird gut genannt , wenn die Bewegungen geschickt den
Verhältnissen angepasst waren. Im Gegensatz hiezu wird von einem
watschelnden Gang und von einer undeutlichen Ausserung gesagt,
sie seien schlecht, weil in beiden Fällen die Handlungen den Zwecken
nicht richtig angepasst sind.
Haben wir auf diese Weise die Bedeutung von gut und böse
in ihren sonstigen Anwendungen kennen gelernt , so werden
wir dieselbe nun auch besser verstehen, wo diese Wörter dazu
dienen sollen , das Handeln vom sittlichen Gesichtspunkt aus
zu kennzeichnen. Auch hier lehrt uns die Beobachtung , dass
wir dieselben anwenden , jenachdem die Anpassungen von Hand
lungen an Zwecke erfolgreich sind oder nicht. Diese Wahrheit
liegt nicht so offen zu Tage , wie man glauben könnte. Die
Verwickelung der gesellschaftlichen Beziehungen ist derart, dass
24 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.
die Handlungen der Menschen oft gleichzeitig auf ihre eigene Wohl
fahrt, auf diejenige ihrer Nachkommen und auf die ihrer Mitbürger
Einfluss haben. Daraus entspringt häufig eine Verwirrung, wenn
gewisse Handlungen als gut oder schlecht beurtheilt werden sollen ,
da eben Handlungen , die wohl geeignet erscheinen , Zwecke der einen
Art zu erreichen, zugleich der Erreichung von Zwecken der andern
Arten hinderlich sein können . Nichtsdestoweniger stellt sich, wenn
wir die drei Arten von Zwecken aus einander halten und jede ge
sondert betrachten , deutlich heraus, dass ein Handeln , welches irgend
eine Art von Zwecken erreichen lässt, für relativ gut gehalten wird
und dass es für relativ schlecht gilt, wenn es sein Ziel nicht er
reicht.
Nehmen wir zunächst die erste Gruppe von Anpassungen , die
jenigen, welche dem individuellen Leben gewidmet sind . Ohne Rück
sicht auf Billigung oder Missbilligung seines letzten Zweckes wird
von einem Kämpfenden gesagt, er habe sich gut vertheidigt, wenn
seine Vertheidigung für seine Selbsterhaltung wohl geeignet erscheint ,
und während das Urtheil über sein Benehmen in Bezug auf andere
Seiten desselben unverändert bleibt, wird er sich eine ungünstige
Kritik zuziehen, soweit es seine unmittelbaren Handlungen betrifft,
wenn diese ihr Ziel nicht erreichen. Das Gute, was man einem
Geschäftsmanne als solchem zuschreibt, wird nach der Thätigkeit
und Geschicklichkeit bemessen, m t welcher er vortheilhafte Ankäufe
und Verkäufe zu bewerkstelligen weiss , und diese Eigenschaft kann
sehr wohl zusammen vorkommen mit harter Behandlung seiner
Untergebenen, welche tadelnswerth ist . Wenn auch ein Mann , der
zu wiederholten Malen einem Freunde Geld leiht, welcher eine An
leihe nach der andern aufnimmt, damit nur etwas thut, was an sich
durchaus für lobenswerth gilt, so wird er sich doch gerechtem Tadel
aussetzen, wenn er dies so weit getrieben hat, dass es seinen eignen
Ruin veranlasst, wenn also seine Selbstaufopferung zu weit gegangen
ist . Und so verhält es sich auch mit den Ansichten , die wir bei
nahe stündlich über solche Handlungen der Menschen in unserer
Umgebung äussern, welche sich auf ihre Gesundheit und persön
liche Wohlfahrt beziehen. Sie hätten das nicht thun sollen !"
mit diesem Vorwurf wird Derjenige empfangen , welcher die Strasse
mitten in einem gefährlichen Gedränge von Wagen kreuzt. " Du
hättest Deine Kleider wechseln sollen ! " wird zu einem Andern ge
sagt, welcher, nachdem er nass geworden , sich erkältet hat. " Sie
§. 8. Gutes und böses Handeln . 25
§. 9.
§. 10.
Ja, es gibt ein Postulat, in welchem Pessimisten und Opti
misten übereinstimmen . Die Darlegungen beider Parteien nehmen
30 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.
es als selbstverständlich an, dass das Leben gut oder schlecht ist,
jenachdem es einen Überschuss von angenehmen Empfindungen mit
sich bringt oder nicht. Der Pessimist sagt , er verurtheile das
Leben, weil sein Schlussergebniss mehr Schmerz als Freude sei.
Der Optimist vertheidigt das Leben in der Überzeugung, dass das
selbe mehr Freuden als Schmerzen bringe. Beide machen die Art
des Empfindens, welche das Leben begleitet, zum Richter darüber.
Darin stimmen sie überein , dass die Rechtfertigung des Lebens als
eines Daseinszustandes sich um dieses Ergebniss dreht, ob sich das
durchschnittliche Bewusstsein über den Differenzpunkt hinauf zum
Lustgefühl erhebe oder unterhalb desselben in das Schmerzgefühl
versinke. Die ihren gegensätzlichen Ansichten gemeinsame Folge
rung ist die, dass das Handeln auf die Erhaltung des Individuums ,
der Familie und der Gesellschaft hinarbeiten soll , vorausgesetzt nur ,
dass das Leben mehr Glück als Elend spende.
Wenden wir uns an einen andern Richter, so kann doch kein
anderes Urtheil erzielt werden . Mag der Pessimist , während er
behauptet, dass die Schmerzen des Lebens überwiegen , oder der
Optimist, während er behauptet , dass die Freuden überwiegen, sich
immerhin daran halten, dass die hier ertragenen Leiden durch später
zu erwartende Freuden ausgeglichen werden sollen und dass auf
diese Weise das Leben , möge es nun nach seinen unmittelbaren Re
sultaten berechtigt scheinen oder nicht, jedenfalls durch seine letz
-
ten Resultate gerechtfertigt werde so bleibt doch die Sache
selbst im Grunde dieselbe. Die Entscheidung wird immer noch ge
troffen, indem man Freuden gegen Leiden abwägt. Der Eine wie
der Andere würde das belebte Dasein für ein Unglück erklären ,
wenn zu einem hier ertragenen Überschuss an Elend noch ein Über
schuss an Elend hinzukäme, der nach diesem Leben zu ertragen
wäre. Um also die belebte Existenz als ein Glück betrachten zu
können , müssen Beide , wenn die Schmerzen desselben hier wirklich
seine Freuden übersteigen, den Glauben festhalten, dass hernach
seine Freuden die Leiden übersteigen werden . Sie können somit
dem Zugeständniss nicht entgehen, dass sie, indem sie das Handeln ,
welches das Leben fördert, gut, jenes Handeln aber , welches das
Leben verkürzt oder schädigt, schlecht nennen und dadurch selbst
zugeben, dass das Leben ein Glück und nicht ein Unglück sei , zu
gleich nothwendig behaupten, das Handeln sei gut oder schlecht,
§. 10. Gutes und böses Handeln. 31
gut nennen , wie : ein guter Kaufladen, ein guter Lehrer wenn
wir jede Handlung gut nennen , die, für sich allein betrachtet, so
ihrem Zwecke angepasst erscheint , dass sie die Selbsterhaltung und
ausserdem jenen Überschuss an Befriedigung herbeiführt, welcher
erst die Selbsterhaltung wünschenswerth macht ―― wenn wir jede
Art des Handelns , welche das Leben Anderer unterstützt, gut nennen
und dies in der Überzeugung thun, dass das Leben mehr Freude
als Elend bringe -- so ergibt sich als unleugbare Thatsache , dass ,
unmittelbare und entferntere Wirkungen auf alle Menschen in An
schlag gebracht, das Gute ganz allgemein das Erfreuende ist.
§. 11 .
Verschiedene Einflüsse von moralischer, theologischer und poli
tischer Seite wirken dazu zusammen, dass die Menschen diese Wahr
heit übersehen . Wie in kleineren Dingen, so werden sie auch in
dieser umfassendsten Sache so sehr von den Mitteln, durch welche
ein Zweck erreicht wird, in Anspruch genommen , dass sie dieselben
schliesslich für den Zweck selber halten. Gerade wie Geld , das
doch ein Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen ist, einem Geiz
hals für das Einzige gilt, wonach man zu streben habe, während
er die wirklichen Bedürfnisse unbefriedigt lässt, so ist es auch dahin
gekommen, dass die Menschen dasjenige Handeln , welches sie als
vorzüglich, weil am sichersten zum Glücke führend , befunden haben,
nun als etwas an sich Vorzügliches halten , als Etwas, das man
sich nicht etwa nur zum nächsten Ziele setzt (wie es das Richtige
wäre) , sondern das zum letzten Ziele gemacht wird , unter Aus
schluss des wahren letzten Zieles. Und dennoch genügen wenige
Fragen, um Jedermann sofort dazu zu bringen , dass er sich zum
wahren letzten Ziele bekennt. Wenn man vom Geizhals verlangt ,
dass er sich rechtfertige, so ist er genöthigt, die Eigenschaft des
Geldes, dass man damit wünschenswerthe Dinge erwerben könne ,
als Grund für seine Werthschätzung desselben anzugeben ; und so
bleibt auch dem Moralisten, welcher dieses Handeln für an sich gut
und jenes für an sich schlecht hält , sobald man ihn in die Enge
treibt, keine andere Wahl , als sich auf die Erklärung zurückzu
ziehen, dass es freudebringende, beziehungsweise schmerzenbringende
Wirkungen habe. Um dies zu beweisen , brauchen wir übrigens
nur zu zeigen, wie unmöglich es wäre, dieselben so aufzufassen, wie
wir es thun , wenn ihre Wirkungen gerade umgekehrt wären .
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik . 3
34 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.
§. 12.
der Begriff der Vollkommenheit gleich dem Begriff des Guten nur
mit Beziehung auf Zwecke gewonnen werden kann.
Wir schreiben irgend einem leblosen Ding, z . B. einem Werk
zeug Unvollkommenheit zu , wenn es irgend eines zu seiner wirk
samen Verwendung nothwendigen Theiles entbehrt oder wenn ein
Theil so gestaltet ist, dass er seinen Zweck nicht auf die denkbar
beste Weise erfüllt . Eine Uhr erhält das Prädicat der Vollkommen
heit, wenn sie genau richtig geht, so einfach auch ihr Gehäuse sein
mag , und Unvollkommenheit wird ihr beigelegt um ihres unrich
tigen Ganges willen , wenn sie auch noch so schön verziert ist.
Allerdings nennen wir viele Dinge unvollkommen , an denen wir
geringere Beschädigungen oder Sprünge bemerken , selbst wenn diese
ihrer Leistungsfähigkeit kaum Eintrag thun . Allein dies geschieht,
weil sie uns dadurch auf jene schlechtere Ausführung oder auf jene
Abnutzung oder Beschädigung hinweisen , mit der sich in unserer
Erfahrung gewöhnlich Leistungsunfähigkeit verbindet : das Fehlen
von geringeren Unvollkommenheiten erscheint in der Regel mit
Fehlen von grössern Unvollkommenheiten verknüpft.
Auf lebende Dinge angewendet hat das Wort Vollkommenheit
dieselbe Bedeutung. Die Vorstellung von einer vollkommenen Ge
stalt bei einem Racepferd ist durch Verallgemeinerung aus jenen
vielfach beobachteten Eigenthümlichkeiten von Racepferden abgeleitet
worden, welche gewöhnlich mit Erreichung der grössten Schnellig
keit verbunden erschienen, und ebenso bezieht sich der Begriff von
vollkommener Constitution eines Racepferdes auf die Ausdauer ,
welche dasselbe in Stand setzt, diese Schnelligkeit möglichst lange
Zeit beizubehalten. Nicht anders verhält es sich mit dem Menschen ,
wenn er von physischer Seite beurtheilt wird : wir vermögen keinen
andern Maassstab der Vollkommenheit anzulegen als den einer
vollendeten Leistungsfähigkeit aller Organe, ihre verschiedenen Func
tionen auszuführen. Dass unsere Vorstellung von vollkommenem
Gleichgewicht zwischen den innern Theilen und von vollkommenen
Maassverhältnissen zwischen den äussern Theilen hieraus entsprun
gen ist, geht deutlich aus der Beobachtung hervor, dass von der
Unvollkommenheit irgend eines Eingeweides , sei es Lunge , Herz
oder Leber, aus keinem andern Grunde gesprochen wird, als weil
es sich unfähig erweist, den Anforderungen, welche die Thätigkeiten
des Organismus an dasselbe stellen , vollständig zu genügen , sowie
aus der andern Beobachtung, dass die Vorstellung von zu geringer
§. 13. Gutes und böses Handeln . 37
§. 13.
Gehen wir nun von der Ansicht derer, welche die Vorzüglich
keit des Wesens zu ihrem sittlichen Maassstab erheben , zur Ansicht
38 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.
8. 14.
§. 15.
Es ist merkwürdig, zu beobachten , wie die Teufelsverehrung
des Wilden , welche unter den verschiedenartigsten Gestalten noch
unter der Civilisation fortlebt und uns als eines seiner Erzeugnisse
jenen Asceticismus hinterlassen hat , der in so mannichfaltigen
Formen und Graden immer noch weit verbreitet ist, sich als ein
Einfluss herausstellt , der seine Wirkung in der unverkennbarsten
Weise selbst auf Menschen ausübt, welche sich anscheinend nicht
nur von den ursprünglichsten , sondern auch von den höher ent
wickelten abergläubischen Vorstellungen emancipirt haben. Ansich
ten über Leben und Handeln, die jenen Zeiten ihre Entstehung ver
danken, wo man die vergötterten Vorfahren durch Selbstpeinigungen
zu versöhnen suchte, spielen auch heute noch eine grosse Rolle in
den ethischen Theorien vieler Leute , die vor Jahren schon der
Theologie der Vergangenheit den Rücken gekehrt haben und sich
vor jedem Einfluss von dieser Seite gesichert glauben.
In den Schriften eines Mannes , der das dogmatische Christen
thum ebenso gut wie den demselben vorausgehenden jüdischen
Cultus verwirft, wird der Lebenslauf eines Eroberers , welcher
Hunderttausenden das Leben kostete, mit einer Sympathie beschrie
ben, die sich nur jener Freude vergleichen lässt, mit welcher uns
die jüdischen Überlieferungen von der Vernichtung der Feinde im
Namen Gottes berichten. Nicht minder deutlich fühlt man die
Genugthuung heraus, die ihn erfüllt, wenn er die Ausübung despoti
scher Gewalt betrachtet und dabei lebhaft die gesunden Einrich
§. 15. Gutes und böses Handeln . 45
tungen eines Staates betont, in welchem der Wille der Sclaven und
Bürger dem Willen der Herren und Herrscher demüthig unterworfen
ist ein Gefühl, das uns abermals an jenes altorientalische Leben
erinnert, wovon uns die biblischen Erzählungen ein Bild vorführen.
Verbunden mit dieser Verehrung des Mächtigen - verbunden mit
dieser Rechtfertigung jeglicher Gewaltthat, die nöthig erscheinen
mag, um den Ehrgeiz des Starken zu befriedigen -- verbunden mit
diesem Herbeiwünschen einer Gesellschaftsform, in welcher die Ober
herrschaft der Wenigen unbeschränkt ist und die Tugend der Masse
im Gehorsam gegen Jene besteht - treffen wir ganz naturgemäss
einen Abscheu vor der ethischen Theorie, welche in der einen oder
andern Gestalt das grösste Glück als den höchsten Zweck alles
Handelns hinstellt : es kann uns nicht Wunder nehmen , wenn diese
Nützlichkeitsphilosophie mit dem verächtlichen Titel „ Schweine
philosophie " beehrt wird . Und hiezu kommt dann, recht bezeich
nend dafür , welches Verständniss die so titulirte Philosophie ge
funden hat, die Belehrung, dass nicht Glück, sondern Seligkeit der
Endzweck sein müsse.
Darin liegt offenbar ausgesprochen, dass Seligkeit nicht eine
Art von Glück sei , und diese Voraussetzung ruft sofort die Frage
hervor welcher Art von Gefühl ist sie denn ? Wenn sie überhaupt
ein Bewusstseinszustand ist , so ist sie nothwendigerweise einer von
den drei Zuständen : schmerzlich , indifferent oder angenehm. Lässt
sie den Besitzer auf dem Nullpunkt des Empfindens stehen ? Dann
lässt sie ihn genau in derselben Lage, als ob er das Gefühl gar
nicht gehabt hätte . Lässt sie ihn nicht auf dem Nullpunkt? Dann
muss sie ihn entweder unter oder über Null bringen.
Jede dieser Möglichkeiten lässt sich unter zwei Formen vor
stellen. Das, was mit dem Namen Seligkeit bezeichnet wird , kann
ein besonderer Bewusstseinszustand sein ――― einer unter den vielen
Zuständen, die es überhaupt gibt, und nach dieser Annahme haben
wir ihn als einen angenehmen , einen indifferenten oder einen schmerz
lichen Zustand zu erkennen. Nach einer andern Annahme wäre Selig
keit ein Wort, das sich nicht auf einen besondern Zustand des Be
wusstseins anwenden liesse, sondern vielmehr die Gesammtheit seiner
Zustände charakterisirte, und in diesem Falle müssen wir uns die
durchschnittliche Beschaffenheit dieser Summe als Etwas vorstellen ,
in welchem entweder das Angenehme oder in welchem das Unan
genehme vorwiegt oder endlich in welchem Freuden und Schmerzen
46 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III. ད
einander genau die Waage halten. Nehmen wir der Reihe nach
diese beiden denkbaren Anwendungen des Wortes vor.
„ Selig sind die Barmherzigen ; " „ Selig sind die Friedfertigen ; "
Selig ist, wer der Armen gedenkt. " Dies sind Aussprüche, welche
wir wohl getrost als Beispiele hinstellen können , aus denen sich
die allgemein angenommene Bedeutung von Seligkeit ergibt. Was
sollen wir nun von Jemand sagen , der für den Augenblick wenig
stens selig ist , indem er eine Handlung der Barmherzigkeit ausübt?
Ist sein geistiger Zustand ein freudiger ? Wenn ja , so wird damit
die Hypothese verlassen : Seligkeit ist dann eine besondere Form
von Glück. Ist der Zustand ein indifferenter oder ein schmerzlicher?
In diesem Falle entbehrt der selige Mensch so sehr des Mitleids ,
dass ihn, einen Andern von Schmerz oder der Furcht vor Schmerz
zu befreien, entweder vollständig ungerührt lässt oder ihm sogar
eine unangenehme Gemüthsbewegung verursacht. Wenn ferner Jemand,
der selig sein soll , indem er Frieden stiftet, aus dieser Handlung
keine innere Belohnung empfängt , so kann es ihn auch nicht im
Mindesten erregen, wenn er die Menschen einander Unrecht zufügen
sieht, oder es bereitet ihm sogar Freude, welche sich in Schmerz
verwandelt, wenn er das Unrecht verhütet. Und behauptet man
endlich, dass die Seligkeit eines Menschen, welcher " der Armen
„ gedenkt “ , nicht mit einem angenehmen Gefühle verbunden sei , so
wird damit nichts Anderes behauptet, als dass seine Rücksicht gegen
die Armen ihn ohne jedes Gefühl lässt oder ihm eine unangenehme
Empfindung bereitet. Wenn also Seligkeit ein besonderer Zustand
des Bewusstseins ist, welcher zeitweilig als Begleiterscheinung jeder
Art wohlthätiger Handlung eintritt, und es wird in Abrede gestellt ,
dass sie ein Vergnügen oder ein Element des Glückes sei , so liegt
darin das Bekenntniss, dass, wer so spricht, entweder über das
Wohlergehen Anderer sich nicht freue oder sogar Missfallen daran
habe.
Nach der andern Auffassung muss sich das Wort Seligkeit,
wie wir gesehen haben , auf die Gesammtheit der Gefühle be
ziehen, welche ein Mensch während seines Lebens hat, der sich mit
den durch dieses Wort mitbezeichneten Handlungen beschäftigt .
Auch hier bieten sich die drei Möglichkeiten dar : ein Überschuss
an Freuden , ein Überschuss an Schmerzen und Gleichgewicht zwi
schen beiden . Sind die angenehmen Zustände überwiegend , so kann
das selige Leben von jedem andern angenehmen Leben nur durch
§. 15. Gutes und böses Handeln . 47
§. 16 .
1
IV. Capitel.
§. 17.
Der geistige Fortschritt spiegelt sich in Nichts so getreu wie
der wie in der Entwickelung der Idee von der Causalität , da die
Entwickelung dieser Idee mit derjenigen so vieler anderen Ideen
innig verknüpft ist. Bevor der erste Schritt auf diesem Wege ge
than werden kann , müssen Denken und Sprache weit genug vor
geschritten sein, so dass Eigenschaften oder Attribute als solche,
abgelöst von den Dingen , gedacht werden können , was auf den niede
ren Stufen des menschlichen Verstandes nicht möglich ist. Sodann
erscheint auch die einfachste Vorstellung von Ursache, wie wir sie
gegenwärtig auffassen, erst dann erreichbar, wenn zahlreiche ähn
liche Fälle zu einer einfachen Verallgemeinerung zusammengeordnet
worden sind, und auf jeder höheren Entwickelungsstufe bildet ein
umfassenderer Begriff von Allgemeinheit die Vorbedingung für eine
tiefere Auffassung der Causalität. Da sich ferner im Geiste con
crete Ursachen der verschiedensten Art aufgehäuft haben müssen,
bevor die Vorstellung von Ursache an sich, abgelöst von jeder be
sondern Ursache, auftauchen kann, so ergibt sich daraus, dass auch
ein Fortschritt in der Abstractheit des Denkens nothwendig damit
verbunden ist. Und als Begleiterscheinung knüpft sich daran die
Erkenntniss von constanten Beziehungen zwischen den Erscheinungen,
woraus erst die Ideen von Gleichförmigkeit der Folge und der
Coexistenz, der Begriff eines Naturgesetzes entspringen kann. Alle
diese Fortschritte können sich aber wieder nur in demselben Ver
hältniss vollziehen, als die Wahrnehmung und die daraus sich er
gebenden Gedanken durch den Gebrauch von genauen Maassen immer
schärfer werden und so der Geist allmählich mit bestimmtem Zu
sammenhang, mit Wahrheit und Gewissheit vertraut wird. Und
erst wenn die erstarkende Wissenschaft aus immer weiteren Kreisen
der Erscheinungswelt zahllose Beispiele von vorausberechneten und
bestätigten quantitativen Beziehungen zusammengehäuft hat, wird
endlich die Causalität als nothwendig und universal begriffen. Wenn
denn nun auch alle diese Grundvorstellungen einander in ihrer Ent
4*
52 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV .
§. 18.
Die sittliche Richtung, welche mit Recht als bis heute fort
lebender Repräsentant der ältesten Schule betrachtet werden kann ,
ist diejenige, welche kein anderes Gesetz anerkennt als den ver
meintlichen Willen Gottes. Sie fängt mit dem Wilden an, welcher,
von der Furcht vor seinem Nebenmenschen abgesehen , kein an
deres einschränkendes Princip kennt als die Furcht vor dem Geist
eines Vorfahren und dessen Begriff von sittlicher Pflicht, soweit er
sich von seinem Begriff von socialer Klugheit unterscheidet, einzig
54 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV.
aus dieser Furcht entspringt. Hier sind die Sittenlehre und die
Religionslehre identisch sie haben sich noch nicht im Geringsten
von einander differencirt.
Diese primitive Form der Sittenlehre erleidet dann im wesent
lichen nur dadurch eine Veränderung , dass die vielen untergeord
neteren übernatürlichen Agentien allmählich aussterben und gleich
zeitig ein einzelnes universales übernatürliches Agens immer mehr
hervortritt, erhält sich aber unter solchen Formen mit grosser
Zähigkeit bis auf unsere Zeit herab. Sämmtliche dogmatisirten
Religionen, die der eigentlichen Kirchen so gut wie die der Secten ,
legen durchweg grossen Nachdruck auf den Glauben, dass gut und
böse einfach kraft des göttlichen Gebotes gut und böse sei. Und
diese stillschweigende Annahme ist aus den theologischen Systemen
in die Systeme der Ethik übergegangen, oder besser ausgedrückt,
die Moralsysteme haben auf ihren früheren Entwickelungsstufen ,
wo sie noch wenig von den gleichzeitigen theologischen Systemen
differencirt waren, an dieser Annahme ohne weiteres theilgenommen .
Dies ersehen wir sowohl aus den Werken der Stoiker wie auch aus
denen einiger christlichen Sittenlehrer. Unter den Neueren mag
als Beispiel JONATHAN DYMOND, ein Quäker aufgeführt werden, der
in seinen „ Essays on the Principles of Morality " „ die Autorität
„ der Gottheit für die einzige Grundlage des Pflichtgefühls und Seinen
n geoffenbarten Willen für den einzigen höchsten Richter über gut
"‚ oder böse " erklärt. Es sind aber nicht etwa nur die einer ver
hältnissmässig so unphilosophischen Secte angehörenden Schriftsteller,
welche diese Ansicht verfechten : dieselbe wird mit einer geringen
Abweichung auch von Solchen behauptet, die sich zu einem sonst
wesentlich andersartigen Glauben bekennen. Denn diese behaupten,
dass, wo kein Glauben an eine Gottheit vorhanden sei , auch jeder
sittliche Halt fehlen müsse, und das läuft auf nichts Anderes hinaus
als auf den Satz, dass die sittlichen Wahrheiten keinen Ursprung
hätten als im Willen Gottes, welcher, wenn man ihn nicht in den
heiligen Schriften geoffenbart sein lassen wolle, sich uns doch jeden
falls im Gewissen offenbare.
Diese Annahme wird jedoch, wie sich bei näherer Prüfung er
weist, sich selber verderblich. Wenn es keine andere Ableitung
für gut und böse gibt als diesen verkündigten oder innerlich er
fahrenen göttlichen Willen, dann können auch selbstverständlich da,
wo jede Kenntniss dieses göttlichen Willens fehlt, die jetzt für böse
§. 18. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 55
von der Causalität nicht ganz fehlt , so wird sie doch völlig
ignorirt.
§. 19.
fügungen nur insoweit berechtigt, als sie die Mittel zur Erreichung
dieses höchsten Zieles bilden , so können dieselben auch nur insofern
Autorität beanspruchen , als sie daraus erwächst, dass sie diesem
höchsten Ziele förderlich sind .Sind sie gut, so sind sie es nur,
weil die ursprüngliche Autorität hinter ihnen steht, und können sie
diese Bürgschaft nicht aufweisen , so sind sie schlecht. Mit andern
Worten, das Handeln kann nicht durch das Gesetz für gut oder
schlecht erklärt werden , sondern sein guter oder böser Charakter
wird in letzter Linie doch nur durch seine Wirkungen bestimmt,
jenachdem es seinem Wesen nach das Leben der Einzelnen fördert
oder nicht.
Noch haltloser erweisen sich die Ansichten von HOBBES und
seinen Anhängern, wenn wir dieselben nicht blos abstract, sondern
auch in concreter Anwendung prüfen. Einstimmig in der allgemeinen
Überzeugung, dass ohne genügende Sicherheit des Lebens, welche
den Menschen möglich macht, ohne Furcht ihren Geschäften nach
zugehen, weder Glück noch Wohlstand der Einzelnen wie der All
gemeinheit bestehen könne, halten sie daran fest, dass Maassregeln
zur Verhütung von Mord , Todschlag, Raub u. s. w. erforderlich
seien, und vertheidigen deshalb dieses oder jenes Strafsystem, wel
ches ihnen gerade die besten Abschreckungsmittel zu bieten scheint :
sie folgern also in Betreff der Übel so gut wie deren Heilung, dass
die und die Ursachen der Natur der Sache nach die und die Wir
kungen hervorbringen werden. Sie anerkennen es als eine a priori
erschliessbare Wahrheit, dass die Menschen keinen Erwerb bei Seite
legen werden, so lange sie nicht mit grosser Wahrscheinlichkeit
darauf rechnen können , die Vortheile davon zu geniessen ; dass in
Folge dessen, wo der Räuberei keine Schranken gesetzt sind oder
wo ein habsüchtiger Herrscher all die Einkünfte seiner Unterthanen
sich aneignet, die nicht sicher vor ihm verborgen werden, die Pro
duction kaum jemals den unmittelbaren Verbrauch übersteigen und
dass daher unmöglich eine solche Anhäufung von Capital stattfinden
wird, wie sie für die sociale Entwickelung und alle ihre Mittel zur
Beförderung der menschlichen Wohlfahrt erforderlich ist . In keinem
Falle jedoch bemerken sie selber, dass sie stillschweigend anerkennen,
wie das Bedürfniss nach gewissen Einschränkungen des Handelns
abzuleiten ist von den nothwendigen Bedingungen eines vollkom
menen Lebens im socialen Zustande, und dass sie somit die Autori
§. 19. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns. 59
tät des Gesetzes als eine abgeleitete und nicht als eine ursprüng
liche hinstellen.
Wenn etwa ein Anhänger dieser Schule einwenden wollte, dass
für gewisse moralische Verpflichtungen, welche als Cardinalpflichten
zu unterscheiden seien, zugestanden werden müsse , dass sie eine
tiefere Grundlage als die Gesetzgebung hätten, und dass es nicht
die Aufgabe der Gesetzgebung sei , diese erst zu schaffen, sondern
blos ihnen Nachdruck zu verleihen ―――― wenn sie, sage ich, dieses
zwar eingestehen, jedoch im Übrigen für die untergeordneten An
forderungen und Pflichten einen gesetzgeberischen Ursprung be
haupten, dann haben wir damit im Grunde die Theorie vor uns ,
dass zwar gewisse Arten des Handelns der Natur der Sache nach
bestimmte Ergebnisse hervorzubringen streben , dass aber andere
Arten des Handelns ihrem Wesen nach nicht solche Ergebnisse
hervorzubringen geeignet sind . Während sie einräumen müssen ,
dass jene Handlungen mit Naturnothwendigkeit gute oder schlechte
Folgen nach sich ziehen, kann es von diesen Handlungen geleugnet
werden, dass sie nothwendigerweise gute oder schlechte Folgen haben .
Nur auf Grund solcher Behauptungen lässt sich dann die Annahme
festhalten, dass Handlungen der letzten Classe durch das Gesetz
zu guten oder schlechten Handlungen gemacht werden. Denn wenn
solche Handlungen irgend eine innere Tendenz, wohlthätige oder
verderbliche Wirkungen hervorzubringen, besitzen , dann liefern diese
innern Tendenzen die Bürgschaft für die Berechtigung der gesetz
lichen Forderungen oder Verbote ; sagt man aber, diese Forderungen
oder Verbote machten sie zu guten oder bösen Handlungen, so be
hauptet man damit , dass sie keine innere Tendenz zur Hervor
bringung wohlthätiger oder verderblicher Folgen hätten.
Hier lernen wir also abermals eine Theorie kennen, welche ein
mangelhaftes Bewusstsein von der Causalität verräth. Ein hinläng
lich fest eingewurzeltes Bewusstsein von der Causalität erzeugt den
unerschütterlichen Glauben, dass von den wichtigsten bis herab zu
den gleichgültigsten Handlungen der Menschen in der Gesellschaft
Folgen ausgehen müssen, welche, ganz abgesehen von jeder gesetz
lichen Einwirkung, in höherem oder geringerem Grade zum Wohl
oder zum Übel der Menschen ausschlagen müssen . Wenn der Mord
für die Gesellschaft verderblich ist, mag er von den Gesetzen verboten
sein oder nicht - wenn die gewaltsame Aneignung des von dem
60 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV.
§. 20.
Ebenso verhält es sich mit den Anhängern der reinen Intuitions
lehre, welche behaupten, das sittliche Gefühl sei dem Menschen im
ursprünglichen Sinne angeboren - Denker, deren Ansicht im Grunde
die ist, dass die Menschen von Gott mit sittlichen Fähigkeiten be
gabt worden seien, dass diese also keineswegs aus ererbten Ab
änderungen hervorgegangen wären , welche durch angehäufte Er
fahrungen verursacht würden .
Wer erklärt, dass wir kraft eines auf übernatürlichem Wege
erhaltenen Gewissens wüssten , welche Dinge gut und welche ande
ren böse seien , wer also damit stillschweigend annimmt, dass wir
auf keine andere Weise das Gute vom Bösen zu unterscheiden ver
möchten , der verneint zugleich stillschweigend jede natürliche Be
ziehung zwischen Handlungen und deren Folgen. Denn wenn es
überhaupt solche Beziehungen gibt, so müssen wir durch Induction
oder durch Deduction oder durch Beides feststellen können , welcher
Art diese sind. Und wenn zugegeben wird, dass eben wegen dieser
natürlichen Beziehungen Glück das Ergebniss dieser Art von Han
deln ist, welche wir deshalb billigen, während Unglück das Ergeb
niss einer andern Art von Handeln ist , welche wir deswegen ver
dammen, dann ist auch zugegeben, dass die Gutheit oder Schlechtig
keit der Handlungen bestimmbar ist und in letzter Linie auch
§. 21. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 61
bestimmt werden muss, je nach der guten oder schlimmen Art der
Wirkungen, welche daraus entspringen, was ganz der Hypothese
zuwiderläuft.
Es könnte nun freilich eingewendet werden , dass die Wirkungen
von dieser Schule absichtlich ignorirt werden, indem sie lehre, dass
ein Verhalten , welches vermöge der sittlichen Intuition als gut er
kannt worden , ohne Rücksicht auf die Folgen beobachtet werden
müsse. Bei näherer Prüfung zeigt sich jedoch, dass die ausser Acht
zu lassenden Folgen besondere und nicht allgemeine Folgen sind .
Wenn beispielsweise gesagt wird , dass Etwas, was Jemand verloren
hat, ohne Rücksicht auf böse Folgen für den Finder zurückgegeben
werden müsse , welcher möglicherweise dadurch sich selbst des Mit
tels beraubt, das ihn vor dem Hungertode hätte retten können , so
ist doch offenbar nur gemeint, dass getreu dem Princip nur die
unmittelbaren und speciellen Folgen ausser Acht zu lassen seien ,
nicht aber die mittelbaren und entfernteren Folgen . Woraus hervor
geht, dass die Theorie , obschon sie eine offene Anerkennung der
Causalität von sich weist, doch eine unausgesprochene Anerkennung
derselben enthält.
Und damit ist auch die Eigenthümlichkeit derselben gekenn
zeichnet, auf welche ich die Aufmerksamkeit lenken wollte. Der
Begriff der natürlichen Causalität ist so unvollkommen entwickelt ,
dass nur ganz undeutlich die Thatsache in's Bewusstsein tritt, dass
im ganzen Gebiet des menschlichen Handelns nothwendige Beziehungen
zwischen Ursachen und Wirkungen herrschen und dass von diesen
in letzter Linie sämmtliche Sittengesetze abzuleiten sind, wie be
stimmt sie auch zunächst von sittlichen Intuitionen abgeleitet wer
den mögen .
§. 21 .
§. 22.
§. 23.
Hiemit dürfte die am Anfang dieses Capitels gemachte Be
merkung gerechtfertigt sein , dass abgesehen von dem sie unter
scheidenden Charakter und ihren besondern Tendenzen alle bekann
teren Methoden der Ethik einen gemeinsamen allgemeinen Fehler
haben : sie vernachlässigen den letzten causalen Zusammenhang.
§. 23. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 67
Natürlich meine ich nicht, dass sie die natürlichen Folgen der
Handlungen vollkommen ausser Acht lassen , sondern nur, dass sie
dieselben blos gelegentlich anerkennen . Sie bilden es nicht zu einer
eigentlichen Methode aus, die nothwendigen Beziehungen zwischen
Ursachen und Wirkungen festzustellen und von bestimmt formulir
ten Gesetzen derselben die Regeln des Handelns abzuleiten .
Jede Wissenschaft beginnt mit der Anhäufung von Beobach
tungen und verallgemeinert dieselben dann sofort auf empirischem
Wege ; allein erst dann, wenn sie das Stadium erreicht hat, auf
welchem ihre empirischen Verallgemeinerungen in eine rationelle
Verallgemeinerung zusammengefasst werden, wird sie zur entwickel
ten Wissenschaft. Die Astronomie hat bereits diese einzelnen Stadien
durchgemacht : zuerst Ansammlung von Thatsachen, dann Induc
tionen aus denselben und schliesslich deductive Erklärungen der
selben als Ergebnisse aus einem allgemeinen Princip der Wechsel
wirkung zwischen den Massen im Raume. Untersuchungen über
die Structur und genaue Aufzeichnungen der Schichtensysteme nebst
Gruppirung und Vergleichung der Resultate haben allmählich dazu
geführt, dass man die verschiedenen Arten der geologischen Ver
änderungen den Thätigkeiten des Feuers und des Wassers zuschrei
ben konnte, und es wird nun stillschweigend angenommen , dass die
Geologie nur in dem Maasse zu einer eigentlichen Wissenschaft
wird, als solche Veränderungen sich als Ergebnisse aus jenen Natur
vorgängen erklären lassen, die bei der Abkühlung und Erstarrung
der Erde und in Folge der Sonnenwärme und der Einwirkung des
Mondes auf das Meer aufgetreten sind. Die Wissenschaft vom Leben
hat eine ähnliche Reihe von Stufen durchmessen und schreitet auf
diesem Wege noch weiter vor : die Entwickelung der organischen
Formen im Allgemeinen wird gegenwärtig immer fester an die
physikalischen Vorgänge angeknüpft, welche von Anfang an in Wirk
samkeit waren, und die Lebenserscheinungen , die jeder einzelne
Organismus darbietet, werden immer klarer als zusammenhängende
Gruppen von Veränderungen in den einzelnen Theilen des Körpers
aufgefasst, welche alle aus Stoffen bestehen, die durch gewisse Kräfte
beeinflusst werden und selbst andere Kräfte auslösen. So verhält
es sich auch mit dem Geiste. Die frühesten Vorstellungen über
Denken und Fühlen liessen so etwas wie eine Ursache ganz ausser
Acht, abgesehen etwa von der Anerkennung jener Folgen von Ge
wohnheiten, welche sich von selbst der Aufmerksamkeit der Menschen
5*
68 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV.
§. 24.
Wir müssen uns also hier zunächst in die Betrachtung der
sittlichen Erscheinungen als Erscheinungen der Entwickelung ver
tiefen, und zwar sehen wir uns hiezu genöthigt, weil wir fanden,
dass dieselben nur einen Theil des Aggregats von Erscheinungen
bilden, welche die Entwickelung hervorgebracht hat. Wenn das
-
ganze sichtbare Universum sich entwickelt hat — wenn unser Sonnen
system als Ganzes, die Erde als ein Theil desselben , das Leben
im Allgemeinen , welches die Erde trägt, wie auch das Leben jedes
individuellen Organismus - wenn die bei allen Geschöpfen bis
hinauf zu den höchsten sich kundgebenden geistigen Erscheinungen
wie nicht minder diejenigen, welche die Aggregate dieser höchsten
Geschöpfe darbieten - wenn sie insgesammt den Gesetzen der Ent
wickelung unterworfen sind, dann folgt nothwendig daraus, dass
jene Erscheinungen des Handelns dieser höchsten Geschöpfe , mit
welchen sich die Ethik beschäftigt, gleichfalls diesen Gesetzen unter
worfen sind.
Die vorhergehenden Bände haben uns schon darauf vorbereitet,
die sittlichen Erscheinungen von diesem Standpunkt aus zu behandeln.
Indem wir die dort erreichten Schlüsse verwerthen , wollen wir nun
zusehen, welche Grundlagen sie uns darbieten. Demgemäss haben
wir der Reihe nach zu besprechen den physikalischen, den biologi
schen, den psychologischen und den sociologischen Standpunkt.
V. Capitel.
§. 25 .
Jeden Augenblick springen wir von den unmittelbar wahr
genommenen Handlungen der Menschen zu den ihnen zu Grunde
liegenden Motiven über und werden dadurch veranlasst, diese Hand
lungen nicht durch Bezeichnungen körperlicher , sondern geistiger
Vorgänge zu beschreiben. Gedanken und Gefühle sind es, die wir
im Sinne haben , wenn wir mit Lob oder Tadel von den Thaten
eines Menschen sprechen, und nicht etwa jene äussern Kundgebungen ,
welche die Gedanken und Gefühle offenbaren . So kommt es, dass
wir ganz die Wahrheit vergessen, dass das Handeln , wie es sich
thatsächlich unserer Erfahrung darbietet, aus Nichts als aus durch
Gefühl, Gesicht und Gehör erkannten Veränderungen besteht .
Diese Gewohnheit, nur die psychologische Seite des Handelns
in's Auge zu fassen , ist so fest eingewurzelt, dass es einer gewissen
Anstrengung bedarf, um sich nur auf die physische Seite zu be
schränken. So unleugbar es ist, dass das Benehmen eines Andern
gegen uns sich aus Bewegungen seines Körpers und seiner Glied
maassen, seiner Gesichtsmuskeln und seines Stimmapparates zu
sammensetzt, so erscheint es uns doch fast paradox, zu sagen , dies
seien die einzigen Elemente des Handelns , welche wir in Wirklich
keit erkennen , während gerade diejenigen Elemente , welche wir für
die ausschliesslichen Bestandtheile desselben zu halten gewohnt sind ,
nicht erkannt, sondern erschlossen werden.
Hier haben wir jedoch vorläufig ganz von den erschlossenen
Elementen im Handeln abzusehen und uns nur mit den wahrgenom
menen Elementen zu beschäftigen - wir müssen es auf seine ein
zelnen Züge prüfen , indem wir es blos als eine Gruppe von com
binirten Bewegungen auffassen. Vom Standpunkt der Entwickelungs
lehre ausgehend und uns erinnernd , dass, wenn sich ein Aggregat
entwickelt, nicht allein der dasselbe zusammensetzende Stoff, son
dern auch die Bewegung dieses Stoffes vom Zustand einer unbe
stimmten, unzusammenhängenden Gleichartigkeit in den Zustand
§. 26. Der physikalische Standpunkt . 71
§. 26.
§ . 27.
Unbestimmtheit begleitet die Zusammenhangslosigkeit in einem
Handeln, das wenig entwickelt ist, und in der aufsteigenden Stufen
reihe des sich höher entwickelnden Handelns finden wir auch eine
immer mehr sich steigernde Bestimmtheit in der Coordinirung der
dasselbe ausmachenden Bewegungen.
Die Formveränderungen , welche wir an den niedrigsten Pro
tozoen beobachten, sind ausserordentlich unbestimmt, gestatten keine
genaue Beschreibung ; und wenn auch bei höheren Ordnungen dieser
Gruppe die Bewegungen der einzelnen Theile mehr ausgeprägt sind,
so ist doch die Bewegung des Ganzen in Hinsicht auf seine Rich
tung unbestimmt : es findet keine Anpassung derselben an diesen
oder jenen Punkt im Raume statt. Bei den einen Coelenteraten ,
wie z. B. bei einem Polypen , sehen wir die Theile sich in einer
Weise bewegen, die jeder Genauigkeit entbehrt, und auch bei den
frei beweglichen Formen , wie bei einer Meduse, wird die eingeschla
gene Richtung im übrigen vom Zufall bedingt und charakterisirt
sich nur dadurch , dass sie das Geschöpf gegen das Licht hin führt,
wo Unterschiede von Licht und Dunkelheit zu bemerken sind. Unter
74 Die Thatsachen der Ethik. Cap. V.
den gegliederten Thieren zeigt uns der Gegensatz zwischen der Bahn
eines Wurmes, der sich aufs gerathewohl bald hier-, bald dorthin
wendet , und der bestimmten Richtung, welche eine Biene einschlägt,
wenn sie von Blume zu Blume oder zurück zum Stock fliegt, die
selbe Erscheinung, und die Handlungen der Biene beim Aufbau ihrer
Zellen und der Fütterung ihrer Larven lassen ferner grosse Genauig
keit in den gleichzeitigen wie in den auf einander folgenden Be
wegungen erkennen. Wenn auch die Bewegungen eines Fisches bei
der Verfolgung seiner Beute eine ziemliche Bestimmtheit verrathen,
so sind sie doch von einfacher Art und stehen in dieser Hinsicht
im Gegensatz zu den zahlreichen bestimmten Bewegungen des Kopfes
und der Gliedmaassen , welche ein fleischfressendes Thier ausführt,
während es auf der Lauer liegt, herabspringt und einen Pflanzen
fresser überfällt ; und überdies zeigt uns der Fisch keine jener be
stimmt angepassten Gruppen von Bewegungen , welche beim Säuge
thier der Aufziehung der Jungen gewidmet sind .
Eine noch viel grössere Bestimmtheit, wenn auch vielleicht
nicht in den combinirten Bewegungen, welche einzelne Handlungen
darstellen , so doch jedenfalls in den Anpassungen zahlreicher com
binirter Handlungen an die verschiedensten Zwecke, zeichnet das
menschliche Handeln selbst auf seinen niedrigsten Stufen aus . Bei
der Verfertigung und dem Gebrauch der Waffen und bei den Kriegs
manövern der Wilden erscheinen zahlreiche Bewegungen, jede ein
zelne genau abgemessen in ihren Anpassungen an nächstliegende
Zwecke , in entsprechender Anordnung zur Erreichung entfernter
Zwecke mit einer Genauigkeit, der sich Nichts bei niedrigern Thieren
vergleichen lässt. Das Leben der civilisirten Menschen weist diese
Eigenthümlichkeit in noch viel auffälligerem Maasse auf. Jede in
dustrielle Geschicklichkeit liefert Beispiele für die Folgen von Be
wegungen, welche sämmtlich bestimmt und in gleichzeitiger und
successiver Reihenfolge bestimmt angeordnet sind . Geschäftsthätig
keiten jeder Art charakterisiren sich durch genaue Beziehungen
zwischen den Gruppen von Bewegungen, welche die einzelnen Hand
lungen darstellen, und den damit erreichten Zwecken, der Zeit, dem
Raume und der Quantität nach . Ausserdem zeigt uns die alltäg
liche Beschäftigung des Einzelnen in ihren verschiedenen Perioden
und Graden der Thätigkeit, der Ruhe, der Abspannung eine ab
gemessene Anordnung, wie wir sie nirgends in den Verrichtungen
des herumwandernden Wilden erkennen, welcher nicht einmal für
§. 27. Der physikalische Standpunkt . 75
§. 28.
Dass durch die ganze Stufenleiter des Lebens hinauf gleich
zeitig mit der Zunahme der Ungleichartigkeit von Structur und Func
tionen auch eine Zunahme in der Ungleichartigkeit des Handelns
stattfindet eine Steigerung in der Mannichfaltigkeit der einfachen
und combinirten Gruppen äusserer Bewegungen ――――――― braucht nicht
im Einzelnen nachgewiesen zu werden . Ebenso wenig bedarf es
eines Beweises dafür, dass diese Ungleichartigkeit , die schon in den
das Handeln des uncivilisirten Menschen zusammensetzenden Bewegun
gen verhältnissmässig bedeutend war, noch erheblicher bei denen
hervortritt, welche der civilisirte Mensch ausführt. Wir können
deshalb sofort zu jenen ferneren Abstufungen des gleichen Gegen
satzes übergehen, der sich uns darbietet, wenn wir vom Handeln
des Unsittlichen zu dem des Sittlichen aufsteigen.
Es werden nun freilich die meisten Leser wenig geneigt sein , {
diesen Gegensatz auch hier anzuerkennen , und vielmehr ein sitt
liches Leben für identisch halten mit einem solchen , das in seiner
Thätigkeit nur geringe Mannichfaltigkeit zeigt. Das beruht aber
I
auf einem Fehler in der gewöhnlichen Vorstellung von Sittlichkeit.
1
Jene verhältnissmässige Gleichförmigkeit in dem Aggregat der Be 1
wegungen, welche nach allgemeiner Auffassung mit der Sittlichkeit
verbunden ist, ist nicht allein nicht sittlich , sondern geradezu das
Gegentheil davon. Je besser ein Mensch jede Anforderung des
Lebens erfüllt, sowohl was seinen eigenen Körper und Geist, als
was Körper und Geist der von ihm Abhängigen wie auch seiner
Mitbürger betrifft, desto mannichfaltiger wird seine Thätigkeit. Je
vollkommener er alle diese Pflichten erfüllt, desto ungleichartiger
müssen sich seine Bewegungen gestalten.
Wer blos seine persönlichen Bedürfnisse befriedigt, hat unter
sonst gleichen Umständen weniger mannichfaltige Processe durch
zumachen, als wer ausserdem für die Bedürfnisse von Weib und
Kind sorgt. Angenommen , es lägen keine anderen Unterschiede
vor, so würde schon die Hinzufügung von Familienbeziehungen noth
§. 29. Der physikalische Standpunkt . 77
§. 29.
§. 30.
Selbst einem Leser der vorhergehenden Bände , wie viel mehr
noch dem damit unbekannten , wird es sonderbar, ja beinah ab
geschmackt erscheinen, das sittliche Handeln derartig in physikali
§. 30. Der physikalische Standpunkt . 81
§. 31 .
Der Satz , dass derjenige ein ideal sittlicher Mensch ist, dessen
bewegliches Gleichgewicht vollkommen ist oder sich der Vollkommen
heit ausserordentlich nähert, erhält , wenn wir ihn in physiologische
Sprechweise übersetzen , die Form, dass in jenem die Functionen
jeder Art in gehöriger Weise erfüllt werden. Jede Function hat
irgend eine directe oder indirecte Beziehung zu den Bedürfnissen
des Lebens schon die Thatsache ihrer Existenz als eines Ergebnisses
der Entwickelung ist an sich ein Beweis, dass sie unmittelbar oder
auf Umwegen durch die Anpassung innerer an äussere Thätigkeiten
hervorgebracht worden ist. Demzufolge ist also Nicht-Ausführung
derselben in normalem Maassstabe nichts Anderes als Nicht- Befriedi
gung eines Erfordernisses zu vollkommenem Leben. Finden wir
irgendwo eine Function mangelhaft verrichtet, so muss der Organis
mus irgend eine durch diese Mangelhaftigkeit verursachte Schädi
gung erlitten haben . Fand die Verrichtung im Übermaass statt,
so hatte das eine Rückwirkung auf die andern Functionen zur Folge,
die in gewissem Grade ihre Wirksamkeit verringerte .
Es ist allerdings richtig, dass bei voller Lebenskraft, so lange
die gesammte Bewegungsgrösse der organischen Thätigkeiten eine
bedeutende ist, die durch eine mässige Ausschreitung oder Mangel
haftigkeit einer Function hervorgebrachte Unordnung bald wieder
――――
verschwindet das Gleichgewicht stellt sich wieder her . Es ist
aber nicht minder richtig , dass Übermaass oder Mangel stets irgend
eine Unordnung zur Folge hat, dass diese jede körperliche und
geistige Function beeinflusst und dass sie eine Herabsetzung des
Lebens für den Augenblick wenigstens bedingt.
Abgesehen davon jedoch , dass jede ungehörige oder ungenügende
Ausführung einer Function ein zeitweiliges Zurückbleiben hinter dem
vollkommenen Leben darstellt, verursacht sie auch als letztes Re
sultat eine Abnahme in der Dauer des Lebens. Wird irgend eine
Function gewohnheitsgemäss in stärkerem oder geringerem Maasse
§. 32. Der biologische Standpunkt . 83
§. 32.
Dies liefert uns einen Prüfstein für die Handlungen der Menschen .
Wir dürfen in jedem Falle die Frage stellen : ist die Handlung ge
eignet, das vollkommene Leben in der Gegenwart aufrecht zu er
halten , und wirkt sie auf Verlängerung des Lebens bis zu seiner
äussersten Grenze hin ? Jenachdem die Antwort auf jede dieser
Fragen bejahend oder verneinend ausfällt, wird die betreffende Hand
lung damit von selbst als gut oder böse bezeichnet, wenigstens was
ihre unmittelbaren Folgen betrifft, gleichgültig, welche Tragweite
sie für die Zukunft haben mag.
Der scheinbare Widerspruch, der in dieser Behauptung liegt ,
erklärt sich aus der Neigung, welcher wir uns so schwer zu ent
ziehen vermögen , eine Folgerung, die eine ideale Menschheit voraus
setzt, nach ihrer Anwendbarkeit auf die Menschheit der Gegenwart
zu beurtheilen. Die im Obigen ausgesprochene Folgerung bezieht
sich auf jenes höchste Handeln, mit welchem, wie wir gesehen haben,
die Entwickelung des Handelns ihr letztes Ziel erreicht ―――― jenes
Handeln , in welchem die Herstellung aller Anpassungen von Thätig
keiten an Zwecke, die dem vollkommenen individuellen Leben dienen ,
und zugleich aller jener, die der Erhaltung der Nachkommenschaft
und der Vorbereitung derselben für das reife Alter gewidmet sind,
nicht allein mit der Herstellung gleicher Anpassungen durch Andere
zusammengeht, sondern diese sogar fördert. Und diese Auffassung
des Handelns in seiner höchsten Form bedingt die Vorstellung von
einem Wesen, das ein solches Handeln als spontane Äusserung seiner
Natur zeigt, als Ergebniss seiner normalen Thätigkeit. Fassen wir
den Gegenstand so auf, so wird es einleuchtend, dass unter solchen.
Bedingungen jedes hinter der Norm Zurückbleiben so gut wie jedes
Übermaass einer Function eine Abweichung vom besten oder vom
vollkommenen sittlichen Handeln ist.
§. 33.
Bisher haben wir bei der Betrachtung des Handelns vom biolo
gischen Gesichtspunkt aus die dasselbe zusammensetzenden Hand
lungen nur von ihrer physiologischen Seite in's Auge gefasst , ihre
psychologische Seite dagegen gar nicht berücksichtigt. Wir zogen
die körperlichen Veränderungen in Betracht und übersahen die sie
begleitenden geistigen Veränderungen. Und auf den ersten Blick
scheint es nöthig, dies hier zu thun, da, wenn man sich von Be
wusstseinszuständen Rechenschaft geben will , dies scheinbar eine
§. 33. Der biologische Standpunkt . 85
§. 34.
noch mehr verstärkt wird . Hier erreichen wir nun das Ergebniss ,
das uns besonders von Wichtigkeit ist. Sobald nämlich als Begleit
erscheinung eine Empfindung hinzutritt, kann diese nicht etwa un
angenehm sein , also von der Berührung abschrecken , sondern sie
muss angenehm sein , zur Fortdauer derselben anregen . Die an
genehme Empfindung muss selbst das Reizmittel für die Zusammen
ziehung bilden, durch welche die angenehme Empfindung wieder in
Dauer erhalten und gesteigert wird , oder sie muss wenigstens so
mit dem Reiz verknüpft sein , dass beide gleichzeitig zunehmen . Und
diese Beziehung, die wir im Falle einer Hauptfunction direct sich
herstellen sahen, muss für alle andern Functionen auf indirectem
Wege gleichfalls zu Stande kommen ; denn in jedem einzelnen Falle
bedingt Nichtherstellung derselben eine insoweit für die Existenz
bedingungen ungeeignete Beschaffenheit.
Auf zwei verschiedenen Wegen also liess sich nachweisen , dass
eine ursprüngliche Verbindung zwischen freudebringenden Handlungen
und Fortdauer oder Steigerung des Lebens und demgemäss auch
zwischen schmerzbringenden Handlungen und Abnahme oder Verlust
des Lebens besteht. Auf der einen Seite fanden wir, indem wir uns
an die niedrigsten Lebewesen hielten, dass die vortheilhaften Hand
lungen und die Handlungen , welche auszuüben eine Neigung vor
handen ist, ursprünglich nur die beiden Seiten einer und derselben
Erscheinung bilden und sich nicht ohne verderbliche Folgen von
einander trennen lassen würden . Fassen wir anderseits hoch ent
wickelte Geschöpfe in ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit in's Auge,
so sehen wir, dass jedes Individuum und jede Species Tag für Tag
nur dadurch sich am Leben erhalten , dass sie dem Angenehmen
nachstreben und das Unangenehme vermeiden .
Nachdem wir uns so die Thatsachen von einer neuen Seite
nahe gebracht, führt uns die Analyse nur in etwas veränderter Ge
stalt auf dieselbe letzte Wahrheit hinaus, welche in einem vorher
gehenden Capitel gleichfalls durch Analyse gefunden worden war.
Dort stellten wir fest, dass es ebenso unmöglich ist, sich sittliche
Vorstellungen zu bilden , in denen das Bewusstsein von Freude irgend
welcher Art , zu irgend einer Zeit von irgend einem Wesen erfahren,
völlig fehlt , als es unmöglich ist , sich eine Vorstellung von einem
Ding zu bilden, in welcher das Bewusstsein vom Raume nicht ent
halten ist . Und hier sehen wir, dass diese Denknothwendigkeit
geradezu aus der Natur der empfindenden Existenz entspringt.
§. 35. Der biologische Standpunkt . 91
§. 35.
1
§. 36. Der biologische Standpunkt . 93
§. 36.
Ohne Zweifel jedoch wird auch nach all dem bereits Gesagten
abermals dieselbe Schwierigkeit erhoben werden --- man wird sich
auf die Fälle von unheilbringenden Freuden und wohlthätigen Leiden
.
berufen. Der Trinker , der Spieler, der Dieb, welche alle bestimm
ten Genüssen nachgehen , werden zum Beweis dafür aufgezählt , dass
die Verfolgung von Genüssen irre leitet , während der sich selbst
aufopfernde Verwandte, der Arbeiter, welcher trotz seiner Müdig
keit bei der Arbeit beharrt, der rechtschaffene Mann , welcher sich
einschränkt, um seinen Unterhalt mit Ehren zu bestreiten , als Be
lege dafür gelten sollen, dass unangenehme Bewusstseinszustände
Handlungen begleiten , die in Wirklichkeit segensreich sind . Indem
ich mich aber hier begnüge, auf die im § . 20 dargelegte Thatsache
hinzuweisen, dass dieser Einwand nichts gegen die Leitung durch
Freuden und Leiden im Ganzen beweisen kann, weil er eben nur
wieder zeigt, dass specielle und nächstliegende Freuden und Leiden
mit Rücksicht auf entfernte und allgemeiner sich ausbreitende Freu
den und Leiden ausser Acht gelassen werden müssen, und indem V
ich einräume, dass dem Menschengeschlecht in seiner gegenwärtigen
Beschaffenheit die Leitung durch nächstliegende Freuden und Leiden
in einer grossen Menge von Fällen nicht zum Vortheil ausschlägt,
wende ich mich nun dazu , die Erklärung darzulegen , welche die
Biologie für diese Anomalien als für nicht nothwendige und dauernde ,
sondern nur zufällige und zeitweilige Erscheinungen liefert.
Schon wo ich zu zeigen versuchte, dass bei sämmtlichen niedri
geren Lebewesen durchaus nur Freuden und Leiden das Handeln ,
vermöge dessen das Leben sich entwickelt und forterhalten hat, ge
leitet haben, wies ich darauf hin, dass, weil ja die Existenzbedin
gungen einer jeden Art von Zeit zu Zeit eine Veränderung erfuhren ,
in Folge dessen auch von Zeit zu Zeit theilweise Missanpassungen
der Gefühle an die Erfordernisse entstanden sein müssen , welche
entsprechende Neuanpassungen nothwendig machten . Da nun diese
allgemeine Ursache der Störung auf alle empfindenden Wesen ein
wirkt, so hat sie auch die menschlichen Wesen und zwar in ausser
gewöhnlich scharf ausgeprägter, andauernder und verwickelter Weise
94 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.
§. 37.
Die Biologie hat noch ein ferneres Urtheil über die Beziehun
gen von Freuden und Leiden zum Wohlergehen des Menschen zu
fällen. Abgesehen von den Verbindungen zwischen für den Organis
mus vortheilhaften Thätigkeiten und den die Ausübung derselben
begleitenden Freuden und zwischen für den Organismus schädlichen
Thätigkeiten und den ein Aufgeben derselben veranlassenden Schmer
zen besteht noch eine Verbindung zwischen Freude im Allgemeinen
und physiologischer Steigerung und zwischen Schmerz im Allgemeinen
und physiologischer Gedrücktheit. Jede Freude steigert die Lebens
kraft, jedes Leiden vermindert dieselbe . Jede Freude lässt die Fluth
96 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI .
des Lebens höher schlagen, jedes Leiden drückt dieselbe tiefer hinab.
Fassen wir zunächst die Leiden in's Auge.
Unter den allgemeinen Nachtheilen, welche aus dem Erleiden
von Schmerzen hervorgehen , verstehe ich nicht diejenigen, welche
die Folge der sich ausbreitenden Wirkungen localer organischer Be
schädigungen sind, wie sie z. B. durch ein Aneurysma veranlasst
werden , das nach übermässigen Anstrengungen trotz der davor
warnenden Empfindungen auftrat, oder wie sie als Folge von Krampf
adern sich zeigen , die man sich durch fortwährende Nichtbeachtung
der Müdigkeit in den Beinen zugezogen hat , oder wie sie durch
Atrophie in gewissen Muskeln bedingt werden , welche andauernd
angestrengt wurden , obgleich sie schon bedeutend erschöpft waren ;
vielmehr habe ich dabei diejenigen allgemeinen Nachtheile im Auge,
welche eine Störung der ganzen Constitution nach sich zieht, wie
sie jeder Schmerz unmittelbar bedingt . Diese treten sehr augen
fällig hervor, wenn die Schmerzen lebhaft sind, mögen sie dem Ge
biete der Empfindungen oder der Gemüthsbewegungen angehören .
Lang anhaltende Qualen des Körpers führen den Tod durch
.
Erschöpfung herbei . Noch häufiger wird dadurch, dass die Thätig
keit des Herzens eine Zeitlang still steht, jener vorübergehende Tod
veranlasst, den wir Ohnmacht nennen . Bei andern Gelegenheiten
tritt in Folge davon Erbrechen auf. Und wo sich nicht so offen
bare Störungen zeigen, da können wir doch immer in der Blässe
und dem Zittern die allgemeine Bedrückung erkennen . Abgesehen
von dem thatsächlichen Verlust des Lebens , der bei einem intensiver
Kälte ausgesetzten Menschen eintritt, beobachten wir weniger aus
geprägte Herabsetzungen der Lebenskraft in Folge minder heftiger
Kälte ―――――――― zeitweilige Entkräftung tritt nach allzu langem Eintauchen
in eiskaltes Wasser ein, allgemeine Schwäche und Siechthum ist
die Folge von ungenügender Bekleidung. Ähnliche Wirkungen zeigen
sich beim Ertragen grosser Hitze : man beobachtet Erschlaffung,
die sich gelegentlich bis zur Erschöpfung steigert ; bei schwachen
Personen kommt es zu Ohnmachten mit darauffolgender längerer
Kraftlosigkeit, und in den schwülen tropischen Dschungeln zieht
sich der Europäer Fieber zu , die, wenn sie nicht das Leben ge
fährden, so doch oft lebenslängliche Leistungsunfähigkeit zur Folge
haben . Bedenken wir ferner die Übel, die nach gewaltsamen An
strengungen auftreten , welche ungeachtet schmerzhafter Gefühle
fortgesetzt wurden : entweder solche Übermüdung, dass der Appetit
§. 37. Der biologische Standpunkt. 97
ganz verloren geht oder die Verdauung still steht, wenn Nahrung
aufgenommen wird, was also eine Unterbrechung der den Wieder
ersatz besorgenden Vorgänge bedingt , gerade wo sie am nöthigsten
wären, oder gar eine Herabsetzung der Herzthätigkeit, die hier eine
Zeit lang anhält und dort , wo die Überschreitung des richtigen
Maasses Tag für Tag wiederholt wurde, auf die Dauer sich ein
nistet, so dass der ganze Rest des Lebens auf ein niedrigeres Niveau
herabgedrückt wird .
Nicht minder deutlich sichtbar sind die niederschlagenden Wir
kungen von Leiden des Gemüthslebens. Manchmal kommen Todes
fälle in Folge von Kummer vor , oder der geistige Schmerz, den
ein Unglücksfall verursachte , zeigt seine Wirkung ähnlich wie ein
körperliches Leiden in einer Ohnmacht. Häufig stellt sich nach
einer schlimmen Nachricht Krankheit ein und anhaltende Sorge er
zeugt Verlust des Appetits , beständige Verdauungsstörungen und
Verminderung der Widerstandskraft. Übermässige Furcht, mag sie
durch physische oder sittliche Gefahr hervorgerufen sein, hemmt
auf gleiche Weise für einige Zeit die Ernährungsvorgänge und ver
anlasst bei schwangeren Frauen nicht selten Fehlgeburt, während
in weniger extremen Fällen der kalte Schweiss und die zitternden
Hände eine allgemeine Herabsetzung der Lebensthätigkeiten ver
rathen, welche theilweises Unvermögen des Körpers oder des Geistes
oder beider nach sich zieht. Welch' eingreifende Störungen ein
emotioneller Schmerz in den Thätigkeiten der Eingeweide hervor
rufen kann, zeigt uns die Thatsache, dass unaufhörliche Gemüths
qualen nicht selten Gelbsucht im Gefolge haben . Und hier ist es
sogar zufällig möglich gewesen , die Beziehung zwischen Ursache
und Wirkung durch ein directes Experiment nachzuweisen . Als
CLAUDE BERNARD bei einem Hunde die Einrichtung getroffen , dass
der Gallengang sein Secret nach aussen ergoss , bemerkte er , dass ,
so lange er den Hund liebkoste und ihn in fröhlicher Stimmung er
hielt, die Secretion in normaler Stärke anhielt ; wenn er aber zornig
Sprach und ihn eine Zeit lang so behandelte, dass er niedergeschla
gen wurde, dann hörte das Fliessen der Galle auf.
Lässt sich auch dagegen einwenden , dass schlimme Folgen der
genannten Art nur dann aufzutreten pflegen, wenn die körperlichen
wie die geistigen Schmerzen sehr gross sind, so bleibt es doch un
bestreitbar, dass bei gesunden Personen die durch kleinere Leiden
verursachten schädlichen Störungen, wenn sie auch schwer nach
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 7
98 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.
zuweisen sein mögen, doch vorhanden sind, und bei Solchen, deren
Lebenskräfte bereits durch Krankheit bedeutend geschwunden sind ,
genügt oft eine geringe physische Erregung oder eine unerhebliche
moralische Beunruhigung, um einen Rückfall herbeizuführen .
Ganz entgegengesetzt sind die Wirkungen der Freude auf die
Constitution des Menschen . Es kommt allerdings gelegentlich, wenn
auch selten vor, dass schwache Personen in Folge einer intensiven
Freude einer Freude , die beinah Schmerz zu nennen ist ―――― eine
Erschütterung ihrer Nerven erleiden , welche nachtheilig wird ;
niemals aber tritt dies bei Solchen ein, die noch nicht durch frei
willige oder gezwungene Ausübung von dem Organismus schädlichen
Thätigkeiten geschwächt sind . Unter normalen Verhältnissen sind
grosse wie kleine Freuden treffliche Anregungsmittel für die Vor
gänge, durch welche das Leben erhalten wird .
Unter den Empfindungen mögen diejenigen als Beispiel genannt
werden, welche helles Licht hervorruft. Der Sonnenschein wirkt
belebend im Vergleich zur Dämmerung - schon ein Lichtstrahl
erzeugt eine Welle angenehmer Empfindungen , und durch Ex
perimente ist nachgewiesen worden, dass das directe Sonnenlicht
die Zahl der Athemzüge steigert ; lebhaftere Athmung aber ist nur
ein Zeichen der im Allgemeinen erhöhten Lebensthätigkeiten . Eine
angenehme Temperatur befördert die Thätigkeit des Herzens und
damit auch aller andern Functionen , für welche diese die Grundlage
bildet. Wenn auch die Menschen , die sich ihrer vollen Kraft er
freuen und gehörig bekleidet sind, die Temperatur ihres Körpers
selbst im Winter constant zu erhalten und mehr Nahrung als ge
wöhnlich zu verdauen vermögen, um den Wärmeverlust auszugleichen ,
so verhält es sich doch mit Schwachen anders , und je mehr die
Kraft abnimmt, desto mehr wird der wohlthätige Einfluss der Wärme
empfunden. Dass die angenehmen Empfindungen , wie sie die frische
Luft wachruft und wie sie die Thätigkeit der Muskeln nach hin
länglicher Ruhe oder die Ruhe nach vorheriger Anstrengung be
gleiten, mit vortheilhaften Folgen verknüpft sind , kann von Niemand
bezweifelt werden . Der Genuss dieser Freuden trägt zur Erhaltung
des Körpers in einer für alle Zwecke des Lebens geeigneten Be
schaffenheit bei.
Noch augenfälliger sind die physiologischen Vortheile von
emotionellen Freuden . Jedes körperliche und geistige Vermögen
wird erhöht durch gute Laune " , wie wir eine allgemein befriedigte
I
§. 37. Der biologische Standpunkt . 99
§. 38.
I
§. 38. Der biologische Standpunkt . 103
Menschen in der That von allen Seiten Beispiele dafür, wie das
Leben durch Fortsetzung von Handlungen zerstört wird , gegen
welche sich ihre Empfindungen vergebens auflehnten . Hier sehen
wir Einen , der bis auf die Haut durchnässt und in kaltem Luftzug
sitzend über die ihn ergreifenden Kälteschauer lacht , nachher aber
ein rheumatisches Fieber mit daraus entspringendem Herzfehler be
kommt, welcher das kurze ihm noch vergönnte Leben ganz werth
los macht. Dort ist ein Anderer, der ungeachtet schmerzlicher
Empfindungen zu bald nach einer entkräftenden Krankheit wieder
an die Arbeit geht und dadurch seine Gesundheit gänzlich erschüt
tert, so dass er für alle spätern Jahre kränklich gemacht und für
sich selbst und andere nutzlos geworden ist . Gestern hörten wir
von einem jungen Mann , welcher trotz kaum zu ertragender Ab
spannung immer noch seine gymnastischen Kunststücke auszuüben
fortfährt, wobei ihm ein Blutgefäss springt, und nun ist er für lange
Zeit an's Lager gefesselt und trägt einen dauernden Schaden davon ;
ein ander Mal wieder betrifft es einen Mann in mittleren Jahren ,
der eine Muskelanstrengung bis zum schmerzlichen Übermaass trieb
und sich plötzlich einen Bruch zuzog . In dieser Familie kam ein
Fall von Verlust der Sprache , immer weiter um sich greifender
Lähmung und schliesslichem Tod vor, einfach dadurch verursacht ,
dass der Betreffende zu wenig ass und zu viel arbeitete ; in jener
wurde Gehirnerweichung durch unablässige geistige Anstrengungen
herbeigeführt, gegen welche das körperliche Befinden allstündlich
protestirt hatte, und in andern Fällen haben sich die Menschen
minder gefährliche Gehirnaffectionen durch Überstudiren zugezogen ,
das ohne Rücksicht auf Missbehagen und das Verlangen nach frischer
Luft und Bewegung fortgesetzt worden war. * Allein auch ohne
dass wir noch mehr Einzelfälle anzuführen brauchten , drängt sich
uns diese Wahrheit schon durch die sichtbaren Eigenthümlichkeiten
der verschiedenen Classen auf. Der sorgengebeugte Geschäftsmann,
der allzu lang in seinem Comptoir sitzt, der leichenblasse Advocat,
der die halbe Nacht über seinen Acten brütet , die schwachen Fabrik
arbeiter und die kränklichen Nähmamsellen , die viele Stunden in
verdorbener Luft zubringen , die blutarmen , flachbrüstigen Schul
mädchen, die unter der Zahl ihrer Unterrichtsstunden zusammen
* Ich könnte nur von Solchen, die mir persönlich gut bekannt sind, mehr
als ein Dutzend ähnliche Fälle aufzählen.
104 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI .
§. 39.
Es dürfte hier wohl betont werden, wie nothwendig es wäre,
das Studium der Moralwissenschaft durch das Studium der Biologie
vorzubereiten. Es dürfte auf den grossen Irrthum hingewiesen wer
den, den die Menschen begehen , wenn sie glauben , sie könnten jene
ganz eigenthümlichen Erscheinungen des menschlichen Lebens be
greifen, mit denen sich die Ethik befasst, während sie den all
gemeinen Erscheinungen des menschlichen Lebens wenig oder gar
keine Aufmerksamkeit schenken und die Erscheinungen des Lebens
im grossen Ganzen vollständig ignoriren . Und unzweifelhaft würde
die Annahme volle Berechtigung haben, dass eine gewisse Bekannt
schaft mit der Welt der lebendigen Dinge, insoweit sie die Rolle
verstehen lehrt, welche Freuden und Leiden in der organischen Ent
wickelung gespielt haben , wesentlich dazu beitragen müsste, diese
einseitige Auffassung der Moralisten zu berichtigen. Gleichwohl
trifft es keineswegs zu , dass der Mangel solcher Kenntnisse die
einzige oder auch nur die wichtigste Ursache ihrer Einseitigkeit
wäre. Denn Thatsachen von der Art, wie wir sie oben als Bei
spiele aufgeführt und welche, wenn gehörig berücksichtigt , vor sol
chen Verzerrungen der Sittenlehre wohl bewahren könnten, brauchen
nicht erst durch biologische Untersuchungen bekannt zu werden ,
sondern sie drängen sich den Augen eines Jeden tagtäglich auf.
Die Wahrheit liegt vielmehr darin , dass das allgemeine Bewusst
sein so sehr von Gefühlen und Ideen voreingenommen ist , welche
mit den durch den alltäglichsten Augenschein nothwendig be
dingten Folgerungen im Widerspruch stehen , dass eben diesem
Augenschein keine Aufmerksamkeit geschenkt wird . Diese wider
sprechenden Gefühle und Ideen entspringen verschiedenen Quellen.
Da ist zunächst die theologische Quelle. Wie früher gezeigt
wurde, entwickelte sich aus der Verehrung cannibalischer Vorfahren,
die sich am Anblick von Qualen ergötzten , die primitive Vorstellung
106 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.
liche Sittenlehre erst dann möglich ist, wenn die einseitigen, den
vorübergehenden Verhältnissen angepassten Vorstellungen zu immer
vielseitigeren Vorstellungen ausgebildet worden sind. Die Wissen
schaft vom Rechtleben muss alle Consequenzen in Rechnung brin
gen, insofern sie irgendwie, direct oder indirect, das Glück der Ein
zelnen oder der Gesellschaft beeinflussen können, und je mehr sie
die eine oder andere Classe von Consequenzen vernachlässigt, desto
mehr fehlt noch daran , dass sie zur wahren Wissenschaft gewor
den wäre. 1
§. 40.
VII. Capitel.
S. 41.
Das letzte Capitel, soweit es sich mit Empfindungen in ihrer
Beziehung zum Handeln beschäftigte, berücksichtigte nur ihre phy
siologische Seite ; die psychologische wurde ganz übergangen . In
diesem Capitel dagegen haben wir es nicht mit den constitutionellen
Verbindungen zwischen Gefühlen , als anreizenden oder abschrecken
den Factoren, und zu erreichenden physikalischen Vortheilen oder
he Standpunkt .
§. 42. Der psychologisc 113
§. 42 .
Die niedrigste Stufe einer psychischen Handlung, noch gar nicht
von einer physischen Handlung differencirt, umfasst eine Erregung
und eine Bewegung. Bei einem Geschöpf von einfachstem Typus
regt die Berührung mit nährendem Stoff zur Ergreifung an. Bei
einem etwas höher stehenden Thier veranlasst der Geruch der Nah
rung eine Bewegung des ganzen Körpers nach derselben hin . Und
wo ein rudimentäres Sehvermögen vorhanden ist, da verursacht plötz
liche Verdunkelung des Lichtes, indem sie das Vorübergehen irgend
eines grossen Gegenstandes anzeigt, convulsivische Muskelbewegun
gen, welche den Körper zumeist von der Quelle der Gefahr ent
fernen. In jedem dieser Fälle können wir vier Factoren unter
scheiden. Da ist zunächst a jene Eigenschaft des äusseren Objects,
welche in erster Linie den Organismus afficirt - der Geschmack,
der Geruch oder die Undurchsichtigkeit, und mit einer solchen Eigen
schaft verknüpft liegt in dem äusseren Object ferner der Charakter b ,
welcher Ergreifung desselben oder Flucht davor vortheilhaft macht.
Im Organismus finden wir c den Eindruck oder die Empfindung,
welche die Eigenschaft a hervorruft und welche als Reiz dient, und
damit hängt wieder die Bewegungsänderung d zusammen, durch
welche Ergreifung oder Flucht bewerkstelligt wird.
Die Psychologie hat sich nun hauptsächlich mit dem Zusammen
hang zwischen der Beziehung ab und der Beziehung c d unter allen
jenen Formen zu beschäftigen, welche dieselben im Verlauf der Ent
wickelung annehmen. Jeder der einzelnen Factoren und die eine
wie die andere Beziehung werden immer verwickelter, je weiter die
Organisation fortschreitet. Statt einfach zu bleiben, wird das zur
Erkennung dienende Attribut a in der Umgebung eines höheren
Thieres häufig zu einem ganzen Haufen von Attributen, wie z. B.
die Grösse und Form, die Farben und Bewegungen , die ein anderes
Thier in der Ferne zeigt, das gefahrdrohend erscheint. Der Factor b,
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 8
114 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.
§. 43.
§. 44.
Im letzten Capitel deutete ich an, dass neben den verschiedenen
dort aufgeführten Einflüssen , welche den ascetischen Glauben be
günstigen, dass das Thun von Dingen, die angenehm sind , zum
Unheil gereiche, während das Ertragen von unangenehmen Dingen
von Vortheil sei , noch ein anderer Einfluss von tieferliegendem Ur
sprung zu erwähnen sei. Diesen suchte ich in den vorhergehenden
Paragraphen zur Anschauung zu bringen .
Die allgemeine Wahrheit, dass die Leitung durch solch einfache
Freuden und Leiden, wie sie aus der Befriedigung oder Versagung
von körperlichen Begehrungen entspringen, von dem einen Gesichts
punkt betrachtet in der That niedriger steht als die Leitung durch
jene Freuden und Leiden , welche die complicirten ideellen Gefühle
uns gewähren , hat zu dem Glauben verführt , es müssten überhaupt
die Antriebe der körperlichen Begehrungen unberücksichtigt gelassen
werden. Ebenso hat ferner die allgemeine Wahrheit, dass ein Stre
ben nach zunächstliegenden Genüssen in gewisser Hinsicht dem
Streben nach entfernteren Genüssen untergeordnet ist , zu dem
§. 44. Der psychologische Standpunkt . 121
wie die Art ihres Ausdrucks verriethen , dass sie ein solches Benehmen
nicht blos für schlecht hielt, sondern glaubte, dass auch Jedermann
es für schlecht erklären müsse . Eine derartige Auffassungsweise
ist aber weit verbreitet. In der Praxis allerdings kommt sie im
Allgemeinen nur wenig zur Geltung. Wenn sie auch da und dort
verschiedene Asceticismen zu Tage fördert, wie z. B. dass Mancher
es für mannhaft und zugleich für zuträglich hält, bei kalter Witte
rung ohne Überrock auszugehen oder es den ganzen Winter über
durchzusetzen, täglich ein Bad im Freien zu nehmen , so werden
doch die angenehmen Gefühle, welche jede gehörige Befriedigung
körperlicher Bedürfnisse begleiten, gerne empfunden und anerkannt ;
- in der That ist ja auch diese Anerkennung dringend genug ge
boten. Gewöhnlich vergessen aber die Menschen diese Widersprüche
im täglichen Leben und bekennen sich dann in mehr oder weniger
unklarer Form zu der Ansicht , dass etwas Entwürdigendes oder
Schädliches oder beides zugleich darin liege, wenn man das thue ,
was einem angenehm , und das vermeide , was einem unangenehm
ist. „ Ergötzlich , aber nicht gut " ist ein Ausdruck, der häufig in
dem Sinne gebraucht wird, als ob beides naturgemäss mit einander
verknüpft wäre. Wie jedoch schon oben angedeutet wurde, ent
springen solche Ansichten nur aus einer verworrenen Erfassung der
allgemeinen Wahrheit, dass den höher zusammengesetzten , repräsen
tativen Gefühlen im Durchschnitt eine grössere Autorität zukommt
als den einfachen, präsentativen Gefühlen . Mit der nöthigen Vor
sicht angewandt besagt aber dieser Satz nichts weiter, als dass die
Autorität der einfachen Gefühle , meistentheils geringer als die der
zusammengesetzten, gelegentlich jedoch auch grösser, in der Regel
dann anzuerkennen ist, wenn die zusammengesetzten keinen Wider
spruch erheben.
Auf eine dritte Weise endlich unterliegt dies Princip der Unter
ordnung noch einem Missverständniss. Zu den Gegensätzen zwischen
den früh und den spät entwickelten Gefühlen gehört auch der, dass
jene auf die mehr unmittelbaren, diese auf die entfernteren Folgen
der Handlungen Bezug haben , und allgemein gesprochen steht also
die Leitung durch das Naheliegende tiefer als die Leitung durch
das Fernere. Daraus ist denn der Glaube entstanden , die Freuden
der Gegenwart müssten ohne Rücksicht auf ihren Charakter den
Freuden der Zukunft aufgeopfert werden. Wir können dies schon
in der Vorschrift erkennen , die man häufig den Kindern beim Essen
124 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.
einzuprägen sucht, dass sie das beste Stückchen bis zuletzt auf
sparen sollen das Verbot, unbedachtsamer Weise einem unmittel
baren Antrieb nachzugeben, verbindet sich hier mit der zugleich
darin enthaltenen Lehre, dass derselbe Genuss um so werthvoller
werde, je weiter er entfernt sei. Eine solche Denkweise lässt sich
aber auch im täglichen Leben verfolgen ―― natürlich keineswegs
bei Allen, sicher aber bei denen, welche sich als kluge Menschen
mit weise geregelter Thätigkeit auszeichnen. Der Geschäftsmann
erledigt in aller Eile sein Frühstück, um rechtzeitig den Zug zu
erreichen, verzehrt hastig ein belegtes Butterbrod um die Mittags
zeit und nimmt seine Hauptmahlzeit erst ganz spät zu sich , wenn
er schon so ermüdet ist, dass ihm eine ordentliche Abenderholung
unmöglich wird, führt also ein Leben , in welchem die Befriedigung
nicht allein der körperlichen Bedürfnisse , sondern auch höherer
Neigungen und Gefühle so viel als irgend möglich bei Seite ge
drängt ist, um ferneliegende Zwecke zu erreichen ; und doch, wenn
man nach diesen ferneliegenden Zwecken fragt, so zeigt sich (aus
genommen in den Fällen, wo es sich um älterliche Verpflichtungen
handelt) , dass sich dieselben unter die Vorstellung von einem be
haglicheren Leben in späterer Zeit zusammenfassen lassen . So sehr ist
dieser Glaube, dass es unrecht sei , unmittelbare Vergnügen aufzu
suchen , und recht, blos entfernten nachzustreben , den Menschen in
Fleisch und Blut übergegangen , dass es nichts Seltenes ist , einen
eifrigen Geschäftsmann , der einen Ausflug zu seinem Vergnügen ge
macht hat, sich wegen seiner Handlungsweise gewissermaassen ent
schuldigen zu hören . Er sucht, der ungünstigen Beurtheilung von
Seiten seiner Freunde vorzubeugen , indem er auseinandersetzt , dass
sein Gesundheitszustand ihn genöthigt habe, sich einen Feiertag zu
machen . Nichtsdestoweniger zeigt sich , wenn wir ihn in Betreff
seiner Zukunft genauer ausfragen, dass sein ganzes Streben darauf
hinausläuft , sich mit der Zeit zurückziehen und ganz der Erholung
hingeben zu können, die er jetzt zu geniessen beinah sich schämt.
Die allgemeine Wahrheit, die sich uns aus dem Studium des
sich entwickelnden Handelns auf vormenschlicher wie auf mensch
licher Stufe ergab, dass behufs besserer Erhaltung des Lebens die
primitiven, einfachen, präsentativen Gefühle unter der Controle der
später entwickelten , zusammengesetzten , repräsentativen Gefühle
stehen müssen, ist also im Fortschritt der Civilisation von den
Menschen immer vollständiger erkannt worden, anfänglich aber noth
§. 45. Der psychologische Standpunkt. 125
§. 45 .
Ohne dass es ausdrücklich gesagt worden wäre, haben wir hier
zugleich die Entstehung des moralischen Bewusstseins oder des Ge
wissens verfolgt. Denn es bildet unzweifelhaft den wesentlichsten
Zug des moralischen Bewusstseins , dass ein Gefühl oder die einen
Gefühle unter der Controle eines anderen oder anderer Gefühle
stehen.
Schon bei den höheren Thieren können wir deutlich genug den
Widerstreit der Gefühle und die Unterwerfung der einfacheren unter
die zusammengesetzteren beobachten, wie z. B. wenn ein Hund sich
abhalten lässt, nach einer Speise zu schnappen, aus Furcht vor der
Strafe, die ihn treffen würde, wenn er seinem Hunger nachgäbe,
oder wenn er aufhört, an einem Loch weiter zu scharren, um nicht
seinen Herrn zu verlieren , der indessen weiter gegangen ist. Dies
ist jedoch, wenn auch sicherlich Unterordnung, doch keine bewusste
Unterordnung kein Einblick ins eigene Innere, der die Thatsache
zum Bewusstsein bringt, dass ein Gefühl durch ein anderes ver
drängt worden ist. So verhält sich's aber auch bei mensch
lichen Wesen, wenn sie geistig noch wenig entwickelt sind . Der
vorsociale Mensch, familienweise herumwandernd, wird nur von sol
chen Empfindungen und Emotionen beherrscht, wie sie die Verhält
nisse des Augenblicks hervorrufen, und wenn er auch gelegentlich
in einen Widerstreit der Motive geräth, so kommt er doch wohl
nur selten in die Lage, dass der Vortheil einer Zurücksetzung der
unmittelbaren zu Gunsten der entfernteren Zwecke sich seiner Auf
merksamkeit aufdrängen würde, und nicht minder fehlt ihm auch
der nöthige Verstand, um die etwa vorkommenden Fälle dieser Art
zu analysiren und zu verallgemeinern. Erst wenn die sociale Ent
wickelung das Leben complicirter gestaltet , wenn zahlreiche und
126 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.
Sache gemäss nach sich ziehen wird , sondern blos auf einer geisti
gen Repräsentation der künstlich bedingten schlimmen Folgen. Bis
auf unsere Tage herab lässt sich in juristischen Redewendungen
die ursprüngliche Lehre verfolgen, dass der Eingriff des einen Bür
gers in die Rechte des andern böse ist und bestraft werden soll ,
nicht so sehr um der ihm zugefügten Schädigung willen , als weil
eine Missachtung des Willens des Königs darin liegt. Ebenso hat
es seiner Zeit ganz allgemein gegolten und gilt es für Viele heute
noch, dass die Sündhaftigkeit eines Vergehens gegen die göttlichen
Gebote vielmehr im Ungehorsam gegen Gott als in der willkürlichen
Zufügung einer Schädigung begründet sei, und selbst gegenwärtig
noch finden wir den Glauben weit verbreitet, dass Handlungen nur
gut zu nennen sind , wenn sie im Bewusstsein der Erfüllung des
göttlichen Willens gethan, ja dass sie sogar böse seien, wenn sie
sonstwie gethan werden. Das Gleiche gilt auch hinsichtlich jener
ferneren Controle, welche durch die öffentliche Meinung ausgeübt
wird. Hört man auf die Bemerkungen , die etwa in Betreff der
Befolgung von socialen Gesetzen laut werden, so erkennt man bald ,
dass eine Übertretung derselben weniger um einer wesentlichen Un
gehörigkeit willen verurtheilt wird , als weil dabei die Autorität der
Welt nicht die gebührende Beachtung erfährt. Wie unvollkommen
die wahrhaft moralische Controle sogar jetzt noch von diesen Formen
differencirt ist, innerhalb deren sie sich entwickelt hat, geht aus
der Thatsache hervor , dass die im Beginn unserer Untersuchung
besprochenen Moralsysteme alle die moralische Controle mit der
einen oder der andern jener Formen identificiren. Denn die Mo
ralisten der einen Classe leiten die Moralgesetze von den Befehlen
einer höchsten Staatsgewalt ab. Diejenigen einer andern Classe
anerkennen keine weitere Quelle derselben als den geoffenbarten
göttlichen Willen . Und obgleich die Menschen, welche die socialen
Vorschriften zu ihrem Führer machen, ihre Lehre nicht bestimmt
zu formuliren pflegen, so ergibt sich doch aus der häufig zu Tage
tretenden Ansicht, dass ein Handeln , das die Gesellschaft zulässt,
jedenfalls nicht tadelnswürdig sei , schon zur Genüge , dass es in
der That Solche gibt, die da glauben, Gutes und Böses könnte
durch die öffentliche Meinung umgestempelt werden .
Bevor wir nun einen Schritt weiter gehen , müssen wir erst
die Ergebnisse dieser Analyse zusammenstellen . Die wichtigsten
Sätze, die wir in Bezug auf diese drei Formen der äusseren Controle,
9*
132 Die Thatsachen der Ethik. Cap . VII.
§. 46.
Denn jetzt sind wir auf die Erkenntniss vorbereitet, dass die
Schranken, die im eigentlichen Sinne als moralische zu unterscheiden
sind, in dem Punkte von jenen Schranken abweichen , aus denen sie
sich erst entwickelt haben und mit denen sie lange zusammen
geworfen worden sind, - dass sie sich nicht auf die äusserlichen,
sondern auf die innerlichen Folgen der Handlungen beziehen. Was
einen wahrhaft moralischen Menschen vom Morde abhält , ist nicht
die Vorstellung vom Hängen als der Folge desselben, noch die Vor
stellung von in der Hölle zu erleidenden Qualen , noch die Vorstel
lung des Schreckens und des Hasses, den er in seinen Nebenmenschen
§. 46. Der psychologische Standpunkt . 133
§. 47.
Eine wichtige Frage ist aber noch zu beantworten : Wie ent
steht das Gefühl von der moralischen Verpflichtung im Allgemeinen ?
Woher stammt das Gefühl der Pflicht, dieses an sich betrachtet
ohne Zusammenhang mit den einzelnen Gefühlen, welche zu Mässig
keit, Vorsicht, Güte, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit u . s . w. antrei
ben ? Die Antwort lautet einfach : es ist ein abstractes Gefühl, das
auf ähnliche Weise entstanden ist, wie abstracte Begriffe entstehen .
Der Begriff von jeder einzelnen Farbe besass ursprünglich einen
durchaus concreten Charakter, der ihm durch ein diese Farbe be
sitzendes Object verliehen wurde, wie wir noch aus einigen der
nicht modificirten Namen, z. B. orange und violett, ersehen können.
Die Loslösung der einzelnen Farbe von dem Object, mit welchem
sie anfänglich im Denken unmittelbar verbunden war, schritt in
dem Maasse fort, als diese Farbe in Gedanken mit andern Objecten
verbunden wurde, die vom ersten sowohl wie von einander ver
schieden waren. Der Begriff orangefarbig wurde um so vollkom
mener in abstractem Sinne gefasst, je mehr die verschiedenen in
der Erinnerung vereinigten orangefarbigen Objecte gegenseitig ihre
abweichenden Attribute aufhoben und nur ihr gemeinsames Attribut
bestehen liessen. ―― Gleiches findet sich, wenn wir eine Stufe höher
steigen und untersuchen, wie der abstracte Begriff von Farbe , un
abhängig von jeder besonderen Farbe, zu Stande kommt. Wären
alle Dinge roth , so könnte die Vorstellung von Farbe in abstracto
gar nicht existiren. Oder denken wir uns, alle Dinge wären ent
weder roth oder grün , so ist einleuchtend, dass es zur geistigen Ge
wohnheit würde, in Zusammenhang mit jedem beliebigen Gegenstand,
der erwähnt werden könnte, an die eine oder die andere dieser bei
den Farben zu denken. Man vermehre aber nur die Farben , so
dass die Gedanken unentschieden zwischen den Vorstellungen davon
hin- und herschwanken, die bei der Nennung jedes einzelnen Objectes
138 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.
wird. Es lässt sich aber meiner Ansicht nach die Existenz eines
noch älteren und tieferen, wie oben erwähnt entstandenen Elementes
schon aus der Thatsache erschliessen , dass auch einige der höheren
unter den auf das Ich bezüglichen Gefühlen , welche zu Klugheit
und Sparsamkeit antreiben , eine moralische Autorität gegenüber
den einfacheren Gefühlen derselben Classe besitzen, - woraus her
vorgeht, dass , auch wo gar kein Gedanke an irgendwelche willkür
liche Bestrafung der Unbedachtsamkeit mit in's Spiel kommt, das
durch die Vorstellung der natürlichen Strafen verursachte Gefühl allein
schon eine anerkannt höhere Bedeutung erlangt hat. Schliessen wir
uns jedoch immerhin im Wesentlichen der Ansicht an , dass die
Furcht vor staatlichen und socialen Strafen (wozu , wie ich glaube,
ausserdem noch die religiösen zu rechnen sind) jenes Gefühl des
Zwanges erzeugt hat, das sich an die Denkweise knüpft, welche die
Wünsche des Augenblicks denen der Zukunft und die persönlichen
Begierden den Ansprüchen Anderer gegenüber hintansetzt ; — für
uns ist es hier vielmehr hauptsächlich von Wichtigkeit, zu beachten ,
wie dieses Gefühl des Zwanges indirect mit den Gefühlen , die als
moralische zu unterscheiden sind , in Verbindung tritt. Denn da
einerseits die staatlichen , religiösen und socialen einschränkenden
Motive wesentlich aus den Vorstellungen von zukünftigen Folgen
entspringen, und da anderseits auch das moralische einschränkende
Motiv wesentlich aus einer gleichen Quelle hervorgeht , so ist es
ganz natürlich, dass, wo die einzelnen Vorstellungen so viel Gemein
sames haben und so oft zu gleicher Zeit angeregt werden , die an
drei Classen derselben sich anknüpfende Furcht durch Association
sich auch mit der vierten verknüpft. Denkt man an die äusser
lichen Folgen einer verbotenen Handlung, so ruft das eine Furcht
wach, welche dem Geiste auch dann noch vorschwebt, wenn er an
die innerlichen (naturgemäss innewohnenden) Folgen der Handlung
denkt , und welche nun , indem sie sich auf solche Weise an diese
innerlichen Folgen ankettet, ein unklares Bewusstsein von morali
scher Nöthigung verursacht. Da aber das moralische Motiv sich
nur langsam aus den staatlichen, religiösen und socialen Motiven
herausarbeitet , so klebt ihm auch noch lange jenes Bewusstsein der
Unterordnung unter ein gewisses äusseres Agens an, das mit jenen
verbunden ist ; und erst wenn es zu Selbständigkeit und Oberherr
schaft gelangt ist, verliert es dieses ihm associirte Bewusstsein -
erst dann verschwindet allmählich das Gefühl der Verpflichtung.
§. 47. Der psychologische Standpunkt . 141
§. 48.
§. 49.
§. 50.
Hier tritt uns nun aber eine Thatsache entgegen, welche uns
verbietet, das Wohlergehen der einzelnen Bürger, diese individuell
betrachtet, so sehr in den Vordergrund zu stellen, und uns nöthigt,
die Wohlfahrt der Gesellschaft als eines Ganzen hervorzuheben.
Das Leben des socialen Organismus muss als Endziel einen höhern
§. 50. Der sociologische Standpunkt . 147
§. 51.
Gegenwärtig hat der einzelne Mensch sein Leben so einzurich
ten, dass er dabei die gebührende Rücksicht auf das Leben anderer,
zu derselben Gesellschaft gehörender Individuen nimmt, während er
doch manchmal dazu aufgerufen wird, ganz rücksichtslos gegen das
Leben der Angehörigen anderer Gesellschaften zu sein. Dass ein
und derselbe geistige Organismus diese beiden Anforderungen er
füllen soll , bringt natürlich Unzuträglichkeiten mit sich , und das
hieraus entspringende Handeln , das sich erst dem einen und dann
wieder dem andern Erforderniss anpassen muss , lässt sich unmög
lich in ein consequentes ethisches System bringen.
Hasse und vernichte Deinen Nebenmenschen , gilt heute als
oberstes Gebot, und morgen wieder heisst dies Gebot : liebe Deinen
Nebenmenschen und stehe ihm bei. Benütze jedes Mittel zur
Täuschung, sagt der eine Codex des Handelns , während der andere
gebietet sei wahrhaftig in Wort und That. Raube, so viel Du
vermagst, und verbrenne , was Du nicht mitnehmen kannst , sind
Befehle, auf denen die Religion der Feindschaft mit Nachdruck be
steht, während die Religion der Liebe Diebstahl und Mordbrennerei
als Verbrechen verdammt. Wo aber das Handeln sich aus Elemen
ten zusammensetzen muss, welche dergestalt im Widerspruch mit
einander stehen, da herrscht natürlich auch in der Theorie des Han
delns unheilbare Verwirrung.
Eine ähnliche Unvereinbarkeit besteht auch zwischen den Ge
fühlen , welche den für kriegerische , beziehungsweise industrielle
Verhältnisse erforderlichen Formen des Zusammenwirkens entsprechen.
So lange sociale Kämpfe noch häufig vorkommen und zum erfolg
reichen Auftreten gegen andere Gesellschaften eine vollständige
Unterordnung unter den Willen der Befehlenden nöthig erscheint,
muss die Tugend der Unterthanentreue und die Pflicht des unbe
dingten Gehorsams hochgehalten werden : Nichtbeachtung des Willens
des Herrschenden wird sogar mit dem Tode bestraft. Ist der Krieg
§. 51. Der sociologische Standpunkt . 149
aber nicht mehr ein chronischer Zustand und hat der Industrialis
mus die Menschen daran gewöhnt , unter gebührender Rücksicht
auf die Rechte der Andern ihre eigenen Ansprüche aufrecht zu er
halten, — dann ist auch die Loyalität nicht mehr so unterthänig,
die Autorität des Herrschers wird hinsichtlich verschiedener privater
Thätigkeiten und Ansichten in Frage gestellt oder geradezu verneint ,
der Dictatur des Staates wird da und dort mit Erfolg Trotz ge
boten und die politische Unabhängigkeit des Bürgers erringt sich
immer mehr die Anerkennung , dass es tugendhaft ist, dieses Recht
festzuhalten, und schmählich , es aufzugeben . Während des Über
gangs aber vermischen sich nothwendig diese entgegengesetzten Ge
fühle in ganz widerspruchsvoller Weise .
Dasselbe zeigt sich auch bei den häuslichen Einrichtungen unter
den beiderlei Régimes. So lange das erstere herrschend ist, gilt der
Besitz eines Sclaven durchaus für ehrenvoll , und dem Sclaven wird
Unterwürfigkeit zum Lobe angerechnet ; gewinnt aber das zweite
Régime die Oberhand , so wird das Sclavenhalten zum Verbrechen
und serviler Gehorsam erregt nur noch Verachtung . Und nicht
anders ist es auch innerhalb der Familie. So lange der Krieg vor
waltet, ist die Unterordnung des Weibes unter den Mann eine voll
ständige , sie mildert sich aber, sobald friedliche Beschäftigungen
an die Stelle desselben treten , und schliesslich wird sie als ein
Unrecht aufgefasst und Gleichberechtigung vor dem Gesetz wird
anerkannt. Zu gleicher Zeit ändern sich auch die Ansichten über
die väterliche Gewalt. Das früher unbezweifelte Recht des Vaters,
selbst über Leben und Tod seiner Kinder zu verfügen , wird ab
geschafft und die Pflicht der absoluten Unterwerfung unter seinen
Willen, an der man noch lange festhielt, verwandelt sich allmäh
lich in die Pflicht des Gehorsams innerhalb vernünftiger Grenzen .
Wäre das Verhältniss zwischen dem Leben des Kampfes mit
fremden Gesellschaften und dem Leben des friedlichen Zusammen
wirkens innerhalb der einzelnen Gesellschaft ein constantes, so möchte
sich irgend ein dauernder Compromiss zwischen den widerstreiten
den, dem einen und dem andern Leben angepassten Gesetzen des
Handelns am Ende wohl erreichen lassen . Da aber jenes Verhält
niss beständig wechselt, so kann auch der Compromiss immer nur
zeitweilig gültig sein. Fortwährend macht sich das Streben nach
Übereinstimmung zwischen Ansichten und Forderungen geltend.
Entweder werden die socialen Einrichtungen allmählich umgestaltet ,
150 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.
bis sie mit den herrschenden Ideen und Gefühlen in Harmonie stehen,
oder wenn die Bedingungen der Umgebung eine Umgestaltung der
socialen Einrichtungen verhindern , so modificiren die durch Noth
wendigkeit erzeugten Lebensgewohnheiten die herrschenden Gefühle
und Ideen im erforderlichen Maasse . Daher gibt es für jede Art
und jeden Grad der socialen Entwickelung , welche jeweils wieder
durch Feindschaft nach aussen und Freundschaft im Innern bedingt
werden, einen gerade dafür geeigneten Compromiss zwischen den
Sittengesetzen der Feindschaft und der Freundschaft ―――― einen Com
promiss, der natürlich nicht bestimmt definirbar und durchaus con
sequent ist, über den man sich aber doch ganz wohl verständigt .
Dieser Compromiss , so schwankend , zweifelhaft und unlogisch
er auch sein mag, hat nichtsdestoweniger jedesmal für seine Zeit
autoritative Geltung. Denn wenn, wie oben gezeigt wurde, wäh
rend aller der Stadien, wo die Individuen noch sich selbst durch
Schützung der Gesellschaft schützen müssen , die Wohlfahrt der
letzteren den Vorrang vor derjenigen ihrer einzelnen Glieder be
ansprucht, so dient offenbar ein solcher zeitweiliger Compromiss
zwischen den beiden Sittengesetzen im höchsten Grade zur Erhal
tung des Lebens , der die äussere Vertheidigung gehörig berücksich
tigt und doch zugleich das innere Zusammenwirken bis zum thun
lich grössten Umfang begünstigt , - und damit hat er von selbst
die höchste Sanction erlangt. Die verworrenen und widerspruchs
vollen Moralsysteme, deren uns jede Gesellschaft und jedes Zeitalter
einen mehr oder weniger zutreffenden Typus liefert, erscheinen also
hienach doch sämmtlich vollkommen gerechtfertigt, indem sie jeweils
unter den gegebenen Verhältnissen annähernd das Bestmögliche dar
stellen.
Solche Moralsysteme entsprechen aber, wie eben schon ihre De
finition zeigt, nur dem unvollkommenen Handeln, nicht dem, wel
ches die höchste Entwickelungsstufe erreicht hat. Wir sahen , dass
die Anpassungen von Handlungen an Zwecke, aus welchen einmal
die äusseren Kundgebungen des Lebens bestehen, welche aber zu
gleich auch die Fortdauer des Lebens möglich machen, sich bis zu
einer gewissen idealen Form aufgeschwungen haben , der sich der
civilisirte Mensch jetzt allmählich annähert . Diese Form kann
jedoch nicht wirklich erreicht werden , so lange noch Angriffe der
einen Gesellschaft auf die andere stattfinden . Ob die Ursachen,
welche das vollkommene Leben hemmen , auf den Übertretungen der
§. 52. Der sociologische Standpunkt . 151
§. 52.
§. 53.
Denn ob nun die Menschen ganz unabhängig von einander zu
sammenleben und es blos vermeiden , sich gegenseitig anzugreifen,
oder ob sie sich von passiver zu activer Association erheben und
irgendwie zusammenwirken , jedenfalls muss ihr Handeln der Art
sein, dass die Erreichung von Zwecken durch jeden Einzelnen wenig
stens nicht gehemmt wird. Und es ist auch einleuchtend , dass ,
wenn sie zusammenwirken, nicht allein keine Hemmung daraus ent
springen darf, sondern irgend eine Erleichterung damit gegeben sein
muss , da ja ohne die letztere jeder Beweggrund zum Zusammen
wirken fehlen würde. Welche Gestalt also müssen die gegenseitigen
Schranken annehmen , wenn das Zusammenwirken beginnt ? oder
besser welches sind neben den bereits erörterten primären jene
secundären gegenseitigen Schranken , die nöthig sind, um ein Zu
sammenwirken möglich zu machen ?
Jemand, der bei ganz isolirter Lebensweise zur Erreichung eines
bestimmten Zweckes eine Anstrengung macht, erhält sein Entgelt
für die Anstrengung darin, dass er seinen Zweck erreicht, und so
findet er Befriedigung . Hat er die Anstrengung gemacht, ohne da
mit seinen Zweck zu erreichen , so entsteht daraus Nichtbefriedigung.
Die Befriedigung und die Nichtbefriedigung bilden das Maass für
Erfolg und Misserfolg bei zur Erhaltung des Lebens dienenden Hand
lungen, indem das , was hier durch eine Anstrengung erzielt wird ,
etwas ist , was unmittelbar oder mittelbar das Leben fördert und
so die Kosten für die Anstrengung aufwiegt, während , wenn diese
vergeblich war, Nichts für diesen Aufwand entschädigen kann, also
so viel Leben geradezu vernichtet worden ist. Was muss sich nun
hieraus ergeben, wenn die Anstrengungen der Menschen sich ver
einigen ? Die Antwort wird klarer ausfallen, wenn wir die succes
siven Formen des Zusammenwirkens in der Reihenfolge ihrer zu
nehmenden Complicirtheit aufzählen . Wir können 1) als homogenes
Zusammenwirken dasjenige bezeichnen, wo gleiche Anstrengungen
sich für gleiche Endzwecke vereinigen, die auch sofort und gleich
zeitig genossen werden. Als Zusammenwirken , das nicht voll
kommen homogen ist, unterscheiden wir 2 ) die Form , wo gleiche
154 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.
digung darüber stattfinden muss , wie viel von dem einen als Ent
gelt für eine bestimmte Menge des andern in Anschlag gebracht
werden darf.
Nur nach freiwilliger Übereinkunft also, die nicht mehr still
schweigend und unbestimmt sein darf, sondern ausdrücklich und
klar formulirt wird , kann ein harmonisches Zusammenwirken Bestand
haben, nachdem einmal Theilung der Arbeit eingetreten ist. Und
wie schon in der einfachsten Form desselben, wo gleiche Arbeits
leistungen sich vereinigen, um einen gemeinsamen Nutzen zu er
ringen, die Missstimmung, welche in Jedem hervorgerufen wird , der
nach Aufwendung seiner Kräfte nicht seinen billigen Antheil an
dem erlangten Gut erhält , ihn auch veranlasst, das Zusammenwirken
ganz aufzugeben ; wie auch in der weiter vorgeschrittenen Form ,
welche im Austausch von gleich grossen , aber zu verschiedenen Zeiten
geleisteten Arbeiten ähnlicher Art besteht, eine Abneigung gegen
jedes Zusammenwirken die Folge ist, wenn das erwartete Äquivalent
von Arbeit nicht geleistet wird , so muss in dieser hoch entwickel
ten Form die Weigerung des Einen , dem Andern das zu übergeben ,
was ausdrücklich als gleichwerthig mit der geleisteten Arbeit oder
dem gelieferten Erzeugniss anerkannt war, darauf hinauslaufen, dass
jedes Zusammenwirken unterbleibt, weil Unzufriedenheit mit den
Resultaten desselben sich einstellte. Und offenbar wird durch der
gestalt hervorgerufene Gegensätze nicht blos das Leben der socialen
Einheiten gehemmt, sondern auch das Leben des socialen Aggregates
selbst wird durch die Lockerung seines inneren Zusammenhangs
gefährdet.
§. 54.
§. 55 .
Es ist jedoch vor Allem die Thatsache anzuerkennen, dass eine
vollständige Erfüllung dieser ursprünglichen und abgeleiteten Be
dingungen noch keineswegs genügt. Es mag wohl ein sociales Zu
sammenwirken von der Art geben, dass Keiner an der Erlangung
des normalen Ertrages seiner Anstrengungen verhindert, sondern im
Gegentheil durch entsprechende Gegenleistungen darin gefördert wird ,
und trotzdem bleibt hier noch viel zu thun übrig. Es gibt eine
theoretisch mögliche Form einer Gesellschaft , deren Thätigkeiten
rein industriellen Charakter zeigen , welche aber , obgleich sie in
ihrem Sittengesetz dem sittlichen Ideal näher kommt als irgend
eine andere Gesellschaft von nicht rein industriellem Charakter ,
doch dieses Ideal noch nicht völlig erreicht.
Denn wenn auch der Industrialismus vom Leben jedes einzelnen
Bürgers verlangt, dass es ohne directen oder indirecten Übergriff
auf das Leben anderer Bürger geführt werde, so verlangt er doch
nicht, dass er direct das Leben anderer Bürger fördere . Es ergibt
sich keineswegs als nothwendige Forderung aus der bisher erreich
ten Definition des Industrialismus, dass jeder Einzelne abgesehen
von den durch Austausch der Leistungen gegebenen und erlangten
Vortheilen auch noch andere Vortheile zu geben und zu empfangen
habe. Es lässt sich eine Gesellschaft denken , die aus Menschen
besteht, welche durchaus harmlos leben, ihre Verträge mit ängst
licher Gewissenhaftigkeit erfüllen und ihre Nachkommenschaft mit
Erfolg aufziehen , und welche doch, indem sie einander keine weitere
Förderung angedeihen lassen, als soweit sie sich darüber verständigt
haben , noch bedeutend hinter jenem höchsten Grade des Lebens
zurückbleiben, den erst die freiwillige Dienstleistung möglich macht .
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 11
162 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.
§. 56.
IX . Capitel.
§. 57.
§. 58.
§. 59.
Die hier hervorgehobene Antithese zwischen dem abstract be
trachteten hedonistischen Endziel und der Methode, welche der ge
wöhnliche Hedonismus, sei er von der egoistischen , sei er von der
universalistischen Schattirung, mit diesem Endziel verbindet, und
die daran sich knüpfende Annahme des ersteren, während wir die
letztere zurückweisen , leitet uns auf eine offene Besprechung dieser
beiden Grundelemente der ethischen Theorie über. Diese Besprechung
mag am passendsten dadurch eröffnet werden, dass ich eine andere
von Herrn SIDGWICK's Erörterungen über die Methode des Hedonis
mus kritisire.
Obwohl wir von jenen einfachen Freuden, welche die Sinne uns
darbieten , uns keine Rechenschaft geben können , weil sie unzerleg
bar sind, so kennen wir doch ganz genau ihren Charakter als Be
wusstseinszustände . Umgekehrt lassen sich die complicirten Freuden ,
welche durch Zusammensetzung und Wiederzusammensetzung der
Ideen von einfachen Freuden entstehen, zwar wohl theoretisch in
ihre Componenten zerlegen , in Wirklichkeit aber sind sie nicht
leicht auflösbar, und in demselben Maasse, als ihre Zusammensetzung
ungleichartiger wird , nimmt die Schwierigkeit zu, begreifliche Vor
stellungen von denselben zu bilden. Dies ist ganz besonders mit
den Freuden der Fall, welche unsere Spiele begleiten . Indem Herr
SIDGWICK diese und zugleich die Freuden des Strebens im Allgemeinen
bespricht, um zu zeigen, dass, 99 um dieselben zu erlangen, man sie
„ vergessen muss " , drückt er sich folgendermaassen aus : -
>Ein Mensch, welcher sich unabänderlich in einer epicuräischen
Stimmung erhält , indem er sein Streben auf seine eigenen Freuden
richtet, kann den wahren Geist der Jagd unmöglich fassen ; sein Eifer
schwingt sich niemals bis zu der schneidigen Schärfe auf, welche diesem
Vergnügen seine höchste Würze und seinen eigentlichen Reiz verleiht .
Hier stellt sich uns dar , was wir die fundamentale Paradoxie des
Hedonismus nennen können, dass nämlich der Antrieb zur Freude, wenn
er allzu sehr vorherrscht, sein eigenes Endziel vernichtet. Diese Wir
kung wird nicht sichtbar oder zeigt sich jedenfalls nur ganz leise bei
den passiven sinnlichen Freuden . Aber von unsern activen Vergnügen
im Allgemeinen, mögen die Thätigkeiten , von welchen sie abhängen,
zu den körperlichen oder zu den geistigen gerechnet werden (und
ebenso auch von vielen emotionellen Freuden), kann sicherlich behauptet
werden, dass wir sie nicht zu erlangen vermögen, wenigstens nicht in
ihrer höchsten Form , so lange wir unser Streben auf dieselben con
centriren. ( Methods of Ethics « , II. Aufl . S. 41.)
172 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.
Ich glaube nun, wir werden diese Wahrheit nicht mehr für
paradox halten, wenn wir die Freude des Strebens gehörig analysirt
haben. Die wesentlichen Bestandtheile dieses Vergnügens sind fol
gende : erstens ein erneutes Bewusstsein der persönlichen Leistungs
fähigkeit (welches durch wirklichen Erfolg lebhaft hervortritt , theil
weise aber auch schon durch die Hoffnung auf Erfolg angeregt
wird) ein Bewusstsein von persönlicher Leistungsfähigkeit , wel
ches, in der Erfahrung mit erreichten Zwecken jeder Art verbunden ,
ein unbestimmtes , aber deutlich spürbares Bewusstsein von zu er
wartenden Belohnungen wachruft ; und zweitens eine Vorstellung
des Beifalls , welchen die Anerkennung dieser Leistungsfähigkeit
durch Andere früher hervorgerufen hat und abermals hervorrufen
wird. Geschicklichkeitsspiele lassen dies deutlich erkennen . Als
Endzweck für sich allein betrachtet, gewährt die gute Kugel, welche
ein Billardspieler macht, kein Vergnügen. Woher also stammt das
Vergnügen, das er dabei empfindet ? Theilweise von dem abermaligen
Beweis von der Geschicklichkeit, welchen der Spieler sich selbst ge
liefert hat, und theilweise aus der Vorstellung von der Bewunde
rung derjenigen, welche Zeugen dieses Beweises seiner Geschicklich
keit waren ; und zwar ist das Letztere hauptsächlich von Bedeutung,
denn das Spiel ermüdet ihn bald, wenn keine Zuschauer da sind.
Gehen wir von solchen Spielen , welche zwar die Freuden des Erfolgs ,
nicht aber eine Freude gewähren , die aus dem für sich allein be
trachteten Endziel stammt, zu den „ Sport " -Vergnügungen über, bei
welchen das Endziel einen ihm von selbst zukommenden Werth als
Quelle der Freude hat, so finden wir doch im Wesentlichen wieder
dieselbe Erscheinung. Obwohl der Vogel, welchen der Jäger herunter
schiesst , als Speise werthvoll ist , so entspringt doch seine Befrie
digung hierüber hauptsächlich daraus, dass er einen guten Schuss
gethan und seine Jagdtasche gefüllt hat , was ihm bald manches
Lob seiner Geschicklichkeit einbringen wird. Die Befriedigung der
Selbstschätzung empfindet er unmittelbar und die Befriedigung über
den erlangten Beifall empfindet er jetzt schon , wenn auch nicht
unmittelbar und im vollen Maasse, so doch in der Vorstellung, denn
die ideale Freude ist nichts Anderes als ein schwaches Wiederauf
leben der realen Freude. Diese beiden Arten angenehmer Erregung,
welche den Jäger während der Jagd erfüllen , stellen auch die Ge
sammtheit der Begehrungen dar, die ihn zur Fortsetzung derselben
anreizen : sind doch alle Begehrungen im Grunde nur die eben ent
§. 59. Kritik und Erläuterungen . 173
§. 60.
Die Beziehungen zwischen Mitteln und Zwecken , welche wir
so auf den früheren Stufen des sich entwickelnden Handelns verfolgt
haben , lassen sich auch auf allen höheren Stufen wiedererkennen
und behalten ihre Geltung selbst für das menschliche Handeln bis
hinauf zu seinen höchsten Formen. Sobald zum Zwecke der bessern
Erhaltung des Lebens die einfacheren Gruppen von Mitteln und die den
Gebrauch derselben begleitenden Freuden allmählich durch complicir
tere Gruppen von Mitteln und deren Freuden ergänzt werden , beginnen
diese immer mehr, der Zeit wie ihrem gebieterischen Charakter nach
die Oberherrschaft zu erlangen. Mit Erfolg jede complicirtere Gruppe
von Mitteln zu verwenden, wird zum nächstliegenden Zweck und
176 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.
Zwecke des Gelderwerbs und wie der Zweck des Gelderwerbs dem
Zweck des angenehmen Lebens vorausgeht.
Seine Buchhaltung mag am besten das Princip im Ganzen er
läutern . Den ganzen Tag über werden Einträge in die Rubriken
der Debitoren oder Creditoren gemacht ; die einzelnen Posten wer
den derartig classificirt und angeordnet , dass man durch augen
blickliche Einsicht den Stand jedes Contos feststellen kann , und
dann werden die Bücher von Zeit zu Zeit mit einander verglichen
und es wird verlangt, dass das Resultat auf den Pfennig stimme :
es gereicht ihm zu grosser Befriedigung, wenn die Richtigkeit be
wiesen ist, während jeder Irrthum ihm Unruhe verursacht. Fragen
wir nun , warum diese ganze kunstreiche Einrichtung, die so weit
von dem wirklichen Erwerb des Geldes und noch weiter von den
Annehmlichkeiten des Lebens entfernt ist , so lautet die Antwort ,
dass die Bücher in Ordnung zu halten nur die Erfüllung einer noth
wendigen Bedingung für den Zweck des Gelderwerbs bildet und an
sich zu einem nächstliegenden Zwecke wird, zu einer Pflicht , wel
cher genügt werden muss, damit die Pflicht, ein bestimmtes Ein
kommen zu haben, erfüllt werden könne, um dadurch erst die Pflicht
der Unterhaltung seiner eigenen Person , seiner Frau und seiner
Kinder erfüllen zu können.
Indem wir uns nun hier unmittelbar vor eine moralische Ver
pflichtung gestellt sehen, sollte sich da nicht ihre Beziehung zum
Handeln im Allgemeinen erkennen lassen ? Ist es nicht einleuch
tend , dass die Beobachtung sittlicher Grundsätze nichts weiter ist
als die Erfüllung gewisser allgemeiner Bedingungen, um einzelne
besondere Thätigkeiten mit Erfolg ausführen zu können ? Damit der
Kaufmann emporkomme, muss er nicht allein seine Bücher richtig
führen, sondern auch seine Angestellten entsprechend der getroffenen
Übereinkunft bezahlen und seinen Verbindlichkeiten den Gläubigern
gegenüber nachkommen . Dürfen wir nun nicht behaupten , dass die
Erfüllung des zweiten und dritten ebenso wie die Erfüllung des
ersten dieser Erfordernisse ein indirectes Mittel zum wirksamen
Gebrauch der mehr directen Mittel zum Erwerb eines gewissen
Wohlstandes sei ? Und dürfen wir nicht ferner behaupten, dass,
wie der Gebrauch jedes mehr indirecten Mittels in der richtigen
Reihenfolge zum Selbstzweck und zu einer Quelle der Befriedigung
wird, so dasselbe schliesslich auch mit dem Gebrauch dieser in
directesten Mittel der Fall sein werde ? Und dürfen wir nicht
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 12
178 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX .
§ . 61 .
Diese Frage bringt uns von einer andern Seite auf den Punkt
zurück, von dem wir früher ausgegangen waren. Gelegentlich der
Behauptung, dass der empirische Utilitarismus blos die Vorstufe
zum rationalen Utilitarismus bilde, wies ich darauf hin , dass der
letztere nicht das Wohlergehen zum unmittelbaren Gegenstand seines
Strebens macht , sondern dass er als solchen den Gehorsam gegen
gewisse Principien hinstellt, welche der Natur der Sache nach die
Wohlfahrt causal bedingen . Und hier sehen wir nun, wie dies auf
die Anerkennung jenes Gesetzes hinausläuft, das sich während der
ganzen Entwickelung des Handelns im Allgemeinen verfolgen lässt,
dass nämlich jede spätere und höhere Ordnung von Mitteln der
Zeit wie der autoritativen Geltung nach den Vorrang vor jeder
früheren und niedrigeren Ordnung von Mitteln behauptet. Der
Gegensatz zwischen den beiden auf solche Weise charakterisir ten
ethischen Methoden , der sich schon ziemlich deutlich aus den obigen
Beispielen ergibt, wird noch klarer hervortreten, wenn wir sie in
der Gegenüberstellung betrachten , in welcher sie uns der Haupt
vertreter des empirischen Utilitarismus vorführt. Bei Besprechung
der Zwecke der Gesetzgebung sagt BENTHAM :
» Gerechtigkeit aber ――――― was ist es, was wir unter Gerechtigkeit
zu verstehen haben, und warum nicht Glück , sondern Gerechtigkeit ?
Was Glück ist, weiss Jedermann , weil eben Jeder weiss, was Freude
ist, und Jeder weiss, was Schmerz ist . Aber was Gerechtigkeit ist
das ist's , was bei jeder Gelegenheit den Hauptgegenstand des Streites
bildet. Die Bedeutung des Wortes Gerechtigkeit sei nun , welche sie
wolle - auf welche andere Auffassung kann es Anspruch machen ,
als darauf, als Mittel zum Glück zu gelten ? « *
Untersuchen wir nun zunächst die hier aufgestellte Behauptung
in Betreff der relativen Begreiflichkeit dieser beiden Endzwecke , um
von der einen Seite erfüllt worden ist, während dies von der andern
- SO
Seite entweder gar nicht oder nur unvollständig geschah ,
sehen wir leicht, dass die begangene Ungerechtigkeit sich hier,
weil die sonstigen Umstände genau festgestellt sind ,
immer nur auf den relativen Betrag von Handlungen oder Erzeug
nissen oder sonstigen Gütern bezieht , deren Natur nur soweit in
Betracht kommt, als nothwendig ist, um sagen zu können , ob von
jedem Betreffenden so viel gegeben oder gethan oder zugestanden
worden ist , als nach stillschweigendem oder ausdrücklichem Ein
verständniss als gleichwerthig gelten sollte. Ist aber Glück
das vorgesteckte Ziel, wobei die sonstigen Umstände un
bestimmt bleiben , so erwächst die Aufgabe, sowohl Quantitäten
als Qualitäten gegen einander abzuwägen , ohne durch irgend einen
solchen bestimmten Maassstab unterstützt zu sein , wie ihn ein Tausch
verkehr oder Verträge oder die Differenzen zwischen dem Handeln
eines Angreifenden und eines Angegriffenen an die Hand geben.
Schon die einzige Thatsache, dass BENTHAM selbst unter die Elemente
zur Werthschätzung jeder einzelnen Freude oder jedes Schmerzes
auch deren Intensität, Dauer, Bestimmtheit und Nähe aufnimmt,
genügt wohl, um zu zeigen, wie schwierig dies Problem ist . Und
wenn man sich erinnert, dass alle Freuden und Schmerzen , nicht
nur die in besondern Fällen , sondern auch die in der Gesammtheit
der Fälle empfundenen , jedesmal von diesen vier Seiten aus be
trachtet und danach mit einander verglichen und in ihrem relativen
Werth bestimmt werden sollen , und zwar ausschliesslich durch
Selbstbetrachtung , so ist klar , dass das Problem sich complicirt
einmal dadurch, dass unbestimmte Urtheile über Qualitäten zu den
unbestimmten Maassen der Quantitäten hinzukommen , viel mehr
aber noch durch die Mannichfaltigkeit dieser schwankenden Ab
schätzungen , welche alle vorgenommen und zusammengestellt wer
den sollen.
Indem wir hiemit diese Behauptung von BENTHAM, dass das
Glück ein begreiflicheres Endziel sei als die Gerechtigkeit, für er
ledigt betrachten, nachdem wir gerade das Gegentheil für richtig
befunden, wollen wir nun die verschiedenen Folgerungen aus der
Lehre in's Auge fassen, dass der höchste gesetzgebende Körper sich
das grösste Glück der denkbar grössten Zahl von Menschen zum
unmittelbarsten Endzweck setzen solle.
Es liegt darin in erster Linie die Anschauung, dass das Glück
§. 61 . Kritik und Erläuterungen . 183
§. 62.
§. 63.
Nachdem wir nun untersucht haben, wie die Mittel und Zwecke
im Handeln sich zu einander verhalten und wie sich daraus gewisse
Schlussfolgerungen hinsichtlich ihrer relativen Ansprüche ergeben ,
vermögen wir nun auch bereits den Weg zu erkennen , auf welchem
die verschiedenen sich widerstreitenden ethischen Theorien zur Ver
söhnung gelangen können . Jede einzelne schliesst einen Theil der
Wahrheit in sich und es bedarf einfach einer Combination derselben
in der richtigen Ordnung, um die ganze Wahrheit hervortreten zu
lassen.
Die theologische Theorie enthält einen Theil derselben . Wenn
wir für den göttlichen Willen , der als übernatürlich geoffenbart
angenommen wird , den auf natürlichem Wege enthüllten Endzweck
an die Stelle setzen, welchem die in der ganzen Entwickelung sich
kundgebende Macht entgegenstrebt, dann zeigt sich, da ja die Ent
wickelung stets dem höchsten Leben zugestrebt hat und noch zu
strebt , dass einfach der Gehorsam gegen jene Principien , durch
welche das höchste Leben erreicht wird , einer Beförderung jenes
Endzweckes gleichkommt. Die Lehre anderseits , dass Vollkommen
heit oder Vortrefflichkeit des Wesens den Gegenstand des Strebens
bilden solle, ist gleichfalls in einem Sinne wahr, denn sie anerkennt
stillschweigend jene ideale Form des Daseins, welche das höchste
Leben bedingt und welcher die Entwickelung zustrebt. Ebenso liegt
eine gewisse Wahrheit in der Lehre, dass Tugend das Strebeziel zu
bilden habe , denn dies ist eigentlich nur in veränderter Form die
Lehre, dass man danach streben müsse, die Bedingungen zur Er
reichung des höchsten Lebens zu erfüllen . Dass die Intuitionen
eines gewissen moralischen Vermögens unser Handeln leiten sollen ,
ist ein Satz , in welchem sich abermals eine Wahrheit verbirgt,
denn diese Intuitionen sind nichts Anderes als die im Laufe der
Zeit organisirten Resultate von Erfahrungen , welche das Menschen
geschlecht angesammelt hat, während es unter dem Einflusse dieser
* Dieses universale Erforderniss war es , was ich im Auge hatte , als ich
für mein erstes, im Jahr 1850 veröffentlichtes Werk den Titel „Sociale Statik"
wählte.
§. 63. Kritik und Erläuterungen . 189
§. 64.
Eine Wahrheit von grundlegender Bedeutung für die Thatsachen
der Ethik, auf welche wir nur gelegentlich im letzten Capitel Be
zug genommen haben, muss hier noch ausführlich erörtert werden.
Ich meine die Wahrheit, dass nicht allein Menschen von verschie
denen Racen, sondern auch verschiedene Menschen derselben Race ,
ja sogar dieselben Menschen in verschiedenen Perioden ihres Lebens
verschiedene Ideale des Glückes haben . Wenn man auch bei den
Moralisten einige Anerkennung dieser Thatsache finden mag, so geht
dieselbe jedenfalls nicht weit genug , und von den weitreichenden
Schlussfolgerungen , die sich ergeben , wenn die Relativität des Glückes
vollständig erkannt wird , ist kaum eine Ahnung vorhanden .
Es ist ein allgemein verbreiteter Glaube der Jugend ― ein
Glaube, der übrigens bei den meisten Leuten auch im spätern Leben
nur theilweise umgestaltet wird und sich nur bei sehr wenigen voll
ständig verliert - dass etwas innerlich Verborgenes in der An
nehmlichkeit gewisser Dinge liege , während andere Dinge ihrer
innern Natur nach unangenehm seien. Der Irrthum ist analog und
in der That auch zunächst verwandt mit demjenigen, in welchen der
rohe Realismus verfällt. Gerade so wie es dem ungebildeten Geiste
selbstverständlich erscheint, dass die Süssigkeit des Zuckers etwas
dem Zucker Innewohnendes sei , dass die Töne , wie wir sie wahr
nehmen, Töne seien, die als solche auch in der äussern Welt existir
ten, und dass die von einem Feuer ausströmende Wärme an sich
das sei , als was sie uns erscheint , so gilt es auch für selbstver
ständlich , dass die Süssigkeit des Zuckers nothwendigerweise an
genehm sei , dass in einem schönen Klang etwas liege, was für alle
Geschöpfe schön sein müsse, und dass das durch die Wärme hervor
gerufene angenehme Gefühl eine Empfindung sei , die auch jedes
andere bewusste Wesen angenehm finden müsse .
Wie aber die strenge Kritik beweist, dass die eine Gruppe von
Schlussfolgerungen falsch ist , so weist sie auch den Irrthum in der
§. 65. Die Relativität von Leiden und Freuden . 191
andern nach. Nicht allein sind die Qualitäten der äussern Dinge,
wie sie intellectuell von uns wahrgenommen werden , nur relativ
zu unserm eigenen Organismus so , sondern auch die Angenehmheit
oder Schmerzlichkeit der Gefühle , die wir mit solchen Qualitäten
verbinden , besteht gleichfalls nur relativ zu unserm eigenen Or
ganismus. Und zwar gilt dies in doppeltem Sinne. Sie sind relativ
zu seiner Structur und sie sind relativ zu den Zuständen seiner
Structur.
Um nun nicht bei einer blos nominellen Annahme dieser all
gemeinen Wahrheiten stehen zu bleiben , sondern dieselben so zu
würdigen , dass ihre volle Tragweite für die theoretische Ethik her
vortritt, müssen wir dieselben hier auch insofern näher betrachten ,
als sie durch belebte Wesen im grossen Ganzen uns vorgeführt
werden. Denn wenn wir erst die grossen Verschiedenheiten im Em
pfindungsvermögen untersucht haben, welche die grossen Verschieden
heiten in der Organisation begleiten, die von der gesammten Ent
wickelung hervorgebracht worden sind , dann werden wir auch besser
im Stande sein, die Verschiedenheiten im Empfindungsvermögen uns
zu vergegenwärtigen , welche von der weiteren Entwickelung der
Menschheit zu erwarten sind.
§. 65 .
§. 66.
Die Relativität der Freuden ist bei weitem auffälliger und zahl
los sind die Beispiele hiefür, welche uns die empfindende Welt im
Allgemeinen liefert.
Man braucht sich blos nach den verschiedenen Dingen umzu
sehen, welche die verschiedenen Geschöpfe zu verzehren durch ihre
§. 66. Die Relativität von Leiden und Freuden . 195
§. 67.
Ebenso unzweifelhaft ist die Wahrheit, dass auch emotionelle
Freuden nur möglich werden theils durch das Vorhandensein von
ihnen entsprechenden Structuren und theils durch die Zustände dieser
Structuren.
Man beobachte einmal ein Thier, das ein Leben führt , welches
ungesellige Gewohnheiten erfordert, und dessen ganze Organisation
sich diesem Zustand angepasst hat : dasselbe verräth nicht durch
§. 67. Die Relativität von Leiden und Freuden. 197
das geringste Zeichen ein Bedürfniss nach der Gegenwart anderer von
seines Gleichen . Man beobachte dagegen ein gesellig lebendes Thier,
das von der Herde getrennt worden ist , und man erkennt leicht
die Zeichen des Unbehagens, so lange die Trennung andauert, und
ebenso deutliche Zeichen der Freude bei der Wiedervereinigung mit
seinen Genossen . Im ersteren Falle besteht keine nervöse Structur,
welche ihr Thätigkeitsgebiet nur im geselligen Zustande finden
könnte, während im letzteren Falle eine solche Structur in der That
existirt. Wie schon aus den im letzten Capitel aus andern Grün
den citirten Beispielen hervorging, hat sich bei den Thieren, deren
Lebensweise besondere Arten von Thätigkeiten bedingt, eine solche
Constitution ausgebildet, dass die Ausführung jener Thätigkeiten ,
wobei die zugehörigen Structuren geübt werden , die damit verbun
denen Freuden gewährt. Die im Käfig gefangen gehaltenen Raub
thiere verrathen uns durch ihr unablässiges Hin- und Herschreiten
von einer Seite zur andern das Bestreben , sich so gut es eben geht
den Genuss zu verschaffen, welcher für sie mit dem Herumstreifen
in ihrem natürlichen Wohngebiet verbunden ist , und dieselbe Be
friedigung bei der Übung ihrer Bewegungskräfte , welche uns die
ein Schiff umspielenden Delphine zeigen , gibt sich auch in den
ebenso unaufhörlichen Wanderungen von einem zum andern Ende
des Bassins kund , welche wir an einem gefangen gehaltenen Delphin
beobachten. Das fortwährende Herumhüpfen des Canarienvogels von
Stange zu Stange in seinem Käfig und der unermüdliche Gebrauch
der Klauen und des Schnabels bei einem in seinem Bauer umher
kletternden Papagei sind andere Thätigkeiten , welche , jede mit den
Bedürfnissen der betreffenden Art zusammenhängend , sämmtlich an
und für sich zur Quelle angenehmer Gefühle werden . Noch deut
licher ergibt sich aus den Anstrengungen , welche ein in Gefangen
schaft befindlicher Biber macht, um mit den ihm gerade zugäng
lichen Holzstücken und Prügeln Etwas aufzubauen , wie vorherrschend
in seiner Natur der Instinct zu bauen geworden ist und wie der
selbe ohne Rücksicht auf irgend einen damit erzielten Vortheil seine
Befriedigung findet, wenn er nur, so gut es eben geht, die Processe
des Aufbauens wiederholen kann, zu deren Ausführung er organisirt
ist. Die Katze, welche mit ihren Krallen an der Strohmatte herum
zerrt, weil sie nichts Anderes zum Zerreissen hat, die gefangene
Giraffe, welche in Ermangelung von Ästen, an die sie sich machen
könnte, die obern Ecken der Thüren ihres Hauses abnutzt, indem
198 Die Thatsachen der Ethik. Cap. X.
§. 68.
Ich habe mich bei diesen allgemeinen Wahrheiten mit iel
leicht überflüssiger Ausführlichkeit aufgehalten, um den Leser auf
eine möglichst vollkommene Anerkennung einer Folgerung vorzu
bereiten, welche thatsächlich ganz übersehen wird . So reichlich
und unzweideutig die Beweise sind und so sehr sie sich tagtäglich
der Aufmerksamkeit eines Jeden aufdrängen , so pflegt man doch
die Schlüsse in Betreff des Lebens und des Handelns nicht daraus
zu ziehen , die gezogen werden sollten , und diese Schlüsse stehen
so sehr in Widerspruch mit den gangbaren Ansichten , dass die
Darlegung derselben gewöhnlich nur ungläubiges Kopfschütteln her
vorruft. In der ganzen Vergangenheit ist das Denken der Menschen
durchdrungen gewesen , und ist es grösstentheils jetzt noch , von der
Annahme, dass die Natur jedes Wesens ganz speciell für dasselbe
geschaffen worden und dass die gleichfalls speciell erschaffene
menschliche Natur gleich derjenigen anderer Geschöpfe unveränder
lich sei ; ebenso war meist das Denken durchdrungen von der ver
wandten Annahme, dass das Angenehme an gewissen Thätigkeiten
von ihren wesentlichen Eigenschaften abhänge , während andere
Thätigkeiten vermöge ihrer wesentlichen Eigenschaften unangenehm
200 Die Thatsachen der Ethik. Cap. X.
seien. Da ist es denn kein Wunder , wenn man sich nur schwer
Gehör zu verschaffen vermag für die Lehre, dass die Thätigkeits
arten, welche gegenwärtig angenehm sind, unter gewissen, einen
solchen Wechsel bedingenden Verhältnissen aufhören werden , dies
zu sein , während dafür andere Thätigkeitsarten angenehm erschei
nen werden. Selbst Solche, welche die Entwickelungslehre annehmen ,
hören meistentheils nur mit starken Zweifeln oder im besten Falle
blos mit nominellem Glauben auf die Folgerungen, welche hinsicht
lich der Menschheit der Zukunft daraus gezogen werden müssen.
Und doch, wie aus zahllosen Beispielen hervorgeht , von denen
oben nur einige wenige herausgegriffen wurden, haben jene natür
lichen Vorgänge, welche so mannichfaltige Structurformen hervor
gebracht und dieselben so mannichfaltigen Thätigkeitsformen an
gepasst haben , diese Thätigkeitsformen zugleich auch zu angenehmen
gestaltet. Und das unvermeidliche Ergebniss hieraus ist, dass inner
halb der durch die physikalischen Gesetze bedingten Grenzen sich
in Anpassung an jede beliebige neue Gruppe von Verhältnissen ,
welche in Wirkung treten mag, entsprechende Structuren entwickeln
werden, mit deren Functionen sich die zugehörige Befriedigung ver
binden wird.
Wenn wir uns einmal von der Neigung befreit haben, zu glau
ben, dass gewisse Arten der Thätigkeit nothwendigerweise angenehm
seien , weil sie uns Vergnügen bereiten , und dass andere Arten,
welche uns nicht erfreuen , nothwendigerweise unangenehm sein
müssen, so werden wir leicht einsehen , wie die Umwandlung der
menschlichen Natur zu einem für die Erfordernisse des socialen.
Lebens geeigneten Zustand schliesslich alle nothwendigen Thätig
keiten zu angenehmen gestalten muss , während sie dagegen alle
mit diesen Erfordernissen in Widerspruch stehenden Thätigkeiten
unangenehm macht. Sind wir einmal zur vollen Anerkennung der
Wahrheit durchgedrungen, dass den Anstrengungen , durch welche
z. B. ein wildes Thier erbeutet wird , nichts an sich Befriedigen
deres innewohnt als den Anstrengungen , welche die Aufzucht
von Pflanzen erfordert , und dass die combinirten Thätigkeiten
von Muskeln und Sinnesorganen beim Rudern eines Bootes ihrem
eigentlichen Wesen nach nicht in höherem Grade ein angenehmes
Gefühl hervorzurufen fähig sind als diejenigen, welche beim Ernten
des Kornes nöthig werden , sondern dass vielmehr Alles von den
mitwirkenden Emotionen abhängt, welche gegenwärtig mehr mit den
§. 68. Die Relativität von Leiden und Freuden . 201
einen als mit den andern in Einklang stehen , so werden wir auch
gerne zugeben , dass , sofern nur eine Abnahme jener Emotionen ,
welchen der sociale Zustand nur geringen oder gar keinen Spiel
raum gewährt , und eine Zunahme derjenigen stattgefunden hat ,
welche er andauernd unterhält , die in der Jetztzeit nur ungern,
aus einem Gefühle der Verpflichtung geleisteten Arbeiten später
mit unmittelbarer Freude werden gethan werden , während man das
jenige, dessen man sich gegenwärtig aus Pflichtgefühl enthält , dann
unterlassen wird, weil man ein Widerstreben dagegen empfindet .
Diese Folgerung, welche den volksthümlichen Ansichten ganz
fremd ist und selbst in ethischen Speculationen der Regel nach
übersehen oder höchstens nur theilweise und gelegentlich anerkannt
wird , muss der grossen Mehrzahl meiner Leser so unwahrscheinlich
vorkommen, dass ich eine fernere Rechtfertigung derselben zu geben
genöthigt bin , indem ich eine Beweisführung a priori durch eine
solche a posteriori stütze. So geringe Aufmerksamkeit man auch
der Thatsache geschenkt hat , so ist es doch ganz offenkundig, dass
das oben aus der Lehre von der allgemeinen Entwickelung gewon
nene Ergebniss durchaus mit demjenigen zusammenfällt , welches
die vergangenen und gegenwärtigen Veränderungen in der mensch
lichen Natur uns vor Augen führen . Die auszeichnenden Gegen
sätze des Charakters zwischen einem wilden und einem civilisirten
Menschen sind genau von der Art, wie sie diesem Anpassungsprocess
zufolge zu erwarten waren.
Das Leben des primitiven Menschen wird hauptsächlich mit
der Verfolgung von wilden Thieren , Vögeln und Fischen verbracht,
was ihn in eine genussreiche Erregung versetzt . Obgleich nun aber
auch dem civilisirten Menschen aus der Jagd eine gewisse Befrie
digung erwächst , so ist dieselbe doch weder so anhaltend , noch so
allgemein . Es gibt sehr eifrige „ Sportsmen " unter uns , aber es
sind ihrer doch auch viele , welche des Jagens und Fischens bald
überdrüssig werden, und gar nicht gering ist die Zahl derer, wel
chen derartige Beschäftigungen vollständig gleichgültig oder sogar
unangenehm sind. ―――― Im Gegensatze hiezu ist die Fähigkeit zu an
dauerndem Fleiss , welche beim primitiven Menschen nur einen ge
ringen Grad erreicht , bei uns sehr bedeutend entwickelt. Es ist
richtig, dass die Meisten durch die Nothwendigkeit zum Gewerb
fleiss gezwungen werden, allein durch die ganze Gesellschaft zer
streut finden sich Menschen, für welche lebhafte Beschäftigung ein
202 Die Thatsachen der Ethik. Cap. X.
Bedürfniss ist ―― Menschen, die keine Ruhe finden, wenn sie nicht
im Geschäft sind, und sich elend fühlen , wenn sie es schliesslich
aufgegeben haben , Menschen, für welche dieses oder jenes Unter
suchungsgebiet so anziehend ist, dass sie sich demselben Tag für
Tag, Jahr für Jahr widmen , oder Menschen, die sich so lebhaft für
öffentliche Angelegenheiten interessiren, dass sie mit ihren Bestre
bungen für politische Zwecke, welche sie für erspriesslich halten ,
ein mühevolles Leben führen, ohne sich selbst auch nur die für ihre
Gesundheit nöthige Ruhe zu gönnen.
Ebenso und noch schlagender kommt diese Veränderung zum
Vorschein, wenn wir das unentwickelte und das entwickelte Menschen
geschlecht hinsichtlich des durch das Gefühl für Andere angeregten
Handelns mit einander vergleichen . Grausamkeit viel eher als Güte
ist charakteristisch für den Wilden und in vielen Fällen erscheint
sie geradezu als Quelle grosser Befriedigung für ihn . Wenn es nun
auch unter den Civilisirten Manche gibt , bei denen dieses Merkmal
der Wilden noch fortbesteht , so ist doch Freude am Zufügen von
Schmerzen nicht allgemein verbreitet, und neben der grossen Zahl
derer, die sich wohlwollend bezeigen, stehen auch noch Solche, die
ihre ganze Zeit und einen grossen Theil ihres Vermögens menschen
freundlichen Zwecken aufopfern , ohne dabei an eine hier oder dort
zu erwartende Belohnung zu denken .
Offenbar entsprechen diese wichtigeren und mit ihnen noch
viele geringfügigere Veränderungen der menschlichen Natur ganz
dem oben ausgesprochenen Gesetze. Die den Bedürfnissen der Wil
den angemessenen Thätigkeiten, welche ihnen Freude bereiten , haben
für viele Civilisirte aufgehört , angenehm zu sein, während die letz
teren anderseits die Fähigkeiten für mancherlei andere ihnen an
gemessene Thätigkeiten und die sie begleitenden Freuden erworben.
haben, für welche die Wilden kein Verständniss besassen .
Nun ist es nicht blos vernünftig , zu schliessen , dass Verände
rungen gleich denen , welche im Verlaufe der Civilisation statt
gefunden, auch fortan noch stattfinden werden , sondern es wäre
geradezu unvernünftig, das Gegentheil zu thun . Nicht der Glaube,
dass die Anpassung noch zunehmen werde , ist absurd , sondern viel
mehr der Zweifel an dieser Möglichkeit. Der Mangel an Vertrauen
auf eine derartige Weiterentwickelung des Menschengeschlechts ,
dass dadurch seine Natur mit seinen Bedingungen in Einklang ge
bracht werde, führt uns nur abermals eines der zahllosen Beispiele
§. 68. Die Relativität von Leiden und Freuden . 203
§. 69.
Wenn das energische Hervorheben selbstverständlicher Wahr
heiten ein feststehendes Gebäude von Ansichten zu erschüttern droht,
so wenden sich die Meisten stillschweigend von diesen Wahrheiten
ab oder man begegnet mindestens einer stummen Weigerung , die
allereinleuchtendsten Folgerungen aus denselben zu ziehen .
Von solchen derartig behandelten selbstverständlichen Wahr
heiten interessirt uns hier vornehmlich die, dass ein Geschöpf leben
muss, bevor es thätig sein kann . Hieraus ergibt sich ohne Wei
teres , dass die Handlungen, vermöge deren jedes Wesen sich selbst
am Leben erhält, allgemein gesprochen allen andern Thätigkeiten,
deren es überhaupt fähig ist, an Wichtigkeit voranstehen müssen.
Denn wenn man behaupten wollte , diese anderen Thätigkeiten
müssten vor denjenigen , welche das Leben erhalten , an Bedeutung
den Vorrang behaupten , und wenn dies als allgemeines Gesetz des
Handelns angenommen und von Allen befolgt werden würde , so
müssten offenbar, da nun die die Erhaltung des Lebens befördernden
Handlungen den andern hintangesetzt werden , welche das Leben
erst möglich macht, alle ihr Leben verlieren . Mit andern Worten,
die Ethik hat die Wahrheit anzuerkennen , welche übrigens im nicht
ethischen Denken längst anerkannt ist, dass der Egoismus vor dem
Altruismus kommt. Die zur fortgesetzten Selbsterhaltung erforder
lichen Thätigkeiten mit Einschluss des Genusses von durch solche
Thätigkeiten erlangten Vortheilen sind die allerersten Vorbedingun
gen der allgemeinen Wohlfahrt. So lange nicht jeder Einzelne ge
hörig für sich selber sorgt , wird seiner Sorge für die Andern durch
den Tod bald ein Ende gemacht , und wenn Jeder so zu Grunde
geht , so bleibt auch keiner mehr übrig , für den gesorgt werden
könnte.
Diese unabänderliche Überlegenheit des Egoismus gegenüber
dem Altruismus , welche schon durch Betrachtung des gegenwärtigen
§. 70. Egoismus versus Altruismus . 205
§. 70.
Wer der neuesten Richtung der Anschauungen zustimmend ge
folgt ist, dem brauche ich nicht erst auseinanderzusetzen , dass in
allen vergangenen Zeiten das Leben , das in so gewaltigen Massen
und in so mannichfaltigen Arten sich über die Erde ausgebreitet
hat, stets nur in Unterordnung unter das Gesetz fortgeschritten ist,
dass jedes Individuum Vortheil ziehen soll aus jeder möglichen
Fähigkeit , die es besitzt, um die Bedingungen seines Daseins zu
erfüllen . Als Universalprincip hat stets gegolten , dass bessere An
passung einen grösseren Vortheil mit sich bringt, welcher grössere
Vortheil , während er das Wohlergehen des besser Angepassten stei
gert, zugleich auch sein Vermögen vergrössert, eine Nachkommen
schaft zu hinterlassen , auf welche sich seine bessere Anpassung in
höherem oder geringerem Grade vererbt. Und ebenso war stets
das andere damit zusammenhängende Universalprincip in Geltung,
dass der schlecht Angepasste, der sich also im Kampfe ums Dasein
im Nachtheil befindet, die schlimmen Folgen stets selbsttragen muss ,
indem er entweder zu Grunde geht, wenn seine Unvollkommenheit.
sehr gross ist, oder wenigstens eine kleinere Zahl von Nachkommen
hervorbringt, welche seine Unvollkommenheiten erben und daher
die Neigung haben, mit der Zeit dahinzuschwinden .
Dies hat sich von jeher für die angebornen Überlegenheiten
bestätigt, es hat sich aber auch für die erworbenen als zutreffend
herausgestellt. Durchweg hat das Gesetz bestanden, dass Steigerung
der Function eine Steigerung der Kraft nach sich zieht und dass
in Folge dessen jede aussergewöhnliche Thätigkeit , welche irgend
einem Mitglied einer Race zum Vortheil gereicht, in seiner Structur
ein erhöhtes Vermögen zur Ausführung solcher aussergewöhnlicher
Thätigkeiten hervorruft : die daraus erwachsenden Vortheile kommen
.
ihm zur Erhöhung und Verlängerung seines Lebens zu Gute. Um
gekehrt führt Herabsetzung einer Function zur Schwächung der
entsprechenden Structur und so hat das allmähliche Dahinschwin
den ungetrübter Fähigkeiten stets den Verlust des Vermögens , die
hierauf bezüglichen Zwecke zu erreichen , nach sich gezogen : das
Resultat aber einer ungenügenden Erreichung der Zwecke ist immer
eine Verminderung des Vermögens , das Leben zu erhalten. Und
206 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XI.
§. 71 .
einzusehen, braucht man übrigens blos Diesen , der sich durch Rück
sichten gegen sich selbst in körperlichem Wohlsein erhalten , und
Jenen , dessen Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst ihre natur
gemässen Folgen gezeitigt hat , einander gegenüberzustellen und sich
dann zu fragen, was für ein Gegensatz zwischen zwei Gesellschaften.
bestehen müsste, die jeweils aus derartigen Individuen zusammen
gesetzt wären .
Nach ungestörtem Schlafe aus dem Bette aufspringend , singend
oder pfeifend während des Ankleidens , mit strahlendem Gesichte.
herunterkommend , bei der geringsten Veranlassung zum Lachen bereit ,
sehen wir den wahrhaft gesunden Menschen voll frischer Kraft , ver
gangener Erfolge bewusst und durch seine Energie, Raschheit und
Erfindungsgabe vertrauensvoll in Bezug auf die Zukunft gestimmt,
an sein tägliches Geschäft gehen , nicht mit Widerstreben , sondern
mit frohem Muthe ; und nachdem er von Stunde zu Stunde seine
Befriedigung in der mit Erfolg erledigten Arbeit gefunden, kommt
er mit einem reichlichen Überschuss von Energie nach Hause, welche
noch für alle Stunden der Musse ausreicht. Ein ganz anderes Bild
bietet der, welcher durch starke Vernachlässigung seiner selbst ge
schwächt ist. Seine von vornherein mangelhaften Kräfte werden
noch mangelhafter durch fortwährende Anstrengungen, Dinge aus
zuführen, welche sich als sein Vermögen übersteigend herausstellen ,
sowie in Folge der daraus entspringenden Entmuthigung. Hinter
dem niederschlagenden Bewusstsein von der unmittelbaren Zukunft
lauert noch die quälende Angst vor der entfernteren Zukunft mit
ihrer Wahrscheinlichkeit einer Häufung der Schwierigkeiten und
einer noch grösseren Schwächung des Vermögens , denselben Trotz
zu bieten. Stunden der Musse, die, wenn richtig verbracht, Freuden
mit sich bringen , welche die Lebenswelle erhöhen und die Arbeits
kraft erneuern , können gar nicht ausgenützt werden : es ist nicht
Frische genug vorhanden, um ein Vergnügen zu geniessen , das mit
irgend einer Thätigkeit verbunden ist , und der Mangel an froher
Stimmung hindert auch ein lebhaftes Eingehen auf passive Er
holungen. Kurzum , das Leben wird zu einer Last. Wenn nun,
wie zugegeben werden muss , in einer aus Individuen der ersteren
Art zusammengesetzten Gesellschaft das Gesammtglück relativ gross
sein wird, während in einer aus Individuen der letzteren Art be
stehenden Gesellschaft nur verhältnissmässig geringes Glück oder
vielmehr grosses Elend herrschen muss , so kann auch nicht
§. 72. Egoismus versus Altruismus . 209
geleugnet werden, dass ein Handeln , welches das eine Resultat hervor
bringt, gut, ein Handeln dagegen, welches das andere Resultat er
zeugt, schlecht ist.
Solche Verkürzungen des allgemeinen Glückes werden aber durch
unzulänglichen Egoismus noch auf verschiedene andere Arten be
wirkt. Diese wollen wir nun nach einander näher betrachten,
§. 72.
§. 73.
§. 74.
Noch auf eine fernere Weise wird die ungebührliche Unterord
nung des Egoismus unter den Altruismus schädlich. Selbstlosig
keit bis zum Übermaass getrieben erzeugt sowohl direct als indirect
nichts Anderes als Selbstsucht.
Betrachten wir zunächst die unmittelbaren Folgen. Damit ein
Mensch einem andern eine Wohlthat erweisen könne, ist es nöthig,
dass der Andere sie annehme, und wo diese Wohlthat von der Art
ist, dass ihre beiderseitigen Ansprüche daran gleich sind oder dass
sie weder vom einen noch vom andern in höherem Grade begehrt
wird , da setzt die Annahme derselben eine Bereitwilligkeit voraus ,
auf Kosten des Andern eine Wohlthat zu empfangen. Wenn also
die Umstände und die Bedürfnisse Beider dieselben sind, so bedingt
die Übertragung auf der einen Seite eine ebenso starke Entwicke
lung des Egoismus, wie auf der andern Seite eine Entwickelung
des Altruismus. Es ist allerdings richtig , dass nicht selten ein
Unterschied zwischen ihren Mitteln oder auch zwischen ihrer Lust
nach einer Freude , welche der Eine häufig , der Andere dagegen
nur selten zu geniessen hatte, die Annahme jener Wohlthat dieses
Charakters entkleidet, und es ist ferner richtig, dass in andern Fällen
der Wohlthäter offenbar so viel Freude daran findet , Freude zu be
reiten, dass das Opfer nur zum Theil gilt und die Annahme des
selben nicht durchaus selbstsüchtig erscheint . Um aber die oben
angedeutete Wirkung zu erkennen , müssen wir solche Ungleichheiten
ausschliessen und nur in Betracht ziehen , was geschieht , wo die
Bedürfnisse annähernd dieselben sind und wo die Opfer fortwährend
nur von einer Seite geleistet werden , ohne zeitweilige Wiederver
geltung zu finden . Wenn wir die Frage so einschränken , so kann
ein Jeder Beispiele nennen , welche das angegebene Resultat be
stätigen. Jeder kann sich eines Kreises erinnern , in welchem die
tägliche Erweisung von Wohlthaten von Seiten des Grossmüthigen
an den Unverschämten nur eine Steigerung der Unverschämtheit
zur Folge hatte, bis ein ganz schrankenloser Egoismus daraus ent
stand , der für die ganze Umgebung unerträglich wurde. Es gibt
auch offenkundige sociale Wirkungen ähnlicher Natur. Die meisten
§. 74. Egoismus versus Altruismus . 215
§. 75.
§. 76.
Wenn wir den Altruismus so definiren, dass er jede Handlung
begreift, welche im normalen Verlauf der Dinge Anderen Nutzen
schafft statt dem Handelnden selbst , so ist derselbe von der ersten
Dämmerung des Lebens an nicht minder wesentlich gewesen als der
Egoismus. Obschon er ursprünglich vom Egoismus abhängig ist,
so hängt doch secundär der Egoismus von ihm ab.
Zum Altruismus in diesem umfassenden Sinne rechne ich auch
die Handlungen , durch welche die Nachkommenschaft versorgt und
die Gattung erhalten wird. Ausserdem müssen in dieser Gruppe
nicht blos solche Thätigkeiten zusammengefasst werden , die von
Bewusstsein begleitet sind, sondern auch solche, die zur Wohlfahrt
der Nachkommenschaft beitragen ohne geistige Wiedergabe dieser
Wohlfahrt - Thätigkeiten des automatischen Altruismus , wie wir
sie nennen könnten. Ebenso wenig dürfen dabei jene niedrigsten
altruistischen Thätigkeiten übergangen werden , welche der Arterhal
tung dienen , selbst ohne auch nur automatische Nervenprocesse vor
auszusetzen - Thätigkeiten, die nicht im entferntesten Sinne psy
chischer, sondern in ganz buchstäblichem Sinne physischer Natur
sind . Überhaupt, welche unbewusste oder bewusste Handlung immer
einen Aufwand an individuellem Leben zum Zwecke der Vermehrung
des Lebens anderer Individuen bedingt, ist unzweifelhaft in gewissem,
wenn auch nicht im gewönlichen Sinne altruistisch zu nennen , und
es ist wichtig, dieselben hier in diesem Sinne aufzufassen , um er
kennen zu können, wie der bewusste aus dem unbewussten Altruis
mus hervorgeht.
Die einfachsten Wesen vermehren sich gewöhnlich durch spon
tane Theilung. In diesem Falle lässt sich die Sache so auffassen,
dass der physische Altruismus von niedrigster Art , welcher sich
vom physischen Egoismus zu differenciren beginnt, doch noch nicht
davon unabhängig geworden ist. Denn da die beiden Theile , welche
220 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII.
§. 77.
Wie ein gradweises Fortschreiten vom unbewussten älterlichen
Altruismus bis zum bewussten älterlichen Altruismus der höchsten
Art stattgefunden hat, so zeigt sich auch ein gradweises Fortschrei
ten vom Altruismus der Familie zum socialen Altruismus.
Vor Allem ist hier der Thatsache zu gedenken , dass nur da ,
wo altruistische Beziehungen im häuslichen Kreise hochausgebildete
Formen erreicht haben, auch die Bedingungen gegeben sind, welche
eine volle Entfaltung altruistischer Beziehungen auf staatlichem
Gebiete möglich machen. Stämme, bei denen freier geschlechtlicher
Verkehr vorherrscht oder bei denen die ehelichen Verhältnisse nur
§. 77. Altruismus versus Egoismus . 223
§. 78.
Zunächst haben wir jenen negativen Altruismus zu behandeln ,
welcher in einer derartigen Zurückdrängung der egoistischen Im
pulse besteht, dass directer Angriff verhindert wird .
Wie früher gezeigt wurde , müssen die Menschen , wenn sie ,
statt gesondert zu leben , sich zur Vertheidigung oder zu andern
Zwecken vereinigen sollen , sämmtlich mehr Gutes als Übles von
dieser Vereinigung haben. Im Durchschnitt muss jeder von den
Gegensätzen zu den Menschen, mit welchen er gesellschaftlich ver
bunden ist, weniger Verlust haben , als er aus der geselligen Ver
bindung Gewinn zieht. Im Anfang kann also jene Steigerung
egoistischer Genüsse, welche der sociale Zustand mit sich bringt,
nur durch einen Altruismus erkauft werden , der stark genug ist,
um eine gewisse Anerkennung der Ansprüche Anderer zu bewirken :
wenn nicht eine freiwillige, so doch eine zwangsweise Anerkennung.
So lange diese Anerkennung nur von der niedrigsten Art ist,
indem sie auf der Furcht vor Vergeltung oder vor der angedrohten
Strafe beruht, kann der egoistische Gewinn aus der Vereinigung
nur ein geringer sein, und er wird erst dann erheblich, wenn die
Anerkennung eine freiwillige , d. h. wenn sie in höherem Grade
altruistisch ist. Wo dem Recht des Stärkeren gar keine Grenzen
gesetzt sind und die Männer mit einander kämpfen , um sich in
Besitz der Frauen zu setzen, und die Frauen eines Mannes um ihn
sich zanken, wie wir dies bei einigen der wilden australischen Stämme
§. 78. Altruismus versus Egoismus . 225
und unter Andern auch diejenigen, welche auf die erwähnte Weise
Alles nur für sich und nichts für die Gesellschaft gethan haben.
Ihre Capitalanlagen sind unsicher, die Einziehung ihrer Aussenstände
ist sehr schwierig und selbst ihr Leben ist weniger sicher , als dies
sonst der Fall wäre .
So sehen wir denn also, dass von solchen altruistischen Thätig
keiten, wie sie bedingt sind erstens dadurch, dass der Einzelne ge
recht ist , zweitens dadurch, dass er im Verkehr zwischen den übri
gen Menschen Gerechtigkeit walten sieht , und drittens dadurch,
dass er alle die Mittel hochhält und verbessert, durch welche die
Gerechtigkeit geübt wird, zum wesentlichsten Theil die egoistische
Befriedigung eines Jeden abhängt.
§. 79.
Allein der Zusammenhang zwischen persönlichem Vortheil und
dem Vortheil der Mitbürger geht noch viel weiter. Noch in vielen
andern Hinsichten steigt und sinkt das Wohlergehen des Einzelnen
mit dem Wohlergehen Aller.
Ein schwacher Mann, dem man für seine eigenen Bedürfnisse
allein zu sorgen überlässt , hat darunter zu leiden , dass er sich
weniger Nahrung und andere Lebensbedürfnisse erwirbt, als er sich
verschaffen würde, wenn er stärker wäre. In einem Gemeinwesen,
das aus lauter schwachen Menschen zusammengesetzt ist , welche
sich in ihre Arbeiten theilen und ihre Erzeugnisse austauschen ,
haben Alle in Folge der Schwäche ihrer Mitbürger Nachtheile zu
erleiden. Die Menge jeder Art von Erzeugnissen wird vermindert
durch die Mangelhaftigkeit der arbeitenden Kräfte , und der Antheil
am Ganzen, welcher jedem Einzelnen für den Beitrag an eigenen
Erzeugnissen zukommt, den er zu leisten vermag, ist verhältniss
mässig klein. Gerade wie die Unterhaltung von Armen , von Hospital
kranken, von Bewohnern anderer Anstalten und überhaupt aller
derer , welche blos consumiren und nicht produciren , für die Pro
ducenten einen geringeren Vorrath an Bequemlichkeiten zur Ver
theilung übrig lässt, als es der Fall sein würde, wenn es keine
Arbeitsunfähigkeit gäbe, so muss auch hier ein geringerer Vorrath
an Bequemlichkeiten zur Vertheilung übrig bleiben , je grösser die
Zahl der unzulänglichen Producenten oder je grösser der durch
schnittliche Mangel an produciren der Kraft ist. Was immer also
die Leistungsfähigkeit der Menschen im Allgemeinen herabsetzt ,
15*
228 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII.
das verringert auch die Genüsse jedes Einzelnen , indem es die Mittel
zur Erlangung derselben theurer macht.
Noch unmittelbarer und augenfälliger wird das körperliche
Wohlbefinden seiner Mitbürger bedeutungsvoll für ihn , denn ihr
körperliches Übelbefinden vermag , sobald es gewisse Formen an
nimmt, ähnliche körperliche Nachtheile über ihn selbst zu bringen.
Wird er nicht gar selber von Cholera , Pocken oder Typhus ergriffen ,
wenn diese Krankheiten in seiner Nachbarschaft auftreten , so bat
er doch oft unter der Gefährdung seiner Angehörigen schwer zu
leiden . Die Verhältnisse seien ihrer Ausbreitung günstig , und sein
Weib erkrankt an Diphtheritis oder sein Diener wird durch Schar
lach an's Lager gefesselt oder seine Kinder ziehen sich bald diese,
bald jene ansteckende Krankheit zu . Man rechne nur die unmittel
baren und die entfernteren Übel zusammen, welche Jahr für Jahr
durch Epidemien über ihn kommen, und es wird einleuchtend, dass
seine egoistischen Genüsse ganz wesentlich durch altruistische Tha
tigkeiten gefördert werden, welche die Herrschaft der Krankheiten
zu brechen geeignet sind.
Auf zahllose Weisen sind seine Genüsse aber auch mit den
geistigen so gut wie mit den körperlichen Zuständen seiner Mit
bürger verknüpft . Die Dummheit steigert gleich der Körperschwäche
die Preise aller Lebensbedürfnisse . Wo der Landbau noch in un
verbesserter Form getrieben wird , da stehen die Preise der Nah
rungsmittel höher, als es sonst der Fall wäre ; wo sich im Handel
und Verkehr veraltete Gebräuche forterhalten haben, da lasten die
unnöthigen Ausgaben für die Vertheilung der Güter auf Allen ; wo
es an Erfindungsgabe fehlt, da verliert Jeder die Vortheile, welche
durch verbesserte Einrichtungen gewährt werden. Ausser diesen
wirthschaftlichen Übeln entspringen aber noch ganz andere aus einer
durchschnittlich niedrigen Stufe der Intelligenz - periodisch durch
die Manien und Paniken , die entstehen , weil die Handelsleute
schaarenweise zusammenstürzen, um sämmtlich zu kaufen oder sämmt
lich zu verkaufen, und dauernd durch die schlechte Verwaltung des
Rechts , welches vom Volk sowohl wie von den Herrschern miss
achtet wird , während sie diese oder jene gesetzgeberische Utopie
verfolgen. Näher liegend und unzweifelhafter ist aber die Abhängig
keit seiner persönlichen Wohlfahrt von den Zuständen Anderer,
welche jeder Einzelne im eigenen Haushalt erfährt. Unpünktlich
keit und Unordnung sind unversiegliche Quellen des Verdrusses. Die
§. 79. Altruismus versus Egoismus . 229
teren nicht in Misscredit bringen dürfen, indem sie sich durch ihre
Leistungen vor denselben auszeichnen, auf die unmoralische Ansicht
zurückzuführen , dass es der Unwürdige ebenso gut haben müsse wie
der Würdige. Und morgen stellt sich heraus , dass durch den
Schaden, den die Dachdecker angerichtet haben, dem Klempner Ar
beit verschafft worden ist.
So gewinnt also die Besserung Anderer in physischer, intellec
tueller und moralischer Hinsicht für jeden Einzelnen persönliche
Bedeutung, da ihre Unvollkommenheiten dazu beitragen , die Preise
aller Lebensbedürfnisse, die er kauft, zu steigern , die Steuern und
Abgaben, die er zahlt , zu erhöhen und ihm Tag für Tag durch die
Sorglosigkeit, Dummheit oder Gewissenlosigkeit Anderer Verluste
an Zeit, Arbeit und Geld zuzufügen .
§. 80.
Sehr offenkundig ist ein gewisser mehr unmittelbarer Zusammen
hang zwischen persönlichem Wohlergehen und der Vorsorge für das
Wohlergehen der Umgebung. Wir erkennen denselben in den Übeln,
welche diejenigen zu erleiden haben, deren Betragen unsympathisch
ist, und den Vortheilen, welche selbstloses Handeln dem Handeln
den selbst bringt.
Dass überhaupt Jemand seiner Erfahrung in dem Satze Aus
druck geben konnte, dass die Bedingungen zum Erfolg ein hartes
Herz und eine gesunde Verdauung seien, muss billig wunder nehmen,
wenn man sich der zahlreichen Beispiele erinnert , welche beweisen ,
dass Erfolge selbst materieller Art , da sie doch stets wesentlich
von den guten Diensten Anderer abhängen , durch Alles gefördert
werden, was Andere wohlgesinnt macht. Der Gegensatz zwischen
dem glücklichen Gedeihen derer, die mit nur mässigen Fähigkeiten
eine Natur verbinden , welche durch ihre Liebenswürdigkeit zur
Freundschaft auffordert, und dem Missgeschick Anderer , die , ob
gleich mit überlegenen Geistesgaben und grösseren Fertigkeiten aus
gestattet, doch durch ihre Härte oder Gleichgültigkeit Abneigung
hervorrufen , sollte einem Jeden die Wahrheit eindrücklich genug
machen, dass egoistische Genüsse durch altruistische Handlungen
gefördert werden.
Diese Erhöhung des persönlichen Wohlseins , welche durch
Wohlthun für Andere zu erreichen ist, lässt sich jedoch nur theil
weise erreichen, wo ein selbstsüchtiges Motiv zu der scheinbar selbst
§. 80. Altruismus versus Egoismus . 231
§. 81 .
Es gibt aber noch andere Verhältnisse, in denen der nicht durch
Altruismus eingeschränkte Egoismus in der Regel zu kurz kommt.
Derselbe verkleinert nämlich die Gesammtsumme der egoistischen
Freuden, indem er die Empfänglichkeit für Freuden in mehreren
Richtungen herabsetzt .
Alle Formen der Selbstbefriedigung , mag man sie gesondert
oder im Ganzen betrachten , verlieren ihre anfängliche Intensität
durch zu lange Dauer derselben , wie es der Fall ist, wenn sie zum
ausschliesslichen Gegenstand des Strebens gemacht werden . Das
Gesetz, dass jede Function mit Verbrauch verbunden ist und dass
ein Vermögen, dessen Ausübung Freude gewährt , nicht unaufhörlich
thätig sein kann , ohne Erschöpfung und in Begleitung davon auch
Sättigung zur Folge zu haben , gestattet die Folgerung, dass Zwischen
zeiten, während deren die Kräfte durch altruistische Thätigkeiten
in Anspruch genommen werden , gerade die nothwendigen Ruhe
pausen sind, welche die Empfänglichkeit für Freuden ihre volle Höhe
wiedererlangen lassen. Die Empfindlichkeit für rein persönliche
Genüsse erhält sich auf einem höhern Niveau bei denen , welche
auch für die Genüsse Anderer sorgen , als bei denen , welche sich
ganz und gar ihren persönlichen Genüssen widmen.
Wenn diese Sätze selbstverständlich für die Zeit gelten , so
lange die Wellen des Lebens hoch gehen, so werden sie noch selbst
verständlicher , wenn die Ebbe des Lebens herannaht. Im Mannes
und Greisenalter ganz besonders können wir sehen , wie in dem
Maasse , als egoistische Freuden schwächer werden , altruistische
Thätigkeiten dafür eintreten , um dieselben in neuen Formen wieder
zubeleben. Der Gegensatz zwischen dem Entzücken des Kindes über
die neuen Dinge, welche ihm jeder Tag enthüllt, und der Gleich
gültigkeit, welche sich geltend macht, je mehr die umgebende Welt
uns vertraut wird, bis im erwachsenen Alter nur noch verhältniss
mässig wenige Dinge übrig bleiben , welche grossen Genuss gewähren,
drängt einen Jeden zu der Betrachtung, dass die Freuden sich ab
schwächen, je mehr die Jahre dahinschwinden . Und jedem Denken
den wird es klar, dass nur noch durch Mitgefühl Freuden indirect
aus Dingen gewonnen werden können , welche längst aufgehört
haben, directe Freuden zu gewähren . Dies tritt ganz auffällig in
den Genüssen hervor, welche Ältern aus den Freuden ihrer Kinder
§. 81. Altruismus versus Egoismus . 233
der sich gar nicht um die Gefühle anderer Wesen kümmert , von
einem weiten Gebiet ästhetischer Freuden ausgeschlossen ist, braucht
man sich blos zu fragen, ob wohl zu erwarten wäre, dass Menschen ,
die an Hundekämpfen Freude finden , BEETHOVEN'S „Adelaide " zu
würdigen verstünden , oder ob wohl TENNYSON's n In Memoriam " eine
Rotte von Verbrechern besonders rühren würde .
§. 82.
Von den ersten Anfängen des Lebens an ist also der Egoismus
ebenso gut vom Altruismus abhängig gewesen wie der Altruismus
vom Egoismus, und im Fortgange der Entwickelung haben sich die
gegenseitigen Dienstleistungen beider beständig vermehrt.
Die rein physische und unbewusste Selbstaufopferung der Er
zeuger , um Nachkommenschaft hervorzubringen , welche uns die
niedrigsten Lebewesen allstündlich darbieten , führt uns in primitiv
ster Gestalt den Altruismus vor Augen, welcher erst den Egoismus
des individuellen Lebens und Wachsthums möglich macht. Steigen
wir zu Geschöpfen höherer Ordnung auf, so erscheint dieser älter
liche Altruismus als directe Hingabe nur eines Theiles des Körpers ,
aber verbunden mit einer stets zunehmenden Hülfeleistung von Seiten
des übrig gebliebenen Körpers in Gestalt von Geweben, welche durch
die zu Gunsten der Nachkommenschaft gemachten Anstrengungen
verbraucht werden . Diese indirecte Aufopferung von Substanz, welche
immer mehr die directe Aufopferung ersetzt, je höher sich der älter
liche Altruismus erhebt, erhält sich bis zum letzten Stadium fort, um
hier auch eine Form des Altruismus darzustellen, welche zwar nicht
mehr älterlicher Altruismus ist, denn auch diese Form bedingt Ver
lust an Substanz, während Anstrengungen gemacht werden, welche
sich nicht selbst direct durch persönliche Massenzunahme belohnen.
Nachdem wir dargelegt, wie im Menschengeschlecht der älter
liche und der Familienaltruismus in den socialen Altruismus über
gehen, bemerkten wir, dass eine Gesellschaft gleich einer Species
nur unter der Bedingung fortleben kann, dass jede Generation ihrer
Mitglieder gleichwerthige Vortheile auf die nächste übertrage , als
wie sie selbst von der vorhergehenden empfangen hat. Und darin
liegt ausgesprochen , dass die Sorge für die Familie durch Sorge
für die Gesellschaft ergänzt werden muss.
Da die volle Entfaltung der egoistischen Genüsse im gesell
schaftlichen Zustande in erster Linie von der Aufrechterhaltung des
236 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII.
§. 83.
Die Lehre, dass das Glück Anderer allein den wahren ethischen
Endzweck bilde, stellt sich uns von zwei verschiedenen Seiten dar.
Die " Andern " können einmal persönlich aufgefasst werden, als In
dividuen, mit denen wir in directe Beziehung treten, oder sie können
unpersönlich , als die Bestandtheile des Gemeinwesens aufgefasst
werden. Insoweit es sich um die durch reinen Altruismus bedingte
Selbstaufopferung handelt, ist es freilich gleichgültig , in welchem
Sinne die Andern " gebraucht werden. Es wird aber die Kritik
erleichtern, wenn wir zwischen diesen beiden Formen unterscheiden.
Fassen wir zunächst die letztere in's Auge.
S. 84.
Dies erheischt vor Allem eine Prüfung des Princips des gröss
ten Glückes " , wie es von BENTHAM und seinen Nachfolgern aus
gesprochen worden ist. Es wird nun zwar allerdings nicht sofort
zugestanden , dass die Lehre , das allgemeine Glück " habe den
Gegenstand des Strebens zu bilden , mit dem reinen Altruismus
identisch sei. Da aber , wenn wirklich das allgemeine Glück das
wahre Endziel des Handelns bildet, das handelnde Individuum seinen
Antheil daran blos als eine Einheit im ganzen Aggregat betrachten
muss , die von ihm nicht höher geschätzt werden darf als irgend
eine andere Einheit, und da diese Einheit im Vergleich zum ganzen
Aggregat beinah unendlich klein ist , so folgt daraus , dass sein
Handeln , sofern es ausschliesslich auf Erzielung allgemeinen
Glückes gerichtet ist , wenn auch nicht absolut, so doch so nahe
als möglich altruistisch ist. Deshalb darf die Theorie, welche all
gemeines Glück zum unmittelbaren Gegenstand des Strebens macht,
wohl mit Recht als die eine Form des Altruismus hingestellt wer
den, die hier erörtert werden soll.
Sowohl um diese Erklärung zu rechtfertigen, als auch um einen
bestimmt formulirten Satz zu haben, an den wir uns halten können,
will ich damit beginnen, eine Stelle aus Herrn MILL'S „ Utilita
rismus zu citiren .
»Das Princip des grössten Glückes " , sagt er, »ist ein leeres
>Wortgebilde ohne vernünftige Bedeutung, sofern nicht das Glück einer
> Person unter Voraussetzung eines gleichen Grades (und mit der nöthi
»gen Einschränkung für verschiedene Arten desselben) genau so hoch
»in Anschlag gebracht wird als das einer andern . Sind aber diese Be
>dingungen erfüllt, so könnte man BENTHAM'S Ausspruch : Jeder hat
240 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII .
„,,für Einen , Niemand für mehr als für Einen zu gelten' , ganz wohl
>> als erklärenden Commentar unter das Nützlichkeitsprincip setzen <
(p. 91 ).
Obgleich nun die Bedeutung des " grössten Glückes " als End
zweck hier bis zu einem gwissen Grade definirt ist, so macht sich
doch das Bedürfniss nach einer schärferen Definition in dem Augen
blicke geltend, wo wir versuchen , uns über die Mittel zur Regelung
des Handelns zu entscheiden , um jenen Endzweck zu erreichen . Vor
Allem erhebt sich die Frage : Müssen wir dieses Princip des höch
,,sten Glückes " als leitenden Grundsatz für die Gemeinschaft in
ihrer gesammten Empfindungsfähigkeit oder für ihre einzelnen Mit
glieder oder für beide annehmen ? Lautet die Antwort , dass das Princip
eher als Leiter der Regierungshandlungen als der individuellen Thätig
keiten zu nehmen sei , so tritt uns sofort die zweite Frage entgegen :
Was soll als Leiter für die individuellen Handlungen dienen ? Wenn
diese nicht etwa nur zu dem Zweck geregelt werden sollen , um „ das
grösste Glück der grössten Anzahl " zu erreichen , so wird irgend
ein anderes Princip der Regelung für die individuellen Handlungen
gefordert und das Princip des grössten Glückes ist also nicht im
Stande , uns den nöthigen ethischen Maassstab zu geben. Sollte
aber erwidert werden , dass das Individuum in seiner Eigenschaft
als staatliche Einheit sich die Förderung des allgemeinen Glückes
zum Ziel setzen müsse, indem es im Hinblick auf dieses Ziel seine
Stimme abgibt oder sonstwie auf die Gesetzgebung einzuwirken
sucht , und dass es ihm insoweit nicht an der nöthigen Leitung
mangle, so bleibt immer noch die Frage : Woher soll die Leitung
für den übrigbleibenden Theil des individuellen Handelns kommen,
der bei weitem der grössere ist ? Wenn dieser Privatabschnitt des
individuellen Handelns sich nicht das allgemeine Glück zum directen
Endzweck nehmen soll , so muss doch hiefür wieder ein anderer
ethischer Maassstab als der hier gebotene aufgesucht werden .
So lange also der reine Altruismus, so formulirt, nicht seine
Unzulänglichkeit eingesteht , muss er sich als ausreichendes Gesetz
für alles Handeln , das individuelle so gut wie das sociale, recht
1
fertigen. Wir wollen ihn zunächst daraufhin in's Auge fassen, dass
er als das wahre Princip für die öffentlichen Einrichtungen , und
sodann daraufhin , dass er als solches für die Privatthätigkeit hin
gestellt wird .
§. 85. Untersuchung und Compromiss . 241
§. 85.
§. 86.
Von der Prüfung der Lehre, dass allgemeines Glück das End
ziel der öffentlichen Thätigkeit sein sollte, gehen wir nun zur Prü
fung der Lehre über , dass dasselbe das Endziel der privaten Thätig
keit zu bilden habe.
Diese behauptet, dass vom Standpunkt der reinen Vernunft das
Glück Anderer keinen geringeren Anspruch darauf habe, Gegenstand
des Strebens jedes Einzelnen zu sein , als persönliches Glück. Wenn
man sie blos als Theile eines Ganzen betrachtet, so sind allerdings
das vom Ich empfundene Glück und ein gleiches von einem Andern
empfundenes Glück gleichwerthig , und hieraus wird dann geschlossen ,
dass nach vernünftiger Anschauung die Pflicht , zum Nutzen An
derer Anstrengungen zu machen, ebenso gross sei wie die Pflicht ,
zu seinem eigenen Nutzen zu arbeiten . So sagt Herr MILL , indem
er daran festhält, dass das utilitaristische Moralsystem, richtig auf
gefasst, mit dem christlichen Grundsatz : „ Liebe Deinen Nächsten
wie Dich selbst " durchaus übereinstimme, dass der Utilitarismus
,,von jedem Menschen verlange, hinsichtlich seines eigenen Glückes
,und desjenigen der Andern ebenso streng unparteiisch zu sein wie
, ein unbetheiligter und wohlwollender Zuschauer " (p. 24). Be
16 *
244 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.
§. 87.
Nun können wir noch einen andern Standpunkt zur Beurthei
lung der altruistischen Theorie einnehmen . Wenn wir darüber einig
sind, dass allgemeines Glück den eigentlichen Gegenstand des Stre
bens zu bilden habe, und nun vernunftgemäss weitergehen wollen,
so müssen wir uns zunächst fragen , auf was für verschiedene Arten
das Aggregat, das wir allgemeines Glück nennen, zusammengesetzt
sein kann, um sodann zu prüfen , welche Zusammensetzung dessel
ben die grösste Summe ergibt.
Nehmen wir an, dass jeder Bürger sein eigenes Glück ganz
unabhängig verfolgt, nicht zum Schaden Anderer, aber auch ohne
active Rücksicht auf Andere ; dann stellt das Glück Aller zusammen
eine bestimmte Summe, ein gewisses allgemeines Glück dar. Nehmen
wir anderseits an, dass jeder Einzelne , statt sein eigenes Glück zum
Gegenstand seines Strebens zu machen, sich nur dem Glücke An
derer widmet : das ergibt wieder eine bestimmte Summe von Glück.
Diese Summe muss kleiner oder gleich gross oder grösser sein als
die erstere . Wenn man einräumt, dass diese Summe entweder kleiner
sei als die erste oder nur gleich gross, so ist also die altruistische
Handlungsweise eingestandenermaassen entweder schlechter oder
§. 87. Untersuchung und Compromiss . 247
zum mindesten nicht besser als die egoistische. Wir müssen des
halb annehmen, dass die so erlangte Summe von Glück grösser sei .
Sehen wir zu , was mit dieser Annahme behauptet wird.
Wenn jeder Einzelne ausschliesslich das Glück Anderer ver
folgt und zugleich ein Empfänger von Glück ist (was er natürlich
sein muss , weil sonst aus dem Glück der Individuen kein Aggregat
von Glück hervorgehen könnte) , so folgt daraus , dass jeder Einzelne
ausschliesslich das Glück geniesst, das auf altruistischer Thätigkeit
beruht , und dass dieses für Jeden einen grösseren Betrag ausmacht
als das egoistische Glück , das er erlangen könnte , wenn er sich
dem Streben nach demselben hingäbe. Lassen wir einen Augen
blick den relativen Betrag der beiden ausser Betracht und fragen
wir blos nach den Bedingungen , unter denen jeder Einzelne das
altruistische Glück empfängt. Ein mitleidiges Wesen findet Freude
daran, Freude zu spenden , und es ist selbstverständlich, dass , wenn
das allgemeine Glück den Gegenstand des Strebens bildet , Jeder
glücklich sein wird , Zeuge des Glückes Anderer zu sein. Allein
worin besteht in einem solchen Falle das Glück Anderer ? Diese
Andern sind ja der Hypothese zufolge ebenfalls Erzeuger und zu
gleich Empfänger altruistischer Freuden . Die Entstehung altruisti
scher Freuden in jedem Einzelnen muss also von der Kundgebung
von Freuden durch Andere abhängen , welche wieder von der Kund
gebung von Freuden durch Andere abhängen muss , und so weiter
in's Endlose. Wo soll also die Freude anfangen? Offenbar muss
es irgendwo eine egoistische Freude geben, bevor die altruistische
Freude möglich wird , welche durch Mitgefühl mit jener hervor
gerufen wird . Also muss offenbar jeder Einzelne in gehörigem
Maasse egoistisch sein , selbst wenn dies nur in der Absicht ge
schähe, um Anderen die Möglichkeit zu gewähren , altruistisch zu
sein. Weit entfernt davon, dass die Summe des Glückes grösser
wird , wenn sich Alle das allgemeine Glück ausschliesslich zum Ziele
setzen, reducirt sich diese Summe vielmehr gänzlich auf Null.
Wie grundverkehrt die Annahme ist, dass das Glück Aller zu
erreichen sei , ohne dass jeder Einzelne seinem eigenen Glücke nach
strebt, wird am besten durch ein physikalisches Beispiel erläutert .
Man denke sich einen Haufen von Körpern, von denen jeder Wärme
erzeugt und von denen in Folge dessen jeder nicht blos Wärme
auf diejenigen in seiner Umgebung ausstrahlt, sondern sich zugleich
gegen sie als Wärmeempfänger verhält. Selbstverständlicherweise
248 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.
§. 88.
Dass der reine Altruismus sich selbst aufhebt , lässt sich noch
auf eine andere Weise darthun. Ein vollkommenes Sittengesetz
muss doch offenbar so beschaffen sein , dass es vollkommen ausführ
bar wird , wenn die menschliche Natur zur Vollkommenheit ge
langt. Wenn aber seine Ausführbarkeit abnimmt, je mehr sich die
menschliche Natur verbessert, und wenn eine ideale Menschennatur
nothwendig seine Unausführbarkeit bedingt, dann kann es nicht das
wahre Sittengesetz sein , nach dem wir streben .
Nun finden sich natürlich um so zahlreichere und verhältniss
mässig bedeutendere Gelegenheiten zur Ausübung des Altruismus ,
je mehr Schwäche oder Unfähigkeit oder Unvollkommenheit in der
Welt ist. Wenn wir über die Grenzen der Familie hinausgehen,
in welcher ein Gebiet für selbstaufopfernde Thätigkeiten offen bleiben
muss, so lange überhaupt Kinder aufzuziehen sind , und wenn wir
250 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.
uns fragen , auf welche Weise ein socialer Wirkungskreis für selbst
aufopfernde Thätigkeiten fortbestehen kann, so leuchtet sofort ein,
dass die Fortdauer von ernsteren Übeln , verursacht durch herrschende
Mängel der Natur des Menschen, die Bedingung dazu bildet . Je
mehr sich die Menschen den Erfordernissen des socialen Lebens an
passen, desto mehr werden sich die Anforderungen an die zu ihren
Gunsten zu machenden Anstrengungen vermindern . Und sind wir
am Endziel der Anpassung angelangt , sind alle Menschen zu gleicher
Zeit im Stande , sich vollkommen selbst zu erhalten und vollkommen
alle die Verpflichtungen zu erfüllen , welche ihnen die Gesellschaft
auferlegt, so verschwinden damit auch alle die Gelegenheiten zur
Hintansetzung des Ichs zu Gunsten Anderer, welche das Gebiet des
reinen Altruismus bildeten .
Solche Selbstaufopferungen werden dann sogar auf doppelte
Weise unausführbar. Indem die Menschen alle ihr Leben mit Er
folg durchführen , kann nicht allein Niemand mehr denjenigen in
seiner Umgebung die Gelegenheit, ihm Hülfe zu leisten , darbieten ,
sondern es kann ihm auch in der Regel nicht Hülfe geleistet wer
den, ohne mit seinen normalen Thätigkeiten in Conflict zu gerathen
und so seine Freuden zu vermindern . Gleich jedem niedrigeren
Geschöpf , das durch seine angebornen Begierden dazu angeleitet
wird, von selbst all das zu thun, was sein Leben erfordert , muss
auch der Mensch, wenn er vollkommen entsprechend dem socialen
Zustande umgewandelt ist, Begierden haben , welche dergestalt seinen
Bedürfnissen angepasst sind, dass er diese Bedürfnisse erfüllt , indem
er einfach seine Begierden befriedigt. Und wenn seine Begierden
alle durch die Ausübung der erforderlichen Thätigkeiten befriedigt
sind, so kann natürlich keine der letzteren statt seiner von einem
Andern ausgeführt werden , ohne dass dadurch die Befriedigung
seiner Begierden vereitelt würde. Die Entgegennahme der Ergeb
nisse der Thätigkeiten von Anderen kann nur unter der Bedingung
stattfinden, dass dafür auf die Freuden verzichtet wird, welche aus
eigener Thätigkeit entspringen. Das Resultat würde also vielmehr
eine Verminderung als eine Vermehrung des Glückes sein , wenn in
einem solchen Falle eine rein altruistische Handlungsweise erzwun
gen werden könnte.
Hiemit werden wir aber unmittelbar auf eine andere grundlose
Annahme übergeleitet, welche die Theorie macht.
§. 89. Untersuchung und Compromiss . 251
§. 89.
füllen . Wenn wir uns daher die Bedeutung des Vorsatzes , nicht
für Selbstbefriedigung , sondern für die Befriedigung Anderer zu
leben, im Einzelnen klar zu machen suchen, so stossen wir auf die
Schwierigkeit, dass derselbe jenseits einer gewissen Grenze gar nicht
mehr ausführbar ist. Und wenn wir ausgemacht haben, bis zu wel
chem Grade es für das Individuum zulässig ist , sich einer Vermin
derung seines körperlichen Wohlergehens zu unterwerfen , welche
durch Aufopferuug von Freuden und Erduldung von Schmerzen ver
ursacht ist, so drängt sich uns die Thatsache auf, dass der Antheil
des Glückes oder der Mittel zum Glück, welche zum Zwecke einer
Andersvertheilung hinzugeben ihm überhaupt möglich ist , einen sehr
eng begrenzten Theil bildet .
Noch strenger ist das Gebot der Einschränkung, welches der
Übertragung von Glück oder von Mitteln zum Glück von einer an
dern Seite entgegengehalten wird . Die durch wirksame Thätigkeit,
durch erfolgreiches Streben nach bestimmten Zwecken gewonnenen
Freuden können unter keiner Bedingung mit einem Andern getheilt
und auf keine Weise von diesem für sich angeeignet werden . Die
Gewohnheit, über das allgemeine Glück manchmal so zu sprechen ,
als ob es ein concretes Erzeugniss wäre , das man in einzelne Theile
zerlegen könnte , oder auch als ob es nach demselben Maassstab
bemessen werden könnte wie der Gebrauch jener materiellen Hülfs
mittel zur Freude , die sich allerdings geben und empfangen lassen,
hat zur Folge gehabt, dass die Menschen auf die Wahrheit unauf
merksam wurden, dass die Freuden des erfolgreichen Strebens nicht
übertragbar sind. Der Knabe, der sein Marmelspiel gewonnen , der
Athlet, der ein Kraftstück ausgeführt, der Staatsmann , der einen
Triumph seiner Partei errungen , der Erfinder , der eine neue Maschine
ausgedacht, der Mann der Wissenschaft , der eine neue Wahrheit
entdeckt, der Romanschreiber, dem die Zeichnung eines seiner Cha
raktere gut gelungen ist, der Dichter, der eine Gemüthsbewegung
zart wiedergegeben hat - sie alle empfinden Freuden , welche der
Natur der Sache nach ausschliesslich nur von demjenigen genossen
werden können, dem sie zukommen. Und wenn wir uns unter all
den Beschäftigungen umsehen , zu denen die Menschen nicht durch
absolute Nothwendigkeit gedrängt werden - wenn wir die mancherlei
ehrgeizigen Bestrebungen in's Auge fassen , welche im Leben eine
so grosse Rolle spielen , so erkennen wir, dass , so lange das Be
wusstsein der Leistungsfähigkeit eine wesentliche Freude bleibt , es
§. 90. Untersuchung und Compromiss . 253
auch so lange eine wesentliche Freude gibt, welche nicht auf altruisti
schem , sondern nur auf egoistischem Wege erstrebt werden kann .
Wenn wir also am einen Ende jene Freuden abziehen, welche
von der Erhaltung des Körpers in unbeschädigtem Zustande unzer
trennlich sind, und am andern Ende die Freuden erfolgreicher Thä
tigkeit wegnehmen, so erscheint der noch übrig bleibende Betrag
so klein, dass die Annahme unmöglich länger haltbar ist, dass das
Glück überhaupt eine Vertheilung in der Weise, wie es der Utili
tarismus annimmt, zulasse.
§. 90.
Endlich können wir noch von einer andern Seite her die In
consequenz dieses umgestalteten Utilitarismus nachweisen , welcher
seine Lehre für eine Erweiterung des christlichen Grundsatzes :
,Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst ", erklärt, sowie auch jenes
Altruismus, welcher noch weiter geht und den Grundsatz aufstellt :
29 Lebe für Andere ! "
Das wahre Gesetz des Handelns muss so beschaffen sein , dass
es mit Vortheil von Allen beobachtet werden kann. KANT sagt :
„ Handele nur nach dem Grundsatz , von dem Du zu gleicher Zeit
n wünschen kannst, dass er zum allgemeinen Gesetze werde. " Und
wenn wir von einigen nothwendigen Einschränkungen dieses Grund
satzes absehen, so können wir ihn offenbar bis zu dem Maasse
gelten lassen, dass wir einräumen, dass eine Handlungsweise , welche
unzulässig wird, wenn sie sich der Universalität annähert, unmög
lich die rechte sein kann. Wenn also die Theorie des reinen Al
truismus , welche ja besagt, dass die Anstrengungen nicht zum per
sönlichen Nutzen, sondern zum Nutzen Anderer zu machen seien,
haltbar sein soll, so muss nachgewiesen werden , dass sie auch dann
gute Resultate hervorbringen wird , wenn Alle danach handeln.
Vergegenwärtigen wir uns nun die Folgen, die daraus entspringen ,
dass Alle sich rein altruistisch verhalten.
In erster Linie setzt dies eine ganz unmögliche Vereinigung
sittlicher Attribute voraus. Die Hypothese nimmt von jedem Ein
zelnen an , er berücksichtige sich selbst so wenig und Andere so
sehr, dass er fortwährend seine eigenen Freuden aufopfere, um ihnen
Freude zu bereiten . Wenn dies aber zum allgemeinen Charakter
zug wird und die Handlungsweise durchaus und überall demselben
entspricht, so haben wir uns jeden Einzelnen nicht nur als einen
254 Die Thatsachen der Ethik. Cap . XIII .
§. 91 .
Wenn wir also die Bedeutungen der vom reinen Altruismus
gebrauchten Ausdrücke näher prüfen oder die nothwendigen Folge
rungen aus dieser Theorie ziehen , so finden wir, dass er, in welcher
Form er sich auch ausdrücken mag, stets seine Anhänger in man
cherlei Widersprüche verwickelt.
Wenn " das grösste Glück der grössten Anzahl oder mit an
dern Worten " das allgemeine Glück " das wahre Endziel des Han
delns bildet, dann muss es nicht allein für alles öffentliche, sondern
auch für alles private Handeln das Endziel sein , weil sonst der
grössere Theil des Handelns ohne Leitung bliebe. Ziehen wir also
in Betracht, inwiefern dies Princip für jede Art geeignet erscheint.
Wenn die gemeinsame Thätigkeit ihre Leitung von diesem Princip
nebst dem erläuternden Commentar : „ Jeder hat für Einen und
Niemand für mehr als für Einen zu gelten " , empfangen soll , so
müssen alle Verschiedenheiten des Charakters und des Handelns ,
der Verdienste und der Verschuldung unter den Bürgern einfach
unbeachtet gelassen werden, da ja keine Unterscheidung vorgesehen
ist ; und da überdies dasjenige, hinsichtlich dessen Alle gleich viel
zu gelten haben, nicht das Glück selbst sein kann, welches sich
nicht vertheilen lässt , und da eine gleichmässige Zutheilung der
concreten Mittel zum Glück sowohl in letzter Linie als auch schon
zunächst nicht im Stande wäre, das grösste Glück hervorzurufen ,
so ergibt sich, dass als einzig haltbare Auslegung des Princips nur
die gleichmässige Vertheilung der Bedingungen übrig bleibt, unter
welchen das Glück verfolgt werden kann : wir finden mit andern
Worten in dem Princip nichts weiter, als dass es auf weitschwei
fige Art Billigkeit verlangt. Wenn anderseits Glück im Allgemeinen
als Ziel der privaten Thätigkeit hingestellt und vom Individuum
gefordert wird, dass es sein eigenes Glück und dasjenige der An
dern so beurtheile , wie dies ein unparteiischer Zuschauer thun
würde , so sehen wir , dass keinerlei Annahme hinsichtlich dieses
Zuschauers ausser der einen , welche ihn in Widerspruch mit sich
selbst bringt, zu einem andern Resultate führen kann, als dass
eben jeder Einzelne das Glück geniessen oder diejenigen Mittel zum
Glück sich aneignen soll , welche er durch seine eigenen Anstrengun
gen erwirbt : ―――― Billigkeit erweist sich abermals als der einzige
Inhalt des Satzes. Versuchen wir dann eine andere Methode und
§. 91 . Untersuchung und Compromiss . 257
sehen wir zu, wie die grösste Summe von Glück zusammengesetzt
sein müsste , wobei wir die Thatsache anerkennen, dass ein billiger
Egoismus eine gewisse Summe desselben erzeugen wird, und fragen .
wir uns nun , wie der reine Altruismus eine grössere Summe er
zeugen könnte , so ergibt sich , dass , wenn Alle ausschliesslich
altruistischen Freuden nachstrebten und auf diese Weise eine grössere
Summe von Freuden erzeugen sollten, dies nur unter der Voraus
setzung möglich wäre , dass altruistische Freuden , welche aus Mit
gefühl entspringen, ganz ohne egoistische Freuden existiren könnten ,
für welche Mitgefühl vorhanden sein möchte : ――――― eine offenbare Un
―
möglichkeit ; oder unter der andern Voraussetzung, dass , indem
die Nothwendigkeit egoistischer Freuden einmal zugegeben - be
hauptet wird, die grösste Summe von Glück werde erzielt werden ,
wenn alle Individuen mehr altruistisch als egoistisch sind , damit
indirect als allgemeine Wahrheit behauptet wird , dass repräsen
tative Gefühle lebhafter seien als präsentative : - abermals eine
Unmöglichkeit . Ferner nimmt die Lehre vom reinen Altruismus
an, dass das Glück in beliebigem Umfange übertragen oder anders
vertheilt werden könne , während die Sache thatsächlich so liegt ,
dass Freuden der einen Art sich in irgend erheblichem Maasse nicht
ohne verderbliche oder wenigstens ausserordentlich nachtheilige
Folgen übertragen lassen und Freuden einer andern Art überhaupt
keinerlei Übertragung gestatten . Sodann verwickelt sich der reine
Altruismus in den fatalen Widerspruch , dass , während doch ein
richtiges Princip des Handelns mehr und mehr in die Praxis über
gehen muss, je weiter die Besserung der Menschheit fortschreitet ,
das altruistische Princip vielmehr immer weniger und weniger durch
führbar wird , je mehr sich die Menschen einer idealen Form an
nähern , weil das Gebiet zur Ausübung desselben sich dabei fort
während verringert . Endlich erhellt sein sich selbst aufhebender
Charakter auch aus der Beobachtung, dass , wenn wirklich Alle das
selbe zum Grundsatz ihres Handelns machen sollen , wie es doch
geschehen muss , sofern es ein gesunder Grundsatz ist , dies noth
wendig bedingt, dass Alle zu gleicher Zeit im höchsten Grade un
―――
egoistisch und im höchsten Grade egoistisch seien bereit , sich
selbst zu Gunsten Anderer zu schädigen , und zugleich bereit , Vor
theile auf Kosten Anderer anzunehmen : — Charakterzüge, welche
unmöglich zusammen existiren können .
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 17
258 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.
§. 92.
sprüchen realer oder imaginärer und oft sehr kleinlicher Art Nach
druck zu geben , so respectiren sich doch die verschiedenen Nationali
täten viel mehr als in früheren Zeiten. Allerdings pflegen die Sieger
heute noch Theile des feindlichen Gebietes sich anzueignen und
Geldentschädigungen zu fordern , aber doch folgt gegenwärtig auf
eine Eroberung nicht mehr wie früher in der Regel die vollkommene
Einverleibung der besetzten Landstrecken und die Unterjochung ihrer
Bewohner. Die Individualität der Gesellschaften wird in bedeutend
höherem Maasse geschont. Gleichzeitig ist auch der altruistische
Wechselverkehr viel lebhafter : man leistet sich wesentliche Hülfe
bei grösseren Unglücksfällen durch Überschwemmungen , Feuersbrünste ,
Hungersnoth und Ähnliches. Und in den internationalen Schieds
gerichten , die wir in neuester Zeit kennen gelernt haben und die
geradezu eine Anerkennung des Rechts der einen Nation gegenüber
der andern enthalten , dürfen wir einen ferneren Fortschritt dieses
erweiterten Altruismus erblicken. Ohne Zweifel muss noch sehr
Vieles in milderndem Lichte betrachtet werden, denn in dem Ver
halten der Civilisirten gegen die Uncivilisirten ist noch wenig von
diesem Fortschritt zu merken. Man könnte sogar behaupten , das
Gesetz der Vorzeit -- , Leben um Leben " - sei von uns zu dem
Gesetz entwickelt worden, „ für ein Leben viele Leben " , wie in den
bekannten Fällen mit Bischof PATTESON und Mr. BIRCH ; allein dem
steht doch die versöhnende Thatsache gegenüber , dass wir unsere
Kriegsgefangenen nicht mehr foltern oder verstümmeln . Wenn man
sagt, wie die Juden sich für berechtigt hielten , die Länder in Besitz
zu nehmen, welche Gott ihnen versprochen hatte, und in einzelnen
Fällen die Bewohner einfach auszurotten , so pflegten wir , um „ die
" unverkennbare Absicht der Vorsehung " zu erfüllen , niedrigere Racen
aus ihrem Besitzthum zu vertreiben , wo immer es uns nach ihrem
Gebiete gelüstet - so lässt sich dem entgegenhalten , dass wir
wenigstens nicht viel mehr tödten , als nothwendig erscheint, und
diejenigen, die sich unterwerfen , ruhig gewähren lassen . Und sollte
Jemand darauf hinweisen , dass , wie Attila sich selbst für die
„ Geissel Gottes " erklärte , welche die Menschen für ihre Sünden
züchtige, während er die Völker und ganze Nationen unterwarf oder
vernichtete , so auch wir , wenigstens wie uns ein oberster Statt
halter und ein von ihm citirter Geistlicher repräsentiren, uns dazu
berufen halten , die Heiden, welche polygamisch leben , mit Flinten
und Kanonen zu züchtigen - so ist es doch anderseits unzweifel
262 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV .
haft, dass heute selbst der grausamste Jünger des Lehrers der Barm
herzigkeit seine Rachbegier nicht so weit treiben würde , ganze
Länder zu entvölkern und Dutzende von Städten dem Erdboden
gleich zu machen. Und erinnern wir uns überdies , dass es eine
,,Gesellschaft zum Schutz der Eingebornen " gibt, dass in gewissen
Colonien besondere Commissare eigens dazu angestellt sind, die In
teressen der Eingebornen zu beschützen , und dass in vielen Fällen
den Eingebornen ihr Land abgekauft wurde , worin , auf wie un
billige Weise es auch geschehen sein mag, doch immerhin eine ge
wisse Anerkennung ihrer Rechte ausgesprochen liegt, so dürfen wir
wohl sagen, dass, so gering auch der Fortschritt sein mag, welchen
der Compromiss zwischen Egoismus und Altruismus in internationalen
Angelegenheiten gemacht hat , doch jedenfalls die ersten Schritte
in der angedeuteten Richtung sich nicht verkennen lassen .
XIV . Capitel .
Versöhnung .
§. 93.
---
auf eine Stufe erheben werde, auf welcher er, was die Spontaneität
seiner Äusserungen betrifft, ganz dem älterlichen Altruismus gleich
kommen wird, - auf eine solche Höhe, dass die Fürsorge für das
Glück Anderer zum täglichen Bedürfniss werden wird auf eine
solche Höhe, dass die niedrigeren egoistischen Genüsse beständig
diesem höheren egoistischen Genuss untergeordnet werden ; und dazu
wird es keiner besonderen Anstrengung bedürfen , sondern dieser
höhere egoistische Genuss wird stets von selbst den Vorzug erhalten ,
so oft er erreichbar ist.
Sehen wir nun näher zu , wie die Ausbildung des Mitgefühls
oder der Sympathie, welche natürlich so rasch fortschreiten muss ,
als dies die Verhältnisse überhaupt zulassen, diesen Zustand herbei
führen wird.
§. 94.
§. 95.
Von dem Grade, bis zu welchem das Mitgefühl sich wird ent
wickeln können, wenn alle Hindernisse aus dem Wege geräumt sind ,
werden wir uns leichter eine Vorstellung zu machen vermögen ,
nachdem wir erst die Agentien , durch welche es angeregt wird,
erörtert und die Gründe dargelegt haben, die uns vermuthen lassen,
dass jene Agentien später eine grössere Wirkung ausüben werden.
Zwei Factoren kommen hier in Betracht : die natürliche Sprache der
268 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV.
I
§. 95. Versöhnung . 269
Noch ein anderer, ebenso wichtiger, wenn nicht sogar viel wich
tigerer Fortschritt von verwandter Natur ist ausserdem zu er
warten. Der Vocalausdruck der Empfindungszustände wird sich
gleichzeitig weiter entwickeln. Die Stärke, die Höhe, die Klang
farbe und die Veränderung eines Tones sind sämmtlich Merkzeichen
von Gefühlen, und in verschiedenen Weisen und Verhältnissen com
binirt können sie dazu dienen , verschiedene Grade und Arten von
Gefühlen zum Ausdruck zu bringen . Wie ich an einer andern Stelle
auseinandergesetzt habe, sind Cadenzen die Commentare der Emotionen
zu den Behauptungen des Intellects *. Nicht blos bei erregter Rede ,
sondern auch schon beim gewöhnlichen Sprechen deuten wir durch
auf- und absteigende Satztheile, durch verschiedene Grade der Ab
weichung von der mittleren Tonhöhe sowie durch Anbringung und
wechselnde Stärke eines besonderen Nachdrucks die Art des Empfin
dungszustandes an , welcher den betreffenden Gedanken begleitet.
Nun unterliegt aber die Kundgebung der Gefühle durch Tonschwan
kungen ebenso wie diejenige durch sichtbare Veränderungen gegen
wärtig einem gewissen hemmenden Zwang : die Motive zur Zurück
drängung derselben sind im einen Falle in gleicher Weise wirksam
wie im andern. Daraus entspringt eine zwiefache Wirkung . Diese
hörbare Sprache der Gefühle kommt nicht bis zur Grenze ihrer vor
handenen Leistungsfähigkeit zur Verwendung, und ausserdem wird
sie in erheblichem Maasse missbraucht , indem sie andere Gefühle
ausdrückt, als wirklich empfunden werden. Die einfache Folge dieses
Nichtgebrauchs und Missbrauchs ist , dass jene Entwickelung der
selben unterdrückt wird, welche durch den normalen Gebrauch unter
halten würde . Wir müssen nun aber annehmen , dass , wenn die
moralische Anpassung fortschreitet und die Nothwendigkeit , seine
Gefühle zu verbergen, immer geringer wird , ihr lautlicher Ausdruck
sich dabei immer höher ausbilden werde. Wenn auch nicht zu er
warten ist, dass Cadenzen jemals so genau unsere Emotionen wieder
zugeben im Stande sein werden, wie dies Worte für die Gedanken
thun, so ist es doch ganz wohl möglich, dass sich die emotionelle
Sprache der Zukunft ebenso hoch über diejenige der Gegenwart
erheben wird , als sich unsere intellectuelle Sprache bereits über die
der niedersten Menschenracen erhoben hat.
Die gleichzeitige Steigerung des Vermögens, sowohl sichtbare
* S. meinen Essay „Über den Ursprung und die Bedeutung der Musik“ .
270 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV. C
als hörbare Zeichen der Gefühle zu verstehen , darf auch nicht ausser
Acht gelassen werden . In unserer nächsten Umgebung können wir
erhebliche Verschiedenheiten beobachten sowohl hinsichtlich der
Fähigkeit, solche Zeichen überhaupt wahrzunehmen , als hinsichtlich
der Fähigkeit , die ihnen zu Grunde liegenden geistigen Zustände
und deren Ursachen sich vorzustellen : hier oft eine Stumpfheit , au
welche eine schwache Veränderung des Gesichtsausdrucks oder etwas
Ungewöhnliches in der Stimme gar keinen Eindruck macht oder
welche wenigstens nicht im Stande ist , sich zu denken , was der
Andere dabei fühlt ; und dort wieder eine so rasche Beobachtung
und ein so durchdringender Blick, dass der Geisteszustand des An
dern und seine Ursache augenblicklich erfasst wird. Wenn wir uns
nun diese beiden Eigenschaften vergrössert denken ― sowohl eine
feinere Wahrnehmung der Zeichen als auch eine lebhaftere construc
tive Einbildungskraft annehmen so werden wir einigermaassen
einen Begriff von der Vertiefung und Erweiterung des Mitgefühls
bekommen , die in Zukunft stattfinden wird . Die lebendigere Re
präsentation der Gefühle Anderer, welche eine ideale Anregung der
Gefühle bedingt, die sich der realen bedeutend nähert, muss auch
eine grössere Ähnlichkeit zwischen den Gefühlen des Mitfühlenden
und denen des Bemitleideten bedingen ――――――― eine Ähnlichkeit , welche
der Identität nahekommen mag.
Durch gleichzeitige Zunahme seiner subjectiven und seiner ob
jectiven Factoren kann sich das Mitgefühl demnach wohl, je mehr
die ihm entgegenstehenden Hindernisse zurücktreten , ebenso hoch
über den Grad erheben , den uns heute ein mitfühlender Mensch
vorführt, als es sich bei diesem über den Grad erhoben hat, auf
welchem der Stumpfsinnige noch verharrt.
§. 96.
Welche Richtung muss nun die diesen Process begleitende
Entwickelung des Handelns einschlagen ? Wie müssen sich die Be
ziehungen zwischen Egoismus und Altruismus gestalten, wenn sich
die menschliche Natur dieser Form annähert ?
Hier ist der Ort, uns eine im Capitel über die Relativität der
Freuden und Leiden gezogene Folgerung in's Gedächtniss zurück
zurufen, auf deren Bedeutung für später ich dort schon ausdrück
lich aufmerksam gemacht habe. Es wurde damals auseinander
- Voraus
gesetzt, dass es keinerlei Thätigkeit gibt, welche nicht
§. 96. Versöhnung. 271
gesetzt, dass sie mit der Forterhaltung des Lebens vereinbar ist -
zur Quelle von Freuden werden kann , wenn die Bedingungen der
Aussenwelt die Ausübung derselben andauernd verlangen . Und hier
können wir nun als einfache Erweiterung jenes Satzes hinzufügen ,
dass , wenn die Bedingungen irgend eine Classe von Thätigkeiten in
verhältnissmässig beträchtlichem Umfang erfordern , auch die jene
Classe von Thätigkeiten begleitenden Freuden sich in entsprechend
hohem Maasse ausbilden werden . Welche Tragweite haben nun
diese allgemeinen Schlüsse für die besondere uns vorliegende Frage ?
Dass das Mitgefühl sowohl für die öffentliche wie für die in
dividuelle Wohlfahrt von wesentlicher Bedeutung ist , ging aus dem
Früheren klar hervor. Wir sahen, dass das Zusammenwirken und
die Vortheile, welche es dem Einzelnen und Allen bringt , sich in
dem Maasse höher ausbilden, als die altruistischen Interessen oder,
was dasselbe besagt, die Interessen des Mitgefühls sich erweitern .
Die durch das Gefühl für die Nebenmenschen veranlassten Hand
lungen sind also vor Allem unter diejenigen zu rechnen, welche von
den socialen Bedingungen gefordert werden. Es sind Handlungen,
welche der Fortbestand und die Weiterentwickelung der socialen
Organisation fortwährend zu vermehren streben , und daher auch
Handlungen, mit denen sich stets zunehmende Freude verbinden wird.
Aus den Gesetzen des Lebens ergibt sich unmittelbar der Schluss,
dass die unaufhörlich wirksame sociale Schulung die menschliche
Natur soweit umgestalten muss , bis dieselbe schliesslich von selbst
den Freuden des Mitgefühls nachstreben wird bis zur äussersten
Grenze dessen, was dem Einzelnen und Allen vortheilhaft sein kann.
Das Streben nach altruistischen Genüssen wird nie hinter der Er
weiterung des Wirkungskreises altruistischer Thätigkeiten zurück
bleiben.
Wo die Natur der Menschen so geartet ist , da müssen zwar
die altruistischen Genüsse in gewissem, abgeändertem Sinne egoistisch
bleiben, sie werden aber nicht in egoistischem Sinne - nicht aus
egoistischen Motiven erstrebt werden . Obgleich das Freude-Bereiten
selbst wieder eine Quelle der Freude sein wird , so wird doch nicht
der Gedanke an die zu erwartende Freude des Mitgefühls , sondern
nur der Gedanke an die bereitete Freude das Bewusstsein beschäf
tigen. Dies ist ja in erheblichem Grade schon jetzt so . Bei einem
wahrhaft mitfühlenden Menschen ist die Aufmerksamkeit so sehr
durch den nächstliegenden Zweck, das Glück Anderer, in Anspruch
272 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV. 1
§. 97.
kann seine volle Höhe erst dann erreichen , wenn längst nicht mehr
so häufige Gelegenheiten zu ernstlicher Selbstaufopferung oder Ähn
lichem vorhanden sind.
Betrachten wir die Sache von etwas verändertem Standpunkt
aus , und dieselbe Wahrheit zeigt sich uns blos von einer andern
Seite. Wir haben bereits gesehen , dass mit dem Fortschritt der
Anpassung Jeder eine solche Beschaffenheit erlangt, dass man ihm
nicht Hülfe leisten kann, ohne auf irgend eine Weise eine angenehme
Thätigkeit bei ihm zu hemmen. Ein wohlthätig wirkendes Da
zwischentreten zwischen Fähigkeit und Function ist in der That
unmöglich , wenn beide einander völlig angepasst sind . Folglich
müssen sich auch in demselben Maasse , als die Menschheit einer
vollkommenen Anpassung ihrer Natur an die socialen Bedürfnisse
näher kommt , immer weniger und untergeordnetere Gelegenheiten
zu gegenseitiger Hülfeleistung finden .
Und wie endlich im letzten Capitel dargelegt wurde , muss
dasselbe Mitgefühl, das zu Anstrengungen zum Wohle Anderer an
treibt, sich durch die Selbstschädigung Anderer verletzt fühlen und
daher eine Abneigung dagegen hervorrufen, Wohlthaten von ihnen
anzunehmen , welche durch Selbstschädigung derselben erkauft wer
den mussten . Was geht daraus hervor ? Während jeder Einzelne ,
sobald sich Gelegenheit dazu bietet , mit Freuden bereit, ja eifrig
besorgt ist , egoistische Genüsse aufzugeben, können die Andern nicht
umhin , da sie ebenso geartet sind, sich diesem Aufgeben zu wider
setzen. Sobald Jemand mit dem Vorsatze , sich selbst härter zu
behandeln, als ein "" unparteiischer Zuschauer " es anordnen würde ,
sich weigern sollte , das , was ihm zukommt , sich zu eigen zu
machen, werden Andere für ihn sorgen, da er nicht selbst für sich
sorgen will, und nothwendigerweise darauf bestehen müssen , dass
er das ihm Gebührende wirklich geniesse. Der allgemeine Altruis
mus in seiner völlig ausgebildeten Form muss also individuellen
Ausschreitungen des Altruismus unvermeidlich einen Damm ent
gegensetzen. Das Verhältniss , wie wir es gegenwärtig gewohnt sind ,
wird sich geradezu umkehren : statt dass jeder Einzelne seine eigenen
Ansprüche verficht , werden Andere seine Ansprüche für ihn ver
treten, natürlich nicht durch active Anstrengungen , welche nicht
nöthig sein werden , sondern indem sie einfach passiv jedes über
mässige Aufgeben derselben zurückweisen . Ein solches Verhalten
bedingt übrigens Nichts , was nicht schon jetzt in seinen ersten
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 18
274 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV.
§. 98.
§. 99.
XV . Capitel.
· §. 100.
Wenn wir das Wort „ absolut " auf die Ethik anwenden ,
dürfte wohl Mancher glauben, es solle Principien des richtigen Han
delns bezeichnen , welche ausser jeder Beziehung zum Leben in seiner
Bedingtheit hier auf Erden stünden - ausserhalb jeder Beziehung
zu Zeit und Ort und unabhängig von dem Universum, wie uns das
selbe gegenwärtig sichtbar vorliegt - ,, ewige " Principien , wie man
sich auszudrücken pflegt. Wer sich jedoch der in den " Grundlagen
der Philosophie dargelegten Anschauungen erinnert, der wird nicht.
geneigt sein, dem Worte diese Erklärung unterzulegen . Gut , wie
wir es zu denken vermögen , bedingt nothwendig auch den Gedanken
an nicht gut oder böse als sein Correlativum ; wollte man also die
Handlungen der durch die Erscheinungen sich kundgebenden Macht
gut nennen, so würde man damit die Möglichkeit einräumen, dass
diese Macht auch böse Handlungen begehen könnte. Wie sollten
aber unabhängig von dieser Macht Bedingungen solcher Art existiren
können , dass die Unterwerfung ihrer Handlungen unter dieselben
diese zu guten , die Nichtunterwerfung zu bösen stempelte ? Wie
§. 101. Absolute und relative Ethik . 281
§. 101 .
urtheilt auf Grund der Annahme, dass sie definitiv als gut oder
böse zu bezeichnen sei . Selbst wo etwa Einschränkungen zugestan
den werden , da geschieht dies nur mit dem Hintergedanken, dass
eigentlich doch irgend eine solche positive Beurtheilung gegeben
werden sollte.
Und es sind nicht etwa blos die Gedanken und Reden des
Volkes, in denen wir diese Anschauung entdecken. Dieselbe Ansicht 1
wird, wenn auch nicht so umfassend und bestimmt, so doch theil
weise und implicite von den Moralphilosophen ausgesprochen. In
seinen „ Methods of Ethics " ( 1. Aufl . p. 6) sagt Herr SIDGWICK : —
" Dass es unter allen irgend gegebenen Umständen jeweils nur Eines
„gibt, was man thun sollte, und dass man dies Eine auch erkennen
„ kann , ist eine fundamentale Voraussetzung, welche nicht blos die
"Philosophen machen , sondern jeder Mensch, der überhaupt über
„moralische Dinge nachzudenken angefangen hat " *. In diesem Satz
wird allerdings nur die letztere der oben genannten Behauptungen
ausdrücklich ausgesprochen, nämlich dass man in jedem einzelnen
Falle wissen könne, was gethan werden solle . Allein wenn auch
das , was gethan werden sollte , nicht unmittelbar mit dem Guten I
identificirt wird , so dürfen wir doch , da jede Andeutung für das
Gegentheil fehlt , wohl annehmen , dass Herr SIDGWICK beide für
identisch hält ; und unzweifelhaft befindet er sich, wenn er dies als
die Postulate der Moralwissenschaft hinstellt, durchaus im Einver
ständniss mit den meisten , wo nicht mit allen , welche dieselbe
zum Gegenstand ihres Studiums gemacht haben. Und auf den ersten
Blick scheint auch in der That Nichts selbstverständlicher, als dass,
wenn einmal die Handlungen überhaupt beurtheilt werden sollen ,
diese Postulate anzuerkennen seien. Nichtsdestoweniger lassen sich
gegen beide wichtige Einwände erheben, und ich hoffe sogar nach
weisen zu können , dass weder das eine noch das andere haltbar ist.
Weit entfernt, zuzugeben, dass es in jedem Falle nur einen guten
und einen bösen Weg gebe , behaupte ich vielmehr, dass in zahl
reichen Fällen von gut im eigentlichen Sinne gar nicht die Rede
sein kann , sondern nur von dem kleinsten Übel, und ausserdem
* Diese Stelle findet sich in der zweiten Auflage nicht mehr vor, allein
die Auslassung beruht allem Anschein nach nicht etwa auf einer Änderung
seiner Ansicht hierüber , sondern blos darauf , dass sich dieselbe der Beweis
führung , welche der Paragraph enthält , in der umgearbeiteten Form nicht
mehr ungezwungen einfügen liess.
§. 102. Absolute und relative Ethik . 283
§. 102 .
§. 103.
Die besten Beispiele von absolut guten Handlungen, die über 1
haupt in Frage kommen können , lassen sich dem Gebiete entnehmen ,
wo sich die Natur der Menschen und die an sie gestellten Anfor
derungen einander bereits vollständig angepasst haben, noch bevor
die sociale Entwickelung begann. Zwei davon werden hier genügen .
Man betrachte einmal das Verhältniss einer gesunden Mutter
zu einem gesunden Säugling. Zwischen beiden besteht eine gewisse
gegenseitige Abhängigkeit , welche für beide eine Quelle grosser
Freuden bildet. Indem die Mutter dem Kinde seine natürliche Nah
rung darreicht, empfindet sie eine hohe Befriedigung, während das
Kind die Befriedigung seines Hungers dabei findet - eine Befrie
digung, welche nur die Begleiterscheinung von Förderung des Lebens ,
von Wachsthum und sich steigernden Genüssen ist . Nun denke
man sich dies Verhältniss aufgehoben, und beide Theile leiden dar
unter. Die Mutter empfindet sowohl körperliche als geistige Schmer
zen, und die schmerzlichen Gefühle, welche das Kind zu ertragen
hat, ziehen als unvermeidliche Folge physisches Unheil und eine
gewisse Schädigung seiner emotionellen Natur nach sich . Somit ist
dies in der That eine Handlung, die beiden ausschliesslich Freude
bringt, während das Unterbleiben derselben beiden Schmerz zufügt ,
und sie gehört in Folge dessen zu der Gattung, die wir hier als
absolut gut bezeichnet haben.
Ein ähnliches Beispiel mag uns das Verhältniss eines Vaters
zu seinen Kindern liefern . Ist er an Körper und Geist gesund und
§. 103. Absolute und relative Ethik . 285
kräftig, so findet sein Knabe, voll Eifer für sein Spiel, bei ihm
stets ein theilnehmendes Eingehen auf dasselbe , und indem ihre
Scherze und Spässe beiden gegenseitige Freuden bereiten , fördern
sie zugleich nicht allein des Kindes physisches Wohlergehen , son
dern verstärken auch jene Bande des guten Einverständnisses zwi
schen beiden , welche die spätere Leitung des Knaben so sehr er
eichtern . Hat der Vater dann vernünftige Ansichten über geistige
Entwickelung, hält er sich von dem Unsinn des Erziehungssystems
fern, wie es leider gegenwärtig noch im Schwange und unglück
licherweise sogar vom Staate sanctionirt ist, und sieht er ein, dass
das Wissen aus zweiter Hand, wie es aus den Büchern zu erlangen
ist, erst dann das Wissen aus erster Hand , das durch directe Beob
achtungen gesammelt werden muss , zu ergänzen anfangen darf,
wenn von diesem letzteren bereits ein ordentlicher Grundstock an
gelegt ist, so wird er seinem Knaben mit lebhafter Theilnahme
bei jener Durchforschung der ihn umgebenden Welt behülflich sein ,
welche dieser mit so grossem Entzücken betreibt , und so wird er
in jedem Augenblick Befriedigung gewähren und empfangen, wäh
rend er zugleich auf's beste für das fernere Wohlergehen seines
Kindes sorgt. Auch hier haben wir also wieder Handlungen von
ausschliesslich freudebringender Art in ihren unmittelbaren so gut
wie in ihren entfernten Folgen also absolut gute Handlungen .
Der Verkehr Erwachsener unter einander bietet aus dem schon
angeführten Grunde verhältnissmässig wenig Fälle dar , welche voll
ständig in diese Kategorie gehören . In ihrem Zusammenwirken machen
sich fast zu jeder Stunde Ursachen geltend, welche den reinen Genuss
auf der einen oder andern Seite mehr oder weniger verkümmern in
Folge der unvollkommenen Anpassung an die gestellten Anforde
rungen . Die Freuden , welche den Menschen daraus erwachsen , dass
sie in ihrem Berufe thätig sein können und in dieser oder jener
Form den Lohn für ihre geleisteten Dienste empfangen , haben in
der Regel die schlimme Kehrseite, dass diese Berufsarbeiten in er
heblichem Grade unangenehm sind . Immerhin gibt es Fälle, wo
die Quelle der Lebenskräfte so reichlich fliesst , dass jede Unthätig
keit zur Last wird , und wo es sich zugleich um eine tägliche Ar
beit von nicht zu langer Dauer und von der Art handelt , welche
der betreffenden Natur gerade angemessen ist , wo also auch in Folge
dessen weit mehr Freude als Schmerz daraus entspringt. Wenn
nun die von einem solchen Menschen geleisteten Dienste ihm von
286 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.
§. 104 .
Übel brächte , als die gewesen wären, welche dadurch verhütet wer
den sollten . Wer kann nun sagen, wo dieser Punkt liegt ? Dies
hängt ja von der ganzen Constitution und den Bedürfnissen des
Betreffenden ab, er liegt auch nicht in zwei Fällen genau an der
selben Stelle und kann also auch von Niemand mehr als höchstens
errathen werden. Die Übertretungen oder Unterlassungen eines
Dienstboten gehen von den kleinlichsten bis zu den ernstesten
Dingen , und ebenso können die übeln Folgen, welche seine Ent
lassung nach sich zieht, jeden irgend möglichen Grades sein , vom
gleichgültigsten bis zum bedenklichsten. Diese Strafe mag ihm
auferlegt werden in Folge eines sehr geringfügigen Vergehens : dann
hat die Herrschaft nicht gut gehandelt ; und wird er auch nach
zahlreichen schwereren Vergehen nicht bestraft, so hat sie gleichfalls
nicht gut gehandelt. Auf welche Weise soll nun aber der Grad
bestimmt werden, den das Vergehen erreichen muss , damit die Ent
lassung weniger schlimm erscheint als die Nichtentlassung ? In der
gleichen Verlegenheit befinden wir uns hinsichtlich des ungehörigen
Benehmens des Kaufmanns. Keiner vermag den Betrag an positiven
und negativen Schmerzen anzugeben, welche aus der Duldung des
selben entspringen, und Keiner den Betrag an positiven und negativen
Schmerzen, welche die Nichtduldung zur Folge hat, und noch weni
ger vermag uns in allen dazwischenliegenden Fällen Jemand zu sagen,
ob hier das eine oder das andere überwiegt .
In ihren Beziehungen zu weiteren Kreisen kommen die Menschen
häufig in Verhältnisse , welche eine Entscheidung für den einen oder
den andern Weg gebieterisch fordern , ohne dass jedoch selbst das
zartfühlendste Gewissen , unterstützt von der schärfsten Urtheils
kraft, zu bestimmen im Stande wäre , welche der beiden Alternativen
die relativ richtige ist. Zwei Beispiele werden genügen.
Hier sehen wir einen Kaufmann , der durch den Zusammenbruch
eines ihm verschuldeten Geschäftsfreundes Verluste erlitten hat.
Sofern er keine Hülfe findet, muss er selbst zu Grunde gehen , und
wenn er zu Grunde geht, so bringt er damit schweres Unheil nicht
blos über seine Familie, sondern auch über Alle, die ihm Credit ge
währt haben. Aber auch wenn er durch Aufnahme eines Anleihens
in den Stand gesetzt wird , den augenblicklich schwebenden Ver
bindlichkeiten nachzukommen, so ist er doch noch keineswegs ge
sichert , denn es herrscht eine Zeit der Panik und so ist es sehr
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 19
290 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.
Abzug von der sonst erreichten Freude darstellt und jenes Verfahren
dadurch als ein nicht absolut gutes erscheinen lässt. Und ferner
werden sie darthun, dass es für einen wesentlichen Theil des Han
delns kein leitendes Princip, keine Methode der Abschätzung gibt ,
die uns in den Stand setzen könnte , zu entscheiden , ob das vor
geschlagene Verfahren auch nur relativ gut ist , d. h . ob es zu
nächst und entfernter, im Speciellen und Allgemeinen den grössten
Überschuss des Guten über das Übel veranlassen wird.
§. 105 .
Und nun sind wir darauf vorbereitet, in systematischer Weise
den Unterschied zwischen Absoluter Ethik und Relativer
Ethik zu erörtern .
Zu wissenschaftlichen Wahrheiten jeder beliebigen Art gelangt
man dadurch, dass man alle störenden oder widerstreitenden Fac
toren eliminirt und blos die wesentlichen Factoren berücksichtigt.
Erst wenn durch abstracte Behandlung dieser wesentlichen Factoren ,
nicht wie sie sich in den wirklichen Erscheinungen, sondern wie sie
sich in idealer Ablösung von denselben darstellen , die allgemeinen
Gesetze festgestellt worden sind , wird es möglich , in concreten
Fällen Schlüsse daraus zu ziehen , indem man nebensächliche Fac
toren mit in Rechnung zieht. Aber nur indem wir diese letzteren
zuerst gänzlich ignoriren und ausschliesslich die wesentlichen Ele
mente im Auge behalten, können wir die gesuchten wesentlichen
Wahrheiten entdecken. Betrachten wir zur Erläuterung einmal die
Fortschritte der Mechanik von ihrer empirischen zu ihrer wissen
schaftlichen Gestalt.
Jedermann macht gelegentlich die Erfahrung , dass ein Mensch,
wenn er auf einer Seite über einen gewissen Grad hinaus angestossen
wird , sein Gleichgewicht verliert und hinfällt. Man beobachtet ,
dass ein in die Luft geworfener Stein oder ein abgeschossener Pfeil
nicht in gerader Richtung fortfliegt, sondern wieder zur Erde ge
langt, nachdem er einen Weg zurückgelegt, der immer mehr von
der ursprünglichen Richtung abgewichen war. Wer einen Stock über
dem Knie zu zerbrechen versucht, der bemerkt bald, dass er leichter
zum Ziele kommt, wenn er den Stock zu beiden Seiten möglichst
weit vom Knie entfernt anfasst , als wenn er ihn ganz nahe am
Knie hält. Durch den täglichen Gebrauch eines Speeres wird die
Aufmerksamkeit auch auf die Wahrheit gelenkt, dass man, wenn
§. 105. Absolute und relative Ethik. 293
seine Spitze unter einen Stein geschoben und der Schaft herab
gedrückt wird, den Stein um so leichter heben kann, je näher dem
andern Ende die Hand angreift. Das ist also eine Reihe von Er
fahrungen, die schliesslich zu empirischen Verallgemeinerungen zu
sammengruppirt werden, welche dann dazu dienen, die Handlungen
in gewissen einfachen Fällen zu leiten . Wie entwickelt sich nun
die wissenschaftliche Mechanik aus diesen einfachen Erfahrungen ?
Um zu einer Formel zu gelangen , welche die Gesetze des Hebels
ausdrückt, setzt sie einen Hebel voraus, der sich nicht biegen lässt
wie der Stock, sondern der absolut starr ist ; dann nimmt sie einen
Stützpunkt an, der nicht eine breite Oberfläche besitzt wie die ge
wöhnlich zur Verwendung kommenden, sondern der ohne jede Aus
de ist ; und endlich nimmt sie an, dass das zu hebende Ge
wicht nicht auf einem ansehnlichen Theil des Hebelarms aufruhe,
sondern nur auf einen bestimmten Punkt drücke. Ebenso geht es
mit dem seitlich geneigten Körper, der, wenn er eine gewisse Nei
gung überschritten hat, umfällt. Bevor sich die Gesetze hinsicht
lich der Verhältnisse von Schwerpunkt und Basis formuliren lassen ,
muss die Voraussetzung gemacht werden, dass die Oberfläche , auf
welcher der Körper steht, unnachgibig sei, dass auch die Kante ,
auf welcher der Körper ruht, starr sei , und dass seine ganze Masse ,
während sie mehr und mehr zum Überhängen gebracht wird , ihre
Form nicht verändere - Bedingungen, die in keinem der gewöhn
lich beobachteten Fälle erfüllt sind . So auch beim Wurfgeschoss :
die Bestimmung seines Laufes durch Ableitung von mechanischen
Principien lässt zunächst alle Abweichungen unberücksichtigt , welche
durch seine Gestalt und durch den Widerstand der Luft verursacht
werden. Die ganze wissenschaftliche Mechanik ist eine Wissen
schaft , die aus lauter solchen idealen Wahrheiten besteht und die
überhaupt nur dadurch möglich wurde, dass sie sich dergestalt blos
mit idealen Fällen beschäftigte. Sie kommt so lange nicht zur
Entwickelung, als die Aufmerksamkeit noch ganz von den concreten
Fällen in Anspruch genommen ist , welche alle Verwickelungen der
Reibung, der Zusammendrückbarkeit u . s. w. darbieten. - Nun aber,
nachdem einzelne grundlegende Wahrheiten der Mechanik heraus
gelöst worden , ist es möglich, mit deren Hülfe die Thätigkeiten
besser zu leiten, und dies ist noch mehr der Fall , wenn, wie bald
darauf geschieht, die verwirrenden Elemente, aus denen jene erst
herausgelöst werden mussten , selbst mit in Rechnung gezogen werden .
294 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.
faltigkeit zu. Allein wenn wir dort sahen, dass das mechanische
Wissen der empirischen Stufe sich nur dadurch zur wissenschaft
lichen Mechanik entwickeln kann , dass zuerst alle einschränkenden
Umstände ausser Acht gelassen und die grundlegenden Gesetze der
Kräfte in absoluter Weise verallgemeinert werden , so sehen wir hier
nicht minder deutlich , dass sich die empirische Ethik nur dadurch
zur rationellen Ethik entwickeln lässt, dass man zuerst alle ver
wirrenden Zufälligkeiten vernachlässigt und die Gesetze des guten
Handelns abgesehen von allen den sie verdunkelnden Wirkungen
der Verhältnisse in jedem einzelnen Falle formulirt. Und so muss
denn auch die Schlussfolgerung dieselbe sein : gerade wie das System
mechanischer Wahrheiten, das in idealer Ablösung als absolut hin
gestellt wurde , in der Weise auf wirkliche mechanische Probleme
anwendbar wird , dass man alle nebensächlichen Umstände mit in
Betracht zieht und so zu Schlüssen gelangt, welche der Wahrheit
bei weitem näher kommen als die früher gewonnenen Ergebnisse ,
so wird auch ein System idealer ethischer Wahrheiten , welches das
absolut Gute ausdrückt, solchergestalt auf die Fragen unseres Über
gangszustandes anwendbar gemacht werden können, dass wir unter
Berücksichtigung der Widerstände eines unvollständigen Lebens
und der Unvollkommenheiten der jetzigen Menschennatur mit an
nähernder Genauigkeit zu ermitteln vermögen , was das relativ
Gute ist.
§. 106 .
Wenden wir uns nun zum zweiten Beispiel , so habe ich darauf
die Entgegnung zu machen , dass der hier aufgestellte Vergleich ,
soweit er sich auf das Verhältniss zwischen dem Idealen und dem
Realen bezieht, meine Behauptung keineswegs erschüttert , sondern
vielmehr verstärkt . Denn mögen wir die Astronomie von geometri
scher oder von dynamischer Seite betrachten und mögen wir dabei die
naturnothwendige oder die historisch gewordene Reihenfolge ihrer
Entwickelung im Auge haben -- stets bietet sich uns dieselbe Er
scheinung , dass nämlich gewisse Sätze hinsichtlich einfacher, theore
tisch genauer Beziehungen festgestellt sein müssen , bevor irgend
welche Sätze hinsichtlich der complicirten und praktisch genommen
ungenauen Beziehungen, welche thatsächlich vorhanden sind , fest
gestellt werden können . Nehmen wir speciell die Erklärung der
Planetenbewegungen , so sehen wir, dass die Theorie von den Cyklen
und Epicyklen sich auf die schon vorhandenen Kenntnisse vom Kreise
stützte : nachdem man die Eigenschaften einer idealen Curve kennen
gelernt hatte, war man in den Stand gesetzt, für die Bewegungen
der Himmelskörper einen bestimmten Ausdruck zu finden . Wir
sehen, dass die Erklärung des COPERNIKUS die Thatsachen mit Hülfe
der Annahme von anders vertheilten und combinirten Kreisbewegun
gen ausdrückte . Wir sehen , dass der Fortschritt KEPPLER'S von
der Vorstellung von kreisförmigen zu derjenigen von elliptischen
Bewegungen nur dadurch möglich wurde, dass er die Thatsachen,
wie sie sind, mit den Thatsachen verglich, welche sein würden ,
wenn jene Bewegungen kreisförmig wären. Wir sehen , dass die
nachher beobachteten Abweichungen von den rein elliptischen Be
wegungen nur auf Grund der bisherigen Voraussetzung, dass die
Bewegungen wirklich elliptisch wären , zur Kenntniss kommen konnten.
Und wir sehen endlich, dass selbst heute noch alle Vorhersagungen
in Betreff der genauen Stellungen der Planeten stets darauf fussen,
dass nach Berücksichtigung aller Störungen beständig wieder auf
die Ellipsen als auf ihre normalen oder durchschnittlichen Bahnen
für den gegebenen Zeitpunkt zurückgegriffen wird. So ist denn also
die Feststellung der thatsächlichen Wahrheiten nur mit Hülfe der
vorausgehenden Feststellung gewisser idealer Wahrheiten möglich
gewesen. Um einzusehen, dass die thatsächlichen Wahrheiten aber
auch nicht auf irgend einem anderen Wege hätten ermittelt werden
können, braucht man sich blos vorzustellen , dass Jemand erklärte ,
es gehe ihn als Astronom Nichts an , irgend etwas über die Eigen
§. 106. Absolute und relative Ethik . 299
Stellen und auf die verschiedenste Weise habe ich dargelegt, dass
entsprechend den Gesetzen der Entwickelung im Allgemeinen und
den Gesetzen der Organisation im Besondern ein beständiger Fort
schritt in der Anpassung der Menschheit an den socialen Zustand
stattgefunden hat und noch stattfindet, wodurch sie in der Richtung
nach einer solchen idealen Übereinstimmung hin allmählich ver
ändert wird . Und schon früher wurde daraus der Schluss gezogen, I
der hier nur wiederholt zu werden braucht, dass der Zukunftsmensch E
so beschaffen sein wird, dass dieser Process in ihm eine Harmonie
zwischen allen Trieben seiner Natur und allen Anforderungen seines
Lebens , insofern er es in der Gesellschaft verbringt, erzeugt hat. 1
Wenn dem so ist, so ergibt sich daraus mit Nothwendigkeit, dass
ein idealer Codex des Handelns bestehen muss , welcher das Betragen
des vollkommen angepassten Menschen in der vollkommen entwickel
ten Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Ein solcher Codex ist es ,
was wir hier Absolute Ethik nennen zum Unterschiede von der
Relativen Ethik - ein Codex , dessen Gebote allein als absolut
richtig anzusehen sind im Gegensatz zu jenen , die nur relativ rich
tig oder am wenigsten böse sind , und der als System des idealen
Handelns den höchsten Maassstab darstellen soll, welcher uns zu
leiten hat , wenn wir so gut als möglich die Aufgaben des realen
Handelns zu lösen versuchen.
§. 107.
Will sie z. B. die Verdauung erklären , so setzt sie voraus, dass das
Herz die Eingeweide mit Blut versorge und das Eingeweidenerven
system die unmittelbar in Frage kommenden Organe anreize. Gibt
sie eine Theorie des Blutkreislaufs , so nimmt sie an , dass Blut
durch die combinirten Thätigkeiten der zu seiner Bildung bestimm
ten Structuren erzeugt worden und dass es gehörig mit Sauerstoff
versehen sei. Sollen die Beziehungen zwischen der Athmung und
den Lebensvorgängen im Allgemeinen erläutert werden , so geschieht
dies unter der Voraussetzung, dass das Herz unaufhörlich fortfahre,
Blut nicht allein in die Lungen und in gewisse Nervencentren , son
dern auch nach dem Zwerchfell und den Zwischenrippenmuskeln zu
entsenden. Die Physiologie ignorirt durchaus etwaige Mängel in
den Thätigkeiten aller dieser Organe. Sie nimmt keine Rücksicht
auf Unvollkommenheiten, sie vernachlässigt Störungen, sie kennt
keinen Schmerz und weiss nichts von Übeln im Leben. Sie formulirt
einfach das, was vor sich geht als Resultat der vollständigen An
passung aller Theile an alle Bedürfnisse. Mit andern Worten, die
theoretische Physiologie nimmt zu den inneren , das körperliche
Leben ausmachenden Vorgängen dieselbe Stellung ein, welche der
theoretischen Ethik in ihrer absoluten Form nach der oben ge
gebenen Auffassung in Bezug auf die äusseren, das Handeln aus
machenden Vorgänge zukommt. In dem Augenblick, wo von Über
maass oder Hemmung oder Mangelhaftigkeit einer Function Kennt
niss genommen wird, geht die Physiologie in die Pathologie über.
Wir fangen damit an, böse Vorgänge im inneren Leben in Rech
nung zu ziehen , welche analog sind den bösen Vorgängen im äussern
Leben , auf welche die gewöhnlichen Moraltheorien Rücksicht zu
nehmen pflegen.
Der hiemit dargestellte Gegensatz ist jedoch noch keineswegs
erschöpft . Nachdem wir die Thatsache erkannt , dass es eine
Wissenschaft von den normalerweise ausgeübten Lebensthätigkeiten
gibt, welche alle abnormen Vorgänge unberücksichtigt lässt , haben
wir nun noch insbesondere zu beachten , dass die Wissenschaft von
den abnormen Thätigkeiten die ihr überhaupt mögliche Bestimmtheit
nur unter der Bedingung erlangen kann , dass die Wissenschaft von
den normalen Thätigkeiten vorher eine bestimmte Gestalt erreicht
hat ; oder sagen wir lieber, die Wissenschaft der Pathologie hängt
hinsichtlich ihrer Fortschritte von den Fortschritten ab, welche die
Wissenschaft der Physiologie zuvor machen muss. Schon allein die
302 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.
§. 108.
Und nun sei die Bemerkung ausgesprochen, dass die Auffassung
der Ethik, wie sie hier vorgetragen wurde, so sonderbar dies auch
Manchem klingen mag, in der That den Ansichten der Moralisten
im grossen Ganzen versteckt zu Grunde liegt. Wird dieselbe auch
nicht ausdrücklich anerkannt, so ist sie doch in undeutlicher Form
in vielen ihrer Äusserungen enthalten.
Von den ältesten Zeiten an begegnen wir in den ethischen
Speculationen hie und da einer Hinweisung auf den idealen Menschen ,
§. 108. Absolute und relative Ethik . 303
* Diese Citate habe ich grösstentheils Dr. BAIN'S „Mental and Moral Science "
entnommen .
304 Die Thatsachen der Ethik. Cap . XV.
Daraus geht klar hervor, dass wir uns den idealen Menschen
so vorstellen müssen, wie er im idealen socialen Zustand existiren
würde. Nach der Entwickelungshypothese bedingen beide einander
gegenseitig, und nur wo sie zusammen bestehen , da ist auch jenes
ideale Handeln möglich, welches die Absolute Ethik zu formuliren ,
die Relative Ethik aber zum Maassstab zu nehmen hat, nach wel
chem sie alle Abweichungen vom Guten oder die Grade des Bösen
abschätzt.
XVI. Capitel.
§. 108.
§. 110.
stimmte Höhe erreichen muss, bevor sie der ersteren das Gleich
gewicht halten und den allmählichen Untergang der Gesellschaft
verhindern kann. So ist denn auch wohl die Annahme berechtigt,
dass die Verfolgung anderer wesentlicher Zwecke auf gleiche Weise
durch gewisse Naturnothwendigkeiten bestimmt sei und von diesen
ihre ethische Sanction ableite. Dass es jemals thunlich sein wird,
ganz genaue Gesetze für das private Handeln in Übereinstimmung mit
solchen Erfordernissen aufzustellen , mag wohl bezweifelt werden .
Allein die Aufgabe der Absoluten Ethik in Bezug auf das private
Handeln ist schon gelöst, wenn sie den Erfordernissen desselben in
allgemeinen Ausdrücken eine sichere Grundlage gegeben , wenn sie
die gebieterische Nothwendigkeit der Unterwerfung unter dieselben
dargethan und damit das Bedürfniss nachgewiesen hat, eingehend
zu untersuchen , ob das Handeln diese Erfordernisse so gut als irgend
möglich erfüllt .
Zur Ethik des persönlichen Handelns, in Bezug auf die gegen
wärtigen Bedingungen betrachtet, sind alle Fragen hinsichtlich des
Grades zu rechnen , in welchem das unmittelbare persönliche Wohl
ergehen entweder dem persönlichen Wohlergehen in letzter Linie
oder dem Wohlergehen Anderer hintanzusetzen ist . Wie das Leben
jetzt verläuft, setzt es allstündlich die Ansprüche des gegenwärtigen
Ich denjenigen des zukünftigen Ich entgegen und bringt es jeden
Augenblick die individuellen Interessen in Widerstreit mit den In
teressen anderer Individuen, mögen diese einzeln oder als Glieder
der Gesellschaft in Frage kommen. In vielen dieser Fälle können
die Entscheidungen nichts weiter sein als Compromisse und die
Ethik , welche hier nothwendigerweise auf der empirischen Stufe
stehen bleibt, kann Nichts weiter thun, als dazu beitragen, Com
promisse zu schliessen, welche möglichst wenig dem Vorwurf aus
gesetzt sind. Um aber in jedem Falle den besten Compromiss zu
Stande zu bringen, bedarf es richtiger Vorstellungen von den alter
nativen Ergebnissen dieses oder jenes Verfahrens. Und insofern also ,
als die absolute Ethik des individuellen Handelns zu bestimmter
Gestaltung gebracht werden kann , muss sie uns demgemäss auch
behülflich sein, zwischen den sich widerstreitenden persönlichen An
forderungen und zwischen der Nothwendigkeit der Selbstbehauptung
und der Nothwendigkeit der Unterordnung des Ich zu entscheiden.
310 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XVI.
§. 111 .
Von dieser Abtheilung der Ethik, welche sich mit der gehörigen
Regelung des privaten Handelns beschäftigt, das hiebei ohne Rück
sicht auf die unmittelbar auf Andere hervorgebrachten Wirkungen
in's Auge gefasst wurde, wenden wir uns nun zu jener Abtheilung
der Ethik, welche ausschliesslich die Wirkungen des Handelns auf
Andere berücksichtigt und sich nun mit der gehörigen Regelung
des Handelns im Hinblick auf solche Wirkungen befasst.
Die erste Gruppe von Gesetzen , welche zu diesem Abschnitt
gehört, bezieht sich auf das, was wir als Gerechtigkeit unterscheiden.
Das Leben des einzelnen Individuums ist nur unter der Bedingung
möglich, dass jedes Organ für seine Thätigkeit durch ein Äquivalent
von Blut entschädigt wird, während der Organismus als Ganzes aus
der Umgebung assimilirbare Stoffe aufnimmt , welche ihm für seine
Anstrengungen Ersatz gewähren; und ebenso macht es die gegen
seitige Abhängigkeit der Theile im socialen Organismus nothwen
dig, dass sowohl für sein Gesammtleben als für das Leben seiner
Einheiten auf ähnliche Weise ein gehöriges Gegenseitigkeitsverhält
niss zwischen Lohn und Arbeit aufrecht erhalten werde : die natur
gemässe Beziehung zwischen Leistung und Wohlergehen muss un
verändert bestehen bleiben . Die Gerechtigkeit, welche den Umfang
des Handelns und die hieraus entspringenden Einschränkungen for
mulirt , ist mithin sowohl die aller wichtigste Abtheilung der Ethik
als auch zugleich diejenige, welche die grösste Bestimmtheit zulässt .
Jenes Princip der Äquivalenz, das uns schon entgegentritt, wenn
wir seine Wurzeln in den Gesetzen des individuellen Lebens auf
suchen, bedingt die Idee von Maass , und gehen wir zum socialen
Leben über, so führt uns dasselbe Princip auf die Vorstellung von
Billigkeit oder Gleichmässigkeit in den Beziehungen der Bürger
zu einander : die Elemente der hieraus sich ergebenden Fragen sind
also quantitativer Art und deshalb erreichen auch die Lösungen
eine mehr wissenschaftliche Form. Wenn wir auch die Glieder einer
Gesellschaft nicht als absolut gleich betrachten können , da wir ja
auch alle die Verschiedenheiten zwischen den Individuen zu beachten
haben, welche auf Alter, Geschlecht oder anderen Ursachen beruhen ,
und obgleich wir in Folge dessen die aus ihren Verhältnissen erwach
senden Probleme nicht mit der Genauigkeit behandeln können ,
welche die absolute Gleichheit möglich machen würde , so dürfen
§. 111 . Der Umfang der Ethik. 311
wir sie doch auf Grund ihrer gemeinsamen menschlichen Natur als
annähernd gleich in Anschlag bringen und können also , indem wir
die Fragen der Billigkeit unter dieser Voraussetzung besprechen,
Schlüsse von hinlänglich bestimmter Art zu erreichen hoffen.
Diese Abtheilung der Ethik hat, von der absoluten Seite ge
nommen, die billigen Beziehungen zwischen vollkommenen Individuen
zu definiren, welche durch ihr Zusammensein ihre Thätigkeitsgebiete
gegenseitig beschränken und ihre Zwecke durch Zusammenwirken
erreichen . Sie hat aber noch weit mehr zu leisten. Abgesehen von
der Gerechtigkeit zwischen Mensch und Mensch bildet namentlich
noch die Gerechtigkeit zwischen jedem einzelnen Menschen und dem
Aggregat von Menschen ihren Gegenstand . Die Beziehungen zwi
schen den Individuen und dem Staate als Vertreter aller Individuen
müssen abgeleitet werden - eine sehr wichtige und verhältniss
mässig schwierige Sache. Welches ist die ethische Grundlage für
die Regierungsautorität ? Zu welchen Zwecken darf dieselbe gesetz
licherweise ausgeübt werden ? Wie weit ist sie zu gehen berech
tigt ? Bis zu welchem Grade ist der einzelne Bürger verpflichtet ,
die Gesammtentscheidung der übrigen Bürger anzuerkennen, und
von welchem Punkte an darf er es mit Recht wagen, ihnen den
Gehorsam zu verweigern ?
Sind diese Beziehungen privater und öffentlicher Art von dem
Gesichtspunkt aus festgestellt, als ob sie unter idealen Bedingungen
stattfinden würden , so haben wir dann die entsprechenden Beziehun
gen unter realen Bedingungen zu behandeln : - während absolute
Gerechtigkeit als höchstes Vorbild stehen bleibt , muss die relative
Gerechtigkeit dadurch bestimmt werden , dass wir erwägen , wie weit
wir uns derselben unter den gegenwärtigen Umständen annähern
können . Wie bereits an mehreren Stellen hervorgehoben wurde ,
ist es während der Übergangsstadien , welche beständig von neuem
Compromisse nothwendig machen, ganz unmöglich , den Geboten ab
soluter Billigkeit nachzuleben, und so lassen sich denn auch nur
empirische Urtheile über den Umfang aufstellen, bis zu welchem
dieselben zu den verschiedenen Zeiten erfüllt werden können . So
lange die Kriege fortdauern und Ungerechtigkeiten zwischen den
einzelnen Gesellschaften verübt werden , ist nicht von ferne an die
Herrschaft einer vollkommenen Gerechtigkeit innerhalb jeder Gesell
schaft zu denken . Kriegerische Organisation so gut wie kriegerische
Thätigkeit ist unvereinbar mit reiner Billigkeit, und die durch jene
312 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XVI.
§. 112 .
Von den beiden Unterabtheilungen , in welche die Wohlthätig
keit zerfällt, der negativen und der positiven, lässt sich keine im
Einzelnen ausführen . Unter idealen Bedingungen hat die erstere
üb upt nur eine nominelle Existenz und die letztere geht grössten
theils in eine abgeänderte Form über, welche blos eine allgemeine
Definition gestattet .
Im Handeln des idealen Menschen unter idealen Menschen muss
jene Selbstbeherrschung , deren Beweggrund der Wunsch ist, Schmer
zen zu vermeiden , in Wirklichkeit ganz verschwinden . Wenn Nie
mand mehr Gefühle empfindet, die zu Handlungen antreiben, welche
Andere unangenehm beeinflussen, so kann es auch kein Gesetz der
Einschränkung mehr geben, das zu dieser Abtheilung des Handelns
zu rechnen wäre.
Allein während die negative Wohlthätigkeit nur einen nominel
len Bestandtheil der Absoluten Ethik bildet, stellt sie einen wirk
lichen und sehr wesentlichen Theil der Relativen Ethik dar. Denn
so lange noch die Natur der Menschen unvollkommen dem socialen
Leben angepasst ist, so lange müssen sich auch in ihnen Antriebe
geltend machen, welche in manchen Fällen geradezu die Handlungen
verursachen, die wir ungerecht nennen , in den andern aber solche,
die wir unfreundlich nennen - unfreundlich bald in Thaten und
bald in Worten ; und in Hinsicht auf diese Art des Betragens,
welche zwar nicht aggressiv ist , aber trotzdem herbe Schmerzen
bereiten kann, erwachsen uns zahlreiche und verwickelte Probleme.
Manchmal wird Anderen Schmerz zugefügt , wenn wir einfach an
einem billigen Anspruch festhalten ; zu andern Zeiten entspringen
Schmerzen aus der Zurückweisung einer Bitte und dann wieder
aus dem Verfechten einer bestimmten Ansicht. In diesen und zahl
reichen ähnlichen Fällen muss die Frage beantwortet werden , ob,
um die Zufügung von Schmerzen zu vermeiden, persönliche Gefühle
1
§. 112. Der Umfang der Ethik. 313
aufgeopfert werden sollten und wie weit dies gehen darf. In Fällen
von anderer Art sodann wird Schmerz nicht durch ein passives ,
sondern durch ein actives Verhalten hervorgerufen. Wie weit darf
man Jemand, der sich ungehörig betragen hat, Kummer verursachen ,
indem man ihm seine Abneigung verräth ? Soll man einem Menschen ,
dessen Handlungsweise nicht gebilligt werden kann , seine Miss
billigung aussprechen oder soll man lieber stillschweigen ? Ist es
recht, einen Andern zu beunruhigen, indem man über das Vorurtheil
abspricht, woran jener noch festhält ? Diese und verwandte Fragen
müssen beantwortet werden , indem wir den unmittelbar zugefügten
Schmerz , den durch Zufügen desselben möglicherweise erzielten
Nutzen und das durch Nichtzufügung desselben möglicherweise ver
ursachte Übel in Anschlag bringen. Bei der Lösung von Problemen
dieser Classe besteht die einzige Hülfe, welche die Absolute Ethik
uns geben kann, darin , dass sie die Überzeugung bekräftigt , dass
es Unrecht wäre , jemals mehr Schmerzen zu bereiten , als durch die
gehörige Rücksicht auf sich selbst oder durch das Streben nach
dem Vortheil eines Anderen oder durch die Hochhaltung eines all
gemeinen Princips nothwendig bedingt wird .
Von der positiven Wohlthätigkeit unter ihrer absoluten Form
lässt sich nichts weiter sagen , als dass sie immer in entsprechen
dem Maasse entwickelt werden muss , als ein Wirkungskreis für
dieselbe übrig bleibt, in welchem sie dazu beiträgt , das Leben jedes
Einzelnen als eines Empfängers von Diensten zu vervollkommnen
und zugleich das Leben eines Jeden als eines Diensteleistenden zu
erhöhen. Da nun aber mit der weiteren Entwickelung der Mensch
heit das Streben nach solcher Wohlthätigkeit von Seiten eines Jeden
so zunehmen und die Möglichkeit zur Ausübung derselben so ab
nehmen wird, dass sich ein altruistischer Wetteifer entfalten muss
ähnlich dem jetzt stattfindenden egoistischen Wetteifer, so mag es
wohl sein, dass die Absolute Ethik schliesslich auch das umfassen
wird, was wir früher einmal als höhere Billigkeit bezeichneten ,
welche die gegenseitigen Beschränkungen der altruistischen Thätig
keiten vorschreibt.
In ihrer relativen Form bietet die positive Wohlthätigkeit zahl
reiche, ebenso wichtige als schwierige Probleme dar , welche blos
eine empirische Lösung zulassen. Wie weit darf die Selbstaufopfe
rung zu Gunsten eines Andern in jedem einzelnen Falle getrieben
werden ? eine Frage , welche verschieden beantwortet werden.
21 *
314 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XVI.
wird, je nach dem Charakter und den Bedürfnissen des Andern und
je nach den verschiedenen Ansprüchen des Handelnden und seiner
Angehörigen , welche dabei in's Spiel kommen . Bis zu welchem
Umfange soll unter gegebenen Umständen das private Wohlergehen
der öffentlichen Wohlfahrt untergeordnet werden ? eine Frage,
die sich erst beantworten lässt, nachdem die Wichtigkeit des Zweckes
und die Tragweite des Opfers erwogen worden sind. Welcher Nutzen
und welche Nachtheile werden aus der einem Andern freiwillig ge
leisteten Hülfe entspringen? - eine Frage, die in jedem Falle eine
neue Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten voraussetzt. Bedingt
es irgend welche unbillige Behandlung mehrerer Anderer, wenn ich
diesen einen Andern besser als gerade billig behandle ? Bis zu wel
cher Grenze kann der lebenden Generation der Niedrigstehenden
Unterstützung gewährt werden, ohne dadurch Unheil für zukünftige
Generationen der Höherstehenden heraufzubeschwören ? Offenbar
können auf alle diese und so viele verwandte Fragen, welche in
diese Abtheilung der relativen Ethik gehören, immer nur annähernd
richtige Antworten gegeben werden .
Allein obschon die Absolute Ethik durch den Maassstab, den
sie uns an die Hand gibt, hier der Relativen Ethik nicht wesent
liche Hülfe leisten kann, so ist sie ihr doch wie in andern Fällen
dadurch einigermaassen förderlich, dass sie unserm Bewusstsein eine
ideale Versöhnung der verschiedenen in Frage kommenden Ansprüche
vorhält und dass sie zur Aufsuchung eines solchen Compromisses
zwischen denselben anregt, der Niemand unberücksichtigt lässt, son
dern Alle im höchsten irgend denkbaren Maasse befriedigt.
II . Theil .
§. 111.
Wenn gemeinsam mit andern Dingen die menschlichen
Gefühle und Ideen dem allgemeinen Gesetze der Entwicklung
folgen, so ist die Folgerung nahe liegend , dass die Reihe von
Vorstellungen, welche die Ethik bilden , in Verbindung mit den
begleitenden Empfindungen sich aus einem verhältnismässig
unzusammenhängenden und unbestimmten Bewusstsein erheben
und langsam Zusammenhang und Bestimmtheit erhalten , zu der
selben Zeit, in welcher sich ihre Menge aus der grösseren Menge,
mit welcher sie ursprünglich vermischt war, differenzierte. Lange
Zeit ununterscheidbar bleibend und nur ganz unbestimmt erkenn
bar, kann nur dann von der Ethik eine deutliche Verkörperung
erwartet werden, wenn die geistige Entwicklung eine hohe Stufe
erreicht hat.
Daher rührt die gegenwärtige Verwirrung des ethischen
Denkens . Im Anfange vollständig , ist sie nothwendigerweise
während des socialen Fortschritts im Ganzen gross geblieben,
und es muss auch, obgleich sie kleiner geworden ist, angenommen
werden , dass sie in unserm jetzigen halbcivilisierten Zustande
noch gross ist. Begriffe von Recht und Unrecht, in verschiedener
Weise abgeleitet und mit jedem Wechsel der socialen Ein
richtungen und Thätigkeitsäusserungen wechselnd , bilden eine
Menge , von der wir folgern können , dass sie selbst jetzt noch
in hohem Maasse chaotisch ist .
Wir wollen einige der hauptsächlichen Factoren des ethischen
Bewusstseins betrachten und die Reihen von widerstreitenden
21 *
318 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.
der meisten Menschen die Tugenden des Kriegers die erste Stelle
einnehmen . Über einen Officier , der in einem ungerechten
Kriege getödtet worden ist , kann man die Bemerkung hören :
„ er starb den Tod eines Ehrenmannes. " Und unter den Civilisten
ist ebenso wie unter den Soldaten die stillschweigende Billigung
der in verschiedenen Theilen der Welt vor sich gehenden
politischen Räuberei zu finden , während sich keine Proteste
erheben gegen die , euphemistisch Bestrafung " genannten Ge
metzel.
§ . 114.
Obgleich nun aber zur Vertheidigung gegen Genossenschaften
und Besiegung solcher , im wechselseitigen Verhältnis , Schaden
bringende Handlungen aller Arten nothwendig gewesen sind
und im Geiste der Menschen jene Gutheissung erlangt haben,
welche in ihrer Bezeichnung als rechter liegt , so sind doch der
artige schadenbringende Handlungen innerhalb einer jeden Ge
nossenschaft nicht nothwendig gewesen ; es sind im Gegentheile
Handlungen einer entgegengesetzten Art nothwendig gewesen.
So gewaltthätig auch häufig das Betragen der Stammesangehöri
gen zu einander sein mag , thätiges Auftreten derselben gegen
andere Stämme müsste bei Abwesenheit von etwas gegenseitigem,
aus der Erfahrung einer gewissen Freundschaftlichkeit und
Ehrlichkeit sich ergebendem Vertrauen unmöglich sein . Und da
ein Benehmen, welches ein harmonisches Zusammenwirken inner
halb des Stammes begünstigt , zu dessen Wohlstand und Wachsthum
führt, daher auch zur Besiegung anderer Stämme, so verursacht
das Überleben des Passendsten unter den Stämmen die Be
festigung eines solchen Benehmens zu einem allgemeinen Zuge.
Die Autorität der herrschenden Männer giebt der Ethik
des freundlichen Benehmens noch weitere Unterstützung . Da
die Zwietracht von den Häuptlingen als eine Quelle der Schwäche
des Stammes erkannt wird , werden Handlungen , die zu ihr
führen , von ihnen bestraft ; und wo die Vorschriften unter die
Götter versetzter Häuptlinge in Erinnerung bleiben , da tritt
eine übernatürliche Gutheissung von Handlungen ein, welche zu
Harmonie führen , und eine übernatürliche Verdammung von
Handlungen, die damit in Widerspruch stehen . Hierin liegt der
Ursprung dessen, was wir als Moralgesetzbücher unterscheiden .
Hieraus erklärt sich die Thatsache , dass in zahlreichen , von
§. 114. Die Verwirrung des ethischen Denkens . 325
§. 115.
Da die Ethik der Feindseligkeit und die Ethik des Wohl
wollens, welche nach Vorstehendem in jeder Genossenschaft im
Gefolge äusserer und innerer Verhältnisse beziehungsweise sich
bilden , gleichzeitig erhalten werden müssen , so entwickelt sich
eine Menge gänzlich unvereinbarer Empfindungen und Ideen .
Ihre einzelnen Bestandtheile können nach keinerlei Möglichkeit
zum Einklang gebracht werden , und doch müssen sie alle an
genommen und muss nach ihnen gehandelt werden . Jeder Tag
bringt Beispiele für die sich daraus ergebenden Widersprüche
und bringt auch Beispiele dafür , wie sich die Menschen damit
zufrieden geben.
Wenn nach Gebeten , in welchen um göttliche Führung
gefleht wird , nahezu alle Bischöfe einen ungerechtfertigten An
griff , wie den auf Afghanistan , billigen , geht der Vorfall ohne
irgend einen Ausdruck der Überraschung vorüber ; während
umgekehrt, wenn der Bischof von Durham den Vorsitz bei einer
Friedensversammlung übernimmt , seine Handlungsweise als be
merkenswerth besprochen wird. Wenn auf einer Diöcesan
Conferenz ein Pair (Lord CRANBROOK) gegen ein internationales
Schiedsgericht spricht und sagt , " er sei nicht ganz sicher , ob
cin Zustand des Friedens für eine Nation nicht gefährlicher
sei als Krieg", so erheben die versammelten Priester der Religion
der Liebe dagegen keinen Widerspruch ; auch erhebt sich kein
Tadel , von Seiten der Geistlichkeit oder der Laien , wenn ein
Kirchenfürst , Dr. MOORHOUSE , eine körperliche und sittliche
Disciplin , welche die Engländer zum Kriege tüchtig macht, ver
theidigt , den Wunsch ausdrückt , " sie so zu machen , dass sie
thatsächlich wie der Fuchs, wenn ihn die Hunde gefasst haben,
beissend sterben “ , und sagt, „ dies seien moralische Eigenschaften ,
welche unter unserm Volke zu ermuthigen und zu vermehren
328 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.
§. 117.
Es muss indessen noch ein anderer Ursprung moralischer
Vorschriften, als gleichzeitig entstanden , anerkannt werden. Mit
Regeln des Benehmens in Übereinstimmung stehende Gebräuche
haben Empfindungen hervorgebracht , die solchen Regeln an
gepasst sind. Die Disciplin des gesellschaftlichen Lebens hat
bei den Menschen Vorstellungen und Gemüthsbewegungen er
zeugt , welche , ohne Rücksicht auf vermeintliche göttliche Be
fehle und ohne Rücksicht auf beobachtete Folgen, aus gewissen
Graden von Gefallen an einem die sociale Wohlfahrt begün
stigenden und von Missfallen an einem damit in Widerspruch
stehenden Betragen hervorgehen. Offenbar ist eine solche Mode
lung der menschlichen Natur durch das Überleben des Passendsten
gefördert worden, da Gruppen von Menschen, welche den socialen
.
Bedürfnissen am wenigsten angepasste Gefühle haben, bei Gleich
heit der übrigen Verhältnisse , vor Gruppen von Menschen, welche
jenen am meisten angepasste Gefühle haben , zu verschwinden
neigen müssen .
Die Wirkung in dieser Weise entstehender moralischer
Empfindungen zeigen sich bei zum Theil civilisierten Rassen.
Cook sagt :
Die Otahitier "7 haben eine Kenntnis von Recht und Unrecht
nach den blossen Vorschriften des natürlichen Gewissens ; und sie ver
urtheilen sich unwillkürlich , wenn sie Andern das thun, für was sie
Andere verurtheilen würden , wenn diese es ihnen thäten. "
Dass ferner moralische Empfindungen während der früheren
Zustände mancher civilisierten Rassen von Einfluss waren, dafür
geben alte indische Bücher den Beweis . Im Mahabharata be
klagt sich Draupadi über das harte Geschick ihres rechtschaffenen
Mannes und klagt die Gottheit der Ungerechtigkeit an ; Yud
dishthira antwortet ihr aber :
SPENCER, Principien der Ethik. I. 22
332 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.
§. 118 .
Ehe weiter gegangen wird , dürfte es gut sein , diese ver
schiedenen einzeln angeführten Angaben zusammenzufassen , da
bei die Reihenfolge und den Gesichtspunkt etwas verändernd.
Überleben des Passendsten sichert es, dass die Fähigkeiten
einer jeden Art von Geschöpfen dahin streben, sich ihrer Lebens
weise anzupassen . Dasselbe muss beim Menschen der Fall sein .
Von den frühesten Zeiten an müssen Gruppen von Menschen ,
deren Gefühle und Vorstellungen mit den Bedingungen , unter
denen sie lebten , übereinstimmten , bei sonst gleichen Verhält
nissen sich weiter verbreitet und diejenigen ersetzt haben, deren
Gefühle und Vorstellungen mit ihren Lebensbedingungen nicht
übereinstimmten .
Unter Anerkennung einiger weniger Ausnahmen , welche
22*
334 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.
II. Capitel.
§. 119.
Beim Lesen jenes Abschnittes des vorhergehenden Capitels,
welcher die Ethik der Feindschaft beschreibt , werden viele und
wahrscheinlich die meisten Leser einen stillschweigenden Protest
erhoben haben . Von Gefühlen und Ideen geleitet , welche von
ihrem frühesten Unterricht herrühren und welcher ihnen im
Hause und in der Kirche beständig vorgehalten worden sind,
haben sie eine beinahe unauflösliche Verbindung zwischen einer
Lehre von Recht und Unrecht im Allgemeinen und jenen be
sonderen Geboten und Verboten , die in den zehn Geboten ent
halten sind , hergestellt , welch' letztere , die Handlungen der
Menschen unter einander in einer und derselben Genossen
schaft in Betracht ziehend, von ihren gemeinsamen Handlungen
gegen Menschen fremder Genossenschaften keine Notiz nehmen.
Die Vorstellung der Ethik ist auf diese Weise darauf be
schränkt worden , was ich als die Ethik der Liebe unter
schieden habe ; und von der Ethik der Feindschaft zu sprechen ,
erscheint absurd.
Doch bringen ausser allem Zweifel die Menschen Ideen
von Recht und Unrecht in Verbindung mit dem Fortführen von
Streitigkeiten zwischen Stämmen und zwischen Nationen ; und
dies oder jenes Verhalten in der Schlacht erfährt Beifall oder
Verurtheilung nicht weniger entschieden , als dies oder jenes
Verhalten im gewöhnlichen socialen Leben . Müssen wir nun
sagen , dass es eine Art von Recht und Unrecht giebt , welche
die Ethik anerkennt , und eine andere Art von Recht und Un
recht, welche von der Ethik nicht anerkannt wird ? Und wenn
§. 119. Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 337
dies der Fall ist, unter welcher Bezeichnung sollen wir diese zweite
Art von Recht und Unrecht behandeln ? Offenbar sind die Ideen
der Menschen über das Betragen in einem so unorganisierten
Zustande , dass , während eine grosse Classe von Handlungen
eine offenkundig anerkannte Sanction erfahren hat , eine andere
grosse Classe von Handlungen eine gleich starke oder noch
stärkere Sanction besitzt, welche nicht offenkundig anerkannt ist.
Die Existenz dieser verschiedenen Arten von Sanction,
von denen die eine moralisch genannt wird , die andere nicht ,
tritt noch deutlicher hervor , wenn wir die Grundsätze des
Christenthums den Dogmen der Anhänger der Duelle gegenüber
stellen . Jahrhunderte lang hat durch ganz Europa bestanden
und besteht selbst jetzt noch durch den grösseren Theil eine
imperative „ Verpflichtung " , unter gewissen Bedingungen einen
Andern zum Zweikampfe herauszufordern , und ebenso eine
――――
imperative Verpflichtung , die Herausforderung anzunehmen ,
eine Verpflichtung , welche noch viel gebieterischer ist als die ,
eine Schuld abzutragen . Jedem der Kämpfenden gegenüber
wird das Wort „ Du musst " mit ebenso starkem Nachdruck
gebraucht , wie es gebraucht würde , wenn ihm vorgeschrieben
würde , die Wahrheit zu sagen. Die 99 Pflicht" des beleidigten
Mannes ist, seine Ehre zu vertheidigen ; und wenn er dies nicht
thut , wird sein Benehmen für so unrecht angesehen , dass er
von seinen Freunden als ein entehrter Mensch gemieden wird ,
genau so , als wenn er einen Diebstahl begangen hätte. Ausser
Frage sehen wir daher hier Ideen von Recht und Unrecht genau
so scharf ausgesprochen , mit entsprechenden Empfindungen der
Billigung und des Tadels in gleicher Stärke , wie diejenigen ,
welche sich auf das Erfüllen oder die Verletzung der Vorschriften
beziehen , welche als moralische classificiert werden . Wie nun,
können wir die letzteren in die Ethik einschliessen und die
ersteren von ihr ausschliessen ?
Die Nöthigung , die geläufige Vorstellung der Ethik be
deutend zu erweitern , ist indess noch grösser , als hier ge
zeigt worden ist . Es giebt noch andere grosse Classen von
Handlungen , die Ideen und Gefühle erregen , welche in ihrer
wesentlichsten Eigenheit von denen , auf welche der Ausdruck
ethisch hergebrachterweise beschränkt wird , nicht zu unter
scheiden sind.
338 Die Inductionen der Ethik. Cap. II.
§. 120.
Bei nicht civilisierten und halbcivilisierten Völkern sind die
durch den Brauch auferlegten Verpflichtungen peremptorisch.
Der allgemein entwickelte Glaube, dass derartige Dinge gethan
werden sollen , wird gewöhnlich nicht dadurch offenbar , dass
diejenigen, welche sich nicht fügen, von Strafe oder Tadel heim
gesucht werden , weil von einem Sich-nicht-fügen kaum gehört
wird. Wie unerträglich für die allgemeine Ansicht das Verletzen
von Gebräuchen ist, zeigt sich gelegentlich , wenn ein Herrscher
abgesetzt oder selbst getödtet wird , weil er sie vernachlässigt
hatte ein genügender Beweis dafür, dass seine Handlungsweise
für unrecht gehalten wird . Und zuweilen finden wir deutliche
Ausdrücke von moralischer Empfindung in Bezug auf Gebräuche ,
welche nichts an sich haben , was wir moralische Autorität
nennen könnten , und selbst in Bezug auf Gebräuche , welche
wir gründlich unmoralisch nennen würden .
Ich will mit einem Beispiele beginnen , welches ich an
einem andern Orte in anderm Zusammenhang angeführt habe.
_____ dem von einigen mahomedanischen Stämmen dargebotenen
" Bei allen Stämmen wird ein Mann seine Frau oder Tochter
für einen Angelhaken oder eine Schnur Perlen verleihen . Ein An
erbieten dieser Art abzulehnen , hiesse allerdings die Reize der Dame
herabsetzen und enthält daher eine solche Beleidigung, dass , obgleich
wir gelegentlich die Indianer mit Strenge behandeln mussten , doch
Nichts beide Geschlechter so sehr reizen konnte , als unsere Weige
rung, die Gunst der Frauen anzunehmen. "
Noch schärfer ausgesprochen ist das Gefühl , wie es die
Glieder eines asiatischen Stammes darlegen, den ERMANN besuchte.
„ Die Tschucktschen bieten den Reisenden , welche sie zufällig
besuchen , ihre Frauen und auch , was wir die Ehre ihrer Töchter
nennen würden , an und empfinden das Ablehnen derartiger An
erbietungen als tödtliche Beleidigung. "
Wir sehen hier , dass Handlungen , welche unter uns zu
den grössten Schandthaten gerechnet werden würden , nicht
bloss als solche betrachtet werden , welche das Schamgefühl
nicht verletzen, sondern dass das Ablehnen , an ihnen Theil zu
nehmen, Indignation verursacht, was das Gefühl eines Unrechts
Voraussetzt.
Da es noch in einer andern Weise die Beziehungen der
Geschlechter zu einander betrifft , will ich zunächst noch einen
weiteren Contrast zwischen den bei vielen theilweise civilisierten
Völkern herrschenden Empfindungen und denen anführen, welche
sich mit dem Fortschreiten der Civilisation entwickelt haben.
Verbote von Heirathen zwischen Personen verschiedener Rang
classen , deren Verletzung in manchen Fällen die schwersten
Bestrafungen zur Folge gehabt haben , reichen in sehr frühe
Zeiten zurück. So lesen wir im Mahabharata , dass Draupadi
den ehrgeizigen Karna “ zurückweist und sagt : „ ich heirathe
nicht den niedrig Geborenen . " Wenn wir dann zu vergleichs
weise modernen Zeiten herabkommen, so finden wir die Bussen,
welche denen aufgelegt wurden , die die Gesetze gegen Mes
alliancen verletzten , so in Frankreich während der feudalen
Perioden für Edelleute, die unter ihrem Stande heiratheten sie
wurden , ebenso wie ihre Nachkommen , von den Tournieren
ausgeschlossen . Der Verurtheilung solcher Fälle , wie sie sich
vor fünf Jahrhunderten aussprach , kann aber jetzt Nichts ver
glichen werden. Wenn auch in manchen Fällen ein gewisses
Maass von Missbilligung sichtbar wird , findet sich doch in andern
Fällen Zustimmung , wie TENNYSON'S " Des Müllers Tochter “
§. 120. Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 341
§. 121 .
Während des socialen Fortschritts geht überall Gebrauch
thum in Gesetz über. Praktisch gesprochen ist in unentwickelten
Genossenschaften Gebrauchthum Gesetz . „ Die alten Innuiten
handelten so und daher müssen wir , " sagen die jetzt lebenden
Innuiten (Esquimaux) ; und andere nicht civilisierte Völker drücken
in ähnlicher Weise den Zwang aus, unter dem sie sich befinden .
Auf späteren Stufen werden die Gebräuche die anerkannten
344 Die Inductionen der Ethik? Cap. II.
„ Die gewöhnlichste Strafe war Tod ; denn sie sagten, dass ein
Verbrecher nicht wegen der Missethaten bestraft würde , die er be
gangen hat , sondern weil er die Gebote des Ynca verletzt habe ,
welcher als Gott verehrt wurde . "
§. 122 .
Wie sind denn nun ethische Ideen und Empfindungen zu
――――――― Ja , wie sind sie in irgend einer folgerechten
definieren ?
Weise zu verstehen ? Wir wollen recapitulieren.
Durch die ganze Vergangenheit und herab bis auf die jetzige
Zeit sind bei den meisten Menschen Vorstellungen von Recht
und Unrecht direct mit vermeintlichen göttlichen Vorschriften
in Verbindung gebracht worden . Handlungen sind als gut oder
§. 122. Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 347
pro -ethisch genannt werden kann, und welcher bei der grossen
Menge der Menschen die Stelle der eigentlich sogenannten Ethik
einnimmt.
§. 124.
Denn wir müssen beachten, dass die eigentlich so genannte
ethische Empfindung und ethische Idee von den oben als von
äusseren Autoritäten , und von Nöthigungen und Billigungen,
religiösen , politischen oder socialen ――――――― ausgehenden Ideen und
Empfindungen unabhängig sind . Das wahre moralische Bewusst
sein, welches wir Gewissen nennen, bezieht sich nicht auf jene
äusserlichen Folgen des Betragens , welche die Gestalt von Lob
oder Tadel , von Belohnung oder Bestrafung , äusserlich zuge
sprochen, annehmen ; es bezieht sich vielmehr auf die innerlichen
Resultate des Betragens, zum Theil und von Manchen intellectuell
wahrgenommen , hauptsächlich und von den Meisten intuitiv
gefühlt. Das eigentliche moralische Bewusstsein betrachtet die
Verbindlichkeiten nicht als von einer äusseren Macht auferlegt ;
auch beschäftigt es sich nicht hauptsächlich mit dem Abschätzen
der Grade von Vergnügen und Schmerz, welche gegebene Hand
lungen hervorrufen könnten , obgleich diese deutlich oder un
deutlich wahrgenommen werden können , sondern es beschäftigt
sich hauptsächlich mit der Anerkennung und der Berücksichtigung
derjenigen Bedingungen , durch deren Erfüllung Glückselig
keit erreicht und Elend vermieden wird. Die in Bezug auf
diese Bedingungen auftretende Empfindung steht oft in Harmonie
mit der pro-ethischen Empfindung, deren Bildung oben beschrieben
wurde , freilich auch von Zeit zu Zeit in Widerstreit mit ihr ;
mag sie aber mit ihr in Übereinstimmung oder Widerstreit sich
befinden, sie wird unbestimmt oder bestimmt als der rechtmässige
Führer erkannt ; sie entspricht eben thatsächlich Folgen, welche
nicht künstlich und wechselnd, sondern Folgen, welche natürlich
und dauernd sind .
Es muss bemerkt werden , dass neben der festgestellten
Oberherrschaft dieses eigentlichen ethischen Gefühls, das Gefühl
der Verpflichtung, obschon fortdauernd im Hintergrunde des Be
wusstseins existierend , aufhört den Vordergrund einzunehmen,
denn die rechten Handlungen werden gewöhnlich aus freien
Stücken oder aus Neigung ausgeführt. Obgleich nun , solange
die moralische Natur unvollkommen entwickelt ist , häufig ein
§. 124 . Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 351
III. Capitel.
Angriff.
§. 125.
Unter dieser Überschrift, in ihrer weitesten Bedeutung ge
nommen , können vielerlei Arten von Handlungen umfasst werden,
- so vielerlei und so verschiedenartige, dass sie nicht in einem
Capitel behandelt werden können . Ich beabsichtige hier die An
wendung der Überschrift auf Handlungen zu beschränken , welche
Andern körperlichen Schaden zufügen, bis zur Tödtung oder Ver
wundung derselben, - Handlungen der Art , welche wir ver
derblich, destructiv, nennen.
Selbst von diesen Handlungen , welche wir als vollständig
oder theilweise menschentödtend betrachten können , giebt es
mehrere Arten , welche nicht unter Angriff in der gewöhnlichen
Bedeutung verstanden werden können . Ich meine diejenigen,
welche keinen Antagonismus oder Streit zur Voraussetzung haben.
Die erste von ihnen anzuführende ist Kindesmord . Weit
entfernt davon als Verbrechen betrachtet zu werden , wurde
Kindestödtung in frühen Zeiten in der ganzen Welt , und wird
in verschiedenen Theilen der Welt noch immer, nicht einmal als
Vergehen betrachtet : gelegentlich galt und gilt sie geradezu als
Pflicht. Wir haben jene Kindestödtung , welche durch das Be
streben eingegeben wird , das Leben der Erwachsenen zu er
halten ; denn bei einem Stamme , welcher sich beständig an der
Grenze des Verhungerns befindet, kann die Zunahme seiner Zahl
um Einige sich für Andere als verhängnisvoll ergeben . Weibliche
Kindestödtung wird ferner häufig durch den Gedanken an die
Wohlfahrt des Stammes veranlasst : die hergebrachte Stammes
klugheit ist , Mädchen zu tödten , welche , während sie für die
Aufgaben des Krieges und der Jagd von keinem Nutzen sind ,
wenn in Überzahl, die Nahrungsvorräthe in nachtheiliger Weise
§. 125. Angriff. 353
§. 126.
Von diesen Arten des Angriffs , die Form der Menschen
tödtung annehmend , welche keine Folgen persönlichen oder
Stammes-Antagonismus sind , wollen wir zu denen übergehen .
deren Ursache Blutdurst ist , mit oder ohne eine zwischen Per
sonen oder Stämmen bestehenden Feindschaft .
Ich will mit einem Beispiele anfangen , welches ich schon
an anderer Stelle angeführt habe, - das der Fidschi-Insulaner,
bei welchen Mord für ehrenhaft gehalten wurde . Glaubwürdig
keit dieser Angabe, welche man sonst zu bezweifeln geneigt sein
könnte , wird durch das Bekanntwerden ganz ähnlicher , andere
Völker betreffender Angabe gewährleistet. LIVINGSTONE er
zählt , dass :
ein Buschmann „beim Feuer sass und seine früher erlebten
Abenteuer erzählte : unter diesen war die Tödtung fünf anderer Busch
männer. Zwei , ' sagte er, sie an seinen Fingern herzählend ,, waren
Frauen, einer ein Mann und die beiden andern Kälber.' -- Was für
ein Schurke bist Du , Dich des Tödtens von Frauen und Kindern
Deiner eigenen Nation zu rühmen ! Was wird Gott sagen, wenn Du
vor ihm erscheinst ?' ―――― ,Er wird sagen, ' entgegnete er, ,dass ich ein
sehr geschickter Kerl war ' . . . . Ich entdeckte , dass er, obgleich er
das Wort gebrauchte, welches bei den Bakwains beim Sprechen von
der Gottheit benutzt wird, nur die Idee eines Häuptlings damit ver
band und dass er die ganze Zeit Sekomi meinte. "
Noch erschreckender ist der Zustand der Dinge und die
Art des Empfindens , wie sie von WILSON und FELKIN in ihrer
Schilderung von Uganda beschrieben werden. Hier ist ein er
läuternder Vorfall.
17 Ein junger Page Mtesa's [des Königs von Uganda] , Sohn eines
untergeordneten Häuptlings , wurde oft dazu verwandt , mir Botschaften
§. 127. Angriff. 355
§. 127.
Wenn wir uns von dem stillschweigend angenommenen oder
ausgesprochenen Glauben an die Ehrenhaftigkeit privaten Men
schenmordes , wofür noch jetzt lebende Wilde Beweise liefern ,
zu dem Glauben an das Ehrenhafte jener öffentlichen und im
Grossen stattfindenden Menschenmorde wenden , zu welchen wirk
liches oder angeblich zugefügtes Unrecht zwischen Stämmen oder
356 Die Inductionen der Ethik. Cap. III.
§. 129.
Zu welcher allgemeinen Folgerung können nun diese That
sachen zusammengefasst werden ? Im Ganzen genommen zeigt
das Beweismaterial, wie sich hätte erwarten lassen, dass in dem
Verhältnisse wie feindliche Gegensätze zwischen Stämmen und
Nationen gross und beständig sind , auch die zur Ethik der
Feindschaft gehörenden Ideen und Gefühle vorherrschen ; und
da sie thatsächlich mit den zur Ethik des Wohlwollens ge
hörenden Ideen und Gefühlen in Widerstreit stehen , welche
§. 129. Angriff . 363
die Siege Karls des Grossen von grossen und geringen Greuel
thaten begleitet . Er enthauptete 4000 Sachsen an einem Tage
und bestrafte die mit dem Tode, welche die Taufe verweigerten
oder während der Fasten Fleisch assen. In ähnlicher Weise
begleiteten während der feudalen Jahrhunderte beständige Kämpfe
zwischen den Edelleuten die immer wiederkehrenden internatio
nalen Händel ; die Chronisten beschreiben wenig Anderes als
Verbrechen ; und der Todtschlag von Vasallen durch Ritter
wurde als eine keinerlei Vorwürfe herausfordernde Sache über
gangen. Als aber der Verlauf der Jahrhunderte und die Be
festigung der Reiche eine Verminderung des verbreiteten Kriegs
zustandes mit sich brachte und als in Folge hiervon industrielle
Thätigkeit mit der daraus hervorgehenden inneren Zusammen
wirkung einen grösseren Raum im Leben der Menschen einnahm,
fiengen die gewissenloseren Formen der Gewaltthätigkeit an , Tadel
zu begegnen , während durch Rücksicht auf Andere ausgezeichnetem
Betragen Lob gespendet wurde. Und wenn auch neuere Zeiten
grosse Kriege gesehen haben , so sind doch , da die auf Kampf
ausgehenden Handlungen nicht so allgemein geherrscht haben
wie in früheren Zeiten, die, friedfertigen Thätigkeitsformen zu
sagenden Empfindungen nicht so ganz allgemein zurückgedrängt
worden. Übrigens hat , wie ich an einem andern Orte gezeigt
habe (Principien der Sociologie , § . 573) , die Brutalität der
Bürger unter einander von Zeit zu Zeit mit der erneuten Kampf
zeit zugenommen und mit ihrem Nachlasse wieder abgenommen ,
während Modificationen des ethischen Maassstabes damit Hand
in Hand auftraten.
IV . Capitel.
Raub .
§. 130.
Die natürliche Verwandtschaft zwischen dem sich einander
körperlichen Schaden Zufügen , theilweise oder bis zur Tödtung,
und dem Schädigen Anderer durch Besitzergreifung seines Körpers,
und seiner Arbeitskraft oder seines Besitzthums ist in die Augen
fallend. Beides , directe und indirecte Beschädigung wurden unter
§. 130. Raub . 365
§. 131 .
Ist Erfolg im Kriege ehrenhaft, so werden auch alle damit
verbundenen Sachen und die Zeichen solchen Erfolges ehrenhaft .
Hand in Hand mit dem Zu-Sklaven-machen der Gefangenen,
wenn sie nicht gegessen werden, und der Aneignung ihrer Frauen
als Concubinen oder Frauen , geht daher das Ergreifen ihres
Besitzthumes . Eine natürliche Folge hiervon ist , dass nicht
bloss während des Krieges, sondern auch zu andern Zeiten die
Beraubung von Feinden , und , in stillschweigender Folgerung,
von Fremden, welche gewöhnlich als Feinde betrachtet werden,
von der Beraubung der Stammesgenossen unterschieden wird:
die erste wird gut genannt , selbst wenn die letzte schlecht ge
nannt wird.
Unter den Comanchen 99 wird ein junger Mann nicht für
würdig erachtet, zu der Reihe der Krieger gezählt zu werden ,
bis er nicht von irgend einem erfolgreichen Plünderungszuge
zurückgekehrt ist, . . . die grössten Diebe . . . sind die achtungs
werthesten Glieder der Gesellschaft" . Ein Patagonier wird
" ebenso gleichmässig für unfähig betrachtet , eine Frau zu er
halten, wenn er nicht in der Kunst, einen Fremden zu bestehlen ,
erfahren ist". LIVINGSTONE sagt von den Ost- Africanern :
" Bei Stämmen, welche an das Kinder- Stehlen gewöhnt sind, wird
diese Handlung nicht in der Weise , wie es Diebstahl wird , für un
moralisch angesehen . Ehe ich die Sprache hinreichend kannte , sagte
ich zu einem Häuptlinge : ,Du hast die Kinder von dem und dem ge
stohlen. , Nein , ich habe sie nicht gestohlen, ' war die Anwort ,, ich
habe sie nur ausgehoben. Das Wort ,gapa' ist mit dem Hochland
ausdruck für dieselbe That identisch . "
368 Die Inductionen der Ethik. Cap. IV.
§. 132.
Bei den Rassen , welche eine Geschichte haben , geben die
historischen Zeugnisse einen Beweis dafür , dass Hand in Hand
mit einem weniger werkthätigen Leben äusserer Feindschaft und
einem werkthätigeren Leben inneren Wohlwollens eine Ver
370 Die Inductionen der Ethik. Cap. IV.
§. 133 .
Die deutlichsten Beweise aber für die erwähnten Wechsel
beziehungen bieten die Contraste dar zwischen den kriegerischen
uncivilisierten Stämmen , von welchen oben Beispiele angeführt
worden sind, und den friedlichen uncivilisierten Stämmen . Hier
folgen Züge, welche einige dieser letzteren darbieten .
Nach HARTSHORNE ist der harmlose Wald-Veddah nicht nur
vollkommen ehrlich , sondern kann es nicht für möglich halten,
dass ein Mensch 99 das nehmen sollte , was ihm nicht gehört " .
Von den Eskimos , bei denen Krieg unbekannt ist , lesen wir,
dass sie gleichmässig als äusserst peinlich ehrlich beschrieben
werden “ ; und alle solche Einschränkungen dieser Angabe, wie sie
BANCROFT gemacht hat, beziehen sich auf Eskimos, welche durc
die Berührung mit weissen Kauffahrern demoralisiert worden
sind . Von den Feuerländern erfahren wir durch DARWIN, dass :
"" Wenn irgend ein Geschenk für ein Canoe bestimmt war und
es fiel nahe bei einem andern nieder, es unabänderlich dem richtigen
Empfänger gegeben wurde. "
Auch sagt SNOW , dass sie in ihren Handelsgeschäften mit
ihm sehr anständig waren. Was gewisse Papuas an der Südküste
von Neu-Guinea betrifft, welche für eine combinierte Thätigkeit
im Kriege als zu unabhängig beschrieben werden, so lesen wir,
dass " die Eingebornen in ihren Kaufhandlungen allgemein sehr
ehrlich waren , weit mehr so als unsere eigenen Leute " . Und
§. 134. Rache . 373
mit Bezug auf andere Glieder dieser Rasse erzählt uns Kops ,
dass die Eingebornen von Dory Zeugnis geben " für eine Neigung
zu Recht und Gerechtigkeit und starke moralische Grundsätze .
Diebstahl wird von ihnen als ein sehr schweres Vergehen ge
halten und kommt nur sehr selten vor. " Ein ähnlicher Charakter
wird von KOLFF den Ureinwohnern von Lette zugeschrieben .
In den Principien der Sociologie ' , §§ . 437 und 574 habe ich
Zeugnisse angeführt betreffs der Ehrlichkeit der Todas, Santáls ,
Lepchas , Bodo und Dhimáls , Hos , Chakmás , Jakunen . Hier
bringe ich noch weitere Zeugnisse bei . Consul BAKER erzählt
uns von den Eingebornen von Vera Cruz, jetzt eine unterworfene,
dem Kriegsdienst abgeneigte Rasse , dass 99 der Indianer ehrlich
ist und selten selbst der grössten Versuchung zum Stehlen nach
giebt " . Bei seiner Beschreibung einer Rasse , welche einen
langen Streifen von Sumpf und Wald “ am „ Fusse des Himalaya "
bewohnt, sagt Mr. NESFIELD , dass 22 ihre Ehrlichkeit durch Hun
derte von Geschichten gewährleistet ist " , so ist wenigstens der
Charakter des Thâru, solange er in der sicheren Abgeschlossen
heit seiner einsamen Wildnisse bleibt " , wo er von Feindselig
keiten frei ist . Endlich haben wir mit der von MORGAN in Bezug
auf die Irokesen angeführten Thatsache , dass "" Diebstahl , das
allerverächtlichste von allen menschlichen Verbrechen, unter ihnen
kaum gekannt wurde " , die Thatsache zu verbinden, dass ihr Bund
zur Erhaltung des Friedens unter den ihn bildenden Völkern er
richtet worden war und in der Erreichung seines Zieles viele
Generationen hindurch Erfolg gehabt hatte .
V. Capitel.
Rache .
§. 134 .
§. 135 .
Unter menschlichen Wesen ist daher auf frühen Zuständen
nicht nur die Ausübung der Rache entstanden , sondern auch
der Glaube , dass Rache gebieterisch gefordert wird , ――― dass
Rache eine Pflicht ist. Das Folgende , aus Sir GEORGE GREY'S
Schilderung der Australier, ist ein deutliches Bild der Empfindung
und ihrer Resultate :
Die heiligste Pflicht , zu deren Erfüllung ein Eingeborner be
rufen ist , ist die , den Tod seiner nächsten Verwandten zu rächen ,
denn es ist seine besondere Pflicht dies zu thun : solange bis er diese
Aufgabe erfüllt hat, wird er von den alten Weibern verhöhnt ; seine
Frauen, wenn er verheirathet ist, würden ihn bald verlassen ; ist er
nicht verheirathet , so würde keine einzige junge Frau mit ihm
reden ; seine Mutter würde beständig weinen und es bejammern , dass
sie je einen so entarteten Sohn geboren habe ; sein Vater würde ihn
mit Verachtung behandeln und beständig würden Vorwürfe in sein
Ohr klingen . "
Von Beispielen aus Nord -America mag das angeführt werden,
welches die Sioux darbieten . BURTON sagt :
29 Die Rachgier ihrer Vendetta ist sprichwörtlich ; sie hassen mit
dem Hasse der Hölle ' ; und , wie die Hochländer in alten Zeiten,
wenn der Urheber einer Kränkung ihnen entgeht , lassen sie ihre
Wuth an dem Unschuldigen aus , weil er desselben Stammes oder
derselben Farbe ist . "
Aus Süd - America mag ein von SCHOMBURGK erzählter Fall
angeführt werden.
" Meine Rache ist noch nicht befriedigt , es lebt noch ein Glied
der gehassten Familie, " sagte ein Eingeborner von Guiana , dessen
Verwandter seiner Vermuthung nach vergiftet worden war.
Ferner ist hier ein Beispiel aus WILLIAM'S Schilderung der
Fidschi - Insulaner.
29 In der Stunde des Todes vergisst er niemals einen Feind und
in dieser Zeit vergiebt er nie einem . Der sterbende Mann nennt
seinen Feind, damit seine Kinder seinen Hass immerwährend erhalten ,
_________ es kann sogar gegen seinen eigenen Sohn sein, und ihn bei
der ersten Gelegenheit tödten . "
Und dann erzählt uns THOMSON von den Neu - Seeländern,
dass "7 einen Todten nicht zu rächen , dem eingebornen Gesetze
entsprechend , für ein allerfeigstes Gemüth zeugt. " Auf Asien
übergehend will ich MACRAE's Schilderung der Kukis anführen.
" Wie alle wilden Völkerschaften " sind die Kukis " von äusserst
rachsüchtiger Gesinnung ; um Blut muss immer Blut vergossen wer
376 Die Inductionen der Ethik. Cap. V.
den ... Wenn ein Mensch zufällig durch einen gelegentlichen Fall
von einem Baume getödtet werden sollte , so würden sich alle seine
Verwandten versammeln . . . und diesen in Späne zerschlagen . "
Bei PETHERICK lesen wir, dass
das Vergiessen von Blut 27 bei den Arabern ein Vergehen ist,
welches weder die Zeit noch zerknirschende Reue vergessen machen
können ; der Durst nach Rache geht vom Vater auf den Sohn über,
und selbst durch mehrere folgende Generationen . “
So schreibt auch BURTON von den Ost - Africanern :
12 Rache ist eine herrschende Leidenschaft , wie die vielen , mit
tiefem Groll geführten brudermörderischen Kriege , welche zwischen
verwandten Stämmen , selbst eine Generation hindurch geherrscht
haben , beweisen . Wiedervergeltung und Rache sind in der That
die grossen Triebfedern der moralischen Controle. "
In allen diesen Fällen sehen wir , dass entweder aus
gesprochenermaassen oder stillschweigend Rache als eine mo
ralische Verpflichtung angesehen wird .
Die frühen Zustände verschiedener, noch jetzt bestehender
Völker liefern gleicherweise deutliche Beweise . In seinem „ Japan
in alten Zeiten " übersetzt Mr. DENING das Leben des Musashi.
herausgegeben vom Momtusho (dem Erziehungs - Departement).
worin eine lange dauernde Vendetta , voll von Kämpfen und
Morden , erzählt wird ; und , zum Theil mit den japanesischen
Erziehungsmännern sympathisierend , macht er die Bemerkung.
dass seines Heroen Thaten nicht aussterbender Rache so viele
Seiten von den edleren Seiten der menschlichen Natur " offen
barten und 97 darauf berechnet sind, Vertrauen in die Menschheit
einzuflössen . " Ein verwandter Geist zeigt sich in der frühen
indischen Litteratur. Die Götter sind rachsüchtig . Wie im
Rig Veda beschrieben wird,
„ Agni verschlingt seine Feinde , zerreisst ihre Haut, zerstückelt
ihre Glieder und wirft sie den Wölfen vor, dass sie von diesen oder
von den kreischenden Geiern gefressen werden. “
Und an dem, den Göttern zugeschriebenen Charakter haben.
deren Anbeter Theil, wie die Anrufung zeigt :
„ Indra und Soma , verbrennt die Rakshas , zerstört sie , werft
sie nieder , Ihr zwei Stiere , das Volk , das in der Dunkelheit lebt.
Schlagt die Wahnsinnigen nieder , erstickt sie , tödtet sie, schleudert
sie fort und erschlagt die Gefrässigen. Indra und Soma , zusammen
auf gegen den fluchenden Dämon ! Mag er brennen und zischen wie
ein Opfer im Feuer ! Werft Euren ewigen Hass auf den Schurken ! "
§. 135. Rache . 377
§. 136.
Es sind aber , während Gesellschaften im Verlaufe ihres
Wachsthums und ihrer Festigung begriffen waren , gelegentliche
Ausdrücke von Ideen und Empfindungen aufgetreten , die den
vorstehend erwähnten entgegengesetzt waren , - gelegentliche
Ausdrücke , welche, da sie mit der Erreichung geordneter socialer
Zustände verknüpft sind , ganz wohl als Folgen einer Vermin
derung kriegerischer Thätigkeit angesehen werden können .
Verschiedene Illustrationen bietet die Litteratur von Hindostan
dar. In dem Gesetzbuche des Manu lesen wir :
" Verwunde nicht den Andern, auch wenn Du herausgefordert wurdest
von ihm ,
Füge Keinem durch Gedanken oder That Unrecht zu ,
Äussere kein Wort , Deinen Mitgeschöpfen Schmerz zu bereiten. “
Ferner findet sich an einem Orte die Ermahnung :
Behandle Niemand mit Verachtung , ertrage mit Geduld
Schmähende Rede : mit einem zornigen Menschen
Sei niemals zornig ; gieb Segnungen für Flüche . "
§. 136. Rache . 379
§. 137.
Beweise dafür, dass die Abnahme der Rachsüchtigkeit und
die Zunahme der Versöhnlichkeit mit der Abnahme der Streit
barkeit und der Zunahme friedlichen Zusammenwirkens ver
bunden sind , können nicht ganz klar aus den Thatsachen ab
geleitet werden ; denn die beiden Formen von Lebensstimmung
sind beinahe überall und zu allen Zeiten in einem oder dem
andern Verhältnisse mit einander verbunden gewesen. Derartigen
allgemeinen Beweisen, wie sie die im Vorhergehenden angeführten
Sätze liefern , können aber noch einige von jetzt bestehenden
Gesellschaften dargebotene Zeugnisse hinzugefügt werden.
So ist es Thatsache , dass im ganzen Leben der haupt
sächlichsten Nationen von Europa die Familienrache in einer
Periode verschwunden ist , in welcher die Kämpfe zwischen den
Nationen weniger beständig geworden sind und der friedliche
Austausch von Diensten innerhalb einer jeden Nation lebendiger
geworden ist ein Unterschied zwischen alter und neuer Zeit,
welcher sich am frühesten da geltend machte, wo der industrielle
Typus am frühesten entwickelt wurde, nämlich in England .
Es ist auch ferner Thatsache , dass in unserer eigenen
[englischen] Gesellschaft, mit ihrer vergleichsweise geringen Zahl
von Soldaten und mit einer weniger vorherrschenden Streitbar
keit als bei den Continentalstaaten mit ihren ungeheuren Armeen
und ihrer kriegerischen Haltung , die Rache für Privatbeleidi
gungen unterdrückt wird , während sie bei jenen fortbesteht.
Und die rachsüchtige Stimmung hat so weit abgenommen , dass
ein beleidigter Mann , welcher dauernd gegen den , der ihn be
leidigt hat, feindlich gesinnt ist, eher getadelt als gelobt wird :
jedenfalls wird die Versöhnlichkeit von Vielen gutgeheissen .
Wenn wir uns aber nach einem Falle umsehen, in welchem
die für besonders christlich gehaltene Tugend ausgeübt wird,
so müssen wir ihn bei den Nicht - Christen suchen. Gewisse
friedliche Stämme Indiens sind dadurch ausgezeichnet , wie es
die folgende Schilderung der Lepchas bezeugt :
„ Sie sind wunderbar ehrlich ; Diebstahl ist bei ihnen kaum be
kannt ; sie streiten selten unter einander . . . Sie sind , nach einer
schnell vorübergehenden Verstimmung , eigenthümlich geneigt , Be
leidigungen zu vergeben. Obgleich sie bereit genug waren, in Fällen
von Angriff und andern Vergehen Klagen gegen einander vor die
§. 138. Gerechtigkeit . 381
VI . Capitel.
Gerechtigkeit .
§. 138.
Der Geist des Guten in bösen Dingen wird vielleicht durch
kein anderes Beispiel besser erwiesen als durch das gute Ding,
Gerechtigkeit, welches in einer rudimentären Form in dem bösen
Dinge , Rache , besteht. Einem Angriffe durch einen Gegen
Angriff zu begegnen , ist an erster Stelle ein Versuch , es zu
vermeiden , von dem Angreifer unterdrückt zu werden, und jene
Fähigkeit , das Leben weiterzuführen, zu bewahren , welche die
Gerechtigkeit mit sich bringt ; und an zweiter Stelle ist es ein
Bestreben, Gerechtigkeit dadurch zu erzwingen, dass Gleichheit
mit dem Angreifer hergestellt wird : so grosses Unrecht zu
zufügen als erhalten worden ist.
Der rohe Vorgang, die Ansprüche abzuwägen , verfehlt ge
wöhnlich den Zweck , das Gleichgewicht herzustellen . Rache,
beständig nicht bloss so weit genommen als hinreichend ist , das
empfangene Unrecht auszugleichen , sondern womöglich noch
weiter, fordert eine Gegenrache heraus , welche ebenfalls , wenn
möglich , bis zum Excess getrieben wird ; und so entstehen chro
nische Kriege zwischen Stämmen und chronische Feindseligkeiten
zwischen Familien und zwischen Individuen . Diese setzen sich
gewöhnlich von Generation auf Generation fort.
25*
382 Die Inductionen der Ethik. Cap. VI.
§. 139.
Menschen verschiedener roher Stämme , so die Australier,
offenbaren die Idee , sie stillschweigend anerkennend und nach ihr
handelnd, dass der Verlust eines Lebens in einem Stamme durch
die Vornahme einer Tödtung in einem andern Stamme compensiert
werden muss , aus welchem irgend ein Mitglied , bekannter oder
vermuthetermaassen , den erwähnten Verlust eines Lebens ver
ursacht hat. Und da Todesfälle in Folge von Krankheit oder
hohem Alter, unter Anderm, den Machinationen von Feinden zu
geschrieben werden , und da entsprechende Tödtungen auch für
diese vorgenommen werden müssen , haben solche Ausgleiche von
Verlusten häufig stattzufinden . (Es erscheint indessen klar, dass
diese Rachen und Gegenrachen nicht immer , so wie behauptet
wird, ausgeführt werden können . Denn wenn nicht bloss Todes
fälle durch Gewalt , sondern auch Todesfälle durch Krankheit
sie mit sich führten , würden die beiden Stämme durch gegen
seitige Ausrottung bald ganz verschwinden .) Viel weiter vor
geschrittene Rassen führen in manchen Fällen nicht diese ge
heimen Ausgleichungen der Sterblichkeitsrechnung aus , sondern
begleichen sie offenkundig . Dies ist bei den Sumatranern der
Fall , bei welchen die Unterschiede durch Geldzahlungen aus
geglichen werden .
Dieses Aufrechterhalten von Gerechtigkeit zwischen Stämmen,
zum Theil veranlasst durch das Bewusstsein jenes corporativen
Schadens , welchen der Verlust eines Mitglieds mit sich bringt
und der das Zufügen eines gleichwerthigen corporativen Schadens
dem verletzenden Stamme erfordert , besitzt den Zug , dass es
gleichgültig ist, welches Mitglied des verletzenden Stammes zur
Ausgleichung getödtet wird : ob es der schuldige oder irgend
ein unschuldiger Mensch ist , hat nichts zu bedeuten . Diese
Auffassung von Gerechtigkeit zwischen Stämmen wiederholt sich
in der Auffassung einer in den Beziehungen von Familien zu
einander bestehenden Gerechtigkeit. Jene frühere Typen socialer
Organisation, bei denen die Familie die Einheit der Zusammen
§. 139. Gerechtigkeit . 383
" Es ist ein bei allen Arabern bestehendes Gesetz , dass der,
welcher das Blut eines Menschen vergiesst , dafür der Familie der
erschlagenen Person Blut schuldet . . . Die directen Nachkommen
aller derer , welche im Augenblicke der Tödtung berechtigt waren
sich zu rächen, erben dieses Recht von ihren Eltern . "
Und was dieses System der Ausübung einer Gerechtigkeit
384 Die Inductionen der Ethik. Cap. VI.
§. 140.
„ Zu derselben Zeit wird man nicht mehr sagen : die Väter haben
Herrlinge gegessen und der Kinder Zähne sind stumpf geworden ;
sondern ein Jeglicher wird um seiner Missethat willen sterben , und
welcher Mensch Herrlinge isst , dem sollen seine Zähne stumpf werden. "
Dass bei europäischen Völkern das Wachsthum dieses Factors
in der Auffassung der Gerechtigkeit Hand in Hand gegangen ist
386 Die Inductionen der Ethik. Cap. VI.
§. 141 .
Während aber in den vorgeschritteneren socialen Entwick
lungsstufen die Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen dem
Betragen und seinen Folgen dazu kommt als durch die Gerech
tigkeit für nothwendig anerkannt zu werden, ist auf den früheren
socialen Stufen die Idee der Gleichheit diejenige, welche haupt
sächlich Anerkennung findet, und zwar unter der Form des Zu
fügens gleichwerthiger Schäden. Es konnte auch kaum anders.
sein. Während der Zeiten unaufhörlichen Kampfes , mit bestimmt
eingetheilten Wunden und Tödtungen, ist dies die einzige Gleich
heit, welche einer Aufrechterhaltung fähig ist . Aus dieser Ge
pflogenheit Tödtungen und Verstümmelungen abzuwägen, strebt
sich indessen offenbar ein Bestandtheil zu der Auffassung der
Billigkeit zu entwickeln .
Wir können auch beobachten , dass die Thätigkeitsäusserungen
eines kämpfenden Lebens selbst Raum gewähren für eine weitere
Entwicklung der Idee ; und gelegentlich entstehen Gebräuche,
welche ein gewisses Aufrechterhalten der Billigkeit erfordern,
selbst mitten in den Kämpfen . Wo er von gewissen frühen in
den indischen Büchern berichteten Kriegen spricht , bemerkt
WHEELER, dass
"" das Gefühl von Ehre , welches zweifellos bei den alten Ksha
triyas entwickelt war, sie den Angriff auf einen schlafenden Feind als
ein nichtswürdiges Verbrechen betrachten liess . " ?? Als Aswattháma
entschlossen war , an dem Mörder seines Vaters Rache zu nehmen,
weckte er selbst seinen schlafenden Feind , ehe er ihn erschlug. "
Und verschiedene Geschichten geben gelegentlich Zeichen
des Glaubens, dass unter gewissen Umständen ―――――――――― besonders bei
persönlichen Kämpfen ――― die Feinde in Lagen gebracht werden
sollten, die annähernd gleich wären, ehe sie angegriffen würden,
§. 141 . Gerechtigkeit . 387
VII . Capitel.
Edelmuth .
§. 142.
Es ist schwierig , die verschiedenen Arten des Benehmens.
welche gewöhnlich unter der Bezeichnung Edelmuth zusammen
gefasst werden , in eine verständliche Ordnung zu bringen. zum
§. 142. Edelmuth . 391
§. 143.
Einleitungsweise muss ferner noch bemerkt werden , dass
das Gefühl des Edelmuths , selbst in seiner entwickelten Form ,
einfacher ist als das Gefühl der Gerechtigkeit ; es wird daher
auch früher offenbart. Das eine ist das Resultat geistiger Vor
stellungen der Freuden oder Leiden eines Andern oder Anderer —.
es zeigt sich in Handlungen , welche durch die Empfindungen
angeregt werden , die diese geistigen Vorstellungen hervorrufen.
Das andere aber setzt Vorstellungen voraus , nicht einfach der
Schmerzen und Freuden, sondern auch, und zwar hauptsächlich,
Vorstellungen der Bedingungen , welche zur Vermeidung von
Leiden oder zur Gewährung von Freuden erforderlich sind oder
dazu führen. Es schliesst daher eine Reihe von geistigen Thä
tigkeiten ein , welche noch über den , den Edelmuth bildenden
geistigen Thätigkeiten eintreten.
Die Anerkennung dieser Wahrheit macht die Reihe ihrer
Aufeinanderfolge im Verlaufe der Civilisation verständlich .
Und
diese Reihenfolge wird noch begreiflicher gemacht, wenn wir uns
daran erinnern , dass Edelmuth bei Menschen von niederer In
telligenz häufig das Resultat ihrer Unfähigkeit ist, sich deutlich
die Folgen der von ihnen gebrachten Opfer vorzustellen , ―――――― sie
haben keine Voraussicht.
§. 144 .
Zuerst muss von jenem Pseudo -Edelmuth gehandelt werden ,
welcher hauptsächlich aus andern als wohlwollenden Empfindungen
gebildet wird. Der Wunsch für die Wohlfahrt eines Andern ist
allerdings selten ohne einen Zusatz : meist sind noch andere
Motive gegenwärtig , - hauptsächlich das Verlangen nach Bei
fall . Aber für die niedrigsten der anscheinend durch Edelmuth
veranlassten Handlungen bilden diese andern Motive die vor
herrschende oder alleinige Anregung, anstatt in untergeordneter
Weise eine Anregung zu geben .
Die Äusserungen von Gastfreundschaft unter uncivilisierten
oder barbarischen Völkerschaften bieten auffallende Beispiele
dar. Von dem Beduinen, „ gleichzeitig räuberisch und verschwen
derisch " , und welcher peinlich gastfreundlich ist , sagt PALGRAVE :
§. 144 . Edelmuth . 393
erwähnt worden ist , der viel unter ihnen gelebt hat " , wird von
WINTERBOTTOM bemerkt. Von den Stämmen, welche Nord- America
bewohnen, sagt MORGAN :
§. 145 .
Wir finden indessen unter einigen der am meisten uncivili
sierten Völkerschaften Entfaltung eines Edelmuths , welcher
――――――
offenbar echt ist, zuweilen in der That eine stärkere Entfaltung
eines solchen als unter den civilisierten .
BURCHELL erzählt uns selbst von den Buschmännern , dass
sie gegen einander " die Tugenden der Gastfreundschaft und des
Edelmuths oft in einem ausserordentlichen Grade ausüben " . So
sagt er ferner , dass die Hottentotten unter sich selbst und
häufig auch gegen Leute aus andern Stämmen sehr gastfrei
sind ; und KOLBEN drückt die Ansicht aus , dass „in Freigebig
keit und Gastfreundschaft die Hottentotten vielleicht über alle
die andern Nationen der Erde gehen " . Ferner sagt LIVINGSTONE
von den Ost-Africanern :
„ Die wahrhafte Höflichkeit , mit welcher von nahezu allen
Stämmen des Innern , welche nicht viel Verkehr mit Europäern gehabt
haben , Nahrung gegeben wird , macht es zu einem Vergnügen , sie
anzunehmen. “
Obgleich in dem folgenden, das Volk von Loango betreffen
den Auszuge ein Beweis dafür enthalten ist, dass die Liebe zur
Anerkennung ein mächtiger Sporn zu edelmüthigen Handlungen
ist, so scheint er doch auch zu bezeugen , dass mit jener eine
wahre Empfindung von Edelmuth verbunden ist .
„ Sie sind immer bereit, das Wenige, was sie haben, mit denen
zu theilen, von denen sie wissen, dass sie in Noth sind. Wenn sie
beim Jagen und Fischen glücklich gewesen sind oder etwas Seltenes
erlangt haben , so laufen sie sofort herum und erzählen es ihren
Freunden und Nachbarn , Jedem einen Antheil davon gebend. Sie
würden eher vorziehen , sich einzuschränken , als jenen nicht diesen
Beweis ihrer Freundschaft zu geben . Sie nennen die Europäer
,geschlossene Hände ' , weil sie Nichts um Nichts geben . "
Andere Rassen , manche niedriger , manche höher stehend ,
bieten ähnliche Thatsachen dar. Wir lesen , dass die austra
lischen Eingebornen , welche beim Jagen erfolgreich gewesen
sind , immer , und ohne irgend welche Bemerkung zu machen,
SPENCER, Principien der Ethik. I. 26
396 Die Inductionen der Ethik. Cap. VII.
§. 146.
Verschiedene uncivilisierte Völkerschaften entfalten Edelmuth
noch in andern Weisen als durch Gastfreundschaft , und in
Weisen , welche dies Gefühl noch deutlicher von andern Ge
fühlen losgelöst darbieten . Erläuterungen hierzu bietet jene
sehr niedrig stehende Rasse , die Australier , dar. Sie waren
immer bereit , Mr. EYRE zu zeigen, wo Wasser zu haben war,
und wollten, selbst unaufgefordert, seinen Leuten helfen, nach
Wasser zu graben. Ihre Freundlichkeit in dieser Beziehung
erscheint um so merkwürdiger , wenn man sich erinnert , wie
schwierig es für sie war , eine gehörige Menge für sich selbst
zu finden. STURT erzählt uns , dass ein freundlich gesinnter
Eingeborner bekanntermaassen mit grosser persönlicher Gefahr
für Reisende eingetreten ist , welche ein feindlicher Stamm im
Begriffe war anzugreifen . Mit einem in der Nähe lebenden
Stamme war dasselbe der Fall . Während unruhiger Zeiten in
Tasmanien wurde das Leben weisser Bewohner in mehreren
§. 147. Edelmuth . 397
" Sie frohlocken nie über irgend welche Beweise von Tapferkeit ,
welche sie geliefert haben möchten , sondern ergreifen im Gegentheil
jede Gelegenheit , ihre Gegner zu rühmen ; und das wird ein Mann
thun, selbst wenn sein Gegner einfach ein Feigling ist, und wird einen
Entschuldigungsgrund für ihn finden, so : dass die Gelegenheit sehr
ungünstig, oder er sehr ermüdet oder in üblem Gesundheitszustande ,
oder sein Platz ein schlechter gewesen ist, u . s . f. "
Diese und viele verwandte Thatsachen beweisen offenbar,
dass der so oft für uncivilisierte Völker gebrauchte Name
92 Wilde " uns irreleitet , und legen es nahe , dass dieser Name
mit viel grösserer Berechtigung auf Viele unseres eignen Volkes
und unserer europäischen Nachbarn angewendet werden könnte .
§. 147.
Wenn , wie wir gesehen haben , Edelmuth weit verbreitet
ist bei Völkern , welche sich nicht aus niedrigen Culturstufen
erhoben haben, und zwar in der Form einer durch den Gebrauch
aufgenöthigten Gastfreiheit, in welchem Falle aber dieselbe viel
fach geheuchelt wird , oder in Formen, in welchen er entschie
dener echt ist, so brauchen wir nicht überrascht zu sein , Aus
drücke edelmüthiger Gesinnung oder Vorschriften zur Ausübung
edelmüthiger Handlungen in den frühen Litteraturen von Rassen
zu finden, welche sich auf höhere Zustände erhoben haben. Die.
alten Bücher der Indier liefern hierfür Beispiele . Hier ist ein
Auszug aus dem Rig -Veda, welcher eine eigennützige und nicht
auf Sympathie beruhende Anregung zum Edelmuth darbietet :
" Die Geber von Reichthum wohnen hoch im Himmel ; die Geber
von Pferden leben mit der Sonne ; die Geber von Gold erfreuen sich
der Unsterblichkeit ; die Geber von Kleidung verlängern ihr Leben. "
In ähnlicher Weise wird Rig- Veda X. 107 die Freigebig
keit gegen Priester gepriesen :
„ Ich betrachte den als den König der Menschen, der zuerst ein
Geschenk darbrachte ...
. . . Der weise Mann giebt reichliche Gaben ,
indem er sein Brustschild giebt . Grossmüthige Menschen sterben.
weder, noch gerathen sie in Unglück ; weder Unrecht noch Schmerz
26 *
398 Die Inductionen der Ethik. Cap. VII.
§. 148.
Was den Edelmuth bei europäischen Völkern betrifft , wie
solcher in der Geschichte auf den aufeinander folgenden Stufen
ihres Fortschrittes dargeboten wird , so können sehr bestimmte
Angaben nicht gemacht werden. Wir haben Beweise dafür ,
dass in frühen Zeiten nahezu die nämlichen Gefühle und Ge
-
wohnheiten bestanden , wie sie bei Wilden jetzt bestehen ,
Gewohnheiten , welche Edelmuth simulieren . TACITUS sagt von
den alten Deutschen :
„ Keine Nation giebt sich verschwenderischer den Bewirthungen
und der Gastfreiheit hin . Irgend ein menschliches Wesen von ihren
Wohnungen auszuschliessen, wird für gottlos gehalten. "
Und diese Gebräuche und Ideen giengen , wie wir wissen,
Hand in Hand mit einem vollständigen Mangel an Sympathie :
sie enthielten nur das durch Überlieferung geheiligte Schauspiel
von Edelmuth .
Durch das ganze Mittelalter und herab bis auf vergleichs
weise neuere Zeiten sehen wir in Verbindung mit der zurück
weichenden Schaustellung von Edelmuth wenig mehr als einen
durch die Hoffnung , sich dadurch die göttliche Gunst zu er
kaufen , angeregten Edelmuth . Dieser Beweggrund ist voll
kommen in dem Worte ausgedrückt : „ Wer sich des Armen er
barmet, der leihet dem Herrn " (Sprüche Sal . XIX . 17 ) ; und es
400 Die Inductionen der Ethik. Cap. VII.
wird erwartet, dass der Herr gute Zinsen zahlt. Das Christen
thum stellt selbst in seiner anfänglichen Form das Almosengeben
als ein Mittel zur Seligkeit dar ; und während vieler Jahrhunderte
der christlichen Geschichte hatte das Geben von Almosen wenig
andere Motive . Ebenso wie sie Kapellen bauten , um Verbrechen
dadurch auszugleichen , oder wie sie Sklaven frei liessen , um
Frieden mit Gott zu machen, so war ausser dem Verlangen nach
Beifall, welcher der Freigebigkeit folgte , das einzige Motiv für
die Reichen , Werke der Liebe zu thun , ein anderes weltliches
Motiv : die Furcht vor der Hölle und der Wunsch nach dem
Himmel. Wie Mr. LECKY bemerkt : „ Die Leute gaben Geld den
Armen , einfach und ausschliesslich zu ihrem eigenen geistigen
Vortheil , und die Wohlfahrt des Leidenden war ihren Gedanken
vollständig fremd . " Wie vollständig dem mit Recht sogenannten
Edelmuth fremd das dabei wirksame Gefühl war, wird durch das
Geständnis erwiesen , welches an der von Mr. LECKY angeführten
Stelle Sir THOMAS BROWNE ohne zu erröthen und geradezu mit
Selbstbefriedigung macht : „ Ich gebe keine Almosen , um den
Hunger meines Bruders zu stillen , sondern um den Willen und
Befehl meines Gottes zu erfüllen und auszuführen . "
In neueren Zeiten indessen lässt sich echter Edelmuth in
zunehmendem Maasse erkennen, ―――― das ethische Gefühl als unter
schieden von dem pro- ethischen Gefühl . Wenn sich auch noch
immer in vorherrschendem Maasse jene transcendentale Selbst
sucht findet , welche hier Gutes thut , um im Jenseits Seligkeit
zu erlangen, wenn selbst noch grosse Mengen von Menschen
vorhanden sind, welche, im Geiste von Sir THOMAS BROWNE sich
nicht über das Bekenntnis schämen, dass ihre Liebesthaten gegen
Andere mehr durch den Wunsch Gott zu gefallen angeregt werden,
als durch den Wunsch menschliche Wohlfahrt zu fördern , so giebt
es doch auch Viele, welche beim Erzeigen von Wohlthaten haupt
sächlich, und Andere , welche gänzlich durch das Mitgefühl mit
denen, welchen sie helfen , bestimmt werden . Und ausser den
Offenbarungen dieses Gefühls echten Edelmuths in privaten Hand
lungen finden sich gelegentlich auch Offenbarungen desselben in
öffentlichen Handlungen ; so z . B. als die Nation ein Opfer von
zwanzig Millionen baren Geldes brachte, dass die westindischen
Sklaven emancipiert werden konnten .
Dass diese Entwicklung wahren Edelmuthes eine Folge der
§. 149 . Edelmuth . 401
§. 149 .
Aus den bereits Anfangs mitgetheilten Gründen ist es
schwierig , die verschiedenen Äusserungsformen von Pseudo
Edelmuth und von Edelmuth im eigentlichen Sinne zu Verall
gemeinerungen einer bestimmten Art zu verwerthen. Und das
Hindernis , welches eine Folge der Complexität und der ver
schiedenen Zusammensetzung der zu edelmüthigen Handlungen
treibenden Erregung ist , wird noch durch die Unbeständigkeit
der Gemüthszüge vergrössert , welche die Menschen, namentlich
die niederen Typen der Menschen darbieten . Gleichgewichtslos ,
wie ihre Naturen sind , handeln sie in vollständig entgegen
gesetzter Weise , je nach dem Antriebe , welcher sich für den
Augenblick im Besitze des Bewusstseins befindet. ANGAS berichtet,
dass 99Kindesmord bei den Neu-Seeländern häufig" sei . Und
doch lieben beide Eltern ihre Kinder fast abgöttisch " ; und
während sie Cook als „ unbarmherzig gegen ihre Feinde" be
schrieben hat, beobachtete THOMSON, dass sie gegen ihre Sklaven
freundlich waren . Andere Beispiele werden von den Neger
Rassen dargeboten. READE sagt , dass in Theilen des äqua
torialen Africa , wo sich die grösste Treulosigkeit findet , auch
starke Beweise anhänglicher Freundschaft gefunden werden . In
Bezug auf die Ost- Africaner schreibt BURTON:
99, Wenn die Kindheit vorübergegangen ist , werden Vater und
Sohn natürliche Feinde , nach der Art wilder Thiere. Und doch sind
sie eine sociale Rasse und der plötzliche Verlust von Verwandten
führt zuweilen von Trauer zu Hypochondrie und Wahnsinn . “
Bei Abwesenheit jener höheren Gemüthsbewegungen , welche
dazu dienen, die niederen einzuordnen, bestimmen diese letzteren
die Handlungen einzeln , und zwar bald in dieser , bald in
jener Weise , je nach den Zufälligkeiten des Augenblicks . Wir
erhalten daher nur durch Vergleichung der Extreme einige
Aussicht, irgend welche bedeutungsvolle Beziehungen der That
sachen entdecken zu können.
In den Schilderungen jener grausamsten Wilden , der
402 Die Inductionen der Ethik. Cap. VII.
VIII . Capitel.
Humanität .
§. 150 .
Die Scheidung zwischen dem in diesem Capitel zu behan
delnden Gegenstande und dem im letzten Capitel behandelten
ist in hohem Maasse künstlich und ist nur durch Gründe der
Bequemlichkeit zu vertheidigen . Freundlichkeit, Mitleid , Barm
herzigkeit , welche wir hier unter dem allgemeinen Abschnitt
der Humanität zusammenstellen , sind dem Edelmuth nahe ver
wandt, obgleich sie weniger dem ausgesetzt sind , durch nied
gere Gefühle simuliert zu werden . Es sind dies sämmtlich
altruistische Gefühle und haben als gemeinsame Wurzel das
Mitgefühl. Wir dürfen daher zu finden erwarten, wie wir auch
finden werden , dass in Bezug auf ihre Beziehungen zu andern
Charakterzügen , und zum Typus des socialen Lebens beinahe
dasselbe von ihnen gesagt werden kann , was vom Edelmuth
gesagt werden kann.
Es kann von ihnen auch wie vom Edelmuthe gesagt werden,
dass , während sie in ihrer entwickelten Form hauptsächlich
durch die geistigen Vorstellungen von den Schmerzen oder
Freuden anderer Wesen angeregt werden , sie gewöhnlich zuletzt,
wenn sie es auch in hauptsächlichem Maasse zuerst thun , das
elterliche Gefühl mitenthalten , jenes Gefühl , welches durch das
Bewusstsein der verhältnismässigen Unfähigkeit oder Hülflosig
keit erregt wird, ―― das Vergnügen , welches durch das Sorgen
für Etwas empfunden wird, was stillschweigend um Hülfe bittet.
Die gemischte Beschaffenheit dieser Empfindungen, welche hieraus
entsteht , vergrössert , wie beim Falle des Edelmuthes , die
Schwierigkeit einer Verallgemeinerung.
Eine weitere Schwierigkeit, welche allerdings eine Folge der
letzteren ist , entspringt aus den einander widersprechenden Ge
müthserregungen , welche viele Typen von Völkern , besonders die
niedrig stehenden Typen, entfalten. So , während einerseits MOFFAT
anführt, die Buschmänner können ihre Kinder ohne Gewissens
bisse tödten , " und während LICHTENSTEIN uns erzählt, dass keine
andern Wilden " einen so hohen Grad von brutaler Grausamkeit "
§. 151. Humanität. 405
§. 151.
Wir können passender Weise mit Beispielen des vollstän
digen Fehlens von Sympathie beginnen, welches bald die nega
tive Form einfacher Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden
Anderer , bald die positive Gestalt von Entzücken an ihrem
Leiden annimmt. Von den Karenen sagt MASON :
§. 152.
Wie oft regen doch missbräuchlich angewandte Worte irre
leitende Gedanken an ! Die Bezeichnung „ Wilde “ , ursprünglich
roh, wild, uncultiviert bedeutend, wurde consequent auf die ein
gebornen Bevölkerungen angewandt. Ein verrätherisches und
grausames Benehmen gegen Reisende, wie es manche von ihnen
aus Wiedervergeltung zeigten , wurde als ganz allgemeiner
Charakterzug betrachtet ; und „ Wild " kam zu der Bedeutung
"" Grausam" . Daher rührt die grundlose Annahme , dass Wild
heit in diesem Sinne die uncivilisierten Völker im Gegensatz zu
den civilisierten charakterisiere . Es ist aber die Unmenschlich
keit , welche die als civilisiert bezeichneten Rassen dargeboten
haben , sicherlich nicht geringer , und ist oft grösser gewesen
als die von Rassen dargebotene , welche als uncivilisiert auf
geführt werden .
Übergehen wir die mannichfaltigen Greuelthaten , welche die
Annalen der alten orientalischen Nationen beflecken, von denen
die Assyrier als Beispiel angeführt werden können , zählen wir
nur die Thaten der bewunderten homerischen Griechen auf
Lügner, Diebe und Mörder, wie GROTE nachweist , - deren Helden
in Greuelthaten schwelgen ; halten wir uns auch nicht bei den
Brutalitäten der Spartaner oder der Verschlagenheit , wenn nicht
etwas Schlimmerem, der späteren Griechen auf: wir wollen uns
408 Die Inductionen der Ethik. Cap . VIII.
§ . 153.
Während Menschen verschiedener Varietäten des Mitgefühls
und der aus diesem hervorgehenden moralischen Charakterzüge
bar zu sein scheinen, giebt es doch Menschen anderer Varietäten ,
welche, wenn sie auch in Bezug auf allgemeine Cultur niedriger
als wir selbst stehen mögen , doch , was Menschlichkeit betrifft ,
uns gleich sind , und von denen einige sogar höher stehen als
wir. Ich reihe hier in der kürzesten Weise die Zeugnisse von
Reisenden aneinander, deren Namen in dem Litteraturnachweise
zu finden sind .
Die Veddahs sind "" im Allgemeinen sanft und liebevoll " ;
" Witwen werden immer von der Gemeinde erhalten." Tanna
Insulaner : Die Kranken werden bis zuletzt freundlich gepflegt. "
In Neu-Guinea haben manche Stämme Europäern , welche ihrer
Willkür verfallen waren, grosse Menschlichkeit gezeigt. Dyaks
" Human bis zu einem Grade, welcher uns wohl beschämen dürfte . "
Malagassen : „ Behandeln einander mit mehr Humanität als wir
es thun. " Eskimos : "" Wie unter einander , kann es kein Volk
geben, welches sie in dieser Tugend , Wohlwollen des Herzens ,
übertreffen könnte. " Irokesen : " Güte gegen die Waisen , Gast
freundschaft gegen Alle und allgemeine Brüderlichkeit “ wurde
vorgeschrieben. Chippeways : ehe die weissen Menschen kamen ,
wurde mehr 99 Liebe gegen einander ausgeübt ; Witwen und
410 Die Inductionen der Ethik. Cap . VIII.
§. 154.
In den Litteraturen alter orientalischer Völker finden sich
zahlreiche Aussprüche humaner Empfindungen und Ermahnungen
zu humanen Handlungen, Äusserungen von Dichtern und Weisen,
welche, wenn sie auch nur in geringem Maasse als die allgemein
verbreiteten Empfindungen ausdrückend betrachtet werden können,
doch in gewissem Maasse als bezeichnend für den Fortschritt,
welcher dem ruhig geordneten socialen Leben folgt , angesehen
werden dürfen. Unter den frühen indischen Büchern enthält
der Mahabharata die folgende Stelle :
" Nicht einen durch Gedanken, Wort oder That zu verletzen,
Andern mitzutheilen und gegen Alle freundlich zu sein :
Dies ist die beständige Pflicht des Guten. “
Und in demselben Buche sagt die Princessin Savitri, welche
in Yama, den Gott des Todes, dringt, ihr die Seele ihres Gatten,
welche er fortzuführen im Begriffe ist, wiederzugeben , dem Gotte,
wie edel die Eigenschaft der Barmherzigkeit sei . Sie führt als
Grund an, dass Geben göttlicher ist als Nehmen, Erhalten ge
§. 155. Humanität . 411
waltiger als Zerstören . Das heilige Buch der Perser, der Zend
Avesta, scheint zu der Aufnahme humaner Vorschriften in einem
gewissen Maasse durch die Lehre von der Seelenwanderung be
stimmt worden zu sein : so die milde Behandlung der Thiere,
auf welcher zum Theil aus diesem Grunde bestanden wird ; der
Sadi hat im Gulistan bestimmte Vorschriften der betreffenden Art :
„ Zeige Barmherzigkeit gegen den armen Bauer . . . es ist straf
bar, die armen und vertheidigungslosen Untergebenen mit dem Arm
der Gewalt niederzudrücken . . . Der Du gleichgültig gegen die
Leiden Anderer bist, verdienst nicht Mensch genannt zu werden. "
Auch bei den alten Ägyptern wurde ein wohlthätiges Be
tragen verlangt . Nach BIRCH und DUNCKER war vorgeschrieben ,
„dem Hungrigen Brod , dem Durstigen Wasser , Kleider dem
Nackenden , Zuflucht dem Wanderer zu geben " ; und die In
schriften in den Grabstätten „ stellen das Leben Gerechter und
Wohlthätiger dar , den Schutz der Witwen und Bedürftigen,
Sorge für das Volk in Zeiten der Hungersnoth " . In ähnlicher
Weise stimmen die Bücher der chinesischen Weisen in dem
Rühmen der aus dem Mitgefühl für Andere hervorgehenden
Tugenden überein . Der Angabe LEGGE's zufolge „ scheint Lâo
tsze die Verhängung der Todesstrafe zu verdammen, und er be
klagt die Kriegführung " . In gleichem Geiste sagt CONFUCIUS ,
dass " Wohlthätigkeit das charakteristische Element der Mensch
lichkeit ist " . Und auch MENCIUS macht, während er behauptet,
dass " das Fühlen von Erbarmen für den Menschen wesentlich
sei " , die Bemerkung : „ der höher stehende Mensch ist gegen
Thiere so gesinnt , dass, nachdem er sie lebend gesehen hat, er
es nicht ertragen kann , sie sterben zu sehen. " Allem diesen
muss natürlich das von den heiligen Büchern der Hebräer ge
gebene Zeugnis zugefügt werden ; in den späteren derselben
finden sich Vorschriften , Liebe und Barmherzigkeit nicht bloss
den Menschen, sondern auch Thieren zu erweisen - Vorschriften,
zu deren Befolgung die europäischen Völker , welche sie offen ,
in Verbindung mit den noch humaneren Lehren Jesu angenommen
hatten , viele Jahrhunderte hindurch so wenig, selbst in geringem
Maasse beigetragen haben .
§. 155.
Mitten unter störenden Fällen und widerstreitenden Zeug
nissen scheinen keine allgemeinen Folgerungen zuverlässig zu
SPENCER, Principien der Ethik. I. 27
412 Die Inductionen der Ethik. Cap. VIII.
27 Wenn einer von ihnen bei Kranksein von mir Arznei erhielt,
so hielt er mich für verbunden , ihm Nahrung zu geben ; das Em
pfangen von Nahrung hielt er für eine Begründung seines Anspruchs
an mich auf Kleidung ; und war diese gesichert , so glaubte er die
Freiheit zu haben , um Alles, was er brauchte , zu betteln und mich
zu schmähen, wenn ich es verweigerte, auf sein unvernünftiges Ver
"
langen einzugehen .
Was lesen wir andererseits von den Veddahs, welche immer
in Frieden leben ? Mr. ATHERTON beschreibt sie als "2 sehr dank
bar für Aufmerksamkeit oder Beistand " ; und nach einem Citat
bei PRIDHAM sagt Mr. BENNETT, dass , nachdem er einigen Veddahs
Geschenke gegeben und einen Dienst erwiesen hatte,
",, ein paar Elephanten- Stosszähne, nahebei sechs Fuss lang, über
Nacht ihren Weg auf seine Vorder-Veranda gefunden hatten , dass
aber die Veddahs , die dieselben gebracht hatten , ihm niemals Ge
legenheit gegeben haben zur Vergeltung . Was für eine Lehre der
Dankbarkeit und Zartheit, " bemerkt er , " kann selbst ein Veddah
geben ! "
Sehr wahr, allerdings ; damit , dass sie ihren Dank, der an
Werth grösser ist als die Verbindlichkeit dazu , in einer so un
aufdringlichen und mühevollen Weise abstatten , können sie die
Lehre geben ; sie dürften aber noch mehr lehren ; sie dürften
lehren , dass da , wo die christlichen Tugenden nicht gepredigt
worden sind, diese in einem noch höheren Grade entfaltet werden
können als da , wo sie prahlend bekannt und beständig vor
geschrieben werden.
IX . Capitel .
Wahrhaftigkeit .
§. 156.
Vollkommene Wahrhaftigkeit ist eine der seltensten Tugenden .
Selbst diejenigen, welche sich für absolut wahrhaft halten, machen
sich täglich übertriebener oder verkleinerter Angaben schuldig .
Übertreibung ist beinahe ganz allgemein. Der beständige
Gebrauch des Wortes sehr" , wo die Gelegenheit es gar nicht
erfordert, zeigt, wie weit verbreitet und festsitzend die Gewohn
heit der falschen Darstellung ist. Und diese Gewohnheit tritt
zuweilen neben den lautesten Denunciationen von Falschheit
27*
414 Die Inductionen der Ethik. Cap. IX.
§. 158.
Die Litteraturen alter halbcivilisierter Völker liefern Beweise
für Entwicklungsstufen , während welcher die Wahrheit wenig
+
416 Die Inductionen der Ethik. Cap. IX.
e Hal gegebene , selbst mit dem Legen der Hände auf den Altar ab
tten gelegte Eide sofort wieder gebrochen ; und SALVIANUS schreibt :
welches wenn ein Franke falsch schwört , wie kann man sich darüber
wundern, wenn er den Meineid nur für eine Form der Rede, nicht
hrhaft für ein Verbrechen hält ? " Nach den beständigen Kriegen während
Wein& der zweihundert Jahre der Carolingischen Zeit , mit Arabern,
Schra * Merkwürdig sind die Wirkungen des durch die Erziehung einge
Thielt . pflanzten Vorurtheils. Vertrautheit mit dem Thun und Treiben dieses Kreises,
an Be so vieler „ Abscheulichkeiten" schuldig , durch solche 77 empörende Grausam
keit der Sitten " charakterisiert , wie GROTE sagt , welche durch alle Stufen,
mis
von ihren Göttern hinab bis zu ihren Sklaven , Lügner waren , und deren
de, so Religion aus grobem und brutalem Aberglauben zusammengesetzt war,
as F zeichnet einen unserer leitenden Staatsmänner aus und wird , in Verbindung
des Ex mit dem Vertrautsein mit dem Thun und Treiben anderer Griechen , als die
möglichst beste Vorbereitung für ein Leben der höchsten Art darbietend
angesehen. In einer in Eton gehaltenen, in den „Times " vom 16. März 1891
ISO T
mitgetheilten Rede sagte Mr. GLADSTONE : " Wenn der Zweck der Erziehung
Teru der ist, den menschlichen Geist zur wirksamen Ausübung der grössten Leistungen
80 fähig zu machen , so ist die antike Cultur , und vor Allem die griechische
erH Cultur, bei weitem das beste, das dauerndste und das elastischste Werkzeug,
das möglicherweise in ihr angewendet werden kann. " Andere Fragen bei k
War
Seite gelassen kann man mit verlegener Neugierde fragen , welches von
IG Mr. GLADSTONE'S Glaubensbekenntnissen, als Staatsmann, es ist, das man dem
darg Einflusse der griechischen Cultur zuschreiben muss - ob das Glaubens
teres bekenntnis, mit dem er als Tory auftrat, als er frisch von Oxford kam, oder
WA das extrem radicale Glaubensbekenntnis , welches er in den letzten Jahren
angenommen hat ?
en D
418 Die Inductionen der Ethik. Cap. IX.
" Das Wort eines Hottentotten ist heilig , und es giebt kaum
irgend Etwas auf Erden , was sie als ein noch schändlicheres Ver
brechen ansehen als den Bruch einer eingegangenen Verbindlichkeit. "
ihre
Bei Schilderung der Irokesen sagt MORGAN, dass " die Liebe
lenTex
zur Wahrheit ein anderer ausgesprochener Zug im Charakter
im sis
der Indianer war" . Und obgleich das Bündnis der Irokesen
ggels ausdrücklich zum Zwecke der Erhaltung des Friedens gebildet
den Be
worden war und diesen Zweck auch in Bezug auf die dasselbe
zusammensetzenden Nationen erreichte , führten diese Nationen
doch Kämpfe mit ihren Nachbarn . Die patagonischen Völker
kunrea stämme haben häufig Kämpfe untereinander, ebenso wie mit den
aggressiven Spaniern, und doch sagt SNow : „ eine Lüge wird von
L'
ihnen verabscheut. " Ebenso haben die Khonds , welche glauben,
dass Wahrhaftigkeit eine der heiligsten von den Göttern auf
lischer erlegten Pflichten ist , blutige Kämpfe zwischen den einzelnen
int sh Stämmen betreffs ihrer Ländereien . Und von den Kolîs, welche
Creins die Bergländer des Dekhan bewohnen , lesen wir , dass sie ,
weitera obgleichmännlich, einfach und wahrhaft " , "grosse Plünderer"
1 Se sind und sich „ unbarmherziger Grausamkeit “ schuldig machen.
Was haben nun diese wahrhaftigen und friedfertigen Stämme
nen und jene Stämme , welche mehr oder weniger kriegerisch sind ,
mit einander gemeinsam ? Der gemeinsame Zug ist der , dass
der E sie nicht einer Zwangsherrschaft unterworfen sind. Dass dies
elte mit Stämmen, welche friedfertig sind , der Fall ist, habe ich an
dabs einem andern Orte gezeigt (Principien der Sociologie , 3. Bd . ,
§§. 573-574) ; und hier stossen wir auf die bedeutungsvolle
Too E Thatsache , dass dies auch bei wahrhaftigen Stämmen der Fall
Lein ist, welche nicht friedfertig sind. Die Hottentotten werden von
ertheid einer Versammlung regiert, welche durch Majorität entscheidet,
und die an der Spitze stehenden Männer haben nur geringe
Autorität. Die Irokesen standen unter der Controlle eines
D
Rathes von fünfzig erwählten Sachems, welche von ihren Stämmen
abgesetzt werden konnten , und kriegerische Expeditionen, welche
von nach ihren Verdiensten gewählten Häuptlingen angeführt
hela wurden, wurden der Privatunternehmung und freiwilligem Dienen
überlassen. Bei den Patagoniern bestand nur eine schwache
rake Regierung ; die Gefolgsleute verliessen ihre Hauptleute , wenn
sie nicht befriedigt waren. Wo er von dem „ System der Ge
Lärde
sellschaft" bei den Khonds schreibt , sagt MACPHERSON : „Der
422 Die Inductionen der Ethik. Cap. IX.
§. 160.
In den Bemerkungen mehrerer Reisender finden wir Zeug
nisse dafür , dass das Vorhandensein oder die Abwesenheit
despotischer Herrschaft es ist, welches zu vorherrschender Falsch
heit oder zur vorherrschenden Wahrheit führt.
Aus einer Bezugnahme auf die Reports on the Discovery
of Peru von XERES und PIZARRO (pp . 68-69 , 85-86, 114-120)
geht offenbar hervor, dass die geschilderte allgemeine Unwahr
haftigkeit eine Folge des Einjagens von Furcht war , dem die
Indianer ausgesetzt waren. So lautete auch in Bezug auf die
Mexicaner das Zeugnis der Franziscaner : „ sie sind Lügner,
aber denen gegenüber , welche sie gut behandeln , reden sie
bereitwillig die Wahrheit. " Eine deutliche Erfassung der Be
ziehung zwischen Lügenhaftigkeit und Furcht wurde LIVINGSTONE
durch seine Erfahrung vermittelt. Von der Falschheit der Ost
Africaner sprechend, sagt er :
„So gross aber auch dieser Fehler unter den freien Leuten ist,
so ist er doch unter den Sklaven noch viel lästiger. Man kann
kaum einen Sklaven dazu bewegen , irgend Etwas richtig zu über
setzen ; er ist so geflissen darauf bedacht, was angenehm sein kann. "
Und er macht die weitere Bemerkung, dass „ Unwahrhaftig
keit eine Art von Zuflucht für den Schwachen und Unter
drückten ist " .
Ein Blick auf civilisierte Gemeinschaften bietet sofort Be
stätigung dar. Unter den europäischen Völkern sind die Russen
diejenigen, welche der absolutesten Herrschaft unterworfen sind ,
von ihrem autokratischen Herrscher durch alle Stufen hinab
reichend und sie sind wegen ihrer äussersten Unwahrhaftigkeit
notorisch . Unter den Ägyptern , welche lange Zeit einem von
despotischen Beamten durchgeführten Despotismus unterworfen
waren , rühmt sich ein Mensch einer erfolgreichen Lüge und
wird selbst einen Mangel in seinem Werke dem Umstande zu
schreiben, dass es ihm nicht geglückt ist , irgend einen Andern
zu betrügen. Dann haben wir den Fall bei den Hindus ; in
§. 160. Wahrhaftigkeit . 423
Terb
Hicks
424 Die Inductionen der Ethik. Cap. X.
X. Capitel.
Gehorsam .
§. 161 .
Unter dem einen Namen 97 Gehorsam " werden zwei Arten des
Benehmens zusammengefasst , deren Gutheissung von zwei sehr
weit verschiedenen Punkten ausgeht : die Gutheissung der einen
ist fortdauernd , die der andern nur zeitweilig. Kindlicher Ge
horsam und politischer Gehorsam werden so bezeichnet , mit
beiden ist die Idee der Tugendhaftigkeit verknüpft ; und bei
nahe Jedermann meint , dass eine Untergebung , welche in dem
einen Falle rühmenswerth ist, auch in dem andern Fall rühmens
werth sei.
Wir haben hier die Wahrheit anzuerkennen, dass , während
die Unterordnung des Kindes den Eltern gegenüber aus einer
beständigen Ordnung der Natur hervorgeht und bedingungslos
gut ist, die gehorsame Unterordnung der Bürger unter die Re
gierung einem vorübergehenden Hergang angepasst und nur
bedingungsweise gut ist .
Es ist wohl richtig , dass in Gesellschaften , welche eine
Entstehungsweise hatten, von der Sir HENRY MAINE irrthümlich
vermuthete, sie sei ganz allgemein , die beiden Arten des Gehor
sams eine gemeinsame Wurzel haben : die patriarchalische Gruppe
wächst aus der Familie heraus und mit unmerkbaren Schritten
geht die Unterwerfung der Kinder unter die Eltern in die Unter
werfung erwachsener Söhne unter ihren Vater und in die Unter
werfung von Familien-Gruppen unter den Vater des Vaters oder
den Patriarchen über . Es ist ferner auch richtig , dass durch
Vereinigung vieler patriarchalischer Gruppen eine Organisation
hervorgebracht wird , in welcher ein oberster Patriarch das
politische Oberhaupt ist. Aber in so entwickelten Gesellschaften.
wie denen der heutigen Zeiten , sind diese primitiven Verwandt
schaftsverhältnisse vollständig verschwunden und die beiden Arten
von Gehorsam sind ganz verschieden geworden . Da sie aber
in ausgedehntem Maasse durch das nämliche Gefühl eingegeben
werden, variieren auch beide gewöhnlich zusammen.
Bei der Betrachtung der Thatsachen wollen wir zuerst die
jenigen nehmen, welche die Unterwerfung des Kindes dem Vater
§. 162. Gehorsam . 425
§. 162 .
Die frühesten Stufen socialer Entwicklung sind nicht nur
Zwe durch die Abwesenheit von Häuptlingen, und daher Abwesenheit
TOR jenes Gefühls , welches politische Unterwerfung hervorruft, charak
STORE terisiert, sondern sind auch häufig durch eine so geringe Unter
AMER ordnung der Söhne charakterisiert, wie eine solche die menschliche
•72 ' ע Familiengruppe der thierischen Familiengruppe nahe verwandt
macht, ―――― einer Gruppe, in welcher elterliche Verantwortlichkeit
auf der einen und kindliche Unterwerfung auf der andern Seite
FA bald aufhören .
Die americanischen Rassen bieten hierfür Beispiele dar.
Die Araucanier „ züchtigen ihre männlichen Kinder niemals , da
bers sie eine Züchtigung für entwürdigend halten und dazu angethan ,
den künftigen Mann kleinmüthig und für die Pflichten eines
22 Kriegers untauglich zu machen " . Bei den Arawaken scheint
Liebe der Beweggrund zu dieser milden Behandlung zu sein :
ein Vater , wird lieber irgend eine Beleidigung oder Beschwerde
von seinem Kinde geduldig ertragen, als eine persönliche Strafe
anzubringen" . Dann lesen wir von einem Dakota- Knaben , dass
INE I
ten des „ er mit zehn oder zwölf Jahren sich öffentlich gegen alle häus
lichen Gesetze auflehnt und nicht zögert, seinen Vater zu schlagen :
der Vater geht dann fort , sich die schmerzende Stelle reibend und
arenSt
brüstet sich gegen seine Nachbarn des tapferen Sohnes , den er er
in zeugt hat. "
& Manche altweltliche Rassen bieten ähnliche Beispiele dar.
es Tate Von den Ost-Africanern erzählt BURTON : " Wenn die Kind
2. das heit vorüber ist , werden Vater und Sohn natürliche Feinde,
e Op nach Art der wilden Thiere. " Ebenso erzählt uns ferner BURCK
Patri HARDT , WO er über den Charakter der Beduinen schreibt und
TENEN , die täglichen Streitereien zwischen Eltern und Kindern " erwähnt,
en Terr dass " der Vater , anstatt den Sohn höfliche Sitten zu lehren ,
ebelle von ihm verlangt , dass er die Fremden , welche zu dem Zelte
Da S kommen, schlage und werfe, " um seinen hohen Muth auszubilden :
hl an einer andern Stelle fügt er hinzu , dass
n. ,,der junge Mann, sobald es nur in seiner Macht steht, sich von
der Autorität des Vaters emancipiert . . . Sobald er nur immer Herr
H
ir
eines Zeltes für sich selbst werden kann , . . . hört er auf keinen
426 Die Inductionen der Ethik. Cap. X.
Rath mehr , noch gehorcht er irgend einem Befehle auf Erden als
dem seines eigenen Willens . "
In Verbindung mit Unbotmässigkeit den Eltern gegenüber
finden wir zuweilen, dass sie im Alter grausam behandelt werden.
Ein alter Mann bei den Chippewähs " wird vernachlässigt und
mit grosser Missachtung behandelt ,
selbst von seinen eigenen
Kindern" ; und die Kamtschadalen " betrachteten es nicht einmal
als eine Verletzung der kindlichen Pflichten sie [ihre Eltern]
zu tödten, wenn sie ihnen lästig wurden " .
Gegen Mütter wird ganz besonders Missachtung gezeigt :
ihre verhältnismässig niedrige Stellung , als die Sklaven der
Männer , ruft Verachtung gegen sie hervor. Von den Dakotas
27 wird der Sohn gelehrt , seine Mutter sich für ihn abmühen zu
lassen" . Bei den Fidschi-Insulanern " ist eine der ersten Lehren,
welche dem Kinde beigebracht wird , die, seine Mutter zu schlagen;
würde diese Lehre vernachlässigt, so würde die Furcht erzeugt,
dass das Kind zu einem Feigling heranwachsen möchte. " Wenn
ein junger Hottentotte in die Gesellschaft der Männer zugelassen
worden ist,
§ . 163.
Dies geht aus dem umgekehrten Zusammenhange hervor,
welchen wir bei verschiedenen Typen der Menschen entwickelt sehen.
Wenn wir den oben genannten wandernden Semiten die
Semiten gegenüberstellen , welche, obschon ursprünglich wandernd ,
sich niederliessen und politisch organisiert wurden, so finden wir
bei den ersteren wenig, bei den andern viel kindliche Unterwürfig
keit. Bei den Hebräern hatte das Haupt der Familie Recht über
Leben und Tod (1. Mose , XXXVIII. 24) . In den zehn Geboten
(2. Mose, XX . 12) folgt das Gebot, die Eltern zu ehren, gleich
auf das, Gott zu gehorchen. Im 3. Buche Mosis , XX . 9 wird
dem Strafe angedroht , der seinem Vater oder seiner Mutter
flucht , genau so , wie es für Gotteslästerung der Fall ist ; und
im 5. Buch Mosis , XXI . 18-21 wird angeordnet , dass ein
rebellischer Sohn öffentlich zu Tode gesteinigt werde. Von einem
andern Zweige der Rasse, welcher den Zwang ausübenden Typus
der socialen Organisation angenommen hatte, ――――――― den Assyriern —,
lesen wir, dass
„ ein Vater in seinem Hausstand die höchste Gewalt hatte . . .
Wenn der Sohn oder die Tochter ihren Vater verleugneten , wurden
sie als Sklaven verkauft , und wenn er seine Mutter verleugnete ,
wurde er in die Acht erklärt. "
1
Von den Hindus , welche kindliche Pietät in den Opfern
von Nahrung für den verstorbenen Vater, Grossvater, Urgross
vater u. s. f. lebendig bezeigen , wurde diese in frühen Zeiten
auch zu Lebzeiten lebendig dargeboten .
„ Der Vater des Nakiketas hatte sich erboten , ein , wie es ge
nannt wird, All - opfer zu bringen , welches verlangt , dass der Mann.
alles das , was er besitzt , weggebe. Als sein Sohn von dem Gelübde
#
seines Vaters hört , frägt er ihn, ob er die Absicht hat , sein Gelübde
SPENCER, Principien der Ethik. I. 28
428 Die Inductionen der Ethik. Cap. X.
§. 164.
Die Höhe , zu welcher sich politischer Gehorsam erhebt ,
wird in hauptsächlichem Maasse durch das Vorhandensein gün
stiger Bedingungen bestimmt. Wenn die physische Beschaffen
heit des Wohnortes eine solche ist , dass sie grosse Versamm
lungen von Menschen unthunlich macht, wie es bei weiten,
wüst liegenden, zu nomadischem Leben veranlassenden Gebieten
oder da , wo Bergketten die einzelnen Gruppen von einander
trennen, der Fall ist, - scheint sich das kindliche Gefühl nicht
weiter zu entwickeln , als bis zum patriarchalischen ; und mit
dieser beschränkten Entwicklung kann ein Widerstreben gegen
eine umfassendere Herrschaft Hand in Hand gehen. Die Khonds
geben hierfür ein Beispiel :
"9 Vor dem Haupte einer Familie haben alle Stämme die grösste
Achtung ; bei ihm gilt nämlich das Sprüchwort , dass , eines Menschen
Vater sein Gott auf Erden ist ' . Die sociale Organisation bei ihnen
ist in der That streng patriarchalisch , der Vater einer Familie ist
ihr absoluter Herrscher in allen Fällen. Ungehorsam gegen ihn
wird unter allen Umständen als ein Verbrechen betrachtet . "
Diesen Charakterzug besitzt auch noch ein anderes Bergvolk,
die Bhils , welche neben einem gewissen Maasse von Unter
werfung unter allgemeine Häuptlinge eine ausserordentliche
Unterthänigkeit gegen ihre Familienhäupter oder Patriarchen,
die sogenannten Turwees zeigen.
„ So wunderbar ist der Einfluss des Häuptlings über dieses ver
blendete Volk , dass es in keinerlei Lage , so verzweifelt sie auch
immer sein mag, dazu bewogen werden kann, ihn zu verrathen. “ " Einen
Andern zu tödten, wenn ihr Turwee es verlangt, oder selbst den Tod
zu erleiden , ist augenscheinlich für sie in gleicher Weise gleichgültig. "
28*
430 Die Inductionen der Ethik. Cap. X.
Bei den alten Indiern , welche oben als Beispiele der bis
zu einem extremen Grade entwickelten Unterwürfigkeit eines
Sohnes unter den Vater angeführt wurden , wurde sehr stark
auf politischer Unterwürfigkeit bestanden ; so in dem Gesetzbuche
des MANU, wo es als unrecht bezeichnet wird , selbst ein Kind,
wenn es König ist , so zu behandeln , " als wäre es ein Sterb
licher ; er ist eine grosse Gottheit in menschlicher Gestalt. "
Dann mag aus Ägypten neben jener Ermahnung den Eltern zu
gehorchen, welche von PтAH-HOTEP citiert wurde , seine Billigung
eines noch weiteren Gehorsams genannt werden : , wenn Du Dich
dadurch erniedrigst , dass Du einem Oberen gehorchst , so ist
Dein Betragen vor Gott durchaus gut. " Wo DUNCKER die kriechen
den Demüthigungen bespricht, welche auf ihren Sculpturen und
Gemälden dargestellt sind, bemerkt er , dass die Ägypter 99 ihre
Könige als die Gottheiten des Landes anbeteten " . Allerdings
werden in den Inschriften auf den Gräbern von Beamten die ,
eine solche Anbetung voraussetzenden Handlungen einzeln als
Beweise ihrer Tugend aufgezählt. Es war auch bei den Hebräern
nicht anders . Während in den zehn Geboten religiöser Gehor
sam und kindlicher Gehorsam eng mit einander verknüpft werden ,
wurde an andern Stellen noch politischer Gehorsam mit jenen
verbunden ; so in den Sprüchen Salomonis, XVI . 10, wo gesagt
wird : "" Weissagung ist in dem Munde des Königs , sein Mund
fehlet nicht im Gericht. "
Durch die ganze europäische Geschichte ist eine gleiche
Beziehung nachweisbar. Zusammen mit der Theorie und Praxis
der absoluten Unterwerfung des Kindes unter den Vater, gieng
Hand in Hand die Theorie und Praxis der absoluten Unterwer
fung unter den Häuptling der Gruppe , - hier unter den ört
lichen Hauptmann, wo die Gruppen klein und ohne Zusammen
hang waren , und dort unter den centralen Häuptling , wo sie
gross und wohl befestigt geworden waren. Nachdem weniger
bestimmte Formen der Herrschaft durch den Feudalismus ersetzt
worden waren, kam zuerst die Lehnstreue gegen den Lehnsherrn
und dann mit fortschreitender politischer Festigung die Unter
432 Die Inductionen der Ethik. Cap . X.
§. 165.
Die Bedeutung dieser Beziehung liegt in der Thatsache ,
dass beide Gefühle Begleiterscheinungen chronischer Streitsam
keit sind. Wenn wir uns daran erinnern, dass vor allen Dingen
der Häuptling , in späteren Zeiten der König und noch später
der Kaiser ursprünglich und zuerst der oberste Befehlshaber
ist, und dass seine Häuptlingsschaft im Frieden nur, eine Folge
seiner Häuptlingsschaft im Kriege ist , so ist es klar , dass im
Anfange politischer Gehorsam identisch ist mit militärischem
Gehorsam. Man braucht sich dann ferner nur zu vergegen
wärtigen, dass zu Erfolg im Krieg absolute Subordination unter
den Hauptbefehlshaber wesentlich ist , und dass absolute Sub
ordination unter ihn als König damit Hand in Hand geht , um
zu sehen , dass , solange die Streitsamkeit vorherrschend bleibt,
beide eins bleiben .
Weitere Beweise für diese Beziehung liefern einige wenige
Fälle , in denen der politische Gehorsam bis zu einem Extrem
geführt wird , welches Gehorsam aller andern Arten übertrifft.
Der erste hier anzuführende Beweis wird von einem Volke dar
§. 165 . Gehorsam . 433
Seite sind wir selbst das Volk , bei welchem Streitbarkeit und
ihre Einrichtungen den geringsten Raum im nationalen Leben
einnehmen, und bei welchem sich die geringste politische Unter
werfung findet. Die Regierung ist dazu gekommen, ein Diener
zu sein anstatt ein Herr. Staatsbürger kritisieren scharf ihre
Fürsten , erörtern die Angemessenheit einen Theil der Gesetz
gebung aufzuheben und vertreiben Minister, welche ihnen nicht
gefallen, aus ihrem Amte.
Es ist auch nicht anders, wenn wir frühere und spätere Ent
wicklungsstufen einer und derselben Nation mit einander ver
gleichen. Auch hierdurch erkennen wir , dass mit derselben
Schnelligkeit , mit welcher das Leben der inneren Freundschaft
das Leben äusserer Feindschaft überwächst , auch das Gefühl
des Gehorsams abnimmt . Obschon unterwürfige Loyalität gegen
den lebenden Deutschen Kaiser gross ist , so ist sie doch nicht
so gross wie die unterwürfige Loyalität gegen seinen erobernden
Vorfahren FRIEDRICH II.; wie FORSTER Schrieb : Was mich haupt
sächlich widerwärtig berührte, war die Vergötterung des Königs. "
Wenn ungeachtet der nominell freien Form ihrer Regierung die
Masse des französischen Volkes duldet, dass seine Freiheiten in
einer Ausdehnung mit Füssen getreten werden , von der der eng
lische Abgeordnete zu einem Trades-Union- Congress in Paris
sagte , es sei eine Schande für eine republikanische Nation und
eine Anomalie in einer solchen " , so ist doch die willige Unter
ordnung nicht so gross, wie sie zu der Zeit war, wo Krieg die
französische Monarchie auf ihren Zenith gebracht hatte . Während
ferner in unserm eignen Falle ein ausgesprochener Contrast
zwischen der Ausdehnung der Kriege, innerer wie äusserer , in
früheren Zeiten, und dem vollständigen inneren Frieden in Ver
bindung mit einem langen äusseren Frieden, welchen die neueren
Zeiten gekannt haben, besteht, so besteht auch ein nicht weniger
ausgesprochener Contrast zwischen der grossen in früheren Zeiten
bestandenen Loyalität und der mässigen, in hohem Grade nomi
nellen Loyalität , welche gegenwärtig besteht.
Es erübrigt noch hinzuzufügen , dass zusammen mit dem
Niedergang politischer Subordination auch die kindliche Sub
ordination abgenommen hat. Das herbe Regiment der Eltern
und das demüthige Unterwerfen der Kinder in vergangenen
Jahrhunderten ist in unseren Zeiten gegen ein sehr gemässigtes
§. 166. Gehorsam . 435
24
Ausüben elterlicher Autorität und eine kindliche Unterwerfung
114
vertauscht worden , welche , während der Jugend viel weniger
augenfällig als sie zu sein pflegte, beinahe aufhört mit dem
Erreichen des heirathsfähigen Alters.
EN
§. 166.
Es haben also die beiden Arten von Gehorsam , der kind
liche und der politische, obschon sie in dem sie veranlassenden
Gefühl verwandt sind und auch in der Hauptsache mit einander
abändern, doch verschiedene Gutheissungen erfahren. Der eine
ist eng mit den Gesetzen des Lebens verknüpft , während der
andere von den Bedürfnissen des socialen Staates abhängt und
sich in dem Maasse ändert, wie diese sich ändern .
Für den Gehorsam des Kindes gegen die Eltern besteht
die Gewähr , welche aus der verhältnismässig unvollkommenen
Entwicklung hervorgeht , und es besteht ferner die Gewähr,
welche in der Verpflichtung zu einer Vergeltung für die empfange
nen Wohlthaten ihren Grund hat. Diese sind augenscheinlich
beständig ; und wenn auch mit dem Fortschreiten von niederen
zu höheren Typen des Menschen und der Gesellschaft die kind
2. liche Unterwerfung abnimmt , muss ein gewisser Grad davon
doch immer bestehen bleiben und muss fortdauernd durch ein
Exy 3:
NE. im eigentlichen Sinne sogenanntes ethisches Moment hervor
gerufen werden.
TOARK Auf der andern Seite tritt politischer Gehorsam , welcher
Te T in Gruppen primitiver Menschen nicht vorhanden ist , in's Leben
h
wirke XI. Capitel.
1
Industrie.
Ber Star
egler §. 167.
wederz
Wenn wir den Ursprung und die Umänderungen der Empfin
dungen , ethischen und pro- ethischen , verstehen wollen , welche
Cooli zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten in Bezug
er verte auf Industrie und das Nichtvorhandensein von Industrie geherrscht
201
haben, so müssen wir zuerst gewisse fundamentale Unterschiede
TA zwischen Classen menschlicher Thätigkeiten und zwischen ihren
elte : Beziehungen zum socialen Staate betrachten.
Industrie , wie wir dieselbe jetzt verstehen , besteht kaum
eprot unter ursprünglichen Menschen ― kann in der That kaum be
anres stehen , ehe Hirtenstaaten oder Agriculturstaaten gegründet
el . worden sind. Von wilden Naturerzeugnissen lebend haben Wilde
1
der frühesten Typen ihre Kräfte in erster Linie dem Sammeln
tec und Fangen dieser zu widmen : das Erlangen einiger von diesen ,
ehr k wie Früchte und Wurzeln , war leicht und gefahrlos , und das
Erlangen anderer , wie Thiere , von denen manche schnell und
tera manche gross sind , war schwierig und gefahrvoll. Die nach
-har diesen noch übrig bleibenden Thätigkeitsäusserungen , schwieriger
nhea und gefahrvoller als diejenigen, welche die Jagd mit sich brachte,
linati wurden durch das Kriegführen mit andern Menschen veranlasst.
CETAT Es können daher die Beschäftigungen der gänzlich Uncivilisierten
tel ungefähr eingetheilt werden in diejenigen , welche Stärke, Muth
-plet und Geschicklichkeit in hohem Maasse erfordern , und in die
eÅnko jenigen , welche diese Eigenschaften nur in geringem Maasse
oder gar nicht erfordern. Und da in den meisten Fällen die
$8
Erhaltung des Stammes hauptsächlich durch den Erfolg im
site Kriege und in der Jagd bestimmt wird , so ergiebt sich das
Hem als auch wegen ihres Werthes für den Stamm zu Ehre und
Ansehen gelangten. Da umgekehrt das Ausgraben von Wurzeln,
das Einsammeln wilder Früchte und das Sammeln von Schal
thieren keine Kraft, keinen Muth, kein Geschick erfordern und
die Erhaltung des Stammes nicht in augenfälliger Weise fördern ,
438 Die Inductionen der Ethik. Cap. XI.
§. 168.
Die nordamericanischen Indianer bieten die einfachsten und
deutlichsten Erläuterungen dar von räuberischer Lebensweise
und sich damit verknüpfenden Empfindungen. SCHOOLCRAFT sagt
von den Chippewähs :
„Sie betrachten den Gebrauch des Bogens und Pfeils, der Kriegs
keule und des Speers als die edelsten Beschäftigungen des Mannes . . .
Gut zu jagen und gut zu kämpfen sind die ersten und die letzten
Gegenstände ihrer Hoffnungen und des Ruhmes Lebender und Todter.
Auf Landbau betreffende und mechanische Arbeiten haben sie immer
als erniedrigend herabgesehen. "
Von den Schlangen- Indianern schreiben LEWIS und CLARKE :
Sie würden sich für erniedrigt betrachten, wenn sie gezwungen
wären , irgend eine Strecke weit zu gehen. " Von ähnlicher
Beschaffenheit ist BURTON's Schilderung der Dakotas :
„ Der Krieger, welcher die Jagd als einen reichlichen Theil des
Arbeitsfluches ansieht, ist so faul, dass er seinen Pony nicht satteln
oder absatteln will . . . Wie ein wildes Thier kann er nicht zum Ar
beiten gezähmt werden : er würde eher sterben als sich mit ehrbarer
Gewerbsthätigkeit zu beschäftigen . "
Auch die civilisierteren Irokesen zeigten das primitive Ge
fühl : „ Der Krieger verachtete die Mühen der Haushaltung und
hielt alle Arbeit unter seiner Würde. " Selbst vom unkriegerischen
Eskimo sagt man, dass er gleichen Widerwillen zeige .
„ Er jagt und fischt ; nachdem er aber seine Beute an's Land
gebracht hat , kümmert er sich nicht weiter darum ; denn es wäre
ein Flecken auf seinem Charakter , wenn er selbst nur so viel thun
wollte, wie eine Robbe aus dem Wasser zu ziehen . “
Für diesen Gebrauch besteht vielleicht eine Entschuldigung,
gleich der , welche der Gebrauch bei den Chippewähs gefunden
hat, bei welchen, " wenn die Männer ein grosses Thier getödtet
440 Die Inductionen der Ethik. Cap. XI.
1
442 Die Inductionen der Ethik. Cap . XI.
§. 169.
Wo aber chronische Kämpfe nicht in wirksamer Weise die
Bevölkerung niederhielten , machte die Zunahme derselben es
für die Männer zur zwingenden Nothwendigkeit sich der Nah
rungserzeugung zu widmen ; und mit dieser Wandlung wurde
auch eine Änderung in den die Arbeit betreffenden pro- ethischen
Gefühlen angebahnt . Die Khonds bieten hiefür ein Beispiel .
Sie " halten es für unter ihrer Würde, Tauschhandel oder sonstige
Handelsgeschäfte zu treiben . . . und betrachten alle diejenigen als
niedrig und plebejisch , welche nicht entweder Krieger oder Acker
bauer sind. "
So wird uns von den Javanern gesagt, dass
,,sie den Handel verachten , und die Mitglieder höherer Rang
722
§. 171 .
Die Völker Europas, von frühen Zeiten an bis herab auf unsere
eigenen, erläutern diese Beziehung zwischen der Arbeit socialer
Thätigkeit und dem herrschenden Gefühl in Bezug auf Arbeit.
Wir haben zunächst das Zeugnis , das uns die Griechen
darbieten. PLATO zeigt seine Empfindung gegen Handeltreibende,
wenn er sagt , der Gesetzgeber übergehe sie , während er vor
Landbestellern eine solche Achtung zeigt, wie sie aus dem Um
stande hervorgeht, dass ihnen Gesetze gegeben werden ; und in
der Republik' zeigt er ausführlicher , für wie niedrig stehend
er alle Erzeuger und Verbreiter hält : er vergleicht sie mit den
niedrigsten Theilen der individuellen Natur. In ähnlicher Weise
wird von ARISTOTELES die Ansicht ausgesprochen und die Em
pfindung offenbart, welcher sagt : „ Es ist für Jemand , der das
Leben eines Handwerkers oder eines gedungenen Dieners führt,
unmöglich ein tugendhaftes Leben zu führen. "
Weiter nach Westen ist es nicht anders gewesen. In der
römischen Welt gieng mit der beständigen und thatsächlichen
Streitsamkeit Hand in Hand eine immer zunehmende Herabsetzung
der nicht streitsamen Classe ――――――― der Sklaven und Freigelassenen.
Und durch die ganzen „ finsteren Jahrhunderte “ , welche den Zu
sammenbruch der brutalen Civilisation Roms hinter sich liess ,
ebenso wie durch die ganzen Jahrhunderte , während welcher be
ständig wiederkehrende Kriege mit der Zeit zur Gründung grosser
und stetiger Reiche führten, dauerte diese Verachtung des Ge
werbfleisses , sowohl körperlich als geistig, fort, so dass nicht bloss
die rohe Handarbeit und die geschickte Arbeit des Handwerkers ,
sondern auch die geistige Arbeit der gut erzogenen Männer mit
Verachtung behandelt wurden. Nur in dem Verhältnis, in welchem
das Kämpfen aufhörte, der ausschliessliche Beruf Aller mit Aus
nahme der untergeordneten Classen zu sein , und nur als die
untergeordneten Classen, gleichzeitig an Grösse zunehmend, einen
grösseren Antheil an der Bildung der öffentlichen Meinung ge
wannen, wurde die Ehrbarkeit des Gewerbfleisses in einem ge
wissen Maasse anerkannt : jedes ihm früher von den herrschenden
Classen gespendete Lob war nur eine Folge des Bewusstseins ,
dass er zu ihrem Wohlsein führte.
In neueren Zeiten und besonders bei uns selbst und den
Americanern hat der industrielle Theil der Gesellschaft den
448 Die Inductionen der Ethik. Cap. XI.
§. 172.
Wir sehen demnach , wie in allen vorausgehenden Capiteln
so auch in dem vorliegenden , dass die ethischen Begriffe , oder
vielmehr die pro- ethischen Begriffe durch die Formen der socialen
Thätigkeiten bestimmt werden . Solchen Thätigkeiten gegenüber,
welche am augenscheinlichsten zur Wohlfahrt der Gesellschaft
führen, werden Gefühle der Billigung wachgerufen, und umgekehrt :
das Resultat ist, dass die Idee von recht mit ihrer Anwesenheit
und die Idee von unrecht mit ihrer Abwesenheit verknüpft wird.
Daher rührt der allgemeine Contrast , der sich von den
frühesten Stufen bis auf die spätesten herab zeigt, zwischen der
Schimpflichkeit der Arbeit in ausschliesslich kriegerischen Gesell
schaften und der Ehrbarkeit der Arbeit in friedlichen Gesell
§. 172. Industrie . 449
bist lezz dürstet es uns nach dem Blute von Menschen ! " , denn bei ihnen
empfängt, nach der Erzählung HOLUB's, ein neuer Herrscher als
jeren.-
Symbole etwas Sand, Steine und einen Hammer, „ Industrie und
Arbeit symbolisierend . "
Cote
Noch bleibt eine Thatsache zu erwähnen und mit Nachdruck
en Feat
zu betonen übrig . Aus den pro - ethischen Empfindungen , welche
T-0
dem Gewerbfleisse Sanction vermitteln und ihn · achtbar machen ,
enda
entwickelt sich gelegentlich das eigentliche ethische Gefühl . Dies
schreibt Arbeit nicht ihrer selbst willen vor , sondern schreibt
sie vor als stillschweigend in der Pflicht der eigenen Erhaltung
liegend anstatt der Erhaltung durch Andere . Die Tugend der
deait
Arbeit besteht wesentlich in der Verrichtung solcher Handlungen,
welche genügen die Kosten der Erhaltung seiner selbst und
des
seiner Abhängigen zu decken und die socialen Pflichten zu er
De
füllen ; wogegen die Schimpflichkeit des Müssiggangs wesentlich
۱۲۳
darin besteht, dass die Mittel zum Leben aus dem gemeinsamen
Vorrathe genommen werden, während Nichts gethan wird ent
Apres
weder zu diesem beizutragen oder auf andere Weise das Glück
L
der Menschen zu fördern.
ch ra
#2
caug
450 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII
XII . Capitel.
Mässigkeit.
§. 173.
für Ahnen durch alle Zeiten , von denen wir Kunde haben ,
eifrigst durchgeführt worden ist , erhalten wir Zeugnisse dafür,
dass Mässigung sowohl im Essen als im Trinken, selbst bis zur
Askese getrieben , eine Folgeerscheinung der Achtung vor den
Todten ist , denen beständig Opfer dargebracht werden . CONFUCIUS
sagt : " Wer ein Mensch von vollkommener Tugend zu sein
strebt, sucht bei seinen Mahlzeiten nicht seinen Appetit zu be
friedigen." Hier haben wir eine Bezeichnung der Tugend, los
gelöst von ihren Beweggründen . CONFUCIUS sagt aber auch :
" Ich kann keinen Flecken im Charakter des Yu finden . Er
benutzte für sich selbst grobe Nahrung und Getränk , zeigte
aber die äusserste kindliche Pietät gegen die Geister. Seine
gewöhnliche Kleidung war ärmlich , in seinem Opferhut und
seiner Opferschürze entfaltete er aber die äusserste Eleganz . "
Hier haben wir die Tugend im Zusammenhang mit religiöser
Pflicht dargestellt : die letztere ist die Ursache , die erstere
die Folge .
Von der angenommenen religiösen Gutheissung losgelöst
kann die Tugend der Mässigkeit natürlich keine andere Gut
heissung haben als ihre , durch Erfahrung ermittelte Nützlichkeit.
Die beobachteten wohlthätigen Wirkungen der Mässigkeit und
die beobachteten schädlichen Wirkungen des Übermaasses bilden
die Grundlagen für die Beurtheilung wie für die begleitenden
Empfindungen .
Vernünftige Ideen in Bezug auf Mässigkeit ―― besonders
Mässigkeit in der Nahrung können nicht eher entwickelt
werden , als bis wir einen Blick auf die Verschiedenheiten in
den physiologischen Erfordernissen geworfen haben , welche
§. 174 .
Was unter uns selbst als eine widerwärtige Gefrässigkeit
verurtheilt werden würde , ist unter den Bedingungen , denen
gewisse Menschenrassen ausgesetzt sind, vollständig normal und
geradezu nothwendig . Wo das Wohngebiet ein solches ist , dass
es zu einer gewissen Zeit nur sehr wenig Nahrung darbietet,
zu andern Zeiten aber Nahrung im grossen Überfluss , da hängt
das Lebenbleiben von der Fähigkeit ab , ungeheure Nahrungs
mengen aufzunehmen , wenn sich die Gelegenheit dazu bietet .
452 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII.
Manag
dann mehrere Pfund saurer gefrorner Butter ; auch diese wurde so
fort verzehrt ; endlich noch ein grosses Stück gelber Seife , - Alles
gieng denselben Weg . . . Thatsächlich giebt es Nichts in der Form
von Fisch oder Fleisch, von was für einem Thiere immer , so faulig
und ungesund es auch sein mag, was sie nicht ungestraft verzehren
könnten ; und die Quantität schwankt nur zwischen dem , was sie
haben , und dem , was sie bekommen können . Ich habe wiederholt
gesehen, dass ein Jakute oder Tunguse an einem Tage vierzig Pfund
Fleisch verschlungen hat. "
Das folgende Zeugnis des Capt. WRANGELL zeigt die physio
logischen Resultate dieser enormen Nahrungsaufnahme.
27 Selbst in Sibirien werden die Jakuten Eisenmenschen ge
nannt und ich bin der Meinung , dass es auf der ganzen Erde kein
anderes Volk giebt, welches Kälte und Hunger so ertragen kann wie
sie. Ich habe häufig in der strengen Kälte dieses Landes und wenn
P das Feuer längst verlöscht und die leichte Jacke von ihren Schultern
heruntergesunken war, gesehen , wie sie vollständig dem Himmel aus
21: gesetzt mit kaum irgend einem Stück bekleidet ruhig schliefen , wäh
แ
rend ihr Körper mit einer dicken Schicht Reif bedeckt war.'
Ferner ist die merkwürdige und bezeichnende Thatsache zu
ܒ
ܒ
§. 175.
Gehen wir von diesen äussersten Beispielen für die Art
und Weise , in welcher die nothwendigen Lebensbedingungen
entsprechende Ideen von Recht und Unrecht erzeugen , weiter
und kommen wir zu den gewöhnlichen Fällen , wie wir ihnen
in gemässigten und tropischen Klimaten begegnen , wo etwas
454 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII.
oder a
e vode §. 176.
nte. Y Übermaass im Trinken ist ein Ausdruck, welcher , obgleich
ment er wohl auch auf das Trinken ungegohrener Getränke in schäd
sen Geg lichen Mengen anwendbar ist , sich praktisch genommen doch
nur auf Getränke bezieht, welche entweder gegohren und daher
haftes berauschend sind , oder aus irgend einem andern Grunde be
maas rauschen. Die allgemeine Meinung in Bezug auf das Geniessen
derselben wird hauptsächlich durch die Erkenntnis der Wir
die Bemerkung eines Arafura nahe gelegt, welcher, als ihm der
Glaube an den Gott der Christenheit empfohlen und ihm gesagt
wurde, dass Gott überall gegenwärtig sei, sagte : „ Dann ist dieser
Gott auch gewiss in Eurem Arak, denn ich fühle mich niemals
glücklicher als wenn ich reichlich davon getrunken habe . " Die
hier stillschweigend zu Grunde liegende Idee wurde von den
alten Indiern bestimmt und fortwährend in ihren Anpreisungen
des Soma-Trinkens ausgedrückt . Es wurde angenommen , der
Gott Soma sei in dem Safte der Soma genannten Pflanze gegen
wärtig ; Berauschung war das Resultat des von ihm Besessen
seins, und der exaltierte, ersehnte , hervorgerufene und gepriesene
Zustand war ein Zustand religiöser Seligkeit : es wurde an
genommen , dass die Götter selbst in dieser Weise vom Gotte
Soma inspiriert würden. MAX MÜLLER sagt :
her.An
Offenbar findet daher die Trunkenheit , anstatt in allen
Fällen einer religiösen Verurtheilung zu unterliegen , in manchen
Dans
Fällen religiöse Gutheissung und gelangt dazu , von einem pro
le
ethischen Gefühl gerechtfertigt zu werden . Dies zeigt sich sehr
kenLe deutlich bei den Ainos , welche es ablehnen sich mit denen zu
wark vergesellschaften, die nicht trinken wollen .
A
KEN IDE §. 177.
Praz Entweder mit oder ohne diese Art von Sanction ist Un
the mässigkeit , in einer oder der andern Form , bei den niederen
unla Rassen weit verbreitet.
es T Von den Kalmücken erzählt uns PALLAS, dass sie im Essen
have
eise va und Trinken unmässig sind , wenn sich ihnen Gelegenheit dazu
bietet . „ Die Festlichkeiten der Khonds, " sagt CAMPBELL , „ endigen
many
tion. gewöhnlich mit allgemeinem Betrunkensein . " BRETT schreibt ,
dass die Trunkenheit der Eingebornen von Guiana zuweilen die
ustand Form „ fürchterlicher, nach Zwischenräumen auftretender Excesse "
Saftes & annimmt. Und von den jetzt lebenden Eingebornen Guatemalas
#2
a man am
lesen wir , dass "" die grösste Glückseligkeit dieser Leute in
währe
Trunkenheit besteht , die durch den übermässigen Genuss von
ang
... Chicha hervorgerufen wird. " Diese letzteren , americanische
dig
mea
Völkerschaften der jetzigen Zeit betreffenden Zeugnisse bringen
ähnliche Zeugnisse in Bezug auf alte americanische Völker in
Jack & die Erinnerung. GARCILASSO sagt von den Peruanern : 99 Sie
lie Be brachten Branntwein in grosser Menge, denn das war eines der
Den G am meisten herrschenden Laster bei den Indianern. " Von den
·
460 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII .
seinem " Gin Lane " dargestellt hat , kam der Abhülfe schaffen
sollende Gin Act ; er wurde indessen bald wieder aufgehoben,
nachdem er Unheil angerichtet hatte . Während dann während
des übrigen Theiles des Jahrhunderts „ Trunkenheit das gewöhn
liche Laster der mittleren und unteren Classen " war , liessen
sich wohlhabendere Leute bei ihren Gastereien in Bezug auf
Wein so sehr gehen, dass sie nicht selten verarmten.
§. 179.
Offenbar sind die Beziehungen zwischen den Trinkgewohn
heiten und den Arten des socialen Lebens dunkel. Wir können
nicht , wie es die Mässigkeits-Apostel gern hätten , ein regel
mässig proportionales Verhältnis zwischen Mässigkeit und Civili
sation oder zwischen Unmässigkeit und moralischer Erniedrigung
im Grossen und Ganzen behaupten . Der Generalarzt BALFOUR
sagt : Die Hälfte der asiatischen Rassen - Araber , Perser.
Hindu , Burmesen , Malayen , Siamesen . . . sind Abstinenzler ; "
und doch wird Niemand behaupten wollen , dass diese Rassen.
weder im gesellschaftlichen Typus noch im socialen Betragen.
den Rassen von Europa überlegen sind , welche doch nichts
weniger als enthaltsam sind. Innerhalb Europas selbst lehren
uns die vorhandenen Verschiedenheiten dasselbe. Die nüchterne
Türkei steht im socialen Leben nicht so hoch wie das Whisky
trinkende Schottland . Wenn wir ferner Italien mit Deutschland
vergleichen, so sehen wir nicht, dass parallel zu dem Gegensatze
zwischen dem geringen Trinken des einen und dem reichlichen
Trinken des andern Landes, ein Gegensatz zwischen dem morali
schen Stande beider von einer Art und Weise , die erwartet
werden sollte, vorhanden wäre . Nehmen wir auf der einen Seite
den Beduinen , welcher, obschon gewohnheitsmässiger Räuber und
zahlreiche andere Laster darbietend trotzdem keine gegohrenen
Getränke trinkt und ein 97 Pfui über Dich , Du Trunkenbold"
ausruft , und auf der andern Seite den geschickten englischen
Handwerker , welcher gelegentlich im Übermaass trinkt (und die
geschickten sind am meisten dazu aufgelegt) , aber oft in andern
Beziehungen ein guter Kerl ist , so finden wir keine deutliche
Verbindung zwischen Mässigkeit und Rechtschaffenheit.
Vernünftigerweise lässt sich vermuthen , dass zwischen
Trunkenheit und allgemeiner Schlechtigkeit ein gewisses Ver
§. 180 . Mässigkeit . 461
hältnis besteht. Wo das Leben elend ist, ist eine grosse Neigung
dec
zum Trinken vorhanden, zum Theil um sich von augenblicklichem
-ED P
Vergnügen zu verschaffen was eben zu haben ist , und zum
betd Theil um sich unglückliche Gedanken über die Zukunft fern zu
1 halten. Wenn wir uns aber die Trunkenheit in's Gedächtnis
ik rufen , welche im vorigen Jahrhundert in unseren oberen Classen
rue herrschte, so können wir sagen, dass Elend , oder auf alle Fälle
physisches Elend sie entschuldigen konnte. Auch scheint Lange
weile häufig als eine Ursache angeführt werden zu können , und
en dürfte sie die durch ganz Europa in frühen Zeiten herrschende
cel T Unmässigkeit wohl hervorgerufen haben , wo es seine Schwierig
ter. E keit hatte , die nicht mit Kämpfen und Jagen besetzte Zeit
§. 180.
jalez S
he doch Wir haben es aber hier hauptsächlich damit zu thun , wie
s sellst Mässigkeit und Unmässigkeit moralisch betrachtet werden. Dass
Unmässigkeit, mag es im Essen oder im Trinken sein, von dem
Die
le d eigentlichen moralischen Gefühl verurtheilt wird , welches sich
nitDes nicht auf die nach aussen zu Tage tretenden , sondern auf die
nach innen gehenden Wirkungen bezieht, als in gleicher Weise
lem G
dem Körper und Geiste Schaden bringend , braucht nicht
lem re
erst erwähnt zu werden . Anders verhält es sich aber mit
len de
dem pro- ethischen Gefühle . Es finden sich zahlreiche Fälle,
die er
welche zeigen, dass Billigung oder Verurtheilung der Unmässig
der e
gerRach keit je nach den religiösen Ideen und socialen Gebräuchen
auftritt.
ine ges
Wir haben bereits gesehen , dass das Berauschtsein durch
Track 8
gewisse theologische Glaubensansichten gutgeheissen werden
ten
kann ; und hier haben wir noch zu bemerken, dass die herrschende
trick ·
Unmässigkeit im Trinken und die allgemeine Meinung , welche
er offs
in Verbindung damit entsteht , zu einer socialen Gutheissung
Seine führen kann . Eine von den uncivilisierten Rassen zeigt uns,
dass die Gewohnheit , ein berauschendes Mittel zu nehmen , da
dass
wo sie allgemein ist , an und für sich selbst nicht bloss eine
20W 30*
462 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII
„ Das Erste vielleicht , was einem Fremden bei dem Volke auf
fällt , ist die ausserordentliche Weise , in welcher sie dem Betelkanen
ergeben sind , und ihre gänzliche Nichtachtung der Spuren , welche
dasselbe an den Zähnen und Lippen hinterlässt. Sie rühmen sich
derselben geradezu und sagen , dass , Hunde und Bengalesen weisse
Zähne haben . “
Enorms für den " Drei - Flaschen - Mann " Hand in Hand gieng. Es leben
wohl noch Leute, welche an Orgien Theil genommen haben, bei
denen , nachdem die Thür verschlossen und eine Anzahl von
Flaschen auf den Nebentisch gestellt worden war , der Wirth
sie das
er Sprz verkündete , dass diese vor dem Aufstehen geleert werden
müssten : ein Weigern , den erforderlichen Antheil zu sich zu
Bensale nehmen, rief Missbilligung hervor ¹ .
Während aber hiernach bei den vergangenen Generationen
eneBes das moralische Gefühl als auch durch ein pro- ethisches Gefühl
getragen. Es wird nicht bloss ein Übermaass im Trinken ganz
chtier
§ . 181 .
eiten mi
sinV Ehe wir die ethische Bedeutung der Keuschheit verstehen
können, müssen wir untersuchen, welche Gutheissungen sie von
ener
biologischer und sociologischer Seite her erhalten hat. Da das
zu al
Dienlichsein zur Wohlfahrt , zur individuellen oder zur socialen
t hatte
Mittel 1 Der verstorbene Mr. John Ball , F. R. S. , welcher in der Nähe von
sein Belfast erzogen wurde , war , obgleich nominell katholisch , mit einer wohl
Bei habenden protestantischen Familie eng befreundet , an deren Spitze ein alter
Herr stand , welcher bei seinen Nachkommen in hoher Verehrung stand .
Iwant
Mr. Ball erzählte mir , dass dieser Patriarch eine grosse Zuneigung zu ihm
ein a gefasst habe. Als er eines Tages nach dem Mittagessen das Zimmer verliess ,
attete nahm er ihn bei Seite, klopfte ihm auf die Schulter und sagte : „ Mein lieber
junger Freund, ich muss ein paar Worte mit Ihnen über Ihren Wein sprechen. E
J
Sie trinken nicht genug. Folgen Sie meinem Rathe, - gewöhnen Sie Ihren 1
nich "
Kopf so lange sie noch jung sind ; Sie werden dann im Stande sein , Ihr
reisen ganzes Leben lang wie ein Gentleman zu trinken. "
it da
"
464 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIII
***
***
an
**
deBage
glichers wollen wir zuerst uns umsehen , welche Beweise uns verschiedene
nicht civilisierte Völker darbieten . Und bei Einhaltung des
ziehung
selben Weges , den ich in den vorausgehenden , von andern
imm
er whe Theilen des Betragens handelnden Capiteln eingeschlagen habe ,
bhara bin ich auch hier genöthigt , Thatsachen anzuführen , welche bei
Abwesenheit zwingender Gründe übergangen werden sollten.
Sie sind indessen keinen stärkeren Einwänden ausgesetzt als
Zeit.
enbeza viele, über welche in unseren täglichen Zeitungen berichtet wird
mit keinem besseren Motive als eine kitzelnde Neugier zu be
friedigen.
7. wel
Das absolute oder relative Fehlen von Keuschheit kann in
ders &
passender Weise durch eine Reihe von Auszügen aus Reise
elnica
werken vorgeführt werden. Wir können mit Nord-America be
die
ginnen. Das Zeugnis von LEWIS und CLARKE in Bezug auf die
inH
Chinooks , welches mit dem von Ross übereinstimmt , lautet
wie folgt :
wärmt " Bei diesen Leuten , wie in der That bei allen Indianern , wird
asch die Prostitution unverheiratheter Frauen so wenig als criminell oder
achter&
468 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIII.
gjakutanan
ne des c
Chesna
welche keine förmliche Ehe kennen , 99 Unkeuschheit , oder ein
Jade
partisi
vlak
fatto
Mobil
BIGP *
Ban
và
đề
An
de
vanNa%%“
Wechsel der Liebhaber , auf beiden Seiten , sobald einmal ein
Fall& gegenseitiges Zu-eigen-geben stattgefunden hat , ein nur selten
er dea vorkommendes Ereignis ist ; " wenn es aber vorkommt , ver
rdern-5 anlasst es die Ausstossung. Die noch übrigen zwei äusserst
eit ar ausgesprochenen Beispiele finden sich bei andern friedfertigen
Stämmen der indischen Berge . So sagt HODGSON von den
ird va Bodo und Dhimals : „Keuschheit wird von Männern und Frauen,
Pa verheiratheten und unverheiratheten, hochgeschätzt. " Und nach
DALTON
en $3.
Ters " werden die Santál-Frauen von Allen, welche über sie geschrieben
haben , als ausserordentlich keusch dargestellt ; und doch sind die
jungen Leute beiderlei Geschlechts der Gesellschaft einander in hohem
Grade zugethan und sie verbringen viel Zeit mit einander. "
nd
" Sie scheinen brav, offen und ehrlich, ohne Verdacht oder Ver
rath, Grausamkeit oder Rachgier zu hegen ; in Folge davon setzten
wir dasselbe Vertrauen in sie, wie in unsere besten Freunde. "
DAE Hier liegen Widersprüche vor , welche nach den bei civili
Elt,da sierten Völkern geläufigen Ideen völlig unvereinbar erscheinen.
вто
alle §. 184.
bet ne
Im Verlaufe aller vorausgehenden Abschnitte ist es Auf
Zen X
gabe gewesen, durch Untersuchung der Thatsachen zu ermitteln,
hodak
halt
welche Beziehungen - wenn überhaupt - zwischen Keusch
heit und dem socialen Typus , ebenso wie zwischen dieser Tugend
ischen ... und andern Tugenden bestehen ; wir müssen aber jetzt im Be
sonderen die vorherrschenden ethischen Empfindungen in Betracht
a podr ziehen, welche die Ausübung und die Nichtausübung der Tugend
nd wh
semantica
alangkung
lesen nur ein logischer Schluss , dass es für ein Mädchen ehrenhaft ist ,
ass Kinder zu haben . Sie bekommt dann einen vermögenderen Gatten und
ar ihrem Vater wird ein höherer Kalym für sie bezahlt . "
elites Was die alten Chibchas von Central-America betrifft , SO
A lesen wir :
" Manche Indianer ... kümmerten sich nicht viel darum , dass
ihre Frauen noch Jungfrauen sein sollten . . . Im Gegentheil dachten
Manche, wenn sie entdeckten, dass sie noch keinen Umgang mit Män
dee To
nern gehabt hatten , sie seien elend und unglücklich , weil sie bei
+1 Männern keine Zuneigung erweckt hatte : in Folge dessen fanden sie
[ dieselben als erbärmliche Frauen widerwärtig . “
TME
Die civilisierte Nation , von welcher erwähnt wurde , dass
sich bei ihr in manchen Fällen eine Empfindung zeige , welche
TerS
474 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIII .
beinahe das Umgekehrte von der ist , welche bei den Nationen
des Westens so stark ausgesprochen ist , finden wir im fernen
Osten . DIXON sagt von den Japanesen :
" Es pflegte keine ungewöhnliche Sache für eine pflichttreue Toch
ter zu sein (und wir haben keine deutlichen Beweise dafür , dass der
Gebrauch jetzt in Abnahme gekommen ist) , sich für eine bestimmte
Zeit von Jahren an den Besitzer eines übel beleumundeten Hauses
zu verkaufen , damit sie das zerstörte Vermögen ihres Vaters wieder
gewinne . Wenn sie dann nach Hause zurückkehrte , haftete kein
Make an ihr ; eher wurde sie noch wegen ihrer kindlichen Ergebung
geehrt. "
Obgleich Mr. HENRY NORMAN in einem eben erschienenen
Werke "" The Real Japan " diese erwähnte Rückkehr in's Haus
in glaubwürdiger Weise verneint (für neuere Zeiten wenigstens) ,
so bestätigt er den ersten Theil der Angabe , dass Töchter für
bestimmte Zeiten von ihren Eltern verkauft werden : die That
sache , dass solche Eltern geduldet werden , ist ein ganz ge
nügender Hinweis auf die Art der herrschenden Empfindung .
Wir erhalten daher hier den Beweis , dass in Bezug auf
diesen Theil des Betragens, wie hinsichtlich der Theile des Be
tragens , von denen in vorausgehenden Capiteln gehandelt worden
ist, die Gewohnheiten Empfindungen erzeugen , welche mit ihnen
harmonisieren . Es ist eine abgenutzte Bemerkung , dass das
Individuum , welches im Unrecht- thun beharrt , vorkommenden
falls alles Gefühl dafür, dass es Unrecht ist , verliert und end
lich glaubt, dass es recht handle ; dasselbe gilt auch social ____
es muss allerdings social richtig sein , da die öffentliche Meinung
nur eine Sammlung individueller Meinungen ist.
§. 185.
Wenn wir , anstatt eine Gesellschaft mit einer andern zu
vergleichen , frühe Zustände derjenigen Gesellschaften , welche
Civilisationen entwickelt haben , mit den späteren Zuständen
vergleichen, so finden wir sehr wechselnde Beziehungen zwischen
Keuschheit und socialer Entwicklung . Nur in modernen Gesell
schaften können wir sagen , dass diese Beziehung erträglich
deutlich wird.
Wir haben bereits gesehen , wie niedrig in Bezug auf die
geschlechtlichen Beziehungen das Volk von Indien in frühen
Zeiten war , und wie , nachdem allgemeine Vermischung und
§. 185. Keuschheit . 475
§. 186 .
§. 187.
XIV. Capitel .
§. 188.
Wo nur wenig , aber genaue Angaben vorhanden sind , da
können bestimmte Folgerungen gezogen werden ; wo sie aber
zahlreich und ungenau sind , müssen die daraus gezogenen Schlüsse
verhältnismässig unbestimmt sein . Reine Mathematik bietet ein
Beispiel für das eine , Sociologie für das andere dar. Die von
dem individuellen Leben dargebotenen Erscheinungen sind in
hohem Maasse verwickelt , und noch verwickelter sind die von
dem Leben verbundener Individuen dargebotenen Erscheinungen ;
und ihre grosse Complexität wird durch die Vielgestaltigkeit und
Veränderlichkeit der umgebenden Bedingungen noch weiter ge
steigert.
Zu den Schwierigkeiten , welche in Bezug auf Verall
gemeinerungen hieraus entstehen , müssen noch die Schwierig
keiten zugefügt werden , welche aus der Unbestimmtheit der
―
Beweise resultieren , der Zweifelhaftigkeit, Unvollständigkeit
und der widerstreitenden Beschaffenheit der Angaben, mit welchen
wir zu thun haben . Nicht allen Reisenden kann Vertrauen ge
schenkt werden. Manche sind schlechte Beobachter, manche sind
durch Glaubensansichten oder Gebrauch voreingenommen, manche
durch persönliche Neigungen oder Widerwillen, und Alle haben
nur unvollkommene Gelegenheiten zur Wahrheit zu gelangen .
Ähnliches gilt für die Geschichtsschreiber. Sehr wenig von dem,
was sie erzählen , gründet sich auf unmittelbare Beobachtung .
Der grössere Theil desselben kommt durch Canäle , welche färben,
verdüstern und verdrehen , während noch überall Parteistimmung,
religiöser Bigotismus und die Empfindungen des Patriotismus
Übertreibungen und Unterdrückungen verursachen . Zeugnisse ,
welche moralische Züge betreffen, werden daher leicht verdreht .
Viele von den unter einem und demselben Namen zusammen
gefassten Völkerschaften bieten beträchtliche Charakterverschie
denheiten dar : ein Beispiel sind die Australier , von denen be
merkt worden ist , dass manche Stämme ruhig und umgänglich
sind, während andere ungestüm und schwer zu behandeln sind .
Ferner erleiden das Betragen , die Gefühle und Ideen eingeborner
482 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIV.
§. 189.
Ehe wir die Bedeutsamkeit der hier gezogenen Inductionen
vollständig verstehen können , müssen wir noch einmal die wesent
liche Beschaffenheit der socialen Zusammenwirkung betrachten.
Wie in §. 48 hervorgerufen wurde : vom sociologischen Gesichts
punkte aus 97, wird Ethik nichts anderes als eine bestimmte Dar
stellung der Formen des Betragens , welche für den vergesell
schafteten Zustand passend sind " ; und in späteren Abschnitten
wurde es klar gemacht, dass mit dem Erheben über jene frühe
sten Gruppen, bei welchen die Individuen einfach in Berührung
leben, ohne wechselseitige Störung und ohne gegenseitige Hülfe ,
der vergesellschaftete Zustand nur durch erfolgreiches Zusammen
wirken erhalten werden kann : bald zur Vertheidigung nach aussen,
bald zur Erhaltung nach innen. Das heisst : das Gedeihen der
Gesellschaften hängt, alles Übrige gleich vorausgesetzt, von dem
Maasse ab , in welchem innerhalb ihrer die Bedingungen zu
solchem Zusammenwirken erfüllt sind. Woraus , nach dem Grund
§. 189. Zusammenfassung der Inductionen . 483
worden war, " entlief während der Nacht, stellte sich, nachdem
sie den Fluss durchschwommen hatte, ihrem Volke und bestand
auf der Vollziehung des Opfers , welchem entzogen zu werden
sie in einem Augenblicke der Schwäche mit Bedauern gestattet
habe ; " und WILKES erzählt noch von einer andern Frau, welche
ihren Retter mit Schmähungen überhäufte und ihm für alle
spätere Zeit den tödtlichsten Hass trug".
Hier [in England] und auf dem Festlande ist das religiöse
Verbot des Diebstahls und die gesetzliche Bestrafung desselben
mit einer starken gesellschaftlichen Verurtheilung verbunden ;
so dass das Verbrechen eines Diebstahls niemals vergeben wird.
In Belutschistan sind indessen völlig entgegengesetzte Ideen und
Gefühle allgemein verbreitet. Dort besagt " ein beliebtes Lied ,
dass der Belutsche , welcher stiehlt und mordet, sieben Genera
tionen seiner Vorfahren den Himmel erwirbt . "
In unserm Welttheile findet die Verurtheilung der Unwahr
haftigkeit einen starken Ausdruck, und zwar bei gebildeten und
niedriger stehenden Classen. In vielen Theilen der Welt ist dies
aber nicht der Fall. In Blantyre ist es beispielsweise nach
MACDONALD 97 eher ein Compliment , ein Lügner genannt zu werden . "
Die in England verbreitete Stimmung ist die, dass auch der
blosse Verdacht einer Unenthaltsamkeit seitens einer Frau ge
nügt , ihr Leben mit einem Makel zu versehen ; es giebt aber
Völker, deren Empfindungen keine derartige Verurtheilung ver
anlassen , und in manchen Fällen wird sogar das Entgegen
gesetzte hervorgerufen : „ bei den Wotjäken ist Unkeuschheit
eine Tugend . "
Es finden sich sonach in Bezug auf alle Ausschlag gebenden
Gebiete des menschlichen Betragens bei verschiedenen Menschen
rassen und auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der näm
lichen Rassen einander entgegengesetzte Glaubensansichten und
einander widersprechende Empfindungen .
§. 191 .
Ich war wohl im Begriffe zu sagen , dass die in den vor
ausgehenden Capiteln mitgetheilten und in den vorstehenden
Paragraphen in einen Brennpunkt zusammengezogenen Beweise
ein für allemal den Glauben an einen moralischen Sinn, wie ein
solcher gewöhnlich angenommen wird , zerstören müssten. Aber
488 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIV.
ist eben die, dass, wenn das Leben inneren Wohlwollens Genera
tion auf Generation ununterbrochen fortbesteht , als Resultat
nicht bloss das entsprechende Gesetzbuch , sondern auch die
entsprechende Art der gemüthlichen Erregungen --- ein den
moralischen Erfordernissen entsprechendes moralisches Gefühl
hervorgehen muss . Menschen in diesen Umständen werden bis
zu den für vollständige Leitung nothwendigem Grade jenes ein
geborne Gewissen erlangen , von welchem die intuitiven Mora
listen irrthümlicherweise annehmen , dass es die Menschheit im
Allgemeinen besitzt . Es bedarf nur der Fortdauer absoluten
Friedens äusserlich und eines rigorösen Innehaltens eines An
griffe vermeidenden Lebens innerhalb der Gesellschaft , um den
Menschen in eine naturgemäss durch alle Tugenden charakte
risierte Gestalt zu bringen .
Diese allgemeine Induction wird wiederum durch eine spe
cielle Induction bestätigt. Als bald diesen erhabenen Zug der
Natur entfaltend, bald jenen darbietend , habe ich als Beispiele
jene verschiedenen uncivilisierten Völker angeführt, welche , ob
gleich sie in andern Beziehungen unter uns stehen, uns moralisch
überlegen sind, und habe hervorgehoben, dass sie sämmtlich frei
von Feindseligkeit innerhalb der einzelnen Stämme sind. Die
Völkerschaften , welche diesen Zusammenhang zeigen , gehören
verschiedenen Rassen an. In den Bergen von Indien finden wir
einige, welche ihrem Ursprunge nach Mongolen , Kolaren , Dra
vidier sind ; in den Wäldern von Malacca , Burma und in ab
geschlossenen Theilen von China existieren derartige Stämme
von noch anderer Abkunft ; im Ostindischen Archipel giebt es
einige , welche zu dem Stamme der Papuas gehören ; in Japan
leben die friedfertigen Ainos , bei denen „ keine Überlieferung
von tödtlichen Kämpfen besteht" ; und in Nord- Mexico existiert
noch ein anderes solches Volk , welches mit den übrigen nicht
verwandt ist , die Pueblos. Man könnte sich keinen entschei
denderen Beweis als den von diesen isolierten Gruppen von
Menschen erbrachten wünschen , welche in ihren Wohnorten
weit von einander getrennt und der Rasse nach von einander
verschieden, in den zwei Beziehungen gleich sind , dass die Um
stände sie lange Zeit von Kriegen frei gelassen haben und dass
sie jetzt von Natur gut sind .
Die Güte , welche unter diesen Bedingungen erreicht werden
490 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIV .
§. 192.
Dass die In- Betracht-nahme einer solchen Eventualität für
Alle angenehm sein wird, vermuthe ich nicht . Für die Vielen,
welche , im Osten lebend , stillschweigend annehmen , dass die
Indier nur zum Vortheil der Anglo- Indier leben , wird dieselbe
kein Vergnügen bereiten. Ein derartiger Zustand wird wahr
scheinlich denen unerwünscht scheinen , welche sich dazu an
werben lassen , andere Menschen auf Befehl niederzuschiessen ,
ohne nach der Gerechtigkeit ihres Vorgehens zu fragen , und
die sich durch einen Befehl aus der Downing Street für von
Schuld freigesprochen halten. Gleich wie unter den Anthropo
phagen die Unterdrückung der Menschenfresserei nicht günstig
angesehen wird , so verursacht bei sociophagen Nationen wie
der unserigen eine Betrachtung des Aufhörens von Eroberungen
nicht viel Vergnügen . Keine starke Sehnsucht nach einem solchen
Zustand kann unser den Oberbefehl führender General fühlen,
welcher sagt , dass die Pflichten eines Soldaten „ die edelsten
sind, die das Geschick einem Menschen auflegen können " , und
dessen Motto ist : " der Mensch ist ein Wolf seinen Mitmenschen
gegenüber. "
Über diese Aussicht werden sich auch , so wunderbar dies
auch klingen mag , diejenigen nicht freudig angeregt fühlen,
welche " Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen “
predigen ; denn die Aussicht eröffnet sich nicht in Verbindung
mit ihrem Glauben . Die Annahme , dass die Menschheit nur
g
§. 192 . Zusammenfassun der Inductionen. 491
32*
I. Capitel .
Einleitung.
§. 193.
Die vorausgehenden vierzehn Capitel haben gezeigt , dass
ethische Empfindungen und Ideen an einem jeden Orte und zu
jeder Zeit durch die örtliche Form der menschlichen Natur, die
socialen Antecedentien und die umgebenden Verhältnisse bestimmt
werden. Hieraus entsteht nun die Frage : Wie werden wir von
allem dem, was besonders und zeitweilig ist, das scheiden, was
allgemein und beständig ist ?
Es ist uns gezeigt worden , wenn nicht ausgesprochen , so
doch stillschweigend, dass selbst die Sprache, welche beim Er
örtern moralischer Fragen im Gebrauche ist , die allgemein
verbreiteten Annahmen so vollständig enthält, dass die Menschen
kaum im Stande sind, von ihnen losgelöst zu denken . „ Pflicht "
und „ Verbundensein " enthalten beispielsweise den Gedanken an
Gehorsam , Unterordnung , Unterwerfung unter eine Autorität,
und lassen stillschweigend folgern , dass rechtes und unrechtes
Betragen dies nicht sind in Folge ihres inneren Wesens, sondern
zu solchen werden durch ihre von aussen herantretenden Vor
schriften. Wie können wir uns von dem Einflusse des beson
deren Gesetzbuches , unter welchem wir erzogen worden sind,
und der irreführenden Ausdrucksweise unserer Bezeichnungen
befreien ?
Offenbar müssen wir eine Zeit lang angenommene Lehren
und Ausdrucksweisen unbeachtet lassen. Wir müssen direct zu
den Thatsachen gehen und sie von Neuem untersuchen, entfernt
von allen vorgefassten Meinungen. Ich will damit nicht sagen,
496 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. I.
dass die alten Ideen und die alten Wörter verworfen werden
sollen ; das soll bei weitem nicht geschehen . Wir werden sehen,
dass der grössere Theil derselben ganz gerechtfertigt und wieder
aufzunehmen ist : in einigen Fällen mit verstärkter Autorität und
in andern Fällen mit mehr oder weniger Einschränkung.
Ethische Ideen und Empfindungen sind als Theile der Lebens
erscheinungen im Ganzen zu betrachten . Wir haben es zu thun
mit dem Menschen als einem Product der Entwicklung , mit
der Gesellschaft als einem Product der Entwicklung und mit
den moralischen Erscheinungen als Producten der Entwicklung.
Niemand braucht um einen etwaigen Verlust von Autorität be
sorgt zu sein. Anstatt zu finden , dass eine evolutionistische
Ethik niedrigeren Formen des Betragens als denjenigen , welche
gegenwärtig vorgeschrieben werden , Vorschub leistet , werden
wir im Gegentheile finden , dass eine evolutionistische Ethik
mit vielem von dem , was nach der Meinung der sich zum Be
sitze des höchsten Führers Bekennenden für unschuldig oder zu
rechtfertigen zu halten ist, unvereinbar ist .
§. 194.
Da Vervollkommnung der hauptsächliche Vorgang der Ent
wicklung ist, so dürfen wir erwarten , dass der Inbegriff der die
Ethik bildenden Vorstellungen zu derselben Zeit, in welcher die
einzelnen Theilbegriffe ungleichartig werden , an Bestimmtheit
und an jener Art von Zusammenhang gewinnt , welche eine
systematische Ordnung ihnen giebt. Als diese Erwartung er
füllend wollen wir zuerst hervorheben , dass während jene Vor
stellungsreihe zahlreiche Handlungen der Menschen gegen ein
ander in ihren Beurtheilungskreis einbezieht , welche anfänglich
nicht als recht oder unrecht anerkannt werden , sie schliesslich
auch die verschiedenen einzelnen Seiten des privaten Verhaltens
-
in jenen Kreis aufnimmt, jene Handlungen jedes Individuums,
welche in directer Weise nur es allein betreffen und welche
nur in entfernter Weise seine Mitmenschen betreffen.
Von nahezu allen diesen Handlungen wird gewöhnlich an
genommen, dass sie jenseits der Vorschriften der Ethik liegen :
nicht bloss jene vielfachen , welche gleichgültig sind und , wie
unsere körperlichen Bewegungen von Minute zu Minute, ebenso
gut in dieser wie in einer andern Weise vorgenommen werden
§. 195. Einleitung . 497
§. 195 .
Obgleich der Mensch hoch über den andern Geschöpfen
steht, so bleibt er doch in Gemeinschaft mit ihnen den Gesetzen
498 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. I.
des Lebens unterworfen ; und Erfordernis für ihn ist , wie für
jene , Übereinstimmung mit diesen Gesetzen . Für ihn ist , wie
für jedes andere lebende Wesen Selbsterhaltung das zuerst Ge
forderte ; es wird demnach ohne Selbsterhaltung die Erfüllung
aller andern Verbindlichkeiten , altruistischer ebensogut wie
egoistischer, unmöglich.
Selbsterhaltung wird aber nur durch Ausführung von Hand
lungen vollzogen , welche durch Begierden angeregt werden . Es
muss daher die Befriedigung dieser Begierden vorgeschrieben
werden , wenn das Leben erhalten werden soll . Dass dies mit
den Empfindungen der Fall ist , welche zum Athmen , Essen,
Trinken und zur Vermeidung extremer Temperaturen veranlassen,
bedarf keines Beweises : Schmerz und Tod sind das Resultat des
Ungehorsams und Vergnügen das Resultat des Gehorsams . Und
wie das Empfinden einer jeden unserer primären Freuden direct
die Lebensthätigkeit fördert , so fördert das Empfinden einer
jeden unserer secundären Freuden dieselbe indirect.
Unzweifelhaft giebt es daher einen Abschnitt der Ethik,
welcher die Gutheissung aller normalen Thätigkeiten des indi
viduellen Lebens ausspricht, während er die abnormen verbietet .
Diese allgemeinste Ansicht gleichzeitig evolutionistisch und
hedonistisch steht mit mehreren specielleren Ansichten in Über
einstimmung .
§. 196 .
Wie in der Vorrede hervorgehoben worden ist, wird auf die
Mehrzahl der Geister eine unheilvolle Wirkung dadurch hervor
gebracht , dass die Ethik als ein strenger Mahner dargestellt wird,
welcher gewisse Arten von Freuden verklagt, während er Ver
gnügungen anderer Arten keine Unterstützung gewährt . Wenn
sie auch nicht offen heraus behauptet, dass alle Befriedigungen
ungehörig sind , so macht sie doch dadurch , dass sie eine An
zahl derselben verbietet und von den übrigen nichts sagt , den
Eindruck, dass die übrigen, wenn sie nicht zu verdammen sind,
doch nicht zu billigen sind. Durch diese einseitige Behandlung
des Betragens entfremdet sie sich eine Menge Menschen , welche
andernfalls ihre Lehre annehmen würden .
Wird angenommen, dass allgemeine Glückseligkeit das Ziel
ist (denn wenn Gleichgültigkeit oder Elend das Ziel wäre , so
§. 196. Einleitung . 499
§. 197.
Eine sich ferner ergebende , beinahe ganz allgemein un
beachtet gelassene Folgerung muss hier nochmals ausdrücklich
hervorgehoben werden . Bereits im 71. Paragraphen habe ich die
Aufmerksamkeit auf die offenkundige Wahrheit gelenkt , dass
das Individuum nicht allein bei der Sache in Betracht kommt,
sondern dass alle seine Nachkommen daran betheiligt sind.
Aus der gänzlichen Nichtbeachtung dieser Wahrheit erkennen
wir noch deutlicher als gewöhnlich, wie tief der durchschnittliche
Verstand steht. Wenn ich auf dem Festlande beobachtete , wie
die Frauen mit nicht beschatteten Gesichtern, um das blendende
Sonnenlicht abzuhalten genöthigt sind , ihre Augen halb zu
schliessen , die Augenwinkel in Falten in die Höhe zu ziehen
und auf diese Weise in Folge der täglichen Wiederholung einige
zehn oder zwanzig Jahre früher als nothwendig wäre Krähen
füsse bekommen , so habe ich es manchmal für erstaunlich ge
halten, dass diese Frauen , obschon sie ängstlich darauf bedacht
sind, sich ihre Schönheit zu erhalten, doch nicht im Stande ge
wesen sein sollten, ein so einfaches Verhältnis zwischen Ursache
und Wirkung zu erkennen. Man dürfte aber annehmen , dass
ein Beispiel selbst noch extremerer Dummheit (wenn man den
Ausdruck durchgehen lassen will) von der Unfähigkeit der Leute
dargeboten wird , einzusehen , dass Missachtung ihrer selbst Miss
achtung der Nachkommenschaft einschliesst . Es giebt zweierlei
Wege, auf denen dies geschieht.
Unfähigkeit in angemessener Weise für die Nachkommen.
zu sorgen, ist die eine üble Folge . Ohne körperliche Wohlfahrt
bei den Eltern kann es keine erfolgreiche Erhaltung der Kinder
geben ; und wenn die Rasse erhalten werden soll , dann wird
die Sorge für das eigene Selbst mit dem Hinblick auf die Sorge
für die Nachkommen zur Verpflichtung. Dieser normale Egois
mus muss ein derartiger sein , wie er nicht bloss die Fortführung
des Lebens zum Resultat hat , sondern jenes kraftvollen Lebens,
welches Thatkraft verleiht. Auch wird die gehörige Sorge für
das Individuum selbst nicht bloss gefordert , weil die Pflichten
§. 197. Einleitung . 501
§. 198.
Ausser diesem speciellen Altruismus, welcher einen normalen
Egoismus gebieterisch macht , giebt es noch einen allgemeinen
Altruismus , welcher letzteren in gewissem Maasse obligatorisch
macht. Die Verbindlichkeit dazu hat beides , eine negative und
eine positive Seite .
So viel Sorge um sich selbst wie nöthig ist , die Gefahr
auszuschliessen Andere zu belästigen , ist eine Folge einer ge
hörigen Rücksichtnahme auf Andere . Wenn wir von jenen rohen
Gruppen , in welchen die Menschen ein so unabhängiges Leben
§. 199 . Thätigkeit . 503
führen, dass sie einzeln die vollen Resultate ihres eigenen Ver
haltens auf sich nehmen , zu weiter entwickelten Nationen
kommen, so werden die Mitmenschen immer mehr und mehr in
unsere Handlungen verwickelt. Unter einem mit Austausch von
Diensten durchgeführten socialen Systeme sind diejenigen , welchen
ungehöriges Selbstaufopfern Arbeitsunfähigkeit gebracht hat, ge
wöhnlich genöthigt , Contracte theilweise oder ganz zu brechen
und auf diese Weise Übel zuzufügen ; und dann legt jede solche
Unfähigkeit, sofern sie das Brodverdienen aufhebt , gewöhnlich,
zuerst auf Verwandte und dann auf Freunde, oder weiter noch
auf das Publicum eine Steuer , welche wieder eine Extraarbeit
erfordert. Jedermann ist daher verbunden , jene gedankenlose
Selbstlosigkeit zu vermeiden, welche leicht dazu führt, Übel über
Andere zu bringen, ―― Übel , welche häufig grösser sind als die
aus vollständiger Selbstsucht hervorgehenden.
Die hier als von positiver Art angeführte altruistische Recht
fertigung des Egoismus folgt erstens aus der Verbindlichkeit, ein
gewisses Bemühen zur Wohlfahrt besonderer Personen oder zur
Wohlfahrt der Gesellschaft aufzuwenden, - einer Verpflichtung,
welche nicht gehörig erfüllt werden kann, wenn die Gesundheit
untergraben worden ist. Und sie folgt zweitens aus der Verpflich
tung, so weit es die ererbte Natur zulässt, eine Quelle socialer
Freude für die Menschen um uns herum zu werden : um dies Er
fordernis zu erfüllen muss gewöhnlich ein solcher Strom geistiger
Energie vorhanden sein , wie ihn ein invalider Mensch nicht unter
halten kann .
II. Capitel.
Thätigkeit .
§. 199.
In einer systematischen Abhandlung ist die ausdrückliche
Wiedergabe gewisser Gemeinplätze unvermeidlich . Einer zu
sammenhängenden Reihe geometrischer Theoreme müssen bei
spielsweise, selbstverständliche Lehrsätze vorausgeschickt werden .
Dies muss die Entschuldigung dafür sein , dass ich hier gewisse
Allen geläufige Wahrheiten zur Sprache bringe .
Das neugeborne Kind bewegt zuerst seine kleinen Glied
504 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. II.
maassen nur schwach umher ; nach und nach kriecht das Kind
auf dem Fussboden ; bald geht es , und nach einiger Zeit läuft
es. Wie es sich weiter entwickelt , äussern sich seine Hand
lungen in Spielen , Wettläufen , langen Spaziergängen : das Maass
seiner Ausflüge dehnt sich allmählich weiter aus in dem Maasse,
wie es sich dem erwachsenen Leben nähert . Die Mannheit bringt
die Fähigkeit mit sich, Touren und Entdeckungsexpeditionen aus
zuführen, mit Einschluss von Reisen von Continent zu Continent
und gelegentlich um die Erde. Wenn das mittlere Lebensalter
überschritten ist und die Lebenskraft abzunehmen beginnt, werden
diese extremen Thätigkeitsäusserungen seltener. Reisen werden
abgekürzt , und bald erstrecken sie sich nicht weiter als bis zu
Besuchen auf dem Lande oder an die Meeresküste . Wenn das
hohe Alter vorschreitet , werden die Bewegungen auf das Dorf
und die umgebenden Felder beschränkt, später auf den Garten,
noch später auf das Haus , bald nur auf das Zimmer , endlich
auf das Bett ; und zuletzt, wenn die allmählich abnehmende Kraft,
sich umher zu bewegen, ganz aufgehört hat , kommen auch die
Bewegungen der Lungen und des Herzens zu Ende. Betrachtet
man das Leben als ein Ganzes, so stellt es sich dar in der Ge
stalt von Bewegungen, welche schwach beginnen , allmählich bis
zur Reife zunehmen , dann culminieren und abnehmen, bis sie so
schwach enden wie sie begonnen haben .
Leben ist hiernach Thätigkeit ; und das vollständige Aufhören
der Thätigkeit ist Tod . Hieraus entsteht die allgemeine Folgerung.
dass, weil das am höchsten entwickelte Benehmen dasjenige ist.
welches das vollkommenste Leben ausführt , Thätigkeit eine ethische
Gutheissung und Unthätigkeit eine ethische Verurtheilung erfährt.
Dies ist eine allgemein angenommene Schlussfolgerung , welche
keiner weiteren Bestätigung bedarf. Selbst von denjenigen,
welche gewohnheitsgemäss nützlichen Thätigkeiten aus dem
Wege gehen , wird eine Missbilligung der Glieder ihrer Classe
ausgesprochen, welche zu träge sind, selbst sich zu amüsieren :
absolute Faulheit erregt den Unwillen Aller.
§. 200.
Die Art der Thätigkeit, mit welcher wir es hier hauptsäch
lich zu thun haben , ist die an erster Stelle auf die Selbsterhal
tung und secundär auf die Erhaltung der Familie gerichtete.
§. 200. Thätigkeit . 505
§. 202 .
Wir kommen nun zu einer Frage von besonderem Interesse
für uns Kann die Beschaffenheit des Menschen seinen gegen
wärtigen Lebensbedingungen so angepasst werden, dass die noth
wendige Arbeit , welche geleistet werden muss , angenehm ist ?
Eine bejahende Antwort wird den meisten Menschen un
gereimt erscheinen. Ihre Beobachtungen auf die Thatsachen
ihrer Umgebung beschränkend oder sie höchstens auf derartige
weitere Thatsachen ausdehnend , wie sie die Geschichte civili
sierter Völker darbietet , können sie nicht an die erforderliche
Änderung der Natur glauben . Solch Beweismaterial wie das,
welches im ersten Theile dieses Werkes (§§ . 63-67) beigebracht
worden ist , um zu beweisen , dass Freuden und Schmerzen in
Bezug auf die Beschaffenheit des Organismus relativ sind , und
dass kraft der unbegrenzten Modificationsfähigkeit der Con
SPENCER, Principien der Ethik. I. 33
508 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. II.
§. 203.
§. 204.
Da die Handlungen eines jeden Menschen mit den Hand
lungen Anderer auf vielfache Weise in Zusammenhang stehen,
so folgt hieraus , dass die Ethik des individuellen Lebens nicht
vollständig von der Ethik des socialen Lebens getrennt werden
kann . Ein Betragen, dessen nächst liegende Resultate rein per
sönlich sind, hat häufig secundäre Resultate , welche social sind.
Wir müssen daher in jedem Falle die Wege betrachten , auf
denen Handlungen , welche direct das eigene Selbst betreffen,
dazu gelangen, indirect Andere zu betreffen .
Im vorliegenden Falle braucht kaum erwähnt zu werden,
dass ausser jener Verpflichtung zur Arbeit , welche aus den Ge
setzen des individuellen Lebens ableitbar ist, noch eine sociale ,
dieselbe noch weiter einschärfende Verpflichtung besteht. Wenn
gleich es in einer primitiven Genossenschaft für ein Individuum
möglich ist, sämmtliche Folgen seiner Unthätigkeit auf sich selbst
zu nehmen, so wird es doch in einer fortgeschrittenen Genossen
schaft, welche aus Bürgern besteht, die der Sympathie nicht bar
sind, schwierig, das träge Individuum in voller Ausdehnung die
Folgen seiner Trägheit erdulden zu lassen , und es wird noch
205. Ruhe. 511
III . Capitel.
Ruhe .
§. 205 .
Obgleich die von der Ethik vorgeschriebene Beschränkung
der lebenerhaltenden Thätigkeiten, wie sie gegen Ende des letzten
Capitels speciell dargestellt wurde, dem Anscheine nach die Fol
gerung enthält, dass Ruhe ethisch vorgeschrieben ist, und sie in
hohem Maasse auch wirklich enthält , so muss dieser Folgesatz
doch bestimmt ausgesprochen und aus mehreren Gründen aus
führlich dargestellt werden.
Der erste Grund ist der, dass es verschiedenartige Thätig
keiten, nicht von einer lebenerhaltenden Art giebt , auf welche
übergegangen werden kann, wenn die der Erhaltung des Lebens
gewidmeten Arbeiten zu Ende geführt sind . Die im letzten
Capitel gezogene Folgerung enthält daher nicht die Forderung
absoluter Ruhe.
Ferner haben wir die verschiedenen Arten von Ruhe zu
beachten, welche, wenn auch nicht vollkommen , doch annähernd
512 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. III.
so sind ; und das Bedürfnis für eine jede dieser Arten muss her
vorgehoben werden.
Etwas muss bei jedem der verschiedenen Abschnitte gesagt
werden : Ruhe in Zwischenabsätzen während der Arbeit ; nächt
liche Ruhe ; Ruhe eines Tages nach einer Reihe von Tagen ;
und gelegentlich lange Ruhe in langen Zwischenräumen .
§. 206.
Rhythmus, wie er sich durch alle Functionen hindurch, wie
andernorts , zeigt, wird von dem abwechselnd auftretenden Ver
brauch und Wiederersatz begleitet . Jeder Zusammenziehung des
Herzens, jeder Erfüllung der Lungen folgt eine momentane Er
schlaffung der bei ihnen angewendeten Muskeln . Bei dem Pro
cesse der Ernährung haben wir den kurzen Rhythmus, welcher
die peristaltische Bewegung darstellt , verbunden mit dem län
geren , durch die Periodicität der Mahlzeiten herbeigeführten
Rhythmus . Bei weitem tiefer, als es auf den ersten Blick der
Fall zu sein scheint, reicht die Anpassung an dies Gesetz ; denn
manche organische Thätigkeiten , die dem Anscheine nach con
tinuierlich sind , sind in Wirklichkeit unterbrochen . Ein Muskel,
welcher eine Zeit lang in beständiger Zusammenziehung ver
harrt und sich in einem gleichförmigen Zustande zu befinden
scheint , ist aus einer grossen Zahl von Einheiten aufgebaut,
-
welche einzeln zwischen Thätigkeit und Ruhe abwechseln , —
die einen erschlaffen, während sich die andern contrahieren ; so
wird eine beständige Leistung des ganzen Muskels durch die
unbeständigen Leistungen der ihn zusammensetzenden Fasern
zu Stande gebracht.
Das in dieser Weise in jedem Organe und in jedem Theile
eines Organs von Augenblick zu Augenblick in die Erscheinung
tretende Gesetz zeigt sich auch während aller längeren und
bedeutenderen Zusammenwirkungen von Theilen. Combinierte
Muskelanstrengungen, welche die Kräfte des ganzen Körpers in
irgend einem beträchtlichen Grade in Anspruch nehmen, können
nicht ungestraft beständig ohne Unterbrechungen wiederholt
werden, selbst während der zur Thätigkeit bestimmten Zeit. In
derartigen Fällen überwiegt der Verbrauch in einem beträcht
lichen Maasse den Wiederersatz und macht eine Unterbrechung
nothwendig , während welcher die rückständigen Ergänzungen
§. 207. Ruhe. 513
§. 207.
Auf der Nothwendigkeit jener vollkommenen Ruhe , welche
wir Schlaf nennen , braucht nicht noch besonders bestanden zu
werden ; ein paar Worte dürften aber passenderweise über ihre
Dauer gesagt werden , _______ sie ist bald zu kurz, bald zu lang.
Die geläufigen Beurtheilungen der Gewohnheiten von Men
schen unserer Umgebung gehen von der irrthümlichen Annahme
514 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap . III.
§. 208.
Die civilisierte Menschheit hat die Gewohnheit angenommen,
noch eine fernere periodische Ruhe zu halten, - eine wöchent
liche Ruhe ; und ohne die für ihre Annahme angeführten Gründe
zu den unserigen zu machen , können wir das Angemessene einer
solchen aus andern Gründen annehmen.
Eintönigkeit, ganz gleichgültig von welcher Art sie ist, ist
ungünstig für das Leben. Es ist nicht bloss eine Unterbrechung
der während des wachen Zustandes ausgeführten Thätigkeiten
nothwendig, es müssen auch nicht bloss die Thätigkeiten durch
Zwischenpausen des Schlafes unterbrochen werden , es scheint
auch jene zusammenhängende Reihe von Thätigkeitsäusserungen,
welche in der Wiederholung mehrerer auf ähnliche Beschäftigung
verwendeter Tage besteht, eine Unterbrechung durch Ruhetage
zu erfordern . Es tritt eine cumulative Ermüdung ein , welche
nicht durch die periodischen Unterbrechungen , wie sie die Nächte
bringen , beseitigt wird : es sind grössere periodische Unter
brechungen in längeren Zwischenräumen erforderlich. Die an
haltende Anstrengung täglicher Beschäftigungen ist in allen
Fällen eine Anstrengung, welche einige Theile des Körpers mehr
betrifft als andere , und jener tägliche Wiederersatz , welcher
genügt, den Körper im Grossen und Ganzen wieder zur Arbeit
geschickt zu machen , scheint dazu nicht zu genügen , Theile
wieder in einen arbeitsfähigen Zustand zu bringen , welche be
§. 209. Ruhe. 517
§. 209.
Ich brauche nicht die körperlichen und geistigen Vortheile
besonders zu betonen, welche von jenen längeren Unterbrechungen
der Arbeit , welche jetzt gewöhnlich alljährlich wiederkehren ,
herzuleiten sind. Um nicht bei dem positiven Vergnügen zu
verweilen, welches sie bereiten (welches indessen mehr als eine
mit Überlegung erstrebte Folgewirkung anzusehen ist), so genügt
es , die von ihnen gewöhnlich hervorgerufene Wiederkräftigung
und erhöhte Fähigkeit zur Arbeitsleistung in die Erinnerung zu
rufen , um zu zeigen , dass sie ethisch gutgeheissen , oder viel
mehr, wo es die Umstände gestatten, ethisch vorgeschrieben sind .
Ohne hierauf ausführlich einzugehen , gehe ich zu den
altruistischen Gründen über, welche die Ruhe rechtfertigen und in
gehöriger Weise als verbindlich erkennen lassen . Die Ansprüche
der Angestellten und die Ansprüche der Mitbürger, mit welchen
Übereinkünfte getroffen worden sind, verbieten in gleicher Weise
das Übermaass in der Arbeit : die Lebensenergie darf nicht
in so verschwenderischer Weise verwendet werden , dass da
durch die Vollendung derselben auf's Spiel gesetzt wird . Ein
gesundes Urtheil hat abzuwägen zwischen den Forderungen
solcher Anstrengungen , wie sie zur Erfüllung dieser Ansprüche
nothwendig sind, und den Forderungen eines solchen Ausruhens ,
wie es Erschöpfung und Arbeitsunfähigkeit verhindert. Die
518 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IV.
IV . Capitel.
Ernährung .
§. 210.
Ausgenommen vielleicht , dass die meisten Menschen darin
übereinstimmen , dass Gefrässigkeit zu verurteilen ist und dass
der gourmet " ebensogut wie der gourmand " ein Mensch ist.
vor welchem man nur geringe Achtung haben kann, werden sie
es für widersinnig halten , etwa zu meinen , wie es die obige
Überschrift angiebt, dass die Ethik irgend etwas über das Zusich
nehmen der Nahrung zu sagen hat . Obgleich sie damit , dass
sie Excesse der eben angedeuteten Art verdammen , ausdrücken.
dass sich der Mensch derselben nicht schuldig machen sollte.
und dass sie dieselben durch den Gebrauch dieses Ausdrucks
§ . 211 . Ernährung . 519
§. 211 .
Es haben uns bereits die in §. 174 angeführten extremen,
von den Eskimos , den Jakuten und den Australiern dargebotenen
Beispiele gezeigt , dass enorme Mengen von Nahrung unter ge
wissen Bedingungen angemessen sind und die Befriedigung der
scheinbar übermässigen Gelüste nach solchen nicht bloss gerecht
fertigt , sondern gebieterisch ist : der Tod tritt ein als eine
Folge der Unfähigkeit eine hinreichende Menge aufzunehmen ,
um die durch ein strenges Klima oder lange dauerndes Fasten
verursachten Verbrauchsmengen auszugleichen. Ich möchte hier
noch die Erfahrungen arctischer Reisenden hinzufügen, welche,
gleich den Eingebornen der arctischen Länder, ein grosses Ver
langen nach Thran erlangen.
Die Erwähnung dieser Thatsachen ist eine passende Ein
leitung zur Erörterung der Frage, ob , in Beziehung auf Nahrung,
520 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IV.
abhängig sind , aus denen der Körper und das Gehirn während
der Jugend aufgebaut und im erwachsenen Zustand leistungs
fähig erhalten werden. Die Aufnahme einer hinreichenden Menge
von Nahrung ist gesichert , wenn dem Hunger gehorcht wird,
während , wenn die Zufuhr den Forderungen des Hungers ent
gegen geschmälert wird , unvermeidlich ein grösserer oder ge
ringerer Ausfall an Grösse oder Kraft eintreten wird.
Allgemein gesprochen können wir daher sagen, dass es eine
ethische Gutheissung erhält , wenn dem Verlangen nach Nahrung
vollständig nachgegeben wird , und zwar aus den beiden Gründen ,
weil die Befriedigung des Verlangens an und für sich ein Element
ist, welches unter die normalen vom Leben dargebotenen Annehm
lichkeiten gerechnet werden muss , und weil seine Befriedigung
indirect zu einer ihr folgenden Fülle des Lebens und zu dem
Vermögen alle Verpflichtungen des Lebens erfüllen zu können
hinführt.
§. 212.
Jemand , der sich über die Eintönigkeit seiner Mahlzeiten
beklagt und dem darauf hin Vorwürfe gemacht werden , wenn
er die Genüsse aufsucht, welche ihm eine Abwechslung der Diät
bringt (ich führe eine Thatsache an) , wird durch diese Vorwürfe
von einem moralischen Gesichtspunkte aus stillschweigend ver
urtheilt. Hieraus ist die Folgerung zu entnehmen , dass eine
Lehre von Recht und Unrecht auch Etwas über das Geziemende
oder Ungeziemende der Nachgiebigkeit gegen einen Wunsch nach
Abwechslung zu sagen hat. Ein Jeder , welcher mit der eben
angeführten Meinung der frommen Schottin nicht übereinstimmt ,
nuss daher der entgegengesetzten Meinung sein : dem Verlangen
nach abwechslungsreicher Nahrung soll entsprochen werden ,
dasselbe erfährt eine gleiche Gutheissung wie das Verlangen
nach einer gehörigen Nahrungsmenge.
Natürlich ist hier nicht der passende Ort , auf die Gegen
stände , Verschiedenheit, Qualität und Zubereitung der Nahrung
näher einzugehen , ―――――― Gegenstände , deren blosse Erwähnung
denen unangebracht zu sein scheinen wird, welche die im ersten
Capitel des vorliegenden Werkes dargestellten Lehren , dass
jeder Theil des Betragens , welcher direct oder indirect die
Wohlfahrt berührt , eine ethische Seite hat , nicht angenommen
haben. Das , was hier in Betreff der drei Gegenstände gesagt
SPENCER, Principien der Ethik. I. 34
524 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IV.
§. 213.
Bevor ich dies Capitel schliesse , was ich jetzt thun muss ,
damit es nicht ein Capitel über Diätetik wird , muss ich noch
etwas über die altruistische Bedeutung der hier gezogenen Fol
gerungen sagen ; dabei will ich nur, in weiterer Zurückweisung
der gewöhnlichen asketischen Ansicht , die Bemerkung machen ,
dass der hebräische Mythus , welcher das Essen des Apfels seitens
der Eva als durch die Schlange eingegeben darstellt , sich in
den Köpfen vieler Menschen zu einer allgemeinen Theorie über
unsere Beziehungen zur Nahrung erweitert zu haben scheint :
ihr Asketicismus folgert stillschweigend daraus , dass Ver
34*
526 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IV.
V. Capitel.
Reizmittel .
§. 214.
Mehrere Capitel über die Ethik des individuellen Lebens
zu schreiben und über den Gebrauch von Reizmitteln Nichts zu
sagen, ist ganz ausser Frage . Während die Menschen über die
meisten Theile des privaten Betragens kein moralisches Urtheil
fällen und auch annehmen , dass dieselben keinem solchen unter
worfen sind : über jenen Theil des privaten Betragens, welcher
das Trinken gegohrener Flüssigkeiten betrifft, nehmen die meisten
Menschen, unter Fällung strenger moralischer Urtheile, an, dass
die Ethik ein gebieterisches Gesetz enthält ; und der Einbeziehung
von Fragen, welche sich auf alkoholische Reizmittel beziehen , in
das Bereich der Ethik, folgt dann die Einbeziehung von Fragen
in Betreff des Opium-Essens.
Wir wollen hier bemerken, wie wir es früher bemerkt.haben,
dass die Verurtheilung von Gebräuchen , welche im Übermaass
sicher schädlich sind und von vielen Leuten für überhaupt schäd
lich gehalten werden , praktisch genommen auf Gebräuche be
schränkt wird , welche ursprünglich Vergnügen bereiten . Ein
Mensch kann sich dadurch, dass er sich täglich zu sehr exponiert ,
einen chronischen Rheumatismus oder durch Überanstrengung
eine unheilbare nervöse Störung zuziehen ; und obgleich er hier
durch sein Leben mehr schädigt und seine Brauchbarkeit in
einem bei weitem höheren Grade herabsetzt , als wenn er ge
legentlich zu viel Wein trinkt , seine körperliche Übertretung
findet nur eine milde Missbilligung, wenn es überhaupt zu einer
solchen kommt. In diesen Fällen ist aber die Übertretung nicht
vergnüglich ; und die verdammenswerthe Sache bei solchem un
rechten Betragen ist das daran Vergnügen-Empfinden.
Man sagt , dass dieser Widerspruch in der moralischen
Schätzung eine Folge der Vorstellung ist, dass in der Annahme
528 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. V.
§. 215.
Es kann meiner Meinung nach nicht bezweifelt werden ,
dass vom Standpunkte der absoluten Ethik aus Reizmittel jeder
Art gemissbilligt werden müssen , oder dass jedenfalls ihr täg
licher Gebrauch gemissbilligt werden muss . Nur Wenige, wenn
überhaupt irgend Jemand , werden behaupten wollen , dass sie
zur Erfüllung des Lebens eine nothwendige Rolle spielen .
Alles normal in den Körper Eingeführte dient den Lebens
processen entweder dadurch, dass es Material liefert, welches bei
der Bildung oder dem Wiederersatz von Geweben unterstützend
wirkt , oder Material , welches während seiner Umwandlungen
Wärme und Kraft ergiebt, oder das Material, welches als Vehikel
dient, das Wasser. Ein Reizmittel, alkoholisch oder Anderes,
ist weder Gewebsnahrung , noch Wärme bildende , noch Kraft
erzeugende Nahrung . Es wirkt nur auf die Schnelligkeit des
molecularen Umsatzes , - denselben erhöhend und dann , unter
gewöhnlichen Umständen , wenn es in beträchtlicher Menge ge
nommen wird , ihn herabsetzend . Nun werden Stoffe , welche
weder zum Aufbau des Körpers noch als Kraftvorräthe verwandt
§. 216. Reizmittel . 529
§. 216.
Während aber vom Standpunkte der absoluten Ethik aus
der Gebrauch von Reizmitteln nicht vertheidigt werden zu können
scheint , dürfen wir doch immer fragen , ob die relative Ethik
Etwas zu ihrer Rechtfertigung darbietet, - ob wir, unter den
existierenden Bedingungen , wo wir dem socialen Zustand nur
unvollkommen angepasst und genöthigt sind , von den natürlichen
Anforderungen abzuweichen, nicht Reizmittel gebrauchen dürfen,
um den sich hieraus ergebenden Nachtheilen entgegenzuwirken.
T
530 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. V.
§. 217.
Selbst die Anhänger der gänzlichen Enthaltung geben zu,
dass alkoholische Getränke mit vollem Recht zu medicinischen
Zwecken gebraucht werden können ; und dieses Zugeben, folge
richtig erklärt, enthält die Schlussfolgerung, dass , wie oben be
hauptet wurde , Reizmittel im Allgemeinen passenderweise an
gewendet werden können nicht bloss , wo positive Krankheit
vorhanden ist , sondern auch da , wo Unfähigkeit mit den An
forderungen des Lebens Schritt zu halten, vorhanden ist. Denn
wenn ein sehr augenfälliges Abweichen vom normalen Zustande
am besten mit Branntwein oder Wein behandelt werden kann,
so kann nicht wohl geleugnet werden, dass eine vielleicht täglich
wiederkehrende Abweichung auf ähnliche Weise behandelt werden
könnte. Constitutioneller Schwäche, oder der mit vorrückenden
Jahren eintretenden Schwäche, dürfte, wie der Schwäche eines
Invaliden, mit Vortheil durch die Hebung der körperlichen Kräfte
begegnet werden können zu Zeiten , wo der Körper die zur
Wiederauffrischung führende Arbeit zu leisten hat , - das ist
die Zeit , wo Nahrung zu verdauen und zuweilen wo Schlaf
herbeizuführen ist. Hieraus ist aber nur eine Vertheidigung
532 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. V.
VI . Capitel.
Bildung .
§. 219.
In ihrer weitesten Bedeutung genommen heisst Bildung die
Vorbereitung zu einem vollständigen Leben . Sie umfasst an
erster Stelle allen solchen Unterricht und alle derartigen Kennt
nisse, wie sie zur wirksamen Selbsterhaltung oder zur Erhaltung
einer Familie nothwendig oder vorbereitend sind . Und sie um
fasst an zweiter Stelle die Entwicklung aller Fähigkeiten im
Grossen und Ganzen , wie sie dieselben zur Nutzbarmachung
534 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VL
§. 220.
Es giebt einen, gewöhnlich vernachlässigten Theil der Bil
dung , welcher in gleicher Weise von denen , welchen er die
Mittel zum Leben liefert , wie von denen anerkannt werden.
sollte , welche von ihm keine materiellen Vortheile zu erlangen
suchen ; er mag passenderweise voran stehen. Ich meine die
Erlangung manueller Geschicklichkeit.
Dass dies eine passende Vorbereitung für das Leben bei
denen ist , welche mit productiver Industrie beschäftigt sind,
wird nicht bestritten werden , obgleich gegenwärtig selbst die
Knaben, welche es vielleicht nothwendig haben, nur wenig dazu
ermuthigt werden , sich Geschicklichkeit in Handverrichtungen
anzueignen ; nur jene Arten von Geschicklichkeit , welche die
Spiele mit sich bringen , werden gepflegt. Es sollte aber Ge
schicklichkeit in Handverrichtungen und Schärfe der Auffassung
auch von denen erlangt werden , welche dazu bestimmt sind,
Lebensgänge höherer Arten einzuschlagen . Ungeschicktheit der
Glieder und Unfähigkeit die Finger geschickt zu brauchen, bringt
beständig kleines Ungemach und gelegentlich grosses Unglück
im Gefolge ; während Gewandtheit häufig die Wohlfahrt entweder
des eigenen Selbst oder Anderer unterstützt. Jemand , der im
Gebrauch seiner Sinne und seiner Muskeln wohl geübt ist , ist
weniger leicht als der Ungeübte Unglücksfällen ausgesetzt und
weiss, im Fall des Eintretens solcher, sicher die Schäden wirk
samer auszugleichen . Wenn diese augenfällige Wahrheit nicht
unbeachtet gelassen würde , so würde es widersinnig sein , erst
noch darauf hinzuweisen , dass , weil die Gliedmaassen und die
Sinne zu dem Zwecke vorhanden sind, die Handlungen den um
gebenden Gegenständen und Bewegungen anzupassen , es die
Aufgabe von Jedermann ist, Geschicklichkeit in der Ausführung
solcher Handlungen zu erlangen.
Es soll Niemand meinen, dass ich hier die Erweiterung der
formalen Ausbildung in dieser Richtung vertheidige ganz im
Gegentheile . Das Hineinformen aller Erziehung in Lehrstunden
ist eine der Sünden unserer Zeit. Die Pflege der Geschicklich
keit in Handverrichtungen sollte , zusammen mit Gewandtheit
im Allgemeinen , im Gange der Arbeit zur Erreichung ander
weitig gewünschter Ziele geübt werden. Bei jeder vernunft
536 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. VI.
§. 221 .
Intellectuelle Bildung in ihrer ursprünglichen Form ver
bindet sich mit der eben geschilderten Bildung ; denn da eine
Disciplinierung der Gliedmaassen und der Sinne sie geschickt
machen soll zu dem directen Behandeln der umgebenden Dinge.
so ist die Intelligenz in ihren aufeinanderfolgenden Stufen ein
Mittel , die Handlungen indirecter Arten , in ihrer Complexität
immer grösser und grösser werdend , zu leiten . Die höheren
Errungenschaften und Resultate des Intellects sind jetzt vom
praktischen Leben so entfernte geworden , dass ihre Beziehungen
zu demselben gewöhnlich aus dem Auge gelassen werden. Wenn
wir uns aber daran erinnern , dass in dem Stock , der zum Er
heben eines Steinblocks benutzt wird , oder in dem zur Fort
bewegung eines Bootes angewandten Ruders Beispiele von dem
Gebrauche von Hebeln vorliegen , während bei dem Zielen mit
einem Pfeile so verfahren wird , dass sein Fall während des
Flugs in Betracht genommen wird , und dadurch gewisse Grund
sätze der Dynamik stillschweigend in Anerkennung treten , und
dass von diesen unbestimmten frühzeitigen Erkenntnissen der Fort
schritt zu den Verallgemeinerungen der Mathematiker und Astro
nomen Schritt für Schritt verfolgt werden kann , so sehen wir,
dass Wissenschaft allmählich aus der rohen Kenntnis des Wilden
hervorgegangen ist. Und wenn wir uns daran erinnern , dass.
wie diese rohen Kenntnisse des Wilden zur einfachen Leitung
seiner lebenerhaltenden Handlungen dienten , die entwickelten
Wissenschaften der Mathematik und Astronomie zur Leitung in
der Werkstatt und im Geschäftshause und zum Steuern der
Schiffe dienen , während die hoch entwickelte Physik und Chemie
alle Processe der Manufactur beherrschen , so sehen wir , dass
an dem einen Ende der Reihe wie an dem andern die Förderung
der Fähigkeit der Menschen, erfolgreich die umgebende Welt zu
behandeln und dadurch ihre Bedürfnisse zu befriedigen , der Zweck
der intellectuellen Cultur ist , welcher allen andern vorausgeht.
Selbst für diese Zwecke erkennen wir es als praktisch, dass
die intellectuelle Bildung, welche uns mit der Natur der Dinge
§. 221 . Bildung. 537
§ 222.
In ihrer vollen Bedeutung angenommen umfasst die Kennt
nis der Naturwissenschaft auch Kenntnis der Socialwissenschaft,
und diese enthält eine gewisse Art von historischer Kenntnis.
Soviel davon wie zur politischen Richtschnur nothwendig ist,
sollte ein jeder Staatsbürger zu erlangen sich bestreben . Ob
gleich die grosse Mehrzahl der Thatsachen , aus denen richtige
sociologische Verallgemeinerungen gezogen werden können , nur
von jenen wilden und halbcivilisierten Genossenschaften dar
geboten werden, die in unsern erziehlichen Lehrplänen unbeachtet
gelassen werden , so sind doch manche Thatsachen erforderlich,
welche in der Geschichte entwickelter Nationen enthalten sind.
Aber ausser den unpersönlichen Elementen der Geschichte,
welche hauptsächliche Aufmerksamkeit verlangen , sollte auch
eine gewisse Aufmerksamkeit gerechterweise ihren persönlichen
Elementen geschenkt werden. Gewöhnlich nehmen diese voll
ständig die Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Geschichts
theorie der Grossen Männer , welche stillschweigend von den
Unwissenden aller Zeiten angenommen und in neueren Zeiten
§. 222. 1 Bildung . 539
§. 223.
In Bezug auf Bildung haben die Menschen wie bei andern
Sachen die Neigung, in das eine oder andere Extrem zu fallen.
Entweder es wird, wie bei der grossen Mehrzahl, Bildung über
haupt kaum erstrebt , oder sie wird , wie bei der Minderzahl,
beinahe ausschliesslich und häufig mit unglücklichen Folgen er
strebt.
EMERSON Sagt von den Gebildeten, dass das erste Erforder
nis sei, ein gutes Thier zu sein, und dies ist das erste Erforder
nis für einen Jeden . Ein Lebenslauf, welcher das Thier opfert,
obschon dies unter speciellen Verhältnissen vertheidigt werden
könnte , ist als allgemeiner Grundsatz nicht zu vertheidigen.
Innerhalb des Bereichs unserer positiven Erkenntnis sehen wir
nirgends Geist ohne Leben ; wir sehen nirgends Leben ohne
einen Körper, wir sehen nirgends ein volles Leben, ――― ein Leben.
welches in Bezug auf Intensität, Breite und Länge gleich hoch
steht , - ohne einen gesunden Körper . Jede Verletzung der
Gesetze der körperlichen Gesundheit ruft einen körperlichen
Schaden hervor, welcher eventuell in irgend einer Weise, wenn
gleich häufig in einer unsichtbaren Art , die geistige Gesundheit
schädigt.
Bildung ist daher zu fördern in Unterordnung unter andere
Erfordernisse . Ihre Ausdehnung muss derartig sein , dass sie
mit der körperlichen Wohlfahrt verträglich ist und dieser dient :
und sie muss auch derartig sein , dass sie mit der normalen
Thätigkeit nicht bloss der geistigen Kräfte, sondern aller andern
§. 223. Bildung . 541
Ic
verträglich ist und sie zu erreichen strebt . Wenn sie bis zu
E
einer Ausdehnung geführt wird , welche die Lebhaftigkeit ver
2. mindert und Gleichgültigkeit gegen die verschiedenartigen natür
lichen Genüsse erzeugt, dann ist sie ein Missbrauch ; und noch
mehr wird sie zum Missbrauch , wenn sie , was häufig der Fall
ist, so weit getrieben wird , dass Widerwille gegen die Gegen
stände erzeugt wird , in Bezug auf welche die Aufmerksamkeit
P ungehörigerweise angestrengt worden ist .
T Besonders was die Frauen betrifft , verlangt die Überbildung
H eine Verurtheilung , da durch dieselbe ungeheurer Schaden an
gerichtet wird. Man sagt uns , dass die höhere Erziehung, wie
sie jetzt in Girton und Newnham ertheilt wird , mit der Aufrecht
erhaltung guter Gesundheit nicht unverträglich ist , und wenn
wir diejenigen bei Seite lassen , welche genöthigt sind zurück
11
RS
§. 224 .
Den egoistischen Beweggründen zur Bildung müssen noch
die altruistischen Beweggründe angefügt werden . Ein der Kennt
nisse bares menschliches Wesen , welches auch Nichts von jenem
intellectuellen Leben hat, welches die Disciplinierung der geistigen
Anlagen verleiht, ist vollständig uninteressant . Eine Vergnügen
machende Person zu werden , ist eine sociale Pflicht . Daher
besitzt die Bildung , und namentlich die Bildung , welche zur
Belebung anregt , eine ethische Gutheissung , und hat sogar noch
etwas mehr erhalten .
Besonders gilt dies für ästhetische Bildung , von welcher
bis jetzt noch keine Notiz genommen worden ist . Während sie
vorgeschrieben wird als das Individuum selbst zur höchsten für das
vollständigste Leben und das grösste Glück erforderlichen Ent
wicklung führend, wird sie auch vorgeschrieben als die Fähigkeit
erhöhend, den Menschen der Umgebung angenehme Befriedigung
zu gewähren. Obgleich Übung in den bildenden Künsten , in
der Musik , in der Dichtkunst gewöhnlich zu ermuthigen ist,
hauptsächlich weil sie Empfänglichkeit für Freuden erzeugt,
welche der ästhetisch Ungebildete nicht haben kann , so sollte
man doch diejenigen , welche mit etwas mehr als durchschnitt
lichem Geschick dazu veranlagt sind , die Anlagen aus Beweg
gründen auch des Wohlwollens entwickeln lassen. Im höchsten
Grade gilt dies für die Musik ; und mehrstimmige Musik, welche
das persönliche Element unterordnet , sollte vor allen andern
§. 225. Vergnügungen . 543
VII . Capitel.
Vergnügungen.
F
§. 225.
Ich habe das letzte Capitel mit einer Erörterung geschlossen ,
deren Hauptgegenstand sie mit dem Hauptgegenstande dieses
Capitels in Zusammenhang bringt. Unmerkbar gehen wir von ,
in ästhetischer Bildung einbegriffenen Thätigkeitsäusserungen und
1
der passiven Theilnahme daran zu solchen über, welche zu der
Gruppe der Erholungen und Vergnügungen gehören . Diese haben
wir jetzt vom ethischen Standpunkte aus zu betrachten .
Der grossen Mehrzahl derer , welche mehr oder weniger
von jenem Asketicismus in sich aufgenommen haben , welcher
zwar für Zeiten chronischer Fehden angemessen war und auch
als Zaum für eine unbeherrschte Sinnlichkeit von Nutzen ist ,
aber doch die Theorie des Lebens im Geiste zu vieler Menschen
T beeinflusst hat, mag es als eine widersinnige Annahme erscheinen ,
L dass Vergnügungen ethisch gerechtfertigt sind . Wenn sie sie
544 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. VII
1
§. 226. Vergnügungen . 545
§. 226.
In jener oben angezogenen Stelle der „ Principien der Psycho
logie " (§§ . 533-540) , wo ich diesen Unterschied zwischen den
das Leben erhaltenden Thätigkeiten und den Thätigkeiten einer
nicht das Leben erhaltenden Art gezogen habe, welch' letztere des
Vergnügens wegen ausgeübt werden , habe ich den weiteren Unter
schied nicht gezogen zwischen den Thätigkeiten der sensorischen
und denen der motorischen Organe. Es findet ein Unterschied
statt zwischen den Annehmlichkeiten , welche ästhetische Wahr
nehmungen gewähren und den von Spielen und Leibesübungen
ausgehenden . Es war Mr. GRANT ALLEN Vorbehalten , diesen
Unterschied in seiner „ Physiologischen Aesthetik" hervorzuheben .
Es kann indessen hier kein absoluter Unterschied gezogen
werden ; denn Annehmlichkeiten , welche aus gewissen Er
regungen der Sinne abgeleitet werden , sind häufig mit Muskel
thätigkeiten verbunden und von solchen abhängig , und ferner
werden die aus Muskelthätigkeit, welcher Art diese auch sein mag,
hervorgehenden Annehmlichkeiten ausgeführt unter der Leitung
der Sinne. Überdies ist mit beiden gewöhnlich eine starke Ge
müthserregung verbunden, welche bedeutungsvoller ist als beide.
Doch ist der Unterschied ein natürlicher, und Mr. GRANT ALLEN
hat ihn über allen Zweifel sicher gestellt.
Selbst Menschen asketischer Sinnesart verschmähen jene
Freuden , intellectuelle und gemüthliche , nicht, welche das Reisen
gewährt. Das Aufsuchen der ästhetischen Genüsse , welche
schöne Scenerie , die Berge, das Meer bieten, ――― an erster Stelle
diejenigen, welche unmittelbare Folgen der durch die Formen und
Farben erzeugten Gesichtseindrücke sind , hauptsächlich , und
secundär aber diejenigen , welche von den durch Association
angeregten poetischen Empfindungen ausgehen, ―― wird von Allen
546 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VII.
§. 227.
Bei sämmtlichen vorstehend erwähnten Classen von Ver
gnügungen, welche als Resultat der überschüssigen Anregungen
der Lebenskräfte erscheinen , ist das Individuum wesentlich
passiv. Wir wenden uns jetzt zu der Classe , bei welcher es
hauptsächlich activ ist , eine Classe , welche wiederum in zwei
Classen unterabgetheilt werden kann, - in die des Sports und
die der Spiele . Mit den verschiedenen Formen des Sports hat
die Ethik nur wenig zu thun ausser der Abstufung ihrer Miss
billigung. Derartige Formen , welche das directe Verursachen
von Schmerz , besonders an Mitgeschöpfen im Gefolge haben,
sind nichts anderes als Mittel zur Befriedigung der von Wilden
der niedrigsten Art ererbten Gefühle. Dass es nach diesen
Tausenden von Jahren socialer Erziehung noch so Viele giebt,
welche sich an den Zweikämpfen im Preisringen oder an dem
Aufgespiesstwerden von Pferden und Reitern bei Stierkämpfen
erfreuen , beweist , wie langsam die Instincte der barbarischen
Zeit unterdrückt werden . Kein verdammendes Urtheil über
diese blutgierigen Vergnügungen , welche die allerschlechtesten
Theile der menschlichen Natur lebendig erhalten und dadurch
das sociale Leben auf's Tiefste schädigen , kann zu stark sein.
In einem gewissen , wenn schon in einem geringeren Maasse,
muss natürlich ein verdammendes Urtheil auch über den Sport
§. 227. Vergnügungen. 549
-
der Jagden ausgesprochen werden , in geringerem Maasse, weil
als theilweiser Beweggrund das Erlangen von Nahrung dazu
tritt , weil das Zufügen von Schmerz weniger augenfällig ist,
und weil das hauptsächlichste Vergnügen die erfolgreiche Auf
wendung von Geschicklichkeit gewährt . Es kann indessen nicht
geleugnet werden, dass alle Thätigkeitsäusserungen, mit welchen
das Bewusstsein verbunden ist, dass damit andern empfindenden
Geschöpfen , mögen sie auch noch so tief unter uns stehen ,
Leiden verursacht werden , in einem gewissen Grade demorali
sierend wirken . Es ist allerdings möglich, dass die Sympathien
so weit specialisiert werden können, dass die nämliche Person ,
welche mit wild lebenden Thieren keine Sympathie hat, für ihre
Mitmenschen in hohem Maasse Mitgefühl besitzt ; aber es kann
nicht ein voller Betrag von Sympathie in der einen Beziehung
vorhanden sein und in der andern fehlen . Es kann noch hinzu
gefügt werden, dass das Specialisieren der Sympathien noch die
Wirkung hat , dass sie in dem Verhältnisse kleiner werden , in
welchem der Abstand von der menschlichen Natur grösser wird ,
und dass daher das Tödten eines Hirsches mehr gegen sie ver
stösst als das Tödten eines Fisches.
Jene Formen des Aufwands von Lebenskraft , welche die
Form der Spiele annehmen , gewähren Freuden , welchen durch
in ihrem Gefolge auftretende Schmerzen nur geringer , wenn
überhaupt irgend ein Abbruch geschieht. Gewisse Formen , wie
Fussball, sind allerdings ebenso sehr zu missbilligen wie Sports,
da sie brutalisierender sind als manche Formen dieser ; auch
können jene Wettleistungen , sogenannte Spiele , wie Wettrudern ,
nicht besonders ethisch gebilligt werden, bei welchen eine schmerz
hafte und häufig schadenstiftende Überanstrengung des Körpers
durchgemacht werden muss, um einen Sieg zu erringen, der nach
der einen Seite Freude macht , auf der andern Schmerzen ver
ursacht. Jene Spiele finden aber ethische Gutheissung , mit
welchen, bei einem mässigen Aufwande von Muskelanstrengung,
die Anregung einer nicht zu intensiven Concurrenz verbunden
ist, eines Wettkampfes , der durch die wechselnden Zufälle des
Streites von Augenblick zu Augenblick lebendig erhalten wird.
Unter diesen Bedingungen sind die Thätigkeitsäusserungen der
Muskeln wohlthätig, die Ausbildung des Wahrnehmungsvermögens
ist nützlich, während dem gemüthlichen Vergnügen nur geringer
550 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VII.
E
§. 228.
Ehe ich zu der altruistischen Seite der Vergnügungen über
gehe, muss noch eine weniger allgemein anerkannte egoistische
Seite erwähnt werden . Wenn sie nicht während ihres ganzen
Lebens sich ein Interesse an Zeitvertreib bewahrt haben , so finden
sich Die, welche in Folge von Überarbeitung heruntergekommen
sind (vielleicht ein ihnen durch gebieterische Pflichten auferlegt
gewesenes Überarbeiten) , gewöhnlich nicht im Stande , sich in
irgend einer befriedigenden Weise zu erholen : sie können sich
nicht mehr vergnüglich unterhalten . Die Fähigkeiten zu allen
übrigen Vergnügungen sind verkümmert , und das einzige Ver
gnügen für sie ist nur das , was der Beruf giebt. In solchen
Fällen wird eine Wiederherstellung, wenn nicht ganz verhindert,
so doch durch das Fehlen von aufheiternden Beschäftigungen
in hohem Maasse verzögert. Häufig leiden die in abhängigem
Verhältnisse Stehenden hierunter.
Diese letzte Betrachtung zeigt , dass diese Classen von
E
Handlungen, gleich andern , welche ursprünglich das Individuum
betreffen , in gewisser Ausdehnung auch andere Individuen be
treffen . Sie betreffen aber andere Individuen auch noch auf
eine noch directere und beständigere Art. Jeder Person liegt
nicht allein die gebieterische Verpflichtungob , sein Leben so
zu führen, dass eine unbillige Störung der Lebensführung Anderer
vermieden wird, und die nicht weniger gebieterische Verpflich
tung, unter verschiedenen Umständen Andere beim Führen ihres
Lebens zu unterstützen, sondern es liegt ihnen auch eine gewisse
Verpflichtung ob , die Freuden des Lebens Anderer durch Ge
selligkeit zu erhöhen und durch Pflege jener Kräfte , welche
zur Geselligkeit führen . Ein Mensch kann eine ganz gute öko
nomische Einheit in der Gesellschaft sein, während er im Übrigen
eine beinahe werthlose Einheit bleibt. Wenn er keine Kennt
nis von den Künsten , keine ästhetischen Empfindungen , kein
552 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VIII.
VIII . Capitel.
Ehe.
§. 229.
Bis hierher ist , wenn nicht absolut , aber doch mit hin
reichender Deutlichkeit die Unterscheidung zwischen der Ethik
des individuellen Lebens und der Ethik des socialen Lebens auf
recht erhalten worden ; wir kommen aber in diesem und dem
folgenden Capitel zu einem Theile der Ethik, welcher in einem
gewissen Sinne zwischeninne steht. Denn bei den Beziehungen
der Ehe und der Elternschaft werden Andere betroffen , nicht
beiläufig und indirect, sondern nothwendig und direct. Während
die ursprüngliche ethische Gutheissung der sich aus ihnen er
gebenden Seiten des Betragens auf die gehörige Erfüllung des
individuellen Lebens bezieht, so sind diese doch nicht zu trennen
von jenen Seiten , die sich auf das Betragen beziehen , welches
wegen seiner Wirkungen auf die Umgebenden ethisch zu billigen
oder zu missbilligen ist.
Wir wollen zuerst einen Blick werfen auf die allgemeine
Verpflichtung, welche auf dem Individuum zur Unterstützung der
Erhaltung der Art liegt, während es den Anforderungen seiner
eigenen Natur genügt.
§. 230. Ehe . 553
§. 230.
In den " Principien der Biologie " (§§ . 334-351 ) wurde der
nothwendige Antagonismus erklärt zwischen individueller Aus
bildung und Reproduction , - zwischen der Aneignung von
Nahrung und Kraft für die Zwecke des individuellen Lebens , und
der Aneignung derselben zum Grundlegen für die Entwicklung
und Ernährung anderer Leben. Die extremen Fälle , in denen
nach einer Existenz von einigen wenigen Stunden oder einem
Tage der Körper des Erzeugers sich theilt oder in zahlreiche
Keime neuer Individuen zerfällt, und die weniger extremen Fälle,
in welchen ein kurzes Dasein der elterlichen Form mit der Um
wandlung der Haut in eine schützende Kapsel endet , während
das Innere ganz in junge Individuen umgewandelt wird , er
läutern in nicht misszuverstehender Weise das Aufopfern des in
dividuellen Lebens zur Erhaltung des Lebens der Art. Es wurde
gezeigt, dass , wenn wir in der Stufenleiter aufsteigend zu Ge
schöpfen eines complicierteren Baues und grösserer Beweglich
keit und besonders , wenn wir zu Geschöpfen , bei denen die
Jungen ernährt werden müssen, kommen, der Aufwand des elter
lichen Lebens zur Hervorbringung und zum Aufziehen anderer
Leben allmählich geringer wird . Ferner sahen wir nach der
Betrachtung der "" verschiedenen Interessen der Species, der Er
zeuger und der Nachkommenschaft " in den „ Principien der
Sociologie" (§§ . 275-277) , dass bei der menschlichen Species
eine solche Versöhnung dieser Interessen erreicht worden ist,
dass mit der Erhaltung der Rasse nur mässige individuelle Opfer
Hand in Hand gehen ; und weiter, dass wir mit dem Aufsteigen
von niedrigeren zu höheren Typen der Menschen uns dem Ideal
einer Familie nähern , in welcher 99 die Sterblichkeit zwischen der
Geburt und dem zeugungsfähigen Alter auf ein Minimum sinkt,
während die Unterordnung des Lebens der Erwachsenen unter
die Aufzucht der Kinder auf das möglichst kleine Maass zurück
geführt ist. "
Schliesslich bleibt indessen der Antagonismus zwischen der
individuellen Ausbildung und der Reproduction in Geltung, und
zwar gilt er in einer directen Weise , weil die Reproduction
nothwendigerweise körperliche Ansprüche macht , und gilt in
indirecter Weise , wegen der durch die Aufzucht der Kinder
554 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. VIII.
§. 231 .
Verlassen wir hier diese Betrachtungen , welche vielleicht
mehr zu der Ethik des socialen Lebens als zur Ethik des in
dividuellen Lebens gehören , und kehren wir zur Betrachtung der
Ehe als einem Theile des individuellen Lebens zurück, so haben
wir zuerst ihre ethische Gutheissung, als in dieser Art aufgefasst,
zu erwähnen. Alle Thätigkeitsäusserungen zerfallen in zwei
grosse Gruppen : diejenigen, welche das Leben des Individuums
ausmachen und erhalten , und diejenigen, welche das Leben der
Rasse fördern ; und hier scheint der Schluss gestattet zu sein,
dass , wenn zur vollkommenen Gesundheit die zu dem einen bei
tragenden Organe einzeln ihre Functionen ausführen müssen,
§. 231. Ehe. 555
Tel
Belmez es auch die zu dem andern beitragenden Organe thun müssen.
Ba
Zustande nicht verlangt werden ; und daraus geht eine Zunahme der
intellectuellen Stetigkeit und des Sinnes für Gleichmaass hervor.
Es muss indessen bemerkt werden , dass die von der Ehe
zu erwartenden wohlthätigen Wirkungen, - als einem grossen ,
im andern Falle verhältnismässig unthätig gelassenen Theile der
el menschlichen Natur einen Wirkungskreis gebend , ――― eine nor
male Ehe, eine Ehe aus Liebe , zur Voraussetzung haben. Wenn
es statt dessen eine von der , ethisch zu missbilligenden Art
eine Geschäftsheirath ist, dann dürfte eher eine Erniedri
gung als eine Erhebung folgen .
§. 232 .
Jetzt kommen wir aber zu einer schwierigen Frage . Wenn
auf der einen Seite die Ehe , als eine Bedingung zur Erfüllung
des individuellen Lebens darbietend , ethisch gutgeheissen und
geradezu ethisch vorgeschrieben wird, und wenn auf der andern
Seite alle Handlungen , welche gewiss oder wahrscheinlich Übel
- Miss
im Gefolge haben , ethische Missbilligung erfahren ,
billigung , wenn das Übel wahrscheinlich nur das Individuum
selbst trifft , und noch mehr , wenn vorauszusehen ist , dass das
Übel Andere überkommt : was haben wir dann von unbedachten
Ehen zu sagen?
Die Wahrheit braucht nicht noch besonders betont zu wer
den , dass , wenn häusliche Verantwortlichkeiten übernommen
werden, ohne eine genügende Aussicht ihnen gerecht werden zu
können, ein Unrecht geschieht : besonders gegen die Kinder und ,
als selbstverständliche Folge , gegen die Rasse . Einen Schritt
zu thun, welcher zum Resultat einen von Armuth heimgesuchten
Hausstand mit halbverhungerter und halbbekleideter Familie
haben wird , ist , wenn er nach dem ihm folgenden Elend ab
geschätzt wird , einem Verbrechen sehr ähnlich . Wenn nach
langen Jahren des Kummers , der Sorgen , der Kälte und des
Hungers für Erwachsene und Kinder , einige von den vielen
Gebornen bis zur Reife aufgezogen sind , schlecht aufgewachsen ,
ungesund und der zur Selbsterhaltung nothwendigen Anstrengun
gen unfähig, so ist es ganz offenbar, dass Wesen hervorgebracht
worden sind , welche sich selbst und der Gemeinde ein Fluch
sind . Über das Betragen , welches derartige Folgen hat , muss
eine scharfe Verurtheilung ausgesprochen werden .
36 *
558 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VIII.
§. 233.
Was hat aber die Ethik zu sagen betreffs der Wahl bei
der Ehe - die Wahl einer Frau seitens des Mannes und eines
Gatten seitens der Frau ? Sie hat sehr entscheidende Dinge zu
sagen.
Die gewöhnliche Conversation beweist, wie tief die geläufigen
Gedanken und Empfindungen über diese Frage stehen. „ Das
wird eine sehr gute Partie für sie sein , " ist eine Bemerkung,
welche man hört in Bezug auf irgend ein junges Mädchen, das
mit einem wohlhabenden Manne verlobt ist. Oder, wenn es sich
um die Wahl irgend eines jungen Mannes handelt, wird gesagt :
„Sie ist ein sehr gebildetes Mädchen und aus einem guten
Kreise ; ihre Freunde werden sich bemühen , ihn in seinem Be
§. 233. Ehe. 561
§. 234 .
Es bleibt noch eine Frage übrig, welche regelmässig über
gangen wird , weil ihre Erörterung schwierig ist , deren Ver
nachlässigung aber mit zahllosem Missgeschick beladen ist ,
eine Frage, betreffs deren die Ethik in ihrer umfassenden Form
ein Urtheil zu sprechen hat und, ohne ihre Functionen zu ver
nachlässigen, abzugeben nicht ablehnen kann.
§. 234. Ehe. 563
idchen, by.
Das Wort : „ der Buchstabe tödtet , aber der Geist macht
en ihre
lebendig" wird nicht bloss durch die Art erläutert , in welcher
lewezz
Viele Te die Beobachtung religiöser Ceremonien die wesentlichen Vor
schriften der Religion ersetzt , sondern es wird allerorten be
dass
stätigt . Wie in dem ursprünglichen Rechtssystem der Römer,
h sind we
ehe es durch die Einverleibung des Jus Gentium Einschränkungen
atersca
erfuhr , das Wesentliche die Erfüllung von Formalitäten war,
WeiseP
mehr als die Behauptung des Rechts , - wie bei uns selbst die.
Thatsache , dass die Gerechtigkeit den technischen Formen der
nize
Gesetze geopfert wurde, zu dem ergänzenden System der Billig
keit geführt hat, dazu bestimmt, die sich ergebenden Ungerechtig
stareFa keiten gut zu machen , - wie ferner in dem System der Billigkeit
1-lassen die Beobachtung von Regeln und das Anpassen an Verordnungen ,
beth sich immer verwickelter gestaltend , im Verlaufe der Zeit so
issen, 8.22 schwerfällig und lästig wurde, dass die aus den Augen verlorene
t fürsor Billigkeit durch Unbilligkeit, oder Ungerechtigkeit, ersetzt wurde ,
nen Eer so ist es überall. Wo nur immer Erfordernisse , welche ihre
gewisseTer Wurzeln in der Natur haben , dahin gelangen , von einer von
1
massize aussen kommenden Autorität aufgenöthigt zu werden , da nimmt
eiFrase der Gehorsam gegen diese äusserliche Autorität die Stelle des
gt - 3 Gehorsams gegen die natürlichen Anforderungen ein .
Wella M Dies gilt in einem ansehnlichen Grade für die Ehe . Ich
mer den x meine hier nicht bloss , dass angenommen wird , Verbindungen
an: das einer wesentlich ungesetzlichen Art würden durch einen kirch
us. Esit lichen Act oder durch Eintragung legitimiert ; ich meine noch
Vol mehr. Ich meine, dass angenommen wird, wenn die bürgerlichen
Vorschriften erfüllt worden sind und die kirchliche Sanction
nwiri
Ab erlangt worden ist, sei keine weitere Controle anzuerkennen ,
Weria wenn die religiösen Beschränkungen und die socialen Beschrän
rung des Lebens der Species besteht ; es ist aber auch nicht
weniger wahr, dass vom Anfang bis zum Ende das letztere dem
ersteren eine Grenze setzt . Wir haben nur zu bedenken , dass,
so entzückt auch die Mutter ist, wenn sie ihrem Kinde Nahrung
giebt, sie doch eine ernstliche körperliche Einbusse zu erleiden
hat ausser der körperlichen Einbusse , welche für sie mit der
Erzeugung des Kindes schon verbunden gewesen ist ; wir sehen
dann, dass, so gross auch die mütterliche Befriedigung sein mag,
sie bringt einen Verlust an Befriedigungen mit sich , welche ein
höher entwickeltes individuelles Leben ihr gebracht haben könnte,
und dass, wenn viele Kinder produciert und aufgezogen werden,
die Opfer am individuellen Leben und an den Freuden , welche
eine höhere Entwicklung mit sich bringen würde , sehr gross
werden. Dieses Gesetz hat unvermeidlich während der ganzen
-
Dauer der reproductiven Function vom Anfang bis zum Ende
ebenso mit dem Anfangspunkte wie mit dem endlichen Ausgange
- seine Gültigkeit ; und Vernachlässigung desselben, oder Gleich
gültigkeit gegen dasselbe , bringt tiefgehende , körperliche und
geistige Schädigungen mit sich . Wenn die physiologischen Be
schränkungen nicht beachtet werden , wird das Leben in jeder
Weise untergraben.
Wenn aus den sämmtlichen Hülfsquellen , welche die er
haltenden Organe an Material und an Kräften darbieten , der zur
Fortführung des individuellen Lebens erforderliche Theil bis über
das normale Verhältnis in Anspruch genommen wird, und zwar
von den naturgemäss dem Leben der Species vorbehaltenen
Theile, dann tritt eine Verminderung der Lebenskraft ein, welche
die vitalen Vorgänge und alle davon abhängenden Vorgänge
berührt. Es treten chronische Störungen der Gesundheit , ver
minderte körperliche Lebhaftigkeit , Sinken der geistigen Kräfte
und zuweilen sogar geistige Störung ein. In Folge des in dieser
Weise herbeigeführten Unheils , selbst wenn es noch nicht so
extrem sein sollte, findet sich das über die Familie und Andere
gebrachte Unheil ein ; denn die Unfähigkeit, Verpflichtungen zu
erfüllen, niedergeschlagene Stimmung und gestörter Geisteszustand
schädigen unvermeidlich die Individuen der Umgebung . Meh
rere Specialisten , welche reichliche Mittel zur Beurtheilung
haben , stimmen in der Ansicht überein , dass die aus Excessen
dieser Art sich zusammenhäufenden Übel grösser sind als
S
§. 235. Elternschaft . 565
st abe ..
die aus Excessen aller andern Arten entstehenden zusammen
de das
zu bes genommen.
rem Kink Wenn daher die Ethik , richtig aufgefasst, ein Urtheil über
das ganze, die unmittelbare oder entfernter liegende Wohlfahrt
des eigenen Selbst oder Anderer , oder Beides , beeinflussende
le fire.
Betragen ein Urtheil zu fällen hat , dann muss sie den Mangel
sen istr
an Selbstbeschränkung, welchen sie in andern Fällen verdammt,
riedi
auch in diesem Falle verdammen .
it sich F
DÍACTCE
Frenta
Türde. IX . Capitel.
treat
Elternschaft .
his r
nike §. 235.
Then de Der in diesem Capitel zu behandelnde Gegenstand ist natür
lich nur zum Theile von dem im letzten Capitel behandelten zu
trennen. Obgleich es indessen bei der Erörterung der Ethik
Leber: der Ehe , als an erster Stelle die Beziehungen der Eltern zu
einander betreffend , nothwendig war , die Beziehungen der Er
welde zeuger zu der Nachkommenschaft in Betracht zu ziehen, so hat
artitia es doch als das Beste geschienen , die ausführliche Betrachtung
DeThe dieser letzten Beziehungen einem besondern Capitel vorzu
wird: behalten.
Tarte Es ist bereits hervorgehoben worden, dass nach der Ordnung
raft der Natur ― ,,so sorgsam für den Typus . . . so sorglos in
Men T Bezug auf das Einzelleben " ------- die Wohlfahrt der Nachkommen
sade den Vorrang vor der Wohlfahrt derer erhält, welche jene her
vorbringen. Obgleich das Glück oder Unglück des verheiratheten
Paares gewöhnlich das hauptsächlich in Betracht gezogene Re
BOCC sultat ist, so muss dieses Resultat doch als von untergeordneter
eca Bedeutung angesehen werden im Vergleich mit den in den Nach
Robert kommen erzielten Resultaten der Superiorität oder Inferiorität
der gebornen und bis zur Reife erzogenen Kinder. Denn im
X-PET Verhältnisse , wie die Erhaltung der Rasse gut oder schlecht
erreicht wird, muss sich bei der Art oder Varietät die Neigung
Beat
zeigen, gut weiter zu gedeihen oder herabzukommen.
Es müssen daher alle die Erfordernisse , welche das nächst
S
566 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap . IX .
§. 236.
Offenbar sichern die elterlichen Instincte in hohem Maasse
die Erfüllung dieses obersten Zweckes, denn eine jede Art oder
Varietät, bei welcher diese Instincte nicht stark genug sind ihn
zu erfüllen , muss sofort zum Aussterben gebracht werden . Wir
werden daher auf die Wahrheit geführt , dass die Erreichung
jener Freuden , welche die Elternschaft mit sich bringt , eine
doppelte Gutheissung erfährt , diejenige , welche die Ethik
des individuellen Lebens direct ergiebt , und diejenige , welche
indirect von der Ethik des socialen Lebens ausgesprochen wird.
Aber die Befriedigung der elterlichen Zuneigung ist, während
sie als ein Zweck an und für sich nicht unbeachtet gelassen
werden darf, doch , wie oben schon angedeutet wurde , haupt
sächlich als ein Sporn zur Erfüllung der elterlichen Verant
wortlichkeiten zu betrachten. Die Ordnung der Dinge wird
gestört, wenn dies Beides nicht in seiner natürlichen Beziehung
gehalten wird , wenn die Verantwortlichkeit, anstatt von den
Erzeugern selbst getragen zu werden , auf die Schultern Anderer
übertragen wird . Man könnte wohl gemeint haben, diese Wahr
heit sei zu augenfällig um erst noch ausgesprochen werden zu
müssen ; unglücklicherweise verhält es sich aber doch bei weitem
anders . Wir sind in böse Zeiten gekommen , in denen es dahin
gekommen ist , es für eine allgemein angenommene Lehre zu
halten , dass ein Theil der Verantwortlichkeit nicht von den
Erzeugern, sondern vom Publicum übernommen werden müsse,
ein Theil , welcher allmählich immer grösser wird und droht
das Ganze zu werden. Agitatoren und Gesetzgeber haben sich
zur Verbreitung einer Theorie verbunden, welche , logisch weiter
verfolgt, in die ungeheuerliche Folgerung ausgeht, dass es Sache
der Eltern ist, Kinder zu erzeugen, und Sache der Gesellschaft,
die Sorge um dieselben zu übernehmen . Die gegenwärtig in
Mode befindliche politische Ethik stellt ohne Zögern die Behaup
tung auf, dass ein jeder Mensch , während er als Erzeuger für
DR.
§. 236. Elternschaft. 567
forder
die geistige Cultur seiner eignen Nachkommenschaft nicht verant
icheZr.
wortlich ist , als Bürger , zusammen mit andern Bürgern für
1 GREE
die geistige Cultur der Nachkommen aller andern Menschen ver
letztam.
antwortlich ist ! Und diese widersinnige Lehre hat sich jetzt
so fest gesetzt , dass die Leute in Erstaunen gerathen , wenn
man sie leugnet. Eine sich von selbst verstehende Unwahrheit
hat sich in eine sich von selbst verstehende Wahrheit umgewandelt !
in b Hand in Hand mit dem beinahe ganz allgemeinen Aberglauben,
ine je dass die gesellschaftliche Ordnung ein Kunstwerk und nicht das
&g Product des Wachsthums ist , geht der nicht zu erschütternde
cht Glaube , dass Gesetzgeber , von ihren Wählern beeinflusst , mit
Vortheil eine der fundamentalen Einrichtungen , unter welcher
sich h sich die Natur im Grossen und Ganzen und die menschliche
Welle & Natur im Besondern bis hierher entwickelt hat, bei Seite setzen
diejenige können ! Männer , welche sich in geschäftlichen Speculationen
espn verschlagen gezeigt haben, Männer, welche sich bei Hetzjagden
P als gute Reiter bewähren und in ihren Grafschaften populär
eaubtety sind , Männer , welche bei Gerichtsverhandlungen gewandt sind
work . und einen schlechten Fall besser erscheinen lassen , Männer ,
welche einmal gute lateinische Verse geschrieben oder sich als
ers in Bezug auf die schlechte Aufführung der griechischen Götter
cben Be gelehrt erwiesen haben, vereinigen sich, organische Abhängigkeits
anstat verhältnisse, das Resultat einer Erziehung von Millionen Jahren,
Jalter A zu lösen . Männer , deren Bildung für die Ämter , welche sie
übernommen haben, von so wenig Belang ist, dass sie nicht ein
en wer mal einsehen, dass im socialen Leben Alles aus gewissen Zügen
des individuellen Lebens hervorgeht, dass das individuelle mensch
liche Leben nur ein specialisierter Theil des Lebens im Ganzen
Dtd 5
ist, und dass es daher, solange nicht die das Leben im Ganzen
De La
leitenden Wahrheiten begriffen sind , kein richtiges Verständnis
joht
des socialen Lebens geben kann , ―――― Männer , welche hiernach
denm
in Bezug auf die grossen Thatsachen , welche zu kennen haupt
11.
sächlich ihre Sache sein sollte, unwissend sind , haben versprochen ,
ن
den Befehlen von Leuten zu folgen , welche nicht bloss in Bezug
22hr
auf diese Thatsachen, sondern in Bezug auf das meiste Andere
ignorant sind. Die von den Ganzblinden gewählten Halbblinden
nehmen das Amt der Weltverbesserer auf sich ! Täglich an die
Entdeckung gewöhnt , dass feststehende Gesetze schlecht sind
und durch Parlamentsbeschlüsse abgeschafft werden müssen,
568 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IX.
§. 237.
alles Let
Die Zeit wird kommen , wo Hand in Hand mit der voll
ständigen Anerkennung der elterlichen Pflichten ein hartnäckiger
je bes
Widerstand gegen die unrechtmässige Anmaassung dieser Pflich
ist, be
ten auftreten wird . Während der Erzeuger , wie er es thun
ZeitFe
soll, gewissenhaft allen den Anforderungen genügen wird, welche
seine Vaterschaft mit sich bringt, wird er es einer jeden Vereini
Fuze e
gung von Menschen fest verweigern , seine Kinder von ihm fortzu
៦ . nehmen und sie nach ihrem Belieben zu modeln . Wir haben
etzung die Stufe überwachsen, auf welcher der Despot, mit einer Armee
Ebtenat hinter sich, seinen Willen allen Staatsbürgern auflegen konnte ;
'n sind wir haben aber den Zustand noch nicht überwunden , auf welchem
cht ertz eine Majorität von Staatsbürgern , mit der Polizei hinter sich,
elches ha den nicht zu ihrer Zahl gehörigen Staatsbürgern ihren Willen
TD vorschreiben kann in Bezug auf alle nur möglichen Dinge. Wenn
and aber dieser verachtungswürdige Aberglaube , dass die Majorität,
als im Besitze der Macht befindlich, auch im Besitze des Rechtes
ilt sa: ist, nach ihrem Belieben über die Personen und das Eigenthum
Paphinige
und die Handlungen derer , die zufällig in der Minorität sind ,
und al schalten und walten zu können , vorübergegangen ist , ―――――― wenn
llschar * man zu der Erkenntnis gelangt ist, dass Regierungsmaassregeln
ter SU an ethischen Vorschriften ihre Schranken finden : dann wird
afte jeder Erzeuger seinen Wirkungskreis als einen betrachten , in
night welchen der Staat nicht eindringen darf. Und wenn unter solchen
ten de Verhältnissen gelegentlich , wenn auch selten , einmal der Fall
eintritt, dass die elterlichen Pflichten nicht erfüllt werden, dann
nicht,& bringen die dadurch veranlassten üblen Folgen , nach dem starren
breai e Gange der Natur, ihre Heilung von selbst mit sich. Denn beim
where Menschen gilt , wie bei niedrigeren Geschöpfen , die Thatsache ,
medi dass die schlecht aufgebrachte Nachkommenschaft der Minder
Isp werthigen im Kampfe um's Dasein mit der gut aufgezogenen
لللا Nachkommenschaft der Vorzüglicheren unterliegt und nach einer
Term richtig ; die Natur übt aber eine Zucht aus, welche vielfach hart
TENS ist , und welcher doch auf die Länge gehorcht werden muss .
T
570 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IX
§. 238.
Irgend etwas einer gehörigen Erfüllung elterlicher Verpflich
tungen, wie sie hier aufgefasst werden , Ähnliches ist nur unter ge
wöhnlich unbeachtet gelassenen Bedingungen möglich Be
dingungen , von deren Nichtbeachtung angenommen wird , dass
sie nicht in das Bereich der ethischen Beurtheilung falle.
SPENCER, Principien der Ethik. I. 37
572 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IX.
„ Die Vorsehung hat mir eine grosse Familie geschickt, " ist
eine Bemerkung, welche gelegentlich von Jemand gehört werden
kann, welcher mehr Kinder hat als er versorgen kann . Obgleich
er sich in andern Beziehungen nicht zu einem orientalischen
Fatalismus bekennt , in dieser Beziehung thut er es. " Gott hat
es so gewollt, " scheint sein Gedanke zu sein ; und indem er so
denkt , hält er sich für befreit von Tadel dafür , dass er die
Kümmernisse eines von Armuth gedrückten Hauswesens über
sich gebracht hat.
Wenn indessen unbedacht eingegangene Ehen missbilligt
werden müssen , ――――― wenn das zur Welt- Bringen von Kindern .
wo wahrscheinlich die Mittel , irgendwelche zu erhalten , nicht
vorhanden sein werden, ein die Verurtheilung herausforderndes
Betragen ist, dann müssen auch die verurtheilt werden, welche
viele Kinder zur Welt bringen , wenn sie nur die Mittel haben.
deren nur wenige aufzuziehen. Unbedachtsamkeit nach Ein
gehen der Ehe kann nicht als recht betrachtet werden , wenn
Unbedachtsamkeit vor der Verheirathung für unrecht an
gesehen wird.
Die verkümmerten und übelgestalteten Körper der Bewohner
des Ostendes von London erzählen von der mageren Kost und
der mangelhaften Kleidung , unter denen die vielen Kinder von
Eltern mit knappen Mitteln während ihrer ersten Lebensjahre
gelitten haben ; und selbst in Dörfern auf dem Lande , wo die
sanitären Zustände verhältnismässig gut sind, kann man an den
schwächlichen und kränklichen Menschen die Resultate der Ver
suche sehen, grosse Familien bei geringem Lohne aufzubringen.
Während diese unüberlegte Vermehrung die sich täglich er
neuernden Leiden nicht befriedigten Hungers und das Elend
unzureichender Erwärmung mit sich bringt , - während ihr
jener Mangel an körperlicher Kraft zur Last zu legen ist, welche
eine ausgiebige Arbeit unausführbar macht, bringt sie auch ge
wöhnlich eine geistige Stumpfheit mit sich, welche alle mit Aus
nahme der allermechanischsten Leistungen unmöglich macht ;
denn geistige Kraft kann nicht von schlechtgenährten Gehirnen
ausgehen. Unglückliches und mühsames Leben ziehen sich hier
nach Eltern zu , welche mehr Kinder hervorbringen als sie ordent
lich aufziehen können.
Die Dinge werden ferner dadurch noch schlechter gemacht,
§. 239. Elternschaft . 573
12
dass den Eltern selbst eine ungehörige Last aufgelegt wird , -
dem Vater , wenn er gewissenhaft ist , durch eine nachtheilige
Q1 Arbeitsmenge, und noch mehr der Mutter, deren Körper, schon
erschöpft durch die Geburt so vieler Kinder, noch weiter durch
die Sorgen erschöpft wird, welche Tag für Tag die vielen Kinder
beanspruchen. Die hedonistische Ethik, wenn wir sie als ganz
Da
besonders die unmittelbaren Wirkungen auf das Glück in Be
T
tracht ziehend auffassen, verurtheilt offenbar streng ein Betragen ,
welches in dieser Weise Elend rings um sich her hervorruft,
während die evolutionistische Ethik, wenn wir sie als ganz be
sonders die zukünftigen Resultate in Betracht nehmend ansehen ,
ein Betragen streng verurtheilt , welches hiernach niedriger
stehende Naturen anstatt höherer den späteren Generationen
ande übermittelt.
Mit: Selbst wo Eltern hinreichende Mittel besitzen , für die körper
13. liche Wohlfahrt vieler Kinder in ausreichendster Weise zu sorgen,
PRE
muss doch immer die Vorsorge für ihre geistige Wohlfahrt un
genügend sein . Wenn schon in einer Familie mit mehreren
Kindern diese sich unter einander ergötzen und einander lehren
und in dieser Weise gegenseitig ihr geistiges Wachsthum unter
stützen, so wird doch, wenn ihre Zahl zu gross wird , die elter
liche Aufmerksamkeit, welche sie einzeln nöthig haben, zu sehr
vertheilt, und die tägliche Entfaltung elterlicher Liebe, welche
bei der moralischen Entwicklung der Kinder ein bedeutsamer
9.2
§. 239.
Dem ethischen Tadel dieser unbedachten Vermehrung muss
3
„ Die Frauen haben selten mehr als zwei oder drei Kinder, und
es besteht ein Gesetz , dass eine Frau , wenn sie ein Kind geboren
37*
574 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IX.
hat, zwei Jahre lang von ihrem Manne getrennt leben muss , in wel
"
chem Alter die Kinder entwöhnt sind.
Bei einem noch brutaleren Volk, - den Fidschi-Insulanern,
finden wir eine ähnliche Thatsache . SEEMANN sagt :
"" Nach der Geburt eines Kindes leben Mann und Frau für drei,
selbst vier Jahre getrennt von einander, so dass kein anderes Kind
störend in die Zeit fällt, welche für das Stillen der Kinder als noth
wendig angesehen wird . ...
. . . Ich hörte von einem Weissen erzählen,
welcher auf die Frage , wie viel Brüder und Schwestern er habe,
offenherzig geantwortet hatte, zehn ! " " Das kann aber nicht sein, "
war die Entgegnung der Eingebornen , „ eine Mutter kann kaum so
LL
viele Kinder haben. ' Als erzählt wurde, dass diese Kinder in jährigen
Zwischenräumen geboren wären und dass derartige Vorkommnisse in
Europa gewöhnlich wären, waren sie sehr verwundert und glaubten, dass
es hinreichend erkläre, warum so viele Weisse „blosse Knirpse " wären.
§. 240.
Wie sind denn nun die Interessen des Individuums und die
Interessen der Rasse mit einander auszusöhnen ? Diese Frage,
welche sich hier ganz unvermeidlich darbietet, ist eine schwierig ,
wenn nicht unmöglich zu beantwortende , --- vielleicht können
die beiden nicht mit einander ausgesöhnt werden.
Wie bereits viele Male gesagt worden ist, sind die Menschen
lange Zeit auf dem Wege gewesen , sich dem socialen Zustande
anzupassen , in welchen sie die Zunahme der Zahl gezwungen
hat , und haben sich nur theilweise demselben angepasst. Auf
vielfache Weisen hat das Überleben von Instincten , welche dem
praesocialen Zustande angemessen waren, eine chronische Ursache
von Elend abgegeben ; und auf vielfache Weise hat der Mangel
576 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IX.
X. Capitel.
Allgemeine Schlussfolgerungen.
1:
§. 241.
Der Titel dieser Abtheilung - " Die Ethik des individuellen
Lebens " www . hat in Betreff der möglichen Beschaffenheit ihres
Inhaltes eine öffentlich ausgesprochene Neugierde erregt. Es
kann Nichts ausser klugen Ermahnungen gemeint sein , so
wurde gedacht ; und es erregte offenbar Überraschung , dass
für diese eine ethische Sanction in Anspruch genommen werden
sollte .
Die sich in dieser Weise äussernde geistige Stimmung ist
meiner Ansicht nach keine ausnahmsweise. Das gewöhnliche
individuelle Leben , wenn es ein derartiges ist , dass es nicht
direct Andere zum Guten oder zum Bösen berührt , wird als
ausserhalb des Bereiches der Ethik liegend angenommen ; oder
11ܘ111
vielmehr, man denkt gewöhnlich über die Sache gar nicht weiter
nach. Da die Ethik, wie sie gewöhnlich aufgefasst wird, keinen
43
§. 242 .
Zweifellos muss dieses Herrschen von einer nicht scharf
bestimmten Art sein es dürfte mehr mit der Herrschaft eines
Suzerains als mit der eines factisch regierenden Herrschers zu
vergleichen sein. Denn über den grösseren Theil dieses Ge
bietes sind Compromisse zwischen verschiedenartigen Erforder
nissen zu schliessen ; und in der Mehrzahl der Fälle können
ethische Betrachtungen wenig mehr thun als uns auf vernunft
gemässe Compromisse hinzuführen .
Dies wird wahrscheinlich als eine Rückkehr zu der alten
Lehre vom Mittelweg angesehen werden , - eine in allgemein
unbestimmter Art , aber gelegentlich auch bestimmt von Cox
FUCIUS ausgesprochene und entschieden von ARISTOTELES durch
gearbeitete Lehre. Und es muss zugegeben werden, dass in den
meisten Classen von Handlungen, welche nicht direct andere Per
sonen berühren, die zwischen den Extremen liegenden Wege auf
gesucht und befolgt werden müssen . Die Lehre vom Mittel ist
nicht, wie ARISTOTELES annahm, ganz allgemein anwendbar ; ihre
§. 242 . Allgemeine Schlussfolgerungen . 579
J
das ihm Nichts Nehmen . Auch schreibt sie nicht den Angriff
auf einen Mitmenschen vor als zwischeninneliegend zwischen dem
ihn Tödten und dem ihn gar nicht Berühren. Im Gegentheile
besteht in Bezug auf Gerechtigkeit die Ethik auf dem Extreme
- schreibt vollständige Erfüllung eines Contractes , absolute
Achtung vor dem Eigenthum Anderer, gänzliches Fernhalten von
persönlicher Schädigung vor. Dasselbe gilt auch für die Wahr
haftigkeit . Das Rechte liegt nicht zwischen den beiden Extremen
der Falschheit und der Wahrheit : vollkommenes Beharren bei
der Thatsache wird gefordert. Und es giebt noch verschiedene
Arten des Verhaltens , welche als Sünden gerechnet , aber von
der Lehre des Mittels nicht in Betracht genommen werden , da
sie nicht nur theilweise , sondern gänzlich verboten werden
müssen. Was aber das gewöhnliche private Leben betrifft , so
kann man annehmen, dass die Lehre vom Mittelweg in der Mehr
zahl der Fälle gelten kann .
Aber dies zugegeben bietet sich doch noch immer die Frage
dar : Wie ist der Mittelweg zu finden ? Solange die Lage der
Extreme nicht ermittelt worden ist, kann die Lage des Mittels
nicht erkannt werden . Wie ganz richtig bemerkt worden ist :
" es ist unausführbar die Lage desjenigen zu bestimmen , was
auf der einen Seite excessiv , auf der andern Seite mangelhaft
ist , solange nicht Übermaass und Mangel selbst bestimmt worden
sind . " Und hier ist es , wo die Ethik des individuellen Lebens
ihren Gegenstand findet. Sie ersetzt die Leitung durch einen
nicht gebildeten Sinn , welcher gewöhnlich im privaten Verhalten
durchaus gefolgt wird , durch eine Leitung , welche zwar der
580 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. X.
2
§. 243.
[ Die Erinnerung an diese Schlussfolgerungen weist darauf
hin , dass ausser dem Darbieten einer bestimmten Auffassung
vom Mittelweg, wo ein solcher einzuhalten ist, die Ethik des in
dividuellen Lebens auch einer verwandten Idee Bestimmtheit
giebt , - der Idee des Maasshaltens. Ich meine hier nicht
jenes Maasshalten , welches in der Lehre vom Mittel enthalten
ist und zugleich ein gerechtes Abschätzen von Übermaass und
Mangel bezeichnet ; ich meine vielmehr jenes Maasshalten, welches
in Bezug auf verschiedene Theile des Verhaltens besteht.
Während innerhalb einer jeden Abtheilung der Thätigkeits
äusserungen die mittlere Stellung gehörig beachtet werden kann, so
kann doch das gehörige Beachten des Maasshaltens zwischen den
verschiedenen Gruppen der Thätigkeitsäusserungen fehlen. Es
giebt verschiedene Arten von körperlicher Thätigkeit , manche
sind zur Selbsterhaltung erforderlich und manche nicht ; es giebt
verschiedene Arten geistiger Thätigkeit, welche in verschiedenen
Weisen und Graden die Erhaltung des individuellen Lebens
unterstützen , und verschiedene andere , welche diese Erhaltung
nicht unterstützen oder dies nur auf entfernte Weise thun. Und
dann ist noch ausser dem Aufrechthalten eines richtigen Maass
verhältnisses zwischen den das Leben fördernden Beschäftigungen
und den Beschäftigungen, welche nicht direct dem Leben förder
lich sind, das Aufrechthalten der richtigen Verhältnisse zwischen
den Unterabtheilungen dieser letzteren zu beachten , ― rich
tige Maassverhältnisse zwischen Bildung und Unterhaltung und
zwischen verschiedenen Arten der Bildung und verschiedenen
Arten der Unterhaltung . Die Vorstellung eines Mittels berührt
die zahlreichen , sich hier darbietenden Probleme nicht , denn sie
enthält ein Compromiss zwischen zwei Dingen und nicht eine
Anzahl von Compromissen zwischen vielen Dingen.
Ein Jeder wird bei einem Blick um sich herum sehen, dass die
grosse Mehrzahl der Einzelleben mehr oder weniger dadurch ent
stellt ist, dass es nicht gelungen ist, zwischen den körperlichen und
geistigen , zu vollständiger Gesundheit und vollständigem Glück
erforderten Thätigkeitsäusserungen das Gleichgewicht aufrecht zu
halten, und dass daher hier viele Probleme vorliegen, mit welchen
sich die Ethik des individuellen Lebens zu beschäftigen hat.
582 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. X
§. 244.
Während aber diese Abtheilung der Ethik, deren Aufgabe
die Ordnung des privaten Verhaltens ist, durch ihre ausgesproche
nen Urtheile wohl dazu dienen kann , eine jede Art von Thätig
keit von einem gar zu weiten Abweichen nach beiden Seiten
der Mässigung abzuhalten , und während sie wohl dazu dienen
kann , äusserste Missverhältnisse zwischen den verschiedenen
Arten der Thätigkeiten zu verhindern , so kann doch nicht von
ihr erwartet werden , dass sie durch ihre Vorschriften ein voll
kommen reguliertes Betragen hervorbringt.
Nur durch das allmähliche Umgestalten der menschlichen
Natur in den Zustand des Tauglichseins für den socialen Zu
stand kann sowohl das private Leben als auch das öffentliche
Leben eines jeden Menschen zu dem gemacht werden , was es
sein sollte . In Bezug auf das private Leben besonders sind die
hier dargebotenen Probleme so compliciert und so veränderlich ,
dass nichts einer bestimmten Lösung derselben Ähnliches durch
irgendwelche intellectuellen Processe erreicht werden kann , so
methodisch und sorgfältig sie auch immer sein mögen. Voll
ständig können sie nur durch die organische Anpassung der
Constitution an die Bedingungen gelöst werden. Alle unter
geordneteren Geschöpfe , unfähig , wohlüberlegte Gesetzbücher
des Verhaltens auszuarbeiten , werden gänzlich durch die Ein
gebungen der Instincte und Verlangen geleitet , welche einzeln
den Bedürfnissen ihres Lebens angepasst sind . In jeder Species
werden die Empfindungen in ihrer Stärke den Anforderungen
ordentlich angepasst und in richtigem Maassverhältnisse zu
einander durch directes oder indirectes Gleichgewicht oder durch
beides , gehalten ; denn diejenigen Individuen , bei denen dies
Gleichgewicht nicht gut ist , verschwinden unvermeidlich oder
sind nicht im Stande Nachkommen zu erziehen . Es giebt Viele ,
welche zwar dies nothwendige Verhältnis als in den Lebenskreisen
unterhalb des Menschen anerkennen , aber doch stillschweigend
leugnen, dass es durch das ganze Leben des Menschen wirksam
ist, auf jeden Fall aber wenigstens seine Wirksamkeit ignorieren,
und sie thun dies trotz ihrer Kenntnis von den ungeheuren Ver
schiedenheiten der Gewohnheiten und Empfindungen , welche die
vielgestaltige Menschheit selbst unter den verschiedenen Um
en
§. 245 . Allgemeine Schlussfolgerung . 583
§. 245 .
ART Endlich muss noch eine Warnung ausgesprochen werden ,
nicht gar zu eifrig nach dem Erreichen des Ideals zu streben ,
2N HN AT
Anmerkung zu S. 237.
Eine Betrachtung, die sich mir erst nach dem Erscheinen der ersten
Auflage darbot, lasse ich hier andeutungsweise folgen, um eine Ände
rung der stereotypierten Platten zu vermeiden.
Wird die erbliche Übertragung moralischer so gut wie physischer
Eigenthümlichkeiten zugestanden , so ergibt sich daraus , dass egoistische
Menschen in der Regel egoistische Nachkommen haben werden. Was
folgt daraus? Erstens müssen die häuslichen Aufregungen verhältnis
mässig gross sein , denn das Benehmen selbstsüchtiger Kinder gegen
einander und gegen ihre Ältern führt tagtäglich zu Widerspruch und
Streitigkeiten. Zweitens werden solche Kinder , wenn sie erwachsen
sind, viel eher als andere dazu kommen, die Billigung ihrer Vorgesetz
ten zu verscherzen, sich ihre Freunde zu entfremden, und ihre Familie
durch ungehöriges Betragen oder sogar durch Verbrechen zu com
promittieren . Drittens haben die Ältern solcher Kinder abgesehen von
all dem auf solche Weise ihnen bereiteten Kummer schliesslich auch
noch den Schmerz zu ertragen, dass sie im Alter vernachlässigt werden.
Die Grausamkeit, die uns in extremem Grade bei manchen Wilden ent
gegentritt, welche ihre alterschwachen Genossen dem Hungertode über
lassen, zeigt sich auch, nur in geringerem Maasse, bei allen gefühllosen
Söhnen und Töchtern ihren gefühllosen Ältern gegenüber , und diese
haben in ihren alten Tagen in entsprechendem Grade von der erblich
übertragenen Härte zu leiden, als sie ihre Umgebung einst hart be
handelt hatten. BROWNING'S Geschichte in Versen 99 Halbert and Hob
liefert einen typischen Beleg für diese Wahrheit.
Das höchste Maass eigenen Glückes , das überhaupt durch das
Streben nach dem Glücke Anderer zu erringen ist, entspringt wohl un
streitig aus den Bemühungen für Kräftigung der altruistischen Gefühle
und dem Wiederauftreten solcher gekräftigter Gefühle bei den Kindern,
wodurch diese zu einer Handlungsweise angehalten werden, die für die
Ältern eine Quelle reinster Glückseligkeit wird.
NB
LATRONAS
Litteraturnachweise.
(Verweisungen zu Bd . I.)
- Zulus
§ 112. Veddahs (Bailey in T. E. S. L. N. S. II, 302)
(Call . pt. II , 146-147 ) - Australier (Smyth I , 107) - Tonga
Insulaner (Mar. II , 108 ) ――― Goldküste (Ellis , T. S. P. 11) Alte
Mexicaner (Zur. 138-141 ) - Hebräer (Schenk. V, 431 ; Bruch, 368 ;
Fritz V, XXXIV) ― Rig- Veda (R. V. I, 33 , 4 , 5 ; VI, 14 , 3 ; X,
81 , 7 ; IV , 17 , 16 ) - Ramses (R. P. II , 70) - Chryses (Hom.
"9 Iliade " , Lang, Buch 1 , 2 ) - Mittelalt. Europa (Brace 230) . § 113.
Assyrier (R. P. N. S. IV , 56 ; R. P. V, 8 ; XI , 49 ; IX , 42) -
Aegypter (R. P. II , 70-72 ) . § 114. Karenen (Mason in J. A. S. B.
XXXVII . P. II, 143) - Dakotas (Scho. IV, 70) - Irokesen (Morg.
--
119) Alte Inder (Mahab . XIII, 3880 ; Bhàvari in Wil . 459 ; Cural
in Con. 220) Chinesen (Alex . 117 , 254-255) ―― Aegypter (Renouf
72) . § 115. Bish. von Durham (Herald of Peace , Dec. 1890 )
L. Cranbrook (Standard, 12. Juli, 1889) - Dr. Moorhouse (Manchester
Examiner, 14. Mai , 1887 ) - Deutscher Kaiser (Zeitungen 18. Juni,
1888 ) . § 116. Malagassen (Drury 192) ――――――――――――― Hebräer (Bruch 34 )
Aegypter (Poole in Cont. Rev. Aug. 1881 , 286 ) - Mill (Mill 124).
§ 117. Otahitier (Howke II, 101-102 ) - Alte Indier (Maha . III,
1124 etc. ) ―――― Ramayana (Rich. 149 ) Chinesen (Edkins 85 , 179).
§ 120. Araber (Palgr. 10-11 ) - Russen (Niemo . II , 167)
Matelhapees (Licht . II , 306 ) - Araber (Baker 263 ) ――― Makalolo
(Liv. Zamb. 285) - Aequat. African. (Reade 260) - Araucanier
(Smith 214 ) ww Chinooks (Lewis & C. 439) - Tschucktschen (Erm. II,
530 , Anm .) ▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Mahabharata (Wheel. I, 121 ) - Franzosen (Leber
XIII, 10-11 ) ――――― Patagonier (Falk. 125 ) Dakotas (Irving 134)
-Eskimos (Crantz I, 154) - Kaffern (Thomps. II , 354) — Mayo
runas (Reade 158) Bambaras (Caillié , I, 398 ) .- Wakarivondo
(Thom . 487) Araber (Peth . 151 ) - Khonds (Macpherson in Perc.
345) ___ Tahitier (Cook in Hawke. II, 203) ――――――― Vateaner (Turn. # P. R. "
450) Fidschianer (Wilkes III , 103 ) . § 121. Innuiten (Hall II,
315) Alte Peruaner (Garci. II. Buch, 12. Cap. ) . § 126. Busch
männer (Liv. „ Miss. Trav. " 159) Uganda (Wils. & Fel. I, 224)
Beduinen (Burt. „ Pilgr. “ III, 66—67) ― Kukis (Rown. 187 )
Pathans (Temp . " Rep. " 63) . § 127. Alte Indier (R. V. I , 74 ; VII,
6, 2 ; VII, 32 , 7 ; Maha. XII , 5290 ; V, 5617) - Assyrier (R. P.
I, 49, 78 ; V, 9 ; ib. N. S. II, 137 , 143 , 153 ; IV, 61 ) - Sueven
(Caesar IV , 2 ; VI , 21 ) Mottos (Verschiedene Adelsregister) --
Wolseley (Wolse. 5 ) . § 128. Alte Indier (Maha . XIII , 5571 , in Wil .
448 ; Jones, Works, III, 242) Perser (Sadi I, St. 33 ; II, St. 4)
-Chinesen (Lao-Tsze, XXXI ; Confuc. Anal. XII, 19 ; Mencius, Book I,
P. I, Ch. 6 ; ibid. IV, I, 14 ) Sumatraner (Mars. 173) - Thârus
(Nesfield in Calc. Rev. 1885 , LXXX, 41 ) - Irokesen (Morg . 92 , 330).
§ 129. Fidschi-Insulaner (Ersk. 247 ; Will. I , 218 , 246—247)
Waganda (Wils . & Fel. I, 201 ) - Karl d. Gr. (Hallam 16). § 131.
-
Comanchen (Möll. I, 185) Patagonier (Snow II , 233) Ost-Afri
caner (Liv. 99 Miss . Trav. " 526) Kalmücken (Pallas I , 105 )
――――――――― Merv-Turkomanen
Kirghisen (Atkin . „ Amur “ 206 ; ib . Sib . 506 )
H
Litteraturnachweise [für Band I]. 587
I
(O'Don. II , 407 , 278) - Pathans (Temp . Rep . " 62) - Afridi
(Rown. 123-124) - Kukis (Dalt 45) - Mongolen (Gil. 273)
Angamis (Stewart in J. A. S. B. XXIV , 652 ) Chinooks (Waitz
III, 337) - Waganda (Wilson & Fel. I, 224) -- Fidschianer (Will
―――― Tvashtri und Indra
I , 127). § 132. Vishnu (R V. I , 61 , 7)
(Muir , O. S. T. V, 229 ; Wheel. I , 244) - Nordmänner (Dasent
XXXIV) Alte Deutsche (Caesar VI, 21 ) -- Franzosen (Ste . Pal.
II, 47) -- Dreissigjähr. Krieg (Gind. II, 393-397 ). § 133. Wald
Veddahs (Hartshorne in Fort. Rev. Mar. 1876 , 416 ) - Eskimos
(King in J. E. S 1848 , I, 131 ) ――――― Feuerländer (Darwin in Fitz.
III, 242 ; Snow I , 328) Neu-Guinea (Macgil. I , 270 ; Earl 80)
- Lette (Kolff 61) - Vera Cruz-Indianer (Baker in P. R. G. S.
1887 , Sept. , 571) - Thârus (Nesfield in Calc. Rev. LXXX , I, 41 )
-
Irokesen (Morg. 333). § 135. Australier (Grey II, 240) Sioux
(Burt , C. S. 125) ――――――― Guiana (Schom . I , 158) - Fidschi-Insulaner
(Will. I, 186 ) ――― Neu-Seelander (Thoms. II , 86) - Kukis (Macrae
in As. Res . VII, 189) Araber (Peth. 27) -- Ost-Africaner (Burt.,
C. A. II, 329) ―――― Japaner (Dening, Pt. II, 81 ) ― Alte Indier (R. V.
X , 87 ; VII, 104 ; Wheel. I, 287-288 , 290). § 136. Alte Indier
(Manu II, 161 ; VI, 47-48 , in Wil. 283 ; Cural in Con . 427)
Perser (Con. 226 ; Sadi II , St. 41 ; Hafiz in Jones III , 244)
Chinesen (Lao-Tsze LXIII ; Mencius , Buch V, Th. 1 , Cap . III ; Conf.
Anal. XIV , 36 ) . § 137. Lepchas (Campbell in J. E. S. L. July,
--
1869 , 150-151 ) . § 139. Philippinen (Fore. 213 ) Quianganen
-
(P. S. M. July , 1891 , 390) Araber (Burck. 84-85 ) . § 140.
Guiana (Im Thurn 213-214) . § 141. Alte Indier (Wheel. I, 102 ,
103 , Anm . ) Todas (Shortt in T. E. S. L. N. S. VII , 241 )
Bodo und Dhimals (J. A. S. B. XVIII , P. II , 744) - Hos (Hayes
in Dalt. 194) - Pueblos (Ban. I, 555 , 547) - Manansas (Holub
II , 206-211) ― Thárus (Nesfield in Calc. Rev. LXXX , 41) —
- Kirghisen
Let-htas (Fytche I, 343). § 144. Araber (Palgr. I, 37)
(Atkin. Sib . 506) ――――――― Ost-Africaner (Burt. , C. A. II , 274) - Fidschi
- Ainos
Insulaner (Wilkes III , 77 ; Jackson in Ersk. 460) (Bird
II , 101 ) Australier (T. E S. L. N. S. III , 246 ) Samoaner
(Jackson in Ersk. 415 ) ―➖ Kaffern (Licht 7 , 272) Africaner
(Wint. I, 213 ) -- Nordameric. Indianer (Morg . 327) ― Neu-Seelander
(Angas II, 22 ; Thoms. I, 191 , 98 ) St. Augustin-Insel (Turn. Samoa
292-293) . § 145. Buschmänner (Burch. II , 54) - Hottentotten
-
(Burch. II, 349 ; Kolben I , 165 ) Ost-Africaner (Liv. 29 Miss . Trav. "
――――――
601 ) Loango (Proyart in Pink. XVI , 565 ) - -— Australier (T. E. S. L.
N. S. III, 271) - Sandw.-Insulaner (Van. III, 21 ) - Guiana (Brett
276) -- Thibet (Bogle 110). § 146. Australier (Eyre I, 278 ; Sturt
I , 114 ; II , 105) - Tasmanier (Mered . I, 201 ) ― Tonga-Insulaner
(Mar. I, 228) . § 147. Alte Indier (R. V. X, 107 , 2 , 5 etc .; Manu
III, 105 , 106 ; IV, 29 ; III , 98) - Apastamba (Bühler 114 , 119 )
Perser (Shâyast XII, 4 in West 341 ; Sadi VIII , 60 ; ib . VIII , 2)
―――
Chinesen (Conf. Anal. VI , 28 ; VIII , 11 ; X, 15). § 148. Alte
SPENCER, Principien der Ethik . I. 38
588 Litteraturnachweise [für Band I].
――――
Deutsche (Tac. Germ. XXI) Christen (Lecky II, 93 ; Browne P. II,
§ 2). § 149. Neu-Seeländer (Angas I , 312 ; Cook in Hawke . III,
447 ; Thoms . I , 149) ― Ost-Africaner (Burt. , C. A. II , 333) -
Fidschi-Insulaner (Will. I , 55 , 133) ― Dakotas (Burt. , C. S. 124-125 )
- Nagas (Butler 58 ) Steins (Colq . Shans . 160) - Chryse (Colq
-
Chrysé II, 120 , 268) Malayische Stämme (Favre 97-100 , 8 , 73,
72 , 100-102 ) - Arafuras (Kolff 161-163 ) . § 150. Buschmänner
(Moffat 58 ; Licht . II, 195 ; Moffat 156) - Hottentotten ( Kolben I,
―
332, 165, 142 , 318 ) Dyaks (Boyle 223) . § 151. Karenen (Mason
in J. A. S. B. XXXVII , P. II, 144) - Honduras (Herr. IV, 141 )
- Loando (Monte I, 244 ) ――― Dahomeer (Burt . „ Miss . " I, 195 , Anm.;
ibid . II , 190 , Anm. ) - Ashantees (Burt . W. & W. 121 , 128 ) -
H
Damaras (Baines 243 ; Galt . 190) — Dahomeer (Burt. Miss . L
- ――――
345) Marutse (Holub II , 297) West- Africaner (Wolseley in
Fort. Rev. Dec. 1888 ) Prairie-Indianer (Burt . , C. S. 124-125)
Comanchen (Bollaert in J. E. S. 1850 , II, 269 ) . § 152. Griechen
(Grote II, 32 ) . § 153. Veddahs (Tenn . II, 445 ) -- Tanna-Insulaner
(Turn . " P. R. " 92) - Papuas (Jukes II, 248) - Dyaks (Boyle 215)
- Malagassen (Drury 230) - Eskimos (Hall II , 312 ) - Irokesen
――――――
(Morg. 171 ) Chippewähs (Scho. II, 139) - Araucanier (Thomps.
I, 416 , 403 ) - Mandingos (Park in Pink. XVI, 871 ) - Luan (Kolff
127) . § 154. Alte Indier (Maha . III , 16782 , 16796 , 16619 etc. )
Zend-Avesta (Haug 242) ――― Perser (Sadi I, St. 10) - Aegypter
(Dunck. I, 203 ; Poole in Cont . Rev. Aug. 1887 , 287 ) - Chinesen
(Legge, R. of Ch . 224 ; Conf. D. of Mean etc. XX ; Mencius II. Buch,
1. Th . , Cap . 6 ; I. Buch, 1. Th. , Cap. 7) . § 155. Karenen (Mason
in J. A. S. B. XXXVII , P. II , 152) Afridis (Mac Greg. I, 27)
- Fidschi-Insulaner (Will. I, 128-129) — Veddahs (Tenn. II, 444 ;
Prid. 460) . § 157. Dakotas (Burt., C. S. 130 ) ·― Mishmis (Grif. 40)
- Kirghisen (Vali. 279) Fidschi-Insulaner (Will. I, 124) - Uganda
(Wils . & Fel. I, 224) ―――― Central-Americaner (Laet 9. Buch , 2. Cap.;
Dun. 336) - Philippinen (Fore . 186-187 ) . § 158. Griechen (Mahaf.
27, 150) - Merovingische Periode (Mart. II , 709 ; Salv. IV, c. 14 )
- Frühe Feudalperiode (Mart. II , 709) Französische Monarchie
(Crowe II, 201 ) - Lecky (Lecky I, 138 ) . § 159. Kois (Morris 89)
Sowrahs (Shortt , Pt. III , 38) - Central-Indier (Fors . 164)
Ramósis (Sinclair in I. A. July 1874 , 186 ) Santhals (Sherwill in
J. A. S. B. XX , 554 ; Man 21 ) - Puluyans (Oppert in M. J. L. S.
1887-1888 , 104) ―――――――― Wald- Veddahs (Bailey in T. E. S. L. N. S.
- -- Hottentotten (Barrow
II, 291 ) Ostjaken etc. (Rev. Sib . II , 130 )
I, 101 ; Kolben I, 59) - Irokesen (Morg. 335) - Patagonier (Snow
―――――――――
II, 233) Khonds (Macpherson in J. R. A. S. VII , 196) ――― Kolis
(Sinclair in I. A. July 1874 , 188) ――― Khonds (Macph. Rep. 27).
――――――
§ 160. Mexicaner (Tern . V, 102 ) Ost-Africaner (Liv. Zamb. 309 ;
...) - Aegypter (St. John 77) --- Frankreich (Mich. I , 341 )
England (Kirkus in Fort . Rev. Nov. 1866 , 644) . § 162. Araucanier
(Smith 201 ) -Arawaks (Hillhouse in J. R. G. S. II, 229) Dakotas
Litteraturnachweise [für Band I] . 589
1.9
- -
ooki (Burt. , C. S. 131 ) Ost-Africaner (Burt. , C. A. II , 333 ) — Beduinen
-
(Burck. 201 , 56) — Chippewähs (Hear. 345 ) - Kamtschadalen (Kotze
CAT
II, 16) - Dakotas (Burt . , C. S. 131 ) - Fidschi-Insulaner (Will . I,
Irt.
177) - Hottentotten (Kolben I, 123 ) - Zulus (Thomps. II, 418 ) -
1 -3
Karenen (Mason in J. A. S. B. XXXVII , Pt. II , 144 ) -- Eskimos
19
(Hall II , 314) § 163. Assyrier (Smith 14) - Hindus (Müller,
$ 150 H. L. 333-334) ―――――― Chinesen (Conf. Anal . I, 2 ; Edkins 155 ; Legge,
Patro R. of Ch. 104) ―― Aegypten (Poole in Cont. Rev. Aug. 1887 , 286) .
51
§ 164. Khonds (Rown. 101 ) - Bhils (Hunter in J. R. A. S. VIII ,
ras Hem ? 189 ; Mal. C. S. II , 100)
― Kalmücken (Pallas I, 106) Sgaus
Ess L. (Mason in J. A. S. B. XXXV, Pt. II , 12 ) - Chinesen (Conf. Anal .
WA.. I, 7 ; X, 4) - Perser (Sadi I, St. 28 , 31 ; ibid. I, 25) - Alte Indier
• Ber (Manu VII, 8) ―――――― Aegypter (R. P. N. S. III , 21 ; Dunck. I, 184)
SALT TE Mottos (Burke's & Debrett's Peerages). § 165. Mexicaner (Herr. III,
CS 203 ; Tern. II , 195 ; Herr. IV , 126 ) Fidschi-Insulaner (Ersk.
208 , 456 ; Will. I, 30) ―――― Dahomeer (Ellis , E. S. P. 162-163 ;
-Im Dalzel 69 ; Ellis , 1. c . ) - Friedrich d. Gr. (Gould II , 302)
Invi -
Frankreich (. . . . . . .) . § 168. Chippewähs (Scho. V , 150)
311 Schlangen-Indianer (Lewis 308 ) - Dakotas (Burt. , C. S. 126 )
Irokesen (Morg . 329) - Eskimos (Crantz I , 154) - Chippewähs
1 -L (Hear. 90) - Stämme von Guiana (Brett 27) ―――― Araucanier (Smith
798 19 ________ -–
214) Chippewähs (Frank. Journey 161 ) Creek Indianer (Scho.
V, 272) Tupis (Sou. I, 250) -- Patagonier (Falk. 125) ――――― Hotten
――――
totten (Kolben I , 159 ) Betschuanen (Burch . II , 564) — Kaffern
Menaios [ (Schoo. 79) -Ashantees (Beech. 129) Fernando Po (J. E. S.
―――― Unterer Niger (Allen & T. I, 396) - Chinooks
Karar! 1850 , II, 114).
MacGreg (Ross, Oregon 92) Damaras (And., Ngami 231 ) ◄ Congo (Tuck.
120) ―――――――――― Dahome (Burt. 19 Miss . " II , 248) ― Mishmis (Coop. 207)
1845. Buschmänner (Spar. I, 198 ) - Araber (Niebuhr in Pink. X , 131 )
124 - Ost-Africaner (Liv. Zamb. 67) - Abyssinier (Bruce IV, 474)
Bach Cañaris (Cieza , ch. 44) . § 169 Khonds (Camp. 50) - Javaner
( Raf. I , 246) ――――― Caraiben (Schomb. II, 427-428) Südost-Indien
m
(Lew. 90-91 ) ――――― Santhals (Sherwill in J. A. S. B. XX, 554) . § 170.
――
I Manu (Manu IV, 238 in Wil . 285) Todtenbuch (Bunsen V, 254-255)
――――――――――― Perser (Alb. 21 ; Fram. 48 ) . § 171. Griechen (Arist. Pol . 3. Buch,
is Ir
Eun Ja 5. Cap.) . § 172 Manansas (Holub II, 211 ) . § 173. Confucius (Anal.
I, 14 ; VIII, 21 ) . § 174. Australier (Grey II, 277-278 ; Christison
in J. A. S. VII , 148 ) ―――― Eskimos (Lyon 181-182) - Jakuten etc.
P
(Coch. I, 254 ; Wrang. 384 ; Erm. II , 361 ) . § 175. Tahitier (Cook
in Hawke. II , 202 ) ―――― Araber (Palgr. I, 10) -Alte Völker (Manu II,
57 ; Muir, O. S. T. V, 324) Aegypter (Dunck. I, 225) . § 176 .
Arafuras (Kolff 161 ) ――― Alte Indier und Griechen (Müller, R. V. I,
118 ; Muir, O. S. T. V. 260) - Dahomeer (Burt. „ Miss. " II , 250)
Ainos (Bird II , 96 , 102 ) Polynesier (Will . I , 141-145 )
Ainos (Bird II, 68) . § 177. Kalmücken (Pallas I, 131 ) - Khonds
(Camp. 164) -―――― Guiana (Brett 349) Guatemalaner (Haef. 406)
Peruaner (Garci. 6. Buch, 22. Cap . ) - Yucataner (Lauda, §§ XXII ,
590 Litteraturnachweise [für Band I].
Herbert Spencer.
Inhalt : I. Theil . Die Thatsachen der Biologie . II. Theil. Die Induc
tionen der Biologie. III . Theil . Die Entwicklung des Lebens. Anhang. Über
die sogenannte „Spontane Generation " und über die Hypothese von physiologischen
Einheiten.
Preis Mk. 12.— .
1
Band VI. Die Principien der Sociologie. I. Band.
Die II. Abtheilung dieses Bandes erscheint im Jahre 1895 , womit dieser
Band abgeschlossen ist.
I
NOV 11 1898
N 4
JU 9 191
2 1926
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