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Phil2270.31.5Bd . Mar , 1895.

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Harvard College Library.

FROM THE BEQUEST OF

JAMES WALKER, D.D. , LL.D. ,


(Class of 1814),
FORMER PRESIDENT OF HARVARD COLLEGE ;

" Preference being given to works in the


Intellectual and Moral Sciences."

21 Apr. 1893-14 Feb. 1895.


P

1
Mittheilung .
Mit dieser II. Abtheilung des I. Bandes der „ Principien
66
der Ethik ist Band I complet ; die I. Abtheilung erschien
1879 unter dem Titel „ Die Thatsachen der Ethik “ . -- Der
frühere Titel und das Vorwort sind durch die dieser Ab
theilung beiliegenden zu ersetzen.
Die II. Abtheilung des II . Bandes der „ Principien der
Ethik " erscheint nächstes Jahr, womit auch Bd . II complet ist .
vrak .
O

System

der

synthetischen Philosophie

von

Herbert Spencer.

X. Band.

Die Principien der Ethik. I. Bd .

STUTTGART .

E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch).


1879. 1894.
O

Die

Prin cipien der Ethik

von

Herbert Spencer.

Autorisirte deutsche Ausgabe.

Aus dem Englischen von

B. Vetter, fortgesetzt von J. Victor Carus.

I. Band.

I. Theil : Die Thatsachen der Ethik . II . Theil : Die Inductionen


der Ethik. III. Theil : Die Ethik des individuellen Lebens.

STUTTGART .

E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch) .

1879. 1894.
P 51
hil 2270.31.5
2-9
68

ARVARD COLLEGE
Al3.21
, 1893
FFR 14 1895

LIBRARY

Walke fun
r d.

de

K. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (Carl Grüninger) in Stuttgart.


Vorwort.

Es würden wahrscheinlich Missverständnisse entstehen, wenn


ich keine Erklärung über die Reihenfolge gäbe , in welcher die
einzelnen Theile der Principien der Ethik veröffentlicht
worden sind oder werden sollen ; denn die Ausarbeitung des
Werkes und sein Erscheinen im Druck sind in einer ungewöhn
lichen Art fortgeschritten .
Wie in der ursprünglichen , dem I. Theil beigegebenen Vor
rede (welche auf den folgenden Seiten wiederholt wird) aus
einander gesetzt wurde , ist jener Theil im Jahre 1879 unter
dem Eindrucke geschrieben und für sich herausgegeben worden ,
dass Krankheit mich vollständig verhindern könnte, den Gegen
stand der Moral zu behandeln , wenn ich so lange wartete , bis
er nach der voraus festgesetzten Ordnung meines Werkes an
die Reihe kommen würde . Es folgten dann mehr als zehn Jahre,
welche zum Theil auf die weitere Ausarbeitung der Principien
der Sociologie verwendet wurden , zum Theil in einem Zu
stande der Hinfälligkeit verlebt wurden, die jede ernste Arbeit
unmöglich machte. Mit der theilweisen Wiederherstellung kam der
Entschluss , sofort die bedeutungsvollste der weiteren Abthei
lungen der Principien der Ethik niederzuschreiben : IV . Theil :
Gerechtigkeit. Diese wurde einzeln im Juni 1891 [ Übersetzung :
1892 ] herausgegeben . Wie in dem ihr beigegebenen Vorwort an
gegeben ist , nahm ich mir vor , danach womöglich den II . und
III. Theil zu schreiben, welche den ersten Band vollenden. Dieser
Vorsatz ist nun glücklicherweise zur Ausführung gekommen ; und
Theil II und III werden nun hiermit in Verbindung mit Theil I
herausgegeben , wie in dem ursprünglichen Programme ver
sprochen wurde.
VI Vorwort.

Bei der Schilderung dieses unregelmässigen Ganges der Ver


öffentlichung ist mir der Hauptzweck die sich daraus für mich
ergebende Entschuldigung für manche kleine Wiederholungen , und
vielleicht auch für Widersprüche in untergeordneteren Dingen,
welche, wie ich vermuthe, vorhanden sind . Das Bestreben, ge
wisse Abtheilungen durch sich selbst verständlich zu machen ,
hat mich darauf geführt, Erklärungen in sie aufzunehmen , welche
zu andern Abtheilungen gehören , was die Veröffentlichung des
Werkes als eines Ganzen überflüssig gemacht haben würde .
Es sind nun noch die den zweiten Band beschliessenden
Theile zu schreiben : V. Theil , " die Ethik des socialen Lebens
negatives Wohlthun " und VI . Theil, „ die Ethik des socialen
Lebens ――――――― positives Wohlthun " . Ich hoffe das Schreiben dieser
Theile zu vollenden , ehe meine Kräfte enden : es liegt mir be
sonders am Herzen dies zu thun , weil beim Fehlen derselben
die bis jetzt veröffentlichten Theile wohl nahezu bei Allen einen
sehr irrigen Eindruck in Betreff des allgemeinen Charakters der
evolutionistischen Ethik hervorbringen dürften . In seinem ganzen
Umfange vereinigt das hier entwickelte Moralsystem Härte mit
Milde bis jetzt ist aber die Aufmerksamkeit beinahe gänzlich
auf die Härte gerichtet gewesen . In Folge dessen sind ausser
ordentliche Missverständnisse und äusserst irrige Angaben auf
getreten.
London, Juni 1892.

Vorwort.

Ein Blick auf den Prospect über das „ System der synthe
tischen Philosophie "(in der Vorrede zu den 99 Grundlagen der
Philosophie") zeigt, dass die hier vorliegenden Capitel den ersten
Theil des Werkes über die Principien der Ethik bilden, mit
welchen das ganze System abschliessen soll . Da nun aber der
zweite und dritte Band der Principien der Sociologie noch
nicht veröffentlicht sind , so erscheint dieser Anfang des darauf
folgenden Werkes mithin nicht in der gehörigen Reihenfolge.
Vorwort. VII

Ich bin zu einer solchen Abweichung von der ursprünglich


festgesetzten Ordnung durch die Besorgnis veranlasst worden ,
es möchte die Beibehaltung derselben am Ende zu dem Resultat
führen , dass das Schlusswerk der ganzen Reihe unausgeführt
bliebe . Mancherlei Winke , die sich in den letzten Jahren mit
zunehmender Häufigkeit und Bestimmtheit wiederholten , haben
mich belehrt , dass meine Gesundheit dauernd zerrüttet werden
könnte , selbst ohne dass das Leben zugleich endigt , bevor ich
den letzten Theil der Aufgabe erreicht haben würde, die ich mir
gestellt. Diesen letzten Theil meiner Aufgabe aber halte ich
gerade für denjenigen , für welchen alle vorhergehenden nur die
Grundlage bilden sollen . Schon mein erster, im Jahr 1842 ge
schriebener Essay , Briefe über "" den wahren Wirkungs
kreis der Regierung" , deutete in unbestimmter Form an,
was ich für die allgemeinen Grundsätze von recht und unrecht
im politischen Handeln hielt, und von dieser Zeit an ist es stets
fort mein letztes Ziel gewesen , das allen näherliegenden Be
strebungen zu Grunde lag, eine wissenschaftliche Basis für die
Grundsätze von gut und böse im Handeln überhaupt zu finden.
Dieses Ziel unerreicht lassen zu müssen , nachdem ich so aus
gedehnte Vorbereitungen zur Erreichung desselben getroffen ,
würde ein Misslingen sein , dessen Möglichkeit ich in der That
nicht gerne in's Auge fasse , und ich bin deshalb ernstlich be
sorgt, eine solche wenn auch nicht ganz, so doch theilweise aus
zuschliessen. Darum der Schritt, den ich hiemit thue. Obgleich
diese erste Abtheilung des Werkes , das den Schluss der Syn
thetischen Philosophie bilden soll, natürlich noch nicht die durch
das ganze Werk zu begründenden Folgerungen im Einzelnen
enthalten kann , so sind dieselben doch bereits dergestalt darin
niedergelegt , dass es nichts weiter als logischer Deduction be
darf, um sie bestimmt zu formulieren .
Es liegt mir um so mehr am Herzen, dieses abschliessende
Werk, wenn ich es nicht mehr sollte vollenden können, wenig
stens im Umriss auszuarbeiten, als die Aufstellung von Gesetzen
des guten Handelns auf wissenschaftlicher Grundlage zum drin
genden Bedürfnis geworden ist . Jetzt, da die sittlichen Gebote
allmählich immer mehr die Autorität verlieren, die ihnen bisher
kraft ihres vermeintlich heiligen Ursprungs zukam , erscheint die
Säcularisierung der Sittlichkeit durchaus geboten. Kaum mag
VIII Vorwort.

etwas verderblichere Folgen haben, als wenn ein nicht mehr zu


längliches Gesetzsystem verfällt und abstirbt, bevor ein anderes
passenderes an dessen Stelle zur Ausbildung gelangt ist, um es
zu ersetzen. Die meisten von denen, welche den herrschenden
Glauben verwerfen , scheinen auch anzunehmen , dass die von
demselben ausgeübte einschränkende Wirkung ohne Schaden
gleichfalls bei Seite geworfen werden dürfe , ohne dass man die
entstandene Lücke durch ein anderes entsprechendes Agens aus
zufüllen brauche. Jene dagegen, welche den herrschenden Glauben
vertheidigen , behaupten ihrerseits , ausser der Leitung , welche
dieser gewähre , könne es überhaupt keine Leitung geben : gött
liche Befehle erklären sie für die einzig möglichen Leiter. So
mit besteht zwischen diesen erbittertsten Widersachern doch
eine gewisse Gemeinschaft . Der eine hält dafür, dass die durch
das Verschwinden des Codex der übernatürlichen Ethik ge
schaffene Kluft nicht durch einen Codex der natürlichen Ethik
ausgefüllt werden müsse , und der andere hält dafür , dass die
selbe auf diese Weise nicht ausgefüllt werden könne . Beide
sehen ein Vacuum vor sich, nur dass es der eine herbeiwünscht ,
der andere sich davor fürchtet. Da nun der Process , welcher
diesen ersehnten oder gefürchteten Zustand herbeizuführen ver
spricht oder droht, gewaltige Fortschritte macht , so ergeht an
Alle, die da glauben , dass dies Vacuum ausgefüllt werden könne
und ausgefüllt werden müsse , die dringende Mahnung , irgend
etwas zur Bestätigung ihres Glaubens zu thun.
Neben diesem besondern möchte ich noch einen allgemeinern
Grund anführen. Grosses Unheil ist dadurch entstanden , dass
das Sittengesetz von seinen Predigern in der Regel in ein ab
schreckendes Gewand eingekleidet wurde, und unermessliche Vor
theile darf man davon erwarten, wenn das Sittengesetz in jener
anziehenden Gestalt dargestellt wird , die es wirklich hat , so
lange es nicht durch Aberglauben und Asceticismus entstellt
wird . Wenn ein Vater hart auf die Ausführung seiner zahl
reichen Befehle dringt, von denen manche nothwendig, gar viele
aber auch überflüssig sind, und zu seiner strengen Aufsicht noch
ein durchaus unsympathisches Benehmen fügt ---- wenn seine
Kinder ihren Vergnügungen nur verstohlen nachgehen dürfen
oder , so oft sie schüchtern von ihrem Spiele aufsehen , immer
nur einem kalten Blick oder noch häufiger einem finstern Stirn
Vorwort. IX

runzeln begegnen, so ist es gar nicht anders möglich , als dass


sie seine Herrschaft nicht gerne haben, wenn nicht sogar hassen
werden und dass es ihr Bestreben sein wird , sich derselben
so viel als irgend thunlich zu entziehen. Ein Vater dagegen,
welcher zwar mit gleicher Festigkeit die Schranken aufrecht
erhält, welche für das Wohlergehen seiner Kinder oder anderer
Personen nothwendig erscheinen , dabei aber nicht allein un
nöthige Beschränkungen vermeidet, sondern zu allen berechtigten
Genüssen seine Zustimmung giebt, ihnen selbst die Mittel dazu
verschafft und ihren Spielen mit beifälligem Lächeln zusieht
einem solchen Vater kann es kaum fehlen , dass er einen Ein
fluss über sie gewinnt, welcher, ohne für den Augenblick weniger
wirksam zu sein, zugleich auf die Dauer anhält. Die Herrschaft
zweier solcher Väter entspricht nun genau der Herrschaft der
Ethik, wie sie ist, und der Ethik, wie sie sein sollte.
Aber nicht bloss aus dieser übermässigen Strenge der von
der rauhen Vergangenheit uns überlieferten Sittenlehre ent
springt grosses Unheil : auch die Unausführbarkeit ihres Ideals
führt zu verderblichen Folgen . In gewaltsamer Reaction gegen
die äusserste Selbstsucht des Lebens , wie es in barbarischen
Gesellschaften geführt wurde, hat sie ein ganz und gar selbst
loses Leben zum Ideal erhoben. Allein so wenig der überhand
nehmende Egoismus einer rohen Militärherrschaft durch die Ver
suche sich beseitigen liess , das Ich in Klöstern und Einsiedeleien
zu absoluter Unterwerfung zu zwingen, ebenso wenig lässt sich
die falsche Handlungsweise der meisten Menschen, wie sie gegen
wärtig existieren, dadurch verbessern , dass man ihnen ein Vor
bild der Selbstverleugnung entgegenhält , das alles menschlich
Erreichbare übersteigt. Die Folge ist vielmehr die , dass auf
solche Weise ein verzweifeltes Aufgeben aller Bemühungen nach
einem höhern Leben hervorgerufen wird. Und nicht genug, dass
die Anstrengung, das Unmögliche zu erreichen, auf solche Weise
enden muss sie bringt zu gleicher Zeit auch das Mögliche in
Misscredit. Durch Verbindung mit Gesetzen , die nicht befolgt
werden können, verlieren auch die Gesetze, die befolgt werden
könnten, ihre Autorität.

Mancherlei abfällige Urtheile werden , wie ich nicht be


zweifle , über die Theorie vom guten Handeln ergehen , die in
X Vorwort.

den nachfolgenden Blättern zu entwerfen versucht worden ist.


Es giebt eine gewisse Classe von Kritikern , welche , weit ent
fernt, sich darüber zu freuen , dass die von ihnen auf anderem
Wege abgeleiteten ethischen Grundsätze mit den hier auf wissen
schaftlichem Wege gewonnenen ethischen Grundsätzen über
einstimmen, sich vielmehr durch diese Übereinstimmung verletzt
fühlen. Statt die Gleichheit in wesentlichen Dingen anzuerkennen,
machen sie grosses Aufheben von oberflächlichen Verschieden
heiten . Seit den Zeiten der Verfolgungen hat überhaupt eine
merkwürdige Veränderung im Verhalten der sogenannten Ortho
doxie gegenüber der sogenannten Heterodoxie stattgefunden.
Es gab eine Zeit, wo ein Ketzer, durch die Folter zum Widerruf
gezwungen, die Autorität durch äusserliches Nachgeben zufrieden
stellte die scheinbare Übereinstimmung genügte, so ernst auch
die wirkliche Abweichung noch war. Jetzt aber, da der Ketzer
nicht mehr gezwungen werden kann , sich zum herrschenden
Glauben zu bekennen, wird sein Glaube so hingestellt , dass er
dem herrschenden so viel als nur möglich zu widersprechen
scheint. Entfernt er sich etwa von den feststehenden theo
logischen Dogmen? Dann heisst er ein Atheist , so wenig zu
treffend auch ihm selber die Bezeichnung vorkommt. Hält er
etwa die spiritualistische Erklärung der Erscheinungen nicht
für zureichend ? Dann wird er zu den Materialisten gerechnet,
so entrüstet er auch diesen Namen von sich weisen mag . Und
überhaupt , was für Verschiedenheiten nur zwischen der natür
lichen und der übernatürlichen Sittlichkeit bestehen mögen
es ist allgemeiner Gebrauch geworden, dieselben zu grundsätz
lichen Widersprüchen aufzublasen . Gemäss diesem Gebrauche
werden höchst wahrscheinlich auch aus diesem Buche manche
Lehren zur Verurtheilung herausgegriffen werden , welche , für
sich allein genommen , leicht so sich wiedergeben lassen , dass
sie durchaus schlecht erscheinen . Im Interesse grösserer Klar
heit habe ich einige correlative Seiten des Handelns gesondert
besprochen und jedesmal Schlüsse daraus gezogen , von denen
jeder einzelne falsch ist, wenn er von den übrigen getrennt wird,
und auf diese Weise habe ich wohl reichliche Gelegenheit zu
Entstellungen geboten.
Das Verhältnis dieses Buches zu den früheren Werken der
ganzen Reihe ist derart, dass es ein häufiges Zurückgreifen auf
Vorwort. XI

dieselben bedingte. Da es die Folgerungen aus Principien ent


hält, welche in jenen Bänden ausführlich dargelegt worden waren,
so habe ich es nicht umgehen können , gelegentliche Wieder
holungen jener Principien zu geben. Ausserdem hat es die Dar
stellung derselben in ihrem Verhältnis zu den verschiedenen
ethischen Theorien nothwendig erscheinen lassen , den Leser
in jedem einzelnen Falle kurz daran zu erinnern , wie sie
lauten und wie sie abgeleitet wurden . Daher die mannichfachen
Wiederholungen, die wahrscheinlich Vielen langweilig vorkommen
werden. Ich kann jedoch diesen beinah unvermeidlichen Um
stand nicht sehr bedauern , denn nur durch vielfache Wieder
holung können ungewohnte Vorstellungen dem widerstrebenden
Geiste der Menschen aufgenöthigt werden .
Juni 1879.

Bemerkung .

Das zweimalige Auftreten der Nummern 111 und 112 für Paragraphen
am Ende des I. und am Anfang des vorliegenden II. Theiles wird dadurch
erklärt, dass die beiden letzten Paragraphen des I. Theiles, im Originale als
„Anhang zum XVI. Capitel" ohne Nummernbezeichnung erschienen, vom Über
setzer des Theiles mit Nummern versehen wurden. Der Übersetzer des vor
liegenden II . Theiles glaubte die Paragraphenzahlen nicht ändern zu dürfen ,
um Verweisungen auf Original und Übersetzung nicht ungleich werden zu
lassen. Solche auf §. 111 und §. 112 beziehen sich also immer auf den
II. Theil. Der Übersetzer.
Inhalt.

I. Theil. Die Thatsachen der Ethik.


Seite

438
Vorwort .
Cap. I. Das Handeln im Allgemeinen .
" II. Die Entwickelung des Handelns
2 III. Gutes und böses Handeln • • 22
27 IV. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 51
" V. Der physikalische Standpunkt . . 70
19 VI. Der biologische Standpunkt 82
23 VII. Der psychologische Standpunkt 112
39 VIII. Der sociologische Standpunkt . 145
" IX. Kritik und Erläuterungen • 164
23 X. Die Relativität von Leiden und Freuden 190
" XI. Egoismus versus Altruismus . 204
" XII. Altruismus versus Egoismus 219
27 XIII. Untersuchung und Compromiss 238
" XIV. Versöhnung · 262
22 XV. Absolute und relative Ethik • 280
" XVI. Der Umfang der Ethik 306

II. Theil. Die Inductionen der Ethik.

Cap. I. Die Verwirrung des ethischen Denkens 317


" II. Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? . 336
72 III. Angriff . . 352
སྙ IV. Raub 364
19 V. Rache . 373
" VI. Gerechtigkeit 381
7 VII. Edelmuth 390
27 VIII. Humanität . 404
17 IX. Wahrhaftigkeit 413
72 X. Gehorsam 424
17 XI. Industrie . 437
12 XII. Mässigkeit 450
J XIII. Keuschheit . 463
72 XIV. Zusammenfassung der Inductionen 481
XIV Inhalt.

III. Theil. Die Ethik des individuellen Lebens.


Seite
Cap. I. Einleitung 495
II. Thätigkeit · 503
22 III. Ruhe 511
" IV. Ernährung 518
29 V. Reizmittel 527
ཡུ VI. Bildung 533
" VII. Vergnügungen 543
VIII. Ehe .. 552
99 IX. Elternschaft 565
" X. Allgemeine Schlussfolgerungen 577

Anmerkung zu S. 237 584


Litteraturnachweise · 585
Titel der citierten Werke mit ihren Abkürzungen 591
Die Thatsachen der Ethik.
1

I
I

‫י‬

1
I. Capitel.

Das Handeln im Allgemeinen.

§. 1 .

Der Satz , dass Correlativa einander gegenseitig bedingen -


dass ein Vater nicht gedacht werden kann , ohne dass man dabei
an ein Kind denkt, und dass ein Begriff von Höherem nicht mög
lich ist ohne einen Begriff von Niedrigerem ―― findet eines seiner
gewöhnlichsten Beispiele in dem nothwendigen Zusammenhang zwi
schen den Vorstellungen von Ganzem und Theil. Abgesehen von der
zunächstliegenden Wahrheit, dass man sich keine Idee von einem
Ganzen bilden kann , ohne dass eine Idee von den dasselbe zusammen
setzenden Theilen aufstiege , und dass keine Idee von einem Theil
denkbar ist ohne eine gleichzeitige Idee von einem Ganzen , zu wel
chem jener gehört, ist noch die entferntere Wahrheit zu beachten,
dass keine genaue Idee von einem Theil ohne genaue Idee von dem
correlativen Ganzen möglich ist. Nach verschiedenen Seiten hin
kann unvollständige Kenntniss des Einen eine unvollständige Kennt
niss des Andern bedingen.
Wird der Theil vorgestellt ohne irgend welche Bezugnahme
auf ein Ganzes, so wird er selbst zu einem Ganzen , zu einer unab
hängigen Einheit, und seine Beziehungen zum Sein im Allgemeinen
werden falsch aufgefasst. Ferner muss die Grösse des Theiles ver
glichen mit der Grösse des Ganzen unrichtig vorgestellt werden ,
sofern nicht das Ganze nicht nur als ein jenen Umschliessendes er
kannt , sondern auch in seinem gesammten Umfange wiedergegeben
wird. Und ebenso lässt sich die Lage, welche der Theil in Bezug
auf andere Theile einnimmt, nicht richtig zur Vorstellung bringen,
1*
4 Die Thatsachen der Ethik. Cap. I.

so lange nicht eine Vorstellung vom Ganzen hinsichtlich seiner Ver


theilung sowohl als seiner Grösse vorhanden ist.
Stehen aber vollends Theil und Ganzes nicht blos in einfacher
statischer, sondern vielmehr in dynamischer Beziehung zu einander,
so bedarf es noch vielmehr eines allgemeinen Verständnisses des
Ganzen, bevor der Theil begriffen werden kann . Ein Wilder , der
noch niemals einen Wagen gesehen hat , kann sich unmöglich eine
Vorstellung von dem Nutzen und der Wirkung eines Rades machen .
Der unsymmetrisch durchbohrten Scheibe des excentrischen Rades
vermag ein mit Maschinen noch nicht vertrauter Landmann nirgends
eine Stelle oder einen vernünftigen Zweck anzuweisen . Selbst ein
Mechaniker, der vielleicht noch nie in ein Clavier hineingeblickt
hat , wird sich , wenn man ihm einen Dämpfer zeigt, ausser Stande
sehen, seine Bedeutung oder seinen relativen Werth zu begreifen.
Das völlige Verständniss eines Theiles setzt aber ein aus
gedehntes Verständniss des Ganzen vor Allem da voraus, wo dieses
Ganze organischer Natur ist. Nehmen wir an, ein mit dem mensch
lichen Körper nicht bekanntes Wesen finde einen abgelösten Arm .
Wenn es denselben auch nicht fälschlicher Weise für ein vermeint
liches Ganzes hält, sondern ihn vielmehr als einen Theil auffasst,
so werden ihm doch seine Beziehungen zu andern Theilen und sein
ganzer Bau durchaus unerklärlich bleiben . Geben wir selbst zu,
dass das Zusammenwirken seiner Knochen und Muskeln errathen
werden könnte , so wäre es ihm doch unmöglich, sich die Rolle aus
zudenken, welche der Arm bei den Thätigkeiten des unbekannten
Ganzen, dem er angehörte, zu spielen hat , und eben so wenig liesse
sich irgend welche Erklärung für die darin sich verzweigenden Ge
fässe und Nerven finden , welche sich beide auf ihre eigenthümlichen
Centralorgane zurückbeziehen . Eine Theorie vom Baue des Armes
setzt eine Theorie vom Bau des ganzen Körpers voraus.
Und diese Wahrheit gilt nicht allein von materiellen , sondern
auch von immateriellen Aggregaten - von aggregirten Bewegungen ,
Handlungen, Gedanken , Worten . Die Bewegungen des Mondes lassen
sich nicht vollständig erklären, ohne dass man die Bewegungen des
Sonnensystems im Ganzen mit in Rechnung zieht. Das Laden einer
Kanone hat keine vernünftige Bedeutung, so lange nicht die darauf
folgenden Wirkungen, welche mit der Kanone erzielt werden, be
kannt sind. Ein Bruchstück eines Satzes ist, wenn auch nicht ganz
unverständlich, so doch einer falschen Auslegung ausgesetzt, so lange
§. 2. Das Handeln im Allgemeinen . 5

das Übrige fehlt. Man nehme den Anfang und das Ende einer
Beweisführung weg und der Rest beweist gar nichts . Das vom
Anklager abgegebene Zeugniss führt leicht irre, wenn nicht die
Aussage , welche der Vertheidiger vorbringt, dagegen gehalten wird.

§. 2 .
Das Handeln ist ein Ganzes und zwar in gewissem Sinne ein
organisches Ganzes , ein Aggregat gegenseitig von einander abhängen
der Handlungen, welche ein Organismus ausführt. Diejenige Ab
theilung oder diejenige Seite des Handelns, mit welcher sich die
Ethik beschäftigt, bildet einen Theil dieses organischen Ganzen
einen Theil, dessen Componenten jedoch in unauflösbarer Verbindung
mit dem Übrigen stehen. Nach allgemeiner Auffas hat die
Moral nicht das mindeste damit zu thun, wenn ich das Feuer schüre
oder eine Zeitung lese oder eine Mahlzeit zu mir nehme. Auch
das Öffnen des Fensters zum Lüften des Zimmers oder das An
ziehen eines Überrockes bei kaltem Wetter gelten als Handlungen ,
welche keinerlei ethische Bedeutung haben . Alles dies jedoch bildet
einen Theil des Handelns. Das Benehmen , welches wir gut, und
das Benehmen, welches wir böse nennen , wird zugleich mit dem
Benehmen, welches wir als gleichgültig bezeichnen , in die Vorstel
lung vom Benehmen im Ganzen mit einbegriffen. Jenes Ganze,
von welchem die Ethik nur einen Theil bildet, ist eben das Ganze ,
das aus der Theorie vom Handeln im Allgemeinen besteht, und
dieses Ganze muss begriffen werden , bevor der Theil begreiflich sein
kann. Betrachten wir diesen Satz noch etwas genauer.
In erster Linie, wie sollen wir das Handeln definiren? Es ist
nicht coextensiv mit der Gesammtheit der Thätigkeiten, obgleich es
nahezu damit zusammenfällt. Thätigkeiten wie diejenigen eines Epi
leptischen in einem Anfall werden nicht in unsere Vorstellung von
Handeln einbegriffen : diese Vorstellung schliesst absichtslose Thätig
keiten aus. Und indem wir diese Ausschliessung aussprechen, stellt
sich uns auch zugleich alles das vor Augen, was darin eingeschlossen
ist. Die sich ergebende Definition von Handeln lautet entweder :
Zwecken angepasste Handlungen , oder : die Anpassung von Hand
lungen an Zwecke, jenachdem wir hauptsächlich die besonders ge
staltete Gruppe von Handlungen in's Auge fassen oder nur an die
Form derselben denken . Und das Handeln im weitesten Sinne muss
in solchem Umfange aufgefasst werden , dass es sämmtliche An
6 Die Thatsachen der Ethik. Cap. I.

passungen von Handlungen an Zwecke umfasst, von den einfachsten


bis zu den complicirtesten hinauf, gleichviel welches immer ihre
Eigenthümlichkeit sei und ob man sie einzeln oder in ihrer Ge
sammtheit betrachte.
Ist das Handeln im Allgemeinen hiemit von dem etwas grössern
Ganzen abgegrenzt, das sich aus den Thätigkeiten im Allgemeinen auf
baut, so haben wir uns nun zunächst zu fragen , welcher Unterschied
gewöhnlich gemacht wird zwischen dem Handeln , auf welches ethische
Beurtheilungen Anwendung finden , und dem übrigen Handeln. Wie
bereits erwähnt, ist ein grosser Theil des gewöhnlichen Handelns
gleichgültiger Natur. Soll ich heute zum Wasserfall spazieren gehen
oder lieber am Meeresstrande herumwandern ? Hier sind die Zwecke
in sittlicher Hinsicht gleichgültig . Wenn ich mich für den Wasser
fall entscheide , soll ich da über die Haide gehen oder den Pfad
durch das Gehölz einschlagen ? Hier sind die Mittel in sittlicher
Hinsicht gleichgültig . Und so kann das Meiste von dem, was wir
allstündlich thun , in Hinsicht auf seinen Zweck wie auf seine Mittel
weder als gut noch als böse beurtheilt werden.
Es ist jedoch nicht minder einleuchtend , dass von solchen
gleichgültigen Handlungen zu Handlungen , die gut oder böse sind,
ein ganz allmählicher Übergang stattfindet. Wenn der Freund , der
mich begleiten will, den Strand bereits kennt, aber den Wasserfall
noch nicht gesehen hat, so ist die Wahl des einen oder des andern
Zieles in sittlicher Hinsicht nicht länger gleichgültig. Und wenn,
nachdem der Wasserfall als unser Ziel bestimmt worden ist, der
Weg über die Haide für seine Kräfte zu lang erscheint, während
dies bei dem kürzern Wege durch das Gehölz nicht der Fall ist ,
so ist auch die Wahl zwischen den Mitteln in sittlicher Hinsicht
nicht länger gleichgültig. Sollte aber vollends die wahrscheinliche
Folge der Ausführung des einen Ganges statt des andern die sein,
dass ich nicht zu rechter Zeit zurück sein könnte, um einer Ver
abredung nachzukommen , oder sollte die Wahl des längern Weges
diese Gefahr mit sich bringen, während sie bei der Wahl des kürzern
nicht eintreten kann, so nimmt die Entscheidung zu Gunsten des
einen oder des andern Zieles oder Mittels noch in anderer Hinsicht
einen sittlichen Charakter an ; und ist ausserdem die Verabredung
von einiger Wichtigkeit oder von grosser Bedeutung oder gar mit
einer Entscheidung über Leben und Tod für mich selbst oder Andere
verbunden, so ist der ethische Charakter in voller Schärfe aus
§. 2. Das Handeln im Allgemeinen . 7

geprägt. Diese Beispiele werden genügen , um die Wahrheit zu er


läutern, dass jenes Handeln , das mit der Moral nichts zu thun hat ,
durch kleine Abstufungen und auf die verschiedenartigste Weise in
ein Handeln übergeht, das entschieden moralisch oder unmoralisch ist.
Das Handeln aber, welches wissenschaftlich untersucht werden
muss, bevor wir jene Arten des Handelns, welche den Gegenstand
ethischer Urtheile bilden , wissenschaftlich begreifen können, ist ein
Handeln, das einen ausserordentlich viel grösseren Kreis von Er
scheinungen umfasst als die eben erwähnte Gruppe. Ein volles
Verständniss des Handelns lässt sich aus einer Betrachtung des
Handelns menschlicher Wesen allein nicht gewinnen : wir haben
dieses vielmehr als einen Theil des universalen Handelns aufzufassen
- desjenigen Handelns, wie es sämmtliche lebende Wesen uns vor
führen. Denn offenbar fällt auch dieses unter unsere Definition :
bestimmten Zwecken angepasste Handlungen . Vergleichen wir das
Handeln der höhern Thiere mit dem des Menschen und das Handeln
niederer Thiere mit dem der höhern , so finden wir dasselbe haupt
sächlich darin verschieden, dass die Anpassungen von Handlungen
an Zwecke verhältnissmässig einfach und verhältnissmässig unvoll
kommen sind. Und in diesem so gut wie in andern Fällen müssen
wir das höher Entwickelte durch das weniger Entwickelte zu erklären
suchen. Ebenso wie wir , um denjenigen Theil des Handelns , mit
welchem sich die Ethik befasst , völlig zu verstehen, das mensch
liche Handeln im Ganzen studiren müssen, so ist es auch , um
das menschliche Handeln im Ganzen völlig zu verstehen , erforder
lich, dasselbe als einen Theil jenes grössern Ganzen zu untersuchen,
welches sich aus dem Handeln der belebten Wesen im Allgemeinen
aufbaut.
Allein selbst dieses Ganze wird nicht mit der völligen Gründ
lichkeit erkannt werden können, so lange wir noch an das Handeln
denken, wie es sich gegenwärtig rings um uns entfaltet. Wir müssen
in unsere Vorstellung auch das weniger entwickelte Handeln ein
schliessen, aus welchem das jetzige im Laufe der Zeiten hervor
gegangen ist. Wir haben das Handeln, das uns jetzt von Geschöpfen
der verschiedensten Stufen vorgeführt wird , als Abkömmling jenes
Handelns zu betrachten , welches das Leben in jeder Form zu seiner
heutigen Höhe emporgehoben hat. Und diese Forderung läuft darauf
hinaus, dass unsere Vorbereitung aus einem Studium der Ent
wickelung des Handelns bestehen muss.
II. Capitel .

Die Entwickelung des Handelns.

§. 3.
Wir sind vollständig vertraut mit dem Gedanken an eine Ent
wickelung der Structur in der aufsteigenden Reihe der thierischen
Formen. In erheblichem Maasse sind wir auch mit dem Gedanken
vertraut, dass eine Entwickelung der Functionen pari passu mit
der Entwickelung der Structur vor sich gegangen sei . Nun haben
wir jedoch noch einen Schritt weiter zu thun und uns einen Begriff
von der Entwickelung des Handelns in ihrer Wechselbeziehung mit
dieser Entwickelung der Structur und der Functionen zu bilden.
Diese drei Gegenstände müssen scharf aus einander gehalten .
werden. Die Thatsachen , welche die vergleichende Morphologie zu
sammenstellt, bilden unzweifelhaft ein Ganzes, das , obgleich es
weder im Allgemeinen noch im Besondern ohne Bezugnahme auf
Thatsachen, welche der vergleichenden Physiologie angehören , be
handelt werden kann , doch im Wesentlichen unabhängig dasteht.
Ebenso einleuchtend ist es, dass wir unsere Aufmerksamkeit aus
schliesslich auf jene fortschreitende Differencirung und Combination
der Functionen beschränken können , welche die höhere Ausbildung
der Structur begleiten, wobei wir also nichts weiter über das Wesen
und den Zusammenhang der Organe aussagen, als was ohnedies in
der Beschreibung ihrer gesonderten und vereinigten Thätigkeiten
gegeben ist. Und die Lehre vom Handeln steht getrennt von der
Lehre von den Functionen da , wenn vielleicht nicht so scharf da
von getrennt, wie diese es von der Lehre von der Structur ist ,
doch immerhin scharf genug, um sie im Wesentlichen selbständig
erscheinen zu lassen . Denn jene Functionen , welche bereits in
mannichfaltiger Weise zusammengesetzt sind, um das zu Stande zu
bringen, was wir gewöhnlich als einzelne Körperthätigkeiten be
zeichnen, müssen sich in endlos verschiedener Weise abermals zu
sammensetzen, um jene Coordination von Körperthätigkeiten hervor
zubringen, welche unter Handeln verstanden wird.
Wir beschäftigen uns mit Functionen im eigentlichen Sinne,
so lange wir dieselben als innerhalb des Körpers ablaufende Vor
§. 3. Die Entwickelung des Handelns . 9

gänge betrachten , und ohne die Grenzen der Physiologie zu über


schreiten, können wir auch ihre einander angepassten Combinationen
behandeln , so lange diese noch als zum Consensus der Thätig
keiten gehörig betrachtet werden. Wenn wir beobachten , wie die
Lungen das Blut, welches ihnen vom Herzen aus zugesendet wird,
mit Luft versorgen, wie Herz und Lungen zusammen solches mit
Luft versorgtes Blut dem Magen zuführen und denselben dadurch
in Stand setzen, seine Arbeit zu verrichten , wie diese Organe wie
der mit verschiedenen absondernden und aussondernden Drüsen zu
sammenwirken , um die Verdauung zu befördern und verbrauchte
Stoffe zu entfernen , und wie sich alle vereinigen , um das Gehirn
in geeignetem Zustand zu erhalten, damit dieses jene Thätigkeiten
ausführen kann , welche indirect zur Erhaltung des Lebens im Ganzen
beitragen, so haben wir es durchaus nur mit Functionen zu thun.
Selbst wenn wir untersuchen , wie Theile, die unmittelbar auf die
Umgebung einwirken - Beine , Arme , Flügel - ihre Aufgabe er
füllen, so befassen wir uns immer noch mit Functionen und zwar
mit derjenigen Seite derselben , welche die Physiologie ausmacht ,
so lange wir wenigstens unsere Aufmerksamkeit auf innere Vor
gänge und auf innere Combinationen derselben beschränken .
Wir gehen aber auf das Gebiet der Lehre vom Handeln über ,
sobald wir solche Combinationen zwischen den Thätigkeiten der
empfindenden und bewegenden Organe in's Auge fassen, die sich
nach aussen hin kundgeben. Nehmen wir an, dass wir, statt jene
Muskelzusammenziehungen zu untersuchen , durch welche die Augen
axen zur Convergenz gebracht und ihre Brennpunkte accommodirt
werden (was Sache der Physiologie ist), und statt das Zusammen
wirken anderer Nerven , Muskeln und Knochen zu prüfen , wodurch
eine Hand nach einer besondern Stelle hin bewegt und die Finger
zusammengekrümmt werden (was gleichfalls Sache der Physiologie
ist) - dass wir statt dessen beobachten , wie die Hand , von den
Augen geleitet, eine Waffe ergreift. Damit gehen wir von der Be
trachtung combinirter innerer Functionen zur . Betrachtung com
binirter äusserer Bewegungen über. Könnten wir freilich die Vor
gänge im Gehirn , welche jene begleiten, genau verfolgen , so würden
wir zweifellos eine innere physiologische Coordination entdecken,
die jener äussern Coordination von Thätigkeiten entspräche. Dieses
Eingeständniss ist aber durchaus vereinbar mit der Behauptung,
dass wir, indem wir die innere Combination vernachlässigen und
10 Die Thatsachen der Ethik. Cap. II.

uns nur an die äussere Combination halten , damit von einem Ab


schnitt der Physiologie zu einem Abschnitt der Lehre vom Handeln
übergehen. Denn obgleich der Einwurf erhoben werden könnte , die
beispielsweise angeführte äussere Combination sei allzu einfach , als
dass sie mit Recht unter die Bezeichnung Handeln mit eingeschlossen
werden dürfte, so zeigt doch eine kurze Überlegung, dass sie wenig
stens durch unmerkbare Abstufungen mit dem verbunden ist, was
wir als Handeln zu bezeichnen haben . Angenommen , die ergriffene
Waffe werde verwendet, um einen Schlag zu versetzen. Angenommen,
es erfolge darauf ein Schlag des Gegners. Angenommen , der An
greifende laufe davon und werde verfolgt. Angenommen , es ent
spinne sich ein Kampf und er werde der Polizei übergeben , und
angenommen , es schliessen sich daran die zahlreichen und ver
schiedenartigen Thätigkeiten , aus denen eine gerichtliche Unter
suchung besteht. Offenbar muss nun hier die den Anfang des
Ganzen bildende Anpassung einer Handlung an einen Zweck , da
sie von den übrigen nicht zu trennen ist, mit diesen unter den
selben allgemeinen Begriff zusammengefasst werden , und unstreitig
gehen wir von dieser einfachen anfänglichen Anpassung , die an
sich nicht im mindesten moralischen Charakters ist, ganz allmäh
lich zu höchst complicirten und zu solchen Anpassungen über , welche
moralischer Beurtheilung unterliegen.
Unsern Gegenstand wird also hier , unter Ausschluss aller
inneren Coordinationen, das Aggregat aller äusseren Coordinationen
bilden, und dieses Aggregat umfasst nicht allein die einfachsten so
gut wie die complicirtesten der von Menschen ausgeführten Coordi
nationen, sondern auch diejenigen , welche alle tiefer stehenden
Wesen ausführen , mögen sie für mehr oder weniger entwickelt
gelten.

§. 4.

Die Frage : worin besteht der Fortschritt in der Entwickelung


des Handelns , wie wir ihn von den niedrigsten Formen des thieri
schen Lebens bis hinauf zu den höchsten verfolgen können ? ist im
Obigen bereits dem Wesen nach beantwortet worden. Einige Bei
spiele werden nun hinreichen , um die Antwort in's rechte Licht
zu setzen .
Wir sahen, dass das Handeln sich von der Gesammtheit der
Thätigkeiten dadurch unterscheidet, dass es zwecklose Thätigkeiten
§. 4. Die Entwickelung des Handelns. 11

ausschliesst ; allein erst während der Entwickelung tritt dieser


Unterschied allmählich hervor. Bei den niedrigsten Geschöpfen
haben die meisten der in jedem Augenblick ausgeführten Bewegungen
nicht mehr erkennbaren Zweck als die Zuckungen eines Epilep
tischen. Ein Infusorium schwimmt ziellos umher und wird in seiner
Richtung nicht etwa durch die Wahrnehmung eines äussern Gegen
standes bestimmt, den es verfolgen oder dem es entgehen will, son
dern augenscheinlich nur durch wechselnde Einwirkungen seines
Mediums, und seine Thätigkeiten, die in keiner irgend erkennbaren
Weise Zwecken angepasst sind , bringen es denn auch bald in Be
rührung mit nährenden Substanzen, welche es verzehrt, und bald
in die Nähe eines andern Geschöpfes , von welchem es selbst ver
schlungen und verdaut wird. Da diese winzigen Thierchen alle
jener hochentwickelten Sinnesorgane und des Bewegungsvermögens
entbehren, womit höhere Thiere ausgestattet sind , so pflegen in der
Regel neunundneunzig unter hunderten derselben , obschon sie ohne
dies nur wenige Stunden leben, sei es durch Mangel an Nahrung
oder durch Zerstörung zu Grunde zu gehen . Ihr Handeln setzt
sich aus Thätigkeiten zusammen, welche so wenig Zwecken an
gepasst sind , dass das Leben nur so lange fortdauert, als die Zu
fälligkeiten der Umgebung demselben günstig sind. Beobachten
wir aber unter solchen Wasserthierchen eines , das zwar immer noch
einem niedrig stehenden Typus angehört, jedoch viel höher ent
wickelt ist als das Infusorium , z. B. ein Räderthierchen , so erkennen
wir sofort, wie sich mit grösserem Körperumfang , höher ausgebil
deter Structur und grösserer Fähigkeit zur Combination der Leistun
gen ein Fortschritt im Handeln verbindet. Wir sehen , wie es ver
mittelst seiner wirbelnden Wimpern diese kleinen in seiner Um
gebung herumschwärmenden Thierchen als Beute einsaugt , wie es
sich mit seinem zum Greifen eingerichteten Körperende an einem
passenden Gegenstande befestigt, wie es sich durch Einziehung seiner
äussern Organe und Contraction seines ganzen Körpers vor dieser
oder jener Beschädigung schützt , welche es von Zeit zu Zeit be
drohen, und wie es also dadurch, dass es seine eigenen Thätigkeiten
besser abmisst , weniger von den in seiner Umgebung stattfindenden
Thätigkeiten abhängig wird und sich so eine längere Zeit hindurch
am Leben erhält.
Ein höherer Thierstamm, etwa derjenige der Mollusken, mag
diesen Gegenstand noch besser beleuchten . Wenn wir ein niederes
12 Die Thatsachen der Ethik. Cap. II.

Weichthier, wie eine im Wasser dahintreibende Salpe, mit einem höhern


Mollusk, z. B. einem Cephalopoden vergleichen , so zeigt sich uns
abermals, dass höhere organische Entwickelung von höher entwickel
tem Handeln begleitet ist. Die Salpe , ein Opfer jedes Seethieres,
das gross genug ist, es zu verschlingen, und von Strömungen hin
und her getrieben, welche sie vielleicht in's offene Meer führen ,
vielleicht aber auch sie an der Küste stranden und ihren Unter
gang finden lassen, zeigt nur sehr geringe Anpassungen von Hand
lungen an Zwecke im Vergleich mit dem Cephalopoden , welcher
bald am Ufer hinkriechend , bald die Felsspalten durchsuchend, dann
wieder im offenen Wasser schwimmend und bald auf einen Fisch
losstürzend, bald sich selbst vor einem grössern Thiere in einer
Tintenwolke verbergend , und seine mit Saugnäpfen bewehrten Arme
jetzt benutzend, um sich vor Anker zu legen, dann auch wieder,
um seine Beute festzuhalten seine Bewegungen von Minute zu
Minute auswählt , combinirt und im richtigen Verhältnisse abmisst ,
so dass er den Gefahren entgeht, die ihn bedrohen, und zugleich
die sich darbietenden Möglichkeiten zur Erlangung von Beute aus
nützt , welcher uns also mannichfaltige Thätigkeiten zeigt , die, in
dem sie einzelne besondere Ziele erreichen lassen , zugleich das
allgemeine Ziel fördern , die Forterhaltung der gesammten Thätig
keiten zu sichern.
Auch unter den Wirbelthieren lässt sich ebenso mit dem Fort
schritt in der Structur und den Functionen ein solcher Fortschritt
im Handeln nachweisen. Ein Fisch, der auf's Gerathewohl hin und
her fährt, um Beute für sich aufzusuchen , welche er nur auf ge
ringe Entfernung durch Geruch oder Gesicht zu entdecken vermag,
und der plötzlich in grösster Aufregung davon stürzt, weil ein
grösserer Fisch sich näherte, zeigt zwar gewisse Anpassungen von
Handlungen an Zwecke , die jedoch verhältnissmässig wenig zahl
reich und von einfacher Art sind ; und dementsprechend zeigt er
uns auch, wie gering bej seinesgleichen die durchschnittliche Lebens
dauer ist. So wenige bleiben bis ins geschlechtsreife Alter am
Leben , dass ein Stockfisch z. B. , um die Vernichtung der noch un
ausgeschlüpften Jungen , der ersten Brut und der halbausgewach
senen Individuen auszugleichen , eine Million Eier ablegen muss ,
damit nur zwei derselben das zur Fortpflanzung nöthige Alter er
reichen . Bei einem hoch entwickelten Säugethiere dagegen , wie
z. B. beim Elephanten, sind jene allgemeinen Thätigkeiten , welche
§. 4. Die Entwickelung des Handelns. 13

er ebenso wie der Fisch auszuüben hat, ihren Zwecken weit besser
angepasst. Durch das Gesicht sowohl als auch wahrscheinlich durch
den Geruch nimmt er seine Nahrung auf verhältnissmässig weite
Entfernungen wahr, und wenn sich gelegentlich die Nothwendigkeit
zur Flucht herausstellt, so findet dieselbe mit verhältnissmässig
grosser Geschwindigkeit statt. Der hauptsächliche Unterschied aber
liegt darin , dass ganz neue Gruppen von Anpassungen hinzu
gekommen sind. Wir finden combinirte Thätigkeiten , welche die
Ernährung erleichtern - das Abbrechen saftiger und fruchttragen
der Zweige , die Auswahl nährender Dinge aus einem ziemlich weiten
in seinem Bereich liegenden Gebiete ; und in Fällen der Gefahr wird
die Sicherheit nicht allein durch die Flucht, sondern, wenn nöthig ,
auch durch Vertheidigung oder Angriff erlangt, wobei die Stoss
zähne, der Rüssel und die massigen Füsse vereint zur Verwendung
kommen. Ferner beobachten wir mancherlei Hülfsthätigkeiten in
Anpassung an Hülfszwecke : er geht in den Fluss, um sich abzu
kühlen, und verwendet den Rüssel als Werkzeug, um sich Wasser
über den Körper zu spritzen ; er benutzt einen abgebrochenen Zweig ,
um sich die Fliegen vom Rücken zu scheuchen ; er gibt bestimmte
Signaltöne von sich, um die Heerde zu warnen, und passt seine
eigenen Handlungen solchen Tönen an, wenn sie von andern aus
gehen. Der Erfolg aber dieses höher entwickelten Handelns ist
offenbar der, dass das Gleichgewicht der organischen Thätigkeiten
eine weit längere Zeit hindurch gesichert bleibt.
Und wenden wir uns nun zur Betrachtung des Handelns der
höchsten Säugethiere, der Menschen, so finden wir nicht nur, dass
die Anpassungen der Handlungen an Zwecke sowohl zahlreicher als
auch besser sind als bei den niedrigeren Säugethieren , sondern wir
finden auch dasselbe Verhältniss bei einer Vergleichung der Thätig
keiten der höhern mit denjenigen der niedrigeren Racen. Wir mögen
.
irgend einen der zu erstrebenden Hauptzwecke herausgreifen, stets
sehen wir ihn vom Civilisirten mit grösserer Vollkommenheit er
reicht als vom Wilden , und überdies beobachten wir , wie jener ver
hältnissmässig zahlreiche Nebenzwecke erreicht, welche die Haupt
zwecke unterstützen. Wie verhält es sich z. B. mit der Ernährung ?
Die Speise wird mit grösserer Regelmässigkeit entsprechend dem
Nahrungsbedürfniss aufgenommen, sie ist von besserer Qualität, sie
ist frei von Verunreinigungen, mannichfaltiger und besser zubereitet.
Wie steht es mit der Wärme ? Die Eigenschaften der zur Beklei
14 Die Thatsachen der Ethik. Cap. II.

dung verwendeten Dinge sind dem Stoff wie der Form nach weit
überlegen und ebenso ist es die Anpassung derselben an das Be
dürfniss jedes Tages und jeder Stunde. Wie steht es mit der Woh
nung ? Der Gegensatz des äussern Anblicks zwischen dem aus Gras
und Ästen geflochtenen Schutzdach , wie es sich der niedrigste
Wilde baut, und dem Wohnhaus des civilisirten Menschen ist nicht
grösser als der Gegensatz in der Zahl und Wirksamkeit der An
passungen von Handlungen an Zwecke, wie sie in der innern Ein
richtung derselben zum Ausdruck kommen. Und vergleichen wir
mit den gewöhnlichen Thätigkeiten eines Wilden die alltäglichen
Thätigkeiten in der civilisirten Welt - z. B. das Geschäft des
Kaufmanns , das vielfache und complicirte, über lange Zeiträume
sich hinziehende Unterhandlungen erfordert, oder die Arbeiten eines
Beamten, für die er sich durch umfassende Studien vorzubereiten
hat und die täglich in zahllos verschiedenen Formen erledigt werden.
müssen, oder politische Besprechungen und Agitationen , welche bald
auf die Durchsetzung dieser Maassregel und bald auf die Abschaf
fung einer andern gerichtet sind so zeigen sich uns ganze Grup
pen von Anpassungen von Handlungen an Zwecke, die nicht allein.
an Mannichfaltigkeit und Verwickeltheit alles Ähnliche bei niederen
Menschenrassen unendlich übertreffen , sondern für welche die letz
teren überhaupt kein Analogon darbieten. Und mit dieser grösseren
Vervollkommnung des Lebens, wie sie das Ergebniss der Verfolgung
weit zahlreicherer Zwecke ist, verbindet sich auch jene Zunahme
der Lebensdauer, welche den höchsten Zweck bildet .
Hier macht sich nun zugleich das Bedürfniss geltend, diese
Vorstellung von dem sich entwickelnden Handeln zu ergänzen . Denn
dasselbe ist in der That eine vervollkommnete Anpassung von Hand
lungen an Zwecke, die nicht allein die Verlängerung des Lebens
befördert, sondern ganz hauptsächlich den Inhalt des Lebens ver
mehrt. Ein Rückblick auf die oben gegebenen Beispiele lehrt schon ,
dass nicht die Länge der Lebensdauer an sich den Maassstab für
die Entwickelung des Handelns bilden kann, sondern dass auch die
Quantität des Lebens mit in Rechnung gezogen werden muss. Eine
Auster, deren Bau sich den fein vertheilten Nahrungsstoffen an
gepasst hat, welche in dem von ihr herbeigestrudelten Wasser ent
halten sind, und die durch ihre Schale beinah vor jeder Gefahr
geschützt ist, kann leicht ein höheres Alter erreichen als ein Tinten
fisch, welcher so weit überlegene Fähigkeiten besitzt , sich in zahllos
§. 5. Die Entwickelung des Handelns . 15

wechselnden Verhältnissen zurechtzufinden ; dabei ist aber die Summe


der Lebensthätigkeiten während eines gegebenen Zeitraumes bei der
Auster viel geringer als beim Tintenfisch. So mag auch ein Regen
wurm , der vor seinen zahlreichsten Feinden durch die Erde ge
schützt wird, durch welche er sich hindurchbohrt und welche ihm
zugleich eine hinreichende Menge seiner kärglichen Nahrung bietet,
wohl eine grössere Lebensdauer haben als manche seiner geglieder
ten Verwandten, der Insecten ; aber das letztere wird während seiner
Existenz als Larve und Imago eine weit grössere Summe jener Ver
änderungen erfahren , welche eben das Leben ausmachen. Und ganz
so verhält es sich auch, wenn wir innerhalb des Menschengeschlechts
die höher und die wenig Entwickelten mit einander vergleichen.
Der Unterschied zwischen der mittleren Lebensdauer des wilden
und des civilisirten Menschen gibt noch keineswegs den richtigen
Maassstab für den Unterschied zwischen der Gesammtheit ihrer
beiden Leben, wenn man dieselben als Aggregate von Denken , Fühlen
und Handeln auffasst. Wollen wir also das Leben dadurch zu be
stimmen suchen , dass wir seine Länge mit seiner Breite multipli
ciren , so müssen wir zugeben , dass die Erweiterung desselben , welche
die Entwickelung des Handelns begleitet, von einer Zunahme beider
Factoren herrührt. Die zahlreicheren und verschiedenartigen An
passungen von Handlungen an Zwecke, vermöge deren das höher
entwickelte Geschöpf von Stunde zu Stunde zahlreicheren Anforde
rungen genügt, erhöhen alle die Gesammtsumme der neben einander
ausgeführten Thätigkeiten und tragen überdies das ihrige dazu bei ,
die Periode zu vergrössern , während welcher solche gleichzeitige
Thätigkeiten fortdauern können . Jede fernere Entwickelung des
Handelns erweitert zugleich das Aggregat der Thätigkeiten , indem
es die Verlängerung desselben befördert.

§. 5.

Wenden wir uns nun zu einer andern Seite dieser Erscheinungen,


welche von der letztbetrachteten zwar gesondert, jedoch nothwen
dig mit derselben verknüpft erscheint. Bisher haben wir nur jene
Anpassungen von Handlungen an Zwecke berücksichtigt, deren letztes
Ziel vollkommenes individuelles Leben war. Nun haben wir noch
jene Anpassungen zu besprechen, deren letztes Ziel das Leben der
Species bildet.
16 Die Thatsachen der Ethik. Cap. II.

Die Selbsterhaltung in jeder Generation hat von jeher davon


abgehangen, dass die vorhergehenden Generationen ihre Nachkommen
schaft zu erhalten wussten, und in demselben Maasse, als die Ent
wickelung des dem individuellen Leben zu gute kommenden Han
delns eine höhere Stufe erreicht hat, was zugleich eine höhere Or
ganisation voraussetzt, muss auch vorher schon ein höher entwickel
tes Handeln existirt haben, welches der Aufziehung der Jungen ge
widmet war. Durch die ganze Stufenleiter des Thierreiches hinauf
bietet diese zweite Art des Handelns Stufen des Fortschritts gleich
denjenigen, welche wir bei der ersten Art beobachtet haben . Tief
unten, wo Structur und Functionen noch wenig ausgebildet sind
und eine nur geringe Fähigkeit, die Handlungen den Zwecken an
zupassen, besteht, finden wir auch keine Form des Handelns , welche
diesen Namen verdiente, die auf die Erhaltung der Species abzielte .
Das art-erhaltende Handeln wächst gleich dem selbst- erhaltenden
Handeln allmählich aus etwas hervor, was noch gar nicht als Han
deln bezeichnet werden kann : den angepassten Handlungen gehen
nicht angepasste voraus.
Die Protozoen theilen sich spontan einmal oder mehrmals in
Folge von physikalischen Veränderungen, über welche sie keine
Controle besitzen, oder sie zerfallen zu andern Zeiten nach einer
Ruheperiode in winzig kleine Theilstücke, deren jedes zu einem
neuen Individuum heranwächst. Weder im einen, noch im andern
Falle kann von Handeln gesprochen werden. Etwas weiter oben
besteht der Process darin, dass in bestimmten Zwischenräumen Ei
zellen und Samenzellen reif werden , welche dann gelegentlich in
das umgebende Wasser entleert und ihrem Schicksal überlassen
werden : unter zehntausend solchen Keimen wird vielleicht einer das
geschlechtsreife Alter erreichen. Auch hier beobachten wir einfach
Ausbildung und Ausstreuung der Keime, welche ohne jede älterliche
Fürsorge abläuft . Höher stehende Formen, wie z. B. die Fische,
welche geeignete Stellen aufsuchen, um daselbst ihre Eier abzulegen,
oder wie die höhern Crustaceen, welche die Eiermassen mit sich
herumtragen, bis die Jungen auskriechen, zeigen uns Anpassungen
von Handlungen an Zwecke , die wir mit Recht schon als bestimm
tes Handeln bezeichnen dürfen , wenn es auch noch sehr einfacher
Art ist. Wo aber wie bei gewissen Fischen das Männchen über
den Eiern Wache hält und Eindringlinge abwehrt, da ist eine fernere
§. 5. Die Entwickelung des Handelns. 17

Anpassung von Handlungen an Zwecke hinzugekommen und die


Anwendbarkeit des Wortes Handeln ist unbestreitbar.
Gehen wir sofort zu viel höher stehenden Geschöpfen über, zu
den Vögeln , welche Nester bauen, ihre Eier bebrüten , ihre Jungen
eine längere Zeit hindurch füttern und denselben noch Hülfe leisten ,
wenn sie bereits fliegen können, und zu den Säugethieren, welche
nicht blos ihre Jungen einige Zeit säugen, sondern auch nachher
fortfahren , ihnen Nahrung zuzutragen, oder sie beschützen, während
sie ihre Nahrung schon selber aufsuchen , bis sie das Alter erreicht
-
haben , wo sie für sich selbst zu sorgen im Stande sind so zeigt
sich uns deutlich , wie dieses Handeln , welches die Art-Erhaltung
befördert, sich Hand in Hand mit demjenigen Handeln entwickelt ,
welches auf Selbst-Erhaltung gerichtet ist. Jene vollkommnere Or
ganisation, welche die letztere möglich macht, macht auch die erstere
möglich.
Das Menschengeschlecht weist einen grossen Fortschritt in der
selben Richtung auf. Im Vergleich mit den Thieren steht der
Wilde nicht blos hinsichtlich seines selbst-erhaltenden, sondern auch
hinsichtlich seines art-erhaltenden Handelns bedeutend höher. Für
eine grössere Zahl von Bedürfnissen der Nachkommenschaft wird
Vorsorge getroffen und die älterlichen Bemühungen erstrecken sich,
abgesehen davon , dass sie länger andauern , auch auf die Schulung
der Nachkommenschaft in Künsten und Fertigkeiten , welche sie für
ihre Existenzbedingungen tauglich machen. Und das Handeln dieser
Art entwickelt sich nun, wie leicht ersichtlich, ebenso wie das Han
deln der ersten Art in noch viel bedeutenderem Maasse, wenn wir
vom wilden zum civilisirten Menschen aufsteigen. Die Anpassungen
von Handlungen an Zwecke beim Aufziehen der Kinder werden viel
vollkommener , nicht blos was die Anzahl der erstrebten Zwecke ,
sondern auch was die Mannichfaltigkeit der hiezu verwendeten
Mittel und ihre Wirksamkeit bei ihrer Anwendung betrifft, und die
Hülfe und Überwachung werden während eines viel grössern Theiles
des Jugendalters fortgesetzt.
Wollen wir also die Entwickelung des Handelns nach oben
verfolgen, um uns eine richtige Vorstellung vom Handeln im All
gemeinen bilden zu können, so müssen wir hienach vor Allem die
gegenseitige Abhängigkeit dieser beiden Arten von einander an
erkennen. Um mich allgemein auszudrücken : keine kann sich ent
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 2
18 Die Thatsachen der Ethik. Cap. II.

wickeln ohne entsprechende Entwickelung der andern und die höchste


Entwickelungsstufe beider muss gleichzeitig erreicht werden .

§. 6.
Wollten wir jedoch nun annehmen, dass die Entwickelung des
Handelns ihre Vollendung gefunden habe, wenn eine vollkommene
Anpassung von Handlungen an Zwecke erreicht ist , welche dem
individuellen Leben und der Aufziehung der Nachkommenschaft
dienen, so wäre dies eine irrthümliche Folgerung . Oder, wie ich
vielmehr sagen sollte, es ist ein Irrthum, zu glauben , dass die eine
oder die andere dieser Arten des Handelns ihre höchste Form er
reichen könne, ohne dass eine dritte Form des Handelns, deren wir
erst noch zu gedenken haben, zugleich ihre höchste Form erreicht.
Die zahllosen Geschöpfe aller Arten , welche die Erde erfüllen ,
können nicht ganz von einander getrennt leben , sondern befinden
sich stets mehr oder weniger in Gegenwart anderer - sie beein
flussen sich gegenseitig. Die Anpassungen von Handlungen an
Zwecke, die wir soeben betrachtet haben , stellen ja zum grössten
Theile Componenten jenes " Kampfes um's Dasein " dar, welcher
zwischen Gliedern einer und derselben Species wie zwischen
Angehörigen verschiedener Species ausgefochten wird, und ziem
lich allgemein wird eine erfolgreiche Anpassung , welche dem
einen Geschöpfe gelungen ist, irgend einen Misserfolg in der An
passung bei einem andern Geschöpfe derselben oder einer andern
Art mitbedingen. Damit der Fleischfresser leben kann , müssen
Pflanzenfresser zu Grunde gehen, und wenn seine Jungen aufgezogen
werden sollen, so müssen die Jungen von schwächeren Geschöpfen
ihrer Ernährer beraubt werden. Die Erhaltung des Habichts und
seiner Brut bedingt den Tod vieler kleiner Vögel, und damit sich
kleine Vögel vermehren können , muss ihre Nachkommenschaft mit
zahllosen Opfern von Würmern und Larven aufgefüttert werden.
Die Wettbewerbung zwischen Gliedern derselben Species hat ähn
liche , obschon weniger auffällige Resultate zur Folge. Der Kräftige
reisst oft gewaltsam die Beute an sich, welche der Schwächere sich
erworben hatte. Das wilde Thier nimmt gewisse Jagdgebiete für
sich in Beschlag und vertreibt andere seiner Art nach weniger
günstigen Plätzen . Auch bei den pflanzenfressenden Thieren gilt
dasselbe die bessere Nahrung sichern sich die kräftigeren Indivi
duen, während die schwächeren und schlechter genährten entweder
§. 6. Die Entwickelung des Handelns . 19

aus Mangel an Nahrung oder mittelbar wegen der hieraus ent


springenden Unfähigkeit, ihren Feinden zu entfliehen , zu Grunde
gehen. Mit andern Worten : unter Geschöpfen, deren Leben im
Gegensatz zu einander geführt wird, muss jede der beiden Arten
des Handelns , wie wir sie oben im Umriss hingestellt, unvollkommen
entwickelt bleiben. Selbst bei jenen wenigen Arten derselben , die
nur wenig von Feinden oder von Rivalen zu befürchten haben , wie
Löwe und Tiger, muss doch unvermeidlich wenigstens gegen das
Ende des Lebens ein Mangel in der Anpassung von Handlungen
an Zwecke eintreten . Der Tod durch Entkräftung in Folge der
Unfähigkeit, Beute zu erjagen, zeigt uns ein Herabsinken des Han
delns von seiner idealen Vollendung.
Dieses unvollkommen entwickelte Handeln leitet uns durch den
Gegensatz zu jenem Handeln über, das vollkommen entwickelt ist.
Betrachten wir diese Anpassungen von Handlungen an Zwecke ,
welche unvollständig bleiben, weil sie nicht von dem einen Geschöpf
erzielt werden können , ohne dass andere Geschöpfe dadurch an der
Erreichung derselben verhindert würden , so erweckt dies den Ge
danken an Anpassungen von der Art, dass jedes Geschöpf sie durch
führen kann, ohne damit andere Geschöpfe zu verhindern, sie sich
.
selbst anzueignen. Dass die höchste Form des Handelns durch
diesen Charakter ausgezeichnet sein muss, ist eine unvermeidliche
Folgerung, denn so lange die Form des Handelns noch derartig ist,
dass Anpassungen von Handlungen an Zwecke bei den Einen Nicht
anpassungen bei den Andern zur nothwendigen Folge haben , bleibt
offenbar noch Raum genug für Abänderungen, welche das Handeln
in eine Form bringen, in der solches vermieden und demgemäss die
Gesammtsumme des Lebens vergrössert wird.
Gehen wir nun von der abstracten zur concreten Behandlung
der Sache über. Indem wir die Menschen als diejenigen Wesen an
erkennen , deren Handeln am höchsten entwickelt ist, wollen wir uns
fragen, unter welchen Bedingungen ihr Handeln nach allen drei
Seiten der Entwickelung hin seine Grenze erreicht. So lange das
Leben ausschliesslich auf Beute gerichtet ist, wie bei den Wilden ,
bleiben die Anpassungen von Handlungen an Zwecke offenbar in
jeder Hinsicht weit hinter dieser höchsten Form des Handelns zurück .
Das Leben des einzelnen Individuums wird beinah von Stunde zu
Stunde irgendwie in Gefahr gebracht und findet meist ein vorzeitiges
Ende; gar oft gelingt das Aufziehen der Nachkommenschaft nicht,
2*
20 Die Thatsachen der Ethik. Cap. II.

und wenn es gelingt, so bleibt es höchst unvollkommen . Werden


aber die Zwecke der Selbst- Erhaltung und der Art-Erhaltung wirk
lich erreicht, so geschieht es doch nur vermöge der Zerstörung an
derer Wesen von gleicher oder verschiedener Art. In socialen
Gruppen, welche durch einmalige und mehrfach wiederholte Zu
1
sammensetzung primitiver Horden gebildet worden sind , bleibt das
Handeln in demselben Maasse unvollkommen entwickelt, als Gegen
sätze zwischen den einzelnen Gruppen und Gegensätze zwischen
Gliedern derselben Gruppe fortbestehen - zwei nothwendiger Weise
mit einander verbundene Erscheinungen , indem eine Verfassung,
welche internationale Angriffe begünstigt, auch Angriffe der Indi
viduen gegen einander begünstigen wird . Das Handeln kann somit
die obere Grenze seiner Entwickelung nur in dauernd friedlichen
Gesellschaften erreichen . Jene vollkommene Anpassung von Hand
lungen an Zwecke bei der Erhaltung des individuellen Lebens und
der Aufziehung neuer Individuen , welche jeder Einzelne zu erzielen
vermag , ohne Andere an der Erreichung ebenso vollkommener An
passung zu verhindern , stellt sich, wie schon aus ihrer Definition
hervorgeht, als eine Art des Handelns dar, an welche erst dann
eine Annäherung möglich ist, wenn der Krieg immer mehr abnimmt
und ganz verschwindet.
Hier muss nun eine Lücke in dieser Darstellung ausgefüllt
werden. Es gibt noch einen fernern Fortschritt, den wir nicht
einmal angedeutet haben . Denn abgesehen davon , dass die Glieder
einer Gesellschaft sich so verhalten müssen , dass jedes seine Zwecke
erreicht, ohne die andern an der Erreichung ihrer Zwecke zu ver
hindern , können sich dieselben auch hiebei gegenseitig Hülfe leisten.
Und wenn die Bürger eines Gemeinwesens , sei es indirect durch
industrielles Zusammenwirken, sei es direct durch freiwillige Hülfe,
einander die Anpassungen von Handlungen an Zwecke erleichtern
können , dann nimmt ihr Handeln eine noch höhere Stufe in der
Entwickelung ein , da ja natürlich Alles, was jedem Einzelnen seine
Anpassungen durchführen hilft, auch die Gesammtheit der erreich
ten Anpassungen vergrössert und dazu beiträgt , das Leben Aller
vollkommener zu machen .

§. 7.

Der Leser, welcher sich gewisser Stellen in den „ Grundlagen


der Philosophie " , den „ Principien der Biologie " und den „ Principien
§. 7. Die Entwickelung des Handelns . 21

der Psychologie " erinnert, wird im Obigen eine Wiedergabe von


in jenen Werken behandelten Verallgemeinerungen in etwas ver
änderter Form erkennen. Insbesondere wird er dabei an den Satz
erinnert werden , dass das Leben " die bestimmte Combination von
„ ungleichartigen , sowohl gleichzeitigen als auf einander folgenden
„ Veränderungen ist , in Zusammenhang mit äussern Gleichzeitig
" keiten und Folgen " , und noch mehr an jene abgekürzte und
weniger specifische Formel, in welcher das Leben definirt wurde als
„die fortwährende Anpassung innerer an äussere Relationen. "
Die hier gegebene Darstellung der Thatsachen weicht von der
früher gegebenen hauptsächlich darin ab, dass sie die innere Seite
des Zusammenhangs ausser Acht lässt und sich ausschliesslich an
jene äussere Seite hält, welche aus sichtbaren Thätigkeiten besteht.
Gleichwohl stehen beide in innerer Übereinstimmung und derjenige
Leser, welcher sich noch eingehender darauf vorbereiten will, unsern
vorliegenden Gegenstand vom Standpunkt der Entwickelung aus zu
untersuchen, wird wohl daran thun, die im Obigen dargelegte spe
ciellere Auffassung der Erscheinungen mit den allgemeineren Auf
fassungen derselben, wie wir sie früher entworfen hatten, zu ver
binden.
Nach dieser beiläufigen Bemerkung kehre ich zu dem Haupt
satz meines Gegenstandes zurück, welcher in diesen beiden Capiteln
erläutert und, wie ich glaube , durchaus als richtig nachgewiesen
wurde. Geleitet von der Einsicht, dass jenes Handeln , mit dem
sich die Ethik befasst, nur einen Theil des Handelns im Ganzen
bildet und daher letzteres allgemein verstanden werden muss, bevor
dieser Theil desselben im Besondern begreiflich werden kann , und
geleitet von der ferneren Einsicht, dass wir , um das Handeln über
haupt zu verstehen, erst die Entwickelung des Handelns ver
stehen müssen , sind wir zu der Erkenntniss gelangt, dass der Haupt
gegenstand der Ethik in jener Form des Handelns besteht, welche
das universale Handeln auf der höchsten Stufe seiner Entwickelung
annimmt. Wir haben ferner gefolgert, dass diese höchsten Stufen
der Entwickelung des Handelns jene Formen sind, welche der höchste
Typus aller Wesen entfaltet, wenn er durch Zunahme seiner In
dividuenzahl genöthigt ist , mehr und mehr in unmittelbarer Gegen
wart seiner Genossen zu leben. Und hieraus folgte das Ergebniss ,
dass das Handeln in demselben Maasse Anerkennung von Seiten
der Ethik findet , als die Thätigkeiten des Einzelnen immer weniger
22 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III. 1

kriegerisch und mehr und mehr industriell werden und demgemäss


nicht nur keine gegenseitige Beschädigung oder Verhinderung nach
sich ziehen, sondern vielmehr mit Zusammenwirken und gegenseitiger
Hülfe vereinbar sind und dadurch selbst gefördert werden .
Diese Folgerungen aus der Entwickelungshypothese stehen nun,
wie wir gleich sehen werden, durchaus in Einklang mit den wich
tigsten moralischen Vorstellungen, zu welchen die Menschen auf

anderem Wege gelangt sind .

III . Capitel .

Gutes und böses Handeln.

§. 8.
Indem wir die Bedeutungen eines Wortes in verschiedenen Ver
bindungen mit einander vergleichen und beobachten, was sie gemein
sam haben, lernen wir die wesentliche Bedeutung des Wortes kennen ,
und von einem Worte , das sehr mannichfaltig angewendet wird ,
lässt sich die Hauptbedeutung am besten dadurch ermitteln, dass
man jene Anwendungen desselben unter sich vergleicht, welche am
weitesten von einander abweichen . Versuchen wir nun auf diesem
Wege festzustellen, was gut und böse bedeutet.
In welchen Fällen bezeichnen wir ein Messer, eine Flinte, ein
Haus als gut ? Und welche Besonderheit veranlasst uns, von einem
schlechten Regenschirm oder einem schlechten Paar Stiefel zu
sprechen? Die hier durch die Wörter gut und böse ausgesagten
Charaktere sind nicht dem Gegenstande selbst innewohnende Merk
male, denn wenn man von menschlichen Bedürfnissen absieht, so
haben solche Dinge weder ein Verdienst, noch einen Fehler. Wir
nennen vielmehr diese Sachen gut oder böse , jenachdem sie gut
oder schlecht dazu geeignet sind, gewisse durch sie beabsichtigte
Zwecke zu erreichen. Ein gutes Messer ist dasjenige , welches gut
schneidet ; eine gute Flinte ist eine solche, mit der sich weit und
sicher schiessen lässt ; ein gutes Haus ist ein solches, das im rich
tigen Maasse den Schutz , die Behaglichkeit und die Bequemlichkeit,
§. 8. Gutes und böses Handeln. 23

die man darin suchte, gewährt. Umgekehrt bezieht sich die vom
Regenschirm oder von dem Paar Stiefel behauptete Schlechtigkeit
auf ihr Unvermögen, die betreffenden Zwecke zu erfüllen : den Regen
abzuhalten und die Füsse in angenehmer Weise zu schützen unter
gleichzeitiger Berücksichtigung eines guten Aussehens.
Ebenso verhält es sich, wenn wir von unbelebten Gegenständen
zu unbelebten Thätigkeiten übergehen. Wir nennen einen Tag
schlecht, wenn Stürme uns verhindern , gewissen Wünschen nach
zukommen . Ein gutes Jahr ist der Ausdruck, den man zu brauchen
pflegt, wenn das Wetter die Hervorbringung werthvoller Ernten
begünstigt hat. - Wenden wir uns nun von leblosen Dingen und
Handlungen zu lebendigen , so finden wir gleichfalls , dass diese
Wörter in ihrer gebräuchlichen Anwendung auf die gewünschte
Leistungsfähigkeit Bezug haben. Die Güte oder Schlechtigkeit eines
Wachtelhundes oder eines Spürhundes , eines Schafes oder eines
Ochsen bezieht sich im einen Fall darauf, dass ihre Thätigkeiten
zur Erreichung der Zwecke geeignet sind, für welche die Menschen
sie zu verwenden pflegen, und im andern Falle auf die Eigenschaften
ihres Fleisches, insofern sie dieses zur Ernährung des Menschen
passend erscheinen lassen. ――― Und ebenso pflegen wir jene Hand
lungen des Menschen , welche vom moralischen Standpunkt aus be
trachtet gleichgültig sind , je nach ihrem Erfolg oder Misserfolg zu
den guten oder zu den schlechten zu rechnen . Ein guter Sprung
ist ein Sprung, der mit Absehung von allen entfernteren Zwecken
das unmittelbare Ziel richtig erreichen lässt , und ein Stoss am
Billard wird gut genannt , wenn die Bewegungen geschickt den
Verhältnissen angepasst waren. Im Gegensatz hiezu wird von einem
watschelnden Gang und von einer undeutlichen Ausserung gesagt,
sie seien schlecht, weil in beiden Fällen die Handlungen den Zwecken
nicht richtig angepasst sind.
Haben wir auf diese Weise die Bedeutung von gut und böse
in ihren sonstigen Anwendungen kennen gelernt , so werden
wir dieselbe nun auch besser verstehen, wo diese Wörter dazu
dienen sollen , das Handeln vom sittlichen Gesichtspunkt aus
zu kennzeichnen. Auch hier lehrt uns die Beobachtung , dass
wir dieselben anwenden , jenachdem die Anpassungen von Hand
lungen an Zwecke erfolgreich sind oder nicht. Diese Wahrheit
liegt nicht so offen zu Tage , wie man glauben könnte. Die
Verwickelung der gesellschaftlichen Beziehungen ist derart, dass
24 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.

die Handlungen der Menschen oft gleichzeitig auf ihre eigene Wohl
fahrt, auf diejenige ihrer Nachkommen und auf die ihrer Mitbürger
Einfluss haben. Daraus entspringt häufig eine Verwirrung, wenn
gewisse Handlungen als gut oder schlecht beurtheilt werden sollen ,
da eben Handlungen , die wohl geeignet erscheinen , Zwecke der einen
Art zu erreichen, zugleich der Erreichung von Zwecken der andern
Arten hinderlich sein können . Nichtsdestoweniger stellt sich, wenn
wir die drei Arten von Zwecken aus einander halten und jede ge
sondert betrachten , deutlich heraus, dass ein Handeln , welches irgend
eine Art von Zwecken erreichen lässt, für relativ gut gehalten wird
und dass es für relativ schlecht gilt, wenn es sein Ziel nicht er
reicht.
Nehmen wir zunächst die erste Gruppe von Anpassungen , die
jenigen, welche dem individuellen Leben gewidmet sind . Ohne Rück
sicht auf Billigung oder Missbilligung seines letzten Zweckes wird
von einem Kämpfenden gesagt, er habe sich gut vertheidigt, wenn
seine Vertheidigung für seine Selbsterhaltung wohl geeignet erscheint ,
und während das Urtheil über sein Benehmen in Bezug auf andere
Seiten desselben unverändert bleibt, wird er sich eine ungünstige
Kritik zuziehen, soweit es seine unmittelbaren Handlungen betrifft,
wenn diese ihr Ziel nicht erreichen. Das Gute, was man einem
Geschäftsmanne als solchem zuschreibt, wird nach der Thätigkeit
und Geschicklichkeit bemessen, m t welcher er vortheilhafte Ankäufe
und Verkäufe zu bewerkstelligen weiss , und diese Eigenschaft kann
sehr wohl zusammen vorkommen mit harter Behandlung seiner
Untergebenen, welche tadelnswerth ist . Wenn auch ein Mann , der
zu wiederholten Malen einem Freunde Geld leiht, welcher eine An
leihe nach der andern aufnimmt, damit nur etwas thut, was an sich
durchaus für lobenswerth gilt, so wird er sich doch gerechtem Tadel
aussetzen, wenn er dies so weit getrieben hat, dass es seinen eignen
Ruin veranlasst, wenn also seine Selbstaufopferung zu weit gegangen
ist . Und so verhält es sich auch mit den Ansichten , die wir bei
nahe stündlich über solche Handlungen der Menschen in unserer
Umgebung äussern, welche sich auf ihre Gesundheit und persön
liche Wohlfahrt beziehen. Sie hätten das nicht thun sollen !"
mit diesem Vorwurf wird Derjenige empfangen , welcher die Strasse
mitten in einem gefährlichen Gedränge von Wagen kreuzt. " Du
hättest Deine Kleider wechseln sollen ! " wird zu einem Andern ge
sagt, welcher, nachdem er nass geworden , sich erkältet hat. " Sie
§. 8. Gutes und böses Handeln . 25

thaten wohl daran , eine Quittung entgegenzunehmen " ; "Es war


nicht recht von Ihnen , die Gelder anzulegen, ohne sich Rath ein
zuholen ", sind ganz gebräuchliche Vorwürfe . Alle solchen billigen
den und missbilligenden Äusserungen aber fussen auf der still
schweigenden Annahme, dass unter sonst gleichen Umständen das
Handeln gut oder schlecht sei, jenachdem seine einzelnen Thätig
keiten ihren besondern Zwecken gut oder schlecht angepasst waren
und demgemäss den allgemeinen Zweck der Selbsterhaltung förderten
oder nicht.
Auf diese ethischen Urtheile, welche wir über auf den Handeln
den selbst bezügliche Handlungen fällen , wird in der Regel wenig
Nachdruck gelegt, theils weil die Antriebe der uns selbst betreffen
den Begierden im Allgemeinen kräftig genug sind und daher nicht
noch moralischer Verstärkung bedürfen, und theils weil anderseits
die Antriebe der auf Andere bezüglichen Wünsche minder kräftig
sind und oft bei Seite geschoben werden, also moralische Verstär
kung wohl nöthig haben. Dadurch treten diese Handlungen in einen
gewissen Gegensatz zu der gleich zu besprechenden zweiten Classe
von Anpassungen von Handlungen an Zwecke, welche der Aufziehung
der Nachkommenschaft gewidmet sind . Hier begegnen wir keiner
Unklarheit mehr, was die Anwendung der Wörter gut und böse
auf dieselben betrifft, jenachdem sie erfolgreich oder erfolglos sind.
Die Ausdrücke : gute oder schlechte Kinderpflege -mögen sie sich
nun auf die Darreichung der Nahrung, auf die Beschaffenheit und
die Menge der Kleidung oder auf die nöthige, zu jeder Stunde dar
gebotene Hülfeleistung bei den kindlichen Bedürfnissen beziehen -
anerkennen stillschweigend als eigentlichen Zweck dieser Thätigkeit,
welcher jedenfalls erreicht werden sollte , die Beförderung der ge
sammten Lebensfunctionen im Hinblick auf den allgemeinen Zweck
der ungestörten Fortdauer des Lebens und Wachsthums. Eine
Mutter wird gut genannt, wenn sie für alle körperlichen Bedürf
nisse ihrer Kinder sorgt und zugleich ihr Benehmen derart ein
richtet, dass es zu ihrem geistigen Wohle gereicht, und derjenige
ist ein schlechter Vater, der entweder den Lebensunterhalt für seine
Angehörigen nicht beschafft oder sonst in einer Weise handelt, die
ihrem Körper oder Geist schädlich wird . Gleiches gilt von der
Erziehung, die einem Kinde gegeben oder für dasselbe bestimmt
wird . Sie wird als gut oder schlecht bezeichnet (allerdings gar
häufig in sehr inconsequenter Weise), jenachdem ihre Methoden den
26 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.

physischen und psychischen Erfordernissen so angepasst sind , dass


das Leben der Kinder in der Gegenwart gefördert, sie selbst aber
zugleich dafür vorbereitet werden , wenn sie herangewachsen sind,
ein vollkommenes und lange dauerndes Leben zu führen .
Im allerentschiedensten Sinne aber finden die Wörter gut und
böse Anwendung auf dasjenige Handeln , was jener dritten Abthei
lung desselben angehört, in der wir alle die Thätigkeiten zusammen
fassen, wodurch die Menschen sich gegenseitig beeinflussen . Wenn
es sich um die Erhaltung des eigenen Lebens und um die Auf
ziehung der Nachkommenschaft handelt , kann es so leicht vor
kommen, dass die Anpassungen der Handlungen des Einzelnen an
seine Zwecke die entsprechenden Anpassungen seiner Nebenmenschen
beeinträchtigen, dass es unumgänglich erscheint, beständig auf die
nöthigen Beschränkungen zu dringen, und das Unglück , das aus
einem Widerstreit der auf den Lebensunterhalt gerichteten Thätig
keiten der Menschen gegen einander erwachsen kann , ist so gross ,
dass die Verbote dagegen unerbittlich streng sein müssen. Daraus
erklärt es sich denn, warum die Wörter gut und böse ganz be
sonders in Verbindung gebracht werden mit solchen Handlungen ,
welche das vollkommene Leben Anderer fördern oder unmöglich
machen. Das Gute, für sich allein betrachtet, erweckt in uns vor
allem Andern den Gedanken an das Handeln eines Menschen,
welcher dem Kranken hilft , seine normale Lebenskraft wieder
zu gewinnen, den Unglücklichen unterstützt, dass er die Mittel zu
seinem Unterhalt wieder erlange, alle Diejenigen vertheidigt , die in
ihrer Person, in ihrem Besitz oder ihrem guten Rufe mit Beschädi
gung bedroht sind , und jeder Bestrebung, welche das Leben aller
seiner Mitmenschen zu verbessern verspricht, seinen Beistand leiht.
Das Böse dagegen führt uns als wesentlichstes Correlat das Handeln
eines Menschen vor Augen, welcher, um für sein eigenes Leben zu
sorgen, das Leben Anderer schädigt , indem er ihren Körper verletzt ,
ihr Eigenthum zerstört, sie betrügt oder verleumdet.
Stets und überall also werden Handlungen gut oder böse ge
nannt, jenachdem sie ihren Zwecken gut oder schlecht angepasst
sind, und welche Widersprüche auch in unserer Anwendung dieser
Wörter bestehen mögen, sie entspringen immer nur aus einer Ver
schiedenheit der Endzwecke. Hier hat uns jedoch das Studium des
Handelns im Allgemeinen und namentlich die Entwickelung des
Handelns dazu vorbereitet , diese verschiedenen Auslegungen der
§. 8. Gutes und böses Handeln . 27

Wörter mit einander in Einklang zu bringen. Die vorhergehende


Darlegung hat gezeigt, dass das Handeln , welchem wir den Namen
gut beilegen, auch immer das verhältnissmässig höher entwickelte
Handeln ist und dass wir den Namen böse einem Handeln beilegen ,
das auf verhältnissmässig niederer Entwickelungsstufe steht. Wir
sahen , dass die Entwickelung, welche beständig auf Selbsterhaltung
hinzielt, ihre Grenze erreicht, wenn das individuelle Leben in Länge
sowohl als Breite am grössten ist ; und hier sehen wir nun , dass
wir mit Beiseitesetzung anderer Zwecke das die Selbsterhaltung be
fördernde Handeln als gut, das auf Selbstzerstörung hinarbeitende
Handeln aber als böse bezeichnen. Oben wurde gezeigt, dass Hand
in Hand mit einer Steigerung der Fähigkeit zur Erhaltung des in
dividuellen Lebens, welche die Entwickelung mit sich bringt, auch
eine Steigerung der Fähigkeit zur Forterhaltung der Species durch
Pflege der Nachkommenschaft einhergeht und dass die Entwickelung
in dieser Richtung ihre Grenze erreicht hat , wenn die nöthige An
zahl von Jungen bis zum geschlechtsreifen Alter am Leben erhalten
werden und dann für ein Leben ausgestattet sind , das nach Inhalt
und Dauer vollkommen ist ; und hier stellt sich nun heraus , dass
das älterliche Handeln als gut oder böse bezeichnet wird , jenach
dem es sich diesem idealen Ergebniss annähert oder dahinter zurück
bleibt. Kurz vorher zogen wir die Folgerung, dass die Einrichtung
eines gesellschaftlichen Zustandes eine derartige Form des Handelns
sowohl möglich macht als auch selbst fordert, dass das Leben jedes
Einzelnen wie seiner Nachkommenschaft vollendet werden könne,
während zugleich das Leben Anderer dadurch nicht allein an seiner
Vollendung nicht gehindert, sondern vielmehr darin gefördert wird ;
und oben fanden wir nun , dass dies die Form des Handelns ist ,
welche auf's Entschiedenste als gut bezeichnet wird. Und ebenso
endlich , wie wir dort sahen, dass die Entwickelung die höchst mög
liche Stufe erreicht hat, wenn das Handeln gleichzeitig die grösste
Summe des Lebens für den Einzelnen , für seine Nachkommenschaft
und für seine Mitmenschen zu Stande bringt, so sehen wir hier,
dass das gute Handeln sich zu einer Form emporschwingt, wie wir
uns das beste Handeln denken , wenn es allen drei Gruppen von
Zwecken zu gleicher Zeit genügt.
28 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.

§. 9.

Liegt in diesen Urtheilen über das Handeln schon irgend ein


Postulat ausgesprochen ? Haben wir etwa stillschweigend eine ge
wisse Annahme gemacht, indem wir diejenigen Handlungen gut
nannten, welche das Leben des Einzelnen wie seiner Nebenmenschen
fördern , und böse diejenigen , welche direct oder indirect auf Tod
im Einzelnen oder im Allgemeinen hinarbeiten ? Allerdings, es ist
eine Annahme von höchster Bedeutung gemacht worden ――― eine
Annahme, die jeder moralischen Schätzung zu Grunde liegt.
Die Frage, welche in bestimmter Form gestellt und beantwortet
werden muss , bevor wir auf irgend eine ethische Discussion ein
gehen können, ist die in jüngster Zeit vielfach erörterte Frage :
Ist das Leben des Lebens werth ? Müssen wir uns der pessimisti
schen oder der optimistischen Ansicht anschliessen oder müssen wir
nach Abwägung der pessimistischen und der optimistischen Gründe
den Schluss ziehen , dass sich die Waage zu Gunsten eines ein
geschränkten Optimismus neigt ?
Von der Beantwortung dieser Frage hängt durchaus jede Ent
scheidung über den guten oder schlechten Charakter des Handelns
ab. Alle Diejenigen , welche das Leben nicht für eine Wohlthat ,
sondern für ein Unglück halten, werden ein Handeln, das eine Ver
längerung desselben erstrebt, viel eher tadeln als loben müssen ;
denn da doch das Aufhören eines nicht begehrenswerthen Daseins
das erwünschte Ziel bildet, so verdient Alles , was zum Aufhören
desselben beiträgt, unsern Beifall, während Handlungen, welche
seine Fortdauer sei es beim Einzelnen , sei es bei Anderen erstreben,
gerügt werden müssen. Wer anderseits optimistische Ansichten
hegt oder wer zwar nicht reiner Optimist, so doch der Meinung
ist, dass das Gute im Leben das Böse überwiege, der wird zu einer
entgegengesetzten Beurtheilung sich neigen und muss als lobens
werthes Handeln dasjenige betrachten, welches beim Einzelnen oder
bei Andern das Leben fördert, und als schlechtes Handeln dasjenige
missbilligen, welches das Leben Einzelner oder Anderer beschädigt
oder in Gefahr bringt.
Die letzte Frage ist demnach eigentlich die : Ist die Entwicke
lung ein Fehler gewesen , und insbesondere jene Entwickelung, welche
die Anpassung von Handlungen an Zwecke in der aufsteigenden
Stufenleiter der Organisation immer mehr vervollkommnet ? Wenn
§. 10. Gutes und böses Handeln . 29

man daran festhält, dass es besser wäre, wenn es überhaupt gar


kein belebtes Dasein gegeben hätte, und dass es je eher desto besser
sein Ende fände, dann ergibt sich die eine Richtung der Beurthei
lung in Betreff des Handelns . Hält man sich dagegen überzeugt,
dass ein Ausschlag zu Gunsten der belebten Existenz vorhanden
sei , und knüpft sich daran überdies der Glaube , dass dieser Aus
schlag in Zukunft noch vergrössert werden könne, dann ergibt sich
die entgegengesetzte Richtung der Beurtheilung . Und sollte endlich
behauptet werden, dass der Werth des Lebens nicht nach seinem
eigenen Charakter, sondern vielmehr nach seinen äussern Folgen
zu beurtheilen sei - nach gewissen Resultaten , welche nach Ab
lauf des Lebens zu erwarten wären so erscheint das letzte Er
gebniss abermals in einer neuen Gestalt. Denn wenn auch der da
mit verknüpfte Glaube eine willkürliche Verkürzung des Lebens ,
wenn es elend ist , zurückweisen mag , so kann er doch auch nicht
eine freiwillige Verlängerung eines solchen Lebens rechtfertigen .
Eine auf Steigerung der durchschnittlichen Lebensdauer berechnete
Gesetzgebung muss vom pessimistischen Standpunkt aus stets tadelns
werth erscheinen , während ihr der auf optimistischem Standpunkt
Stehende volles Lob ertheilen wird.
Fragen wir uns nun aber, ob diese unvereinbaren Anschauungen
irgend Etwas mit einander gemein haben. Da sich die Menschen
in zwei Classen trennen lassen , welche sich eben mit Bezug auf
diese letzte Frage von einander scheiden, so muss zunächst unter
sucht werden, ob ihre einander radical entgegengesetzten Ansichten
irgend Etwas gemeinschaftlich als ausgemacht annehmen . Lässt
sich nicht vielleicht in der optimistischen Behauptung , die still
schweigend gemacht wird, wenn man die Wörter gut und böse im
gewöhnlichen Sinne braucht , und in der offen ausgesprochenen
pessimistischen Behauptung, dass die Wörter gut und böse in gerade
entgegengesetztem Sinne zu nehmen seien , bei näherer Prüfung
irgend eine sie vereinigende Annahme entdecken - irgend ein Satz
der, beiden zugleich eigenthümlich , eben deshalb mit grösserm Recht
für sicher angenommen werden dürfte als beide ―――――――――― irgend ein all
gemein gültiger Satz ?

§. 10.
Ja, es gibt ein Postulat, in welchem Pessimisten und Opti
misten übereinstimmen . Die Darlegungen beider Parteien nehmen
30 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.

es als selbstverständlich an, dass das Leben gut oder schlecht ist,
jenachdem es einen Überschuss von angenehmen Empfindungen mit
sich bringt oder nicht. Der Pessimist sagt , er verurtheile das
Leben, weil sein Schlussergebniss mehr Schmerz als Freude sei.
Der Optimist vertheidigt das Leben in der Überzeugung, dass das
selbe mehr Freuden als Schmerzen bringe. Beide machen die Art
des Empfindens, welche das Leben begleitet, zum Richter darüber.
Darin stimmen sie überein , dass die Rechtfertigung des Lebens als
eines Daseinszustandes sich um dieses Ergebniss dreht, ob sich das
durchschnittliche Bewusstsein über den Differenzpunkt hinauf zum
Lustgefühl erhebe oder unterhalb desselben in das Schmerzgefühl
versinke. Die ihren gegensätzlichen Ansichten gemeinsame Folge
rung ist die, dass das Handeln auf die Erhaltung des Individuums ,
der Familie und der Gesellschaft hinarbeiten soll , vorausgesetzt nur ,
dass das Leben mehr Glück als Elend spende.
Wenden wir uns an einen andern Richter, so kann doch kein
anderes Urtheil erzielt werden . Mag der Pessimist , während er
behauptet, dass die Schmerzen des Lebens überwiegen , oder der
Optimist, während er behauptet , dass die Freuden überwiegen, sich
immerhin daran halten, dass die hier ertragenen Leiden durch später
zu erwartende Freuden ausgeglichen werden sollen und dass auf
diese Weise das Leben , möge es nun nach seinen unmittelbaren Re
sultaten berechtigt scheinen oder nicht, jedenfalls durch seine letz
-
ten Resultate gerechtfertigt werde so bleibt doch die Sache
selbst im Grunde dieselbe. Die Entscheidung wird immer noch ge
troffen, indem man Freuden gegen Leiden abwägt. Der Eine wie
der Andere würde das belebte Dasein für ein Unglück erklären ,
wenn zu einem hier ertragenen Überschuss an Elend noch ein Über
schuss an Elend hinzukäme, der nach diesem Leben zu ertragen
wäre. Um also die belebte Existenz als ein Glück betrachten zu
können , müssen Beide , wenn die Schmerzen desselben hier wirklich
seine Freuden übersteigen, den Glauben festhalten, dass hernach
seine Freuden die Leiden übersteigen werden . Sie können somit
dem Zugeständniss nicht entgehen, dass sie, indem sie das Handeln ,
welches das Leben fördert, gut, jenes Handeln aber , welches das
Leben verkürzt oder schädigt, schlecht nennen und dadurch selbst
zugeben, dass das Leben ein Glück und nicht ein Unglück sei , zu
gleich nothwendig behaupten, das Handeln sei gut oder schlecht,
§. 10. Gutes und böses Handeln. 31

jenachdem seine Gesammtwirkungen angenehmer oder schmerzlicher


Natur sind.
Nur eine Theorie lässt sich ausdenken, aufGrund deren eine andere
Erklärung von gut oder böse gegeben werden kann . Diese Theorie
besagt, dass die Menschen zu dem Zwecke geschaffen worden seien ,
um für sich selbst zur Quelle des Unglücks zu werden, und dass
sie verpflichtet seien , ihr Leben fortzusetzen , damit ihr Schöpfer
die Genugthuung habe, ihr Elend anzuschauen . Obgleich dies nicht
eine Theorie ist, welche von Vielen eingestandenermaassen fest
gehalten würde, ja obgleich sie von Niemand in dieser scharfen
Fassung formulirt wird, so gibt es doch nicht Wenige, welche sie
in etwas veränderter Gestalt annehmen . Alle niedriger stehenden
Glaubensbekenntnisse sind von der Überzeugung durchdrungen , dass
der Anblick des Leidens für die Götter eine Freude sei. Da diese
Götter sich von blutdürstigen Vorfahren ableiten , so hat sich ganz
naturgemäss die Vorstellung von ihnen herausgebildet , als ob sie
ein Vergnügen daran fänden, Jemand Schmerzen zuzufügen : als sie
noch in diesem Leben herrschten , freuten sie sich der Qualen an
derer Wesen, und so glaubt man , der Anblick des Leidens mache
ihnen jetzt noch Freude. Solche Grundvorstellungen erhalten sich
lange fort. Wir brauchen blos die indischen Fakirs zu erwähnen ,
welche sich an Haken aufhängen , und die Derwische im Orient,
die sich zerfleischen , um darzuthun , dass selbst in bereits ziemlich
weit vorgeschrittenen Gesellschaften immer noch Viele sich finden ,
welche glauben , dass die Erduldung von Qualen göttliche Gunst
verschaffe. Und ohne dass wir uns bei Fasten und Büssungen auf
zuhalten brauchen , wird es klar genug sein , dass auch bei den
christlichen Völkern der Glaube existirt hat und noch existirt,
dass die Gottheit , welche Jephtah durch Aufopferung seiner Toch
ter zu versöhnen glaubte, durch selbst auferlegte Leiden versöhnt
werden könne. Überdies hat eine andere, die eben erwähnte be
gleitende Vorstellung, dass nämlich Handlungen, welche den Menschen
Freude bringen, Gott missfällig seien , sich mit jener forterhalten
und herrscht immer noch in hohem Grade, wenn auch nicht in be
stimmt formulirten Glaubenssätzen, so doch in Form von Meinungen ,
welche offenkundig ihren Einfluss ausüben.
In unsern Tagen freilich haben solche Ansichten zweifellos
mildere Formen angenommen. Die Befriedigung, welche die grau
32 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.

samen Götter beim Anschauen von Qualen empfinden sollten , hat


sich grösstentheils in eine Befriedigung verwandelt, welche die Gott
heit beim Anschauen jener selbstauferlegten Schmerzen empfinden
soll , die , wie man glaubt, die zu erwartende Glückseligkeit fördern
werden. Offenbar aber gehören Diejenigen, die solche modificirte
Ansichten hegen, nicht mehr zu der Classe , deren Stellung wir
hier betrachteten. Beschränken wir uns auf diese Classe - nehmen
wir an, dass von dem Wilden , welcher seine Opfer einem cannibali
schen Gotte hinschlachtet, auch unter den Civilisirten noch Ab
kömmlinge vorhanden sind , die glauben , das Menschengeschlecht
sei zum Leiden geschaffen und es sei daher ihre Pflicht, zur Freude
-
ihres Schöpfers das Leben im Elend fortzusetzen so können wir
einfach die Thatsache constatiren, dass die Teufelanbeter noch nicht
ausgestorben sind .
Lassen wir jedoch die Menschen dieser Classe, wenn es über
haupt noch welche gibt, ausser Betracht, da sie ausserhalb oder
unterhalb jeder vernünftigen Beweisführung stehen , so finden wir
bei allen andern offen ausgesprochen oder stillschweigend an
genommen die Ansicht , dass die letzte Rechtfertigung für die Er
haltung des Lebens nur darin bestehe, dass man aus demselben
einen Überschuss angenehmer Empfindungen über die schmerzlichen
Empfindungen gewinne und dass nur auf Grund dieser Annahme
den Handlungen, welche das Leben fördern oder beeinträchtigen ,
ein guter oder schlechter Charakter zugeschrieben werden kann .
Hier kommen wir nun auch auf jene primäre Bedeutung der
Wörter gut und böse zurück, welche wir vorläufig übergingen, als
wir ihre secundäre Bedeutung betrachteten . Denn wenn wir uns
erinnern , dass wir diejenigen Dinge gut und schlecht nennen , welche
unmittelbar angenehme und unangenehme Empfindungen hervorrufen ,
und ebenso die Empfindungen selbst - wir sprechen von einem
guten Wein, einem guten Appetit , einem schlechten Geruch, einem
bösen Kopfweh - so sehen wir leicht, dass diese Bedeutungen,
welche sich unmittelbar auf Freuden und Leiden beziehen , auch
mit jenen Bedeutungen im Einklang stehen , welche mittelbar auf
Freuden und Leiden Bezug haben. Wenn wir den freudigen Zu
stand selbst gut nennen , wie : ein gutes Gelächter ―――― wenn wir
die nächstliegende Ursache eines freudigen Zustandes gut nennen,
wie : eine gute Musik ---
— wenn wir jedes beliebige Agens, das un
mittelbar oder auf Umwegen einen freudigen Zustand herbeiführt,
§. 11. Gutes und böses Handeln . 33

gut nennen , wie : ein guter Kaufladen, ein guter Lehrer wenn
wir jede Handlung gut nennen , die, für sich allein betrachtet, so
ihrem Zwecke angepasst erscheint , dass sie die Selbsterhaltung und
ausserdem jenen Überschuss an Befriedigung herbeiführt, welcher
erst die Selbsterhaltung wünschenswerth macht ―― wenn wir jede
Art des Handelns , welche das Leben Anderer unterstützt, gut nennen
und dies in der Überzeugung thun, dass das Leben mehr Freude
als Elend bringe -- so ergibt sich als unleugbare Thatsache , dass ,
unmittelbare und entferntere Wirkungen auf alle Menschen in An
schlag gebracht, das Gute ganz allgemein das Erfreuende ist.

§. 11 .
Verschiedene Einflüsse von moralischer, theologischer und poli
tischer Seite wirken dazu zusammen, dass die Menschen diese Wahr
heit übersehen . Wie in kleineren Dingen, so werden sie auch in
dieser umfassendsten Sache so sehr von den Mitteln, durch welche
ein Zweck erreicht wird, in Anspruch genommen , dass sie dieselben
schliesslich für den Zweck selber halten. Gerade wie Geld , das
doch ein Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen ist, einem Geiz
hals für das Einzige gilt, wonach man zu streben habe, während
er die wirklichen Bedürfnisse unbefriedigt lässt, so ist es auch dahin
gekommen, dass die Menschen dasjenige Handeln , welches sie als
vorzüglich, weil am sichersten zum Glücke führend , befunden haben,
nun als etwas an sich Vorzügliches halten , als Etwas, das man
sich nicht etwa nur zum nächsten Ziele setzt (wie es das Richtige
wäre) , sondern das zum letzten Ziele gemacht wird , unter Aus
schluss des wahren letzten Zieles. Und dennoch genügen wenige
Fragen, um Jedermann sofort dazu zu bringen , dass er sich zum
wahren letzten Ziele bekennt. Wenn man vom Geizhals verlangt ,
dass er sich rechtfertige, so ist er genöthigt, die Eigenschaft des
Geldes, dass man damit wünschenswerthe Dinge erwerben könne ,
als Grund für seine Werthschätzung desselben anzugeben ; und so
bleibt auch dem Moralisten, welcher dieses Handeln für an sich gut
und jenes für an sich schlecht hält , sobald man ihn in die Enge
treibt, keine andere Wahl , als sich auf die Erklärung zurückzu
ziehen, dass es freudebringende, beziehungsweise schmerzenbringende
Wirkungen habe. Um dies zu beweisen , brauchen wir übrigens
nur zu zeigen, wie unmöglich es wäre, dieselben so aufzufassen, wie
wir es thun , wenn ihre Wirkungen gerade umgekehrt wären .
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik . 3
34 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.

Nehmen wir einmal an , dass Wunden und Beulen angenehme


Empfindungen verursachten und in ihrem Gefolge eine Steigerung
des Vermögens , seine Arbeit zu verrichten und Freude zu empfin
den, mit sich brächten ; würden wir dann wohl einen thätlichen
Angriff auf gleiche Weise beurtheilen wie gegenwärtig ? Oder nehmen
wir an, eine Selbstverstümmelung , z. B. durch Abhauen einer Hand ,
sei an sich angenehm und fördere zugleich die Ausübung der Thätig
keiten , durch welche persönliche Wohlfahrt sowie diejenige der An
gehörigen erzielt wird : würden wir dann wie jetzt der Ansicht sein ,
dass freiwillige Beschädigung des eigenen Körpers eine schändliche
Handlung sei ? Oder nehmen wir ferner an, dass es einem Menschen
freudige Gefühle errege, wenn ihm das Geld aus der Tasche ge
stohlen wird , indem sich seine Aussichten dadurch günstiger ge
stalten : würde dann der Diebstahl zu den Verbrechen gezählt wer
den, wie dies in den gegenwärtigen Gesetzbüchern und Sittenlehren
geschieht ? Bei so extremen Fällen kann in der That Niemand in
Abrede stellen, dass, was wir die Schlechtigkeit einer Handlung
nennen, derselben einzig aus dem Grunde zugeschrieben wird, weil
sie unmittelbar oder mittelbar Leid nach sich zieht, und dass ihr
dieser Charakter nicht beigelegt würde , wenn sie Freude zur Folge
hätte.
Prüfen wir unsere Vorstellungen von ihrer entgegengesetzten
Seite, so drängt sich uns diese allgemeine Thatsache mit gleicher
Bestimmtheit auf. Denken wir uns , dass die Pflege eines Kranken
stets nur die Schmerzen der Krankheit vergrösserte. Denken wir
uns, dass die Verwandten einer Waise, welche sich ihrer angenom
men , dadurch nothwendiger Weise Unglück über sie brächten .
Denken wir uns , dass die Abtragung einer Geldforderung zum Nach
theil des Gläubigers ausschlüge. Denken wir uns , dass , wenn wir
einem Menschen von edlem Betragen Vertrauen schenken , dies
seinem Fortkommen in der Gesellschaft und den daraus erwachsen
den Annehmlichkeiten hinderlich wäre. Was würden wir von diesen
Handlungen sagen, welche jetzt zur Classe der lobenswerthen ge
zählt werden? Würden wir sie nicht im Gegentheil unter die
tadelnswerthen rechnen ?
Wenn wir also diese scharf ausgeprägten Formen des guten und
schlechten Handelns zum Prüfstein nehmen, so stellt sich uns unzweifel
haft heraus, dass unsere Vorstellungen von gut und böse in der That
aus unserm Bewusstsein von der Gewissheit oder der Wahrscheinlich
§. 12. Gutes und böses Handeln . 35

keit entspringen, dass dieselben irgendwo Freuden oder Leiden her


vorrufen werden. Und diese Wahrheit tritt mit gleicher Bestimmt
heit hervor, wenn wir die Grundpfeiler verschiedener Moralsysteme
untersuchen ; denn eine nähere Prüfung zeigt , dass jedes derselben
seine Autorität von diesem höchsten Maassstab ableitet. Die ethi
schen Systeme lassen sich ungefähr danach unterscheiden , ob sie
als ihre Grundideen hinstellen : 1 ) den Charakter des Handelnden ,
2 ) die Natur seiner Motive, 3) die Art seiner Thaten oder 4) die
Folgen derselben. Jedes Einzelne kann sich als gut oder schlecht
erweisen und Diejenigen , welche eine bestimmte Lebensführung
nicht nach ihren Wirkungen auf das Glück abschätzen mögen , thun
dies doch entweder je nach dem angenommenen guten oder schlech
ten Charakter des Handelnden , nach seinen Motiven oder nach seinen
Thaten. Wir finden, dass Vollkommenheit des Handelnden als der
Maassstab hingestellt wird , nach welchem sein Handeln zu beurtheilen
sei. Anderswo wieder wird mit Absehung vom Charakter des Han
delnden seine Gesinnung sittlich geprüft. Und ebenso finden wir,
dass ohne Rücksicht auf seine Gesinnung seine Handlungen für
tugendhaft gehalten werden.
Wenn nun auch die hiemit angedeuteten Unterschiede so wenig
bestimmt sind, dass die zur Bezeichnung derselben gewählten Worte
eins für das andere gebraucht werden können , so entsprechen ihnen
doch gewisse Doctrinen , die theilweise von einander abweichen ; es
dürfte daher am besten sein , dieselben hier zunächst gesondert zu
betrachten, zugleich mit der Absicht, daran nachzuweisen , dass der
Maassstab des Guten in jeder derselben ein abgeleiteter ist.

§. 12.

Es ist merkwürdig , dass ein so abstracter Begriff wie derjenige


der Vollkommenheit oder einer gewissen idealen Vollendung des
Wesens jemals als geeignet angesehen worden ist, um daraus ein
System der sittlichen Erziehung zu entwickeln , wie dies im All
gemeinen wenigstens von PLATO und bestimmter noch von JONATHAN
EDWARDES geschah . Vollkommenheit ist gleichbedeutend mit Gut
im höchsten Grade, und wenn man daher gutes Handeln mit dem
Ausdruck Vollkommenheit zu definiren sucht, so ist dies eigentlich
nichts Anderes als eine indirecte Definition des guten Handelns
durch sich selbst. Natürlicherweise ist dann auch die Folge, dass
3*
36 Die Thatsachen der Ethik. Cap . III.

der Begriff der Vollkommenheit gleich dem Begriff des Guten nur
mit Beziehung auf Zwecke gewonnen werden kann.
Wir schreiben irgend einem leblosen Ding, z . B. einem Werk
zeug Unvollkommenheit zu , wenn es irgend eines zu seiner wirk
samen Verwendung nothwendigen Theiles entbehrt oder wenn ein
Theil so gestaltet ist, dass er seinen Zweck nicht auf die denkbar
beste Weise erfüllt . Eine Uhr erhält das Prädicat der Vollkommen
heit, wenn sie genau richtig geht, so einfach auch ihr Gehäuse sein
mag , und Unvollkommenheit wird ihr beigelegt um ihres unrich
tigen Ganges willen , wenn sie auch noch so schön verziert ist.
Allerdings nennen wir viele Dinge unvollkommen , an denen wir
geringere Beschädigungen oder Sprünge bemerken , selbst wenn diese
ihrer Leistungsfähigkeit kaum Eintrag thun . Allein dies geschieht,
weil sie uns dadurch auf jene schlechtere Ausführung oder auf jene
Abnutzung oder Beschädigung hinweisen , mit der sich in unserer
Erfahrung gewöhnlich Leistungsunfähigkeit verbindet : das Fehlen
von geringeren Unvollkommenheiten erscheint in der Regel mit
Fehlen von grössern Unvollkommenheiten verknüpft.
Auf lebende Dinge angewendet hat das Wort Vollkommenheit
dieselbe Bedeutung. Die Vorstellung von einer vollkommenen Ge
stalt bei einem Racepferd ist durch Verallgemeinerung aus jenen
vielfach beobachteten Eigenthümlichkeiten von Racepferden abgeleitet
worden, welche gewöhnlich mit Erreichung der grössten Schnellig
keit verbunden erschienen, und ebenso bezieht sich der Begriff von
vollkommener Constitution eines Racepferdes auf die Ausdauer ,
welche dasselbe in Stand setzt, diese Schnelligkeit möglichst lange
Zeit beizubehalten. Nicht anders verhält es sich mit dem Menschen ,
wenn er von physischer Seite beurtheilt wird : wir vermögen keinen
andern Maassstab der Vollkommenheit anzulegen als den einer
vollendeten Leistungsfähigkeit aller Organe, ihre verschiedenen Func
tionen auszuführen. Dass unsere Vorstellung von vollkommenem
Gleichgewicht zwischen den innern Theilen und von vollkommenen
Maassverhältnissen zwischen den äussern Theilen hieraus entsprun
gen ist, geht deutlich aus der Beobachtung hervor, dass von der
Unvollkommenheit irgend eines Eingeweides , sei es Lunge , Herz
oder Leber, aus keinem andern Grunde gesprochen wird, als weil
es sich unfähig erweist, den Anforderungen, welche die Thätigkeiten
des Organismus an dasselbe stellen , vollständig zu genügen , sowie
aus der andern Beobachtung, dass die Vorstellung von zu geringer
§. 13. Gutes und böses Handeln . 37

oder von übermässiger Grösse irgend eines Gliedes dadurch ge


wonnen wurde, dass sich in uns zahlreiche Erfahrungen hinsicht
lich jenes Maassverhältnisses zwischen den einzelnen Gliedern an
gehäuft haben , das im höchsten Maasse die Ausführung aller
nöthigen Handlungen begünstigt.
Und auch für die Vollkommenheit der geistigen Natur besitzen
wir keinen andern Maassstab. Wenn von Unvollkommenheit des
Gedächtnisses , des Urtheils, des Temperaments gesprochen wird, so
geschieht dies , weil dieselben den Anforderungen des Lebens nicht
genau entsprechen . Und sucht man sich ein vollkommenes Gleich
gewicht der Verstandeskräfte und der Gemüthsbewegungen vorzu
stellen , so denkt man sich dabei nichts Anderes als ein solches
Verhältniss zwischen ihnen , das eine vollkommene Erfüllung jeder
beliebigen Pflicht, wie sie die Umstände Einem auferlegen mögen ,
mit Sicherheit verbürgt.
Demnach bedeutet also Vollkommenheit des Menschen , diesen
als handelndes Wesen betrachtet , eine Beschaffenheit desselben,
welche ihn befähigt , vollkommene Anpassungen von Handlungen
an Zwecke jeder Art zu erzielen . Und da nun, wie oben gezeigt
wurde, die vollkommene Anpassung von Handlungen an Zwecke darin
besteht, dass sie das am höchsten entwickelte Leben sowohl sichert
als auch selbst darstellt seiner Tiefe so gut wie seiner Länge nach ,
während , wie gleichfalls gezeigt wurde, die Rechtfertigung für Alles ,
was zur Steigerung des Lebens beiträgt, sich daraus ergibt, dass
aus dem Leben ein grösserer Gewinn an Glück als an Elend ent
springt, so folgt daraus, dass Fähigkeit zur Beglückung den höch
Isten Beweis für die Vollkommenheit des Wesens eines Menschen
bildet. Um sich hievon ganz zu überzeugen, braucht man sich
blos zu vergegenwärtigen, wie sich dieser Satz ausnimmt, wenn er
umgekehrt wird. Man nehme nur an, dass jede Annäherung an den
Zustand der Vollkommenheit grösseres Unglück für den Betreffen
den oder für Andere oder für Beide nach sich zöge, und es erhellt
schon aus diesem Gegensatz, dass Annäherung an Vollkommenheit
in der That bedeutet : Annäherung an Alles , was vermehrtes Glück
sichert.

§. 13.

Gehen wir nun von der Ansicht derer, welche die Vorzüglich
keit des Wesens zu ihrem sittlichen Maassstab erheben , zur Ansicht
38 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.

jener über, denen Tugendhaftigkeit des Handelns hiefür gilt. Ich


habe dabei nicht solche Moralisten im Auge, die auf empirischem
oder speculativem, auf inductivem oder deductivem Wege zu der
Entscheidung gelangt sein mögen , dass Handlungen gewisser Art
den Charakter haben, den wir als tugendhaft bezeichnen , und nun
daraus folgern, solche Handlungen müssten ohne Rücksicht auf
näherliegende Folgen ausgeübt werden : diese erscheinen hinlänglich
gerechtfertigt. Ich beziehe mich vielmehr auf jene Moralisten,
welche glauben, selbst einen Begriff von der Tugend als von einem
Selbstzweck zu haben, der von keinem andern Zwecke abgeleitet
sei , ――――― welche glauben, der Begriff Tugend lasse sich nicht weiter
in einfachere Begriffe auflösen.
Dies ist die Lehre, welche ARISTOTELES vertreten zu haben
scheint. Ich sage, vertreten zu haben scheint , weil nämlich seine
verschiedenen Darlegungen weit davon entfernt sind, sich mit einan
der vereinbaren zu lassen . Wenn er zwar das Glück als höchstes
Ziel des menschlichen Strebens anerkennt , so möchte es auf den
ersten Blick scheinen , als dürfte er nicht als Typus für Jene hin
gestellt werden, die als höchstes Ziel die Tugend setzen. Allein
er reiht sich selbst dieser Classe ein, indem er das Glück mit Hülfe
des Wortes Tugend zu definiren sucht, statt die Tugend mit Hülfe
des Wortes Glück zu definiren . Die unvollständige Sonderung der
Wörter von den Dingen, welche für die griechische Speculation im
Allgemeinen so charakteristisch ist, scheint auch hievon der Grund
gewesen zu sein. Im primitiven Denken sind der Name und das
damit benannte Object so mit einander verknüpft, dass der eine
als ein Theil des andern gilt - was ja so weit geht , dass den
Namen eines Wilden zu kennen , für diesen so viel bedeutet , als ob
man einen Theil seines Wesens und in Folge dessen auch das Ver
mögen , ihm Böses zuzufügen, besässe. Dieser Glaube an einen
realen Zusammenhang zwischen Wort und Ding , der sich durch
alle tieferen Stufen des Fortschritts hindurchzieht und noch lange
in der stillschweigend gemachten Annahme fortlebt , dass die Be
deutung der Wörter in diesen selbst stecke, durchdringt noch die
Dialoge des PLATO und lässt sich sogar bei ARISTOTELES nachweisen .
Denn sonst wäre es nicht wohl zu begreifen , warum er die ab
stracte Idee von Glück so unvollkommen von besondern Formen
des Glückes gesondert hat.
Wo die Scheidung der Wörter als Symbole von den Dingen
§. 13. Gutes und böses Handeln . 39

als dem Symbolisirten noch unvollständig ist, da muss sich natür


lich eine gewisse Schwierigkeit zeigen , den abstracten Wörtern
wirklich eine genügend abstracte Bedeutung zu geben. Wenn , wie
wir sahen, auf den ersten Entwickelungsstufen der Sprache der con
crete Name im Denken nicht von dem concreten Object, zu wel
chem er gehört , abgelöst werden kann, so ist leicht erklärlich, wie
im weitern Verlaufe der Ausbildung immer höherer Grade von ab
stracten Namen erst die Tendenz überwunden werden muss , jeden
mehr abstracten Namen durch Bezeichnungen zu erklären , welche
von einer Gruppe der von jenem umfassten, weniger abstracten
Namen hergenommen ist . Daher kommt es, wie ich glaube, dass
ARISTOTELES annimmt , das Glück müsse mit irgend einer bestimm
ten Art von menschlicher Thätigkeit statt vielmehr mit allen Arten
von menschlichen Thätigkeiten in Beziehung gesetzt werden . Statt
dass er in diesem Begriff alle die angenehmen Gefühle einschlösse,
welche jene Handlungen begleiten, aus denen das Leben an sich
besteht - Handlungen, von welchen er sagt, der Mensch habe sie
mit den Gewächsen gemeinsam ― und statt jenen Begriff auch
über die geistigen Zustände auszudehnen , welche das Leben der
äussern Wahrnehmung hervorbringt - Zustände, welche der Mensch
nach seiner Ansicht mit den Thieren im grossen Ganzen gemein
hat ――――― schliesst er alles dies von seinem Begriff des Glückes aus
und behält darin nur die Bewusstseinszustände, welche das Vernunft
leben begleiten. Nachdem er die Behauptung aufgestellt, dass die
eigentliche Aufgabe des Menschen 19 in der activen Übung seiner
geistigen Fähigkeiten im Einklang mit der Vernunft bestehe " ,
folgert er daraus , dass " das höchste Gut des Menschen darin ge
„geben sei, dass er diese Aufgabe mit Vorzüglichkeit oder mit
Tugend erfülle : hieraus wird er sein Glück schöpfen. " Und eine
Bestätigung seiner Ansicht erblickt er in ihrer Übereinstimmung
mit schon früher ausgesprochenen Ansichten, indem er sagt : „ Unser
,Begriff fällt nahezu mit dem Begriff Jener zusammen, welche das
,Glück in der Tugend suchen ; denn wir sagen eigentlich, dass es
in der Ausübung der Tugend bestehe, das heisst nicht allein in
dem Besitz, sondern im Gebrauche derselben . "
Nun ist aber die hier zu Grunde liegende Auffassung, dass die
Tugend auch noch auf andere Weise als mit Hülfe des Ausdrucks
Glück definirt werden könne (denn sonst würde der Satz darauf
hinauslaufen , dass das Glück durch Handlungen gewonnen werden
40 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.

könne, die zum Glücke führten), mit der platonischen Auffassung


verwandt, dass es ein ideales oder absolutes Gutes gebe , welches
erst den besondern und relativen Formen des Guten ihre Eigen
schaft der Gutheit verleihe, und ein ganz ähnlicher Einwand, wie
ihn ARSJTOTELES gegen PLATO's Vorstellung vom Guten erhebt,
lässt sich auch gegen seine eigene Vorstellung von der Tugend auf
stellen. Wie mit dem Guten, so verhält es sich auch mit der
Tugend : sie ist nicht eine Einzahl , sondern eine Mehrzahl. In
ARISTOTELES ' eigener Classification verwandelt sich die Tugend, wenn
von ihr im Allgemeinen die Rede ist, in Tugenden . Was er Tugen
den nennt, muss so bezeichnet werden auf Grund eines ihnen ge
meinsamen Merkmals, das entweder innerlich oder äusserlich ist .
Wir können ja gewisse Dinge zusammenordnen, entweder weil sie
dadurch einander ähnlich geworden sind, dass sie alle in sich eine
bestimmte Besonderheit tragen , wie wir es mit den Wirbelthieren
thun , weil sie alle eine Wirbelsäule besitzen ; oder wir können sie
zusammenordnen wegen irgend einer Gemeinsamkeit in ihren äusse
ren Beziehungen, wie z. B. wenn wir Sägen, Messer, Hämmer,
Eggen unter die Abtheilung der Werkzeuge einordnen . Werden nun
die Tugenden um einer innern Wesensgemeinschaft willen als solche
classificirt ? Dann muss sich doch ein gemeinsamer Zug in allen
den Cardinaltugenden nachweisen lassen , welche ARISTOTELES be
sonders aufzählt : , Muth, Mässigung, Freigebigkeit, Grossherzig
„ keit, Grösse , Milde, Liebenswürdigkeit oder Freundlichkeit, Wahr
,,haftigkeit, Gerechtigkeit. " Welches ist nun das Merkmal , was
Grösse und Milde gemeinsam haben sollen? Und falls sich irgend
ein solches gemeinsames Merkmal herausbringen lassen sollte , ist
dies dann dasselbe, was zugleich das wesentliche Merkmal der
Wahrhaftigkeit bildet ? Die Antwort lautet jedenfalls : Nein.
Werden denn also die Tugenden nicht wegen einer innerlichen
Wesensgemeinschaft als solche zusammengefasst, so muss dies um
irgend eines äusserlichen Merkmals willen geschehen , und dies kann
nichts Anderes sein als das Glück , welches, wie ARISTOTELES sagt,
in der Ausübung jener besteht . Sie werden durch ihre gemeinsame
Beziehung zu diesem Resultat mit einander verbunden, während ihr
inneres Wesen sie keineswegs näher verknüpft .
Vielleicht noch deutlicher wird sich die Folgerung auf diese
Weise ergeben : Wenn die Tugend ursprünglicher und unabhängiger
Natur ist, so lässt sich kein vernünftiger Grund angeben , warum
§. 14 . Gutes und böses Handeln. 41

irgend ein Zusammenhang zwischen tugendhaftem und solchem


Handeln bestehen sollte, das in seiner Gesammtwirkung auf das
Ich oder auf Andere oder auf beide zugleich lustbringend ist ; und
wenn ein solcher nothwendiger Zusammenhang nicht besteht, so
erscheint es wohl denkbar, dass das als tugendhaft bezeichnete
Handeln in seiner Gesammtwirkung auch schmerzbringend sein könnte.
Um nun die Consequenzen einer solchen Auffassung desselben ein
zusehen, brauchen wir nur die beiden Tugenden in Betracht zu
ziehen, welche in der alten und in der neuen Zeit als typische
Tugenden gegolten haben - Muth und Keuschheit. Nach dieser
Unterstellung also muss der Muth, der sich ebenso in der Selbst
vertheidigung wie in der Vertheidigung des Vaterlandes kundgibt,
als eine Handlungsweise aufgefasst werden, die nicht blos zufällig
Schmerzen nach sich zieht, sondern nothwendig eine Ursache des
Unglücks für das Individuum und für den Staat bildet , während
umgekehrt das Fehlen desselben zur persönlichen und allgemeinen
Wohlfahrt ausschlägt . Ebenso haben wir nach dieser Unterstellung
anzunehmen, dass ungeregelte geschlechtliche Beziehungen direct
und indirect vortheilhaft seien , dass Ehebruch zum häuslichen
Frieden und zur sorgfältigen Kindererziehung beitrage, während die
ehelichen Verhältnisse, je dauerhafter sie sind, desto mehr Zwiespalt
zwischen Mann und Frau erzeugen und ihrer Nachkommenschaft
Leiden, Krankheit und Tod bringen. So lange man nicht behaup
ten kann, dass Muth und Keuschheit immer noch als Tugenden
gedacht werden könnten, obschon sie in solcher Weise Elend er
zeugten, muss doch wohl zugegeben werden , dass der Begriff der
Tugend nicht von dem Begriff des Glück erzeugenden Handelns ge
trennt werden kann und dass , weil dies von allen Tugenden gilt,
so verschieden sie auch unter einander sind , es ihr Vermögen Glück
hervorzubringen ist, um dessentwillen sie eben als Tugenden be
zeichnet werden.

8. 14.

Gehen wir nun von jener ethischen Werthschätzung, welche


Vollkommenheit des Wesens oder Tugendhaftigkeit des Handelns
zum Prüfstein machte, zu derjenigen über, welcher Rechtschaffen
heit der Beweggründe als Maassstab gilt, so berühren wir damit die
intuitive Moraltheorie ; wir erledigen daher die Besprechung dieser
42 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.

Art ethischer Werthschätzung am passendsten durch eine Kritik


dieser Theorie.
Unter der Intuitionstheorie verstehe ich hier nicht die Ansicht,
welche die Gefühle der Zuneigung und Abneigung, die wir zu
Handlungen von gewisser Art haben, als durch die vererbten Wir
kungen fortgesetzter Erfahrungen hervorgerufen anerkennt, sondern
vielmehr jene Theorie, welche derartige Gefühle für gottgegeben
ansieht und als unabhängig von den vom Einzelnen oder von seinen
Vorfahren gemachten Erfahrungen erklärt . " Es besteht daher",
sagt HUTCHESON, "" wovon ein Jeder durch gesammelte Aufmerksam
„ keit und Nachdenken sich selbst überzeugen kann, ein natürlicher
,und unmittelbarer Entschluss, gewisse Affectionen und die daraus
„ entspringenden Handlungen zu billigen " ; und da er ebenso wie
seine übrigen Zeitgenossen an die besondere Schöpfung des Menschen
und aller übrigen Wesen glaubt , so betrachtet er auch diesen
" natürlichen Sinn für unmittelbare Vortrefflichkeit als einen aus
übernatürlicher Quelle entstammenden Führer. Obwohl er nun sagt,
dass die Gefühle und Handlungen, welche so intuitiv als gut er
kannt wurden, alle in einem höchsten Merkmal übereinstimmen ,
, darin nämlich, dass sie auf das Glück Anderer abzielen " , so sieht
er sich doch genöthigt, auch dies als einen im Voraus bestimmten
Zusammenhang aufzufassen. Nichtsdestoweniger lässt sich nach
weisen, dass das Vermögen, Glück zu schaffen, das hier als eine
zufällige Eigenthümlichkeit der Handlungen hingestellt wird , welche
eine solche angeborne moralische Billigung finden , in Wirklichkeit
gerade den Prüfstein bildet, mit Hülfe dessen diese Billigung als
moralisch erkannt wird. Die Anhänger der Intuitionstheorie setzen
Vertrauen auf diese Aussprüche ihres Gewissens , einfach weil sie,
wenn auch nicht deutlich, so doch unbestimmt, wahrnehmen , dass
dieselben mit den Ergebnissen jener höchsten Instanz zusammen
stimmen. Hier der Beweis dafür.
Nach dieser Hypothese wird das Böse eines Mordes vermöge
einer moralischen Intuition erkannt, welche der menschliche Geist
von Anfang an zu machen geschaffen war, und demgemäss lehnt
auch die Hypothese das Zugeständniss ab, dass dieser Sinn für die
Schlechtigkeit einer solchen Handlung unmittelbar oder auf Um
wegen aus dem Bewusstsein entspringe, dass ein Mord direct und
indirect eine Verminderung des Glücks nach sich ziehe. Ersuchen
wir aber einen Anhänger dieser Lehre, seine Intuition doch einmal
§. 14. Gutes und böses Handeln . 43

derjenigen des Fidschi-Insulaners gegenüberzustellen , welcher , da


ihm der Mord für eine ehrenvolle Handlung gilt, keine Ruhe hat,
bis er sich durch Tödtung eines Menschen ausgezeichnet ; und fragen
wir ihn dann , auf welche Weise die Intuition des Civilisirten im
Gegensatz zu der des Wilden zu rechtfertigen sei, so bleibt ihm
wohl kein anderer Ausweg übrig, als zu zeigen , wie ein der ersteren
gemässes Handeln zur Wohlfahrt beiträgt, während ein der letzteren
gemässes Handeln dem Einzelnen wie der Allgemeinheit Leiden
bringt. Wird der Anhänger dieser Lehre gefragt , warum das
moralische Gefühl , das ihm sagt, es sei Unrecht , einen Andern
seines Eigenthums zu berauben , eher Gehorsam beanspruchen könne
als das moralische Gefühl eines Turcomanen, der seinen Glauben
an die Verdienstlichkeit des Diebstahls dadurch beweist , dass
Wallfahrten nach den Gräbern berühmter Räuber unternimmt, um
daselbst Opfer darzubringen, so bleibt ihm wieder nichts Anderes
übrig, als zu erklären , dass sicherlich unter Verhältnissen wie die
unsrigen, wenn nicht auch unter denjenigen der Turcomanen, Nicht
beachtung der Ansprüche der Menschen an ihr Eigenthum nicht
allein unmittelbares Unglück erzeugt, sondern zugleich einen ge
sellschaftlichen Zustand hervorruft, welcher mit Glück unvereinbar
ist. Oder wird ferner von ihm eine Rechtfertigung seines Wider
strebens gegen das Lügen gefordert, im Gegensatz zu den Gefühlen
eines Ägypters, welcher sich seiner Geschicklichkeit im Lügen rühmt
(-hält er es doch sogar für lobenswerth, zu betrügen ohne einen
andern Zweck als den , sich im Betrug zu üben), so kann er sich
nur damit helfen, dass er auf das Gedeihen der Gesellschaft hin
weist, das durch vollkommenes Vertrauen zwischen Mensch und
Mensch gefördert wird, und auf die sociale Auflösung , welche all
gemeinem Misstrauen auf dem Fusse folgt - Consequenzen , die
nothwendigerweise zu angenehmen, beziehungsweise unangenehmen
Empfindungen führen müssen.
Daraus ergibt sich also der unvermeidliche Schluss , dass der
Anhänger der Intuitionslehre die Ableitung des Guten und Bösen
in letzter Linie von Freude und Schmerz keineswegs ausser dem
Spiele lässt und auch nicht lassen kann. Wie ausschliessend und
mit welchem Recht er sich auch in Betreff des Charakters seiner
Handlungen von den Entscheidungen seines Gewissens leiten lassen
mag er hat doch nur deshalb zu diesen Entscheidungen Vertrauen
gefasst, weil er, nur undeutlich zwar, aber doch bestimmt erkennt,
44 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.

dass Gehorsam gegen dieselben seine eigene wie die Wohlfahrt An


derer fördert, während Nichtberücksichtigung derselben mit der Zeit
einem Jeden Leiden bringt. Man fordere ihn auf, irgend ein Urtheil
in moralischem Sinne zu nennen, vermöge dessen er eine bestimmte
Handlungsweise als gut erkennt, welche, die Gesammtheit der Em
pfindungen in diesem wie in dem angenommenen zukünftigen Leben
in Anschlag gebracht, einen Überschuss von Schmerz zur Folge
hat, und man wird finden, dass er dies zu thun nicht im Stande
ist - eine Thatsache , die klar beweist, wie allen diesen Intuitionen
hinsichtlich des Guten oder Bösen von Handlungen die fundamen
tale Annahme zu Grunde liegt, dass die Handlungen gut oder böse
sind , jenachdem ihre Gesammtwirkungen das Glück der Menschen
oder aber ihr Elend vergrössern.

§. 15.
Es ist merkwürdig, zu beobachten , wie die Teufelsverehrung
des Wilden , welche unter den verschiedenartigsten Gestalten noch
unter der Civilisation fortlebt und uns als eines seiner Erzeugnisse
jenen Asceticismus hinterlassen hat , der in so mannichfaltigen
Formen und Graden immer noch weit verbreitet ist, sich als ein
Einfluss herausstellt , der seine Wirkung in der unverkennbarsten
Weise selbst auf Menschen ausübt, welche sich anscheinend nicht
nur von den ursprünglichsten , sondern auch von den höher ent
wickelten abergläubischen Vorstellungen emancipirt haben. Ansich
ten über Leben und Handeln, die jenen Zeiten ihre Entstehung ver
danken, wo man die vergötterten Vorfahren durch Selbstpeinigungen
zu versöhnen suchte, spielen auch heute noch eine grosse Rolle in
den ethischen Theorien vieler Leute , die vor Jahren schon der
Theologie der Vergangenheit den Rücken gekehrt haben und sich
vor jedem Einfluss von dieser Seite gesichert glauben.
In den Schriften eines Mannes , der das dogmatische Christen
thum ebenso gut wie den demselben vorausgehenden jüdischen
Cultus verwirft, wird der Lebenslauf eines Eroberers , welcher
Hunderttausenden das Leben kostete, mit einer Sympathie beschrie
ben, die sich nur jener Freude vergleichen lässt, mit welcher uns
die jüdischen Überlieferungen von der Vernichtung der Feinde im
Namen Gottes berichten. Nicht minder deutlich fühlt man die
Genugthuung heraus, die ihn erfüllt, wenn er die Ausübung despoti
scher Gewalt betrachtet und dabei lebhaft die gesunden Einrich
§. 15. Gutes und böses Handeln . 45

tungen eines Staates betont, in welchem der Wille der Sclaven und
Bürger dem Willen der Herren und Herrscher demüthig unterworfen
ist ein Gefühl, das uns abermals an jenes altorientalische Leben
erinnert, wovon uns die biblischen Erzählungen ein Bild vorführen.
Verbunden mit dieser Verehrung des Mächtigen - verbunden mit
dieser Rechtfertigung jeglicher Gewaltthat, die nöthig erscheinen
mag, um den Ehrgeiz des Starken zu befriedigen -- verbunden mit
diesem Herbeiwünschen einer Gesellschaftsform, in welcher die Ober
herrschaft der Wenigen unbeschränkt ist und die Tugend der Masse
im Gehorsam gegen Jene besteht - treffen wir ganz naturgemäss
einen Abscheu vor der ethischen Theorie, welche in der einen oder
andern Gestalt das grösste Glück als den höchsten Zweck alles
Handelns hinstellt : es kann uns nicht Wunder nehmen , wenn diese
Nützlichkeitsphilosophie mit dem verächtlichen Titel „ Schweine
philosophie " beehrt wird . Und hiezu kommt dann, recht bezeich
nend dafür , welches Verständniss die so titulirte Philosophie ge
funden hat, die Belehrung, dass nicht Glück, sondern Seligkeit der
Endzweck sein müsse.
Darin liegt offenbar ausgesprochen, dass Seligkeit nicht eine
Art von Glück sei , und diese Voraussetzung ruft sofort die Frage
hervor welcher Art von Gefühl ist sie denn ? Wenn sie überhaupt
ein Bewusstseinszustand ist , so ist sie nothwendigerweise einer von
den drei Zuständen : schmerzlich , indifferent oder angenehm. Lässt
sie den Besitzer auf dem Nullpunkt des Empfindens stehen ? Dann
lässt sie ihn genau in derselben Lage, als ob er das Gefühl gar
nicht gehabt hätte . Lässt sie ihn nicht auf dem Nullpunkt? Dann
muss sie ihn entweder unter oder über Null bringen.
Jede dieser Möglichkeiten lässt sich unter zwei Formen vor
stellen. Das, was mit dem Namen Seligkeit bezeichnet wird , kann
ein besonderer Bewusstseinszustand sein ――― einer unter den vielen
Zuständen, die es überhaupt gibt, und nach dieser Annahme haben
wir ihn als einen angenehmen , einen indifferenten oder einen schmerz
lichen Zustand zu erkennen. Nach einer andern Annahme wäre Selig
keit ein Wort, das sich nicht auf einen besondern Zustand des Be
wusstseins anwenden liesse, sondern vielmehr die Gesammtheit seiner
Zustände charakterisirte, und in diesem Falle müssen wir uns die
durchschnittliche Beschaffenheit dieser Summe als Etwas vorstellen ,
in welchem entweder das Angenehme oder in welchem das Unan
genehme vorwiegt oder endlich in welchem Freuden und Schmerzen
46 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III. ད

einander genau die Waage halten. Nehmen wir der Reihe nach
diese beiden denkbaren Anwendungen des Wortes vor.
„ Selig sind die Barmherzigen ; " „ Selig sind die Friedfertigen ; "
Selig ist, wer der Armen gedenkt. " Dies sind Aussprüche, welche
wir wohl getrost als Beispiele hinstellen können , aus denen sich
die allgemein angenommene Bedeutung von Seligkeit ergibt. Was
sollen wir nun von Jemand sagen , der für den Augenblick wenig
stens selig ist , indem er eine Handlung der Barmherzigkeit ausübt?
Ist sein geistiger Zustand ein freudiger ? Wenn ja , so wird damit
die Hypothese verlassen : Seligkeit ist dann eine besondere Form
von Glück. Ist der Zustand ein indifferenter oder ein schmerzlicher?
In diesem Falle entbehrt der selige Mensch so sehr des Mitleids ,
dass ihn, einen Andern von Schmerz oder der Furcht vor Schmerz
zu befreien, entweder vollständig ungerührt lässt oder ihm sogar
eine unangenehme Gemüthsbewegung verursacht. Wenn ferner Jemand,
der selig sein soll , indem er Frieden stiftet, aus dieser Handlung
keine innere Belohnung empfängt , so kann es ihn auch nicht im
Mindesten erregen, wenn er die Menschen einander Unrecht zufügen
sieht, oder es bereitet ihm sogar Freude, welche sich in Schmerz
verwandelt, wenn er das Unrecht verhütet. Und behauptet man
endlich, dass die Seligkeit eines Menschen, welcher " der Armen
„ gedenkt “ , nicht mit einem angenehmen Gefühle verbunden sei , so
wird damit nichts Anderes behauptet, als dass seine Rücksicht gegen
die Armen ihn ohne jedes Gefühl lässt oder ihm eine unangenehme
Empfindung bereitet. Wenn also Seligkeit ein besonderer Zustand
des Bewusstseins ist, welcher zeitweilig als Begleiterscheinung jeder
Art wohlthätiger Handlung eintritt, und es wird in Abrede gestellt ,
dass sie ein Vergnügen oder ein Element des Glückes sei , so liegt
darin das Bekenntniss, dass, wer so spricht, entweder über das
Wohlergehen Anderer sich nicht freue oder sogar Missfallen daran
habe.
Nach der andern Auffassung muss sich das Wort Seligkeit,
wie wir gesehen haben , auf die Gesammtheit der Gefühle be
ziehen, welche ein Mensch während seines Lebens hat, der sich mit
den durch dieses Wort mitbezeichneten Handlungen beschäftigt .
Auch hier bieten sich die drei Möglichkeiten dar : ein Überschuss
an Freuden , ein Überschuss an Schmerzen und Gleichgewicht zwi
schen beiden . Sind die angenehmen Zustände überwiegend , so kann
das selige Leben von jedem andern angenehmen Leben nur durch
§. 15. Gutes und böses Handeln . 47

die verhältnissmässig lange Dauer oder durch die Beschaffenheit


seiner Freuden unterschieden werden : es ist ein Leben, was sich
ein Glück von bestimmter Art und von bestimmtem Grade zum
Ziele setzt ; und damit wird die Annahme, dass Seligkeit nicht eine
Form des Glückes sei, ohne Weiteres hinfällig. Ist das selige Leben
von der Art, dass sich die während desselben erlebten Freuden und
Schmerzen das Gleichgewicht halten und so eine Durchschnittssumme
erzeugen, welche indifferenter Natur ist , oder ist es sogar von der
Art, dass die Freuden von den Schmerzen überwogen werden , dann
trägt das selige Leben den Charakter, welchen der Pessimist dem
Leben überhaupt beilegt und um dessentwillen er dasselbe für ver
abscheuenswerth erklärt. Vernichtung ist das Beste, wird er sagen
müssen, da, wenn eine im Durchschnitt indifferente Gesammtsumme
das Ergebniss eines seligen Lebens ist , Vernichtung dieses Ergebniss
auf einmal fertig bringt. Und ist gar ein Überschuss an Leiden
der Gewinn dieser höchsten, für selig erklärten Art von Leben,
dann muss um so eher noch dem Leben im Allgemeinen ein Ende
gemacht werden .
Ein möglicher Einwand muss hier noch erwähnt und widerlegt
werden. Während zugegeben wird , dass die besondere Art des Be
wusstseins , welche das als selig bezeichnete Handeln begleitet, an
genehmer Natur ist, liesse sich doch behaupten, dass eine Fortsetzung
dieses Handelns und das Empfinden der Freude durch die damit
verbundene Selbstverleugnung und die fortdauernden Anstrengungen ,
vielleicht sogar durch körperliche Schädigung, ein Leiden verursache ,
das im Ganzen tiberwiege. Und daraus könnte dann gefolgert wer
den, dass Seligkeit, wie bemerkt durch diesen Überschuss der Leiden
über die Freuden charakterisirt, nichtsdestoweniger als Endziel zu
erstreben und dem Glücke vorzuziehen sei, welches in einem Über
schuss der Freuden über die Leiden besteht. Wenn nun auch diese
Vorstellung von Seligkeit einigermaassen haltbar erscheint, so lange
sie auf ein oder wenige Individuen beschränkt bleibt, so erweist sie
sich doch als ganz unmöglich, wenn sie auf alle Menschen aus
gedehnt gedacht wird, wie sie es doch sein muss , wenn Seligkeit
wirklich als Endzweck des Handelns hingestellt wird. Um dies
einzusehen, brauchen wir uns blos zu fragen, zu welchem Zweck
diese die Freuden überwiegenden Leiden zu ertragen seien . Ist
Seligkeit der ideale Zustand für alle Menschen und liegt der letzte
Zweck der von einem Jeden bei der Verfolgung dieses idealen Zu
48 Die Thatsachen der Ethik. Cap . III.

standes geleisteten Selbstaufopferung darin, dass dadurch allen An


deren geholfen werde, denselben idealen Zustand zu erreichen , so
folgt daraus, dass der selige , wenn auch schmerzliche Zustand jedes
Einzelnen erzielt wird durch Beförderung desselben , wenn auch
schmerzlichen Zustandes der Andern : das selige Bewusstsein muss ent
stehen durch die Betrachtung des Bewusstseins der andern in einem
Zustand durchschnittlichen Leidens. Wird irgend Jemand diese
Forderung annehmen ? Wenn nicht, so bedingt diese Zurückweisung
derselben das Eingeständniss, dass das Motiv für das Ertragen von
Schmerzen bei der Ausübung von als selige bezeichneten Handlungen
nicht darin liegt, dass dadurch für andere gleiche Schmerzen der
Seligkeit, sondern vielmehr, dass dadurch Freuden für Andere er
reicht werden, dass also Freude irgendwo und irgendwie das unbe
wusst vorgesteckte höchste Ziel ist.
In kurzen Worten also : Seligkeit hat als nothwendige Vor
bedingung ihres Vorhandenseins irgend welches erhöhtes Glück posi
tiver oder negativer Art in diesem oder jenem Bewusstsein und sie
entschwindet uns vollständig, wenn wir annehmen , dass es bekannt
wäre , wie die sogenannten seligen Handlungen eine Verminderung
des Glückes bei Anderen sowohl wie beim Handelnden selbst ver
ursachten.

§. 16 .

Um die Tragweite der in diesem Capitel gegebenen allgemeinen


Beweisführung in helleres Licht zu setzen , müssen ihre einzelnen
Bestandtheile nochmals kurz aufgezählt werden .
Was wir im letzten Capitel als hochentwickeltes Handeln kennen
lernten , ist, wie wir in diesem Capitel finden , dasselbe , was gutes I
Handeln genannt wird, und das ideale Endziel der naturgemässen
Entwickelung des Handelns , wie es sich uns dort herausstellte , er
kennen wir hier als den idealen Maassstab des vom sittlichen Stand
punkt beurtheilten Handelns .
Die ihren Zwecken angepassten Handlungen , welche einmal das f
äussere sichtbare Leben ausmachen und zugleich von Augenblick
zu Augenblick die Fortsetzung des Lebens ermöglichen , werden , wie
wir sahen, um so besser angepasst, je weiter die Entwickelung
fortschreitet, bis sie schliesslich das Leben jedes einzelnen Indivi
duums der Dauer wie der Tiefe nach zu einem vollkommenen ge
stalten, während sie zu gleicher Zeit mit Erfolg der Aufziehung
§. 16. Gutes und böses Handeln . 49

der Nachkommenschaft dienen und diese beiden Zwecke erreichen,


nicht allein ohne andere Individuen am gleichen Thun zu verhin
dern, sondern vielmehr denselben dabei Hülfe leistend . Und hier
sehen wir nun , dass solchem Handeln unter jedem dieser drei Ge
sichtspunkte das Prädicat gut zuertheilt wird . Unter sonst gleichen
Umständen nennen wir für die Selbsterhaltung wohl geeignete Hand
lungen gut. Unter sonst gleichen Umständen nennen wir die Hand
lungen gut, die am wirksamsten sind, um eine zu vollkommenem
Leben befähigte Nachkommenschaft aufzuziehen , und unter sonst
gleichen Umständen schreiben wir Gutheit solchen Handlungen zu,
welche das vollkommene Leben Anderer fördern .
Diese Beurtheilung des Handelns , welches dem Leben des Ein
zelnen und Aller dient, als gutes Handeln beruht sodann, wie wir
fanden, auf der Voraussetzung, dass das lebendige Dasein etwas
Begehrenswerthes sei . Der Pessimist freilich kann ein Handeln ,
welches das Leben fördert, consequenterweise nicht gut nennen :
thäte er dies , so spräche er sich damit für irgend eine Form des
Optimismus aus. Wir sahen jedoch, dass Pessimisten sowohl wie
Optimisten von dem Satze ausgehen, dass das Leben ein Segen oder
ein Fluch sei, jenachdem das dasselbe begleitende Bewusstsein im
Durchschnitt ein freudiges oder ein schmerzliches ist. Und da einer
seits diejenigen, die sich offen zum Pessimismus bekennen oder in
direct dieser Anschauung huldigen , und die Optimisten dieser oder
jener Schattirung anderseits zusammengenommen alle Menschen aus
machen , so ist klar, dass jener Satz ganz allgemein anerkannt wird.
Daraus ergibt sich aber ferner, dass wir das dem Leben förderliche
Handeln nur unter der Voraussetzung gut nennen können , dass es
einen Überschuss von Freuden über die Schmerzen erzeugt.
Die Wahrheit , dass das Handeln von uns für gut oder schlecht
gehalten wird, jenachdem sein Gesammtresultat für den Handeln
den oder für Andere oder für beide Theile freudig oder schmerzlich
ist, erkannten wir aber bei näherer Prüfung als allen landläufigen
Urtheilen über das Handeln zu Grunde liegende Anschauung , wo
für der beste Beweis daraus sich ergab, dass eine Umkehrung der
gewöhnlichen Anwendung der Wörter zu Absurditäten führt. Und
so fanden wir auch, dass jeder sonst noch aufgestellte Maassstab
des Handelns seine Berechtigung von diesem höchsten Maassstab
ableitet. Mag Vollkommenheit des Wesens , Tugendhaftigkeit des
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 4
50 Die Thatsachen der Ethik. Cap. III.

Handelns oder Rechtschaffenheit der Beweggründe für das wahre


Endziel erklärt werden stets sahen wir, dass der Versuch einer
Definition der Vollkommenheit , der Tugend, der Rechtschaffenheit
uns unvermeidlich auf den fundamentalen Begriff Glück, in irgend
einer Form, zu irgend einer Zeit, von irgend einem Menschen er
lebt, hinausführt. Ebenso wenig liess sich eine andere verständ
liche Vorstellung von Seligkeit ausfindig machen als die, wonach
damit eine Erhebung des individuellen oder allgemeinen Bewusst
seins in einen glücklicheren Zustand verbunden ist, sei es nun durch
Milderung der Schmerzen oder durch Vermehrung der Freuden.
Selbst von Solchen, die das Handeln vielmehr vom religiösen als
vom ethischen Standpunkt aus beurtheilen, gilt dasselbe . Menschen,
welche Gott zu versöhnen suchen, indem sie sich selber Leiden auf 1
erlegen, oder welche sich der Freuden enthalten, um ihn nicht zu
beleidigen , thun dies doch nur, um zuletzt noch grösseren Schmerzen
zu entgehen oder zuletzt noch grösserer Freuden theilhaftig zu wer
den. Würden sie die Erwartung hegen, durch positives oder negatives
Leiden hienieden noch grösseres Leiden im Jenseits sich zuzuziehen,
sie würden gewiss nicht so handeln, wie sie es thun. Was sie jetzt
für ihre Pflicht halten, würden sie nicht dafür gelten lassen, wenn
als Lohn dafür ewige Pein statt ewiger Seligkeit in Aussicht stünde.
Ja wenn es wirklich Menschen gibt, die glauben, die menschlichen
Wesen seien geschaffen , um unglücklich zu sein, und sie seien zur
Fortführung ihres Lebens verpflichtet, um ihrem Schöpfer zu seiner
Befriedigung ihr Elend vorzuführen, so sehen sich doch auch solche
Gläubige genöthigt, diesen Maassstab der Beurtheilung anzunehmen,
denn die Freude ihres teuflischen Gottes ist auch für sie das zu
erstrebende Ziel.
Keine Schule also kann sich dem entziehen, als höchstes morali
sches Ziel einen begehrenswerthen Gefühlszustand hinzustellen, mit
was für Namen immer derselbe bezeichnet werden mag : Befriedi
gung, Freude, Seligkeit. Freude irgendwo , zu irgend einer Zeit, von
irgend einem oder vielen Wesen erfahren, ist ein nicht zu ver
drängendes Element der Vorstellung. Es ist dies ebenso sehr eine
nothwendige Form der moralischen Intuition, wie Raum eine noth
wendige Form der intellectuellen Intuition ist.

1
IV. Capitel.

Verschiedene Beurtheilungen des Handelns.

§. 17.
Der geistige Fortschritt spiegelt sich in Nichts so getreu wie
der wie in der Entwickelung der Idee von der Causalität , da die
Entwickelung dieser Idee mit derjenigen so vieler anderen Ideen
innig verknüpft ist. Bevor der erste Schritt auf diesem Wege ge
than werden kann , müssen Denken und Sprache weit genug vor
geschritten sein, so dass Eigenschaften oder Attribute als solche,
abgelöst von den Dingen , gedacht werden können , was auf den niede
ren Stufen des menschlichen Verstandes nicht möglich ist. Sodann
erscheint auch die einfachste Vorstellung von Ursache, wie wir sie
gegenwärtig auffassen, erst dann erreichbar, wenn zahlreiche ähn
liche Fälle zu einer einfachen Verallgemeinerung zusammengeordnet
worden sind, und auf jeder höheren Entwickelungsstufe bildet ein
umfassenderer Begriff von Allgemeinheit die Vorbedingung für eine
tiefere Auffassung der Causalität. Da sich ferner im Geiste con
crete Ursachen der verschiedensten Art aufgehäuft haben müssen,
bevor die Vorstellung von Ursache an sich, abgelöst von jeder be
sondern Ursache, auftauchen kann, so ergibt sich daraus, dass auch
ein Fortschritt in der Abstractheit des Denkens nothwendig damit
verbunden ist. Und als Begleiterscheinung knüpft sich daran die
Erkenntniss von constanten Beziehungen zwischen den Erscheinungen,
woraus erst die Ideen von Gleichförmigkeit der Folge und der
Coexistenz, der Begriff eines Naturgesetzes entspringen kann. Alle
diese Fortschritte können sich aber wieder nur in demselben Ver
hältniss vollziehen, als die Wahrnehmung und die daraus sich er
gebenden Gedanken durch den Gebrauch von genauen Maassen immer
schärfer werden und so der Geist allmählich mit bestimmtem Zu
sammenhang, mit Wahrheit und Gewissheit vertraut wird. Und
erst wenn die erstarkende Wissenschaft aus immer weiteren Kreisen
der Erscheinungswelt zahllose Beispiele von vorausberechneten und
bestätigten quantitativen Beziehungen zusammengehäuft hat, wird
endlich die Causalität als nothwendig und universal begriffen. Wenn
denn nun auch alle diese Grundvorstellungen einander in ihrer Ent
4*
52 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV .

wickelung gegenseitig fördern, so dürfen wir doch mit vollem Rechte


sagen, dass die Vorstellung von Causalität insbesondere hinsichtlich
ihrer Entwickelung von der Entwickelung aller übrigen abhängt und
deshalb den besten Maassstab für die geistige Entwickelung im
Allgemeinen abgibt.
Wie langsam sich, entsprechend ihrer eben erwähnten Abhängig
keit, die Vorstellung von Causalität entwickelt, zeigt uns ein Blick
auf die Thatsachen . Wir hören mit Erstaunen von dem Wilden ,
der in einen Abgrund gestürzt ist und es nun einem bösen Dämon
zuschreibt, dass sein Fuss ausgeglitten, und wir lächeln über den
ähnlichen Glauben des alten Griechen, dass sein Tod durch eine
Göttin verhindert worden sei , indem sie ihm die Spange des Helms
löste, an welchem sein Feind ihn gepackt hatte. Aber alltäglich I
hören wir, ohne uns weiter darüber zu verwundern , wie die Menschen
erzählen, sie seien durch göttliche Dazwischenkunft " vor Schiff
bruch bewahrt worden, wie sie den " Arm der Vorsehung" darin
erblicken, dass sie einen Zug verfehlten, der einen verderblichen Zu
sammenstoss erlitt , und wie sie es für eine „ Gnade " halten, einer
Verletzung durch ein herunterfallendes Kamin entgangen zu sein -
Menschen, die in solchen Fällen mindestens ebenso wenig ein physi
kalisches Causalitätsverhältniss erkennen als ein Wilder oder ein
Halbcivilisirter. Der Veddah , welcher glaubt, dass sein Pfeil nur
deshalb das Beutethier verfehlt habe, weil die Anrufung des Geistes
eines Vorfahren nicht eifrig genug betrieben worden sei, und der
christliche Priester, welcher über einem Kranken Gebete spricht in
der Erwartung, dadurch den Lauf seiner Krankheit zu hemmen ,
IN
unterscheiden sich von einander nur hinsichtlich des Agens , von
welchem sie übernatürliche Hülfe erwarten , und der Erscheinungen,
welche dadurch abgeändert werden sollen : die nothwendigen Be
ziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen werden von diesem
nicht minder als von jenem stillschweigend ignorirt. Mangelhaftes i
Vertrauen auf die Causalität lässt sich ja in der That sogar bei
Solchen entdecken, deren geistige Schulung ganz besonders geeignet
war, ein derartiges Vertrauen in ihnen zu erzeugen , bei Männern I
der Wissenschaft. Noch ein ganzes Menschenalter , nachdem die
Geologen in der Geologie bereits Uniformitarier geworden waren ,
blieben sie in der Biologie noch Katastrophisten : während sie in 1
1
der Entstehung der Erdkruste keine andern als natürliche Agentien
als wirksam anerkannten, schrieben sie einem übernatürlichen Agens
§. 18. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 53

die Entstehung der Organismen auf inrer Oberfläche zu. Ja noch


mehr : selbst unter denen , die überzeugt sind, dass sich die leben
digen Wesen im Allgemeinen durch die beständige Wechselwirkung
der überall thätigen Kräfte entwickelt haben, gibt es welche , die
mit dem Menschen eine Ausnahme machen oder die, wenn sie auch
zugeben, dass sein Körper eine gleiche Entwickelung durchgemacht
habe wie der Körper anderer Geschöpfe, doch von seinem Geist be
haupten, derselbe sei nicht entwickelt, sondern besonders erschaffen.
Wenn also der Begriff der universalen und nothwendigen Causalität
erst jetzt allmählich der vollen Anerkennung sich annähert, selbst
bei denen, welche in ihren Untersuchungen alltäglich neue Beweise
dafür finden, so ist wohl nicht anders zu erwarten, als dass er bei
den Menschen im Allgemeinen, deren Erziehung keineswegs darauf
berechnet war, ihnen diesen Begriff einzuprägen , nur sehr getheilte
Aufnahme finde, und am allerwenigsten dürfen wir ihn in Bezug
auf jene Classen von Erscheinungen anerkannt zu sehen hoffen, bei
welchen sich in Folge ihrer verwickelten Verhältnisse die Causal
beziehungen nur sehr schwer verfolgen lassen - bei den psychi
schen, den socialen und den sittlichen Erscheinungen.
Warum stelle ich hier diese Betrachtungen an über einen schein
bar nicht zur Sache gehörigen Gegenstand ? Es geschieht, weil ich
beim Studium der verschiedenen ethischen Theorien auf die eigen
thümliche Thatsache gestossen bin, dass sie sich sämmtlich ent
weder durch vollständigen Mangel oder durch unvollkommene An
erkennung des Begriffs der Causalität charakterisiren . Mögen sie
theologisch, politisch, intuitional oder utilitaristisch gefärbt sein ,
alle weisen, wenn auch nicht in gleichem, so doch jede in erheb
lichem Grade die Fehler auf, welche aus diesem Mangel entspringen.
Prüfen wir dieselben in der angeführten Reihenfolge.

§. 18.
Die sittliche Richtung, welche mit Recht als bis heute fort
lebender Repräsentant der ältesten Schule betrachtet werden kann ,
ist diejenige, welche kein anderes Gesetz anerkennt als den ver
meintlichen Willen Gottes. Sie fängt mit dem Wilden an, welcher,
von der Furcht vor seinem Nebenmenschen abgesehen , kein an
deres einschränkendes Princip kennt als die Furcht vor dem Geist
eines Vorfahren und dessen Begriff von sittlicher Pflicht, soweit er
sich von seinem Begriff von socialer Klugheit unterscheidet, einzig
54 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV.

aus dieser Furcht entspringt. Hier sind die Sittenlehre und die
Religionslehre identisch sie haben sich noch nicht im Geringsten
von einander differencirt.
Diese primitive Form der Sittenlehre erleidet dann im wesent
lichen nur dadurch eine Veränderung , dass die vielen untergeord
neteren übernatürlichen Agentien allmählich aussterben und gleich
zeitig ein einzelnes universales übernatürliches Agens immer mehr
hervortritt, erhält sich aber unter solchen Formen mit grosser
Zähigkeit bis auf unsere Zeit herab. Sämmtliche dogmatisirten
Religionen, die der eigentlichen Kirchen so gut wie die der Secten ,
legen durchweg grossen Nachdruck auf den Glauben, dass gut und
böse einfach kraft des göttlichen Gebotes gut und böse sei. Und
diese stillschweigende Annahme ist aus den theologischen Systemen
in die Systeme der Ethik übergegangen, oder besser ausgedrückt,
die Moralsysteme haben auf ihren früheren Entwickelungsstufen ,
wo sie noch wenig von den gleichzeitigen theologischen Systemen
differencirt waren, an dieser Annahme ohne weiteres theilgenommen .
Dies ersehen wir sowohl aus den Werken der Stoiker wie auch aus
denen einiger christlichen Sittenlehrer. Unter den Neueren mag
als Beispiel JONATHAN DYMOND, ein Quäker aufgeführt werden, der
in seinen „ Essays on the Principles of Morality " „ die Autorität
„ der Gottheit für die einzige Grundlage des Pflichtgefühls und Seinen
n geoffenbarten Willen für den einzigen höchsten Richter über gut
"‚ oder böse " erklärt. Es sind aber nicht etwa nur die einer ver
hältnissmässig so unphilosophischen Secte angehörenden Schriftsteller,
welche diese Ansicht verfechten : dieselbe wird mit einer geringen
Abweichung auch von Solchen behauptet, die sich zu einem sonst
wesentlich andersartigen Glauben bekennen. Denn diese behaupten,
dass, wo kein Glauben an eine Gottheit vorhanden sei , auch jeder
sittliche Halt fehlen müsse, und das läuft auf nichts Anderes hinaus
als auf den Satz, dass die sittlichen Wahrheiten keinen Ursprung
hätten als im Willen Gottes, welcher, wenn man ihn nicht in den
heiligen Schriften geoffenbart sein lassen wolle, sich uns doch jeden
falls im Gewissen offenbare.
Diese Annahme wird jedoch, wie sich bei näherer Prüfung er
weist, sich selber verderblich. Wenn es keine andere Ableitung
für gut und böse gibt als diesen verkündigten oder innerlich er
fahrenen göttlichen Willen, dann können auch selbstverständlich da,
wo jede Kenntniss dieses göttlichen Willens fehlt, die jetzt für böse
§. 18. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 55

geltenden Handlungen nicht für böse gehalten werden . Wenn aber


die Menschen nicht wussten, dass solche Handlungen böse waren,
weil sie dem göttlichen Willen zuwiderlaufen , und daher durch Be
gehung derselben nicht aus Ungehorsam Übles thaten, und wenn
sie auch sonst nicht wissen konnten , dass dieselben böse waren ,
dann durften sie also diese Handlungen so gut begehen wie jene,
die wir nun zu den guten rechnen : das Ergebniss müsste, praktisch
betrachtet, dasselbe sein. Soweit es sich um weltliche Dinge han
delt, könnte zwischen beiden kein Unterschied sein, denn wenn man
sagt, dass im täglichen Leben irgend ein Übel aus der Fortdauer
der Verübung von sogenannten bösen Handlungen und aus dem Auf
hören von sogenannten guten Handlungen entspringe , so behauptet
man damit doch nur, dass diese an und für sich gewisse verderb
liche und gewisse wohlthätige Folgen hervorbringen, das heisst mit
andern Worten, dass es noch eine andere Quelle des Sittengesetzes
gibt als den geoffenbarten oder errathenen göttlichen Willen : die
selben lassen sich ja mit Hülfe der Induction aus diesen beobach
teten Folgen erschliessen.
Ich wenigstens sehe keinen Ausweg aus dieser Schlussfolgerung.
Es muss entweder zugestanden oder verneint werden , dass die als
gut und die als böse bezeichneten Handlungen naturnothwendig,
die einen das Wohlergehen, die andern das Verderben des Menschen
bedingen. Wird dies zugestanden ? Dann ist dies Zugeständniss
gleichbedeutend mit der Behauptung, dass eine solche Bedingtheit
durch die Erfahrung bewiesen worden sei, und damit ist aber auch
die Theorie verlassen, dass die Sittlichkeit keinen andern Ursprung
habe als die göttlichen Gebote . Wird es verneint, dass die in gute
und böse geschiedenen Handlungen sich eben durch ihre Wirkungen
unterscheiden ? Dann wird zugleich stillschweigend behauptet, dass
die menschlichen Verhältnisse auch bei völliger Unkenntniss dieses
Unterschiedes ganz ebenso gut stehen würden ― und die ver
meintliche Nothwendigkeit der von Gott stammenden Gebote ver
schwindet .
Hier sehen wir nun auch, wie dieser Auffassung vollkommen
der Begriff der Ursache abgeht. Dass diese und jene Handlungen
einzig durch göttliche Verordnung zu guten resp. schlechten ge
stempelt werden, läuft auf die Ansicht hinaus, dass diese oder jene
Handlung nicht der Natur der Sache nach diese oder jene Art
von Wirkungen haben müsse. Wenn also auch das Bewusstsein
56 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV.

von der Causalität nicht ganz fehlt , so wird sie doch völlig
ignorirt.

§. 19.

PLATO und ARISTOTELES , welche staatliche Verfügungen zur Quelle


von gut und böse machen, und HOBBES, welcher behauptet, es könne
überhaupt weder von Gerechtigkeit noch von Ungerechtigkeit die
Rede sein, so lange nicht eine ordnungsmässig eingesetzte zwingende
Gewalt existirt, um ihre Gebote zu erlassen und denselben Nach
druck zu verleihen, haben auch unter den neuern Denkern nicht
wenig Nachfolger gehabt, deren Anschauung die ist, dass gut und
böse im Handeln keinen andern Ursprung habe als das Gesetz. Das
bedingt freilich die Ansicht, dass die sittliche Verpflichtung aus
Parlamentsbeschlüssen abzuleiten sei und je nach der Majorität
nach dieser oder jener Richtung abgeändert werden könne. Sie
lächeln über die Idee, dass die Menschen irgend welche Naturrechte
haben sollten , und sagen , die Rechte seien durchaus nur das Er
gebniss gegenseitiger Übereinkunft, womit zugleich nothwendig aus
gesprochen ist, dass auch die Pflichten daher stammen. Bevor wir
nun untersuchen, ob diese Theorie mit den Wahrheiten unserer
sonstigen Erfahrung übereinstimmt, wollen wir fragen, in wie weit
sie selbst inneren Zusammenhang hat.
In der Darlegung seines Satzes, dass Rechte und Pflichten zu I
gleich mit der Einrichtung der socialen Ordnung entstanden seien ,
sagt HOBBES :
>>Wo keine Vereinbarung vorausgegangen, da sind auch keine
>Rechte zuerkannt worden , und Jedermann hat Anrecht auf Alles ;
>demgemäss kann auch kein Handeln ungerecht sein. Ist aber eine
»Vereinbarung getroffen worden , dann, ist es ungerecht , sie zu
>brechen, und die Definition von Ungerechtigkeit kann nicht an
>ders lauten als : Nichtbefolgung der Vereinbarung. Und
>Alles, was nicht ungerecht ist , das ist gerecht ..... Deshalb muss,
>bevor überhaupt die Namen gerecht und ungerecht einen Sinn haben
>können, irgend eine zwingende Gewalt da sein, um die Menschen alle
> gleichmässig zur Befolgung ihrer Vereinbarung zu nöthigen , durch
> den Schrecken vor einer Strafe, die grösser sein muss als der Vortheil,
>den sie aus dem Bruch ihres Vertrages zu ziehen erwarten << *.
In diesem Paragraphen finden wir also folgende wesentlichen
Sätze : Gerechtigkeit ist Erfüllung des Vertrags ; Erfüllung des Ver

* Leviathan, Cap. XV.


§. 19. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 57

trags setzt eine Gewalt voraus, welche dieselbe erzwingt : „ gerecht


„und ungerecht können keinen Sinn haben " , so lange die Menschen
nicht gezwungen sind, ihre Verträge zu befolgen. Damit wird aber
behauptet, die Menschen könnten ihre Verträge nicht ohne Zwang
befolgen. Zugegeben einmal , die Gerechtigkeit bestehe in der Be
folgung eines Vertrages. Nun nehme man an, derselbe werde frei
willig befolgt : das ist also Gerechtigkeit. In diesem Falle haben
wir jedoch Gerechtigkeit ohne jeden Zwang, was der Hypothese
zuwiderläuft . Die einzige denkbare Entgegnung ist unvernünftig :
freiwillige Befolgung der Verträge sei unmöglich . Behaupte dies,
und die Lehre, dass gut und böse erst mit der Herstellung einer
Oberherrschaft ins Dasein gerufen werden, lässt sich allerdings ver
fechten. Verneine dies, und die ganze Lehre fällt dahin .
Von den inneren Widersprüchen gehen wir nun zu den äusseren
über. Die Begründung für seine Lehre von der absoluten Staats
autorität als der Quelle aller Gesetze des Handelns sucht HOBBES
in dem Elend , welches durch den fortwährenden Kampf zwischen
Mensch und Mensch heraufbeschworen wird, wie er beim Mangel
jeder gesellschaftlichen Ordnung entbrennen müsste , wobei er sich
eben darauf stützt, dass unter jeder beliebigen Form von Herrschaft
immer noch ein besseres Leben möglich sei als im blossen Natur
zustand. Mögen wir nun die willkürliche und grundlose Theorie
annehmen, dass die Menschen ihre Freiheit zu Gunsten einer Ober
gewalt von irgend welcher Art aufgegeben hätten in der Absicht,
dadurch einer ihnen versprochenen grösseren Befriedigung theilhaftig
zu werden, oder mögen wir uns lieber der auf Induction gegrün
deten vernünftigen Theorie zuwenden , dass nur allmählich ein Zu
stand politischer Unterordnung sich herstellte, auf Grund der wieder
holten Erfahrungen von den daraus erwachsenden grösseren Vor
theilen, ― jedenfalls bleibt es selbstverständlich, dass die Maass
regeln dieser Obergewalt sich auf nichts Anderes stützen können
als darauf, dass sie den Zwecken, um derentwillen sie überhaupt
eingesetzt wurde , entsprechen. Die Nothwendigkeit, welche die Herr
schaft in's Leben rief, schreibt dieser auch selbst ihre Handlungen
vor. Genügen ihre Thätigkeiten den Anforderungen nicht, so fehlt
ihr jeder Rückhalt. Die Autorität des Gesetzes ist also auch
nach dieser Hypothese abgeleitet und kann niemals über die Autori
tät dessen, wovon sie abgeleitet ist, sich erheben . Ist das allgemeine
Gut, Wohlfahrt , Nutzen das höchste Ziel und sind staatliche Ver
58 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV.

fügungen nur insoweit berechtigt, als sie die Mittel zur Erreichung
dieses höchsten Zieles bilden , so können dieselben auch nur insofern
Autorität beanspruchen , als sie daraus erwächst, dass sie diesem
höchsten Ziele förderlich sind .Sind sie gut, so sind sie es nur,
weil die ursprüngliche Autorität hinter ihnen steht, und können sie
diese Bürgschaft nicht aufweisen , so sind sie schlecht. Mit andern
Worten, das Handeln kann nicht durch das Gesetz für gut oder
schlecht erklärt werden , sondern sein guter oder böser Charakter
wird in letzter Linie doch nur durch seine Wirkungen bestimmt,
jenachdem es seinem Wesen nach das Leben der Einzelnen fördert
oder nicht.
Noch haltloser erweisen sich die Ansichten von HOBBES und
seinen Anhängern, wenn wir dieselben nicht blos abstract, sondern
auch in concreter Anwendung prüfen. Einstimmig in der allgemeinen
Überzeugung, dass ohne genügende Sicherheit des Lebens, welche
den Menschen möglich macht, ohne Furcht ihren Geschäften nach
zugehen, weder Glück noch Wohlstand der Einzelnen wie der All
gemeinheit bestehen könne, halten sie daran fest, dass Maassregeln
zur Verhütung von Mord , Todschlag, Raub u. s. w. erforderlich
seien, und vertheidigen deshalb dieses oder jenes Strafsystem, wel
ches ihnen gerade die besten Abschreckungsmittel zu bieten scheint :
sie folgern also in Betreff der Übel so gut wie deren Heilung, dass
die und die Ursachen der Natur der Sache nach die und die Wir
kungen hervorbringen werden. Sie anerkennen es als eine a priori
erschliessbare Wahrheit, dass die Menschen keinen Erwerb bei Seite
legen werden, so lange sie nicht mit grosser Wahrscheinlichkeit
darauf rechnen können , die Vortheile davon zu geniessen ; dass in
Folge dessen, wo der Räuberei keine Schranken gesetzt sind oder
wo ein habsüchtiger Herrscher all die Einkünfte seiner Unterthanen
sich aneignet, die nicht sicher vor ihm verborgen werden, die Pro
duction kaum jemals den unmittelbaren Verbrauch übersteigen und
dass daher unmöglich eine solche Anhäufung von Capital stattfinden
wird, wie sie für die sociale Entwickelung und alle ihre Mittel zur
Beförderung der menschlichen Wohlfahrt erforderlich ist . In keinem
Falle jedoch bemerken sie selber, dass sie stillschweigend anerkennen,
wie das Bedürfniss nach gewissen Einschränkungen des Handelns
abzuleiten ist von den nothwendigen Bedingungen eines vollkom
menen Lebens im socialen Zustande, und dass sie somit die Autori
§. 19. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns. 59

tät des Gesetzes als eine abgeleitete und nicht als eine ursprüng
liche hinstellen.
Wenn etwa ein Anhänger dieser Schule einwenden wollte, dass
für gewisse moralische Verpflichtungen, welche als Cardinalpflichten
zu unterscheiden seien, zugestanden werden müsse , dass sie eine
tiefere Grundlage als die Gesetzgebung hätten, und dass es nicht
die Aufgabe der Gesetzgebung sei , diese erst zu schaffen, sondern
blos ihnen Nachdruck zu verleihen ―――― wenn sie, sage ich, dieses
zwar eingestehen, jedoch im Übrigen für die untergeordneten An
forderungen und Pflichten einen gesetzgeberischen Ursprung be
haupten, dann haben wir damit im Grunde die Theorie vor uns ,
dass zwar gewisse Arten des Handelns der Natur der Sache nach
bestimmte Ergebnisse hervorzubringen streben , dass aber andere
Arten des Handelns ihrem Wesen nach nicht solche Ergebnisse
hervorzubringen geeignet sind . Während sie einräumen müssen ,
dass jene Handlungen mit Naturnothwendigkeit gute oder schlechte
Folgen nach sich ziehen, kann es von diesen Handlungen geleugnet
werden, dass sie nothwendigerweise gute oder schlechte Folgen haben .
Nur auf Grund solcher Behauptungen lässt sich dann die Annahme
festhalten, dass Handlungen der letzten Classe durch das Gesetz
zu guten oder schlechten Handlungen gemacht werden. Denn wenn
solche Handlungen irgend eine innere Tendenz, wohlthätige oder
verderbliche Wirkungen hervorzubringen, besitzen , dann liefern diese
innern Tendenzen die Bürgschaft für die Berechtigung der gesetz
lichen Forderungen oder Verbote ; sagt man aber, diese Forderungen
oder Verbote machten sie zu guten oder bösen Handlungen, so be
hauptet man damit , dass sie keine innere Tendenz zur Hervor
bringung wohlthätiger oder verderblicher Folgen hätten.
Hier lernen wir also abermals eine Theorie kennen, welche ein
mangelhaftes Bewusstsein von der Causalität verräth. Ein hinläng
lich fest eingewurzeltes Bewusstsein von der Causalität erzeugt den
unerschütterlichen Glauben, dass von den wichtigsten bis herab zu
den gleichgültigsten Handlungen der Menschen in der Gesellschaft
Folgen ausgehen müssen, welche, ganz abgesehen von jeder gesetz
lichen Einwirkung, in höherem oder geringerem Grade zum Wohl
oder zum Übel der Menschen ausschlagen müssen . Wenn der Mord
für die Gesellschaft verderblich ist, mag er von den Gesetzen verboten
sein oder nicht - wenn die gewaltsame Aneignung des von dem
60 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV.

Einen Erworbenen durch den Andern im Einzelnen und im All


gemeinen Böses zur Folge hat, gleichgültig ob dies den Befehlen
eines Herrschers zuwiderläuft oder nicht ――― wenn Nichterfüllung
der Verträge, wenn Betrug, wenn Verfälschung einer Gemeinschaft
um so grössere Nachtheile bringen , je mehr sie verbreitet sind ,
ganz abgesehen von den dagegen bestehenden Verboten - ist es
dann nicht selbstverständlich, dass das Gleiche durchweg für alle
Einzelheiten im Betragen der Menschen gilt ? Ist es nicht klar,
dass, wenn die Gesetzgebung auf der Ausübung gewisser Hand
lungen besteht, welche naturgemäss wohlthätige Wirkungen haben ,
und andere verbietet, welche naturgemäss verderblich wirken, dass
dann diese Handlungen nicht etwa durch die Gesetzgebung zu guten
oder bösen gemacht werden , sondern vielmehr die Gesetzgebung
ihre eigene Autorität von den natürlichen Folgen der Handlungen
ableitet? Nichtanerkennung dieser Wahrheit aber ist nichts An
deres als Nichtanerkennung der natürlichen Causalität.

§. 20.
Ebenso verhält es sich mit den Anhängern der reinen Intuitions
lehre, welche behaupten, das sittliche Gefühl sei dem Menschen im
ursprünglichen Sinne angeboren - Denker, deren Ansicht im Grunde
die ist, dass die Menschen von Gott mit sittlichen Fähigkeiten be
gabt worden seien, dass diese also keineswegs aus ererbten Ab
änderungen hervorgegangen wären , welche durch angehäufte Er
fahrungen verursacht würden .
Wer erklärt, dass wir kraft eines auf übernatürlichem Wege
erhaltenen Gewissens wüssten , welche Dinge gut und welche ande
ren böse seien , wer also damit stillschweigend annimmt, dass wir
auf keine andere Weise das Gute vom Bösen zu unterscheiden ver
möchten , der verneint zugleich stillschweigend jede natürliche Be
ziehung zwischen Handlungen und deren Folgen. Denn wenn es
überhaupt solche Beziehungen gibt, so müssen wir durch Induction
oder durch Deduction oder durch Beides feststellen können , welcher
Art diese sind. Und wenn zugegeben wird, dass eben wegen dieser
natürlichen Beziehungen Glück das Ergebniss dieser Art von Han
deln ist, welche wir deshalb billigen, während Unglück das Ergeb
niss einer andern Art von Handeln ist , welche wir deswegen ver
dammen, dann ist auch zugegeben, dass die Gutheit oder Schlechtig
keit der Handlungen bestimmbar ist und in letzter Linie auch
§. 21. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 61

bestimmt werden muss, je nach der guten oder schlimmen Art der
Wirkungen, welche daraus entspringen, was ganz der Hypothese
zuwiderläuft.
Es könnte nun freilich eingewendet werden , dass die Wirkungen
von dieser Schule absichtlich ignorirt werden, indem sie lehre, dass
ein Verhalten , welches vermöge der sittlichen Intuition als gut er
kannt worden , ohne Rücksicht auf die Folgen beobachtet werden
müsse. Bei näherer Prüfung zeigt sich jedoch, dass die ausser Acht
zu lassenden Folgen besondere und nicht allgemeine Folgen sind .
Wenn beispielsweise gesagt wird , dass Etwas, was Jemand verloren
hat, ohne Rücksicht auf böse Folgen für den Finder zurückgegeben
werden müsse , welcher möglicherweise dadurch sich selbst des Mit
tels beraubt, das ihn vor dem Hungertode hätte retten können , so
ist doch offenbar nur gemeint, dass getreu dem Princip nur die
unmittelbaren und speciellen Folgen ausser Acht zu lassen seien ,
nicht aber die mittelbaren und entfernteren Folgen . Woraus hervor
geht, dass die Theorie , obschon sie eine offene Anerkennung der
Causalität von sich weist, doch eine unausgesprochene Anerkennung
derselben enthält.
Und damit ist auch die Eigenthümlichkeit derselben gekenn
zeichnet, auf welche ich die Aufmerksamkeit lenken wollte. Der
Begriff der natürlichen Causalität ist so unvollkommen entwickelt ,
dass nur ganz undeutlich die Thatsache in's Bewusstsein tritt, dass
im ganzen Gebiet des menschlichen Handelns nothwendige Beziehungen
zwischen Ursachen und Wirkungen herrschen und dass von diesen
in letzter Linie sämmtliche Sittengesetze abzuleiten sind, wie be
stimmt sie auch zunächst von sittlichen Intuitionen abgeleitet wer
den mögen .

§. 21 .

So sonderbar es klingt, so ist doch sogar die utilitaristische


Schule, welche sich auf den ersten Blick gerade dadurch von den
übrigen zu unterscheiden scheint, dass sie die natürliche Causalität
anerkennt , wenn auch nicht so weit wie diese, so doch immer noch
sehr weit von einer vollständigen Erkenntniss derselben entfernt.
Ihrer Theorie zufolge ist das Handeln nach Beobachtung seiner
Resultate zu beurtheilen. Wenn sich in hinlänglich zahlreichen
Fällen herausgestellt hat, dass ein Benehmen von dieser Art Böses ,
ein Benehmen von jener Art dagegen Gutes bewirkt, so sind diese
62 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV.

Arten von Benehmen als böse beziehungsweise gut zu bezeichnen.


Obwohl es nun scheinen könnte, als ob damit implicite der Ursprung
des Sittengesetzes aus natürlichen Ursachen behauptet wäre, so ist
dies doch nur theilweise der Fall. Die zu Grunde liegende An
schauung ist einfach die, dass wir durch Induction festzustellen
hätten, ob diese oder jene Nachtheile oder Vortheile mit diesen oder
jenen Handlungen zusammen auftreten und ob daraus zu schliessen
sei , dass dieselben Beziehungen auch in Zukunft stattfinden werden.
Aber Annahme dieser Verallgemeinerung und der daraus gezogenen
Schlüsse ist nicht dasselbe wie Erkenntniss der Causalität im vollen
Umfang des Wortes . So lange nur irgend eine Beziehung zwi
schen Ursache und Wirkung im Handeln und nicht die Beziehung
erkannt ist, so lange ist auch eine vollkommene wissenschaftliche
Form der Erkenntniss nicht erreicht. Bisher pflegten die Utili
taristen diesem Unterschied keine Aufmerksamkeit zu schenken .
Selbst wenn sie darauf hingewiesen werden , so lassen sie die That
sache ausser Acht, dass der empirische Utilitarismus jedenfalls nur
eine Übergangsform darstellt, welche auf dem Wege zum rationalen
Utilitarismus durchlaufen werden muss.

In einem Briefe an Mr. MILL, welcher vor ungefähr siebzehn


Jahren geschrieben wurde und in welchem ich den Titel Anti-Utili
tarier zurückwies, den er mir beigelegt hatte (ein Brief, welcher
später in Mr. BAIN'S Werk Mental and Moral Science " veröffent
licht wurde), bemühte ich mich, den oben angedeuteten Unterschied
klar zu machen, und ich erlaube mir deshalb, hier einige Stellen
aus jenem Brief zu citiren.
Die von mir vertretene Ansicht ist die, dass die Ethik im eigent
lichen Sinne - die Wissenschaft vom guten Handeln ― die Entschei
dung, wie und warum gewisse Handlungsweisen verderblich und ge
wisse andere wohlthätig sind, zu ihrem Gegenstande hat. Diese guten
und schlechten Resultate können nicht zufällige, sondern müssen noth
wendige Folgen der Ordnung der Dinge sein, und meiner Ansicht nach
ist es nun eben die Hauptaufgabe der Moralwissenschaft, aus den Ge
setzen des Lebens und den Existenzbedingungen abzuleiten, welche Arten
des Handelns nothwendigerweise Glück und welche Unglück zu erzeugen
streben. Hat sie dies gethan , so müssen ihre Deductionen als die Ge
setze des Handelns anerkannt und ohne Rücksicht auf eine directe Be
urtheilung von Glück oder Elend befolgt werden .
Ein analoges Beispiel wird vielleicht meine Ansicht deutlicher
machen. Auf ihren früheren Entwickelungsstufen bestand die Astronomie
unseres Planetensystems aus nichts weiter als aus einer grossen Summe
§. 22. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 63

von Beobachtungen über die Stellungen und Bewegungen der Sonne


und der Planeten, und aus dieser Summe von Beobachtungen liess sich
nach und nach auf empirischem Wege mit grosser Annäherung an das
Richtige voraussagen, dass die einzelnen Himmelskörper zu bestimmten
Zeiten diese oder jene Stellungen einnehmen würden. Die moderne
Wissenschaft von der planetarischen Astronomie aber besteht aus De
ductionen von dem Gesetze der Gravitation Deductionen, welche uns
zeigen, warum die Himmelskörper nothwendig zu bestimmten Zeiten
bestimmte Stellungen einnehmen . Die Art von Beziehung nun, welche
somit zwischen der älteren und der neueren Astronomie stattfindet , ist
ganz analog derjenigen, welche meiner Ansicht nach zwischen der
Zweckmässigkeits-Ethik und der wissenschaftlichen Ethik im eigentlichen
Sinne besteht. Und der Vorwurf, welchen ich gegen den herrschenden
Utilitarismus erhebe, ist der, dass derselbe keine höher entwickelte Form
der Ethik anerkennt, dass er nicht einsieht, wie er nur erst das An
fangsstadium der wissenschaftlichen Ethik erreicht hat.
Wenn man freilich einen Utilitarier frägt, ob es ein blosser
Zufall sein könne, dass diese Art von Handlungen eine böse, jene
eine gute Wirkung hat, so wird er ohne Zweifel antworten : Nein ;
er wird zugeben, dass die hier in Frage kommenden Folgen nur
Theilerscheinungen einer nothwendigen Ordnung in der Erscheinungs
welt bilden. Allein obschon diese Wahrheit über jeden Zweifel
erhaben ist und obschon, wenn also causale Beziehungen zwischen
den Handlungen und ihren Folgen bestehen, die Gesetze des Han
delns nur dadurch wissenschaftlichen Werth erhalten können , dass
sie von diesen Causalbeziehungen abgeleitet werden, so begnügt man
sich gleichwohl durchaus mit jener Form des Utilitarismus, in wel
cher diese Causalbeziehungen praktisch ganz ausser Acht gelassen
werden . Es wird angenommen, dass sich in Zukunft so gut wie
in der Gegenwart das Nützliche nur durch Beobachtung der Folgen
werde bestimmen lassen und dass es eine Unmöglichkeit sei , durch
Deduction aus grundlegenden Principien zu erfahren, welches Han
deln verderblich und welches Handeln wohlthätig sein muss.

§. 22.

Um die hier angedeutete Auffassung von der Ethik als


Wissenschaft bestimmter darlegen zu können , will ich sie in con
creter Form vorzuführen suchen, indem ich mit einem einfachen
Beispiel beginne und dasselbe durch immer neue Complicationen
erweitere.
64 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.

Wenn wir durch Unterbinden einer Hauptschlagader den gröss


ten Theil des sonst in ein Glied hinausströmenden Blutes davon
abschliessen, so müssen so lange, als das Glied überhaupt noch
seine Verrichtungen zu leisten vermag, die dabei in Anspruch ge
nommenen Theile schnellerem Verbrauch unterliegen , als wie sie
wieder ersetzt werden, was schliesslich zur Entkräftung führt. Die
Beziehung zwischen der nothwendigen Aufnahme von nährenden
Stoffen durch die Arterien des betreffenden Gliedes und der erforder
lichen Ausübung seiner Functionen gehört zur physikalischen Gesetz
mässigkeit. Wenn wir nun , statt einem einzelnen Gliede die Zu
fuhr abzuschneiden, dem Patienten lange zur Ader lassen und ihm
so die Stoffe entziehen , deren er zum Wiederersatz des Verbrauches
nicht in einem Gliede , sondern in allen Gliedern , und nicht in den
Gliedern blos , sondern auch in den Eingeweiden bedarf, so entspringt
daraus einmal eine Schwächung der Muskeln und zugleich eine
Herabsetzung der gesammten Lebensthätigkeiten . Hier erscheinen
abermals Ursache und Wirkung in nothwendiger Beziehung zu einan
der. Der Nachtheil, welcher aus starkem Blutverlust entspringt,
tritt ein ohne Rücksicht auf irgend ein göttliches Gebot oder eine
staatliche Verfügung oder eine sittliche Intuition. Gehen wir noch
einen Schritt weiter. Nehmen wir an, der Mann werde irgendwie
daran verhindert, in genügender Menge feste und flüssige Nahrung
in sich aufzunehmen , welche diejenigen Stoffe enthält, die seinem
Blute durch den Wiederersatz seiner Gewebe fortwährend entzogen
werden ; nehmen wir z. B. an , er leide an Krebs im Schlunde und
könne nicht schlucken ――――――― was wird geschehen ? Durch diesen in
directen so gut wie durch den directen Blutverlust wird er noth
wendigerweise unfähig gemacht werden , die Thätigkeiten eines ge
sunden Menschen auszuüben . In diesem Falle wie in andern Fällen
ist der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung derart, dass
er durch keine ausserhalb der Erscheinungen selbst stehende Autori
tät eingerichtet oder verändert werden könnte. Denken wir uns
ferner , dass die Speisen , welche der Mann verschlingen will, nicht
erst nachdem sie seinen Mund passirt, sondern noch bevor sie seinen
Mund erreicht haben, angehalten werden , dass er etwa Tag für
Tag genöthigt wäre, seine Gewebe beim Erwerb seiner Nahrung zu
verbrauchen, und zugleich Tag für Tag mit Gewalt verhindert würde,
die Speise zu verzehren , welche er sich erwarb, um seinen Verlust
zu ersetzen. Wie im vorigen Falle ist schliesslich der Tod durch
.
§. 22. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 65

Verhungern unvermeidlich - der Zusammenhang zwischen Hand


lungen und Wirkungen besteht unabhängig von jeder kirchlichen
oder staatlichen Autorität . Und auch wenn er durch die Peitsche
zur Arbeit gezwungen wird , ohne einen entsprechenden Ersatz in
Form von Speise zu erhalten , werden mit eben solcher Gewissheit
und ebenso unabhängig von geistlichen oder weltlichen Verfügungen
ebenso üble Folgen eintreten .
Gehen wir nun zu solchen Handlungen über, welche gewöhn
lich eher zur Aufstellung von Gesetzen des Handelns Veranlassung
geben. Nehmen wir an, der Mann werde beständig dessen beraubt,
was ihm als Entgelt für seine Arbeit gegeben wurde und vermöge
dessen er seine Ausgaben an Nerven und Muskeln wieder zu er
setzen und seine Kräfte zu erneuern hätte. Aber auch hier wurzelt
der Zusammenhang zwischen dem Handeln und den Folgen desselben
nicht minder fest in der Ordnung der Dinge als zuvor ; kein vom
Staat erlassenes Gesetz kann ihn verändern und keine empirische
Verallgemeinerung ist nöthig zur Feststellung desselben. Ist die
Thätigkeit, durch welche der Mann beeinflusst wird, noch um einen
Schritt weiter von ihren Folgen entfernt oder sind diese von noch
weniger bestimmter Art, so erkennen wir abermals diese Grundlage
der Sittlichkeit in der physikalischen Gesetzmässigkeit . Denken wir
uns z. B., dass die Bezahlung für seine Dienste theilweise in schlech
ten Münzsorten erfolge oder dass sie über den festgesetzten Termin
hinaus verschoben werde oder dass, was er sich zum Essen kauft ,
mit nicht nährenden Stoffen verfälscht sei. Offenbar wird durch
jede dieser Handlungen, die wir als ungerecht verdammen und die
vom Gesetz bestraft werden, eine Störung der normalen Ausgleichung
zwischen physiologischem Verbrauch und physiologischem Wieder
ersatz herbeigeführt. Und nicht anders ist es, wenn wir zu andern
Arten des Handelns übergehen , deren Wirkungen noch weiter ab
liegen . Wenn er verhindert wird , seine Ansprüche geltend zu machen
-wenn Classenherrschaft es ihm unmöglich macht, gerichtlich vor
zugehen, oder ein bestochener Richter ein dem Thatbestand zuwider
laufendes Urtheil abgibt oder ein Zeuge falsch schwört -- ist es
hier nicht abermals dieselbe ursprüngliche Ursache , welche die
Schlechtigkeit dieser Handlungen bedingt, so indirect sie auch den
Menschen beeinflussen mögen ?
Selbst von Handlungen , deren nachtheilige Folgen ganz ver
einzelt und unbestimmt sind, gilt dasselbe. Nehmen wir an , der
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 5
66 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV.

Mann sei nicht betrügerisch behandelt, sondern verleumdet worden.


Das bedingt für ihn wie zuvor ein Hinderniss in der Ausführung
der seinem Lebensunterhalte dienenden Thätigkeiten, denn der Verlust
seines guten Rufes muss einen schädlichen Einfluss auf sein Ge
schäft haben. Das ist aber nicht Alles . Die dadurch verursachte
geistige Niedergeschlagenheit macht ihn theilweise unfähig zu leb
hafter Thätigkeit und stört vielleicht sogar seine Gesundheit. Bös
willige oder unbedachte Verbreitung falscher Gerüchte vermag also
sowohl sein Leben zu verkürzen , als auch seine Fähigkeit, das Leben
Anderer zu erhalten , zu vermindern . Darum ist sie abscheulich.
Verfolgen wir endlich die durch jede dieser Handlungen , welche
die sogenannte intuitive Sittlichkeit verabscheut, hervorgebrachten
Wirkungen bis zu ihren letzten Verzweigungen fragen wir, was
dadurch nicht dem Betreffenden allein , sondern auch seinen An
――――――
gehörigen zugefügt wird bedenken wir, dass er durch Verarmung
am richtigen Aufziehen seiner Kinder verhindert wird, dass sie
mangelhafte Ernährung oder ungenügende Bekleidung zur Folge hat
und vielleicht zum Tode der Einen und zur dauernden Schädigung
der Gesundheit der Andern führt - so erkennen wir, wie kraft
des nothwendigen Zusammenhangs der Dinge solche Handlungen im
Stande sind, nicht nur zunächst das Leben des unmittelbar ange
griffenen Individuums , sondern in zweiter Linie auch das Leben ·

seiner ganzen Familie zu verkürzen und drittens sogar das Leben


der Gesellschaft im Allgemeinen zu benachtheiligen, indem diese
natürlich durch Alles geschädigt wird, was ihre einzelnen Bestand
theile schädigt .
Es wird nun etwas deutlicher ersichtlich sein , was mit dem
Satze gemeint war, dass der Utilitarismus, welcher nur die durch
Induction erreichten Grundsätze des Handelns kennt, blos die Vor
stufe für jene Form des Utilitarismus ist, welcher diese Grundsätze
von den Lebensvorgängen ableitet , wie sie unter den bestehenden
Existenzbedingungen verlaufen .

§. 23.
Hiemit dürfte die am Anfang dieses Capitels gemachte Be
merkung gerechtfertigt sein , dass abgesehen von dem sie unter
scheidenden Charakter und ihren besondern Tendenzen alle bekann
teren Methoden der Ethik einen gemeinsamen allgemeinen Fehler
haben : sie vernachlässigen den letzten causalen Zusammenhang.
§. 23. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 67

Natürlich meine ich nicht, dass sie die natürlichen Folgen der
Handlungen vollkommen ausser Acht lassen , sondern nur, dass sie
dieselben blos gelegentlich anerkennen . Sie bilden es nicht zu einer
eigentlichen Methode aus, die nothwendigen Beziehungen zwischen
Ursachen und Wirkungen festzustellen und von bestimmt formulir
ten Gesetzen derselben die Regeln des Handelns abzuleiten .
Jede Wissenschaft beginnt mit der Anhäufung von Beobach
tungen und verallgemeinert dieselben dann sofort auf empirischem
Wege ; allein erst dann, wenn sie das Stadium erreicht hat, auf
welchem ihre empirischen Verallgemeinerungen in eine rationelle
Verallgemeinerung zusammengefasst werden, wird sie zur entwickel
ten Wissenschaft. Die Astronomie hat bereits diese einzelnen Stadien
durchgemacht : zuerst Ansammlung von Thatsachen, dann Induc
tionen aus denselben und schliesslich deductive Erklärungen der
selben als Ergebnisse aus einem allgemeinen Princip der Wechsel
wirkung zwischen den Massen im Raume. Untersuchungen über
die Structur und genaue Aufzeichnungen der Schichtensysteme nebst
Gruppirung und Vergleichung der Resultate haben allmählich dazu
geführt, dass man die verschiedenen Arten der geologischen Ver
änderungen den Thätigkeiten des Feuers und des Wassers zuschrei
ben konnte, und es wird nun stillschweigend angenommen , dass die
Geologie nur in dem Maasse zu einer eigentlichen Wissenschaft
wird, als solche Veränderungen sich als Ergebnisse aus jenen Natur
vorgängen erklären lassen, die bei der Abkühlung und Erstarrung
der Erde und in Folge der Sonnenwärme und der Einwirkung des
Mondes auf das Meer aufgetreten sind. Die Wissenschaft vom Leben
hat eine ähnliche Reihe von Stufen durchmessen und schreitet auf
diesem Wege noch weiter vor : die Entwickelung der organischen
Formen im Allgemeinen wird gegenwärtig immer fester an die
physikalischen Vorgänge angeknüpft, welche von Anfang an in Wirk
samkeit waren, und die Lebenserscheinungen , die jeder einzelne
Organismus darbietet, werden immer klarer als zusammenhängende
Gruppen von Veränderungen in den einzelnen Theilen des Körpers
aufgefasst, welche alle aus Stoffen bestehen, die durch gewisse Kräfte
beeinflusst werden und selbst andere Kräfte auslösen. So verhält
es sich auch mit dem Geiste. Die frühesten Vorstellungen über
Denken und Fühlen liessen so etwas wie eine Ursache ganz ausser
Acht, abgesehen etwa von der Anerkennung jener Folgen von Ge
wohnheiten, welche sich von selbst der Aufmerksamkeit der Menschen
5*
68 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IV.

aufdrängten und sogar in Sprüchwörtern Ausdruck fanden ; aber "


jetzt wird es immer mehr gebräuchlich , das Denken und Fühlen
als Correlata der Wirkungen und Rückwirkungen eines Nervensystems I
zu erklären, das durch äussere Veränderungen beeinflusst wird und
im Körper denselben angepasste Veränderungen bewirkt, womit zu
gleich die Anschauung sich geltend macht , dass die Psychologie
zur Wissenschaft wird, sobald diese Beziehungen zwischen den Er
scheinungen als Consequenzen der letzten Principien erklärt sind.
Auch die Sociologie, bis auf die neueste Zeit herab nur durch ein •
zelne abgerissene Gedanken über sociale Einrichtungen repräsentirt,
wie sie gelegentlich in die Masse werthlosen Geredes eingestreut
sind, das uns von den Geschichtschreibern geboten wird , erringt
sich allmählich bei Einigen die Anerkennung , dass auch sie eine
Wissenschaft sei, und jene schattenhaften Umrisse derselben, welche
von Zeit zu Zeit in Gestalt empirischer Verallgemeinerungen auf
tauchten, beginnen jetzt den Charakter von Verallgemeinerungen
anzunehmen, welche durch Ableitung von den in der menschlichen
Natur liegenden und unter gegebenen Verhältnissen wirkenden Ur
sachen wenigstens einigen Zusammenhang erhalten. Offenbar muss
also die Ethik, eine Wissenschaft, welche sich mit dem Handeln
der vergesellschafteten menschlichen Wesen, von einer bestimmten
Seite aus betrachtet, beschäftigt, eine ähnliche Umwandlung er
leiden, und ihrem gegenwärtigen unentwickelten Zustand gegenüber
kann sie erst dann als entwickelte Wissenschaft gelten , wenn sie
diese Umwandlung vollständig durchgemacht hat .
Eine Vorbedingung dafür bildet ein vorheriger Ausblick in die
einfacheren Wissenschaften . Die Ethik hat eine physikalische Seite,
indem sie auch von menschlichen Thätigkeiten handelt, die ebenso
wie überhaupt alle Äusserungen von Kraft unter das Gesetz von
dem Fortbestehen der Kraft fallen : die sittlichen Grundsätze müssen
sich den physikalischen Nothwendigkeiten fügen. Sie hat ferner
eine biologische Seite, insofern sie sich mit gewissen innern und
äussern, individuellen und socialen Wirkungen der Lebensvorgänge
befasst, welche im höchsten thierischen Typus ablaufen . Sie hat
eine psychologische Seite, denn ihren Hauptgegenstand bildet ein
Aggregat von Thätigkeiten , welche durch Gefühle hervorgerufen
und durch den Verstand regiert werden . Und sie hat endlich eine
sociologische Seite , denn diese Thätigkeiten beeinflussen , die einen
§. 24. Verschiedene Beurtheilungen des Handelns . 69

auf unmittelbarem, alle aber auf mittelbarem Wege die gesellschaft


lich verbundenen Wesen.
Was folgt daraus ? Da unsere Wissenschaft mit ihren verschie
denen Seiten einer jeden der genannten Wissenschaften - der Phy
sik, der Biologie, der Psychologie, der Sociologie angehört, so
kann sie ihre letzten Erklärungen nur in jenen Grundwahrheiten
finden, welche ihnen allen gemeinsam sind. Wir hatten schon oben im
Allgemeinen gefolgert, dass das Handeln im Ganzen mit Einschluss.
jener Formen desselben , welche den Gegenstand der Ethik bilden ,
nur als Erscheinung des sich entwickelnden Lebens vollständig be
griffen werden könne. Und hier sind wir nun durch eine eingehen
dere Erörterung zu dem gleichen Ergebniss gelangt.

§. 24.
Wir müssen uns also hier zunächst in die Betrachtung der
sittlichen Erscheinungen als Erscheinungen der Entwickelung ver
tiefen, und zwar sehen wir uns hiezu genöthigt, weil wir fanden,
dass dieselben nur einen Theil des Aggregats von Erscheinungen
bilden, welche die Entwickelung hervorgebracht hat. Wenn das
-
ganze sichtbare Universum sich entwickelt hat — wenn unser Sonnen
system als Ganzes, die Erde als ein Theil desselben , das Leben
im Allgemeinen , welches die Erde trägt, wie auch das Leben jedes
individuellen Organismus - wenn die bei allen Geschöpfen bis
hinauf zu den höchsten sich kundgebenden geistigen Erscheinungen
wie nicht minder diejenigen, welche die Aggregate dieser höchsten
Geschöpfe darbieten - wenn sie insgesammt den Gesetzen der Ent
wickelung unterworfen sind, dann folgt nothwendig daraus, dass
jene Erscheinungen des Handelns dieser höchsten Geschöpfe , mit
welchen sich die Ethik beschäftigt, gleichfalls diesen Gesetzen unter
worfen sind.
Die vorhergehenden Bände haben uns schon darauf vorbereitet,
die sittlichen Erscheinungen von diesem Standpunkt aus zu behandeln.
Indem wir die dort erreichten Schlüsse verwerthen , wollen wir nun
zusehen, welche Grundlagen sie uns darbieten. Demgemäss haben
wir der Reihe nach zu besprechen den physikalischen, den biologi
schen, den psychologischen und den sociologischen Standpunkt.
V. Capitel.

Der physikalische Standpunkt.

§. 25 .
Jeden Augenblick springen wir von den unmittelbar wahr
genommenen Handlungen der Menschen zu den ihnen zu Grunde
liegenden Motiven über und werden dadurch veranlasst, diese Hand
lungen nicht durch Bezeichnungen körperlicher , sondern geistiger
Vorgänge zu beschreiben. Gedanken und Gefühle sind es, die wir
im Sinne haben , wenn wir mit Lob oder Tadel von den Thaten
eines Menschen sprechen, und nicht etwa jene äussern Kundgebungen ,
welche die Gedanken und Gefühle offenbaren . So kommt es, dass
wir ganz die Wahrheit vergessen, dass das Handeln , wie es sich
thatsächlich unserer Erfahrung darbietet, aus Nichts als aus durch
Gefühl, Gesicht und Gehör erkannten Veränderungen besteht .
Diese Gewohnheit, nur die psychologische Seite des Handelns
in's Auge zu fassen , ist so fest eingewurzelt, dass es einer gewissen
Anstrengung bedarf, um sich nur auf die physische Seite zu be
schränken. So unleugbar es ist, dass das Benehmen eines Andern
gegen uns sich aus Bewegungen seines Körpers und seiner Glied
maassen, seiner Gesichtsmuskeln und seines Stimmapparates zu
sammensetzt, so erscheint es uns doch fast paradox, zu sagen , dies
seien die einzigen Elemente des Handelns , welche wir in Wirklich
keit erkennen , während gerade diejenigen Elemente , welche wir für
die ausschliesslichen Bestandtheile desselben zu halten gewohnt sind ,
nicht erkannt, sondern erschlossen werden.
Hier haben wir jedoch vorläufig ganz von den erschlossenen
Elementen im Handeln abzusehen und uns nur mit den wahrgenom
menen Elementen zu beschäftigen - wir müssen es auf seine ein
zelnen Züge prüfen , indem wir es blos als eine Gruppe von com
binirten Bewegungen auffassen. Vom Standpunkt der Entwickelungs
lehre ausgehend und uns erinnernd , dass, wenn sich ein Aggregat
entwickelt, nicht allein der dasselbe zusammensetzende Stoff, son
dern auch die Bewegung dieses Stoffes vom Zustand einer unbe
stimmten, unzusammenhängenden Gleichartigkeit in den Zustand
§. 26. Der physikalische Standpunkt . 71

einer bestimmten , zusammenhängenden Ungleichartigkeit übergeht,


haben wir uns nun zu fragen, ob das Handeln , indem es sich zu
immer höheren Formen erhebt, diese Egenthümlichkeit in gesteiger
tem Maasse erkennen lässt und ob es dieselbe nicht dann im höch
sten Grade zeigt, wenn es jene höchste Form erreicht, die wir Sitt
lichkeit nennen .

§. 26.

Es dürfte am passendsten sein, vor Allem die Frage zu be


handeln, in wie fern sich eine Steigerung des Zusammenhangs zeigt.
Das Handeln niedrig organisirter Geschöpfe unterscheidet sich von
demjenigen der höher organisirten wesentlich dadurch , dass seine
.
auf einander folgenden Äusserungen nur locker unter sich verbunden
sind. Die einzelnen ziellosen Bewegungen, die ein mikroskopisch
kleines Thierchen ausführt, haben keinerlei Beziehung zu den einen
Augenblick vorher ausgeführten Bewegungen und ebenso wenig be
dingen sie in besonderer Weise die unmittelbar darauf folgenden
Bewegungen. Die heutigen Wanderungen eines Fisches beim Auf
suchen seiner Nahrung zeigen zwar vielleicht in ihren Anpassungen
an die Nothwendigkeit , zu verschiedenen Stunden verschiedene Arten
von Beute zu jagen , eine gewissermaassen bestimmte Ordnung,
stehen aber ausser Bezug zu den Wanderungen von gestern und
morgen. Höher entwickelte Thiere aber, wie die Vögel, zeigen uns
im Bauen ihrer Nester, im Bebrüten ihrer Eier, im Auffüttern ihrer
Jungen und in der Unterstützung derselben , nachdem sie flügge ge
worden, zahlreiche Gruppen von Bewegungen , die eine abhängige
und über eine beträchtliche Zeit ausgedehnte Reihe darstellen. Und
beobachten wir die Complicirtheit der Handlungen , welche beim
Aufsuchen und Zusammenflechten der Fasern des Nestes oder beim
Fangen jedes Stückchens der Nahrung und Zutragen derselben zu
den Jungen ausgeführt werden , so erkennen wir in diesen combinir
ten Bewegungen seitlichen sowohl wie longitudinalen Zusammenhang.
Der Mensch bietet selbst auf den tiefsten Stufen in seinem Han
deln viel inniger zusammenhängende Combinationen von Bewegungen
dar. Die mannichfaltigen Manipulationen , welche der Wilde aus
führt, wenn er seine Waffen verfertigt, die im nächsten Jahr zur
Jagd dienen sollen, oder wenn er Canoes und Wigwams zu dauern
dem Gebrauche herstellt - die einzelnen Handlungen beim Angriff
und der Vertheidigung, welche mit vor langer Zeit erlittenen oder
72 Die Thatsachen der Ethik. Cap. V.

ausgeübten Beleidigungen in Verbindung stehen ――――― all das zeigt


uns ein Aggregat von Bewegungen , das in einzelnen seiner Theile
einen über grosse ; Zeiträume ausgedehnten Zusammenhang besitzt.
Beim civilisirten Menschen tritt diese Besonderheit des ent
wickelten Handelns ,noch unverkennbarer hervor . Sein Beruf sei,
welcher er wolle, jedenfalls setzt die Ausübung desselben verhältniss
mässig zahlreiche von einander abhängige Bewegungen voraus, und
Tag für Tag nimmt dies einen derartigen Fortgang, dass sich Ver
bindungen zeigen zwischen den Bewegungen des Augenblicks und
lange vorhergegangenen sowohl wie solchen, die in ferner Zukunft
erst in Aussicht genommen sind . Da sind die verschiedenen unter
einander in Beziehung stehenden Geschäfte, die ein Landmann zu
besorgen hat, indem er nach seinem Vieh sieht, seine Arbeiter an
leitet, seine Milchwirthschaft beaufsichtigt, seine Werkzeuge ein
kauft , seine Erzeugnisse verkauft u. s. w.; ausserdem aber bedingt
die Nothwendigkeit , seinen Pachtvertrag abzuschliessen , noch viel
zahlreichere combinirte Bewegungen, von denen die Bewegungen der
nächsten Jahre abhängen ; und wenn er in der Absicht, grössere
Erträge zu erzielen , seine Felder düngt oder aus gleichen Beweg
gründen Drainirröhren legt, so führt er damit Handlungen aus,
1
welche selbst nur Theile einer verhältnissmässig ausgedehnten , zu
sammenhängenden Combination bilden. Dass dasselbe vom Kauf
mann, vom Fabrikanten , vom Banquier gilt , ist selbstverständlich ,
und dieser immer höher sich steigernde Zusammenhang des Han
delns unter den Civilisirten muss uns noch eindrücklicher in's Be
wusstsein treten, wenn wir bedenken , wie seine Theile oft in be
stimmter Anordnung durch das ganze Leben sich fortsetzen, etwa
in dem Bestreben , sich ein Vermögen zu erwerben , eine Familie zu
gründen oder einen Sitz im Parlament zu erringen .
Es ist nun bemerkenswerth , dass ein grösserer Zusammenhang
zwischen den dasselbe zusammensetzenden Bewegungen im grossen
Ganzen das Handeln , das wir sittlich nennen , vom sogenannten un
sittlichen Handeln unterscheidet . Schon die Anwendung des Wortes T
,zerfahren" auf das letztere und des Wortes 99 zurückhaltend " auf
das erstere drückt dies einigermaassen ausdrückt aus, dass bei
einem Handeln der niedrigeren Art, aus ungeordneten Handlungen
zusammengesetzt, die einzelnen Theile in verhältnissmässig lockeren
Beziehungen zu einander sind , während ein Handeln der höhern Art,
das in der Regel einem bestimmten Gesetz folgt, eben dadurch eine
§. 27. Der physikalische Standpunkt . 73

charakteristische Einheit und Zusammenhang gewinnt. In demselben


Maasse, in welchem das Handeln wahrhaft sittlich wird, lässt es
verhältnissmässig immer bestimmtere Verbindungen zwischen Ante
cedentien und Consequenzen erkennen , denn das Rechtthun charak
terisirt sich dadurch, dass unter den gegebenen Verhältnissen die
das Handeln zusammensetzenden combinirten Bewegungen sich in
einer Weise folgen, die geradezu berechnet werden kann . Im Gegen
satz hiezu sind im Handeln eines Menschen , dessen Grundsätze auf
keiner höhern Stufe stehen, diese Grenzen der Bewegungen zweifel
haft. Er mag das entliehene Geld zurückzahlen oder nicht, er mag
der Verabredung nachkommen oder ihr untreu werden , er mag die
Wahrheit reden oder lügen . Die Wörter Zuverlässigkeit und Un
zuverlässigkeit, die wir ja anwenden , um die beiden Arten zu be
zeichnen, drücken es schon deutlich genug aus, dass man die Hand
lungen des Einen vorauswissen kann , während dies bei dem Andern
nicht möglich ist, und dies besagt im Grunde nichts Anderes, als
dass die auf einander folgenden Bewegungen des Einen unter sich
viel constantere Beziehungen zu einander haben als diejenigen des
Andern - dass sie inniger zusammenhängen.

§ . 27.
Unbestimmtheit begleitet die Zusammenhangslosigkeit in einem
Handeln, das wenig entwickelt ist, und in der aufsteigenden Stufen
reihe des sich höher entwickelnden Handelns finden wir auch eine
immer mehr sich steigernde Bestimmtheit in der Coordinirung der
dasselbe ausmachenden Bewegungen.
Die Formveränderungen , welche wir an den niedrigsten Pro
tozoen beobachten, sind ausserordentlich unbestimmt, gestatten keine
genaue Beschreibung ; und wenn auch bei höheren Ordnungen dieser
Gruppe die Bewegungen der einzelnen Theile mehr ausgeprägt sind,
so ist doch die Bewegung des Ganzen in Hinsicht auf seine Rich
tung unbestimmt : es findet keine Anpassung derselben an diesen
oder jenen Punkt im Raume statt. Bei den einen Coelenteraten ,
wie z. B. bei einem Polypen , sehen wir die Theile sich in einer
Weise bewegen, die jeder Genauigkeit entbehrt, und auch bei den
frei beweglichen Formen , wie bei einer Meduse, wird die eingeschla
gene Richtung im übrigen vom Zufall bedingt und charakterisirt
sich nur dadurch , dass sie das Geschöpf gegen das Licht hin führt,
wo Unterschiede von Licht und Dunkelheit zu bemerken sind. Unter
74 Die Thatsachen der Ethik. Cap. V.

den gegliederten Thieren zeigt uns der Gegensatz zwischen der Bahn
eines Wurmes, der sich aufs gerathewohl bald hier-, bald dorthin
wendet , und der bestimmten Richtung, welche eine Biene einschlägt,
wenn sie von Blume zu Blume oder zurück zum Stock fliegt, die
selbe Erscheinung, und die Handlungen der Biene beim Aufbau ihrer
Zellen und der Fütterung ihrer Larven lassen ferner grosse Genauig
keit in den gleichzeitigen wie in den auf einander folgenden Be
wegungen erkennen. Wenn auch die Bewegungen eines Fisches bei
der Verfolgung seiner Beute eine ziemliche Bestimmtheit verrathen,
so sind sie doch von einfacher Art und stehen in dieser Hinsicht
im Gegensatz zu den zahlreichen bestimmten Bewegungen des Kopfes
und der Gliedmaassen , welche ein fleischfressendes Thier ausführt,
während es auf der Lauer liegt, herabspringt und einen Pflanzen
fresser überfällt ; und überdies zeigt uns der Fisch keine jener be
stimmt angepassten Gruppen von Bewegungen , welche beim Säuge
thier der Aufziehung der Jungen gewidmet sind .
Eine noch viel grössere Bestimmtheit, wenn auch vielleicht
nicht in den combinirten Bewegungen, welche einzelne Handlungen
darstellen , so doch jedenfalls in den Anpassungen zahlreicher com
binirter Handlungen an die verschiedensten Zwecke, zeichnet das
menschliche Handeln selbst auf seinen niedrigsten Stufen aus . Bei
der Verfertigung und dem Gebrauch der Waffen und bei den Kriegs
manövern der Wilden erscheinen zahlreiche Bewegungen, jede ein
zelne genau abgemessen in ihren Anpassungen an nächstliegende
Zwecke , in entsprechender Anordnung zur Erreichung entfernter
Zwecke mit einer Genauigkeit, der sich Nichts bei niedrigern Thieren
vergleichen lässt. Das Leben der civilisirten Menschen weist diese
Eigenthümlichkeit in noch viel auffälligerem Maasse auf. Jede in
dustrielle Geschicklichkeit liefert Beispiele für die Folgen von Be
wegungen, welche sämmtlich bestimmt und in gleichzeitiger und
successiver Reihenfolge bestimmt angeordnet sind . Geschäftsthätig
keiten jeder Art charakterisiren sich durch genaue Beziehungen
zwischen den Gruppen von Bewegungen, welche die einzelnen Hand
lungen darstellen, und den damit erreichten Zwecken, der Zeit, dem
Raume und der Quantität nach . Ausserdem zeigt uns die alltäg
liche Beschäftigung des Einzelnen in ihren verschiedenen Perioden
und Graden der Thätigkeit, der Ruhe, der Abspannung eine ab
gemessene Anordnung, wie wir sie nirgends in den Verrichtungen
des herumwandernden Wilden erkennen, welcher nicht einmal für
§. 27. Der physikalische Standpunkt . 75

Jagen , Schlafen , Nahrung zu sich nehmen oder irgend eine andere


Art der Thätigkeit festgesetzte Zeiten hat.
Das sittliche Handeln unterscheidet sich vom unsittlichen Han
deln in gleicher Weise und in gleichem Grade. Der gewissenhafte
Mensch ist genau in allen seinen Verrichtungen . Er liefert ein bestimm
tes Gewicht für eine bestimmte Summe ; er liefert seine Waare genau
in der Qualität, wie sie der Erfüllung des getroffenen Abkommens
entspricht; er bezahlt den vollen Preis, über welchen er handelseins
geworden ist. Der Zeit sowohl wie der Quantität nach entsprechen
seine Handlungen vollkommen den Voraussetzungen . Hat er einen
Geschäftsvertrag abgeschlossen , so hält er sich an den Tag ; einer
Verabredung kommt er auf der Minute nach. Nicht anders hält er
es mit der Wahrheit ; seine Äusserungen stimmen genau mit den
Thatsachen überein . Gleiches finden wir in seinem Familienleben.
Er gestaltet seine ehelichen Verhältnisse so, dass sie bestimmt er
scheinen im Gegensatz zu den Verhältnissen , welche aus dem Bruch
des Ehevertrages hervorgehen , und als Vater passt er sein Betragen
sorgfältig dem Wesen jedes einzelnen Kindes und der Gelegenheit
an und vermeidet so das zu viel wie das zu wenig von Lob oder
Tadel , Belohnung oder Strafe. Nichts Anderes gilt auch für seine
übrigen Handlungen . Sagt man ihm nach, dass er unparteiisch sei
gegen seine Untergebenen , mögen sich dieselben gut oder schlecht
aufführen, so gibt man ihm damit das Zeugniss , dass er seine Hand
lungen ihren Verdiensten anpasse ; und sagt man , er sei gerecht in
seiner Mildthätigkeit, so heisst dies eben , dass er seine Hülfe mit
Bedacht leihe, statt sie ohne Unterschied dem Guten und dem
Schlechten zu bieten , wie es Diejenigen thun , die nicht den rechten
Sinn für ihre sociale Verantwortlichkeit haben.
Dass ein Fortschritt im rechtschaffenen Handeln dasselbe ist
wie Fortschritt im richtig abgemessenen Handeln, und dass richtig
abgemessenes Handeln relativ bestimmt ist , können wir auch von
einem andern Gesichtspunkte aus erkennen . Eines der wesentlich
sten Merkmale des unsittlichen Handelns ist Unmässigkeit, während
Mässigung in der Regel das sittliche Handeln auszeichnet. Nun
bedingt Unmässigkeit ausserordentliche Abweichungen von einem
gewissen Mittelweg, während Einhalten dieses Mittelweges für die
Mässigung charakteristisch ist ; es ist also klar, dass Handlungen
der letzten Art mit grösserer Sicherheit zu bestimmen sind als
solche der ersteren . Ein Handeln, das , ohne sich Schranken zu
76 Die Thatsachen der Ethik. Cap. V.

setzen, in grosse und unberechenbare Schwankungen auseinander


fällt, unterscheidet sich
offenbar gerade hierin vom abgemessenen
Handeln, dessen Schwankungen sich dem entsprechend innerhalb
engerer Grenzen halten . Und dies bedingt nothwendig eine ver
hältnissmässige Bestimmtheit der Bewegungen .

§. 28.
Dass durch die ganze Stufenleiter des Lebens hinauf gleich
zeitig mit der Zunahme der Ungleichartigkeit von Structur und Func
tionen auch eine Zunahme in der Ungleichartigkeit des Handelns
stattfindet eine Steigerung in der Mannichfaltigkeit der einfachen
und combinirten Gruppen äusserer Bewegungen ――――――― braucht nicht
im Einzelnen nachgewiesen zu werden . Ebenso wenig bedarf es
eines Beweises dafür, dass diese Ungleichartigkeit , die schon in den
das Handeln des uncivilisirten Menschen zusammensetzenden Bewegun
gen verhältnissmässig bedeutend war, noch erheblicher bei denen
hervortritt, welche der civilisirte Mensch ausführt. Wir können
deshalb sofort zu jenen ferneren Abstufungen des gleichen Gegen
satzes übergehen, der sich uns darbietet, wenn wir vom Handeln
des Unsittlichen zu dem des Sittlichen aufsteigen.
Es werden nun freilich die meisten Leser wenig geneigt sein , {
diesen Gegensatz auch hier anzuerkennen , und vielmehr ein sitt
liches Leben für identisch halten mit einem solchen , das in seiner
Thätigkeit nur geringe Mannichfaltigkeit zeigt. Das beruht aber
I
auf einem Fehler in der gewöhnlichen Vorstellung von Sittlichkeit.
1
Jene verhältnissmässige Gleichförmigkeit in dem Aggregat der Be 1
wegungen, welche nach allgemeiner Auffassung mit der Sittlichkeit
verbunden ist, ist nicht allein nicht sittlich , sondern geradezu das
Gegentheil davon. Je besser ein Mensch jede Anforderung des
Lebens erfüllt, sowohl was seinen eigenen Körper und Geist, als
was Körper und Geist der von ihm Abhängigen wie auch seiner
Mitbürger betrifft, desto mannichfaltiger wird seine Thätigkeit. Je
vollkommener er alle diese Pflichten erfüllt, desto ungleichartiger
müssen sich seine Bewegungen gestalten.
Wer blos seine persönlichen Bedürfnisse befriedigt, hat unter
sonst gleichen Umständen weniger mannichfaltige Processe durch
zumachen, als wer ausserdem für die Bedürfnisse von Weib und
Kind sorgt. Angenommen , es lägen keine anderen Unterschiede
vor, so würde schon die Hinzufügung von Familienbeziehungen noth
§. 29. Der physikalische Standpunkt . 77

wendigerweise die Thätigkeit des Mannes , welcher die Pflichten


eines Gatten und Vaters erfüllt, verschiedenartiger gestalten, als
es diejenigen eines Mannes sein können, welcher keine solchen Pflich
ten zu erfüllen hat oder, wenn er sie hat, dieselben nicht erfüllt,
und sind seine Handlungen ungleichartiger , so heisst dies nichts
Anderes , als dass in den combinirten Bewegungen, die er ausführt,
eine grössere Ungleichartigkeit herrscht. Dasselbe gilt von den
socialen Verpflichtungen . Je gewissenhafter ein Bürger diesen nach
kommt, um so verwickelter gestalten sie seine Bewegungen. Wenn
er sich seinen von ihm abhängigen Untergebenen gegenüber hülfreich
erweist , wenn er an politischen Agitationen Antheil nimmt , wenn
er mit zur Ausbreitung von Kenntnissen beiträgt, so vermehrt er
jedesmal von neuem die Arten seiner Thätigkeit, gestaltet aber auch
die Gruppen seiner Bewegungen mannichfaltiger und unterscheidet
sich wesentlich hiedurch von dem Manne, welcher der Sclave nur
eines Wunsches oder einer Gruppe von Wünschen ist.
Obgleich es nicht gebräuchlich ist , diejenigen Thätigkeiten ,
welche die Cultur mit sich bringt, von einem sittlichen Gesichts
punkt aus zu betrachten, so gibt es doch wenigstens eine kleine
Minderheit, welche der Ansicht ist, dass die gehörige Ausübung
aller höheren , geistigen wie ästhetischen Fähigkeiten mit in die
Vorstellung vom vollkommenen Leben eingeschlossen werden muss,
das wir hier mit dem idealen sittlichen Leben identificirt haben,
und für diese wird es auch klar sein , dass dadurch eine fernere
Stufe der Ungleichartigkeit bedingt wird . Denn jede solche Thätig
keit setzt sich aus jenem Spiel dieser Fähigkeiten zusammen, das
schliesslich über die zum Lebensunterhalt dienende Verwendung der
selben hinaus noch hinzutritt, und vergrössert demnach die Mannich
faltigkeit der aggregirten Bewegungen.
Kurz ausgedrückt also : wenn das Handeln bei jeder Gelegen
heit das möglich beste ist, so folgt daraus, dass , wo die Gelegen
heiten unendlich mannichfaltig sind, auch die denselben entsprechen
den Handlungen eine unendliche Mannichfaltigkeit zeigen werden -
die Ungleichartigkeit in den Combinationen der Bewegungen muss
einen ausserordentlichen Grad erreichen.

§. 29.

Die Entwickelung des Handelns, dieses vom sittlichen Stand


punkt aus betrachtet, strebt wie alle andere Entwickelung einem
78 Die Thatsachen der Ethik. Cap. V.

Gleichgewicht zu. Ich meine nicht, dass sie dem Gleichgewicht


sich nähere, welches mit dem Tode erreicht wird , obwohl dieses
natürlich den Endzustand bildet, welchen die Entwickelung auch des
höchsten Menschen mit jeder niedrigeren Entwickelungsform gemein
hat, sondern ich meine damit, dass sie einem beweglichen Gleich
gewicht zustrebt.
Wir haben gesehen, dass die Erhaltung des Lebens physikalisch
ausgedrückt die Erhaltung einer Combination innerer Thätigkeiten
im Gleichgewicht mit und entgegengesetzt den äussern Kräften ist ,
welche dasselbe zu zerstören streben, und ferner sahen wir , dass
der Fortschritt zum höhern Leben in der Aneignung der Fähigkeit
besteht, dieses Gleichgewicht eine längere Zeit hindurch aufrecht
zu erhalten vermöge der immer weiter gehenden Hinzufügung organi
scher Einrichtungen , welche durch ihre Thätigkeiten den zerstören
den Kräften immer durchgreifender entgegenwirken . Und hier sind
wir nun zu der Schlussfolgerung gelangt , dass das sittlich zu nen
nende Leben dadurch sich charakterisirt, dass in ihm die Aufrecht
erhaltung jenes beweglichen Gleichgewichts die Vollkommenheit er
reicht oder sich derselben wenigstens ausserordentlich nähert.
Diese Wahrheit erhellt noch deutlicher, wenn wir beachten ,
wie jene physiologischen Rhythmen , die sich an der untern Grenze
der Organisation nur erst ganz undeutlich zeigen, um so regel
mässiger und zugleich um so verschiedenartiger werden , je weiter
die Organisation fortschreitet. Periodicität macht sich nur undeut
lich in den innern und äussern Thätigkeiten der tiefsten Typen be
merkbar . Wo das Leben auf niedriger Stufe steht, da finden wir
überall passive Abhängigkeit von den zufälligen Einwirkungen der
Umgebung, und dies hat natürlich grosse Unregelmässigkeiten in
den Lebensprocessen zur Folge. Die Nahrungsaufnahme eines Po
lypen geschieht bald in kurzen , bald in sehr langen Zwischenräumen ,
wie es gerade die Umstände mit sich bringen, und die Verwerthung
derselben findet nur durch langsame Vertheilung der resorbirten
Stoffe durch die Gewebe hindurch statt, höchstens noch unterstützt
durch die unregelmässigen Bewegungen des ganzen Thierkörpers ,
während die Athmung, so weit sie überhaupt ausgeführt wird , gleich
falls keine Spur eines Rhythmus zeigt. Noch bei viel höheren
Formen finden wir immer noch sehr unvollkommen periodische Vor
gänge , so bei den niedrigeren Mollusken, welche , obgleich im Besitz
eines Blutgefässsystems, doch keinen eigentlichen Kreislauf zeigen,
$. 29. Der physikalische Standpunkt . 79

sondern nur eine langsame Bewegung des wässerigen Blutes durch


die Gefässe, bald in der einen und bald wieder nach einer kurzen
Pause in der entgegengesetzten Richtung . Erst bei wohl ausgebil
deten Organismen treffen wir einen rhythmischen Herzschlag und
einen Rhythmus der respiratorischen Thätigkeiten. Bei den Vögeln
und Säugethieren endlich hat sich in Verbindung mit grosser Schnel
ligkeit und Regelmässigkeit in diesen wesentlichsten Rhythmen und
in Verbindung mit einer entsprechend erhöhten Lebensthätigkeit
und deshalb auch einem grösseren Stoffverbrauch eine verhältniss
mässige Regelmässigkeit im Rhythmus der Ernährungsthätigkeiten
und sogar in der Abwechslung von Thätigkeit und Ruhe hergestellt ,
weil eben der ausserordentlich rasche Verbrauch , welcher vermöge
des beschleunigten Pulsschlags und der schnelleren Athmung ein
tritt, seinerseits ziemlich regelmässige Zufuhr von Nahrung so wie
wiederkehrende Zeiten des Schlafes nothwendig macht , während
dessen der Ersatz wieder das Übergewicht über den Verbrauch er
langen kann. Und von diesen Stufen aus erlangt das bewegliche
Gleichgewicht, welches sich eben hauptsächlich durch solche gegen
seitig von einander abhängige Rhythmen auszeichnet, dadurch eine
immer vollkommenere Ausbildung, dass immer mehr und mehr
solchen Thätigkeiten entgegengearbeitet wird , die es zu zerstören
trachten.
Dieselbe Erscheinung zeigt sich aber auch, wenn wir vom Wil
den bis zum Civilisirten und innerhalb der Civilisirten vom Niedrig
sten zum Höchsten aufsteigen. Der Rhythmus von äussern Hand
lungen, welche zur Aufrechterhaltung des Rhythmus der innern
Handlungen nöthig sind, wird sofort verwickelter und vollkommener
in dem Sinne, dass sie sich zu einem besseren beweglichen Gleich
gewicht zusammenfügen. Die Unregelmässigkeiten, denen der primi
tive Mensch in Folge seiner Existenzbedingungen ausgesetzt ist ,
verursachen beständig grosse Abweichungen vom mittleren Zustand
des beweglichen Gleichgewichts - weite Oscillationen , wodurch
schon die Unvollkommenheit desselben in der Gegenwart bedingt
ist, während sie zugleich ein vorzeitiges Zusammenbrechen desselben
herbeiführen. Bei solchen civilisirten Menschen , die sich schlecht
halten, werden häufige Störungen des beweglichen Gleichgewichts
durch jene Ausschreitungen veranlasst, wie sie eben einen Lebens
lauf charakterisiren, dessen periodischer Fortgang zahlreiche Unter
brechungen erfährt, und das gewöhnliche Resultat davon ist, dass
80 Die Thatsachen der Ethik. Cap. V.

auch der Rhythmus der innern Thätigkeiten häufig in Unordnung


geräth und in Folge dessen das bewegliche Gleichgewicht , das zu
gleich entsprechend unvollkommener wird, im Allgemeinen eine kür
zere Dauer zeigt . Ein Mensch dagegen, dessen innere Rhythmen
möglichst gut aufrecht erhalten werden , vermag dies nur dadurch,
dass er die zur Befriedigung aller Bedürfnisse und Pflichten erforder
lichen äussern Handlungen bei jeder wiederkehrenden Gelegenheit
richtig ausführt, was dann ein bewegliches Gleichgewicht hervor
bringt, das vollkommen und zugleich von langer Dauer ist.
Eine nothwendige Voraussetzung ist dabei natürlich, dass der
Mensch, welcher auf diese Weise die oberste Grenze der Entwicke
lung erreicht, auch in einer Gesellschaft lebe , die seinem Wesen
entspricht, dass er ein Mensch sei unter ähnlich beschaffenen Men
schen, welche alle mit der socialen Umgebung, die sie selbst ge
schaffen haben, in Übereinstimmung stehen . Dies bietet in der That
die einzige Möglichkeit. Denn die Ausbildung des höchsten Typus
des Menschen kann nur pari passu mit der Ausbildung des höchsten
Typus der Gesellschaft vor sich gehen. Die nothwendigen Vor
bedingungen sind dieselben, wie wir sie oben als in Begleitung des
höchst entwickelten Handelns auftretend beschrieben haben - Be
dingungen, unter denen jeder Einzelne alle seine Bedürfnisse be
friedigen und die gehörige Zahl von Nachkommen aufziehen kann,
nicht allein ohne Andere an gleichem Thun zu hindern , sondern
indem er sogar dieselben dabei unterstützt. Und offenbar kenn
zeichnet sich das Handeln eines so beschaffenen und mit Seines
gleichen gesellschaftlich verbundenen Individuums , vom physikali
schen Standpunkt aus betrachtet, gerade dadurch, dass alle Thätig
keiten, das heisst die combinirten Bewegungen aller Arten genau
hinreichen , um jedem alltäglichen Vorgang, jedem gewöhnlicheren
Vorkommniss und sogar jeder Zufälligkeit in seiner Umgebung die
Spitze zu bieten. Vollkommenes Leben in einer vollkommenen Ge
sellschaft ist nur ein anderer Ausdruck für vollkommenes Gleich
gewicht zwischen den coordinirten Thätigkeiten jeder einzelnen
socialen Einheit und denen des Aggregats der Einheiten.

§. 30.
Selbst einem Leser der vorhergehenden Bände , wie viel mehr
noch dem damit unbekannten , wird es sonderbar, ja beinah ab
geschmackt erscheinen, das sittliche Handeln derartig in physikali
§. 30. Der physikalische Standpunkt . 81

schen Ausdrücken dargestellt zu sehen. Nichtsdestoweniger war dies


unumgänglich . Wenn jene Andersvertheilung von Stoff und Be
wegung, aus welcher die Entwickelung besteht, in allen Aggregaten
abläuft, so müssen ihre Gesetze für das höchst entwickelte Wesen
eben so volle Geltung haben wie für jedes andere Ding und seine
Handlungen müssen , wenn wir sie in Bewegungen zerlegen, jene
Gesetze bestätigen. Wir finden , dass dies der Fall ist . Es besteht
eine vollkommene Übereinstimmung zwischen sittlicher Entwickelung
und Entwickelung im rein physikalischen Sinne.
Das Handeln , wie wir es in Wirklichkeit durch unsere Wahr
nehmung kennen lernen und nicht wie wir es durch die dasselbe
begleitenden Gefühle und Gedanken zu interpretiren pflegen , besteht
aus combinirten Bewegungen. Indem wir durch die verschiedenen
Entwickelungsstufen der lebendigen Geschöpfe emporsteigen, finden
wir diese combinirten Bewegungen gekennzeichnet durch zunehmen
den Zusammenhang, zunehmende Bestimmtheit, und zwar sowohl
einzeln als in ihren coordinirten Gruppen betrachtet, und zuneh
mende Ungleichartigkeit ; und schreiten wir von niedrigeren zu höhe
ren oder von unsittlichen zu sittlichen Typen des Menschen vor,
so erscheinen diese Merkmale des sich entwickelnden Handelns noch
deutlicher ausgeprägt . Ferner sehen wir, dass die Steigerung des
Zusammenhangs, der Bestimmtheit und der Ungleichartigkeit der
combinirten Bewegungen das Mittel bildet , um ein bewegliches
Gleichgewicht besser aufrecht zu erhalten. Wo die Entwickelung
auf niedriger Stufe steht, da ist dieses sehr unvollkommen und findet
bald sein Ende ; mit jedem Fortschritt in der Entwickelung , der
grössere Kraft und Intelligenz mit sich bringt, wird es auch wider
standsfähiger und dauerhafter gegenüber den ihm feindseligen Thätig
keiten . Beim Menschengeschlecht im Allgemeinen erscheint es ver
gleichsweise regelmässig und ausdauernd , und am grössten ist
seine Regelmässigkeit und seine Dauer bei dem höchst entwickelten
Menschen.

SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 6


VI. Capitel.

Der biologische Standpunkt.

§. 31 .
Der Satz , dass derjenige ein ideal sittlicher Mensch ist, dessen
bewegliches Gleichgewicht vollkommen ist oder sich der Vollkommen
heit ausserordentlich nähert, erhält , wenn wir ihn in physiologische
Sprechweise übersetzen , die Form, dass in jenem die Functionen
jeder Art in gehöriger Weise erfüllt werden. Jede Function hat
irgend eine directe oder indirecte Beziehung zu den Bedürfnissen
des Lebens schon die Thatsache ihrer Existenz als eines Ergebnisses
der Entwickelung ist an sich ein Beweis, dass sie unmittelbar oder
auf Umwegen durch die Anpassung innerer an äussere Thätigkeiten
hervorgebracht worden ist. Demzufolge ist also Nicht-Ausführung
derselben in normalem Maassstabe nichts Anderes als Nicht- Befriedi
gung eines Erfordernisses zu vollkommenem Leben. Finden wir
irgendwo eine Function mangelhaft verrichtet, so muss der Organis
mus irgend eine durch diese Mangelhaftigkeit verursachte Schädi
gung erlitten haben . Fand die Verrichtung im Übermaass statt,
so hatte das eine Rückwirkung auf die andern Functionen zur Folge,
die in gewissem Grade ihre Wirksamkeit verringerte .
Es ist allerdings richtig, dass bei voller Lebenskraft, so lange
die gesammte Bewegungsgrösse der organischen Thätigkeiten eine
bedeutende ist, die durch eine mässige Ausschreitung oder Mangel
haftigkeit einer Function hervorgebrachte Unordnung bald wieder
――――
verschwindet das Gleichgewicht stellt sich wieder her . Es ist
aber nicht minder richtig , dass Übermaass oder Mangel stets irgend
eine Unordnung zur Folge hat, dass diese jede körperliche und
geistige Function beeinflusst und dass sie eine Herabsetzung des
Lebens für den Augenblick wenigstens bedingt.
Abgesehen davon jedoch , dass jede ungehörige oder ungenügende
Ausführung einer Function ein zeitweiliges Zurückbleiben hinter dem
vollkommenen Leben darstellt, verursacht sie auch als letztes Re
sultat eine Abnahme in der Dauer des Lebens. Wird irgend eine
Function gewohnheitsgemäss in stärkerem oder geringerem Maasse
§. 32. Der biologische Standpunkt . 83

verrichtet, als erforderlich war, und findet in Folge dessen eine


häufig wiederholte Störung der Functionen im Ganzen statt, so ent
steht daraus eine dauernde Veränderung im Gleichgewicht der Func
tionen . Diese Änderung aber, da sie nothwendigerweise auf die
Theile des Körpers zurückwirkt und in denselben Spuren ihrer ge
häuften Wirkungen zurücklässt , bringt eine allgemeine Verschlim
merung hervor, und wenn dann die Lebensthätigkeiten allmählich
abzunehmen beginnen, so wird dieses bewegliche Gleichgewicht , das
weiter von der Vollkommenheit entfernt ist, als es sonst der Fall
gewesen wäre, bälder vernichtet werden : der Tod tritt mehr oder
weniger vorzeitig ein .
Der sittliche Mensch kennzeichnet sich also dadurch, dass seine
Functionen und zwar sind es, wie wir sahen, deren viele und
von verschiedenster Art ---- sämmtlich gerade in dem Grade aus
geführt werden , dass sie den Existenzbedingungen gehörig an
gepasst sind.

§. 32.

So sonderbar es klingen mag , so sind wir hier doch ganz zu


der Schlussfolgerung berechtigt, dass die Ausübung jeder Function
in gewissem Sinne eine sittliche Pflicht ist.
Gewöhnlich meint man, die Sittlichkeit gebiete, uns nur in
solchen Lebensthätigkeiten einzuschränken , die wir in unserm gegen
wärtigen Zustande häufig bis in's Übermaass treiben oder die viel
leicht mit dem durchschnittlichen Wohlergehen des Einzelnen oder
der Gesammtheit in Widerspruch gerathen könnten ; sie gebietet
uns aber auch, diese Lebensthätigkeiten bis zu ihrer normalen Grenze
zu steigern. Alle animalischen Functionen sind eben so gut wie
die höhern Functionen nach der hier dargelegten Auffassung ein
Gebot der Pflicht. Während wir die Thatsache anerkennen müssen ,
dass in unserm Übergangszustande, der sich durch eine sehr unvoll
kommene Anpassung unserer gesammten Beschaffenheit an die Ver
hältnisse charakterisirt, sittliche Verpflichtungen der höchsten Art
oft ein Handeln nothwendig machen, das physikalisch nachtheilig
ist, so muss doch auch die Thatsache vollständig gewürdigt werden ,
dass es abgesehen von anderen Folgen entschieden unsittlich ist ,
seinen Körper so zu behandeln, dass dadurch die Fülle oder Energie
seiner Lebenskraft irgendwie beeinträchtigt wird.
6*
84 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.

Dies liefert uns einen Prüfstein für die Handlungen der Menschen .
Wir dürfen in jedem Falle die Frage stellen : ist die Handlung ge
eignet, das vollkommene Leben in der Gegenwart aufrecht zu er
halten , und wirkt sie auf Verlängerung des Lebens bis zu seiner
äussersten Grenze hin ? Jenachdem die Antwort auf jede dieser
Fragen bejahend oder verneinend ausfällt, wird die betreffende Hand
lung damit von selbst als gut oder böse bezeichnet, wenigstens was
ihre unmittelbaren Folgen betrifft, gleichgültig, welche Tragweite
sie für die Zukunft haben mag.
Der scheinbare Widerspruch, der in dieser Behauptung liegt ,
erklärt sich aus der Neigung, welcher wir uns so schwer zu ent
ziehen vermögen , eine Folgerung, die eine ideale Menschheit voraus
setzt, nach ihrer Anwendbarkeit auf die Menschheit der Gegenwart
zu beurtheilen. Die im Obigen ausgesprochene Folgerung bezieht
sich auf jenes höchste Handeln, mit welchem, wie wir gesehen haben,
die Entwickelung des Handelns ihr letztes Ziel erreicht ―――― jenes
Handeln , in welchem die Herstellung aller Anpassungen von Thätig
keiten an Zwecke, die dem vollkommenen individuellen Leben dienen ,
und zugleich aller jener, die der Erhaltung der Nachkommenschaft
und der Vorbereitung derselben für das reife Alter gewidmet sind,
nicht allein mit der Herstellung gleicher Anpassungen durch Andere
zusammengeht, sondern diese sogar fördert. Und diese Auffassung
des Handelns in seiner höchsten Form bedingt die Vorstellung von
einem Wesen, das ein solches Handeln als spontane Äusserung seiner
Natur zeigt, als Ergebniss seiner normalen Thätigkeit. Fassen wir
den Gegenstand so auf, so wird es einleuchtend, dass unter solchen.
Bedingungen jedes hinter der Norm Zurückbleiben so gut wie jedes
Übermaass einer Function eine Abweichung vom besten oder vom
vollkommenen sittlichen Handeln ist.

§. 33.
Bisher haben wir bei der Betrachtung des Handelns vom biolo
gischen Gesichtspunkt aus die dasselbe zusammensetzenden Hand
lungen nur von ihrer physiologischen Seite in's Auge gefasst , ihre
psychologische Seite dagegen gar nicht berücksichtigt. Wir zogen
die körperlichen Veränderungen in Betracht und übersahen die sie
begleitenden geistigen Veränderungen. Und auf den ersten Blick
scheint es nöthig, dies hier zu thun, da, wenn man sich von Be
wusstseinszuständen Rechenschaft geben will , dies scheinbar eine
§. 33. Der biologische Standpunkt . 85

Einbeziehung des psychologischen in den biologischen Gesichtspunkt


bedingt.
Dem ist jedoch nicht so. Wie in den " Principien der Psy
chologie " (§§. 52 und 53) dargelegt wurde, betreten wir das Ge
biet der eigentlichen Psychologie erst dann, wenn wir mit der Be
sprechung geistiger Zustände und ihrer Beziehungen mit besonderer
Rücksicht auf ihre Verhältnisse zu äussern Agentien und deren Be
ziehungen beginnen . So lange wir uns ausschliesslich auf die geisti
gen Zustände als blosse Correlativa von Nervenveränderungen be
schränken, haben wir es mit dem zu thun , was dort als Aestho
Physiologie bezeichnet wurde. Mit der Psychologie beschäftigen wir
uns erst, wenn wir die Wechselbeziehungen zwischen den Verbin
dungen subjectiver Zustände und den Verbindungen objectiver Thätig
keiten in's Auge fassen . Hier haben wir also , ohne die Grenzen
unseres unmittelbar vorliegenden Gegenstandes zu überschreiten ,
einen Blick auf die Gefühle und Functionen in ihrer gegenseitigen
Abhängigkeit zu werfen.
Wir dürfen dies auch nicht unterlassen , weil die psychischen
Veränderungen, welche viele der physischen Veränderungen im Or
ganismus begleiten , in doppelter Hinsicht biologische Factoren sind.
Jene Gefühle, die wir als Empfindungen bezeichnen und die, un
mittelbar im Gefüge unseres Körpers hervorgerufen, gleichzeitig mit
gewissen Zuständen der Lebensorgane und noch deutlicher mit ge
wissen Zuständen der äussern Organe einhergehen , dienen bald haupt
sächlich als Führer für die Ausübung von Functionen , theilweise
aber auch als Reize, und bald wieder hauptsächlich als Reize, aber
in geringerem Grade auch als Führer. Gesichtsempfindungen , welche
uns durch ihre Coordinirung in den Stand setzen , unsere Bewegun
gen zu lenken , erhöhen zugleich, wenn sie lebhaft sind, die Zahl
der Athemzüge, während Empfindungen von Kälte und Wärme nicht
nur die gesammten Lebensvorgänge stark herabdrücken oder er
höhen , sondern zugleich auch zur Unterscheidung dienen . Ebenso
wirken die als Gemüthsbewegungen aufgefassten Gefühle, die sich
nicht in unserem Körper localisiren lassen, auf allgemeinere Weise
gleichfalls als Führer und Reize ― haben sie doch auf die Aus
übung der Functionen sogar einen noch mächtigeren Einfluss als
die meisten Empfindungen. Während die Furcht einerseits zur
Flucht drängt und die dabei aufzuwendenden Kräfte frei macht,
beeinflusst sie zu gleicher Zeit auch das Herz und den Nahrungs
86 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.

canal ; Freude dagegen befördert Fortsetzung der Thätigkeiten , durch


welche sie selbst hervorgerufen wurde, steigert aber zugleich auch
die sämmtlichen Vorgänge in den Eingeweiden.
Deshalb sehen wir uns genöthigt , bei der Besprechung des
Handelns vom biologischen Gesichtspunkt aus auch jene Wechsel
wirkung von Gefühlen und Functionen in Betracht zu ziehen , welche
für das thierische Leben in allen seinen höher entwickelten Formen
so wesentlich ist.

§. 34.

In den Principien der Psychologie " ( §. 124 ) wurde gezeigt ,


dass in der gesammten belebten Welt ,, Schmerzen nothwendig die
„ Correlativa von dem Organismus schädlichen Einwirkungen sind ,
"7 während Freuden die Correlativa solcher Einwirkungen sind, die
, zu seinem Wohlergehen beitragen " , da es sich als unvermeidliche
„ Deduction aus der Entwickelungshypothese ergibt , dass die ver
„ schiedenen Arten von empfindungsfähigen Geschöpfen unter keiner
,andern Bedingung in's Dasein gelangen konnten . " Die Beweis
führung war folgende :
Wenn wir für das Wort Freude den gleichwerthigen Ausdruck
einführen : ein Gefühl, das wir in's Bewusstsein zu bringen und darin
festzuhalten suchen, und für das Wort Schmerz den gleichwerthigen Aus
druck ein Gefühl, das wir aus dem Bewusstsein fortzuschaffen und da
von fern zu halten suchen , so leuchtet sofort ein , dass , wenn die Be
wusstseinszustände, welche ein Geschöpf festzuhalten strebt, die Cor
relativa von schädlichen Einwirkungen, diejenigen Bewusstseinszustände
dagegen, welche es wegzuschaffen strebt , die Correlativa von wohl
thätigen Einwirkungen wären, dieses Geschöpf in Folge seines Fest
haltens am Schädlichen und seines Vermeidens des Nützlichen bald zu
Grunde gehen müsste . Es können mit andern Worten nur jene Arten
von Wesen am Leben geblieben sein, in denen durchschnittlich an
genehme oder erwünschte Gefühle sich verbanden mit zur Erhaltung
des Lebens dienlichen Einwirkungen , während unangenehme und ge
wohnheitsgemäss vermiedene Gefühle mit solchen Einwirkungen ver
bunden waren , welche direct oder indirect das Leben zu vernichten
trachteten, und stets müssen unter sonst gleichen Umständen diejenigen.
Arten am häufigsten und am längsten überlebt haben , bei welchen diese
Anpassungen von Gefühlen an Einwirkungen am besten waren, indem sie
fortwährend eine möglichst vollkommene Anpassung zu erzielen strebten.
Solche geeignete Verbindungen zwischen Wirkungen und ihren
Folgen müssen sich in den lebenden Wesen hergestellt haben, lange
bevor das Bewusstsein zur Ausbildung kam, und auch nach dem
§. 34. Der biologische Standpunkt . 87

Auftreten desselben konnten diese Verbindungen in keiner andern


Weise eine Abänderung erfahren , als dass sie noch vollkommener
hergestellt wurden. Schon vom ersten Anfang an wird das Leben
nur erhalten durch Fortsetzung der Thätigkeiten, welche ihm förder
lich , und Unterlassung der Handlungen , welche ihm nachtheilig
sind , und wann immer Empfindungsfähigkeit als Begleiterscheinung
hinzugetreten sein mag , ihre Formen müssen stets solche gewesen
sein, dass das erzeugte Gefühl im einen Falle von der Art ist , dass
es aufgesucht wird : Freude , und im andern Falle von der Art ,
dass es vermieden wird : Schmerz. Eine kurze Betrachtung genügt,
um sich die Nothwendigkeit dieser Verhältnisse, wie sie sich im
concreten Falle darstellen, klar zu machen.
Eine Pflanze, welche einen in der Erde liegenden Knochen mit
einem ganzen Geflecht von Wurzelfäserchen umhüllt, oder eine Kar
toffel , die ihre blassen Schosse nach der Ritze streckt, durch welche
ein Lichtstrahl in den Keller eindringt, zeigen uns , dass die Verände
rungen , welche äussere Agentien selbst in ihren Geweben verursachen ,
zugleich die Mittel sind , welche die Ausnützung dieser Agentien fördern .
Fragen wir uns , was geschehen würde, wenn die Wurzeln einer Pflanze
nicht nach der Stelle hinwüchsen, wo sich Feuchtigkeit befindet ,
sondern sich von derselben abwendeten , oder wenn ihre Blätter ,
darauf eingerichtet, mit Hülfe des Lichtes zu assimiliren , sich nichts
destoweniger nach der Dunkelheit hin neigten, so erkennen wir,
dass Tod die Folge sein würde, sobald die vorhandenen Anpassungen
fehlten. Noch deutlicher zeigt sich diese allgemeine Beziehung
bei einer insectenfressenden Pflanze, wie z. B. der Dionaea muscipula,
welche ihre Falle über thierischen Stoffen fest schliesst, nicht aber
über anderen Gegenständen. Hier ist es einleuchtend , dass der
Reiz , welcher aus dem zu allererst resorbirten Theilchen der Sub
stanz entspringt , selbst wieder jene Thätigkeiten hervorruft, durch
welche die ganze Masse der Substanz zum Nutzen der Pflanze ver
werthet wird.
Gehen wir von pflanzlichen zu unbewussten thierischen Or
ganismen über, so finden wir eine ähnliche Verbindung zwischen
Neigungen und vortheilhaften Umständen. Man beobachte nur, wie
sich die Fangarme eines Polypen an ein lebendes Geschöpf oder
irgend welche thierische Stoffe anlegen und sich rings über den
selben zusammenzuschliessen beginnen , während sie sich bei der
Berührung mit andern Stoffen ganz indifferent verhalten, und man
88 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.

überzeugt sich gleichfalls, dass die Diffusion einer kleinen Menge


der nährenden Säfte in die Fangarme hinein , was der erste Anfang
einer Assimilation ist , die Bewegungen verursacht, welche dann die
Ergreifung des Ganzen bewirken. Und es ist selbstverständlich ,
dass das Leben aufhören müsste, wenn diese Beziehungen in ihr
Gegentheil verkehrt wären . Nicht anders verhält es sich hin
sichtlich dieser fundamentalen Verbindung zwischen Berührung der
Nahrung und Aufnahme derselben bei mit Bewusstsein begabten Ge
schöpfen bis hinauf zu den höchsten. Das Kosten einer Substanz
beruht im Grunde nur auf dem Durchtritt ihrer Molecule durch
die Schleimhaut der Zunge und des Gaumens, und findet eine solche
Resorption mit einem Stoffe statt, welcher als Nahrung dienen kann ,
so bildet sie nur den Anfang der Resorption , die nachher im Darm
canal vor sich geht. Überdies ruft die diese Resorption begleitende
Empfindung, sofern sie von der Art war, wie sie durch die Nahrung
veranlasst wird , an der Stelle, wo dieselbe am lebhaftesten auftrat,
am oberen Ende des Schlundes , eine automatische Schluckbewegung
hervor, im Ganzen auf ähnliche Weise, wie der Reiz der Resorp
tion im Fangarm eines Polypen den Anstoss zur Ergreifung der
Beute gibt .
Wenn wir uns von diesen Vorgängen und Beziehungen, welche
unmittelbare Berührung zwischen der Oberfläche eines Geschöpfes
und der von demselben aufgenommenen Substanz voraussetzen , nun
zu jenen wenden , durch welche fein vertheilte Partikelchen der Sub
stanz hervorgerufen werden und mit Bewusstsein begabten Thieren
die Empfindung des Geruches derselben bieten , so finden wir eine
ähnliche allgemeine Wahrheit . Ebenso wie nach der unmittelbaren
Berührung einzelne Molecüle einer Masse nährenden Stoffes von dem
berührten Theil resorbirt werden und den Act der Ergreifung an
regen, so werden auch hier einzelne Molecüle resorbirt , die , indem
sie sich durch das Wasser verbreiteten , den Organismus erreichten
und, nachdem sie resorbirt wurden , solche Handlungen veranlassen,
dass Berührung mit der ganzen Masse zu Stande kommt. Ist die
physikalische Reizung, welche durch die fein vertheilten Partikel
chen angeregt wurde, nicht von Bewusstsein begleitet, so müssen
doch die hervorgerufenen Bewegungsänderungen zum Überleben des
Organismus beitragen , wenn sie wirklich mit Berührung endigten,
und verhältnissmässig mangelhafte Ernährung und grössere Sterb
lichkeit müsste unter den Organismen herrschen, bei welchen die
§. 34. Der biologische Standpunkt . 89

hervorgerufenen Zusammenziehungen nicht dieses Ergebniss zur Folge


haben. Ebenso wenig kann es zweifelhaft sein , dass, wann immer
und wo immer die physikalische Reizung von einem Empfindungs
zustand begleitet ist, dieser jedenfalls von der Art sein muss, dass
er mit einer Bewegung gegen den nährenden Stoff hin vereinbar
ist und selbst dazu beiträgt : es kann nicht eine abstossende, son
dern nur eine anziehende Empfindung sein . Und was so für das
niedrigste Bewusstsein gilt, muss auch bis hinauf zum höchsten
gelten, wie wir es denn in der That bei allen den höhern Thieren
beobachten, welche durch den Geruch nach ihrer Nahrung hinge
zogen werden.
Neben diesen Bewegungen, welche eine Ortsveränderung ermög
lichen, müssen auch diejenigen, welche das Ergreifen der Beute be
wirken , ebenso gewiss auf diese Weise angepasst sein. Die durch
Resorption nährender Stoffe aus unmittelbar berührter oder in der
Umgebung befindlicher organischer Substanz verursachten Molecular
veränderungen rufen Bewegungen hervor, die noch ganz unbestimmt
sind, wo die Organisation auf tiefer Stufe steht , allein mit dem
Fortschritt derselben immer bestimmter werden. Im Anfang , so lange
das noch undifferencirte Protoplasma an jeder Stelle resorptions
fähig und an jeder Stelle contractil ist, erscheinen die durch den
physikalischen Reiz der benachbarten Nährstoffe veranlassten Form
veränderungen ganz unregelmässig und wenig wirksam der Aus
nützung derselben angepasst ; allmählich aber, gleichzeitig mit der
Differencirung des Körpers in Theile, welche die Zusammenziehung,
und Theile, welche die Resorption besorgen , werden diese Bewegun
gen immer besser angepasst , denn nothwendigerweise müssen In
dividuen, bei denen sie die geringste Anpassung erreicht haben ,
rascher zu Grunde gehen als diejenigen, welche sich einer voll
kommenen Anpassung erfreuen. Auf Grund der Anerkennung dieser
Nothwendigkeit haben wir nun hier insbesondere eine fernere Noth
wendigkeit zu berücksichtigen. Die Beziehung zwischen diesen Reizen
und den ihnen angepassten Contractionen muss der Art sein, dass
eine Steigerung der einen eine Steigerung der andern zur Folge hat ,
da ja , wenn die verschiedenen Richtungen , nach welchen sich die
Reize auslösen , einmal ausgebildet sind , eine stärkere Reizung natür
lich eine stärkere Zusammenziehung verursacht und diese wieder ,
indem sie eine innigere Berührung mit dem reizenden Agens be
dingt, eine Steigerung des Reizes nach sich zieht und dadurch selbst
90 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.

noch mehr verstärkt wird . Hier erreichen wir nun das Ergebniss ,
das uns besonders von Wichtigkeit ist. Sobald nämlich als Begleit
erscheinung eine Empfindung hinzutritt, kann diese nicht etwa un
angenehm sein , also von der Berührung abschrecken , sondern sie
muss angenehm sein , zur Fortdauer derselben anregen . Die an
genehme Empfindung muss selbst das Reizmittel für die Zusammen
ziehung bilden, durch welche die angenehme Empfindung wieder in
Dauer erhalten und gesteigert wird , oder sie muss wenigstens so
mit dem Reiz verknüpft sein , dass beide gleichzeitig zunehmen . Und
diese Beziehung, die wir im Falle einer Hauptfunction direct sich
herstellen sahen, muss für alle andern Functionen auf indirectem
Wege gleichfalls zu Stande kommen ; denn in jedem einzelnen Falle
bedingt Nichtherstellung derselben eine insoweit für die Existenz
bedingungen ungeeignete Beschaffenheit.
Auf zwei verschiedenen Wegen also liess sich nachweisen , dass
eine ursprüngliche Verbindung zwischen freudebringenden Handlungen
und Fortdauer oder Steigerung des Lebens und demgemäss auch
zwischen schmerzbringenden Handlungen und Abnahme oder Verlust
des Lebens besteht. Auf der einen Seite fanden wir, indem wir uns
an die niedrigsten Lebewesen hielten, dass die vortheilhaften Hand
lungen und die Handlungen , welche auszuüben eine Neigung vor
handen ist, ursprünglich nur die beiden Seiten einer und derselben
Erscheinung bilden und sich nicht ohne verderbliche Folgen von
einander trennen lassen würden . Fassen wir anderseits hoch ent
wickelte Geschöpfe in ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit in's Auge,
so sehen wir, dass jedes Individuum und jede Species Tag für Tag
nur dadurch sich am Leben erhalten , dass sie dem Angenehmen
nachstreben und das Unangenehme vermeiden .
Nachdem wir uns so die Thatsachen von einer neuen Seite
nahe gebracht, führt uns die Analyse nur in etwas veränderter Ge
stalt auf dieselbe letzte Wahrheit hinaus, welche in einem vorher
gehenden Capitel gleichfalls durch Analyse gefunden worden war.
Dort stellten wir fest, dass es ebenso unmöglich ist, sich sittliche
Vorstellungen zu bilden , in denen das Bewusstsein von Freude irgend
welcher Art , zu irgend einer Zeit von irgend einem Wesen erfahren,
völlig fehlt , als es unmöglich ist , sich eine Vorstellung von einem
Ding zu bilden, in welcher das Bewusstsein vom Raume nicht ent
halten ist . Und hier sehen wir, dass diese Denknothwendigkeit
geradezu aus der Natur der empfindenden Existenz entspringt.
§. 35. Der biologische Standpunkt . 91

Empfindende Wesen können sich nur unter der Bedingung entwickeln ,


dass freudebringende Handlungen zugleich lebenerhaltende Hand
lungen sind .

§. 35.

Ungeachtet der bereits gegebenen Erläuterungen wird das nackte


Aussprechen dieses Satzes als einer höchsten Wahrheit , die allen
Werthschätzungen von Recht und Unrecht zu Grunde liegen soll ,
bei vielen , wenn nicht bei den meisten meiner Leser ein gewisses
Erstaunen hervorrufen . Die Mehrzahl hat dabei gewisse wohlthä
tige Folgen vor Augen , denen jedoch unangenehme Bewusstseins
zustände vorausgehen , wie z. B. diejenigen , welche in der Regel
die Arbeit begleiten , und anderseits die nachtheiligen Folgen, die
nach der Befriedigung gewisser Genüsse eintreten , wie diejenigen,
welche durch Unmässigkeit im Trinken veranlasst werden, und so
hegen sie, stillschweigend oder offen ausgesprochen, die Ansicht ,
das Ertragen von Unlust sei im Ganzen wohlthätig , das Geniessen
von Lust dagegen verderblich . Die Ausnahmen erfüllen ihren Geist
so , dass die Regel dadurch ganz verdrängt wird.
Bei näherer Befragung müssen sie freilich zugeben, dass die
Schmerzen, welche in Folge von Wunden , Quetschungen, Verrenkun
gen auftreten, die Begleiter von Übeln für den Leidenden sowohl
wie für seine Umgebung sind und dass die Voraussicht solcher
Schmerzen als Abschreckungsmittel vor leichtsinnigen oder gefähr
lichen Handlungen dient. Sie können nicht leugnen , dass die
Qualen einer Verbrennung oder Verbrühung und das Elend , was
starke Kälte, Hunger und Durst erzeugen können , in unlöslicher
Verbindung stehen mit dauernden oder vorübergehenden Beschädi
gungen , welche den , der sie erleidet , zur Ausübung von Handlungen
unfähig zu machen geeignet sind , die entweder für sein eigenes oder
für das Wohl Anderer gethan werden sollten. Sie sehen sich ge
zwungen, die tödtliche Angst vor drohendem Ersticken als wirk
samen Schutz des Lebens anzuerkennen , und müssen zugestehen ,
dass Vermeidung derselben all das möglich macht, was das Leben
einem bringen oder vollenden kann. Ebenso wenig wird Jemand
in Abrede stellen wollen, dass ein Mensch, der in einer kalten ,
dumpfen Höhle , in Finsterniss und Stille angekettet ist, dadurch
an seiner Gesundheit und Leistungsfähigkeit geschädigt wird , so
wohl durch die auf solche Weise ihm zugefügten positiven Schmerzen
1

92 Die Thatsachen der Ethik . Cap. VI.

als auch durch die damit verknüpften negativen Leiden in Folge


der Entbehrung des Lichtes, der Freiheit und der Gesellschaft.
Auf der andern Seite bezweifelt doch wohl Niemand , dass ungeachtet
gelegentlicher Ausschreitungen die Lust, welche die Aufnahme von
Nahrung begleitet, unmittelbar mit physischem Vortheil verbunden
ist und dass der Vortheil um so grösser wird , je vollständigere Be
friedigung der Appetit gefunden hat. Es bleibt keine andere Wahl ,
als einzuräumen , dass die Instincte und Gefühle , welche so über
mächtig zur Heirath drängen, und diejenigen, welche in der Pflege
der Nachkommenschaft ihre Befriedigung finden , nach Abzug aller
Übel immer noch einen gewaltigen Überschuss an Gutem zu Tage
fördern . Nicht minder unzweifelhaft ist es , dass die bei der all
mählichen Ansammlung eines Vermögens empfundene Freude ein
bedeutendes Übergewicht an privaten und öffentlichen Vortheilen
übrig lässt, auch nachdem alle möglichen Abstriche gemacht wor
den sind . Allein so zahlreich und augenfällig auch die Fälle sein
mögen, in welchen Freuden und Leiden des einfachen Empfindungs
wie des Gemüthslebens als Antriebe zu richtigen und als Ab
schreckung von unrichtigen Handlungen dienen , sie werden doch
achtlos bei Seite geschoben und nur von den Fällen wird Notiz
genommen, in welchen die Menschen direct oder indirect durch jene
L
missleitet worden sind . Das gut - wirkende in wesentlichen Dingen
1
wird ignorirt und das schlecht-wirkende in unwesentlichen Dingen . 1
allein beachtet.
Wird etwa darauf entgegnet, dass die lebhafteren Schmerzen
und Freuden, welche unmittelbaren Bezug auf die körperlichen Be
dürfnisse haben, uns allerdings auf den rechten Weg leiten , wäh
rend die minder lebhaften Leiden und Freuden, die nicht unmittel
bar mit der Aufrechterhaltung des Lebens zusammenhängen , uns
irre führen ? Darin läge aber die Behauptung, dass das System der
Leitung durch Freuden und Leiden , welches sich bei allen Arten
von Geschöpfen unterhalb des Menschen bewährt hat, beim Menschen
selbst untauglich geworden sei ; oder vielmehr, während das Zu
geständniss gemacht wird, dass es bei der Menschheit insofern Erfolg
habe, als es sich um die Erfüllung gewisser unumgänglicher Be
dürfnisse handelt , soll es sich werthlos erweisen in Hinsicht auf
Bedürfnisse , die nicht zu den dringenden gehören . Wer solches
annimmt, ist jedoch in erster Linie verpflichtet, uns zu zeigen, wie
die Grenze zwischen den beiden Abtheilungen zu ziehen sei , und in

1
§. 36. Der biologische Standpunkt . 93

zweiter Linie, uns begreiflich zu machen , warum das System , wel


ches bei den niederen Lebewesen erfolgreich war, bei den höheren
seine Wirksamkeit verloren haben soll.

§. 36.
Ohne Zweifel jedoch wird auch nach all dem bereits Gesagten
abermals dieselbe Schwierigkeit erhoben werden --- man wird sich
auf die Fälle von unheilbringenden Freuden und wohlthätigen Leiden
.
berufen. Der Trinker , der Spieler, der Dieb, welche alle bestimm
ten Genüssen nachgehen , werden zum Beweis dafür aufgezählt , dass
die Verfolgung von Genüssen irre leitet , während der sich selbst
aufopfernde Verwandte, der Arbeiter, welcher trotz seiner Müdig
keit bei der Arbeit beharrt, der rechtschaffene Mann , welcher sich
einschränkt, um seinen Unterhalt mit Ehren zu bestreiten , als Be
lege dafür gelten sollen, dass unangenehme Bewusstseinszustände
Handlungen begleiten , die in Wirklichkeit segensreich sind . Indem
ich mich aber hier begnüge, auf die im § . 20 dargelegte Thatsache
hinzuweisen, dass dieser Einwand nichts gegen die Leitung durch
Freuden und Leiden im Ganzen beweisen kann, weil er eben nur
wieder zeigt, dass specielle und nächstliegende Freuden und Leiden
mit Rücksicht auf entfernte und allgemeiner sich ausbreitende Freu
den und Leiden ausser Acht gelassen werden müssen, und indem V
ich einräume, dass dem Menschengeschlecht in seiner gegenwärtigen
Beschaffenheit die Leitung durch nächstliegende Freuden und Leiden
in einer grossen Menge von Fällen nicht zum Vortheil ausschlägt,
wende ich mich nun dazu , die Erklärung darzulegen , welche die
Biologie für diese Anomalien als für nicht nothwendige und dauernde ,
sondern nur zufällige und zeitweilige Erscheinungen liefert.
Schon wo ich zu zeigen versuchte, dass bei sämmtlichen niedri
geren Lebewesen durchaus nur Freuden und Leiden das Handeln ,
vermöge dessen das Leben sich entwickelt und forterhalten hat, ge
leitet haben, wies ich darauf hin, dass, weil ja die Existenzbedin
gungen einer jeden Art von Zeit zu Zeit eine Veränderung erfuhren ,
in Folge dessen auch von Zeit zu Zeit theilweise Missanpassungen
der Gefühle an die Erfordernisse entstanden sein müssen , welche
entsprechende Neuanpassungen nothwendig machten . Da nun diese
allgemeine Ursache der Störung auf alle empfindenden Wesen ein
wirkt, so hat sie auch die menschlichen Wesen und zwar in ausser
gewöhnlich scharf ausgeprägter, andauernder und verwickelter Weise
94 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.

beeinflusst. Man braucht sich nur den Gegensatz zwischen der


Lebensweise eines primitiven Menschen , der in den Wäldern herum
wandert und von roher Nahrung lebt, und derjenigen eines Bauern ,
eines Handwerkers , eines Kaufmanns und eines Gelehrten in einer
civilisirten Gemeinschaft zu vergegenwärtigen, um einzusehen, dass
dieselbe körperliche und geistige Beschaffenheit , welche für den
Einen trefflich angepasst ist , für den Andern nicht im mindesten
sich eignet. Man braucht blos die Gemüthsbewegungen zu berück
sichtigen, welche in den wilden Stämmen wach erhalten werden ,
die eigentlich mit den benachbarten Stämmen in dauerndem Kriege
leben, und diesen die Gemüthsbewegungen gegenüber zu stellen , welche
durch friedliche Arbeit und Handel zu Tage gefördert werden, um
zu erkennen , dass beide Arten nicht nur unähnlich, sondern geradezu
einander entgegengesetzt sind . Und man braucht nur zu beachten ,
wie im Verlaufe der socialen Entwickelung die Ideen und Gefühle ,
welche den durch gezwungenes Zusammenwirken ausgeführten kriege
rischen Thätigkeiten angemessen sind , stets mit den Ideen und Ge
fühlen in Widerspruch standen, welche den durch freiwilliges Zu
sammenwirken zu Stande kommenden industriellen Thätigkeiten an
gemessen sind , um zu begreifen , dass von jeher innerhalb jeder Ge
sellschaft ein Widerstreit zwischen den beiden sittlichen Naturen,
welche diesen beiden verschiedenartigen Lebensweisen sich angepasst
hatten, bestanden hat und noch besteht. Offenbar also ist diese
Neuanpassung der Freuden und Leiden zum Zwecke fernerer Leitung , i
welche alle Lebewesen von Zeit zu Zeit durchmachen müssen , im
Menschengeschlecht während seines civilisirten Zustandes ganz beson
ders schwierig gewesen , nicht allein wegen des bedeutenden Sprunges ,
den ein Übergang von kleinen nomadischen Gruppen zu grossen
sesshaften Gesellschaften und von räuberischen zu friedlichen Lebens
gewohnheiten bedingte, sondern namentlich auch weil das alte Leben
der Feindseligkeit zwischen den einzelnen Gemeinschaften sich noch
neben dem neuen Leben der Freundschaft innerhalb jeder einzelnen
Gemeinschaft forterhalten hat. So lange zwei einander so grundsätz
lich gegenüberstehende Lebensweisen wie die kriegerische und die
industrielle neben einander existiren , kann sich die menschliche Natur
weder der einen noch der andern gehörig anpassen.
Dass dies die Quelle ist, aus welcher die Misserfolge der Lei
tung durch Freuden und Leiden entspringen , wie man sie alltäglich
beobachten kann, sehen wir am besten, wenn wir darauf achten ,
§. 37. Der biologische Standpunkt . 95

auf welchem Gebiete des Handelns diese Misserfolge am auffällig


sten hervortreten . Wie oben gezeigt wurde, sind die angenehmen
und schmerzlichen Empfindungen ziemlich gut den unerbittlichen
physikalischen Anforderungen angepasst : die Vortheile, welche daraus
erwachsen, wenn man sich mit den Empfindungen in Einklang setzt,
die uns in Hinsicht auf die Ernährung, die Athmung, die Aufrecht
erhaltung einer bestimmten Temperatur antreiben , haben weitaus
das Übergewicht über die gelegentlichen Nachtheile, und die Miss
anpassungen , welche etwa vorkommen mögen, dürfen wohl dem Über
gang von dem Leben des primitiven Menschen im Freien zu dem
auf's Haus beschränkten Leben zugeschrieben werden, wie es der
civilisirte Mensch oft zu führen genöthigt ist. Es sind vielmehr
die emotionellen Freuden und Leiden , welche in so bedeutendem
Grade hinter der erforderlichen Anpassung an die Bedürfnisse des
in der Gesellschaft geführten Lebens zurückbleiben , und diese sind
es auch, deren Neuanpassung in der oben erörterten Weise so lang
sam geschieht, weil sie so schwierig ist .
Vom biologischen Gesichtspunkt aus sehen wir also , dass die
Verbindung zwischen Freude und vortheilhafter Thätigkeit und zwi
schen Leiden und verderblicher Thätigkeit, welche schon mit der
ersten Entstehung empfindender Wesen in's Dasein trat und sich
durch alle lebenden Geschöpfe bis hinauf zum Menschen forterhalten
hat, im Allgemeinen auch bei ihm in dem ganzen niedrigeren und
vollkommener organisirten Gebiet seines Wesens zum Vorschein
kommt , sich aber immer völliger auch in dem höhern Gebiete seines
Wesens ausbilden muss , je weiter seine Anpassung an die Bedin
gungen des gesellschaftlichen Lebens fortschreitet.

§. 37.
Die Biologie hat noch ein ferneres Urtheil über die Beziehun
gen von Freuden und Leiden zum Wohlergehen des Menschen zu
fällen. Abgesehen von den Verbindungen zwischen für den Organis
mus vortheilhaften Thätigkeiten und den die Ausübung derselben
begleitenden Freuden und zwischen für den Organismus schädlichen
Thätigkeiten und den ein Aufgeben derselben veranlassenden Schmer
zen besteht noch eine Verbindung zwischen Freude im Allgemeinen
und physiologischer Steigerung und zwischen Schmerz im Allgemeinen
und physiologischer Gedrücktheit. Jede Freude steigert die Lebens
kraft, jedes Leiden vermindert dieselbe . Jede Freude lässt die Fluth
96 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI .

des Lebens höher schlagen, jedes Leiden drückt dieselbe tiefer hinab.
Fassen wir zunächst die Leiden in's Auge.
Unter den allgemeinen Nachtheilen, welche aus dem Erleiden
von Schmerzen hervorgehen , verstehe ich nicht diejenigen, welche
die Folge der sich ausbreitenden Wirkungen localer organischer Be
schädigungen sind, wie sie z. B. durch ein Aneurysma veranlasst
werden , das nach übermässigen Anstrengungen trotz der davor
warnenden Empfindungen auftrat, oder wie sie als Folge von Krampf
adern sich zeigen , die man sich durch fortwährende Nichtbeachtung
der Müdigkeit in den Beinen zugezogen hat , oder wie sie durch
Atrophie in gewissen Muskeln bedingt werden , welche andauernd
angestrengt wurden , obgleich sie schon bedeutend erschöpft waren ;
vielmehr habe ich dabei diejenigen allgemeinen Nachtheile im Auge,
welche eine Störung der ganzen Constitution nach sich zieht, wie
sie jeder Schmerz unmittelbar bedingt . Diese treten sehr augen
fällig hervor, wenn die Schmerzen lebhaft sind, mögen sie dem Ge
biete der Empfindungen oder der Gemüthsbewegungen angehören .
Lang anhaltende Qualen des Körpers führen den Tod durch
.
Erschöpfung herbei . Noch häufiger wird dadurch, dass die Thätig
keit des Herzens eine Zeitlang still steht, jener vorübergehende Tod
veranlasst, den wir Ohnmacht nennen . Bei andern Gelegenheiten
tritt in Folge davon Erbrechen auf. Und wo sich nicht so offen
bare Störungen zeigen, da können wir doch immer in der Blässe
und dem Zittern die allgemeine Bedrückung erkennen . Abgesehen
von dem thatsächlichen Verlust des Lebens , der bei einem intensiver
Kälte ausgesetzten Menschen eintritt, beobachten wir weniger aus
geprägte Herabsetzungen der Lebenskraft in Folge minder heftiger
Kälte ―――――――― zeitweilige Entkräftung tritt nach allzu langem Eintauchen
in eiskaltes Wasser ein, allgemeine Schwäche und Siechthum ist
die Folge von ungenügender Bekleidung. Ähnliche Wirkungen zeigen
sich beim Ertragen grosser Hitze : man beobachtet Erschlaffung,
die sich gelegentlich bis zur Erschöpfung steigert ; bei schwachen
Personen kommt es zu Ohnmachten mit darauffolgender längerer
Kraftlosigkeit, und in den schwülen tropischen Dschungeln zieht
sich der Europäer Fieber zu , die, wenn sie nicht das Leben ge
fährden, so doch oft lebenslängliche Leistungsunfähigkeit zur Folge
haben . Bedenken wir ferner die Übel, die nach gewaltsamen An
strengungen auftreten , welche ungeachtet schmerzhafter Gefühle
fortgesetzt wurden : entweder solche Übermüdung, dass der Appetit
§. 37. Der biologische Standpunkt. 97

ganz verloren geht oder die Verdauung still steht, wenn Nahrung
aufgenommen wird, was also eine Unterbrechung der den Wieder
ersatz besorgenden Vorgänge bedingt , gerade wo sie am nöthigsten
wären, oder gar eine Herabsetzung der Herzthätigkeit, die hier eine
Zeit lang anhält und dort , wo die Überschreitung des richtigen
Maasses Tag für Tag wiederholt wurde, auf die Dauer sich ein
nistet, so dass der ganze Rest des Lebens auf ein niedrigeres Niveau
herabgedrückt wird .
Nicht minder deutlich sichtbar sind die niederschlagenden Wir
kungen von Leiden des Gemüthslebens. Manchmal kommen Todes
fälle in Folge von Kummer vor , oder der geistige Schmerz, den
ein Unglücksfall verursachte , zeigt seine Wirkung ähnlich wie ein
körperliches Leiden in einer Ohnmacht. Häufig stellt sich nach
einer schlimmen Nachricht Krankheit ein und anhaltende Sorge er
zeugt Verlust des Appetits , beständige Verdauungsstörungen und
Verminderung der Widerstandskraft. Übermässige Furcht, mag sie
durch physische oder sittliche Gefahr hervorgerufen sein, hemmt
auf gleiche Weise für einige Zeit die Ernährungsvorgänge und ver
anlasst bei schwangeren Frauen nicht selten Fehlgeburt, während
in weniger extremen Fällen der kalte Schweiss und die zitternden
Hände eine allgemeine Herabsetzung der Lebensthätigkeiten ver
rathen, welche theilweises Unvermögen des Körpers oder des Geistes
oder beider nach sich zieht. Welch' eingreifende Störungen ein
emotioneller Schmerz in den Thätigkeiten der Eingeweide hervor
rufen kann, zeigt uns die Thatsache, dass unaufhörliche Gemüths
qualen nicht selten Gelbsucht im Gefolge haben . Und hier ist es
sogar zufällig möglich gewesen , die Beziehung zwischen Ursache
und Wirkung durch ein directes Experiment nachzuweisen . Als
CLAUDE BERNARD bei einem Hunde die Einrichtung getroffen , dass
der Gallengang sein Secret nach aussen ergoss , bemerkte er , dass ,
so lange er den Hund liebkoste und ihn in fröhlicher Stimmung er
hielt, die Secretion in normaler Stärke anhielt ; wenn er aber zornig
Sprach und ihn eine Zeit lang so behandelte, dass er niedergeschla
gen wurde, dann hörte das Fliessen der Galle auf.
Lässt sich auch dagegen einwenden , dass schlimme Folgen der
genannten Art nur dann aufzutreten pflegen, wenn die körperlichen
wie die geistigen Schmerzen sehr gross sind, so bleibt es doch un
bestreitbar, dass bei gesunden Personen die durch kleinere Leiden
verursachten schädlichen Störungen, wenn sie auch schwer nach
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 7
98 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.

zuweisen sein mögen, doch vorhanden sind, und bei Solchen, deren
Lebenskräfte bereits durch Krankheit bedeutend geschwunden sind ,
genügt oft eine geringe physische Erregung oder eine unerhebliche
moralische Beunruhigung, um einen Rückfall herbeizuführen .
Ganz entgegengesetzt sind die Wirkungen der Freude auf die
Constitution des Menschen . Es kommt allerdings gelegentlich, wenn
auch selten vor, dass schwache Personen in Folge einer intensiven
Freude einer Freude , die beinah Schmerz zu nennen ist ―――― eine
Erschütterung ihrer Nerven erleiden , welche nachtheilig wird ;
niemals aber tritt dies bei Solchen ein, die noch nicht durch frei
willige oder gezwungene Ausübung von dem Organismus schädlichen
Thätigkeiten geschwächt sind . Unter normalen Verhältnissen sind
grosse wie kleine Freuden treffliche Anregungsmittel für die Vor
gänge, durch welche das Leben erhalten wird .
Unter den Empfindungen mögen diejenigen als Beispiel genannt
werden, welche helles Licht hervorruft. Der Sonnenschein wirkt
belebend im Vergleich zur Dämmerung - schon ein Lichtstrahl
erzeugt eine Welle angenehmer Empfindungen , und durch Ex
perimente ist nachgewiesen worden, dass das directe Sonnenlicht
die Zahl der Athemzüge steigert ; lebhaftere Athmung aber ist nur
ein Zeichen der im Allgemeinen erhöhten Lebensthätigkeiten . Eine
angenehme Temperatur befördert die Thätigkeit des Herzens und
damit auch aller andern Functionen , für welche diese die Grundlage
bildet. Wenn auch die Menschen , die sich ihrer vollen Kraft er
freuen und gehörig bekleidet sind, die Temperatur ihres Körpers
selbst im Winter constant zu erhalten und mehr Nahrung als ge
wöhnlich zu verdauen vermögen, um den Wärmeverlust auszugleichen ,
so verhält es sich doch mit Schwachen anders , und je mehr die
Kraft abnimmt, desto mehr wird der wohlthätige Einfluss der Wärme
empfunden. Dass die angenehmen Empfindungen , wie sie die frische
Luft wachruft und wie sie die Thätigkeit der Muskeln nach hin
länglicher Ruhe oder die Ruhe nach vorheriger Anstrengung be
gleiten, mit vortheilhaften Folgen verknüpft sind , kann von Niemand
bezweifelt werden . Der Genuss dieser Freuden trägt zur Erhaltung
des Körpers in einer für alle Zwecke des Lebens geeigneten Be
schaffenheit bei.
Noch augenfälliger sind die physiologischen Vortheile von
emotionellen Freuden . Jedes körperliche und geistige Vermögen
wird erhöht durch gute Laune " , wie wir eine allgemein befriedigte

I
§. 37. Der biologische Standpunkt . 99

Gemüthsstimmung bezeichnen. Der Satz , dass die wichtigsten


―――――――――― diejenigen der Ernährung - durch ein zum
Lebensthätigkeiten
Lachen reizendes Gespräch oder vielmehr durch das angenehme Ge
fühl , welches zum Lachen führt , gefördert werden , ist von Alters her
in Geltung, und jeder Magenschwache weiss, dass er in erheitern
der Gesellschaft auch ein starkes und verschiedenartig zusammen
gesetztes Mittagessen, selbst mit Einschluss nicht allzu leicht ver
daulicher Dinge, ungestraft und sogar mit Vortheil verzehren darf,
während ein kleines, sorgfältig ausgewähltes , aus einfachen Speisen
.
bestehendes Essen , in der Einsamkeit eingenommen, Verdauungs
beschwerden im Gefolge hat. Diese schlagende Wirkung auf das
Ernährungssystem wird von andern ebenso bestimmten , wenn auch
minder bemerkbaren Wirkungen auf den Blutkreislauf und die
Athmung begleitet. Und wer , den täglichen Arbeiten und Sorgen
entrückt, an schönen Gegenden sich erfreute oder durch das Neue,
was er draussen sah, lebhaft angeregt wurde, der verräth bei der
Rückkunft schon durch seine heitere Miene und sein lebendiges
Wesen den grösseren Vorrath an Energie, mit dem er für die Wieder
aufnahme seines Berufes ausgerüstet ist. Gebrechliche Leute be
sonders mit ihrer auf ein verengertes Gebiet beschränkten Lebens
kraft, auf welche sich jeder Einfluss der äusseren Bedingungen sehr
deutlich bemerkbar macht, lassen in der Regel den Vortheil er
kennen , den ihnen angenehme Empfindungszustände bringen . Eine
lebhafte Gesellschaft, der Besuch eines alten Freundes, schon die
Übersiedelung in ein helleres Zimmer kann , indem sie eine heitere
Stimmung erzeugt, ihr körperliches Befinden um ein Bedeutendes
bessern. Kurz, wie jeder Arzt gut genug weiss , es gibt kein wirk
sameres tonisches Mittel als das Glück.
Diese allgemeiner sich ausbreitenden physiologischen Wirkungen
der Freuden und Leiden , welche mit den localen oder speciellen
physiologischen Wirkungen verknüpft sind , müssen in der That noth
wendig eintreten . Wir haben gesehen (Principien d. Psychol . , §§ . 123
bis 125 ), dass Verlangen oder negativer Schmerz die Unter-Anstren
gung, positiver Schmerz die Über-Anstrengung eines Organs be
gleitet , dass aber Freude mit seiner normalen Thätigkeit verbunden
ist. Wir haben gesehen, dass die Entwickelung gar keine andern
Beziehungen hervorbringen konnte, da, wenn bei allen niedrigeren
Typen der Geschöpfe ein Mangel oder Übermaass in einer Function
nicht einen unangenehmen und das Normalmaass der Function nicht
7*
100 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.

einen angenehmen Empfindungszustand hervorgerufen hätte , auch


jede Ursache fehlen würde, die eine in richtigen Verhältnissen sich
bewegende Ausübung der Function hätte sichern können . Und da
eines der Gesetze der Nerventhätigkeiten besagt, dass jeder Reiz
neben einer directen Entladung nach dem einzelnen beeinflussten
Organe hin noch indirect eine allgemeine Entladung durch das ganze
Nervensystem bewirkt (Princ. d . Psych. , §§ . 21 , 39), so folgt daraus ,
dass die sämmtlichen übrigen Organe, da sie ja gleichfalls unter
dem Einfluss des Nervensystems stehen, an der Reizung theilnehmen
müssen. Neben der nur langsam sich bemerklich machenden Unter
stützung, welche die Organe vermöge der physiologischen Theilung
der Arbeit einander leihen , kommt noch die Unterstützung in Be
tracht, welche in der gegenseitigen Anregung gegeben ist und welche
viel rascher ihre Wirkungen ausübt. Während aus der richtigen
Ausführung jeder einzelnen Function ein Vortheil erwächst, der im
ganzen Organismus zu spüren ist, macht sich zugleich ein unmittel
barer Vortheil geltend in Folge der Steigerung seiner gesammten
Functionen , welche aus dem jene begleitenden Lustgefühl entspringt ;
und eben solche doppelte Wirkungen , eine unmittelbare und eine
entferntere, haben auch die Schmerzen, mögen sie von Übermaass
oder von Mangel herrühren .

§. 38.

Dass diese allgemeinen Wahrheiten nicht berücksichtigt werden ,


verdirbt die ganze Speculation über diese Dinge von Grund aus.
In den Urtheilen über Recht und Unrecht, wie sie gewöhnlich ge
fällt werden, pflegt man diese physiologischen Einflüsse , welche durch
die Gefühle des Handelnden auf ihn zurückwirken, vollständig zu
übersehen. Es wird als selbstverständlich angenommen , dass Freu
den und Leiden keinerlei Rückwirkungen auf den Körper des sie
Erfahrenden hätten , welche sein Vermögen zur Erfüllung der Pflich
ten des Lebens beeinträchtigen könnten. Die einzigen Rückwir
kungen, die man anerkennt, sind die auf den Charakter, und in
Betreff dieser gilt die landläufige Annahme , dass der Genuss von
Freuden schädlich , das Erdulden von Leiden nützlich sei. Die in
letzter Linie von der Geistertheorie des Wilden abstammende Auf
fassung, dass Körper und Geist von einander unabhängig seien, be
dingt unter ihren verschiedenen Folgerungen auch den Glauben,
dass zwischen Bewusstseinszuständen und körperlichen Zuständen
§. 38. Der biologische Standpunkt . 101

keinerlei Beziehung stattfinde. "" Du hast Befriedigung Deiner Lust


gefunden - sie ist vorbei, und Du bist derselbe wie zuvor " , sagt
der Moralist zu dem Einen . " Du hast Dein Leiden ertragen - es
ist vorbei, und damit hat die Sache ein Ende “ , sagt er zum Andern .
Beide Behauptungen sind falsch. Denn wenn wir auch die indirecten
Folgen einen Augenblick aus dem Spiele lassen, so bestehen die
directen Folgen darin , dass der Eine einen Schritt vom Tode weg,
der Andere dagegen einen Schritt nach dem Tode hin gethan hat.
Wenn wir, sage ich , die indirecten Folgen aus dem Spiele lassen.
Diese indirecten Folgen, die wir hier einen Augenblick bei Seite
setzten, sind es aber, welche der Moralist ausschliesslich im Auge
hat und welche seine Aufmerksamkeit so in Anspruch nehmen , dass
er die directen Folgen darüber ganz vernachlässigt. Der Genuss ,
den man sich vielleicht mit unverhältnissmässigen Kosten ver
schaffte, dessen man sich vielleicht erfreute, während eine Arbeit
gethan werden sollte, oder der vielleicht einem Andern mit besse
rem Anspruch darauf entrissen wurde, wird nur im Hinblick auf
entferntere schädliche Wirkungen betrachtet, ohne einen Posten zu
Gunsten der unmittelbaren wohlthätigen Folgen abzuschreiben. Um
gekehrt wird bei positiven und negativen Leiden , mögen sie nun
bei dem Streben nach irgend einem zukünftigen Vortheil oder bei
der Erfüllung einer übernommenen Verantwortlichkeit oder beim
Vollbringen einer grossmüthigen Handlung ertragen worden sein ,
nur auf das entfernte Gute Gewicht gelegt und das nächstliegende
Übel unberücksichtigt gelassen . Alle die angenehmen und schmerz
lichen Folgen also , welche der Handelnde sofort empfindet, sind von
gar keiner Bedeutung, und sie erlangen erst dann ihre Wichtigkeit,
wenn vorauszusehen war , dass sie später den Handelnden oder an
dere Personen treffen würden. Und überdies kommen auch zukünf
tige, vom Handelnden zu ertragende Übel nicht in Betracht, wenn
sie aus Selbstverleugnung entspringen , und nur wenn Selbstbefriedi
gung ihre Wurzel war, so werden sie mit Nachdruck hervorgehoben.
Derartig begründete Urtheile sind offenbar irrthümlich und daher
müssen auch die allgemein geltenden Ansichten über das Handeln ,
da sie sich auf solche Urtheile stützen , offenbar ganz verdreht sein.
Beachten wir nun einmal die daraus entstehenden Widersprüche in
den Meinungen .
Wenn in Folge einer Krankheit, die man sich beim Streben
nach einem unerlaubten Vergnügen zugezogen , eine Entzündung der
I
1
1

102 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.


P

Iris das Sehvermögen schädigt, so ist dieses Unglück zu denjenigen


zu rechnen, welche durch unsittliches Handeln herbeigeführt wurden ;
sind aber ungeachtet der davor warnenden Empfindungen die Augen
allzu bald nach einer Augenentzündung beim Studiren angestrengt
worden und es folgt Blindheit für mehrere Jahre oder für das ganze
Leben daraus , was nicht allein persönliches Unglück nach sich zieht,
sondern auch Andern eine schwere Last aufbürdet , so schweigen die
Moralisten still . Der Beinbruch, den sich ein Trunkenbold durch
Hinstürzen zuzog, zählt unter jene Unglücksfälle, welche Unmässigkeit
über den Betreffenden und seine Familie bringt und welche den Grund
zur Verdammung derselben bilden ; wenn aber das ängstliche Be
streben, allen seinen Pflichten nachzukommen , Schuld daran war,
dass ein verstauchtes Knie trotz aller Schmerzen fortwährend an
gestrengt wurde , und daraus chronische Lähmung hervorging , welche
wieder Mangel an körperlicher Übung und in Folge dessen Kränk
lichkeit, Arbeitsunfähigkeit, Sorge und Unglück mit sich brachte ,
so heisst es allgemein, die Ethik habe in dieser Sache kein Urtheil
abzugeben . Ein Student, der relegirt wird , weil er das Geld und
die Zeit, die er zum Studium verwenden sollte , in Vergnügungen
aufgehen liess, wird getadelt, dass er auf diese Weise seine Eltern
unglücklich mache und sich selbst eine klägliche Zukunft schaffe ;
ein anderer aber, der ausschliesslich an die an ihn gestellten An
forderungen denkt, der Nacht für Nacht mit heissem oder schmer
zendem Kopf studirt und schliesslich zusammenbricht, bevor er noch
sein Examen machen konnte, statt dessen aber mit erschütterter
Gesundheit und unfähig, sich selbst zu erhalten , heimkehrt, wird
nur mit Bedauern genannt als einer, der keinem moralischen Urtheil
unterliegt ; oder vielmehr, das etwa über ihn gefällte Urtheil lautet
durchaus günstig.
Während also die Menschen im Allgemeinen und die Moralisten
als Vertreter ihrer Ansichten insbesondere auf diese Weise nur die
durch gewisse Arten des Handelns hervorgerufenen Übel anerkennen ,
übersehen sie dagegen all das Leiden und den Tod , der tagtäglich 1
in ihrer nächsten Umgebung in Folge von Nichtbeachtung jener
Leitung verursacht wird, die sich im Laufe der Entwickelung aus
gebildet hatte. Von der stillschweigenden Annahme beherrscht,
die den heidnischen Stoikern und den christlichen Ascetikern ge
meinsam ist, wir seien so teuflisch organisirt, dass uns Freuden
nachtheilig ,Schmerzen aber vortheilhaft seien , liefern uns die

I
§. 38. Der biologische Standpunkt . 103

Menschen in der That von allen Seiten Beispiele dafür, wie das
Leben durch Fortsetzung von Handlungen zerstört wird , gegen
welche sich ihre Empfindungen vergebens auflehnten . Hier sehen
wir Einen , der bis auf die Haut durchnässt und in kaltem Luftzug
sitzend über die ihn ergreifenden Kälteschauer lacht , nachher aber
ein rheumatisches Fieber mit daraus entspringendem Herzfehler be
kommt, welcher das kurze ihm noch vergönnte Leben ganz werth
los macht. Dort ist ein Anderer, der ungeachtet schmerzlicher
Empfindungen zu bald nach einer entkräftenden Krankheit wieder
an die Arbeit geht und dadurch seine Gesundheit gänzlich erschüt
tert, so dass er für alle spätern Jahre kränklich gemacht und für
sich selbst und andere nutzlos geworden ist . Gestern hörten wir
von einem jungen Mann , welcher trotz kaum zu ertragender Ab
spannung immer noch seine gymnastischen Kunststücke auszuüben
fortfährt, wobei ihm ein Blutgefäss springt, und nun ist er für lange
Zeit an's Lager gefesselt und trägt einen dauernden Schaden davon ;
ein ander Mal wieder betrifft es einen Mann in mittleren Jahren ,
der eine Muskelanstrengung bis zum schmerzlichen Übermaass trieb
und sich plötzlich einen Bruch zuzog . In dieser Familie kam ein
Fall von Verlust der Sprache , immer weiter um sich greifender
Lähmung und schliesslichem Tod vor, einfach dadurch verursacht ,
dass der Betreffende zu wenig ass und zu viel arbeitete ; in jener
wurde Gehirnerweichung durch unablässige geistige Anstrengungen
herbeigeführt, gegen welche das körperliche Befinden allstündlich
protestirt hatte, und in andern Fällen haben sich die Menschen
minder gefährliche Gehirnaffectionen durch Überstudiren zugezogen ,
das ohne Rücksicht auf Missbehagen und das Verlangen nach frischer
Luft und Bewegung fortgesetzt worden war. * Allein auch ohne
dass wir noch mehr Einzelfälle anzuführen brauchten , drängt sich
uns diese Wahrheit schon durch die sichtbaren Eigenthümlichkeiten
der verschiedenen Classen auf. Der sorgengebeugte Geschäftsmann,
der allzu lang in seinem Comptoir sitzt, der leichenblasse Advocat,
der die halbe Nacht über seinen Acten brütet , die schwachen Fabrik
arbeiter und die kränklichen Nähmamsellen , die viele Stunden in
verdorbener Luft zubringen , die blutarmen , flachbrüstigen Schul
mädchen, die unter der Zahl ihrer Unterrichtsstunden zusammen

* Ich könnte nur von Solchen, die mir persönlich gut bekannt sind, mehr
als ein Dutzend ähnliche Fälle aufzählen.
104 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI .

knicken, während ihnen jedes geräuschvolle Spiel untersagt ist, die


Sheffielder Schleifer, die im erstickenden Staube beinah umkommen ,
und die durch Rheumatismus in Folge von Erkältungen zu Krüp
peln gewordenen Bauern ―― alle führen uns nur zu deutlich vor
Augen, welch' weit verbreitetes Elend daraus entspringt, wenn man
bei Thätigkeiten beharrt, welche den Empfindungen widerstreiten,
und die Thätigkeiten ganz vernachlässigt , zu welchen das Gefühl
uns antreibt. Ja die Zeugnisse bieten sich in noch viel weiterem
Umkreis dar und reden noch verständlicher. Was sind die schwäch
lichen, missgestalteten Kinder , die man in verarmten Gegenden zu
sehen bekommt, Anderes als Geschöpfe, deren Verlangen nach Speise
und Bedürfniss für Wärme nicht genügend befriedigt worden ist ?
Woher kommt es , dass ganze Bevölkerungen im Wachsthum zurück
bleiben und vor der Zeit alt werden , wie sie sich in einzelnen
Theilen von Frankreich finden, als daher, dass alle durch über
mässige Arbeit und mangelhafte Ernährung geschädigt werden , jene
ein positives , diese ein negatives Leiden bedingend? Welches ist die
Bedeutung jener grössern Sterblichkeit, wie man sie bei den Leuten
beobachtet, die durch Entbehrungen geschwächt sind , wenn nicht
die, dass körperliches Elend zu tödtlichen Krankheiten führt ? Oder
endlich, was ergibt sich aus der furchtbaren Höhe, welche Krank
heit und Tod bei den im Felde liegenden Heeren häufig erreichen,
wenn diese von spärlichen und verdorbenen Vorräthen leben , auf
feuchtem Boden liegen , der grössten Hitze und Kälte ausgesetzt ,
nur ungenügend vor dem Regen geschützt und erschöpfenden An
strengungen unterworfen sind ― was Anderes, als dass schreckliches
Elend auftritt, wo der Körper fortwährend eine Behandlung erfährt,
gegen welche die Gefühle protestiren ?
Es kommt für unsere Beweisführung gar nicht darauf an , ob
die solche Wirkungen hervorbringenden Handlungen willkürlich oder
unwillkürlich sind. Vom biologischen Gesichtspunkt aus ist es gleich
gültig, ob die dazu antreibenden Motive höherer oder niedriger Art
sind. Die Lebensfunctionen nehmen keine Vertheidigung an , die
sich darauf stützen will, dass die Vernachlässigung derselben un
vermeidlich oder der Beweggrund dafür ein edler gewesen sei . Die
directen und indirecten Leiden, welche durch Ungehorsam gegen die
Gesetze des Lebens verursacht werden , bleiben dieselben, was immer
den Ungehorsam veranlasst haben mag, und in einer vernünftigen
Beurtheilung des Handelns dürfen sie nicht übergangen werden .
§. 39. Der biologische Standpunkt . 105

Wenn es der Zweck einer ethischen Untersuchung ist, Regeln für


das Recht-leben aufzustellen , und wenn diese Regeln von der Art
sein müssen , dass ihre gesammten Resultate, für den Einzelnen wie
für die Allgemeinheit, direct und indirect so vollständig als mög
lich zum menschlichen Glücke führen , so wäre es sinnlos, die un
mittelbaren Folgen ausser Acht zu lassen und nur die entfernten
Folgen anzuerkennen.

§. 39.
Es dürfte hier wohl betont werden, wie nothwendig es wäre,
das Studium der Moralwissenschaft durch das Studium der Biologie
vorzubereiten. Es dürfte auf den grossen Irrthum hingewiesen wer
den, den die Menschen begehen , wenn sie glauben , sie könnten jene
ganz eigenthümlichen Erscheinungen des menschlichen Lebens be
greifen, mit denen sich die Ethik befasst, während sie den all
gemeinen Erscheinungen des menschlichen Lebens wenig oder gar
keine Aufmerksamkeit schenken und die Erscheinungen des Lebens
im grossen Ganzen vollständig ignoriren . Und unzweifelhaft würde
die Annahme volle Berechtigung haben, dass eine gewisse Bekannt
schaft mit der Welt der lebendigen Dinge, insoweit sie die Rolle
verstehen lehrt, welche Freuden und Leiden in der organischen Ent
wickelung gespielt haben , wesentlich dazu beitragen müsste, diese
einseitige Auffassung der Moralisten zu berichtigen. Gleichwohl
trifft es keineswegs zu , dass der Mangel solcher Kenntnisse die
einzige oder auch nur die wichtigste Ursache ihrer Einseitigkeit
wäre. Denn Thatsachen von der Art, wie wir sie oben als Bei
spiele aufgeführt und welche, wenn gehörig berücksichtigt , vor sol
chen Verzerrungen der Sittenlehre wohl bewahren könnten, brauchen
nicht erst durch biologische Untersuchungen bekannt zu werden ,
sondern sie drängen sich den Augen eines Jeden tagtäglich auf.
Die Wahrheit liegt vielmehr darin , dass das allgemeine Bewusst
sein so sehr von Gefühlen und Ideen voreingenommen ist , welche
mit den durch den alltäglichsten Augenschein nothwendig be
dingten Folgerungen im Widerspruch stehen , dass eben diesem
Augenschein keine Aufmerksamkeit geschenkt wird . Diese wider
sprechenden Gefühle und Ideen entspringen verschiedenen Quellen.
Da ist zunächst die theologische Quelle. Wie früher gezeigt
wurde, entwickelte sich aus der Verehrung cannibalischer Vorfahren,
die sich am Anblick von Qualen ergötzten , die primitive Vorstellung
106 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.

von Gottheiten, welche durch das Ertragen von Schmerzen begütigt


und demgemäss auch durch Genuss von Freuden erzürnt werden .
Durch die Religionen der halbcivilisirten Völker hindurch, bei denen
diese Auffassung des göttlichen Wesens noch sehr deutlich hervor
tritt, hat sich dieselbe unter mit dem weitern Fortschritt immer
mehr abgeänderten Formen bis auf unsere Tage herab erhalten ,
und immer noch bedingt sie die Färbung des Glaubens sowohl derer ,
welche sich dem anerkannten Glaubensbekenntniss anschliessen , als
derer, welche dasselbe dem Namen nach verwerfen .
Eine zweite Quelle ist in der primitiven und heute noch
herrschenden kriegerischen Verfassung gegeben. So lange die ge
sellschaftlichen Gegensätze fortfahren , Krieg zu erzeugen, welcher
in dem Bestreben besteht, Anderen Schmerzen und Tod zuzufügen ,
während man sich selbst der Gefahr, Schmerzen und Tod zu er
leiden , aussetzt , und welcher nothwendigerweise grosse Entbehrungen
nach sich zieht, so lange ist nichts Anderes zu erwarten , als dass
man auf physische Leiden , mögen sie an und für sich oder in Hin
sicht auf die Übel betrachtet werden, welche sie zur Folge haben ,
nur geringes Gewicht legt, während man unter den Freuden die
jenigen am höchsten schätzt, welche ein Sieg gewährt.
Auch der erst theilweise entwickelte Industrialismus muss mit
als Quelle jener Verhältnisse gelten. Mit der gesellschaftlichen
Entwickelung , welche einen Übergang vom Leben des herumwandern
den Jägers zu demjenigen sesshafter , der Arbeit sich widmender
Völker bedingte, welche also den Menschen ganz neue Thätigkeiten
aufnöthigte, weit verschieden von jenen , für welche die ursprüng
liche Constitution sich angepasst hatte, war natürlich eine geringere
Übung der Fähigkeiten verbunden , denen der gesellschaftliche Zu
stand keinen Spielraum gewähren kann , und eine stärkere Inanspruch
nahme derjenigen, welche der gesellschaftliche Zustand erfordert :
das erstere bedingt Entsagung von gewissen Freuden , das letztere
Unterwerfung unter gewisse Leiden . In demselben Verhältniss also ,
wie die Bevölkerung wächst und damit der Kampf um's Dasein in
tensiver wird, erscheint es tagtäglich nothwendig , Leiden zu ertragen
und Freuden aufzuopfern .
Nun bildet sich immer und überall unter den Menschen die
Theorie entsprechend ihrer Praxis aus. Die Natur des Wilden,
welche schon die Vorstellung von einer wilden Gottheit hervor
brachte, entwickelt auch die Theorie von einer übernatürlichen Ober
§. 39. Der biologische Standpunkt. 107

gewalt, die hinlänglich mächtig und grausam gedacht wird , um sein


Handeln zu beeinflussen . Mit der Unterwerfung unter eine despo
tische Herrschaft, deren Joch drückend genug ist, um barbarische
Naturen in Ordnung zu halten, kommt auch die Theorie vom gött
lichen Anrecht auf die Regierung und von der Pflicht der absoluten
Unterwerfung zum Vorschein . Wo der Krieg zum Hauptgeschäft
des Lebens gemacht wird , weil die nachbarlichen Völker kriegerisch
gesinnt sind , da gelten die zum Kriege nöthigen Eigenschaften als
die höchsten Tugenden, während umgekehrt, wo gewerbliche Thätig
keit das Übergewicht erlangt hat, die Gewaltthätigkeit und Be
trügerei, deren sich die Krieger rühmen , zu den Verbrechen gezählt
werden . Auf ähnliche Weise kommt denn auch eine ziemlich ge
naue Anpassung der thatsächlich (nicht etwa der blos dem Namen
oder Wortlaut nach) angenommenen Theorie des Rechtlebens mit
dem alltäglichen Lebensgang zu Stande. Ist dies Leben von der
Art, dass es regelmässig ein Verzichten auf Freuden und Ertragen
von Leiden nothwendig macht, so bildet sich ein entsprechendes
ethisches System aus, unter dessen Herrschaft der Genuss von
Freuden stillschweigend missbilligt, das Ertragen von Leiden aber
ausdrücklich gebilligt wird. Auf die üblen Folgen , welche im Über
maass genossene Freuden nach sich ziehen, wird grosses Gewicht
gelegt, während die Vortheile, die eine normale Freude bringt , gar
nicht in Betracht fallen, und so werden auch die durch Unterwer
fung unter Schmerzen erzielten guten Resultate in's hellste Licht
gestellt, die Übel derselben aber einfach übersehen .
Allein wenn wir nun auch anerkennen, wie sehr wünschens
werth , ja sogar nothwendig es ist, dass das System der Ethik gleich
den religiösen und politischen Systemen jeweils seiner Zeit und
seinem Orte angepasst sei, so können wir doch jenes so gut wie
diese blos als Übergangsformen gelten lassen. Wir müssen daran
festhalten, dass zu einem weiter vorgeschrittenen gesellschaftlichen
Zustand nicht nur ein gereinigtes Glaubensbekenntniss und eine
bessere Regierungsform, sondern auch eine wahrere Ethik gehört.
Waren wir schon a priori zu der Folgerung gelangt, dass mancherlei
Verzerrungen vorhanden sein müssen , so sind wir nun zugleich in
den Stand gesetzt, die Verzerrungen, die wir in der That heraus
gefunden, auch als solche zu erkennen , um so mehr, als diese auch
hinsichtlich ihrer Natur ganz den Erwartungen entsprechen. Und
so überzeugen wir uns von der Wahrheit, dass eine wissenschaft
108 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.

liche Sittenlehre erst dann möglich ist, wenn die einseitigen, den
vorübergehenden Verhältnissen angepassten Vorstellungen zu immer
vielseitigeren Vorstellungen ausgebildet worden sind. Die Wissen
schaft vom Rechtleben muss alle Consequenzen in Rechnung brin
gen, insofern sie irgendwie, direct oder indirect, das Glück der Ein
zelnen oder der Gesellschaft beeinflussen können, und je mehr sie
die eine oder andere Classe von Consequenzen vernachlässigt, desto
mehr fehlt noch daran , dass sie zur wahren Wissenschaft gewor
den wäre. 1

§. 40.

Es führt uns also auch der biologische gleich dem physikalischen


Standpunkt auf eine Anschauung, welche derjenigen entspricht, die
wir bereits durch Betrachtung des Handelns im Allgemeinen vom
Standpunkt der Entwickelung aus gewonnen hatten .
Was sich physikalisch als ein bewegliches Gleichgewicht defi
niren liess, das definiren wir biologisch als eine Ausgleichung der
Functionen. Das Wesen einer solchen Ausgleichung aber besteht
darin , dass die verschiedenen Functionen in ihrer Art, ihrem Grade
und ihren Combinationen den verschiedenen Thätigkeiten angepasst
sind, welche das vollkommene Leben erhalten und darstellen , und
eine solche Anpassung ist gleichbedeutend mit der Erreichung des
Zieles, dem die Entwickelung des Handelns fortwährend zustrebt .
Zu den Gefühlen übergehend , welche die Ausübung der Func
tionen begleiten , sahen wir, dass mit Naturnothwendigkeit im Ver
lauf der Entwickelung des organischen Lebens Freuden als Begleit
erscheinungen des normalen Maasses der Functionen auftreten mussten,
während Leiden positiver und negativer Art sich mit Übermaass
und Mangelhaftigkeit der Functionen verbanden . Und obgleich Stō
rungen dieser Verhältnisse in jeder Species häufig durch Verände
rungen in den äusseren Lebensbedingungen hervorgerufen werden ,
so stellen sich dieselben doch immer wieder selbst her : Untergang
der Species ist die einzige Alternative.
Das Menschengeschlecht hat nun von Geschöpfen niedrigerer
Art diejenigen Anpassungen zwischen Gefühlen und Functionen er
erbt, welche sich auf die wesentlichsten körperlichen Bedürfnisse
beziehen ; und tagtäglich wird er durch sehr unzweideutige Empfin
dungen genöthigt, das zu thun , was das Leben zu erhalten, und
das zu vermeiden, was unmittelbaren Tod zu bringen geeignet ist ;
§. 40. Der biologische Standpunkt . 109

zugleich ist er aber einem ganz ungewöhnlich grossen und verwickel


ten Wechsel der Lebensbedingungen ausgesetzt. Dies hat in be
trächtlichem Maasse die Leitung durch die Empfindungen und in
noch viel höherem Maasse die Leitung durch die Emotionen gestört .
Das Endergebniss ist , dass in vielen Fällen nicht Freuden mit sol
chen Handlungen verknüpft sind , die ausgeführt werden müssten,
noch Leiden mit solchen, die zu vermeiden wären , sondern vielmehr
das Gegentheil.
Verschiedene Einflüsse haben sich nun gleichsam dazu ver
schworen, die Menschen zu verleiten, dass sie das Gute an diesem
Zusammenhang zwischen Empfindungen und Functionen ganz über
sehen und nur das beachten , was sich etwa Böses daran zeigt.
Während daher die Übel , welche manche Freuden im Gefolge haben,
gehörig breit getreten werden, gehen dagegen die wohlthätigen
Wirkungen, welche in der Regel den Genuss von Freuden begleiten ,
unbemerkt vorüber ; zu gleicher Zeit aber pflegt man die durch
gewisse Leiden erlangten Vortheile zu übertreiben, während die un
geheuren Nachtheile , welche die Leiden nach sich ziehen , kaum
in's Gewicht fallen .
Die durch solche Verdrehungen charakterisirten ethischen
Theorien sind die Erzeugnisse derjenigen Formen des socialen Lebens
und denselben angemessen, welche die unvollkommen angepasste
Constitution der Menschen hervorgebracht hat. Mit dem weiteren
Fortschritt dieser Anpassung aber, wobei eben Fähigkeiten und Be
dürfnisse in immer besseren Einklang gebracht werden, müssen solche
Unrichtigkeiten der Erfahrung und daraus herfliessende Verzerrun
gen der Theorie allmählich abnehmen, bis endlich zugleich mit voll
kommener Anpassung der Menschheit an den gesellschaftlichen Zu
stand auch die volle Anerkennung der Wahrheit erreicht sein wird,
dass eine Handlung nur dann vollständig gut ist, wenn sie nicht
allein in der Zukunft das specielle und allgemeine Glück befördert,
sondern auch unmittelbar angenehm ist, und dass nicht blos zuletzt,
sondern auch zunächst bemerkbare schmerzliche Empfindungen die
Begleiter der Handlungen bilden, welche böse sind.
Vom biologischen Standpunkt aus erscheint also die Wissen
schaft der Ethik als eine Darstellung des Handelns der gesellschaft
lich verbundenen Menschen, die alle so beschaffen sind, dass die
verschiedenen Thätigkeiten , welche zur Selbsterhaltung, zum Auf
ziehen der Nachkommenschaft und zur Beförderung der socialen
110 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VI.

Wohlfahrt erforderlich sind, durch freiwillige Übung der in rich


tigem Verhältniss zu einander stehenden Fähigkeiten erfüllt werden,
deren jede , wenn sie zur Äusserung gelangt, ihren entsprechenden
Betrag an Freude gewährt, die also auch demgemäss alle so
beschaffen sind , dass Übermaass oder Mangel in irgend einer dieser
Thätigkeiten unmittelbar und mittelbar einen entsprechenden Betrag
an Leiden bedingt.
Anmerkung zu §. 34. In seinem Werke Physical Ethics<<
hat Herr ALFRED BARRATT eine Ansicht ausgesprochen , die hier eine
kurze Beurtheilung nöthig macht. Indem er die Entwickelung und ihre
allgemeinen Gesetze als gegeben voraussetzt, nimmt er nur auf einige
Stellen in den >Principien der Psychologie Bezug (1. Aufl., III. Theil,
VIII. Cap., p. 395 ff., cf. IV. Theil, IV. Cap .) , wo ich das Verhältniss
zwischen Reizung und Zusammenziehung besprach, welches » die erste
»Dämmerung des empfindenden Lebens bezeichnet ; wo ich darauf hin
wies, dass das primordiale Gewebe durch Berührung mit nährenden
»und nicht nährenden Stoffen verschiedenartig beeinflusst werden müsse <<
- zwei Kategorien , welche für die im Wasser lebenden Geschöpfe mit
löslich und unlöslich zusammenfallen , und wo ich die Folgerung auf
stellte , dass die Zusammenziehung, durch welche ein vorgestreckter Theil
eines Rhizopoden ein Stückchen assimilirbaren Stoffes nach innen be
fördert, durch eine beginnende Resorption des assimilirbaren Stoffes
>>verursacht sei « . Herr BARRATT, welcher der Ansicht ist, dass das
Bewusstsein >> für eine unabänderliche Eigenschaft des thierischen Lebens
>> und schliesslich , in seinen Elementen, überhaupt des materiellen Uni
>> versums gehalten werden müsse « (p . 43) , fasst diese Antworten des
thierischen Gewebes auf Reize als Erscheinungen auf, mit denen zu
gleich eine Empfindung der einen oder andern Art verbunden sei. » Auf
>> einige Arten von einwirkenden Kräften folgen Bewegungen der Zurück
»ziehung und Entfernung, auf andere dagegen solche, die eine Fort
» dauer des erhaltenen Eindrucks ermöglichen . Diese beiden Arten von
>Zusammenziehung sind die Erscheinungen und äusseren Zeichen von
>>Schmerz, beziehungsweise Freude. Das Gewebe verhält sich demnach
>>stets so, dass es sich Freude sichert und Schmerzen vermeidet, nach
>einem ebenso wahrhaft physikalischen und natürlichen Gesetz wie jenes,
>>nach welchem eine Magnetnadel gegen den Pol weist oder ein Baum
>>sich nach dem Lichte wendet « (p . 52 ) . Ohne nun bezweifeln zu
wollen, dass das Rohmaterial des Bewusstseins selbst im undifferencirten
Protoplasma vorhanden ist und potentiell überall in jener unerkennbaren
Macht existirt , welche sich unter anderen Umständen als physikalische
Wirkung kundgibt (Princ. d . Psych. , §. 272–273) , kann ich doch der
Behauptung, dass es im Anfang schon unter den Formen von Freude
und Schmerz auftrete , nicht beistimmen. Diese kommen meiner An
sicht nach ebenso wie die specielleren Gefühle erst durch Zusammen
setzung der letzten Elemente des Bewusstseins zu Stande ( Princ. d .
e
§. 40. Der biologisch Standpunkt . 111

Psych., §. 60 , 61 ) : stellen sie ja doch eigentlich nur die allgemeine


Erscheinung dieser specielleren Gefühle dar, wenn dieselben eine gewisse
Intensität erreichen . In Anbetracht dessen, dass selbst bei Geschöpfen,
die mit einem wohl ausgebildeten Nervensystem versehen sind , ein
grosser Theil der Lebensvorgänge in Form von unbewussten Reflex
thätigkeiten abläuft, kann ich es nicht angemessen finden, die Existenz
dessen, was wir unter Bewusstsein verstehen, bei Geschöpfen anzu
nehmen, die nicht allein eines Nervensystems, sondern überhaupt jeg
licher Structur entbehren.

Anmerkung zu §. 37. Zu wiederholten Malen betont Dr. BAIN


in seinem Buche "The Emotions and the Will« den Zusammenhang
zwischen Freude und Steigerung der Lebensthätigkeiten und den Zu
sammenhang zwischen Schmerz und Herabsetzung der letzteren . Wie
aus dem Obigen hervorgeht, pflichte ich ganz der von ihm ausgespro
chenen Ansicht bei, welche in der That durch die allgemeine Erfahrung
sowohl wie durch die genaueren Erfahrungen der Medicin ausser allen
Zweifel gestellt ist.
Wenn jedoch Dr. BAIN im weiteren von den stärkenden und er
schlaffenden Wirkungen der Freude resp. des Schmerzes das ursprüng
liche Bestreben ableitet, in Handlungen zu beharren , welche Freude
machen, und von solchen abzustehen , die Schmerz bereiten, so sehe ich
mich nicht mehr im Stande, ihm zu folgen . Er sagt hierüber : - » Wir
>> setzen spontan begonnene Bewegungen voraus , welche zufällig Lust
» verursachen , und dann nehmen wir an, dass sich mit der Lust eine
>Steigerung der Lebensenergie verbindet, an welcher Steigerung auch
>die glücklichen Bewegungen Antheil nehmen und dadurch wieder die.
>Lust steigern werden . Oder wir setzen anderseits spontane Bewegungen
>voraus, welche Schmerzen bereiten, und nehmen dann an , dass mit
>dem Schmerz zugleich eine Abnahme der Lebensenergie eintreten wird,
die sich auch auf die Bewegungen erstreckt, welche Schmerzen brach
> ten, und dadurch selbst eine Besserung herbeiführt « ( 3. Aufl . , p . 315 ).
Diese Erklärung , welche also besagt, dass die glücklichen Bewegungen <<
blos ihren Antheil an den Folgen einer durch die Lust bewirkten
Steigerung der Lebensenergie haben, scheint mir nun keineswegs mit
der Beobachtung übereinzustimmen. Ich glaube die Wahrheit vielmehr
darin suchen zu sollen, dass, obgleich eine begleitende allgemeine Steige
rung der Muskelspannung eintritt, doch diejenigen Muskeln ganz be
sonders angeregt werden, welche in Folge ihrer verstärkten Zusammen
ziehung zu vermehrter Lust führen. Umgekehrt scheint mir die Be
hauptung, dass das Ablassen von spontanen Bewegungen, welche Schmer
zen verursachten, auf einer allgemeinen Erschlaffung der Musculatur
beruhe , die sich auch den diese besonderen Bewegungen bewirkenden.
Muskeln mittheile, mit der Thatsache in Widerspruch zu stehen, dass
das Zurückziehen in der Regel nicht die Form eines passiven Zusammen
sinkens, sondern eines activen sich Entfernens annimmt . Ferner ist
zu bemerken, dass, wenn auch jeder Schmerz schliesslich auf das ganze
112 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII .

System eine niederdrückende Wirkung ausübt, wir doch keineswegs sagen


können, er mache sich auf die Muskelenergie sofort in dieser Weise
geltend . Nicht nur pflegt, wie Dr. BAIN selbst zugibt, ein heftiger
Schmerz krampfhafte Bewegungen hervorzurufen, sondern Schmerzen jeder
Art, sensationelle so gut wie emotionelle, reizen die Muskeln an (ESSAYS,
1. Reihe, p . 360 , 61 , oder 2. Aufl. , Vol. I, p. 211 , 12 ) . Schmerz
jedoch (und ebenso auch Freude, wenn sie sehr intensiv ist) übt gleich
zeitig eine hemmende Wirkung auf alle Reflexthätigkeiten aus , und da
die Lebensfunctionen zum grössten Theil durch Reflexthätigkeit vor sich
gehen, so muss diese Hemmung, die natürlich mit der Intensität des
Schmerzes zunimmt, auch die Lebensfunctionen in entsprechendem Maasse
herabsetzen. Stillstand der Herzthätigkeit und Ohnmacht sind extreme
Resultate dieser Hemmung , und sämmtliche Eingeweide spüren ihre
Wirkungen in mit der Intensität des Schmerzes wachsendem Grade.
Während also der Schmerz unmittelbar eine Entladung von Muskelkraft
verursacht wie die Freude, setzt er doch schliesslich die ganze Muskel
kraft herab, indem er jene Lebensvorgänge einengt, von welchen die
Kraftzufuhr abhängt. Daher dürfen wir, wie ich glaube , das sofortige
Ablassen von Schmerz verursachenden Muskelbewegungen nicht einer
Abnahme im Strom der Gesammtenergie zuschreiben, denn diese Ab
nahme wird erst nach einiger Zeit fühlbar. Ebenso wenig dürfen wir
das Beharren in einer Muskelthätigkeit, welche Freude macht, auf die
daraus entspringende Erhöhung der Energie zurückführen, sondern müssen
es vielmehr, wie im §. 34 angedeutet wurde, der Herstellung von Ent
ladungsbahnen zwischen dem Ort der angenehmen Reizung und jenen
contractilen Gebilden zuschreiben, welche den die Reizung verursachen
den Act fortsetzen und steigern - Verbindungen, die mit den Reflex
thätigkeiten nächst verwandt sind, in welche sie auch durch unmerk
liche Abstufungen übergehen.

VII. Capitel.

Der psychologische Standpunkt.

S. 41.
Das letzte Capitel, soweit es sich mit Empfindungen in ihrer
Beziehung zum Handeln beschäftigte, berücksichtigte nur ihre phy
siologische Seite ; die psychologische wurde ganz übergangen . In
diesem Capitel dagegen haben wir es nicht mit den constitutionellen
Verbindungen zwischen Gefühlen , als anreizenden oder abschrecken
den Factoren, und zu erreichenden physikalischen Vortheilen oder
he Standpunkt .
§. 42. Der psychologisc 113

zu vermeidenden Nachtheilen zu thun, noch auch mit den Rückwir


kungen der Gefühle auf den Organismus, insofern sie ihn für spä
tere Thätigkeit geeignet oder ungeeignet machen. Hier haben wir
vorgestellte Freuden und Leiden sensationeller wie emotioneller Art
zu besprechen, mit Rücksicht darauf, dass sie überdachte Motive
darstellen, ――――――――― dass sie als Factoren bei der bewussten Anpassung
von Handlungen an Zwecke wirksam sind.

§. 42 .
Die niedrigste Stufe einer psychischen Handlung, noch gar nicht
von einer physischen Handlung differencirt, umfasst eine Erregung
und eine Bewegung. Bei einem Geschöpf von einfachstem Typus
regt die Berührung mit nährendem Stoff zur Ergreifung an. Bei
einem etwas höher stehenden Thier veranlasst der Geruch der Nah
rung eine Bewegung des ganzen Körpers nach derselben hin . Und
wo ein rudimentäres Sehvermögen vorhanden ist, da verursacht plötz
liche Verdunkelung des Lichtes, indem sie das Vorübergehen irgend
eines grossen Gegenstandes anzeigt, convulsivische Muskelbewegun
gen, welche den Körper zumeist von der Quelle der Gefahr ent
fernen. In jedem dieser Fälle können wir vier Factoren unter
scheiden. Da ist zunächst a jene Eigenschaft des äusseren Objects,
welche in erster Linie den Organismus afficirt - der Geschmack,
der Geruch oder die Undurchsichtigkeit, und mit einer solchen Eigen
schaft verknüpft liegt in dem äusseren Object ferner der Charakter b ,
welcher Ergreifung desselben oder Flucht davor vortheilhaft macht.
Im Organismus finden wir c den Eindruck oder die Empfindung,
welche die Eigenschaft a hervorruft und welche als Reiz dient, und
damit hängt wieder die Bewegungsänderung d zusammen, durch
welche Ergreifung oder Flucht bewerkstelligt wird.
Die Psychologie hat sich nun hauptsächlich mit dem Zusammen
hang zwischen der Beziehung ab und der Beziehung c d unter allen
jenen Formen zu beschäftigen, welche dieselben im Verlauf der Ent
wickelung annehmen. Jeder der einzelnen Factoren und die eine
wie die andere Beziehung werden immer verwickelter, je weiter die
Organisation fortschreitet. Statt einfach zu bleiben, wird das zur
Erkennung dienende Attribut a in der Umgebung eines höheren
Thieres häufig zu einem ganzen Haufen von Attributen, wie z. B.
die Grösse und Form, die Farben und Bewegungen , die ein anderes
Thier in der Ferne zeigt, das gefahrdrohend erscheint. Der Factor b,
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 8
114 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

mit welchem diese Combination von Attributen verbunden ist , setzt


sich aus der Summe von Merkmalen, Kräften und Gewohnheiten zu
sammen, welche dasselbe zu einem Feinde machen . Unter den sub
jectiven Factoren wird c zu einer complicirten Gruppe von Gesichts
empfindungen, welche sich unter einander und mit den Ideen und
Gefühlen zusammenordnen, die durch frühere Erfahrungen von sol
chen Feinden gewonnen wurden und den Beweggrund zur Flucht
liefern , während d sich als die verworrene und oft weit ausgedehnte
Reihe von Laufen, Hüpfen, Hin- und Herspringen , Untertauchen u . s . w.
darstellt, oder was Alles versucht wird , um den Feind zu täuschen.
Im menschlichen Leben treffen wir dieselben vier äusseren und
inneren Factoren nur noch vielgestaltiger und verwickelter in ihren
Zusammensetzungen und Verbindungen. Die ganze Fülle von physi
kalischen Attributen a, welche ein zum Verkauf ausgeschriebenes
Landgut darbietet , spottet jeder Aufzählung , und all die verschie
denen nützlichen Eigenschaften b, die mit diesen Attributen einher
gehen, würden sich gleichfalls nicht mit kurzen Worten angeben
lassen. Die Wahrnehmungen und Ideen , Zu- und Abneigungen c ,
welche bei der Besichtigung des Gutes aufsteigen und schliesslich
in mannichfaltigster Zusammensetzung und Gegenüberstellung das
Motiv zum Ankauf desselben ergeben , stellen ein allzu umfängliches
und verwickeltes Ganzes dar, als dass es sich wiedergeben liesse ;
und kaum minder zahlreich und umständlich sind die gerichtlichen
Abmachungen, die Geldgeschäfte und Anderes, was erledigt werden
muss , um den Kauf abschliessen und sich in Besitz des Gutes setzen
zu können. ――――――― Hiebei darf auch die Thatsache nicht übersehen
werden, dass , wenn die Entwickelung fortschreitet, nicht die Fac
toren allein, sondern auch die Beziehungen zwischen ihnen an Com
plicirtheit zunehmen. Im ersten Anfang hängt a unmittelbar und
auf die einfachste Weise mit b zusammen, während c ebenso direct
und einfach mit d verbunden ist. Schliesslich aber werden die Zu
sammenhänge zwischen a und b und zwischen c und d sehr indirect
und verwickelt. Dort sind , wie uns das erste Beispiel zeigt , Schmack
haftigkeit und Nahrhaftigkeit innig mit einander verknüpft, und das
Gleiche gilt für die durch die erstere verursachte Reizung und für
die Zusammenziehung, welche die letztere ausnützt. Wie wir aber
aus dem letzten Beispiel ersahen, ist der Zusammenhang zwischen
den sichtbaren Besonderheiten eines Landgutes und jenen Eigen
schaften, welche den Werth desselben ausmachen, ein sehr entfernter
he
§. 43. Der psychologisc Standpunkt . 115

und zugleich sehr verwickelter , während der Übergang von dem


hoch zusammengesetzten Motiv des Käufers zu den zahlreichen
Thätigkeiten der Sinnes- und Bewegungsorgane , welche den Kauf
bewerkstelligen und jede für sich schon schwierig genug im Ein
zelnen zu verfolgen sind, gleichsam ein verworrenes Netzwerk von
Gedanken und Gefühlen bildet, die zusammen seinen Entschluss dar
stellen.
Nach dieser Erläuterung wird noch eine andere, gleichfalls in
den „ Principien der Psychologie " auseinandergesetzte Wahrheit
leicht verständlich sein . Der Geist besteht aus Gefühlen und den
Relationen zwischen Gefühlen. Durch Zusammensetzung der Re
lationen und der Ideen von Relationen entsteht der Verstand. Durch
Zusammensetzung der Gefühle und der Ideen von Gefühlen entsteht
die Gemüthsbewegung (Emotion). Und unter sonst gleichen Ver
hältnissen steht die Entwickelung eines jeden um so höher , je
grösser seine Zusammensetzung ist. Eine der nothwendigen Folge
rungen hieraus besagt, dass die Erkenntniss um so höher ist, je weiter
sie sich von der Reflexthätigkeit entfernt hat, während die Emotion
um so höher steht, je weiter sie von der Empfindung entfernt ist.
Und nun wollen wir aus den verschiedenartigen Ergebnissen
dieses kurzen Überblickes über die psychologische Entwickelung die
jenigen zu näherer Betrachtung herausgreifen, welche sich auf die
Motive und Handlungen beziehen , die man in sittliche und unsitt
liche zu scheiden pflegt.

§. 43.

Der geistige Process, durch welchen in jedem einzelnen Falle


die Anpassung von Handlungen an Zwecke bewerkstelligt wird und
welcher in seinen höheren Formen den Hauptgegenstand der ethi
schen Beurtheilung bildet, lässt sich, wie schon oben angedeutet
wurde, zerlegen in die Entstehung eines Gefühls oder von Gefühlen ,
welche das Motiv darstellen, und den Gedanken oder die Gedanken,
durch welche das Motiv bestimmte Gestalt erhält und sich endlich
in einer Handlung äussert. Das erste dieser Elemente , ursprüng
lich eine Erregung, wird zu einer einfachen Empfindung , dann zu
einer zusammengesetzten Empfindung, dann zu einer Gruppe von
theilweise präsentativen und theilweise repräsentativen Empfindungen ,
welche den Anfang einer Emotion bilden, dann zu einer Gruppe von
ausschliesslich idealen oder repräsentativen , eine eigentliche Emotion
8*
116 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

darstellenden Empfindungen , dann zu einer Gruppe von solchen


Gruppen, die eine zusammengesetzte Emotion bildet, und endlich
kommt es noch zu einer verwickelteren Emotion , die sich aus den
idealen Formen solcher zusammengesetzter Emotionen aufbaut. Das
andere Element, ausgehend von jenem unmittelbaren Übergang eines
einzelnen Reizes in eine einzelne Bewegung, was wir Reflexthätig
keit nennen , erscheint bald als eine Gruppe von verbundenen Aus
lösungen von Reizen, welche verbundene Bewegungen hervorbringen ,
was den Instinct ausmacht. Schritt für Schritt treten noch ver
wickeltere Combinationen von Reizen auf, ziemlich wechselnd in der
Art ihrer Verbindung und zu complicirten Bewegungen führend ,
die in ihren Anpassungen ähnlich wechseln, woraus gelegentliche
Verzögerungen in den sensorisch-motorischen Processen entspringen .
Bald wird dann eine Stufe erreicht, auf welcher die combinirten
Gruppen von Eindrücken, die nicht mehr alle zugleich gegenwärtig
sind , sich in nicht durchaus gleichzeitigen Handlungen äussern , was
eine Repräsentation der Folgen , d . h . einen Gedanken in sich schliesst.
Darauf folgen Stadien , wo mehrere Gedanken Zeit haben, sich ab
zulösen, bevor die zusammengesetzten Motive die geeigneten Hand
lungen hervorbringen . Bis wir denn schliesslich zu jenen langen
Überlegungen kommen , in welchen die Wahrscheinlichkeiten ver
schiedener Folgen abgeschätzt und die Antriebe der ihnen ent
sprechenden Gefühle gegen einander abgewogen werden , worin eben
eine ruhige Beurtheilung besteht. Dass die später entwickelten
Formen dieses geistigen Processes , und zwar des einen so gut wie
des andern Elementes desselben, jedenfalls auch die höheren sind,
mag man sie vom sittlichen oder von irgend einem andern Stand
punkt aus beurtheilen , werden wir gleich sehen.
Denn von jeher sind bessere und zahlreichere Anpassungen von
Handlungen an Zwecke begleitet gewesen von Complication der Em
pfindlichkeit sowohl wie der Bewegung und des diese beiden ver
einigenden Coordinirungs- oder intellectuellen Processes . Daraus folgt
denn unmittelbar, dass die durch die complicirten Motive und die
verwickelteren Gedanken charakterisirten Handlungen seit den frühe
sten Zeiten eine höhere Wichtigkeit für die Leitung der Lebewesen
beanspruchen konnten. Einige Beispiele werden dies klar machen.
Hier sehen wir ein im Wasser lebendes Geschöpf, welches durch
den Geruch von organischen Stoffen nach den Dingen hingeleitet
wird, die ihm zur Nahrung dienen, welches aber auch, da ihm jede
§. 43. Der psychologische Standpunkt . 117

andere Leitung fehlt , hülflos den in seine Nähe kommenden grösse


ren Thieren preisgegeben ist. Dort ein anderes , das sich zwar auch
noch durch den Geruch nach der Nahrung leiten lässt, das jedoch
zugleich ein rudimentäres Sehvermögen besitzt und dadurch an
getrieben wird, krampfhaft von einem sich bewegenden Körper weg
zufliehen, obgleich er diesen Geruch verbreitet , sobald er gross genug
ist , um eine plötzliche Verdunkelung des Lichtes zu verursachen -
in der Regel ein Feind. Offenbar wird sich ein solches Thier häufig
das Leben retten, indem es dem späteren und höheren und nicht
dem früheren und niedrigeren Reiz nachgibt.
Betrachten wir einen ähnlichen Conflict auf einem weiter vor
geschrittenen Stadium. Dieses Raubthier macht auf andere Wesen
.
Jagd und , da es nun entweder der nöthigen Erfahrung entbehrt
oder von rasendem Hunger getrieben wird , greift es eines an, das
stärker ist als es selbst, und kommt dabei um. Jenes Raubtier
dagegen, von ebenso heftigem Hunger getrieben, aber, sei es durch
eigene Erfahrung, sei es durch die Wirkungen der vererbten Er
fahrungen, beim Anblick eines Stärkeren sofort des möglichen Un
heils sich bewusst werdend, schrickt vor dem Angriff zurück und
rettet sich so sein Leben, indem es sein primäres, aus nagenden
Empfindungen bestehendes Motiv dem secundären Motiv unterordnet ,
das sich aus deutlichen oder unbestimmten idealen Gefühlen zu
sammensetzt .
Steigen wir von diesen Beispielen des Handelns bei Thieren
sofort zu solchen vom menschlichen Handeln auf, so sehen wir, dass
die Gegensätze zwischen dem niedrigeren und höheren gewöhnlich
dieselben Eigenthümlichkeiten zeigen. Der auf der untersten Stufe
stehende Wilde verschlingt all die Nahrung , die er auf der heutigen
Jagd erbeutet, ist morgen wieder hungrig und hat vielleicht Tage
lang die Qualen des allmählichen Verhungerns zu ertragen. Der
höhere Wilde , der sich lebhafter die nachfolgenden Leiden vorstellt,
wenn keine Jagdbeute zu erlangen sein sollte, lässt sich durch sein
complicirteres Gefühl davon abhalten, ganz und gar seinem einfachen
Gefühl zu folgen . Ebenso verschiedenartig verhalten sich die beiden
hinsichtlich der Trägheit, welche mit dem Mangel der Vorbedacht
samkeit zusammenhängt, gegenüber der Thätigkeit , wie sie die
nöthige Voraussicht wachruft. Der primitive Mensch, zum Müssig
gang geneigt und von den Empfindungen des Augenblicks geleitet,
wird sich nicht eher anstrengen, als bis er wirklichen Schmerzen
118 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

entgehen muss ; der weiter vorgeschrittene Mensch dagegen, der


sich zukünftige Genüsse und Leiden deutlicher auszumalen im Stande
ist, wird durch den Gedanken an diese angetrieben , seine Neigung
zum Nichtsthun zu überwinden - und ein geringeres Maass von
Elend und Sterblichkeit ist die Folge dieses Überwiegens der reprä
sentativen über die präsentativen Gefühle .
Ohne nun noch dabei verweilen zu wollen , dass auch unter
den Civilisirten diejenigen, welche ein Leben der Sinnlichkeit führen ,
einen ähnlichen Gegensatz darbieten zu denen , deren Leben in er
heblichem Umfang durch Freuden von nicht sinnlicher Art aus
gefüllt wird, möchte ich insbesondere darauf hinweisen , dass der
selbe Gegensatz auch besteht zwischen der Leitung durch minder
zusammengesetzte repräsentative Gefühle oder niedere Emotionen
und der Leitung durch mehr zusammengesetzte repräsentative Ge
fühle oder höhere Emotionen . Wenn ein Dieb, seinem Aneignungs
-
sinn gehorchend ein re-repräsentatives Gefühl, das die Wohlfahrt
fördert, so lange es unter der gehörigen Controle wirksam ist
einem Andern sein Eigenthum wegnimmt, so wurde sein Handeln
dabei viel mehr durch die Vorstellung von gewissen nächstliegenden
Freuden verhältnissmässig einfacher Art bestimmt als durch die
weniger klaren Vorstellungen von möglichen Leiden , die ferne liegen
und verhältnissmässig verwickelter Art sind. In dem gewissenhaften
Menschen aber lebt ein entsprechend starkes, zurückhaltendes Ge
fühl, seinem Wesen nach noch mehr re-repräsentativ, das nicht blos
Ideen von Strafe, von verlorner Ehre und Untergang umfasst, son
dern auch Ideen von den berechtigten Ansprüchen der Person, wel
cher das Eigenthum gehört, und von den Leiden , die ihr aus dem
Verlust desselben erwachsen würden , all das vereinigt ausserdem
mit einem allgemeinen Abscheu vor ungerechten Handlungen gegen
Andere, welcher aus den vererbten Wirkungen der Erfahrung ent
springt. Und am Ende sehen wir denn auch abermals, wie wir es
am Anfang sahen , dass Leitung durch die complicirteren Gefühle im
Durchschnitt viel mehr zur Wohlfahrt beiträgt als Leitung durch
die einfacheren Gefühle .
Das Gleiche gilt von den intellectuellen Coordinirungen , durch
welche sich Reize in Bewegungen umsetzen. Die niedrigsten Thätig
keiten , die wir als reflectorische bezeichnen , bei welchen ein auf
einen zuleitenden Nerven ausgeübter Eindruck durch Entladung längs
eines ableitenden Nerven eine Zusammenziehung verursacht, zeigen
§. 43. Der psychologische Standpunkt. 119

uns eine sehr beschränkte Anpassung von Handlungen an Zwecke :


so einfach der Eindruck und die daraus entstehende Bewegung, so
einfach ist auch die innere Coordinirung . Sobald wir aber mehrere
Sinne finden, die gleichzeitig durch denselben äusseren Gegenstand
afficirt werden können, und wenn dann , in demselben Maasse als
ein solcher Gegenstand als zu dieser oder jener Art gehörig unter
schieden wird , auch die als Antwort darauf ausgeführten Bewegun
gen in der einen oder andern Weise combinirt sind, dann werden
augenscheinlich auch die dazwischenliegenden Coordinirungen noth
wendig verwickelter sein müssen. Und offenbar macht sich bei
jedem weiteren Fortschritt in der Entwickelung der Intelligenz , der
natürlich stets eine bessere Selbsterhaltung ermöglicht , dieselbe
allgemeine Erscheinung geltend. Die Anpassungen, vermöge deren
die verwickelteren Thätigkeiten entsprechend den verwickelteren Ver
hältnissen umgemodelt werden, bedingen zugleich auch mannich
faltigere und demgemäss auch genauer abgewogene und bewusstere
Coordinirungen, bis wir endlich bei den civilisirten Menschen , die
in ihren täglichen Geschäften vielerlei Thatsachen und Verhältnisse
in Berücksichtigung ziehen und ihre Maassregeln den verschieden
sten Consequenzen anpassen, einem Zustand begegnen, wo die in
tellectuellen Handlungen, die schon wohlüberlegt zu nennen sind, zu
gleicher Zeit sehr verwickelt und sehr ausgearbeitet erscheinen .
Beachten wir nun , was in Betreff der relativen Wichtigkeit
der Motive hieraus folgt . Während der ganzen aufsteigenden Ent
wickelung von den niedrigsten Geschöpfen bis zum Menschen und
von den niedrigsten Typen des Menschen bis hinauf zu den höchsten
hat die Selbsterhaltung zugenommen durch Unterordnung der ein
fachen unter die zusammengesetzten Erregungen - die Unterwerfung
unmittelbarer Empfindungen unter die Ideen von zukünftigen Em
pfindungen ― die Beherrschung von präsentativen durch repräsen
tative Gefühle und von repräsentativen durch re- repräsentative Ge
fühle. In gleichem Maasse, wie das Leben fortgeschritten ist, wurde
die begleitende Empfindlichkeit immer mehr ideell, und unter den
durch die Zusammenordnung von Ideen erzeugten Gefühlen sind die
zweifach zusammengesetzten oder die doppelt ideellen die höchsten
und zugleich diejenigen , welche sich am spätesten entwickelt haben.
Daraus ergibt sich, dass die Gefühle eine um so höhere Bedeutung
als Leiter in Anspruch nehmen müssen, je weiter sie durch ihre
120 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

Complicirtheit und Ideellität von einfachen Empfindungen und Trieben


entfernt sind .
Ein ferneres Schlussergebniss tritt deutlich hervor, wenn wir
die intellectuelle Seite dieser geistigen Processe näher betrachten,
durch welche Handlungen bestimmten Zwecken angepasst werden.
Wo sie niedrig und einfach sind, umfassen sie blos die Leitung
unmittelbarer Handlungen durch unmittelbare Reize . Der ganze
im einzelnen Falle ablaufende Vorgang dauert nur einen Augenblick
und bezieht sich blos auf ein zunächstliegendes Resultat . Mit der
weiteren Ausbildung der Intelligenz jedoch und der zunehmenden
Ideellität der Motive sind die Zwecke, denen die Handlungen an
gepasst werden , nicht länger ausschliesslich unmittelbar. Die
ideelleren Motive betreffen Zwecke, die in grösserer Ferne liegen,
und mit der Annäherung an die höchsten Typen werden die Zwecke
des Augenblicks immer mehr jenen zukünftigen Zwecken unter
geordnet, welche den Gegenstand der ideellen Motive bilden. Daraus
entspringt schon eine bestimmte Wahrscheinlichkeit zu Gunsten
eines Motivs, das auf ein entferntes , im Vergleich zu einem solchen ,
das auf ein naheliegendes Gut abzielt .

§. 44.
Im letzten Capitel deutete ich an, dass neben den verschiedenen
dort aufgeführten Einflüssen , welche den ascetischen Glauben be
günstigen, dass das Thun von Dingen, die angenehm sind , zum
Unheil gereiche, während das Ertragen von unangenehmen Dingen
von Vortheil sei , noch ein anderer Einfluss von tieferliegendem Ur
sprung zu erwähnen sei. Diesen suchte ich in den vorhergehenden
Paragraphen zur Anschauung zu bringen .
Die allgemeine Wahrheit, dass die Leitung durch solch einfache
Freuden und Leiden, wie sie aus der Befriedigung oder Versagung
von körperlichen Begehrungen entspringen, von dem einen Gesichts
punkt betrachtet in der That niedriger steht als die Leitung durch
jene Freuden und Leiden , welche die complicirten ideellen Gefühle
uns gewähren , hat zu dem Glauben verführt , es müssten überhaupt
die Antriebe der körperlichen Begehrungen unberücksichtigt gelassen
werden. Ebenso hat ferner die allgemeine Wahrheit, dass ein Stre
ben nach zunächstliegenden Genüssen in gewisser Hinsicht dem
Streben nach entfernteren Genüssen untergeordnet ist , zu dem
§. 44. Der psychologische Standpunkt . 121

Glauben verführt, es dürfe zunächstliegenden Genüssen überhaupt


kein Werth beigemessen werden.
In den ersten Stadien jeder Wissenschaft sind die bis dahin
erreichten Verallgemeinerungen nicht genügend scharf abgegrenzt.
Der bestimmt unterscheidende Ausdruck einer einmal formulirten
Wahrheit tritt erst später hervor durch Einschränkung des nicht
unterscheidenden Ausdrucks. Wie beim körperlichen Sehen , das zuerst
nur die gröbsten Züge der Dinge erfasst und so zu vorläufigen Ein
theilungen verleitet, welche dann das weiter entwickelte, für gerin
gere Unterschiede empfängliche Sehen zu verbessern hat, so ist es
auch beim geistigen Sehen in Betreff allgemeiner Wahrheiten zu
beobachten, dass anfänglich fälschlicherweise Alles umfassende In
ductionen aufgestellt werden, welche erst auf Skepticismus und kri
tische Beobachtung zu warten haben, um sie auf den richtigen Um
fang zurückzuführen, indem bisher unbeachtet gebliebene Verschieden
heiten berücksichtigt werden . Daher dürfen wir auch von den her
gebrachten ethischen Folgerungen nichts Anderes erwarten, als dass
sie allzuweit ausgreifen werden. Sehen wir zu , wie diese herrschen
den Ansichten sowohl von Seiten der Moralisten ex professo als der
Menschen überhaupt durch Vernachlässigung der nöthigen Ein
schränkungen auf dreierlei Weise in Irrthum verkehrt werden .
In erster Linie ist die Autorität der niedrigeren Gefühle als
Leiter keineswegs immer derjenigen der höheren untergeordnet, son
dern steht häufig über derselben . Alltäglich kommen Fälle vor,
wo man den einfachen Empfindungen mehr gehorchen muss als den
Gedanken . Man stelle sich nur einmal vor, dass man eine ganze
Nacht nackt in einem Schneesturm sässe oder eine Woche lang
keine Nahrung zu sich nähme oder seinen Kopf zehn Minuten unter
Wasser drücken liesse, und man wird einsehen, dass die unmittel
bar auf die Erhaltung des Lebens abzielenden Freuden und Leiden
nicht durchaus den nur mittelbar darauf gerichteten Freuden und
Leiden untergeordnet werden dürfen . Schlägt auch in vielen Fällen
Leitung durch die einfacheren Gefühle eher zum Unheil aus als
durch die complicirteren Gefühle , so wird in anderen Fällen doch
Leitung durch die letzteren verderblich , durch die ersteren dagegen
nicht, und für ein weites Gebiet von Vorkommnissen lässt sich gar
nicht entscheiden , welcher Art die höhere Autorität als Leiter zu
kommen soll . Zugegeben, dass in einem Menschen, der verfolgt
wird, damit er überhaupt sein Leben rette, die Furcht vor seinen
122 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

Verfolgern die Oberherrschaft über die im Gefolge von übergrosser


und lange dauernder Anstrengung auftretenden und dagegen pro
testirenden Gefühle haben muss , ――― so kann es doch vorkommen,
dass , wenn er bis zum Zusammenbrechen aushält, die dadurch er
zeugte Erschöpfung tödtlich wird, während der Tod sonst nicht ein
getreten wäre , wenn die Verfolgung früher aufgehört hätte . Wohl
mag eine in Armuth zurückgebliebene Wittwe ihren Hunger ver
leugnen müssen , damit sie nur ihren Kindern genug Nahrung geben
kann, um sie am Leben zu erhalten ; aber diese Nichtberücksich
tigung des Hungers, wenn sie zu weit getrieben wird , kann dahin
führen, dass jene nicht allein ohne jede Nahrung , sondern auch ohne
Beschützer bleiben . Es ist wahr , ein in Geld verlegenheiten ge
rathener Mann muss sein Gehirn unaufhörlich vom Morgen bis in
die Nacht anstrengen und darf den widerstreitenden körperlichen
Empfindungen kein Gehör schenken , wenn er seinem gewissenhaften
Bestreben, alle an ihn erhobenen Ansprüche zu befriedigen , nach
kommen will ; wie leicht aber kann diese Unterwerfung einfacher
unter complicirte Gefühle dahin führen, dass er seine Gesundheit
untergräbt und deshalb sein Ziel verfehlt , das er bei minder weit
gehender Unterwerfung wohl hätte erreichen können . Offenbar darf
also die Unterordnung der niedrigeren Gefühle nur bedingt gelten .
Die Überlegenheit der höheren Gefühle muss eine eingeschränkte
Überlegenheit sein.
Noch auf andere Weise führt die Verallgemeinerung durch
Übergriffe zum Irrthum . Mit der Wahrheit , dass das Leben ein um
so höheres ist , je vollständiger die einfachen präsentativen Gefühle
unter der Controle der zusammengesetzten repräsentativen Gefühle
stehen, verknüpft sie, als ob es Folgerungen daraus wären , gewisse
Sätze , welche dies gar nicht sind. Die gangbare Anschauung ist
nicht , dass die niederen Gefühle den höheren weichen müssen , wenn
beide in Widerspruch mit einander gerathen, sondern dass die niede
ren nicht beachtet werden dürfen, auch wo gar kein Widerspruch
vorhanden ist. Die durch das allmähliche Aufkommen sittlicher
Vorstellungen erzeugte Neigung , den Gehorsam gegen niedere Ge
fühle , wo höhere protestirten , zu verdammen , hat auch die Neigung
hervorgerufen, niedere Gefühle an und für sich betrachtet für ver
dammungswürdig zu halten. „ Ich glaube wahrhaftig , sie thut ihre
,,Arbeit, weil sie sie gerne thut", - so äusserte sich einmal mir
gegenüber eine Frau in Betreff einer andern, und die Form sowohl
§. 44. Der psychologische Standpunkt . 123

wie die Art ihres Ausdrucks verriethen , dass sie ein solches Benehmen
nicht blos für schlecht hielt, sondern glaubte, dass auch Jedermann
es für schlecht erklären müsse . Eine derartige Auffassungsweise
ist aber weit verbreitet. In der Praxis allerdings kommt sie im
Allgemeinen nur wenig zur Geltung. Wenn sie auch da und dort
verschiedene Asceticismen zu Tage fördert, wie z. B. dass Mancher
es für mannhaft und zugleich für zuträglich hält, bei kalter Witte
rung ohne Überrock auszugehen oder es den ganzen Winter über
durchzusetzen, täglich ein Bad im Freien zu nehmen , so werden
doch die angenehmen Gefühle, welche jede gehörige Befriedigung
körperlicher Bedürfnisse begleiten, gerne empfunden und anerkannt ;
- in der That ist ja auch diese Anerkennung dringend genug ge
boten. Gewöhnlich vergessen aber die Menschen diese Widersprüche
im täglichen Leben und bekennen sich dann in mehr oder weniger
unklarer Form zu der Ansicht , dass etwas Entwürdigendes oder
Schädliches oder beides zugleich darin liege, wenn man das thue ,
was einem angenehm , und das vermeide , was einem unangenehm
ist. „ Ergötzlich , aber nicht gut " ist ein Ausdruck, der häufig in
dem Sinne gebraucht wird, als ob beides naturgemäss mit einander
verknüpft wäre. Wie jedoch schon oben angedeutet wurde, ent
springen solche Ansichten nur aus einer verworrenen Erfassung der
allgemeinen Wahrheit, dass den höher zusammengesetzten , repräsen
tativen Gefühlen im Durchschnitt eine grössere Autorität zukommt
als den einfachen, präsentativen Gefühlen . Mit der nöthigen Vor
sicht angewandt besagt aber dieser Satz nichts weiter, als dass die
Autorität der einfachen Gefühle , meistentheils geringer als die der
zusammengesetzten, gelegentlich jedoch auch grösser, in der Regel
dann anzuerkennen ist, wenn die zusammengesetzten keinen Wider
spruch erheben.
Auf eine dritte Weise endlich unterliegt dies Princip der Unter
ordnung noch einem Missverständniss. Zu den Gegensätzen zwischen
den früh und den spät entwickelten Gefühlen gehört auch der, dass
jene auf die mehr unmittelbaren, diese auf die entfernteren Folgen
der Handlungen Bezug haben , und allgemein gesprochen steht also
die Leitung durch das Naheliegende tiefer als die Leitung durch
das Fernere. Daraus ist denn der Glaube entstanden , die Freuden
der Gegenwart müssten ohne Rücksicht auf ihren Charakter den
Freuden der Zukunft aufgeopfert werden. Wir können dies schon
in der Vorschrift erkennen , die man häufig den Kindern beim Essen
124 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

einzuprägen sucht, dass sie das beste Stückchen bis zuletzt auf
sparen sollen das Verbot, unbedachtsamer Weise einem unmittel
baren Antrieb nachzugeben, verbindet sich hier mit der zugleich
darin enthaltenen Lehre, dass derselbe Genuss um so werthvoller
werde, je weiter er entfernt sei. Eine solche Denkweise lässt sich
aber auch im täglichen Leben verfolgen ―― natürlich keineswegs
bei Allen, sicher aber bei denen, welche sich als kluge Menschen
mit weise geregelter Thätigkeit auszeichnen. Der Geschäftsmann
erledigt in aller Eile sein Frühstück, um rechtzeitig den Zug zu
erreichen, verzehrt hastig ein belegtes Butterbrod um die Mittags
zeit und nimmt seine Hauptmahlzeit erst ganz spät zu sich , wenn
er schon so ermüdet ist, dass ihm eine ordentliche Abenderholung
unmöglich wird, führt also ein Leben , in welchem die Befriedigung
nicht allein der körperlichen Bedürfnisse , sondern auch höherer
Neigungen und Gefühle so viel als irgend möglich bei Seite ge
drängt ist, um ferneliegende Zwecke zu erreichen ; und doch, wenn
man nach diesen ferneliegenden Zwecken fragt, so zeigt sich (aus
genommen in den Fällen, wo es sich um älterliche Verpflichtungen
handelt) , dass sich dieselben unter die Vorstellung von einem be
haglicheren Leben in späterer Zeit zusammenfassen lassen . So sehr ist
dieser Glaube, dass es unrecht sei , unmittelbare Vergnügen aufzu
suchen , und recht, blos entfernten nachzustreben , den Menschen in
Fleisch und Blut übergegangen , dass es nichts Seltenes ist , einen
eifrigen Geschäftsmann , der einen Ausflug zu seinem Vergnügen ge
macht hat, sich wegen seiner Handlungsweise gewissermaassen ent
schuldigen zu hören . Er sucht, der ungünstigen Beurtheilung von
Seiten seiner Freunde vorzubeugen , indem er auseinandersetzt , dass
sein Gesundheitszustand ihn genöthigt habe, sich einen Feiertag zu
machen . Nichtsdestoweniger zeigt sich , wenn wir ihn in Betreff
seiner Zukunft genauer ausfragen, dass sein ganzes Streben darauf
hinausläuft , sich mit der Zeit zurückziehen und ganz der Erholung
hingeben zu können, die er jetzt zu geniessen beinah sich schämt.
Die allgemeine Wahrheit, die sich uns aus dem Studium des
sich entwickelnden Handelns auf vormenschlicher wie auf mensch
licher Stufe ergab, dass behufs besserer Erhaltung des Lebens die
primitiven, einfachen, präsentativen Gefühle unter der Controle der
später entwickelten , zusammengesetzten , repräsentativen Gefühle
stehen müssen, ist also im Fortschritt der Civilisation von den
Menschen immer vollständiger erkannt worden, anfänglich aber noth
§. 45. Der psychologische Standpunkt. 125

wendigerweise in allzu wenig eingeschränkter Form. Die durchweg


herrschende Auffassung derselben ist irrig in der Annahme , dass
die Autorität der höheren über die niedrigeren unbegrenzt sei , ist
ferner irrig in der Annahme, dass die Gebote der niedrigeren nicht
befolgt werden dürften, selbst wenn sie mit den Geboten der höheren
nicht in Widerstreit gerathen , und ist endlich irrig in der An
nahme, dass ein Genuss zwar wohl , so lange er in der Ferne liegt,
ein gutes Strebeziel bilde , dass es aber unrecht sei , darauf hinzu
arbeiten, wenn er sich unmittelbar darbiete.

§. 45 .
Ohne dass es ausdrücklich gesagt worden wäre, haben wir hier
zugleich die Entstehung des moralischen Bewusstseins oder des Ge
wissens verfolgt. Denn es bildet unzweifelhaft den wesentlichsten
Zug des moralischen Bewusstseins , dass ein Gefühl oder die einen
Gefühle unter der Controle eines anderen oder anderer Gefühle
stehen.
Schon bei den höheren Thieren können wir deutlich genug den
Widerstreit der Gefühle und die Unterwerfung der einfacheren unter
die zusammengesetzteren beobachten, wie z. B. wenn ein Hund sich
abhalten lässt, nach einer Speise zu schnappen, aus Furcht vor der
Strafe, die ihn treffen würde, wenn er seinem Hunger nachgäbe,
oder wenn er aufhört, an einem Loch weiter zu scharren, um nicht
seinen Herrn zu verlieren , der indessen weiter gegangen ist. Dies
ist jedoch, wenn auch sicherlich Unterordnung, doch keine bewusste
Unterordnung kein Einblick ins eigene Innere, der die Thatsache
zum Bewusstsein bringt, dass ein Gefühl durch ein anderes ver
drängt worden ist. So verhält sich's aber auch bei mensch
lichen Wesen, wenn sie geistig noch wenig entwickelt sind . Der
vorsociale Mensch, familienweise herumwandernd, wird nur von sol
chen Empfindungen und Emotionen beherrscht, wie sie die Verhält
nisse des Augenblicks hervorrufen, und wenn er auch gelegentlich
in einen Widerstreit der Motive geräth, so kommt er doch wohl
nur selten in die Lage, dass der Vortheil einer Zurücksetzung der
unmittelbaren zu Gunsten der entfernteren Zwecke sich seiner Auf
merksamkeit aufdrängen würde, und nicht minder fehlt ihm auch
der nöthige Verstand, um die etwa vorkommenden Fälle dieser Art
zu analysiren und zu verallgemeinern. Erst wenn die sociale Ent
wickelung das Leben complicirter gestaltet , wenn zahlreiche und
126 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

kräftig wirksame Abhaltungen Platz greifen , die üblen Folgen des


impulsiven Handelns deutlich hervortreten und die durch Voraus
bedenken der Zukunft zu erlangenden Vortheile ziemlich sicher er
scheinen , - erst dann können auch hinlänglich viele Erfahrungen
gesammelt werden , welche die Menschen mit dem Nutzen der Unter
ordnung der einfacheren unter die complicirteren Gefühle gehörig
vertraut machen. Erst dann haben sich auch die Verstandeskräfte
so weit entwickelt, dass aus solchen Erfahrungen eine Induction auf
gebaut werden kann, woran sich die erforderliche Ansammlung in
dividueller Inductionen zu einer öffentlichen und traditionellen In
duction schliesst, welche nun jeder Generation schon von Jugend
auf eingeprägt wird.
Hiemit stossen wir auf gewisse Thatsachen von grösster Be
deutung. Dieses bewusste Aufgeben unmittelbarer und specieller
Güter , um entfernte und allgemeine Güter zu gewinnen , ist ein wesent
licher Zug nicht nur der Selbstbeschränkung , die wir moralisch zu
nennen pflegen , sondern auch anderer Selbstbeschränkungen , die
nicht hiefür gelten - der Beschränkungen, welche aus der Furcht
vor dem sichtbaren Herrscher, vor dem unsichtbaren Herrscher und
vor der Gesellschaft im Ganzen entspringen. So oft der einzelne
Mensch davor zurückschrickt, das zu thun, wozu ihn die vorüber
gehende Begierde antreibt , um nicht etwa nachher gesetzliche Strafe
oder göttliche Rache oder öffentliche Verurtheilung oder Alles zugleich
erdulden zu müssen, so gibt er abermals lieber die naheliegende
und bestimmte Freude auf, als dass er die entfernteren und grösseren,
obgleich minder bestimmten Schmerzen riskiren möchte, welche das
Ergreifen jener Freude ihm bereiten kann, und ebenso verhält sich's,
wenn er sich einem Leiden in der Gegenwart unterzieht , um einer
wahrscheinlichen zukünftigen Freude im staatlichen , religiösen oder
socialen Leben theilhaftig zu werden . Wenn aber auch diese vier
Arten innerer Controle sämmtlich das Merkmal mit einander gemein
haben, dass die einfacheren und weniger ideellen Gefühle mit Be
wusstsein von den complicirteren und ideelleren Gefühlen beherrscht
werden, und wenn sie auch anfänglich in Wirklichkeit dasselbe Ge
biet betreffen und sich nicht von einander unterscheiden, so ge
langen sie doch im Laufe der socialen Entwickelung zur Differen
cirung, bis schliesslich die moralische Controle mit den sie be
gleitenden Vorstellungen und Gefühlen als unabhängige Erscheinung
§. 45. Der psychologische Standpunkt . 127

dasteht. Werfen wir einen Blick auf die hervorstechendsten Seiten


dieses Processes.
Wo noch keinerlei staatliches oder religiöses Gesetz existirt,
wie bei den rohesten Menschengruppen, da wirkt als wesentlichstes
Hemmniss gegen die unmittelbare Befriedigung jedes Wunsches ,
sobald derselbe aufgetaucht ist, wenigstens das Bewusstsein von den
Übeln , die der Zorn der wilden Genossen zur Folge haben kann,
wenn die Befriedigung des Wunsches nur auf ihre Kosten zu er
reichen wäre. Auf dieser niedrigen Stufe sind die vorgestellten
Leiden, welche das beherrschende Motiv ausmachen , von der Art ,
wie sie einem von Wesen gleicher Art ohne Abstufung der äussern
Gewalt zugefügt werden können : die staatlichen , religiösen und
socialen Schranken stellen sich bis dahin nur erst in Form dieser
gegenseitigen Furcht vor Rache dar. ―― Hat besondere Kraft, Ge
schicklichkeit oder Muth einen von ihnen zur Führerschaft in der
Schlacht erhoben, so flösst dieser natürlich auch grössere Furcht
ein als jeder Andere, und daraus erwächst denn ein schärfer aus
geprägtes Hemmniss gegen alle solche Befriedigung von Wünschen,
die ihn schädigen oder beleidigen würde. Je mehr sodann die Häupt
lingswürde durch kriegerische Sitten allmählich festen Boden ge
winnt, desto deutlicher grenzen sich die Nachtheile, welche das
Volk als wahrscheinliche Folgen einer Erzürnung des Häuptlings ,
und zwar nicht blos etwa bei directem Angriff, sondern auch schon
beim Ungehorsam gegen ihn, zu befürchten hat, von den geringeren
Übeln ab, die ein persönlicher Streit mit Anderen aus dem Volke
nach sich zieht, wie auch von jenen mehr sich vertheilenden Übeln,
die aus socialer Missbilligung zu erwachsen drohen. Mit anderen
Worten, die staatliche Controle beginnt sich von der noch ganz
unbestimmten Controle durch gegenseitige Furcht zu differenciren .
Unterdessen hat sich aber auch die Geistertheorie entwickelt.
Überall , mit Ausnahme blos der rohesten Menschengruppen, wird
das Doppelwesen eines Verstorbenen, das man beim Tode und später
zu versöhnen sucht, als ein Wesen vorgestellt, welches die Über
lebenden zu schädigen im Stande ist. In Folge dessen kommt, je
mehr sich die Geistertheorie festsetzt und deutlich ausbildet, zu
gleich eine andere Art von Hemmniss gegen die unmittelbare Be
friedigung der Begierden zur Geltung - ein Hemmniss bestehend aus
Vorstellungen von den Übeln, welche beleidigte Geister den Menschen
128 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

zuzufügen vermögen : und hat erst die staatliche Führerschaft feste


Wurzel gefasst und sind die Geister der todten Häuptlinge, die
man sich viel mächtiger und zugleich unbarmherziger vorstellt als
gewöhnliche Geister, demgemäss ganz besonders gefürchtet , so beginnt
auch diejenige Form der Einschränkung bestimmte Gestalt zu ge
winnen , die man als religiöse Schranken unterscheidet.
Wenn sich nun auch diese drei Gruppen von Einschränkungen
nebst den dazu gehörigen geheiligten Bekräftigungen im Bewusst
sein von einander sondern , so beherrschen sie doch eine lange Zeit
hindurch ein und dasselbe Gebiet und zwar einfach deswegen, weil
- dem Erfolg im
sie zumeist einem gemeinsamen Endzweck dienen
Kriege. Die Pflicht der Blutrache wird hoch gehalten , auch wo noch
Nichts existirt, was man als sociale Organisation bezeichnen dürfte.
Wo der Häuptling die volle Obergewalt erlangt, da wird das Tödten
der Feinde zur staatlichen Verpflichtung, und je mehr der Zorn des
gestorbenen Häuptlings sich zum Gegenstand der Furcht erhebt ,
desto mehr erscheint das Tödten der Feinde auch als religiöse
Pflicht. Die Untergebenheit unter den Herrscher zu seinen Leb
zeiten wie nach seinem Tode gibt sich in noch höherem Maasse
darin kund, dass ihm das Leben der Unterthanen für Kriegszwecke
ohne weiteres zur Verfügung steht. Am frühesten werden Strafen
auferlegt für Unbotmässigkeit und für Nichtbeachtung von Ge
bräuchen, welche die Unterordnung zum Ausdruck bringen sollen -
alle aber sind kriegerischen Ursprungs . Die göttlichen Gebote ander
seits, ursprünglich nichts Anderes als Überlieferungen des Willens
des verstorbenen Königs , beziehen sich hauptsächlich auf die Ver
tilgung der Völker, mit denen er im Kampfe gelegen hatte , und
der göttliche Zorn und die göttliche Gnade denkt man sich davon
abhängig, in welchem Grade die Unterwerfung unter ihn sich kund
gibt, sei es unmittelbar durch Verehrung desselben, sei es mittelbar
durch Erfüllung jener Gebote. Wenn es vom Fidschi-Insulaner
heisst, er suche sich beim Eintritt in die andere Welt dadurch zu
empfehlen, dass er seine Heldenthaten in der Schlacht erzähle, und
dass er in diesem Leben oft sehr betrübt sei bei dem Gedanken,
er habe nicht genug Feinde erschlagen , um seinen Göttern gefallen
zu können, so erkennen wir darin die hieraus entspringenden Vor
stellungen und Gefühle und werden dabei an ganz ähnliche Er
scheinungen erinnert, die bei den Völkern des Alterthums zu finden
waren.
§. 45. Der psychologische Standpunkt . 129

Zu alledem kommt nun , dass die Controle der öffentlichen


Meinung ihren Einfluss nicht mehr nur direct ausübt wie in den
frühesten Stadien, durch Lobpreisung des Tapfern und Tadel des
Feigen, sondern dass sie auch auf indirectem Wege eine im All
gemeinen ähnliche Wirkung ausübt, indem sie der Ergebenheit gegen
den Herrscher und der Ehrfurcht vor dem Gott ihren Beifall spendet.
So kommt es denn, dass die drei von einander sich differencirenden
Formen der Controle, welche in Zusammenhang mit kriegerischer
Organisation und Thätigkeit in's Leben traten , während sie alle in
ähnlichem Sinne einschränkend und anregend wirken , sich zugleich
gegenseitige Unterstützung leihen , und ihre verschiedenen wie ihre
gemeinsamen Zuchtmittel kommen in dem Merkmal überein, dass sie
die Aufopferung unmittelbarer und einzelner Vortheile bedingen ,
um entferntere und allgemeinere Vortheile zu erlangen.
Zu gleicher Zeit aber haben sich unter dem Schutze derselben
drei Autoritäten noch Einschränkungen und Anregungen einer an
dern Ordnung entwickelt, die jedoch gleichfalls durch Unterordnung
des Nächstliegenden unter das Entferntere charakterisirt erscheinen.
Vereinte Angriffe auf ausserhalb einer bestimmten Gemeinschaft
stehende Menschen können nicht gelingen, wenn innerhalb dieser
Gemeinschaft selbst häufige Angriffe der Mitglieder auf einander
stattfinden. Der Krieg setzt ein gewisses Zusammenwirken voraus,
und dieses wird unmöglich gemacht durch Streit zwischen denen ,
die zusammenwirken sollten . Wir haben nun gesehen , dass bei einer
primitiven, noch führerlosen Schaar das wesentlichste Hemmniss
gegen die unmittelbare Befriedigung der Wünsche jedes Einzelnen
in der Furcht vor der Rache der Andern besteht, sofern diese durch
jene Befriedigung geschädigt werden, und diese Furcht vor Wieder
vergeltung bleibt auch durch alle Anfangsstufen der socialen Ent
wickelung hindurch der gewichtigste Beweggrund für jede Art von
Enthaltsamkeit, die überhaupt vorkommt. Wenn aber auch noch
lange, nachdem eine staatliche Obergewalt sich ausgebildet hat, die
Sitte fortbesteht, sich für Beleidigungen persönlich Genugthuung zu
verschaffen, so schiebt derselben doch das Erstarken der Staats
gewalt allmählich einen Riegel vor. Die Thatsache, dass der Erfolg
im Kriege gefährdet ist, wenn die Anhänger eines Häuptlings sich
gegenseitig selber bekämpfen, muss sich unmittelbar der Aufmerk
samkeit des letzteren aufdrängen . Er hat allen Grund dazu, den
inneren Streitigkeiten ein Ende zu machen und somit auch die Über
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 9
130 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

griffe der Einzelnen zu verhindern, welche zu Streitigkeiten führen ;


je mehr also seine Macht wächst, desto strenger verbietet er solche
Übergriffe und desto härtere Strafen setzt er auf den Ungehorsam.
Nicht lange, und die staatlichen Einschränkungen dieser Classe wer
den , wie es auch mit denen der vorhergehenden Classe geschah,
durch religiöse Schranken verstärkt. Der kluge Häuptling , der im
Kriege Erfolge errang, theilweise weil er auf die erwähnte Weise
die Ordnung unter seinen Untergebenen aufrecht zu erhalten wusste ,
hinterlässt nach seinem Tode die Überlieferung der Gebote, die er
zu geben pflegte. Die Furcht vor seinem Geiste ist wohl geeignet ,
Achtung vor diesen Geboten zu erzeugen, und so erlangen sie mit
der Zeit einen geheiligten Charakter. Mit der weiteren socialen
Entwickelung erstehen auf gleiche Weise fernere Verbote, welche
Übergriffe minder ernster Art zu beseitigen suchen , bis schliesslich
ein ganzer Codex bürgerlicher Gesetze dasteht. Dann kommen auch
auf dem bereits erörterten Wege die Glaubenssätze zur Ausbildung,
die von der göttlichen Verdammung dieser leichteren so gut wie
der schwereren bürgerlichen Vergehen handeln , was gelegentlich
mit der Entstehung eines ganzen Systems von religiösen Geboten
endigt, die mit den staatlichen harmoniren und sie zugleich bekräf
tigen. Und ebenso entwickelt sich gleichzeitig , wie im ersteren
Falle, eine sociale Autorität zu Gunsten dieser Regeln des inneren
Verkehrs , welche wieder der staatlichen und der religiösen Autorität
zur Stütze gereicht.
Nun ist aber Folgendes wohl zu beachten : während diese drei
Controlen, die staatliche, religiöse und sociale, sämmtlich die Menschen
dazu bringen , nächstliegende Genüsse entfernteren Genüssen unter
zuordnen, und während sie in dieser Hinsicht allerdings der morali
schen Controle gleichen, welche in der Regel die Unterwerfung ein
facher, präsentativer Gefühle unter complicirte, repräsentative Ge
fühle und die Hintansetzung der Gegenwart gegenüber der Zukunft
verlangt, stellen sie doch noch nicht selbst die moralische Controle
dar, sondern nur Vorstufen derselben _______ es sind die Formen, inner
halb deren sich erst die moralische Controle entwickelt. Der Befehl
des Staatsoberhauptes findet anfänglich Gehorsam, nicht etwa weil
die Berechtigung desselben eingesehen würde, sondern einfach weil
es eben sein Befehl ist, dessen Missachtung mit Strafe bedroht ist .
Das Hemmniss beruht nicht auf einer geistigen Repräsentation der
schlimmen Folgen, welche die verbotene Handlung der Natur der
§. 45. Der psychologische Standpunkt . 131

Sache gemäss nach sich ziehen wird , sondern blos auf einer geisti
gen Repräsentation der künstlich bedingten schlimmen Folgen. Bis
auf unsere Tage herab lässt sich in juristischen Redewendungen
die ursprüngliche Lehre verfolgen, dass der Eingriff des einen Bür
gers in die Rechte des andern böse ist und bestraft werden soll ,
nicht so sehr um der ihm zugefügten Schädigung willen , als weil
eine Missachtung des Willens des Königs darin liegt. Ebenso hat
es seiner Zeit ganz allgemein gegolten und gilt es für Viele heute
noch, dass die Sündhaftigkeit eines Vergehens gegen die göttlichen
Gebote vielmehr im Ungehorsam gegen Gott als in der willkürlichen
Zufügung einer Schädigung begründet sei, und selbst gegenwärtig
noch finden wir den Glauben weit verbreitet, dass Handlungen nur
gut zu nennen sind , wenn sie im Bewusstsein der Erfüllung des
göttlichen Willens gethan, ja dass sie sogar böse seien, wenn sie
sonstwie gethan werden. Das Gleiche gilt auch hinsichtlich jener
ferneren Controle, welche durch die öffentliche Meinung ausgeübt
wird. Hört man auf die Bemerkungen , die etwa in Betreff der
Befolgung von socialen Gesetzen laut werden, so erkennt man bald ,
dass eine Übertretung derselben weniger um einer wesentlichen Un
gehörigkeit willen verurtheilt wird , als weil dabei die Autorität der
Welt nicht die gebührende Beachtung erfährt. Wie unvollkommen
die wahrhaft moralische Controle sogar jetzt noch von diesen Formen
differencirt ist, innerhalb deren sie sich entwickelt hat, geht aus
der Thatsache hervor , dass die im Beginn unserer Untersuchung
besprochenen Moralsysteme alle die moralische Controle mit der
einen oder der andern jener Formen identificiren. Denn die Mo
ralisten der einen Classe leiten die Moralgesetze von den Befehlen
einer höchsten Staatsgewalt ab. Diejenigen einer andern Classe
anerkennen keine weitere Quelle derselben als den geoffenbarten
göttlichen Willen . Und obgleich die Menschen, welche die socialen
Vorschriften zu ihrem Führer machen, ihre Lehre nicht bestimmt
zu formuliren pflegen, so ergibt sich doch aus der häufig zu Tage
tretenden Ansicht, dass ein Handeln , das die Gesellschaft zulässt,
jedenfalls nicht tadelnswürdig sei , schon zur Genüge , dass es in
der That Solche gibt, die da glauben, Gutes und Böses könnte
durch die öffentliche Meinung umgestempelt werden .
Bevor wir nun einen Schritt weiter gehen , müssen wir erst
die Ergebnisse dieser Analyse zusammenstellen . Die wichtigsten
Sätze, die wir in Bezug auf diese drei Formen der äusseren Controle,
9*
132 Die Thatsachen der Ethik. Cap . VII.

welchen die sociale Einheit unterworfen ist , gewonnen haben , sind


folgende : - Erstens haben sich dieselben zusammen mit der Ent
wickelung der Gesellschaft entwickelt, als Mittel der Selbsterhal
tung, die unter den gegebenen Verhältnissen auch nothwendig waren ,
und, wie schon hieraus hervorgeht, stimmen sie denn auch in der
Hauptsache mit einander überein. Zweitens sind die correlativen
inneren Schranken, welche in der socialen Einheit hervorgerufen
werden , Repräsentationen von entfernten Folgen, die vielmehr zu
fällig als nothwendig zu nennen sind : gesetzliche Strafen , über
natürliche Vergeltung, sociale Verurtheilung. Drittens lassen sich
diese Folgen, weil sie einfacher sind und auf unmittelbarere Weise
durch persönliche Agentien sich geltend machen, auch viel lebhafter
vorstellen als die Folgen, welche eine Handlung im Verlauf der
Dinge naturgemäss nach sich zieht, und deshalb üben die Vorstel
lungen von jenen eine viel grössere Wirkung auf den unausgebildeten
Geist aus. Viertens : indem sich nun mit den auf solche Weise
entstandenen inneren Schranken stets der Gedanke an äusseren
Zwang verbindet , entspringt hieraus der Begriff der Verpflich
tung, und dieser verbindet sich wieder gewohnheitsmässig mit der
Aufopferung unmittelbarer , einzelner , zu Gunsten ferneliegender
und allgemeiner Vortheile. Fünftens entspricht die moralische Con
trole zum grössten Theil den drei so entstandenen Controlen hin
sichtlich ihrer Gebote ; ebenso entspricht sie ihnen hinsichtlich der
allgemeinen Natur der geistigen Vorgänge, welche die Unterwerfung
des Menschen unter diese Gebote zu Stande bringen ; in ihrem eigent
lichen Wesen aber besteht ein Unterschied.

§. 46.

Denn jetzt sind wir auf die Erkenntniss vorbereitet, dass die
Schranken, die im eigentlichen Sinne als moralische zu unterscheiden
sind, in dem Punkte von jenen Schranken abweichen , aus denen sie
sich erst entwickelt haben und mit denen sie lange zusammen
geworfen worden sind, - dass sie sich nicht auf die äusserlichen,
sondern auf die innerlichen Folgen der Handlungen beziehen. Was
einen wahrhaft moralischen Menschen vom Morde abhält , ist nicht
die Vorstellung vom Hängen als der Folge desselben, noch die Vor
stellung von in der Hölle zu erleidenden Qualen , noch die Vorstel
lung des Schreckens und des Hasses, den er in seinen Nebenmenschen
§. 46. Der psychologische Standpunkt . 133

hervorruft, sondern einfach die Vorstellung der nothwendigen natür


lichen Resultate - der sein Opfer marternden Todesangst, der Ver
nichtung aller Aussichten desselben auf ferneres Glück, der seinen
Angehörigen zugefügten Leiden. Weder der Gedanke an das Ge
fängniss, noch an den göttlichen Zorn, noch an die sociale Ver
dammung ist es, was die moralische Abschreckung vom Diebstahl
ausmacht, sondern der Gedanke an das dem Beraubten angethane
Unrecht, verbunden mit einem unklaren Bewusstsein von den all
gemeinen Übeln, die eine Missachtung des Eigenthumsrechtes nach
sich zieht. Wer den Ehebrecher aus moralischen Gründen ver
urtheilt, dessen Geiste schweben nicht Bilder von einer Klage auf
Schadenersatz oder von einer zukünftigen Strafe, die in Folge der
Übertretung eines Gebotes verhängt wird , oder vom Verlust des
guten Rufes vor, sondern den beschäftigt der Gedanke an das Un
glück, das der gekränkten Ehefrau oder dem Ehemann zugefügt
wird, an die Schädigung des Lebens der Kinder und an alle die
verschiedenartigen schlimmen Folgen, die mit einer Zerreissung des
ehelichen Bandes zusammenhängen. Umgekehrt pflegt derjenige,
welcher sich durch ein moralisches Gefühl bewegen lässt, einem
Andern aus der Verlegenheit zu helfen, sich dabei nicht irgendwelche
Belohnung hier oder später auszumalen , sondern blos die besseren
Verhältnisse, die er herbeizuführen sucht. Wer sich moralisch ge
drängt fühlt, gegen ein sociales Übel anzukämpfen , der sieht im
Geiste weder einen materiellen Vortheil noch öffentlichen Beifall
vor sich, sondern nur das Elend, das er zu beseitigen strebt, und
die vermehrte Wohlfahrt, die durch seine Beseitigung erzielt wird .
Durchweg also unterscheidet sich das moralische Motiv von den
übrigen Motiven, mit denen es verknüpft erscheint, in dem Punkte,
dass es nicht aus Vorstellungen von zufälligen , nebensächlichen ,
nicht naturnothwendigen Folgen, sondern vielmehr nur aus Vor
stellungen derjenigen Folgen hervorgeht, welche das naturgemässe
Ergebniss der Handlungen sind. Diese Vorstellungen sind nicht
alle ganz deutlich, obwohl in der Regel einige derselben dem Geiste
gegenwärtig sind ; sie bilden aber eine Gruppe von undeutlichen
Vorstellungen, die sich durch die Erfahrung von den Folgen gleicher
Handlungen im Leben des Einzelnen angesammelt haben, und gleich
sam die Unterlage hievon bildet ein noch unklareres , aber umfassen
deres Bewusstsein, das von den ererbten Wirkungen solcher Erfah
rungen bei den Vorältern herstammt : das Ganze ergibt ein Gefühl ,
134 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

das sich sowohl durch Gewichtigkeit als durch Unbestimmtheit aus


zeichnet.
Und nun sehen wir auch leicht ein, warum die moralischen
Gefühle und die ihnen entsprechenden Schranken später sich aus
gebildet haben als jene Gefühle und Schranken, welche in der staat
lichen, der religiösen und der socialen Autorität ihren Untergrund
finden , und warum die Scheidung zwischen beiden Gruppen so lang
sam vor sich gegangen und selbst heute nur erst sehr unvollkommen
durchgeführt ist. Denn nur vermöge dieser niedrigeren Gefühle
und Schranken konnten die Bedingungen aufrecht erhalten werden ,
unter denen die höheren Gefühle und Schranken sich überhaupt ent
wickeln . Das gilt von den auf das Ich bezüglichen nicht minder
als von den auf Andere bezüglichen Gefühlen . Die Leiden , welche
Unbedachtsamkeit nach sich zieht, und die Freuden , welche aus der
Ansammlung von Dingen für zukünftigen Gebrauch und aus der
Arbeit zum Erwerb solcher Dinge erwachsen , können erst dann ge
wohnheitsmässig in Gedanken einander gegenüber gestellt werden ,
wenn geordnete sociale Einrichtungen eine solche Ansammlung mög
lich gemacht haben, und damit jene geordneten socialen Einrich
tungen entstehen können , muss die Furcht vor dem sichtbaren
Herrscher, vor dem unsichtbaren Herrscher und vor der öffentlichen
Meinung erst ihre Wirkung geltend machen. Erst nachdem staat
liche , religiöse und sociale Schranken ein in sich gefestigtes Gemein
wesen hervorgerufen , können hinlänglich reiche Erfahrungen von den
positiven und negativen, sensationellen und emotionellen Leiden , welche
aus Übertretungen aller Art entspringen, gewonnen sein , um jenen
sittlichen Abscheu davor zu erzeugen , der wesentlich im Bewusstsein
von den ihrer Natur nach daran hängenden Übeln besteht. Und noch
einleuchtender ist es, dass ein moralisches Gefühl wie das von ab
stracter Gerechtigkeit, die nicht blos durch materielle, einem Menschen
zugefügte Schädigung, sondern auch durch staatliche Einrichtungen
verletzt wird , welche ihn in eine benachtheiligte Lage bringen ,
nicht eher sich entwickeln konnte, als bis ein socialer Zustand er
reicht ist, der reichliche Erfahrungen liefert einmal von den unmittel
bar aus Ungerechtigkeiten entspringenden Leiden , dann aber auch
von denen , welche mittelbar in den Classenprivilegien begründet
sind , wodurch die Begehung von Ungerechtigkeiten erleichtert wird.
Dass die sogenannten moralischen Gefühle dieser Art und solchen
Ursprungs sind, geht ferner aus der Thatsache hervor, dass wir
§. 46. Der psychologische Standpunkt. 135

ihnen diesen Namen um so eher beizulegen geneigt sind , je deut


licher sie die erwähnten Eigenthümlichkeiten hervortreten lassen :
erstens dass sie re-repräsentativ sind , zweitens dass sie mehr auf
indirecte als auf directe und im Allgemeinen mehr auf ferneliegende
als auf zunächstliegende Folgen Bezug haben, und drittens dass sie
auf Wirkungen abzielen , die zumeist mehr allgemeiner als besonderer
Natur sind. So pflegen wir zwar diesen Menschen wegen seiner
Verschwendung zu verurtheilen und die Sparsamkeit zu loben , die
jener an den Tag legt, aber doch rechnen wir ihre Handlungen nicht
zu den lasterhaften, beziehungsweise tugendhaften : diese Bezeich
nungen wären hier zu stark, die augenblicklichen und zukünftigen
Folgen weichen doch in concretem wie in idealem Sinne noch zu
wenig von einander ab, als dass diese Wörter richtig anwendbar
wären . Man denke sich jedoch nur, dass durch die Verschwendung
Frau und Kinder nothwendig in's Elend gestürzt werden , dass sie
Leiden im Gefolge hat, die auf dem Leben Anderer wie auf seinem
eigenen lasten , und die Lasterhaftigkeit der Verschwendung ist klar
genug. Man denke sich ferner, dass der Verschwender, von dem
Wunsche getrieben, seine Familie aus dem Elend zu erlösen , das
er über sie gebracht hat, einen Wechsel fälscht oder eine andere
betrügerische Handlung ausführt. Wenn wir auch die ihn augen
blicklich beherrschende Emotion für sich allein betrachtet als
moralisch bezeichnen müssen und mit Rücksicht darauf mildernde
Umstände gelten lassen, so verdammen wir doch seine Handlungs
weise im Ganzen genommen als unsittlich : wir erkennen den Ge
fühlen eine höhere Autorität zu , welche sich auf das Eigenthums
recht der Menschen beziehen ――――――― Gefühle , die in höherem Grade
re-repräsentativ sind und auf ferner liegende und sich weiter aus
breitende Folgen hinweisen. Der wohl fast durchgängig anerkannte
Unterschied in der relativen Werthschätzung von Gerechtigkeit
und von Grossmuth ist ein sprechender Beleg für diese Wahrheit.
Der eine grossmüthige Handlung veranlassende Beweggrund hat auf
Folgen von concreterer, speciellerer und näher liegender Art Bezug
als das Motiv zur Ausübung von Gerechtigkeit, welches, von den
nächstliegenden Folgen abgesehen , die ausserdem gewöhnlich weniger
concreter Natur sind als jene , die der Grossmüthige im Auge hat ,
auch noch ein Bewusstsein von den entfernten, verwickelten und
weit sich ausbreitenden Folgen in sich schliesst, die mit der Auf
rechterhaltung von nach Grundsätzen der Gerechtigkeit geordneten
136 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

Verhältnissen verbunden sind . Und in der That halten wir ja Ge


rechtigkeit für eine höhere Stufe von Grossmuth.
Das Verständniss für die Bedeutung dieser langen Auseinander
setzung wird, wie ich glaube , gefördert werden , wenn ich hier eine
fernere Stelle aus dem schon oben erwähnten Briefe an Herrn MILL
citire, die sich unmittelbar an die bereits citirte anschliesst .
> Um meine Anschauungsweise vollständig klar zu machen, scheint
es nöthig, noch beizufügen, dass sich, entsprechend den fundamentalen
Sätzen einer ausgebildeten Moralwissenschaft , im Menschengeschlecht
gewisse fundamentale moralische Anschauungen entwickelt haben und
noch fortentwickeln, und dass diese Anschauungen, obgleich sie das
Ergebniss von nach und nach angesammelten Erfahrungen über das
> Nützliche bilden , die allmählich organisirt und vererbt wurden , doch
nun ganz unabhängig von jeder bewussten Erfahrung dastehen. Ganz
auf gleiche Weise , wie meiner Ansicht nach die Anschauung vom
Raume, welche doch jedes lebende Individuum besitzt, aus organisirten
und sich festsetzenden Erfahrungen aller vorangegangenen Individuen
entstanden ist, die auf ihre Nachkommen ihre langsam entwickelte
Nervenorganisation übertrugen - ganz so, wie ich glaube, dass diese
Anschauung, welche ja nur noch durch die persönlichen Erfahrungen
jedes Einzelnen bestimmt ausgestaltet und vervollständigt zu werden
braucht, in Wirklichkeit zu einer Form des Denkens geworden ist, die
scheinbar durchaus unabhängig von der Erfahrung besteht, - ganz
so haben sich auch , glaube ich , die Erfahrungen vom Nützlichen in
allen vergangenen Generationen des Menschengeschlechts organisirt und
festgesetzt und entsprechende Abänderungen im Nervensystem hervor
gebracht, welche durch fortwährende Übertragung und Anhäufung in
uns endlich zu einem gewissen Vermögen der moralischen Anschauung
geworden sind - zu gewissen Emotionen, welche mit gutem und bösem
Handeln in Wechselbeziehung stehen und keine irgendwie aufzeigbare
Grundlage in den individuellen Erfahrungen vom Nützlichen haben .
Ich bin auch überzeugt, dass ebenso, wie die Raumanschauung mit
den exacten Beweisen der Geometrie in Einklang steht und wie ihre
rohen Schlussfolgerungen durch diese erläutert und bestätigt werden,
so auch die moralischen Anschauungen mit den Darlegungen der Moral
wissenschaft zusammenstimmen und ihre rohen Folgerungen von letz
teren erläutern und bestätigen lassen werden. <<
Hiezu sei im Vorbeigehen noch die Bemerkung gestattet , dass
die Entwickelungshypothese uns sonach auch in den Stand setzt ,
einander entgegenstehende Moraltheorien zu versöhnen, wie sie uns
früher ermöglichte, eine Versöhnung zwischen entgegengesetzten Er
kenntnisstheorien herzustellen. Denn wie die Lehre von den an
gebornen Formen der intellectuellen Anschauung in Harmonie ge
bracht wird mit der Lehre von der Erfahrung, sobald wir die Ent
§. 47. Der psychologische Standpunkt . 137

stehung von intellectuellen Vermögen durch Vererbung von aus der


Erfahrung stammenden Wirkungen anerkennen , so ergibt sich auch
völlige Zusammenstimmung zwischen der Lehre von den angebornen
Fähigkeiten zu moralischer Empfindung und der utilitaristischen
Lehre, sobald wir einsehen, dass Zu- und Abneigungen organisch
gemacht werden durch Vererbung der Einwirkungen angenehmer
und schmerzlicher Erfahrungen auf die Vorältern .

§. 47.
Eine wichtige Frage ist aber noch zu beantworten : Wie ent
steht das Gefühl von der moralischen Verpflichtung im Allgemeinen ?
Woher stammt das Gefühl der Pflicht, dieses an sich betrachtet
ohne Zusammenhang mit den einzelnen Gefühlen, welche zu Mässig
keit, Vorsicht, Güte, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit u . s . w. antrei
ben ? Die Antwort lautet einfach : es ist ein abstractes Gefühl, das
auf ähnliche Weise entstanden ist, wie abstracte Begriffe entstehen .
Der Begriff von jeder einzelnen Farbe besass ursprünglich einen
durchaus concreten Charakter, der ihm durch ein diese Farbe be
sitzendes Object verliehen wurde, wie wir noch aus einigen der
nicht modificirten Namen, z. B. orange und violett, ersehen können.
Die Loslösung der einzelnen Farbe von dem Object, mit welchem
sie anfänglich im Denken unmittelbar verbunden war, schritt in
dem Maasse fort, als diese Farbe in Gedanken mit andern Objecten
verbunden wurde, die vom ersten sowohl wie von einander ver
schieden waren. Der Begriff orangefarbig wurde um so vollkom
mener in abstractem Sinne gefasst, je mehr die verschiedenen in
der Erinnerung vereinigten orangefarbigen Objecte gegenseitig ihre
abweichenden Attribute aufhoben und nur ihr gemeinsames Attribut
bestehen liessen. ―― Gleiches findet sich, wenn wir eine Stufe höher
steigen und untersuchen, wie der abstracte Begriff von Farbe , un
abhängig von jeder besonderen Farbe, zu Stande kommt. Wären
alle Dinge roth , so könnte die Vorstellung von Farbe in abstracto
gar nicht existiren. Oder denken wir uns, alle Dinge wären ent
weder roth oder grün , so ist einleuchtend, dass es zur geistigen Ge
wohnheit würde, in Zusammenhang mit jedem beliebigen Gegenstand,
der erwähnt werden könnte, an die eine oder die andere dieser bei
den Farben zu denken. Man vermehre aber nur die Farben , so
dass die Gedanken unentschieden zwischen den Vorstellungen davon
hin- und herschwanken, die bei der Nennung jedes einzelnen Objectes
138 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

auftauchen, und es ergibt sich ohne weiteres der Begriff von un


bestimmter Farbe - von der gemeinschaftlichen Eigenthümlichkeit,
die den Dingen zukommt, uns durch das von ihrer Oberfläche aus
gehende Licht so gut wie durch ihre Formen zu afficiren . Denn
offenbar ist der Begriff dieser gemeinsamen Eigenschaft dasjenige,
was constant bleibt, wenn sich auch die Einbildungskraft jede irgend
mögliche Farbenschattirung ausmalt. Es ist das gleichartige Merk
mal aller farbigen Dinge, das heisst also - Farbe in abstracto. -
Wörter, die irgend eine Quantität bezeichnen, bieten uns Beispiele
einer noch schärfer ausgeprägten Loslösung des Abstracten vom
Concreten. Indem wir verschiedene Dinge als klein im Vergleich
mit solchen derselben oder einer andern Art zusammenstellen und
dasselbe mit andern Dingen thun , die uns verhältnissmässig gross
erscheinen, gewinnen wir schon die einander entgegengesetzten ab
stracten Begriffe von Kleinheit und Grösse. Da diese nun auf zahl
-
lose und sehr verschiedenartige Dinge nicht blos auf Gegenstände,
sondern auch auf Kräfte , Zeiten , Zahlen , Werthe - Anwendung
finden , so ist ihr Zusammenhang mit den concreten Begriffen so
schwach geworden, dass ihnen eine nur sehr unbestimmte abstracte
Bedeutung zukommt. - Ferner ist hier nicht zu übersehen, dass
eine auf solche Weise gebildete abstracte Idee oft eine täuschende
Unabhängigkeit erlangt, wie dies z. B. in Betreff der Bewegung
leicht ersichtlich ist , welche , in Gedanken von jedem einzelnen Kör
per, Geschwindigkeit oder Richtung losgelöst, manchmal ganz so
aufgefasst wird , als ob sie getrennt von irgend etwas sich Bewegen
dem vorgestellt werden könnte. - Dies gilt nun von den subjec
tiven Erscheinungen nicht minder wie von den objectiven, und wie
von den übrigen Bewusstseinszuständen , so auch von Emotionen,
wie sie uns durch Eigenbeobachtung zur Kenntniss kommen . Durch
Zusammenordnung jener oben beschriebenen re-repräsentativen Ge
fühle , welche trotz ihrer sonstigen Verschiedenheiten doch ein Element
gemeinsam haben, und durch die damit zusammenhängende gegen
seitige Aufhebung der abweichenden Elemente tritt jenes gemein
same Element verhältnissmässig stärker sichtbar hervor und wird
so zu einem abstracten Gefühl. Auf solche Weise entsteht nun
auch das Gefühl von moralischer Verbindlichkeit oder Pflicht. Unter
suchen wir seinen Ursprung etwas genauer.
Wir haben gesehen , dass während des Fortschritts in der Ent
wickelung der thierischen Wesen die später ausgebildeten , höher
§. 47. Der psychologische Standpunkt . 139

zusammengesetzten und mehr repräsentativen Gefühle, da sie es


möglich machen , das Handeln einem Kreise von ferner liegenden
und allgemeineren Bedürfnissen anzupassen , von jeher eine höhere
Autorität als Leiter in Anspruch genommen haben als die früher
entstandenen und einfacheren Gefühle abgesehen von den Fällen ,
wo die letzteren sehr intensiv sind . Diese höhere Autorität wird
natürlich von den niedriger stehenden Wesen, welche keiner Ver
allgemeinerungen fähig sind , gar nicht und auch von dem primitiven
Menschen mit seinem schwachen Verallgemeinerungsvermögen nur
undeutlich erkannt, kommt aber den Menschen immer klarer zum
Bewusstsein, je weiter die Civilisation und mit ihr die geistige Ent
wickelung fortgeschritten ist. Zahllos angesammelte Erfahrungen
haben die Überzeugung ausgebildet, dass die Leitung durch Gefühle,
welche sich auf entfernte und allgemeine Folgen beziehen, in der
Regel sicherer zum Wohlergehen führt als die Leitung durch Ge
fühle, die unmittelbare Befriedigung verlangen. Denn was ist das
gemeinschaftliche Merkmal der Gefühle, welche zu Ehrlichkeit , Wahr
haftigkeit, Fleiss, Vorsicht u. s. w. antreiben und welche die Men
schen gewöhnlich als bessere Antriebe erproben als die Begierden
und einfachen Reize ? Doch nur dies, dass es lauter complicirte ,
re-repräsentative Gefühle sind, die vielmehr auf die Zukunft als auf
die Gegenwart hinweisen. Und daraus erklärt es sich , warum die
Vorstellung von autoritativer Geltung sich an die durch dieses
Merkmal ausgezeichneten Gefühle angeheftet hat, worin zugleich
ausgesprochen ist , dass den niedrigeren und einfacheren Gefühlen
keine Autorität zukommt. Diese Vorstellung von autoritativer Gel
tung ist jedoch nur erst das eine Element in dem abstracten Be
wusstsein der Pflicht.
Es tritt noch ein anderes Element in dasselbe ein ―――――――― das
Element des Zwanges. Dieser entspringt aus Erfahrungen von jenen
verschiedenen Formen der Schranken , die sich , wie oben dargelegt
wurde, im Laufe der Civilisation ausgebildet haben, die staatliche,
die religiöse und die sociale. Dr. BAIN führt das Gefühl der morali
schen Verpflichtung geradezu auf die Wirkungen von Strafen zurück,
welche durch Gesetz und öffentliche Meinung für gewisse Arten
des Handelns auferlegt wurden . Und ich stimme ihm wenigstens
insofern bei, als auch ich annehme, dass durch sie das Gefühl der
inneren Nöthigung erzeugt wird , welches mit zum Bewusstsein der
Pflicht gehört und welches durch das Wort Verpflichtung angedeutet
140 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

wird. Es lässt sich aber meiner Ansicht nach die Existenz eines
noch älteren und tieferen, wie oben erwähnt entstandenen Elementes
schon aus der Thatsache erschliessen , dass auch einige der höheren
unter den auf das Ich bezüglichen Gefühlen , welche zu Klugheit
und Sparsamkeit antreiben , eine moralische Autorität gegenüber
den einfacheren Gefühlen derselben Classe besitzen, - woraus her
vorgeht, dass , auch wo gar kein Gedanke an irgendwelche willkür
liche Bestrafung der Unbedachtsamkeit mit in's Spiel kommt, das
durch die Vorstellung der natürlichen Strafen verursachte Gefühl allein
schon eine anerkannt höhere Bedeutung erlangt hat. Schliessen wir
uns jedoch immerhin im Wesentlichen der Ansicht an , dass die
Furcht vor staatlichen und socialen Strafen (wozu , wie ich glaube,
ausserdem noch die religiösen zu rechnen sind) jenes Gefühl des
Zwanges erzeugt hat, das sich an die Denkweise knüpft, welche die
Wünsche des Augenblicks denen der Zukunft und die persönlichen
Begierden den Ansprüchen Anderer gegenüber hintansetzt ; — für
uns ist es hier vielmehr hauptsächlich von Wichtigkeit, zu beachten ,
wie dieses Gefühl des Zwanges indirect mit den Gefühlen , die als
moralische zu unterscheiden sind , in Verbindung tritt. Denn da
einerseits die staatlichen , religiösen und socialen einschränkenden
Motive wesentlich aus den Vorstellungen von zukünftigen Folgen
entspringen, und da anderseits auch das moralische einschränkende
Motiv wesentlich aus einer gleichen Quelle hervorgeht , so ist es
ganz natürlich, dass, wo die einzelnen Vorstellungen so viel Gemein
sames haben und so oft zu gleicher Zeit angeregt werden , die an
drei Classen derselben sich anknüpfende Furcht durch Association
sich auch mit der vierten verknüpft. Denkt man an die äusser
lichen Folgen einer verbotenen Handlung, so ruft das eine Furcht
wach, welche dem Geiste auch dann noch vorschwebt, wenn er an
die innerlichen (naturgemäss innewohnenden) Folgen der Handlung
denkt , und welche nun , indem sie sich auf solche Weise an diese
innerlichen Folgen ankettet, ein unklares Bewusstsein von morali
scher Nöthigung verursacht. Da aber das moralische Motiv sich
nur langsam aus den staatlichen, religiösen und socialen Motiven
herausarbeitet , so klebt ihm auch noch lange jenes Bewusstsein der
Unterordnung unter ein gewisses äusseres Agens an, das mit jenen
verbunden ist ; und erst wenn es zu Selbständigkeit und Oberherr
schaft gelangt ist, verliert es dieses ihm associirte Bewusstsein -
erst dann verschwindet allmählich das Gefühl der Verpflichtung.
§. 47. Der psychologische Standpunkt . 141

Diese Bemerkung schliesst von selber eine Folgerung in sich,


die für die Mehrzahl der Leser sehr überraschend sein wird, dass
nämlich das Gefühl der Pflicht oder der moralischen Verpflichtung
etwas Vorübergehendes ist und in demselben Maasse abnehmen muss ,
als die Sittlichkeit zunimmt . So unerwartet aber diese Folgerung
auch sein mag , sie lässt sich doch ganz genügend rechtfertigen .
Wir vermögen sogar heutzutage schon den Fortschritt nach dem
darin ausgesprochenen letzten Zustande hin zu verfolgen. Es ist
eine keineswegs selten zu machende Beobachtung, dass das Beharren
in der Ausübung einer Pflicht damit endigt , dass sie zur Lust wird ,
und darin liegt im Grunde das Eingeständniss , dass , während das
Motiv ursprünglich ein zwingendes Element enthielt, dies Element
zuletzt verschwindet und die Handlung schliesslich ohne jedes Be
wusstsein einer Verpflichtung zur Ausübung derselben gethan wird .
Schon der Gegensatz zwischen dem Knaben, dem der Fleiss ein
geschärft werden muss, und dem Geschäftsmann, der so von seiner
Thätigkeit in Anspruch genommen wird , dass er kaum zur Erholung
zu bewegen ist , zeigt uns , wie die Arbeit , ursprünglich nur gethan
unter dem Druck des Bewusstseins, dass sie gethan werden müsse ,
schliesslich ganz aufhören kann , von einem solchen Bewusstsein be
gleitet zu sein. Manchmal kehrt sich ja sogar das Verhältniss um :
der Geschäftsmann beharrt bei seiner Thätigkeit aus lauter Liebe
dazu, trotzdem man ihm erklärt, dass er dies nicht thun sollte.
Und das gilt nicht etwa nur für die das eigene Ich betreffenden
Gefühle. Dass die Unterhaltung und Beschützung der Frau durch
den Mann oft ausschliesslich aus Gefühlen entspringt, welche durch
diese Handlungen unmittelbar befriedigt werden , ohne jeden Ge
danken an ein Muss , und dass die Pflege der Kinder durch die
Eltern in vielen Fällen zu einer sie ganz in Anspruch nehmenden
Beschäftigung wird , ohne irgend ein zwingendes Gefühl eines Soll,
sind allbekannte Wahrheiten, die uns beweisen, dass bei einigen der
fundamentalen auf Andere bezüglichen Pflichten schon jetzt das
Gefühl der Verpflichtung sich ganz in den Hintergrund des Geistes
zurückgezogen hat. Und in gewissem Grade ist es auch mit den
auf Andere bezüglichen Pflichten von höherer Art nicht anders .
Die Gewissenhaftigkeit hat bei Manchen bereits das Stadium über
wunden , wo sich noch das Bewusstsein einer antreibenden Macht
mit der Rechtschaffenheit des Handelns verbindet. Der wahrhaft
ehrenhafte Mensch, wie man ihm wohl hie und da begegnen mag,
142 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII .

hegt nicht nur keinen Gedanken an irgend einen gesetzlichen , reli


giösen oder socialen Zwang, wenn er einer billigen Forderung an
ihn nachkommt, sondern er denkt auch nicht einmal an einen von
ihm selbst ausgehenden Zwang . Er thut eben das Rechte mit einem
einfachen Gefühl der Befriedigung durch sein Handeln und wird
sogar ungeduldig , wenn ihn irgend etwas verhindert , sich diese
Befriedigung zu verschaffen.
Offenbar muss also gleichzeitig mit der Erreichung einer voll
kommenen Anpassung an den socialen Zustand jenes Element im
sittlichen Bewusstsein , welches durch das Wort Verpflichtung be
zeichnet wird , verschwinden. Die höheren Handlungen , welche die
harmonische Lebensführung erfordert, werden ebenso sehr selbst
verständliche Dinge sein wie jene niedrigeren Handlungen, zu denen
die einfachen Begierden antreiben. Die sittlichen Gefühle werden
den Menschen zur rechten Zeit , an der rechten Stelle und im rich
tigen Grade genau ebenso spontan und angemessen leiten , wie dies
gegenwärtig die Empfindungen thun . Und obgleich das Bewusst
sein von den Übeln , welche Ungehorsam gegen die Gefühle mit sich
bringen würde, verbunden mit ihrem regulirenden Einfluss , wenn
dieser nöthig wird, gleichsam in latenter Form fortbestehen werden,
so werden sie doch den Geist nicht mehr beschäftigen als etwa die
Vorstellung von den schlimmen Folgen der Entkräftung uns in An
spruch nimmt, wenn ein gesunder Appetit durch eine Mahlzeit ge
stillt wird.

§. 48.

Nachdem die ausserordentliche Verwickeltheit des Gegenstandes


eine so ausführliche Darlegung nöthig gemacht hat , können wir
nun die leitenden Ideen derselben folgendermaassen kurz wieder
geben.
Bezeichnen wir mit a und b zwei auf einander bezügliche Er
scheinungen in der Aussenwelt, welche auf irgend eine Weise das
Wohlergehen des Organismus beeinflussen , und bezeichnen wir ferner
mit c und d die einfachen oder zusammengesetzten Eindrücke, welche
der Organismus von der einen empfängt, und die einzelnen oder
combinirten Bewegungen, durch welche seine Thätigkeiten so ab
gemessen werden, dass sie der andern Erscheinung sich entgegen
setzen, so haben wir gesehen, dass die Psychologie im Allgemeinen
sich mit dem Zusammenhang zwischen der Relation ab und der
§. 48 Der psychologische Standpunkt . 143

Relation cd zu beschäftigen hat. Ferner haben wir gesehen, dass


dementsprechend die psychologische Seite der Ethik diejenige ist ,
von welcher aus gesehen die Anpassungen von ed an ab nicht ein
fach als eine intellectuelle Coordination erscheinen , sondern als eine
Coordination , in welcher Freuden und Leiden zugleich als Factoren
und als Resultate mitwirken.
Es wurde gezeigt , dass im Laufe der Entwickelung Motiv und
Handlung um so complicirter sich gestaltet, je weiter sich die An
passung innerer, in Relation stehender Handlungen an äussere, in
Relation stehende Vorgänge dem Umfang wie der Mannichfaltigkeit
nach ausdehnt. Und daraus ging die Folgerung hervor , dass die
später entwickelten Gefühle, welche ihrem Wesen nach mehr reprä
sentativer und re-repräsentativer Art sind und sich auf ferner
liegende und umfassendere Bedürfnisse beziehen, im Durchschnitt
eine höhere Autorität als Leiter in Anspruch nehmen können als
die früher entwickelten und einfacheren Gefühle.
Nachdem wir auf diese Weise erkannt, dass selbst ein niedrig
stehendes Geschöpf durch einen ganzen Complex von Gefühlen regiert
wird, welche so beschaffen sind , dass das allgemeine Gedeihen von
einer gewissen Unterordnung der niedrigeren unter die höheren abhängt ,
sahen wir sodann, dass beim Menschen , sobald er in den socialen.
Zustand eintritt, sich das Bedürfniss nach verschiedenen neuen Unter
ordnungen von niedrigeren unter höhere Gefühle geltend macht :
edes Zusammenwirken wird ja überhaupt erst dadurch möglich ge
macht. Zu den Schranken, welche in der geistigen Wiedergabe der
innerlichen Folgen von Handlungen bestehen und welche sich in
ihren einfacheren Formen vom ersten Anfang an zu entwickeln be
gonnen haben, treten nun noch die Schranken hinzu, welche durch
geistige Wiedergabe von äusserlichen Folgen in Gestalt von staat
lichen, religiösen und socialen Strafen hervorgerufen werden.
Mit der Entwickelung der Gesellschaft , welche erst durch ge
wisse Einrichtungen möglich wurde, wodurch sich die Ordnung auf
recht erhalten lässt und das Gefühl der Verpflichtung sich im Geiste
der Menschen mit vorgeschriebenen Handlungen und mit der Unter
lassung verbotener Handlungen verknüpft , ergaben sich auch die
Gelegenheiten, um die schlimmen Folgen zu beobachten, welche
naturgemäss aus dem verbotenen Handeln, und die guten Folgen,
welche aus dem gebotenen Handeln entspringen . Daraus entwickelte
sich schliesslich moralische Ab- und Zuneigung : die Erfahrung von
144 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VII.

den innerlichen Folgen stellte sich hier nothwendigerweise später


ein als die Erfahrung von den äusserlichen Folgen und brachte daher
auch erst später ihre Resultate hervor.
Die Gedanken und Gefühle, welche diese moralischen Ab- und
Zuneigungen ausmachen , standen natürlich durchweg in innigstem
Zusammenhang mit den Gedanken und Gefühlen , welche die Furcht
vor staatlichen , religiösen und socialen Strafen ausmachen, und so
kam es nothwendigerweise dazu , dass sie auch an dem letztere be
gleitenden Bewusstsein der Verpflichtung theilnahmen. Das zwin
gende Element im Bewusstsein der Pflicht überhaupt, das sich im
Verkehr mit äusseren Agentien , welche Pflichten auferlegen , ent
wickelt hatte, verbreitete sich nun durch Association auch durch
das im eigentlichen Sinne moralisch genannte Pflichtbewusstsein ,
welches sich nur mit innerlichen statt mit äusserlichen Folgen be
schäftigt.
Allein dieser vom Subject selbst ausgehende Zwang, welcher
auf einer verhältnissmässig hohen Stufe immer vollständiger an die
Stelle des von aussen auferlegten Zwanges tritt , muss selber auf
einer noch höheren Stufe in praktischer Hinsicht verschwinden.
Wenn irgend eine Handlung, für welche der specielle Beweggrund
nicht ausreichend wäre, doch gehorsam dem Gefühl der moralischen
Verpflichtung ausgeführt wird , so beweist diese Thatsache, dass die
besondere hier in Betracht kommende Fähigkeit ihrer Function noch
nicht gewachsen ist ―――― dass sie noch nicht die Kräftigung erlangt
hat , welche nöthig wäre , um die erforderliche Thätigkeit zur
normalen Thätigkeit zu stempeln , die ihr gehöriges Maass von
Freude mit sich bringt. Nach vollendeter Entwickelung wird also
das Gefühl der Verpflichtung für gewöhnlich nicht mehr im Be
wusstsein gegenwärtig sein und nur bei jenen aussergewöhnlichen
Gelegenheiten wachgerufen werden, wo eine Überschreitung der Ge
setze droht, denen sonst spontan Gehorsam geleistet wird .
Und damit stellt sich uns die psychologische Seite derselben
Schlussfolgerung dar , zu der wir im vorigen Capitel von ihrer
biologischen Seite aus gelangt waren . Die Freuden und Leiden,
die aus den moralischen Gefühlen entspringen, müssen gleich körper
lichen Freuden und Leiden zu Reiz- und Abschreckungsmitteln wer
den, deren Stärke den jeweiligen Bedürfnissen dergestalt angepasst
ist, dass das moralische Handeln und das natürliche Handeln eins
und dasselbe werden.
VIII. Capitel.

Der sociologische Standpunkt.

§. 49.

Nicht nur für das Menschengeschlecht , sondern für jedes Ge


schlecht von Geschöpfen bestehen gewisse Gesetze des richtigen
Lebens . Es seien die umgebenden Verhältnisse und die innere Be
schaffenheit einer beliebigen Art der lebenden Wesen gegeben , und
es kann nur eine bestimmte Gruppe von Thätigkeiten in ihrer Art,
Grösse und Zusammensetzung gerade so abgemessen sein, dass sie
den höchsten Grad der Erhaltung sicher stellt, der überhaupt ihrer
Natur nach möglich ist. Das Thier hat so gut wie der Mensch
Bedürfnisse nach Nahrung , Wärme, Thätigkeit, Ruhe u. s . w. , welche
in bestimmten relativen Graden gestillt werden müssen , um sein
Leben vollkommen zu machen . Die Erhaltung der Art bedingt
wieder die Befriedigung von andern besonderen Trieben, den Ge
schlechtsverkehr und die Pflege der Jungen betreffend, im richtigen
Maasse. Es lässt sich daher eine bestimmte Formel für die Thätig
keit jeder einzelnen Species denken , welche, wenn sie richtig auf
gestellt werden könnte, geradezu das Sittengesetz dieser Species
darstellen würde. Ein solches Sittengesetz aber würde wenig oder
gar keinen Bezug auf das Wohlergehen anderer Wesen als nur des
Einzelnen und seiner Nachkommenschaft haben. Da eines der
niedrigen Geschöpfe sich in der Regel gegen Individuen seiner eige
nen Art gleichgültig und gegen solche von andern Arten feindselig
verhält, so könnte die Formel für sein Leben auch keine Rücksicht
auf das Leben derjenigen nehmen, mit welchen es in Berührung
käme , oder es würde diese Formel vielmehr geradezu ausdrücken ,
dass die Aufrechterhaltung seines Lebens im Widerstreit stehe mit
derjenigen des Lebens der andern.
Steigen wir aber von Wesen niederer Art zu solchen der höch
sten Art, zum Menschen empor , oder genauer gesprochen vom Men
schen auf seiner vorsocialen Stufe zum Menschen auf der socialen
Stufe, so muss jene Formel noch einen ferneren Factor aufnehmen.
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 10
146 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.

Ist auch die Gegenwart dieses Factors nicht dem menschlichen


Leben in seiner entwickelten Form ausschliesslich eigenthümlich ,
so ist sie doch jedenfalls im höchsten Grade charakteristisch für
dasselbe. Wohl gibt es manche Thiere, die ein erhebliches Maass
von Geselligkeit zeigen, und es müsste also die Formel für ihr voll
kommenes Leben auch die aus ihrer Vereinigung sich ergebenden
Beziehungen berücksichtigen ; nichtsdestoweniger aber lässt sich
unsere eigene Species im grossen Ganzen dadurch kennzeichnen ,
dass sie eine Formel für das vollkommene Leben hat , welche ganz
besonders die Beziehungen des einzelnen Individuums zu den übrigen
anerkennt, in deren Gegenwart und im Zusammenwirken mit wel
chen es zu leben hat.
Dieser neue Factor in dem Problem des vollkommenen Lebens
ist in der That so wichtig , dass die dadurch nothwendig gewordenen
Abänderungen des Handelns nun einen ganz wesentlichen Abschnitt
in unserm Codex des Handelns bilden. Die vererbten Triebe , welche
sich unmittelbar auf die Erhaltung des individuellen Lebens be
ziehen , sind vollkommen genügend den Erfordernissen angepasst ,
weshalb keine Nöthigung vorlag, den Gehorsam gegen dieselben,
welcher eben die Selbsterhaltung befördert, besonders zu betonen.
Im Gegensatz dazu aber, weil diese Triebe Thätigkeiten veranlassen,
welche oft mit den Thätigkeiten Anderer in Widerstreit gerathen ,
und weil die die Ansprüche der Nebenmenschen anerkennenden Ge
fühle verhältnissmässig schwach sind , legen die Sittengesetze das
grösste Gewicht auf jene Einschränkungen des Handelns , welche
die Gegenwart der Mitmenschen bedingt .
Vom sociologischen Gesichtspunkte aus betrachtet erscheint
demnach die Ethik als nichts Anderes denn als eine bestimmte Dar
stellung der Formen des Handelns, welche für den gesellschaftlichen
Zustand geeignet sind, und zwar in der Weise, dass das Leben
jedes Einzelnen und aller Übrigen seiner Länge wie seiner Tiefe
nach so vollkommen als möglich sich gestalten kann .

§. 50.
Hier tritt uns nun aber eine Thatsache entgegen, welche uns
verbietet, das Wohlergehen der einzelnen Bürger, diese individuell
betrachtet, so sehr in den Vordergrund zu stellen, und uns nöthigt,
die Wohlfahrt der Gesellschaft als eines Ganzen hervorzuheben.
Das Leben des socialen Organismus muss als Endziel einen höhern
§. 50. Der sociologische Standpunkt . 147

Rang beanspruchen als das Leben seiner Einheiten . Diese beiden


Endziele stehen am Anfang nicht im Einklang mit einander, und
obgleich das ganze Streben darauf gerichtet ist, sie in Harmonie
zu bringen, so widerstreiten sie einander doch immer noch theil
weise.
Sobald sich der sociale Zustand hergestellt hat, erscheint auch
die Erhaltung der Gesellschaft als ein Mittel zur Erhaltung ihrer
Einheiten. Das Zusammenleben kam ja nur deshalb zu Stande ,
weil es sich für den Einzelnen im Durchschnitt vortheilhafter er
wies als das Gesondertleben , und darin liegt ausgesprochen, dass
die Aufrechterhaltung der Combination nichts weiter ist als die Auf
rechterhaltung der Bedingungen zu einem befriedigenderen Leben ,
als es die combinirten Personen sonst finden würden. Deshalb wird
die sociale Selbsterhaltung zu einem nächstliegenden Zweck, welcher
den Vorrang vor dem letzten Endzweck , der individuellen Selbst
erhaltung behauptet.
Diese Unterordnung der persönlichen unter die sociale Wohl
fahrt ist jedoch eine zufällige Erscheinung : sie hängt ab von dem
Vorhandensein von sich bekämpfenden Gesellschaften . So lange die
Existenz einer Gemeinschaft durch die Thätigkeiten der sie um
gebenden Gemeinschaften gefährdet erscheint, muss natürlich der
Satz unumstösslich gelten , dass die Interessen der Individuen inso
weit zu Gunsten der Interessen der Gemeinschaft aufzuopfern sind,
als dies zum Wohlergehen der Gemeinschaft nöthig wird. Ist aber dies
einleuchtend, so ergibt sich auch anderseits von selbst daraus, dass,
wenn solche gesellschaftliche Gegensätze aufhören , auch die Noth
wendigkeit der Aufopferung von privaten zu Gunsten von öffentlichen
Ansprüchen aufhören muss, oder vielmehr dass es dann überhaupt
keine öffentlichen Ansprüche mehr gibt, die im Widerspruch mit
privaten Ansprüchen stehen . Von jeher hat ja die Förderung des
Lebens der Individuen den letzten Endzweck gebildet , und wenn
dieser letzte Endzweck dem nächstliegenden Zwecke , nämlich das
Leben der Gemeinschaft zu erhalten, hintangesetzt wurde, so ge
schah dies nur, weil dieser nächstliegende ein Mittel zur Erreichung
des letzten Endzweckes war. Sobald das Aggregat nicht länger in
Gefahr ist, stellt sich auch der eigentliche Gegenstand alles Stre
bens , die Wohlfahrt der Einheiten , da sie nun nicht länger ver
nachlässigt zu werden braucht, als unmittelbarer Gegenstand des
Strebens dar.
10 *
148 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.

In Folge dessen ergeben sich ziemlich verschiedenartige Folge


rungen hinsichtlich des menschlichén Handelns , jenachdem wir es
mit einem Zustand gewohnheitsmässigen oder gelegentlichen Krieges
oder mit einem dauernden und allgemeinen Friedenszustand zu thun
haben. Werfen wir einen Blick auf diese beiden verschiedenen Zu
stände und die ihnen entsprechenden Ergebnisse.

§. 51.
Gegenwärtig hat der einzelne Mensch sein Leben so einzurich
ten, dass er dabei die gebührende Rücksicht auf das Leben anderer,
zu derselben Gesellschaft gehörender Individuen nimmt, während er
doch manchmal dazu aufgerufen wird, ganz rücksichtslos gegen das
Leben der Angehörigen anderer Gesellschaften zu sein. Dass ein
und derselbe geistige Organismus diese beiden Anforderungen er
füllen soll , bringt natürlich Unzuträglichkeiten mit sich , und das
hieraus entspringende Handeln , das sich erst dem einen und dann
wieder dem andern Erforderniss anpassen muss , lässt sich unmög
lich in ein consequentes ethisches System bringen.
Hasse und vernichte Deinen Nebenmenschen , gilt heute als
oberstes Gebot, und morgen wieder heisst dies Gebot : liebe Deinen
Nebenmenschen und stehe ihm bei. Benütze jedes Mittel zur
Täuschung, sagt der eine Codex des Handelns , während der andere
gebietet sei wahrhaftig in Wort und That. Raube, so viel Du
vermagst, und verbrenne , was Du nicht mitnehmen kannst , sind
Befehle, auf denen die Religion der Feindschaft mit Nachdruck be
steht, während die Religion der Liebe Diebstahl und Mordbrennerei
als Verbrechen verdammt. Wo aber das Handeln sich aus Elemen
ten zusammensetzen muss, welche dergestalt im Widerspruch mit
einander stehen, da herrscht natürlich auch in der Theorie des Han
delns unheilbare Verwirrung.
Eine ähnliche Unvereinbarkeit besteht auch zwischen den Ge
fühlen , welche den für kriegerische , beziehungsweise industrielle
Verhältnisse erforderlichen Formen des Zusammenwirkens entsprechen.
So lange sociale Kämpfe noch häufig vorkommen und zum erfolg
reichen Auftreten gegen andere Gesellschaften eine vollständige
Unterordnung unter den Willen der Befehlenden nöthig erscheint,
muss die Tugend der Unterthanentreue und die Pflicht des unbe
dingten Gehorsams hochgehalten werden : Nichtbeachtung des Willens
des Herrschenden wird sogar mit dem Tode bestraft. Ist der Krieg
§. 51. Der sociologische Standpunkt . 149

aber nicht mehr ein chronischer Zustand und hat der Industrialis
mus die Menschen daran gewöhnt , unter gebührender Rücksicht
auf die Rechte der Andern ihre eigenen Ansprüche aufrecht zu er
halten, — dann ist auch die Loyalität nicht mehr so unterthänig,
die Autorität des Herrschers wird hinsichtlich verschiedener privater
Thätigkeiten und Ansichten in Frage gestellt oder geradezu verneint ,
der Dictatur des Staates wird da und dort mit Erfolg Trotz ge
boten und die politische Unabhängigkeit des Bürgers erringt sich
immer mehr die Anerkennung , dass es tugendhaft ist, dieses Recht
festzuhalten, und schmählich , es aufzugeben . Während des Über
gangs aber vermischen sich nothwendig diese entgegengesetzten Ge
fühle in ganz widerspruchsvoller Weise .
Dasselbe zeigt sich auch bei den häuslichen Einrichtungen unter
den beiderlei Régimes. So lange das erstere herrschend ist, gilt der
Besitz eines Sclaven durchaus für ehrenvoll , und dem Sclaven wird
Unterwürfigkeit zum Lobe angerechnet ; gewinnt aber das zweite
Régime die Oberhand , so wird das Sclavenhalten zum Verbrechen
und serviler Gehorsam erregt nur noch Verachtung . Und nicht
anders ist es auch innerhalb der Familie. So lange der Krieg vor
waltet, ist die Unterordnung des Weibes unter den Mann eine voll
ständige , sie mildert sich aber, sobald friedliche Beschäftigungen
an die Stelle desselben treten , und schliesslich wird sie als ein
Unrecht aufgefasst und Gleichberechtigung vor dem Gesetz wird
anerkannt. Zu gleicher Zeit ändern sich auch die Ansichten über
die väterliche Gewalt. Das früher unbezweifelte Recht des Vaters,
selbst über Leben und Tod seiner Kinder zu verfügen , wird ab
geschafft und die Pflicht der absoluten Unterwerfung unter seinen
Willen, an der man noch lange festhielt, verwandelt sich allmäh
lich in die Pflicht des Gehorsams innerhalb vernünftiger Grenzen .
Wäre das Verhältniss zwischen dem Leben des Kampfes mit
fremden Gesellschaften und dem Leben des friedlichen Zusammen
wirkens innerhalb der einzelnen Gesellschaft ein constantes, so möchte
sich irgend ein dauernder Compromiss zwischen den widerstreiten
den, dem einen und dem andern Leben angepassten Gesetzen des
Handelns am Ende wohl erreichen lassen . Da aber jenes Verhält
niss beständig wechselt, so kann auch der Compromiss immer nur
zeitweilig gültig sein. Fortwährend macht sich das Streben nach
Übereinstimmung zwischen Ansichten und Forderungen geltend.
Entweder werden die socialen Einrichtungen allmählich umgestaltet ,
150 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.

bis sie mit den herrschenden Ideen und Gefühlen in Harmonie stehen,
oder wenn die Bedingungen der Umgebung eine Umgestaltung der
socialen Einrichtungen verhindern , so modificiren die durch Noth
wendigkeit erzeugten Lebensgewohnheiten die herrschenden Gefühle
und Ideen im erforderlichen Maasse . Daher gibt es für jede Art
und jeden Grad der socialen Entwickelung , welche jeweils wieder
durch Feindschaft nach aussen und Freundschaft im Innern bedingt
werden, einen gerade dafür geeigneten Compromiss zwischen den
Sittengesetzen der Feindschaft und der Freundschaft ―――― einen Com
promiss, der natürlich nicht bestimmt definirbar und durchaus con
sequent ist, über den man sich aber doch ganz wohl verständigt .
Dieser Compromiss , so schwankend , zweifelhaft und unlogisch
er auch sein mag, hat nichtsdestoweniger jedesmal für seine Zeit
autoritative Geltung. Denn wenn, wie oben gezeigt wurde, wäh
rend aller der Stadien, wo die Individuen noch sich selbst durch
Schützung der Gesellschaft schützen müssen , die Wohlfahrt der
letzteren den Vorrang vor derjenigen ihrer einzelnen Glieder be
ansprucht, so dient offenbar ein solcher zeitweiliger Compromiss
zwischen den beiden Sittengesetzen im höchsten Grade zur Erhal
tung des Lebens , der die äussere Vertheidigung gehörig berücksich
tigt und doch zugleich das innere Zusammenwirken bis zum thun
lich grössten Umfang begünstigt , - und damit hat er von selbst
die höchste Sanction erlangt. Die verworrenen und widerspruchs
vollen Moralsysteme, deren uns jede Gesellschaft und jedes Zeitalter
einen mehr oder weniger zutreffenden Typus liefert, erscheinen also
hienach doch sämmtlich vollkommen gerechtfertigt, indem sie jeweils
unter den gegebenen Verhältnissen annähernd das Bestmögliche dar
stellen.
Solche Moralsysteme entsprechen aber, wie eben schon ihre De
finition zeigt, nur dem unvollkommenen Handeln, nicht dem, wel
ches die höchste Entwickelungsstufe erreicht hat. Wir sahen , dass
die Anpassungen von Handlungen an Zwecke, aus welchen einmal
die äusseren Kundgebungen des Lebens bestehen, welche aber zu
gleich auch die Fortdauer des Lebens möglich machen, sich bis zu
einer gewissen idealen Form aufgeschwungen haben , der sich der
civilisirte Mensch jetzt allmählich annähert . Diese Form kann
jedoch nicht wirklich erreicht werden , so lange noch Angriffe der
einen Gesellschaft auf die andere stattfinden . Ob die Ursachen,
welche das vollkommene Leben hemmen , auf den Übertretungen der
§. 52. Der sociologische Standpunkt . 151

Mitbürger oder der Angehörigen fremder Völker beruhen, ist hier


ganz gleichgültig : wo solche überhaupt vorkommen, da herrscht
noch nicht jener definitive Zustand. Die oberste Grenze der Ent
wickelung des Handelns kann von den Gliedern jeder einzelnen Ge
sellschaft erst dann erreicht werden , wenn die Glieder der übrigen
Gesellschaften sie gleichfalls erreichen und damit die Ursachen
internationaler Gegensätze gleichzeitig mit den Ursachen zum Streit
zwischen den Individuen aufhören.
Und nun, da wir vom sociologischen Gesichtspunkt aus die
Nothwendigkeit und auch die innere Berechtigung dieser wechseln
den ethischen Systeme erkannt haben , die stets dem wechselnden
Verhältniss zwischen kriegerischen und friedlichen Thätigkeiten an
gemessen sind , liegt uns zunächst ob, von demselben Gesichtspunkt
aus dasjenige ethische System näher zu betrachten , welches einem
Zustand entspricht, wo die friedlichen Thätigkeiten ohne jede Störung
vor sich gehen .

§. 52.

Wenn wir jeden Gedanken an Gefahren oder Hindernisse von


Seiten der ausserhalb einer Gesellschaft wirksamen Ursachen aus
schliessen und uns nur damit beschäftigen , die Bedingungen zu er
mitteln, unter welchen das Leben jeder einzelnen Person und damit
auch das Leben des ganzen Aggregats den denkbar grössten Betrag
erreichen kann , so gelangen wir zu gewissen höchst einfachen Re
sultaten, die so, wie sie hier dargestellt werden sollen, sogar als
blosse Gemeinplätze erscheinen.
Denn wie wir gesehen haben , schliesst die Definition jenes
höchsten Lebens , das ein vollkommen entwickeltes Handeln be
gleitet, an sich schon jeden Act des Angriffs aus - nicht nur
Mord , Überfall, Raub und schwerere Vergehen überhaupt, sondern
auch leichtere Übergriffe , wie etwa schriftliche Schmähung, Be
schädigung fremden Eigenthums u. s. w. Indem solche Handlungen
unmittelbar das individuelle Leben benachtheiligen, bringen sie auch
indirect Störungen des socialen Lebens hervor. Eingriffe in die Rechte
Anderer veranlassen diese zum Widerstand dagegen, und je häufiger
solches vorkommt , desto mehr verliert die ganze Gruppe an innerem
Zusammenhang . Mag man also die Integrität der Gruppe selbst
als Endzweck ansehen oder als solchen die Vortheile hinstellen ,
welche in letzter Linie ihren Einheiten durch Behauptung ihrer
152 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.

Integrität gesichert werden , oder endlich den unmittelbaren Nutzen


ihrer Einheiten für sich betrachtet hiefür gelten lassen wollen, das
Ergebniss bleibt stets dasselbe : solche Handlungen stehen im Gegen
satz zur Erreichung des Endzweckes . Dass diese Folgerungen eigent
lich selbstverständlich und abgedroschen sind (wie es übrigens die
ersten aus den Thatsachen jeder Wissenschaft, welche das deductive
Stadium erreicht, gezogenen Folgerungen der Natur der Sache nach
stets sein müssen) , darf uns nicht dazu verleiten, leichthin über die
hochwichtige Thatsache hinwegzugehen, dass sich vom sociologischen
Gesichtspunkt aus die wesentlichsten Moralgesetze als Folgerungen
aus der Definition des unter socialen Verhältnissen geführten voll
kommenen Lebens darstellen .
Die Achtung vor diesen primären Moralgesetzen ist jedoch noch
nicht ausreichend . Wenn Menschen gesellig leben und jeder seine
Einzelexistenz bewahrt, ohne die andern zu schädigen , aber auch
ohne ihnen zu helfen , so ziehen sie keinerlei Vortheile aus ihrer
Geselligkeit ausser dem des Zusammenseins. Wenn ein Zusammen
wirken nicht nur für Vertheidigungszwecke (welches hier nach un
serer Voraussetzung ausgeschlossen ist), sondern auch zur Befrie
digung von Bedürfnissen unterbleibt, so verliert der sociale Zustand
damit seine raison d'être - wenigstens beinah , wenn nicht ganz.
Es gibt allerdings Völker , die in einer Verfassung leben , welche
sich kaum über diesen Zustand erhebt , wie die Eskimos. Allein
obgleich diese nichts von einem Zusammenwirken zeigen , wie es der
Krieg nöthig machen würde , der ihnen ganz unbekannt ist, und
sie im übrigen so leben, dass jede Familie in Wirklichkeit von den
andern unabhängig ist , kommt doch gelegentlich ein Zusammenwirken
vor. In der That ist es ja auch kaum denkbar, dass mehrere Fa
milien in Gemeinschaft leben sollten , ohne sich je gegenseitig Hülfe
zu leisten .
Nichtsdestoweniger müssen wir hier einen Zustand, in welchem
diese primären Moralgesetze allein befolgt werden, mag derselbe
nun wirklich oder nur näherungsweise vorkommen , als hypothetisch
möglich voraussetzen, um untersuchen zu können, welches die nega
tiven Bedingungen eines harmonischen socialen Lebens in ihren ein
fachsten Formen sind . Mögen die Glieder einer socialen Gruppe
zusammenwirken oder nicht, jedenfalls werden gewisse Einschrän
kungen ihrer individuellen Thätigkeiten durch ihre gesellige Ver
einigung bedingt ; und wenn wir erkannt haben, wie diese ohne jedes
§. 53. Der sociologische Standpunkt . 153

Zusammenwirken nothwendig werden , so sind wir dann um so besser


darauf vorbereitet , zu begreifen , wie die Unterordnung unter die
selben zu Stande kommt, wo das Zusammenwirken beginnt.

§. 53.
Denn ob nun die Menschen ganz unabhängig von einander zu
sammenleben und es blos vermeiden , sich gegenseitig anzugreifen,
oder ob sie sich von passiver zu activer Association erheben und
irgendwie zusammenwirken , jedenfalls muss ihr Handeln der Art
sein, dass die Erreichung von Zwecken durch jeden Einzelnen wenig
stens nicht gehemmt wird. Und es ist auch einleuchtend , dass ,
wenn sie zusammenwirken, nicht allein keine Hemmung daraus ent
springen darf, sondern irgend eine Erleichterung damit gegeben sein
muss , da ja ohne die letztere jeder Beweggrund zum Zusammen
wirken fehlen würde. Welche Gestalt also müssen die gegenseitigen
Schranken annehmen , wenn das Zusammenwirken beginnt ? oder
besser welches sind neben den bereits erörterten primären jene
secundären gegenseitigen Schranken , die nöthig sind, um ein Zu
sammenwirken möglich zu machen ?
Jemand, der bei ganz isolirter Lebensweise zur Erreichung eines
bestimmten Zweckes eine Anstrengung macht, erhält sein Entgelt
für die Anstrengung darin, dass er seinen Zweck erreicht, und so
findet er Befriedigung . Hat er die Anstrengung gemacht, ohne da
mit seinen Zweck zu erreichen , so entsteht daraus Nichtbefriedigung.
Die Befriedigung und die Nichtbefriedigung bilden das Maass für
Erfolg und Misserfolg bei zur Erhaltung des Lebens dienenden Hand
lungen, indem das , was hier durch eine Anstrengung erzielt wird ,
etwas ist , was unmittelbar oder mittelbar das Leben fördert und
so die Kosten für die Anstrengung aufwiegt, während , wenn diese
vergeblich war, Nichts für diesen Aufwand entschädigen kann, also
so viel Leben geradezu vernichtet worden ist. Was muss sich nun
hieraus ergeben, wenn die Anstrengungen der Menschen sich ver
einigen ? Die Antwort wird klarer ausfallen, wenn wir die succes
siven Formen des Zusammenwirkens in der Reihenfolge ihrer zu
nehmenden Complicirtheit aufzählen . Wir können 1) als homogenes
Zusammenwirken dasjenige bezeichnen, wo gleiche Anstrengungen
sich für gleiche Endzwecke vereinigen, die auch sofort und gleich
zeitig genossen werden. Als Zusammenwirken , das nicht voll
kommen homogen ist, unterscheiden wir 2 ) die Form , wo gleiche
154 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.

Anstrengungen sich für gleiche Endzwecke vereinigen, die aber nicht


gleichzeitig genossen werden. Ein Zusammenwirken, dessen heterogene
Natur deutlicher hervortritt, ist es 3) wenn sich verschiedenartige
Anstrengungen für gleiche Zwecke vereinigen . Und zuletzt kommt
4) das entschieden heterogene Zusammenwirken, in welchem sich
verschiedene Anstrengungen für verschiedene Zwecke vereinigen .
Die älteste und einfachste dieser Formen, wo sich die der Art
und dem Grade nach ähnlichen Kräfte von Menschen im Streben
nach einem Vortheil verbinden, an welchem, wenn er errungen ist,
jeder seinen Antheil bekommt , findet ihr nächstliegendes Beispiel
-
im Erjagen einer Beute durch primitive Menschen eine einfache
und alte Form des industriellen Zusammenwirkens , welche zugleich
am wenigsten vom kriegerischen Zusammenwirken differencirt ist:
die Mitwirkenden sind in beiden Fällen dieselben , und die beidemal
auf Zerstörung von Leben abzielenden Thätigkeiten werden in ähn
licher Weise ausgeführt . Die Bedingung, unter welcher allein ein
solches Zusammenwirken erfolgreich stattfinden kann , ist die , dass
die Zusammenwirkenden sich gleichmässig in das Errungene theilen .
Indem so ein Jeder in den Stand gesetzt wird , sich durch Speise
für die aufgewendete Anstrengung zu entschädigen und ausserdem
noch andere begehrenswerthe Zwecke zu erreichen , wie den Unter
halt der Familie aufzubringen, erlangt er volle Befriedigung ; es
findet kein Angriff des einen auf den andern statt und das Zusammen
wirken ist harmonisch . Natürlich kann die Vertheilung der Er
rungenschaft nur ungefähr nach den Anstrengungen der Einzelnen
abgemessen werden, die sich zur Erlangung derselben verbanden ;
aber doch finden wir in Wirklichkeit bei den Wilden , wie es auch
nicht anders sein kann, wenn harmonisches Zusammenwirken statt
finden soll, eine gewisse Anerkennung des Princips, dass auc die
vereinigten Anstrengungen jedem Einzelnen einen entsprechenden
Vortheil verschaffen müssen , wie er ihm zugefallen wäre, wenn er
allein gearbeitet hätte. Überdies ist , abgesehen davon, dass Alle
als Entgelt für ihre Bemühungen, die annähernd gleich sind, auch
einen gleichen Antheil an der Beute bekommen , ziemlich allgemein
noch das Bestreben vorhanden, den Nutzen mit dem Verdienste in's
richtige Verhältniss zu setzen , indem irgend etwas Aussergewöhn
liches , z. B. in Gestalt des besten Stückes oder der Jagdtrophäe ,
dem eigentlichen Erleger des Wildes zuerkannt wird. Wo aber
eine erhebliche Abweichung von diesem System der Theilung des
§. 53. Der sociologische Standpunkt. 155

Nutzens , nachdem man sich in die Arbeit getheilt hatte, einreissen


sollte, da muss offenbar das Zusammenwirken bald ein Ende finden.
Jeder einzelne Jäger wird es dann vorziehen , für sich allein sein
Glück zu versuchen.
Gehen wir nun von diesem einfachsten Falle des Zusammen
wirkens zu einer etwas verwickelteren Erscheinung über einer
Erscheinung, wo die homogene Natur der Factoren gestört ist —
so erhebt sich zunächst die Frage, was wohl ein Glied der socialen
Gruppe dazu bestimmen kann , ohne Missbefriedigung sich um die
Erreichung eines Vortheils zu bemühen, der, wenn er erreicht ist ,
ausschliesslich einem Andern zu gute kommt. Unter der Bedingung
natürlich wird er es wohl thun können, wenn der Andere später
eine gleiche Anstrengung macht , deren vortheilhaftes Ergebniss
wiederum als Entgelt ihm zufallen soll. Dieser Austausch von
äquivalenten Anstrengungen ist in der That die Form , welche das
sociale Zusammenwirken annimmt, wo noch keine oder nur erst
geringe Arbeitstheilung besteht ausser derjenigen zwischen den bei
den Geschlechtern. Die Bodo und Dhimals z. B. stehen einander
"7 bei verschiedenen Gelegenheiten gegenseitig bei , beim Bau ihrer
" Hütten sowohl als beim Behacken ihres Landes, um es zu bebauen . "
Und dieses Princip : ich will Dir helfen, wenn Du mir helfen willst
— das in einfachen Gemeinschaften herrscht, wo die Beschäftigungen
Aller von gleicher Art sind , und das gelegentlich auch noch in
weiter vorgeschrittenen Gemeinschaften befolgt wird, kennzeichnet
sich nun dadurch, dass unter seinem Einfluss das Verhältniss zwi
schen Anstrengung und Vortheil nicht mehr direct, wohl aber in
direct aufrecht erhalten wird. Denn während jede Anstrengung da,
wo die Menschen ihre Thätigkeiten einzeln für sich ausführen oder
dieselben in der oben erörterten Weise verbinden , unmittelbar in
irgend einem Nutzen ihren Lohn findet , wird bei dieser Art des
Zusammenwirkens der durch die Anstrengung erlangte Vortheil gegen
einen gleichen Vortheil ausgetauscht, dessen man sich später erfreut ,
wenn man ihn brauchen kann. Und in diesem wie im vorigen Falle
kann das Zusammenwirken natürlich nur unter der Bedingung von
Dauer sein , wenn die stillschweigend getroffenen Vereinbarungen
wirklich eingehalten werden . Denn wo die Nichterfüllung derselben
zur Regel werden sollte, da würde wohl auch gewöhnlich jede Hülfe
verweigert werden , wenn sie einer in Anspruch nehmen will, und
jeder Einzelne bliebe sich selbst überlassen, es zu treiben, so gut
156 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.

er eben kann . Alle die Errungenschaften, die den Menschen erst


erreichbar werden, wenn sie ihre Anstrengungen bei der Ausführung
von Arbeiten vereinigen , welche die Kräfte des einzelnen Individuums
übersteigen, würden unerreichbar bleiben. Von Anfang an also er
scheint Erfüllung der Verträge , die wenn auch nicht bestimmt
formulirt, so doch allgemein anerkannt sind , als Vorbedingung für
sociales Zusammenwirken und damit auch für jede sociale Ent
wickelung.
Von diesen einfachen Formen des Zusammenwirkens, welche
die von Menschen ausgeführten Arbeiten gleicher Art umfassen ,
wollen wir uns nun zu den verwickelteren Formen wenden, in denen
sie Arbeiten verschiedener Art ausführen. Wo die Menschen sich
gegenseitig beim Aufbau ihrer Hütten oder beim Fällen der Bäume
unterstützen, da lässt sich die Zahl der Arbeitstage, welche jetzt
der eine dem andern widmet, mit Leichtigkeit durch dieselbe Zahl
von Arbeitstagen ausgleichen, während deren später der erstere vom
letzteren Hülfe empfängt. Und da es keiner Abschätzung des rela
tiven Werthes der geleisteten Arbeiten bedarf, so macht sich kaum
eine bestimmte Übereinkunft deswegen nothwendig . Sobald aber
eine gewisse Theilung der Arbeit eingetreten ist ―――― sobald sich ein
Wechselverkehr entspinnt zwischen diesem , welcher Waffen ver
fertigt, und jenem, der Felle zur Kleidung zurechtmacht, oder zwi
schen einem Wurzelgräber und einem Fischer ―――― ist weder die
relative Grösse noch die relative Qualität ihrer Leistungen mehr
so leicht zu bemessen , und mit der Vermehrung der Geschäfte und
der Ausbildung zahlreicher und verschiedenartiger Geschicklichkeiten
und Kräfte hört auch jede Art von erkennbarer Gleichwerthigkeit, sei
es zwischen den einander gegenüberstehenden körperlichen und geisti
gen Anstrengungen, sei es zwischen ihren Erzeugnissen, völlig auf.
Es kann daher das Abkommen nicht mehr als feststehend an
genommen werden, wie als die gegenseitig ausgetauschten Werthe
noch gleicher Art waren : es muss also erst festgesetzt werden .
Wenn A dem B gestattet, sich ein Erzeugniss seiner ihm eigen
thümlichen Geschicklichkeit anzueignen, unter der Bedingung, dass
ihm gestattet werde, sich in den Besitz eines andersartigen Erzeug
nisses von B's specieller Geschicklichkeit zu setzen, so ist selbst
verständlich, weil sich doch gleichwerthige Beträge der beiderlei
Erzeugnisse nicht durch unmittelbare Vergleichung ihrer Quantitäten
und Qualitäten ermitteln lassen , dass eine ausdrückliche Verstän
§. 54. Der sociologische Standpunkt . 157

digung darüber stattfinden muss , wie viel von dem einen als Ent
gelt für eine bestimmte Menge des andern in Anschlag gebracht
werden darf.
Nur nach freiwilliger Übereinkunft also, die nicht mehr still
schweigend und unbestimmt sein darf, sondern ausdrücklich und
klar formulirt wird , kann ein harmonisches Zusammenwirken Bestand
haben, nachdem einmal Theilung der Arbeit eingetreten ist. Und
wie schon in der einfachsten Form desselben, wo gleiche Arbeits
leistungen sich vereinigen, um einen gemeinsamen Nutzen zu er
ringen, die Missstimmung, welche in Jedem hervorgerufen wird , der
nach Aufwendung seiner Kräfte nicht seinen billigen Antheil an
dem erlangten Gut erhält , ihn auch veranlasst, das Zusammenwirken
ganz aufzugeben ; wie auch in der weiter vorgeschrittenen Form ,
welche im Austausch von gleich grossen , aber zu verschiedenen Zeiten
geleisteten Arbeiten ähnlicher Art besteht, eine Abneigung gegen
jedes Zusammenwirken die Folge ist, wenn das erwartete Äquivalent
von Arbeit nicht geleistet wird , so muss in dieser hoch entwickel
ten Form die Weigerung des Einen , dem Andern das zu übergeben ,
was ausdrücklich als gleichwerthig mit der geleisteten Arbeit oder
dem gelieferten Erzeugniss anerkannt war, darauf hinauslaufen, dass
jedes Zusammenwirken unterbleibt, weil Unzufriedenheit mit den
Resultaten desselben sich einstellte. Und offenbar wird durch der
gestalt hervorgerufene Gegensätze nicht blos das Leben der socialen
Einheiten gehemmt, sondern auch das Leben des socialen Aggregates
selbst wird durch die Lockerung seines inneren Zusammenhangs
gefährdet.

§. 54.

Abgesehen von diesen verhältnissmässig direct fühlbaren Nach


theilen specieller und allgemeiner Art kommen aber auch noch in
directe Nachtheile in's Spiel. Wie schon in den Erörterungen des
letzten Paragraphen angedeutet war, wird durch Bruch der Verträge
nicht blos die sociale Integration , sondern auch die sociale Differen
cirung verhindert.
Im II. Theil der „ Principien der Sociologie " wurde gezeigt,
dass die fundamentalen Gesetze der Organisation für einen socialen
Organismns dieselben sind wie für einen individuellen Organismus ,
da beide aus gegenseitig von einander abhängigen Theilen bestehen.
Im einen wie im andern Falle wird die Übernahme verschiedener
158 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.

Thätigkeiten durch die denselben zusammensetzenden Glieder nur


unter der Bedingung möglich , dass jedes einzelne in gehörigem
Maasse aus den Thätigkeiten der übrigen Vortheil zieht. Um nun
besser übersehen zu können , was sich hieraus in Bezug auf sociale
Gebilde ergibt, wollen wir zunächst die Folgerungen in Betreff eines
individuellen Gebildes besprechen .
Das Wohlergehen eines lebenden Körpers setzt ein annähern
des Gleichgewicht zwischen Verbrauch und Ersatz voraus. Wenn
die Thätigkeiten eine Ausgabe nothwendig machen , die nicht durch
die Nahrungsaufnahme wieder ausgeglichen wird , so folgt eine
Schwächung des Körpers daraus. Sind aber die Gewebe im Stande,
aus dem durch Nahrungsbestandtheile bereicherten Blut eine ge
nügende Menge geeigneter Stoffe aufzunehmen, um diejenigen zu
ersetzen, welche bei den gehabten Anstrengungen verbraucht wurden ,
so kann das Gewicht des Ganzen unverändert erhalten bleiben. Und
übersteigt der Gewinn den Verlust , so ist Wachsthum die Folge.
Was vom Ganzen in seinen Beziehungen zur Aussenwelt gilt,
das trifft nicht minder von den Theilen in ihren Beziehungen zu
einander zu . Jedes Organ unterliegt gleich dem gesammten Organis
mus bei der Ausübung seiner Function einem gewissen Verbrauch
und muss sich dann aus den ihm zugeführten Stoffen wieder er
gänzen. Ist die Menge des durch die vereinte Thätigkeit der übri
gen Organe gelieferten Materials zu gering, so nimmt das betreffende
Organ ab. Sind sie hinreichend, so kann es seine Integrität auf
recht erhalten . Sind sie im Überschuss vorhanden , so ist es in der
Lage , zu wachsen. Wenn wir sagen wollten , diese Einrichtung
stelle den physiologischen Vertrag dar , so würden wir uns eines
bildlichen Ausdrucks bedienen , der zwar nicht dem Augenschein,
wohl aber dem Wesen nach zutrifft . Denn die Beziehungen der
einzelnen Gebilde sind in der That der Art, dass mit Hülfe eines
centralen Regulirungssystems jedes Organ entsprechend der von ihm
geleisteten Arbeit mit Blut versorgt wird. Wie früher auseinander
gesetzt wurde (Principien der Sociologie , §. 254) , sind wohlaus
gebildete Thiere so beschaffen, dass jeder Muskel oder jedes Ein
geweide, wenn es in Thätigkeit gesetzt wird, den vasomotorischen
Centren durch bestimmte Nervenfasern einen durch die Thätigkeit
selbst verursachten Impuls zusendet, worauf durch andere Nerven
fasern ein Impuls zurückkommt , welcher eine Erweiterung seiner
Blutgefässe hervorruft . Mit andern Worten , wenn alle übrigen
§. 54. Der sociologische Standpunkt . 159

Theile des Organismus dieses eine Organ gemeinschaftlich zur Arbeit


nöthigen, so beginnen sie auch sofort es in Blut zu bezahlen. Im
gewöhnlichen Zustande des physiologischen Gleichgewichts halten
sich Gewinn und Verlust die Wage und das Organ erleidet keine
merkbare Veränderung. Wird der Betrag seiner Leistung inner
halb so mässiger Grenzen gesteigert, dass die localen Blutgefässe
eine in gleichem Maasse vergrösserte Zufuhr zu liefern vermögen ,
so wächst das Organ : es ersetzt nicht blos seine Verluste durch
seine Gewinne, sondern macht auch noch einen Profit bei seinen
aussergewöhnlichen Unternehmungen und wird so durch Extra-Ein
richtungen in den Stand gesetzt, Extra-Anforderungen zu genügen .
Werden aber die an dasselbe gestellten Anforderungen so gross ,
dass die Zufuhr von Material nicht mit der Ausgabe Schritt halten.
kann, sei es weil die localen Blutgefässe nicht weit genug sind ,
sei es aus irgend einem andern Grunde , so beginnt das Organ
wegen Überwiegens des Verbrauches über den Ersatz zu schwinden :
es stellt sich jener Process ein, der als Atrophie bezeichnet wird .
Da nun jedes einzelne Organ von Seiten der übrigen für seine
Dienste in Nahrung ausgezahlt werden muss , so ist klar , dass
eine gehörige Ausgleichung der Ansprüche und Bezahlungen aller
durchaus nothwendig ist , direct zum Wohle jedes Organs und in
direct zum Wohle des Organismus. Denn in einem aus gegenseitig
von einander abhängigen Theilen bestehenden Ganzen wirkt Alles ,
was einen einzelnen Theil an der richtigen Erfüllung seiner Auf
gabe verhindert , nachtheilig auf sämmtliche Theile zurück .
Mit geringen Änderungen der Ausdrücke werden diese Sätze
und Folgerungen auf eine Gesellschaft anwendbar. Jene sociale
Theilung der Arbeit, welche in so vielen andern Hinsichten mit der
physiologischen Theilung der Arbeit parallel geht , thut dies auch
in der genannten Hinsicht. Wie im II. Theil der " Principien der
Sociologie " ausführlich dargelegt wurde , kann jede Classe von
Beamten und jede Gruppe von Producenten , deren jede eine bestimmte
Thätigkeit ausführt oder einen besondern Artikel verfertigt , und zwar
nicht zur directen Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse , sondern zur
Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitbürger im Allgemeinen , die
wieder anderweitig beschäftigt sind , diese Leistungen nur so lange
fortsetzen, als die Ausgaben der Arbeit und die Erträgnisse des
Nutzens annähernd gleichwerthig sind. Sociale so gut wie indivi
duelle Organe bleiben unverändert, so lange ihnen die normale Menge
160 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.

von durch die Gesellschaft als Ganzes hervorgebrachten Mitteln zum


Lebensunterhalt zukommt. Wenn an einen bestimmten Industrie
oder Berufszweig aussergewöhnliche Anforderungen gestellt werden
und diejenigen , welche sich demselben gewidmet haben , übergrosse
Gewinne erzielen, so strömen ihm bald mehr Menschen zu und das
aus seinen Mitgliedern sich zusammensetzende sociale Gebilde wächst
also, während umgekehrt eine Abnahme der Anforderungen und da
mit auch der Gewinne entweder seine Mitglieder veranlasst, andere
Zweige zu ergreifen , oder wenigstens den zum Ersatz der Gestor
benen nöthigen Zugang neuer Mitglieder hemmt, so dass das sociale
Gebilde an Umfang abnimmt. Auf diese Weise erhält sich von
selbst dasjenige Verhältniss zwischen den Kräften der einzelnen
Theile ufrecht , welches am meisten zur Wohlfahrt des Ganzen
dient.
Und nun sei hervorgehoben, dass die erste Bedingung zur Er
reichung dieses Resultates Erfüllung der Verträge ist. Wenn den
Gliedern irgend einer Gruppe häufig ihre Bezahlung vorenthalten
wird oder wenn dieselbe hinter der versprochenen Höhe zurückbleibt,
so dass die einen hiedurch zu Grunde gerichtet, die andern zum
Aufgeben dieser Beschäftigung veranlasst werden , so nimmt damit
diese Gruppe ab, und wenn sie bis dahin nur eben ihrer Aufgabe
gewachsen war, so wird sie nun unfähig zur Erfüllung derselben
und die ganze Gesellschaft leidet darunter. Oder wenn sociale Be
dürfnisse eine erhebliche Steigerung der Functionen eines Theiles
herbeiführen und die Glieder desselben in die Lage kommen , für
ihre Leistungen aussergewöhnlich hohe Preise zu erlangen , so bildet
die Erfüllung des Versprechens , ihnen diese hohen Preise zu be
zahlen , das einzige Mittel, um so viel neue Glieder nach diesem
Theil herüberzuziehen, dass er nun den gesteigerten Anforderungen
gewachsen ist. Denn keines der Mitglieder wird sich ihm zuwenden
wollen , wenn es findet, dass die vereinbarten hohen Preise doch
nicht bezahlt werden.
Kurz gesagt also , die universale Grundlage jedes Zusammen
wirkens ist die Innehaltung eines richtigen Verhältnisses der em
pfangenen Vortheile zu der geleisteten Arbeit. Ohne diese ist keine
physiologische Arbeitstheilung möglich und ohne diese ist auch keine
sociologische Arbeitstheilung möglich. Und da physiologische so
wohl wie sociologische Arbeitstheilung dem Ganzen und jedem ein
zelnen Theile zum Vortheil gereicht, so folgt daraus, dass von der
§. 55. Der sociologische Standpunkt. 161

Aufrechterhaltung der für dieselbe unumgänglichen Einrichtungen


sowohl das specielle als das allgemeine Wohlergehen abhängt. In
einer Gesellschaft nun bleiben solche Einrichtungen nur so lange
bestehen, als die ausdrücklich oder stillschweigend getroffenen Ver
einbarungen wirklich ausgeführt werden . Zu dem primären Er
forderniss eines harmonischen Zusammenlebens in einer Gesellschaft ,
dass nämlich ihre Einheiten nicht direct einander angreifen dürfen,
gesellt sich nun also noch dies zweite Erforderniss , dass sie einan
der auch nicht indirect durch Vertragsbruch angreifen sollen.

§. 55 .
Es ist jedoch vor Allem die Thatsache anzuerkennen, dass eine
vollständige Erfüllung dieser ursprünglichen und abgeleiteten Be
dingungen noch keineswegs genügt. Es mag wohl ein sociales Zu
sammenwirken von der Art geben, dass Keiner an der Erlangung
des normalen Ertrages seiner Anstrengungen verhindert, sondern im
Gegentheil durch entsprechende Gegenleistungen darin gefördert wird ,
und trotzdem bleibt hier noch viel zu thun übrig. Es gibt eine
theoretisch mögliche Form einer Gesellschaft , deren Thätigkeiten
rein industriellen Charakter zeigen , welche aber , obgleich sie in
ihrem Sittengesetz dem sittlichen Ideal näher kommt als irgend
eine andere Gesellschaft von nicht rein industriellem Charakter ,
doch dieses Ideal noch nicht völlig erreicht.
Denn wenn auch der Industrialismus vom Leben jedes einzelnen
Bürgers verlangt, dass es ohne directen oder indirecten Übergriff
auf das Leben anderer Bürger geführt werde, so verlangt er doch
nicht, dass er direct das Leben anderer Bürger fördere . Es ergibt
sich keineswegs als nothwendige Forderung aus der bisher erreich
ten Definition des Industrialismus, dass jeder Einzelne abgesehen
von den durch Austausch der Leistungen gegebenen und erlangten
Vortheilen auch noch andere Vortheile zu geben und zu empfangen
habe. Es lässt sich eine Gesellschaft denken , die aus Menschen
besteht, welche durchaus harmlos leben, ihre Verträge mit ängst
licher Gewissenhaftigkeit erfüllen und ihre Nachkommenschaft mit
Erfolg aufziehen , und welche doch, indem sie einander keine weitere
Förderung angedeihen lassen, als soweit sie sich darüber verständigt
haben , noch bedeutend hinter jenem höchsten Grade des Lebens
zurückbleiben, den erst die freiwillige Dienstleistung möglich macht .
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 11
162 Die Thatsachen der Ethik. Cap. VIII.

Die tägliche Erfahrung beweist uns , dass Jeder mancherlei Übel


erdulden und manchen Vortheils verlustig gehen würde, wenn Nie
mand ihm unbezahlten Beistand gewährte. Das Leben eines Jeden
würde mehr oder weniger Schaden leiden , wenn es für sich allein
allen Zufälligkeiten die Spitze bieten müsste. Und wo Keiner für
seine Genossen irgend etwas Weiteres thun würde , als was die
genaue Erfüllung seiner Verträge verlangte , da müssten überdies die
privaten Interessen leiden, weil den öffentlichen Interessen keine
Aufmerksamkeit geschenkt würde. Die oberste Grenze der Ent
wickelung des Handelns ist demgemäss nicht eher erreicht , als bis
nicht blos jede directe und indirecte Beeinträchtigung Anderer ver
mieden , sondern auch freiwillige Anstrengungen gemacht werden ,
das Wohlergehen Anderer zu fördern.
Es lässt sich nachweisen , dass diese Form des gesellschaftlichen
Charakters , welche solchergestalt zur Gerechtigkeit noch Wohlthätig
keit hinzufügt, dasselbe ist, was die Anpassung an den socialen Zu
stand erzeugen muss. Der sociale Mensch hat die harmonische
Übereinstimmung zwischen seiner Beschaffenheit und den äussern
Verhältnissen , welche die Grenze der Entwickelung darstellt, noch
nicht erreicht, so lange überhaupt die Möglichkeit zur Ausbildung
von Fähigkeiten vorliegt, welche durch ihre Übung Anderen posi
tiven Nutzen und dem Handelnden selbst Befriedigung gewähren .
Wenn die Gegenwart der Mitmenschen , während sie der Thätig
keitssphäre jedes Einzelnen gewisse Schranken setzt, zugleich andere
Thätigkeitssphären eröffnet , in welchen bestimmte Gefühle nicht
nur ihre eigene Befriedigung erlangen, sondern ausserdem die Be
friedigung Anderer erhöhen , statt sie zu vermindern , so werden
solche Gebiete unfehlbar in Beschlag genommen . Die Anerkennung
dieser Wahrheit nöthigt uns jedoch nicht, die im Obigen dargelegte
Vorstellung des industriellen Zustandes wesentlich abzuändern , denn
Mitleiden ist die Wurzel sowohl der Gerechtigkeit als der Wohl
thätigkeit.

§. 56.

So ergänzt der sociologische Standpunkt in der Betrachtung


der Ethik den physikalischen, den biologischen und den psychologi
schen Standpunkt, indem er diejenigen Bedingungen enthüllt, unter
welchen allein die gesellschaftlichen Thätigkeiten so ausgeführt
werden können , dass das vollkommene Leben jedes Einzelnen
§. 56. Der sociologische Standpunkt . 163

mit dem vollkommenen Leben Aller vereinbar ist und dasselbe


fördert.
Im Anfang behauptet die Wohlfahrt der socialen Gruppe , die
der Regel nach mit andern solchen Gruppen im Streite lebt, den
Vorrang vor der individuellen Wohlfahrt, und die Gesetze des Han
delns , welche für diese Zeit Geltung haben, bedingen eine gewisse
Unvollkommenheit des individuellen Lebens, damit das allgemeine
Leben aufrecht erhalten werden könne. Zu gleicher Zeit jedoch
müssen die Gesetze so viel als möglich auf die Rechte des indivi
duellen Lebens Nachdruck legen, da ja von der Wohlfahrt der Ein
heiten im höchsten Grade die Wohlfahrt des Aggregates abhängt.
In demselben Verhältnisse sodann , als die Gesellschaften einan
der weniger gefährden , macht sich auch das Bedürfniss der Unter
ordnung des individuellen unter das allgemeine Leben weniger gel
tend und mit der Annäherung an einen friedlichen Zustand kommt
das allgemeine Leben , das ja von Anfang an nur Förderung des
Lebens der einzelnen Individuen zum letzten Zwecke hatte , endlich
so weit, sich dies zum nächsten Zweck zu setzen .
Auf den Übergangsstufen werden nach einander verschiedene
Compromisse nothwendig zwischen dem Sittencodex , welcher die
Rechte der Gesellschaft gegenüber denjenigen des Individuums hoch
hält , und dem Sittencodex , welcher die Rechte des Individuums
gegenüber denjenigen der Gesellschaft besonders betont. Und offen
bar lässt keiner dieser Compromisse, wenn sie auch für ihre Zeit
jedesmal autoritative Geltung haben, eine consequente oder bestimmte
Darstellung zu.
Wenn aber allmählich die Kriege abnehmen, wenn allmählich
das zwangsweise Zusammenwirken, das zur Abwehr äusserer Feinde
unumgänglich erschien, immer weniger nöthig wird und statt dessen
um so mehr Raum für das freiwillige Zusammenwirken übrig lässt ,
welches mit Erfolg die innere Erhaltung anstrebt, so treten auch
mit stets zunehmender Bestimmtheit die Gesetze des Handelns her
vor, auf denen das freiwillige Zusammenwirken beruht. Und diese
letzten dauernden Gesetze allein lassen es möglich erscheinen , sie
bestimmt zu formuliren und so die Ethik als Wissenschaft im
Gegensatz zur empirischen Ethik darzustellen .
Die Grundzüge eines Sittengesetzes , nach welchem vollkom
menes Leben durch freiwilliges Zusammenwirken gesichert wird,
lassen sich einfach folgendermaassen wiedergeben. Das wesentlichste
11*
164 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.

Erforderniss ist, dass die auf den Lebensunterhalt abzielenden Hand


lungen eines Jeden ihm in der That sämmtlich den Betrag und die
Art von Vortheilen einbringen müssen , welche sich naturgemäss
daraus ergeben. Und dies setzt voraus erstens , dass er keine direc
ten Angriffe auf seine Person oder sein Eigenthum erleiden darf,
und zweitens , dass ihm auch nicht durch Vertragsbruch indirecte
Schädigung zugeftigt werde. Hat die Beobachtung dieser negativen
Bedingungen des freiwilligen Zusammenwirkens das Leben durch
Austausch von Dienstleistungen nach Übereinkunft bereits im gröss
ten Umfange erleichtert, so muss dasselbe noch weiter erleichtert
werden durch Austausch von Leistungen ohne jede Übereinkunft :
das höchste Leben ist erst dann erreicht, wenn die Menschen einan
der nicht nur durch bestimmt abgemachte Gegenseitigkeit in der
Hülfeleistung , sondern auch noch auf andere Weise unterstützen ,
ihr Leben möglichst vollkommen zu gestalten.

IX . Capitel.

Kritik und Erläuterungen.

§. 57.

Eine Vergleichung der vorhergehenden Capitel unter einander


führt noch auf mehrere Fragen, welche wenigstens theilweise, wenn
nicht vollständig, beantwortet werden müssen, bevor wir den Ver
such wagen können , die ethischen Principien von ihrer abstracten
auf die concrete Form zu reduciren .
Wir haben gesehen, dass , wer die Wünschbarkeit der bewussten
Existenz zugibt , damit zugleich einräumt, dass das Handeln darauf
gerichtet sein soll, ein Bewusstsein hervorzurufen, welches begehrens
werth erscheint -- ein Bewusstsein, das so angenehm und so wenig
schmerzhaft ist als nur immer möglich . Wir haben ferner gesehen ,
wie dieses nothwendige Verhältniss übereinstimmt mit der a priori
gewonnenen Schlussfolgerung, dass die Entwickelung des Lebens nur
durch Herstellung eines bestimmten Zusammenhanges zwischen
§. 57. Kritik und Erläuterungen . 165

Freuden und vortheilhaften Handlungen und zwischen Schmerzen


und nachtheiligen Handlungen möglich geworden ist. Allein das
auf diesen beiden verschiedenen Wegen erreichte allgemeine Ergeb
niss, obwohl es das Gebiet umfasst , innerhalb dessen unsere spe
ciellen Ergebnisse fallen müssen, hilft uns doch noch nicht dazu,
diese speciellen Ergebnisse zu gewinnen.
Wären die Freuden alle von einer Art und nur dem Grade
nach verschieden ; wären die Leiden alle von einer Art , gleich
falls nur mit gradweisen Unterschieden, und liessen sich Freuden
und Leiden mit bestimmten Resultaten gegen einander abmessen,
so würden sich die Probleme des Handelns ausserordentlich viel
einfacher gestalten . Wären die Freuden und Leiden , welche als
Reize und als Abschreckungsmittel dienen, dem Bewusstsein gleich
zeitig und mit gleicher Lebhaftigkeit gegenwärtig oder würden sie
alle unmittelbar oder aber alle in derselben zeitlichen Entfernung
eintreten, so würden die Probleme dadurch ferner vereinfacht werden.
Und noch einfacher würden sie sich gestalten , wenn die Freuden
und Leiden ausschliesslich dem Handelnden selbst angehörten . Allein
die begehrenswerthen sowohl wie die nicht begehrenswerthen Ge
fühle sind von verschiedener Art, was die quantitative Vergleichung
schwierig macht ; die einen sind gegenwärtig, die andern treten erst
später auf, und dadurch steigert sich noch die Schwierigkeit der
quantitativen Vergleichung ; die einen endlich zieht der Handelnde
sich selbst zu , andere aber ruft er in seinen Nebenmenschen hervor,
was die Schwierigkeit abermals vermehrt. So zeigt sich denn, dass
die Leitung, welche das bereits erreichte primäre Princip gewähren
kann, von geringem Nutzen sein muss, so lange es nicht durch die
Leitung von Seiten secundärer Principien ergänzt wird.
Indem wir die nothwendige Unterordnung der präsentativen
unter die repräsentativen Gefühle und die hienach gebotene Zurück
setzung des Gegenwärtigen gegenüber dem Zukünftigen, in einer
grossen Zahl von Fällen wenigstens, anerkannten , haben wir schon
einen wesentlichen Schritt zur Gewinnung eines secundären Leitungs
princips gethan. Und indem wir ferner die Einschränkungen er
kannten, welche der gesellschaftliche Zustand den Handlungen der
Menschen auferlegt, nebst der daraus sich ergebenden Nothwendig
keit , die Gefühle der einen Art durch Gefühle anderer Art zu be
herrschen , hat sich unserm Blicke gleichfalls schon ein anderes
secundäres Leitungsprincip gezeigt. Immerhin bleibt aber noch viel
166 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.

zu entscheiden übrig hinsichtlich der relativen Ansprüche dieser


leitenden Principien , im Allgemeinen wie im Besonderen .
Es wird einige Klärung in die hiemit zusammenhängenden
Fragen bringen , wenn wir hier gewisse Ansichten und Argumente
besprechen , wie sie von den Moralisten der Vergangenheit und
Gegenwart vorgebracht worden sind.

§. 58.

Herr SIDGWICK hat den Namen „ Hedonismus “ für jene ethische


Theorie eingeführt, welche das Glück als Endziel des Handelns er
klärt, und indem er nun zwei Arten von Hedonismus unterscheidet,
den egoistischen und den universalistischen, jenachdem das erstrebte
Glück dasjenige des Handelnden selbst oder dasjenige Aller ist , be
hauptet er nun, es sei darin der Glaube ausgesprochen, dass Freuden
und Leiden commensurabel seien . In seiner Kritik des (empirischen)
egoistischen Hedonismus sagt er:
>Die fundamentale Annahme des Hedonismus läuft in wenigen
Worten darauf hinaus , dass sämmtliche Gefühle, blos als Gefühle be
trachtet, sich gewissermaassen in eine Stufenleiter des Begehrenswerthen
einordnen lassen, so dass die Wünschbarkeit oder Annehmlichkeit jedes
einzelnen in bestimmtem Verhältniss stehe zu derjenigen aller andern. <
(»Methods of Ethics < , II. Aufl . S. 115. )
Und nachdem er dies als die Voraussetzung der hedonistischen
Schätzungsweise hingestellt, geht er dazu über, die Schwierigkeiten
auseinanderzusetzen, welche derselben entgegenstehen , offenbar nur
in der Absicht, um dadurch begreiflich zu machen , dass diese Schwierig
keiten die hedonistische Theorie zu widerlegen geeignet sind.
Wenn sich nun auch nachweisen lässt, dass BENTHAM, indem
er die Intensität , die Dauer, die Bestimmtheit und die Nähe einer
Freude oder eines Schmerzes als diejenigen Factoren bezeichnete,
welche bei der Abschätzung ihres relativen Werthes in Frage kom
men, sich dadurch der erwähnten Annahme schuldig machte, und
wenn es auch vielleicht mit Recht für ausgemacht angenommen
wird, dass der Hedonismus, wie er ihn darstellt, identisch sei mit
Hedonismus in gewöhnlicher Auffassung, so scheint mir doch, dass
der empirische oder der sonstige Hedonist nicht nothwendigerweise
auf dieser Voraussetzung fusst. Dass ein möglichst grosser Über
schuss von Freuden über Schmerzen das Endziel des Handelns sein
solle, ist eine Ansicht, die er immerhin ganz consequent festhalten
§. 58. Kritik und Erläuterungen . 167

kann, auch nachdem er eingeräumt hat, dass die Werthschätzung


der Freuden und Schmerzen gewöhnlich unsicher und oft irrthüm
lich sei. Er kann sagen, wenn auch unbestimmte Dinge keine ge
naue Messung zuliessen , so sei doch eine annähernd richtige Ab
schätzung ihres relativen Werthes ausführbar , sobald sie erheblich
von einander abweichen ; und ferner kann er daran festhalten , dass,
selbst wenn ihr relativer Werth nicht bestimmbar ist , es doch
richtig bleibt, dass das am meisten Geschätzte zu wählen sei . Hören
wir ihm einen Augenblick zu.
„Ein Schuldner, der mich nicht bezahlen kann, bietet mir an,
seine Schuld dadurch auszugleichen, dass er mir von mehreren in
――――――――
seinem Besitz befindlichen Gegenständen einen überlässt einen
Diamantenschmuck, ein silbernes Gefäss , ein Gemälde, einen Wagen.
Setze ich andere Fragen bei Seite , so kann ich sagen , dass es in
meinem pecuniären Interesse liegt , das kostbarste unter diesen
Dingen auszuwählen ; nur vermag ich nicht zu bestimmen, welches
das kostbarste ist. Wird etwa die Behauptung , dass es in meinem
pecuniären Interesse liege , das Werthvollste auszuwählen , dadurch
irgendwie zweifelhaft? Muss ich nicht auswählen , so gut ich eben
kann, und wenn ich falsch gewählt habe , muss ich deshalb die
Grundlage meiner Wahl aufgeben ? Muss ich daraus entnehmen,
dass ich in Geschäftssachen nicht nach dem Grundsatz handeln dürfe ,
dass unter sonst gleichen Umständen die vortheilhaftere Maassregel
jedenfalls vorzuziehen sei , blos weil ich in vielen Fällen nicht an
geben kann, welches die vortheilhaftere ist , und oft den minder
vortheilhaften Weg eingeschlagen habe ? Wenn ich glaube , dass
ich unter mehreren gefährlichen Richtungen die am wenigsten ge
fährliche nehmen muss -― ― ― ― ― ― ― mache ich damit etwa ""die fundamen
tale Voraussetzung ", dass sich die verschiedenen Richtungen in eine
Scala der Gefährlichkeit einordnen lassen, und muss ich meine An
sicht ganz aufgeben, wenn ich jene nicht so anzuordnen vermag ?
Wenn ich consequenterweise nicht verbunden bin , dies zu thun , so
bin ich ebenso wenig verbunden , den Grundsatz aufzugeben , dass
der möglich grösste Überschuss von Freuden über Leiden das End
ziel des Handelns bilden soll , blos weil die „ Commensurabilität von
Freuden und Schmerzen “ nicht annehmbar ist . “
Am Schlusse seiner Capitel über den empirischen Hedonismus
gesteht Herr SIDGWICK selbst zu, dass er 29 nicht glaube, die allgemeine
, Erfahrung der Menschheit unterstütze bei unparteiischer Prüfung
168 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.

, in der That die Ansicht , dass der egoistische Hedonismus sich


,nothwendig selber aufhebe " ; er fügt jedoch hinzu , „ es sei jeden
, falls nicht zu leugnen , dass der Ungewissheit der hedonistischen
" Berechnung ein grosses Gewicht zukomme " . Hier wird aber immer
noch angenommen , die fundamentale Voraussetzung des Hedonismus ,
dass das Glück das Endziel des Handelns bilde , involvire die An
sicht, dass „ Gefühle sich gewissermaassen in eine Stufenleiter des
„ Begehrenswerthen einordnen lassen müssten" . Wir haben gesehen ,
dass dies nicht der Fall ist : jene fundamentale Voraussetzung wird
nicht im mindesten durch den Beweis entkräftet, dass eine solche
Anordnung derselben unausführbar ist.
Der Beweisführung von Herrn SIDGWICK steht der fernere und
nicht minder gewichtige Einwand entgegen, dass , in welchem Maasse
sie auch gegen den egoistischen Hedonismus spricht, dies doch in
noch höherm Grade dem universalistischen Hedonismus oder dem
Utilitarismus gegenüber gilt . Er gibt auch selber zu , dass dies
der Fall ist , indem er sagt : " welches Gewicht immer man den
„ gegen diese Voraussetzung [ die Commensurabilität von Freuden
„ und Leiden ] erhobenen Einwänden beilegen mag , ebenso gewichtig
„ sprechen sie natürlich gegen die gegenwärtig übliche Methode . "
Das ist aber nicht nur einfach richtig , sondern trifft sogar in dup
pelter Weise zu . Ich meine nicht etwa blos, dass , worauf er selber
hinweist , die Voraussetzung ausserordentlich complicirt wird , wenn
wir sämmtliche empfindenden Wesen in Betracht ziehen und überdies
die ganze Vergangenheit mit den gegenwärtig lebenden Individuen
zusammennehmen . Ich meine vielmehr, dass, sofern man als das zu
erstrebende Endziel das denkbar grösste Glück der vorhandenen ,
eine einzige Gemeinschaft darstellenden Lebewesen annimmt , die
dem egoistischen Hedonismus sich entgegenstellenden Schwierigkeiten
um eine neue und nicht minder bedeutende Gruppe vergrössert wer
den, wenn wir von diesem zum universalistischen Hedonismus über
gehen. Denn wenn die Gebote des letzteren erfüllt werden sollen,
so kann dies nur unter Leitung der Urtheile von Individuen oder
von Vereinigungen solcher oder von beiden zugleich geschehen . Nun
gründet sich aber jedes derartige Urtheil, mag es von einem ein
zelnen Geiste oder von einem beliebigen Aggregat von Geistern aus
gehen , nothwendigerweise auf Schlussfolgerungen hinsichtlich des
Glückes Anderer, von denen nur wenige bekannt, die zum grössten
Theil niemals gesehen worden sind. Die Naturen aller dieser
ungen
§. 58. Kritik und Erläuter . 169

Menschen weichen in unendlich verschiedenen Weisen und Graden


von den Naturen derer ab , welche jene Urtheile bilden , und so
unterscheidet sich auch das Glück, dessen jeder Einzelne derselben
fähig ist, von dem der übrigen sowie von dem derer, welche jene
Urtheile bilden . Wenn also gegen die Methode des egoistischen
Hedonismus der Einwand erhoben werden kann , dass die Freuden.
und Leiden eines Menschen, so verschieden nach Art, Intensität und
Zeit ihres Eintretens , unter sich incommensurabel seien , so lässt
sich offenbar der Methode des universalistischen Hedonismus ent
gegenhalten, dass zu der Incommensurabilität der eigenen Freuden
und Leiden jedes einzelnen Richters (die er doch zum Maassstab
nehmen muss) nun die noch viel unzweifelhaftere Incommensurabilität
der Freuden und Leiden hinzukommt, welche, wie er voraussetzen
muss , von zahllosen anderen Menschen erfahren werden, deren Con
stitutionen sich unter einander wie von der seinigen unterscheiden .
Ja noch mehr - dem universalistischen Hedonismus steht eine
dreifache Gruppe von Schwierigkeiten entgegen. Zu der doppelten
Unbestimmtheit des Endzieles kommt noch die Unbestimmtheit der
Mittel . Wenn der Hedonismus , sei es der egoistische oder der uni
versalistische, aus der todten Theorie in die lebendige Praxis über
setzt werden soll , so handelt es sich also um die Entscheidung dar
über , was für Handlungen der einen oder andern Art geeignet sind,
das vorgesetzte Ziel zu erreichen , und wenn wir nun die beiden
Methoden beurtheilen wollen, so kommt hauptsächlich in Betracht ,
inwieweit die jedesmal erforderlichen Handlungen als hiefür geeignet
beurtheilt werden können . Wenn nun schon das einzelne Individuum
bei der Verfolgung seiner eigenen Zwecke der Gefahr ausgesetzt ist ,
durch irrthümliche Meinungen dazu verführt zu werden, seine Hand
lungen falsch abzumessen, so liegt die Gefahr einer solchen Ver
führung noch viel näher , wenn viel verwickeltere Handlungen den
viel verwickelteren Zwecken angepasst werden sollen , welche durch
die Wohlfahrt anderer Menschen gegeben sind . Dies zeigt sich
schon, wenn er allein thätig ist , um wenigen Anderen nützlich zu
sein, und noch mehr tritt es hervor , wenn er mit Vielen zusammen
wirkt, um der Gesammtheit zu nützen . Macht man das allgemeine
Glück zum unmittelbaren Gegenstand des Strebens, so setzt dies
zahlreiche und verwickelte vermittelnde Thätigkeiten voraus, welche
von Tausenden von ungesehenen und verschiedenartigen Personen
ausgeübt werden und auf Millionen anderer unbekannter und ver
170 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.

schiedener Personen einwirken . Selbst die wenigen Factoren in


diesem ungeheuren Aggregat von Werkzeugen und Vorgängen, welche
überhaupt bekannt sind, sind nur sehr unvollkommen bekannt, und
die grosse Masse derselben ist ganz und gar unbekannt. Selbst
wenn wir also annehmen wollten, dass eine Abschätzung der Freuden
und Leiden für das allgemeine Ganze noch eher oder mindestens
ebenso ausführbar sei als Abschätzung seiner eigenen Freuden und
Leiden durch das Individuum, so bleibt doch die Regelung des Han
delns im Hinblick auf den einen Zweck viel schwieriger als die
Regelung desselben im Hinblick auf den andern . Ist also die
Methode des egoistischen Hedonismus ungenügend, so ist aus den
selben und verwandten Gründen die Methode des universalistischen
Hedonismus oder des Utilitarismus noch viel ungenügender.
Hier tritt uns nun auch die Schlussfolgerung entgegen , welche
dem Leser vor Augen zu führen der Zweck der vorhergehenden Kritik
war. Der gegen die hedonistische Methode erhobene Vorwurf ent
hält eine Wahrheit , aber vermischt mit Unrichtigem. Denn wäh
rend der Satz , dass das Glück, sei es das individuelle oder das all
gemeine, das Endziel des Handelns bilde , noch keineswegs wider
legt ist, wenn man nachgewiesen hat, dass dasselbe weder in der
einen noch in der andern Form durch Messung seiner Componenten
richtig abgeschätzt werden kann , so mag doch zugegeben werden ,
dass eine Leitung im Streben nach Glück durch blosses Abwägen von
Freuden und Leiden , selbst wenn sie innerhalb eines gewissen engen
Gebietes des Handelns theilweise möglich sein sollte, doch in einem
viel weitern Gebiete durchaus unthunlich erscheint. Es widerspricht
sich keineswegs , wenn man behauptet, dass das Glück den letzten
Zweck des Handelns bilde, und zugleich verneint, dass es erreicht
werden könnte , indem man es zum unmittelbaren Zweck macht.
Ich schliesse mich Herrn SIDGWICK an bis zu der Folgerung , dass
,wir zum Mindesten eingestehen müssen, es sei wünschenswerth,
„ die Ergebnisse solcher Vergleiche [ von Freuden und Schmerzen ]
„ durch irgend eine andere Methode zu bestätigen oder zu berichtigen,
„ auf die uns zu verlassen wir guten Grund haben " ; dann gehe ich
aber weiter und sage, dass für einen wesentlichen Theil des Han
delns die Leitung durch solche Vergleiche vollständig bei Seite zu
setzen und durch eine andere Leitung zu ersetzen ist .
§. 59. Kritik und Erläuterungen . 171

§. 59.
Die hier hervorgehobene Antithese zwischen dem abstract be
trachteten hedonistischen Endziel und der Methode, welche der ge
wöhnliche Hedonismus, sei er von der egoistischen , sei er von der
universalistischen Schattirung, mit diesem Endziel verbindet, und
die daran sich knüpfende Annahme des ersteren, während wir die
letztere zurückweisen , leitet uns auf eine offene Besprechung dieser
beiden Grundelemente der ethischen Theorie über. Diese Besprechung
mag am passendsten dadurch eröffnet werden, dass ich eine andere
von Herrn SIDGWICK's Erörterungen über die Methode des Hedonis
mus kritisire.
Obwohl wir von jenen einfachen Freuden, welche die Sinne uns
darbieten , uns keine Rechenschaft geben können , weil sie unzerleg
bar sind, so kennen wir doch ganz genau ihren Charakter als Be
wusstseinszustände . Umgekehrt lassen sich die complicirten Freuden ,
welche durch Zusammensetzung und Wiederzusammensetzung der
Ideen von einfachen Freuden entstehen, zwar wohl theoretisch in
ihre Componenten zerlegen , in Wirklichkeit aber sind sie nicht
leicht auflösbar, und in demselben Maasse, als ihre Zusammensetzung
ungleichartiger wird , nimmt die Schwierigkeit zu, begreifliche Vor
stellungen von denselben zu bilden. Dies ist ganz besonders mit
den Freuden der Fall, welche unsere Spiele begleiten . Indem Herr
SIDGWICK diese und zugleich die Freuden des Strebens im Allgemeinen
bespricht, um zu zeigen, dass, 99 um dieselben zu erlangen, man sie
„ vergessen muss " , drückt er sich folgendermaassen aus : -
>Ein Mensch, welcher sich unabänderlich in einer epicuräischen
Stimmung erhält , indem er sein Streben auf seine eigenen Freuden
richtet, kann den wahren Geist der Jagd unmöglich fassen ; sein Eifer
schwingt sich niemals bis zu der schneidigen Schärfe auf, welche diesem
Vergnügen seine höchste Würze und seinen eigentlichen Reiz verleiht .
Hier stellt sich uns dar , was wir die fundamentale Paradoxie des
Hedonismus nennen können, dass nämlich der Antrieb zur Freude, wenn
er allzu sehr vorherrscht, sein eigenes Endziel vernichtet. Diese Wir
kung wird nicht sichtbar oder zeigt sich jedenfalls nur ganz leise bei
den passiven sinnlichen Freuden . Aber von unsern activen Vergnügen
im Allgemeinen, mögen die Thätigkeiten , von welchen sie abhängen,
zu den körperlichen oder zu den geistigen gerechnet werden (und
ebenso auch von vielen emotionellen Freuden), kann sicherlich behauptet
werden, dass wir sie nicht zu erlangen vermögen, wenigstens nicht in
ihrer höchsten Form , so lange wir unser Streben auf dieselben con
centriren. ( Methods of Ethics « , II. Aufl . S. 41.)
172 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.

Ich glaube nun, wir werden diese Wahrheit nicht mehr für
paradox halten, wenn wir die Freude des Strebens gehörig analysirt
haben. Die wesentlichen Bestandtheile dieses Vergnügens sind fol
gende : erstens ein erneutes Bewusstsein der persönlichen Leistungs
fähigkeit (welches durch wirklichen Erfolg lebhaft hervortritt , theil
weise aber auch schon durch die Hoffnung auf Erfolg angeregt
wird) ein Bewusstsein von persönlicher Leistungsfähigkeit , wel
ches, in der Erfahrung mit erreichten Zwecken jeder Art verbunden ,
ein unbestimmtes , aber deutlich spürbares Bewusstsein von zu er
wartenden Belohnungen wachruft ; und zweitens eine Vorstellung
des Beifalls , welchen die Anerkennung dieser Leistungsfähigkeit
durch Andere früher hervorgerufen hat und abermals hervorrufen
wird. Geschicklichkeitsspiele lassen dies deutlich erkennen . Als
Endzweck für sich allein betrachtet, gewährt die gute Kugel, welche
ein Billardspieler macht, kein Vergnügen. Woher also stammt das
Vergnügen, das er dabei empfindet ? Theilweise von dem abermaligen
Beweis von der Geschicklichkeit, welchen der Spieler sich selbst ge
liefert hat, und theilweise aus der Vorstellung von der Bewunde
rung derjenigen, welche Zeugen dieses Beweises seiner Geschicklich
keit waren ; und zwar ist das Letztere hauptsächlich von Bedeutung,
denn das Spiel ermüdet ihn bald, wenn keine Zuschauer da sind.
Gehen wir von solchen Spielen , welche zwar die Freuden des Erfolgs ,
nicht aber eine Freude gewähren , die aus dem für sich allein be
trachteten Endziel stammt, zu den „ Sport " -Vergnügungen über, bei
welchen das Endziel einen ihm von selbst zukommenden Werth als
Quelle der Freude hat, so finden wir doch im Wesentlichen wieder
dieselbe Erscheinung. Obwohl der Vogel, welchen der Jäger herunter
schiesst , als Speise werthvoll ist , so entspringt doch seine Befrie
digung hierüber hauptsächlich daraus, dass er einen guten Schuss
gethan und seine Jagdtasche gefüllt hat , was ihm bald manches
Lob seiner Geschicklichkeit einbringen wird. Die Befriedigung der
Selbstschätzung empfindet er unmittelbar und die Befriedigung über
den erlangten Beifall empfindet er jetzt schon , wenn auch nicht
unmittelbar und im vollen Maasse, so doch in der Vorstellung, denn
die ideale Freude ist nichts Anderes als ein schwaches Wiederauf
leben der realen Freude. Diese beiden Arten angenehmer Erregung,
welche den Jäger während der Jagd erfüllen , stellen auch die Ge
sammtheit der Begehrungen dar, die ihn zur Fortsetzung derselben
anreizen : sind doch alle Begehrungen im Grunde nur die eben ent
§. 59. Kritik und Erläuterungen . 173

stehenden Formen der Gefühle , welche durch die von ihnen an


geregten Anstrengungen zu erlangen sind. Und wenn auch beim
Aufspüren der Vögel diese repräsentativen Gefühle nicht so lebhaft
hervortreten wie in dem Augenblick , wo eben ein Erfolg erreicht
worden ist, so werden sie doch angeregt durch die Vorstellung von
kommenden Erfolgen und machen auf diese Weise die das ganze
Streben darstellenden Thätigkeiten genussreich. Indem wir also
die Wahrheit des Satzes erkennen, dass die Freuden des Strebens
vielmehr in den angenehmen Empfindungen liegen , welche den er
folgreichen Gebrauch der Mittel begleiten, als in denen, welche das
Endziel selbst mit sich bringt , sehen wir jene fundamentale
Paradoxie des Hedonismus " ohne Weiteres verschwinden.
Diese Bemerkungen über Endzweck und Mittel und über die
den Gebrauch der Mittel begleitende Freude , welche sich zu der
aus dem Endzweck entspringenden Freude hinzugesellt, habe ich zu
dem Zwecke gemacht, um die Aufmerksamkeit auf eine Thatsache
von hoher Bedeutung hinzulenken . Im Verlaufe der Entwickelung
haben sich den älteren und einfacheren stets neue und complicirtere
Gruppen von Mitteln und zugleich die Freuden aufgelagert, welche
den Gebrauch dieser successiven Gruppen von Mitteln begleiteten ,
was zur Folge hatte, dass jede dieser Freuden schliesslich selber
zu einem Strebeziel geworden ist . Wir erblicken den ersten Anfang
davon bei einem niedrig organisirten Thier , das ohne jede Hülfs
vorrichtung einfach die Nahrung verschluckt, welche der Zufall ihm
entgegenbringt , und so, wie wir wohl annehmen dürfen , eine Art
von Hungergefühl stillt. Hier haben wir das primäre Endziel der
Ernährung mit der sie begleitenden Befriedigung in der allerein
fachsten Form beisammen . Wir gehen dann zu höheren Thieren
besitzen — Kinn
über, welche Kinnladen zum Beissen und Ergreifen besitzen
laden , die also durch ihre Thätigkeiten die Erreichung des primären
Endzieles erleichtern. Beobachten wir nun aber die mit solchen
Organen ausgestatteten Thiere , so zeigt sich , dass ihnen der Ge
brauch derselben an sich ohne Rücksicht auf den Endzweck an
genehm ist ; man denke nur an ein Eichhörnchen, das ganz ab
gesehen von der Nahrung, die es auf diese Weise finden kann , sich
am Benagen jedes Dinges ergötzt, das ihm zugänglich ist . Oder
fassen wir die Gliedmaassen in's Auge, so sehen wir abermals, wie
die Übung dieser Organe, welche den einen Geschöpfen zur Ver
folgung, den andern zur Flucht dienen, ebensolche Befriedigung ge
174 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.

währt : was wir an jedem hüpfenden Lamm oder sich bäumenden


Pferd bestätigt sehen können. Wie der vereinte Gebrauch von
Kiefern und Gliedmaassen , die ursprünglich doch nur der Befriedigung
des Hungers dienen , allmählich für sich allein zur Freude wird,
zeigt sich alltäglich beim Spielen der Hunde . Denn jenes Nieder
werfen und Würgen , das nach Ergreifung der Beute dem Verzehren
derselben vorausgeht, sucht jeder auch bei ihren Scheinkämpfen so
weit zu treiben , als er nur wagen darf. Und kommen wir zu Mit
teln, die noch weiter vom Endzweck abliegen, zu jenen z. B. , ver
möge deren ein gejagtes Thier ergriffen wird , so können wir wieder
bei Hunden beobachten, dass, auch wo es kein Beutethier zu fassen
gilt , doch schon im Act des Fassens selbst eine gewisse Befriedigung
liegt. Der Eifer, mit dem ein Hund einem Stein nachrennt oder
herumtanzt und bellt in der Erwartung , einem Stock in's Wasser
nachspringen zu können , beweist zur Genüge, dass, abgesehen von
der Stillung des Hungers und abgesehen sogar von der im Tödten
der Beute liegenden Befriedigung , ein gewisser Genuss schon durch
die erfolgreiche Verfolgung eines sich bewegenden Gegenstandes ge
geben ist. Durchweg also sehen wir es bestätigt, dass die Freude,
welche mit dem Gebrauch der zur Erreichung eines Endziels ge
eigneten Mittel verbunden ist , schliesslich selbst zu einem End
ziel wird .
Wenn wir nun dies als eine Erscheinung des Handelns im All
gemeinen auffassen, so ergeben sich einige wohl bemerkenswerthe
Thatsachen, die uns zugleich, wenn wir ihre Tragweite richtig wür
digen, von Nutzen sein werden , um unsere ethischen Vorstellungen
zu entwickeln. - Die erste derselben ist die, dass unter den suc
cessiven Gruppen von Mitteln die später entwickelten auch vom
primären Endziel weiter entfernt und , da sie frühere und einfachere
Mittel coordiniren , überdies complicirterer Natur sind und von Ge
fühlen begleitet werden , die in höherem Grade repräsentativ sind.
Eine zweite Thatsache liegt darin , dass jede Gruppe von Mitteln
nebst den sie begleitenden Genüssen mit der Zeit selbst wieder von
einer andern abhängig wird, die später auftrat als sie selber. Be
vor der Schlund verschlingt , müssen die Kinnladen fest gepackt
haben ; bevor die Kinnladen ein zum Verschlingen taugliches Stück
losreissen und in den Bereich des Schlundes bringen , muss jenes
Zusammenwirken der Gliedmaassen und der Sinnesorgane stattfinden,
welches das Tödten der Beute ermöglicht ; bevor dieses Zusammen
§. 60. Kritik und Erläuterungen . 175

wirken stattfinden kann , bedarf es des noch viel länger dauernden


Zusammenwirkens , das sich als Erjagen der Beute darstellt , und
selbst diesem müssen anhaltende Thätigkeiten der Glieder, der Augen
und der Nase beim Aufspüren der Beute vorausgehen. Das jede
Gruppe von Thätigkeiten begleitende Vergnügen verbindet sich ,
während es selbst das Vergnügen möglich macht, welches die darauf
folgende Gruppe von Handlungen begleitet, zugleich mit einer Vor
stellung dieser nachfolgenden Gruppe von Thätigkeiten und ihrer
Freuden , sowie aller übrigen , wie sie der Reihe nach sich an
schliessen, so dass also neben den Gefühlen , welche unmittelbar im
Gefolge des Beutesuchens auftreten, theilweise auch noch diejenigen
Gefühle wachgerufen werden , welche das wirkliche Erjagen , das
wirkliche Niederwerfen der Beute, das wirkliche Verzehren derselben
und schliesslich die Stillung des Hungers begleiten . - Eine dritte
Thatsache erblicken wir darin , dass der Gebrauch jeder einzelnen
Gruppe von Mitteln in ihrer gehörigen Aufeinanderfolge geradezu
eine Verpflichtung bildet. Da Aufrechterhaltung des Lebens eines
Geschöpfes als Endzweck seines Handelns gilt , so ist dasselbe ver
pflichtet, nach einander die Mittel des Aufsuchens , des Ergreifens ,
des Tödtens und des Verzehrens der Beute in Anwendung zu bringen.
――― Zuletzt folgt aus Obigem , dass , wenn auch die Stillung des

Hungers, welche unmittelbar mit der Erhaltung des Lebens zu


sammenhängt, schliesslich das Endziel darstellt, doch der erfolgreiche
Gebrauch jeder einzelnen Gruppe von Mitteln jedesmal den nächst
liegenden Zweck bildet - den Zweck, welcher zeitweilig an autori
tativer Geltung den Vorrang behauptet.

§. 60.
Die Beziehungen zwischen Mitteln und Zwecken , welche wir
so auf den früheren Stufen des sich entwickelnden Handelns verfolgt
haben , lassen sich auch auf allen höheren Stufen wiedererkennen
und behalten ihre Geltung selbst für das menschliche Handeln bis
hinauf zu seinen höchsten Formen. Sobald zum Zwecke der bessern
Erhaltung des Lebens die einfacheren Gruppen von Mitteln und die den
Gebrauch derselben begleitenden Freuden allmählich durch complicir
tere Gruppen von Mitteln und deren Freuden ergänzt werden , beginnen
diese immer mehr, der Zeit wie ihrem gebieterischen Charakter nach
die Oberherrschaft zu erlangen. Mit Erfolg jede complicirtere Gruppe
von Mitteln zu verwenden, wird zum nächstliegenden Zweck und
176 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.

das damit verbundene Gefühl wird zum unmittelbaren und direct


erstrebten Genuss, wenn auch das Bewusstsein von den entfernteren
Zwecken und entfernteren Genüssen, die zu erlangen sind, sich herein
mischen kann und in der Regel dazutritt. Ein Beispiel wird diesen
Parallelismus klar machen .
Fragen wir den von seinem Geschäft ganz in Anspruch ge
nommenen Kaufmann , welches sein Hauptzweck sei , so wird er sagen :
„Geld zu machen " . Er gibt gerne zu, dass das Erreichen dieses
Zweckes ihm wünschenswerth erscheint, weil er damit andere jen
seits desselben liegende Zwecke fördert ; er weiss , dass er, indem
er direct auf Geld ausgeht, indirect nach Nahrung, Kleidung , Woh
nung und den sonstigen Bequemlichkeiten des Lebens für sich und
seine Familie strebt. Wenn er aber auch zugibt , dass das Geld
nur ein Mittel zu diesem Zwecke ist , so macht er doch geltend,
dass die auf Gelderwerb abzielenden Handlungen der Zeit und dem
Grade der Verpflichtung nach allen den verschiedenen Thätigkeiten
und den sie begleitenden Freuden, welche von jenen gefördert wer
den, vorausgehen, und er beweist durch die That, dass ihm der
Gelderwerb zu einem Selbstzweck und Erfolg in dieser Thätigkeit
zu einer Quelle der Befriedigung geworden ist, ganz abgesehen von
jenen weiter entfernten Zwecken.
Auch wenn wir das Verhalten des Kaufmanns mehr im Ein
zelnen prüfen , finden wir wieder, dass er zwar, um bequem leben
zu können, Geld erwirbt und , um Geld erwerben zu können, mit
Vortheil Waaren kauft und verkauft, welche letztere Thätigkeit auf
solche Weise zu einem noch unmittelbarer verfolgten Mittel wird ,
dass er sich aber doch hauptsächlich mit andern Mitteln beschäf
tigt, welche noch weiter von den letzten Zwecken abliegen und im
Verhältniss zu welchen sogar das mit Vortheil Verkaufen zum Zwecke
wird. Denn indem er seinen Untergebenen das wirkliche Ausmessen
der Waaren und das Einnehmen des Erlöses überlässt , befasst er
sich vorzugsweise mit seinen allgemeinen Geschäften : mit Nach
forschungen über den Stand des Marktes , mit Beurtheilung der zu
künftigen Preise, mit Rechnungen , Unterhandlungen , Correspondenzen ,
und von Stunde zu Stunde ist es seine erste Sorge, jedes einzelne
dieser Dinge gehörig zu erledigen , welche doch alle nur indirect
zur Erzielung von einzelnen Gewinnsten beitragen. Und diese Zwecke
gehen der Zeit wie der Nothwendigkeit nach der Ausführung vor
theilhafter Verkäufe voraus, ebenso wie die letztere Thätigkeit dem
§. 60. Kritik und Erläuterungen . 177

Zwecke des Gelderwerbs und wie der Zweck des Gelderwerbs dem
Zweck des angenehmen Lebens vorausgeht.
Seine Buchhaltung mag am besten das Princip im Ganzen er
läutern . Den ganzen Tag über werden Einträge in die Rubriken
der Debitoren oder Creditoren gemacht ; die einzelnen Posten wer
den derartig classificirt und angeordnet , dass man durch augen
blickliche Einsicht den Stand jedes Contos feststellen kann , und
dann werden die Bücher von Zeit zu Zeit mit einander verglichen
und es wird verlangt, dass das Resultat auf den Pfennig stimme :
es gereicht ihm zu grosser Befriedigung, wenn die Richtigkeit be
wiesen ist, während jeder Irrthum ihm Unruhe verursacht. Fragen
wir nun , warum diese ganze kunstreiche Einrichtung, die so weit
von dem wirklichen Erwerb des Geldes und noch weiter von den
Annehmlichkeiten des Lebens entfernt ist , so lautet die Antwort ,
dass die Bücher in Ordnung zu halten nur die Erfüllung einer noth
wendigen Bedingung für den Zweck des Gelderwerbs bildet und an
sich zu einem nächstliegenden Zwecke wird, zu einer Pflicht , wel
cher genügt werden muss, damit die Pflicht, ein bestimmtes Ein
kommen zu haben, erfüllt werden könne, um dadurch erst die Pflicht
der Unterhaltung seiner eigenen Person , seiner Frau und seiner
Kinder erfüllen zu können.
Indem wir uns nun hier unmittelbar vor eine moralische Ver
pflichtung gestellt sehen, sollte sich da nicht ihre Beziehung zum
Handeln im Allgemeinen erkennen lassen ? Ist es nicht einleuch
tend , dass die Beobachtung sittlicher Grundsätze nichts weiter ist
als die Erfüllung gewisser allgemeiner Bedingungen, um einzelne
besondere Thätigkeiten mit Erfolg ausführen zu können ? Damit der
Kaufmann emporkomme, muss er nicht allein seine Bücher richtig
führen, sondern auch seine Angestellten entsprechend der getroffenen
Übereinkunft bezahlen und seinen Verbindlichkeiten den Gläubigern
gegenüber nachkommen . Dürfen wir nun nicht behaupten , dass die
Erfüllung des zweiten und dritten ebenso wie die Erfüllung des
ersten dieser Erfordernisse ein indirectes Mittel zum wirksamen
Gebrauch der mehr directen Mittel zum Erwerb eines gewissen
Wohlstandes sei ? Und dürfen wir nicht ferner behaupten, dass,
wie der Gebrauch jedes mehr indirecten Mittels in der richtigen
Reihenfolge zum Selbstzweck und zu einer Quelle der Befriedigung
wird, so dasselbe schliesslich auch mit dem Gebrauch dieser in
directesten Mittel der Fall sein werde ? Und dürfen wir nicht
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 12
178 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX .

schliessen , dass , wenn die Erfüllung moralischer Forderungen an


gebieterischer Macht über der Erfüllung anderer Forderungen steht,
diese gebieterische Macht doch nur aus der Thatsache entspringt,
dass dadurch die Erfüllung der andern Forderungen durch den Be
treffenden oder Andere oder durch Beide gefördert wird ?

§ . 61 .

Diese Frage bringt uns von einer andern Seite auf den Punkt
zurück, von dem wir früher ausgegangen waren. Gelegentlich der
Behauptung, dass der empirische Utilitarismus blos die Vorstufe
zum rationalen Utilitarismus bilde, wies ich darauf hin , dass der
letztere nicht das Wohlergehen zum unmittelbaren Gegenstand seines
Strebens macht , sondern dass er als solchen den Gehorsam gegen
gewisse Principien hinstellt, welche der Natur der Sache nach die
Wohlfahrt causal bedingen . Und hier sehen wir nun, wie dies auf
die Anerkennung jenes Gesetzes hinausläuft, das sich während der
ganzen Entwickelung des Handelns im Allgemeinen verfolgen lässt,
dass nämlich jede spätere und höhere Ordnung von Mitteln der
Zeit wie der autoritativen Geltung nach den Vorrang vor jeder
früheren und niedrigeren Ordnung von Mitteln behauptet. Der
Gegensatz zwischen den beiden auf solche Weise charakterisir ten
ethischen Methoden , der sich schon ziemlich deutlich aus den obigen
Beispielen ergibt, wird noch klarer hervortreten, wenn wir sie in
der Gegenüberstellung betrachten , in welcher sie uns der Haupt
vertreter des empirischen Utilitarismus vorführt. Bei Besprechung
der Zwecke der Gesetzgebung sagt BENTHAM :
» Gerechtigkeit aber ――――― was ist es, was wir unter Gerechtigkeit
zu verstehen haben, und warum nicht Glück , sondern Gerechtigkeit ?
Was Glück ist, weiss Jedermann , weil eben Jeder weiss, was Freude
ist, und Jeder weiss, was Schmerz ist . Aber was Gerechtigkeit ist
das ist's , was bei jeder Gelegenheit den Hauptgegenstand des Streites
bildet. Die Bedeutung des Wortes Gerechtigkeit sei nun , welche sie
wolle - auf welche andere Auffassung kann es Anspruch machen ,
als darauf, als Mittel zum Glück zu gelten ? « *
Untersuchen wir nun zunächst die hier aufgestellte Behauptung
in Betreff der relativen Begreiflichkeit dieser beiden Endzwecke , um

* Verfassungsgesetz , Cap. XVI : Oberste gesetzgebende Behörde , Ab


schnitt VI : Omnicompetenz.
§. 61. Kritik und Erläuterungen . 179

nachher zu prüfen , was damit zusammenhängt , wenn man sich für


Glück statt für Gerechtigkeit entscheidet .
BENTHAM'S positiver Behauptung , dass „ Jedermann weiss , was
„ Glück ist" , stehen ebenso positive widersprechende Behauptungen
gegenüber. 99 Wer kann sagen " , frägt PLATO , „ was Freude in Wirk
" lichkeit ist , oder sie ihrem Wesen nach erkennen, ausgenommen
, der Philosoph , der sich allein mit Wirklichkeiten beschäftigt ? **
Auch ARISTOTELES bespricht die verschiedenen Ansichten , welche
der gemeine Mann , der Staatsmann , der Forscher hegen , und sagt
dann vom Glück, dass es "2 den Einen Tugend zu sein scheine , den
,Andern Klugheit und noch Andern eine Art von Weisheit ; Manche
,wieder halten es für all das zusammen oder für Einiges davon
„ nebst Freude, oder wenigstens nicht ohne Freude, und wieder An
,dere schliessen auch äusseres Wohlergehen mit ein " . ** Und
ARISTOTELES kommt ebenso wie PLATO zu dem merkwürdigen Schluss ,
dass die Freuden des Verstandes, welche durch ein contemplatives
Leben zu erreichen sind, das höchste Glück ausmachen . ***
Wie solche Widersprüche in Betreff der Natur des Glückes
und des relativen Werthes der Freuden, die wir soeben im Alter
thum vorfanden , sich bis auf die neuesten Zeiten herab erhalten
haben , geht aus Herrn SIDGWICK'S Erörterung des egoistischen
Hedonismus hervor, von der oben schon die Rede war. Überdies,
wie gleichfalls schon dargelegt wurde, steigert sich die Unbestimmt
heit, welche allen Abschätzungen von Freuden und Schmerzen an
haftet und welche sich schon dem egoistischen Hedonismus in der
gewöhnlichen Auffassung in den Weg stellt, noch ganz gewaltig ,
wenn wir zum universalistischen Hedonismus in der gewöhnlichen
Auffassung übergehen , indem seine Theorie im Grunde besagt, dass
die vorgestellten Freuden und Schmerzen Anderer mit Hülfe eben
jener Freuden und Schmerzen des Ich abgeschätzt werden müssten ,
welche doch selbst schon so schwierig zu beurtheilen sind . Wie
aber Jemand, nachdem er die verschiedenen Bestrebungen beobachtet
hat, welche der Eine mit Eifer ergreift, während der Andere davor
zurückscheut , und nachdem er den verschiedenen Meinungen hin
sichtlich der Annehmlichkeiten dieser oder jener Beschäftigung oder

* Republik, IX. Buch.


** Nikomachische Ethik, I. Buch, Cap. 8.
*** Ibid. , X. Buch, Cap. 7.
12 *
180 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX .

Vergnügung gelauscht , wie sie auf jeder Gasse ausgesprochen wer


den - wie da Jemand behaupten kann , dass man über die Natur
des Glückes in vollständiger Übereinstimmung sein könne, so dass
es als geeigneter Endzweck für directe gesetzgeberische Thätigkeit
erscheine, ist in der That erstaunlich.
Nicht minder verwunderlich ist die damit verbundene Behaup
tung, dass Gerechtigkeit als Endzweck nicht begreiflich sei. Wenn
auch primitive Menschen noch kein Wort weder für Glück noch
für Gerechtigkeit besitzen, so lässt sich doch schon bei ihnen eine
Annäherung an den Begriff der Gerechtigkeit erkennen. Das Gesetz
der Wiedervergeltung, welches verlangt , dass die Tödtung eines
Angehörigen des einen Stammes durch den Angehörigen eines an
dern Stammes gesühnt werden müsse entweder durch den Tod des
Mörders selbst oder eines Mitgliedes seines Stammes, zeigt uns schon
in unbestimmter Gestalt jenen Begriff der Gleichheit in der Behand
lung, welcher ein wesentliches Element des Gerechtigkeitsbegriffes
bildet. - Wenn wir uns bei alten Völkern umsehen , welche ihre
Gedanken und Gefühle bereits schriftlich aufgezeichnet haben , so
sehen wir diese Vorstellung von Gerechtigkeit als die Gleichheit
in der Behandlung bedingend deutlich hervortreten . Unter den
Juden drückte DAVID diese Ideenassociation in Worten aus , wenn
er Gott bittet , „ den Gerechten anzuhören “ , und sagt : " Lass mein
, Gebet vor Dein Angesicht kommen , lass Deine Augen die Dinge
" schauen, die billig sind ; " - wie dies auch unter den ersten Chri
sten PAULUS that, wenn er an die Colosser schreibt : Ihr Herren ,
„gebt euren Knechten, was recht und billig ist. " Indem ARISTO
TELES die verschiedenen Bedeutungen von Gerechtigkeit erörtert,
kommt er zu dem Schlusse, dass „ gerecht der Gesetzmässige und
„ der Billige ist , ungerecht aber der Ungesetzmässige und der
Unbillige. Da aber der ungerechte Mensch auch einer ist , der
„mehr nimmt, als ihm zukommt " , u . s. w. Dass auch die Römer
eine ähnliche Auffassung der Gerechtigkeit hatten, bewiesen sie da
durch, dass sie ihr die Bedeutung von genau , den Verhältnissen
entsprechend und unparteiisch beilegten -Worte, deren jedes Bil
ligkeit der Theilung bezeichnet ; und noch bestimmter geht es aus
ihrer Identificirung derselben mit aequitas (Billigkeit ) hervor, was
ein von aequus abgeleitetes Wort ist : . das Wort aequus selbst aber
hatte unter andern die Bedeutung von gerecht oder unparteiisch .
Dieses Zusammentreffen der Ansichten bei den Völkern des
§. 61. Kritik und Erläuterungen . 181

Alterthums hinsichtlich der Natur der Gerechtigkeit hat sich


auf die Völker der Neuzeit übertragen , welche nach allgemeiner
Übereinstimmung in gewissen Grundprincipien, die in ihren Gesetz
systemen zum Ausdruck gelangen , directe Angriffe verbieten, welche
Formen von unbilliger Handlungsweise sind , und ebenso indirecte
Angriffe durch Vertragsbruch verbieten , welche andere Formen der
unbilligen Handlungsweise sind , und uns so durchweg die Identifi
cirung von Gerechtigkeit mit Billigkeit zeigen. BENTHAM ist also
im Unrecht, wenn er sagt : „ was aber Gerechtigkeit ist — das ist
„es , was bei jeder Gelegenheit den Hauptgegenstand des Streites
" bildet . Ja er ist in Wirklichkeit noch mehr im Unrecht, als es
bisher scheinen mochte. Denn in erster Linie gibt er eine durch
aus falsche Darstellung, indem er die Thatsache übersieht, dass in
neunundneunzig von hundert Fällen im täglichen Verkehr zwischen
den Menschen keinerlei Streit über Gerechtigkeit entsteht, sondern
vielmehr das zu vollziehende Geschäft von beiden Seiten als gerecht
vollzogen anerkannt wird ; und in zweiter Linie, wenn im hundert
sten Falle wirklich ein Streit sich erhebt, so ist der Hauptgegen
stand desselben nicht, was Gerechtigkeit sei , denn es wird allgemein
zugestanden, dass sie eben dasselbe sei wie Billigkeit oder Gleich
heit, sondern den Hauptgegenstand des Streites bildet stets die
Frage, wie unter diesen besondern Umständen Gleichheit zu erzielen
sei eine Frage ganz anderer Art.
Es ist daher keineswegs selbstverständlich , wie BENTHAM be
hauptet , dass Glück ein begreiflicher Endzweck sei, nicht aber Ge
rechtigkeit , sondern eine nähere Prüfung macht im Gegentheil die
grössere Begreiflichkeit von Gerechtigkeit als Endzweck einleuch
tend . Und durch Analyse ist auch leicht zu ermitteln, warum sie
begreiflicher ist. Denn Gerechtigkeit oder Billigkeit oder Gleich
heit hat es ausschliesslich mit Quantität unter festgestellten
Bedingungen zu thun, während Glück sich sowohl auf Quan
tität als auch auf Qualität unter nicht festgestellten
Bedingungen bezieht. Wenn, wie bei einem Diebstahl , ein Gut
weggenommen wird , ohne dass ein gleichwerthiges Gut dafür hin
gegeben wird ― wenn Jemand verfälschte Waaren verkauft oder
mit falscher Münze bezahlt und also nicht das hingibt, was man
im Austausch gegen Etwas von gleichem Werthe hinzugeben überein
gekommen war, sondern etwas von geringerem Werthe - wenn,
wie beim Bruch eines Vertrages, die übernommene Verbindlichkeit
182 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.

von der einen Seite erfüllt worden ist, während dies von der andern
- SO
Seite entweder gar nicht oder nur unvollständig geschah ,
sehen wir leicht, dass die begangene Ungerechtigkeit sich hier,
weil die sonstigen Umstände genau festgestellt sind ,
immer nur auf den relativen Betrag von Handlungen oder Erzeug
nissen oder sonstigen Gütern bezieht , deren Natur nur soweit in
Betracht kommt, als nothwendig ist, um sagen zu können , ob von
jedem Betreffenden so viel gegeben oder gethan oder zugestanden
worden ist , als nach stillschweigendem oder ausdrücklichem Ein
verständniss als gleichwerthig gelten sollte. Ist aber Glück
das vorgesteckte Ziel, wobei die sonstigen Umstände un
bestimmt bleiben , so erwächst die Aufgabe, sowohl Quantitäten
als Qualitäten gegen einander abzuwägen , ohne durch irgend einen
solchen bestimmten Maassstab unterstützt zu sein , wie ihn ein Tausch
verkehr oder Verträge oder die Differenzen zwischen dem Handeln
eines Angreifenden und eines Angegriffenen an die Hand geben.
Schon die einzige Thatsache, dass BENTHAM selbst unter die Elemente
zur Werthschätzung jeder einzelnen Freude oder jedes Schmerzes
auch deren Intensität, Dauer, Bestimmtheit und Nähe aufnimmt,
genügt wohl, um zu zeigen, wie schwierig dies Problem ist . Und
wenn man sich erinnert, dass alle Freuden und Schmerzen , nicht
nur die in besondern Fällen , sondern auch die in der Gesammtheit
der Fälle empfundenen , jedesmal von diesen vier Seiten aus be
trachtet und danach mit einander verglichen und in ihrem relativen
Werth bestimmt werden sollen , und zwar ausschliesslich durch
Selbstbetrachtung , so ist klar , dass das Problem sich complicirt
einmal dadurch, dass unbestimmte Urtheile über Qualitäten zu den
unbestimmten Maassen der Quantitäten hinzukommen , viel mehr
aber noch durch die Mannichfaltigkeit dieser schwankenden Ab
schätzungen , welche alle vorgenommen und zusammengestellt wer
den sollen.
Indem wir hiemit diese Behauptung von BENTHAM, dass das
Glück ein begreiflicheres Endziel sei als die Gerechtigkeit, für er
ledigt betrachten, nachdem wir gerade das Gegentheil für richtig
befunden, wollen wir nun die verschiedenen Folgerungen aus der
Lehre in's Auge fassen, dass der höchste gesetzgebende Körper sich
das grösste Glück der denkbar grössten Zahl von Menschen zum
unmittelbarsten Endzweck setzen solle.
Es liegt darin in erster Linie die Anschauung, dass das Glück
§. 61 . Kritik und Erläuterungen . 183

erstrebt werden könne mit Hülfe von Methoden, welche unmittelbar


für diesen Zweck gebildet worden sind , ohne irgend welche voraus
gehende Untersuchung hinsichtlich der Bedingungen, die zu erfüllen
wären ; und dies setzt wieder den Glauben voraus, dass es gar keine
solchen Bedingungen gebe. Denn wenn solche Bedingungen vor
handen sind , ohne deren Erfüllung das Glück nicht zu erlangen ist,
so muss der erste Schritt darauf gerichtet sein, diese Bedingungen
zu ermitteln , in der Absicht, dieselben zu erfüllen ; und wer dies.
eingesteht, der gibt auch zu, dass nicht das Glück selbst, sondern
die Erfüllung der Bedingungen, um dasselbe zu erlangen , das un
mittelbare Ziel bilden muss . Die Alternative ist einfach diese :
entweder ist die Erlangung des Glückes keinen Bedingungen unter
worfen, in welchem Falle die eine Handlungsweise so gut ist wie
die andere , oder sie steht unter gewissen Bedingungen , in welchem
Falle die hiezu erforderliche Handlungsweise das directe Strebeziel
zu bilden hat, nicht aber das Glück, welches erst mit Hülfe dieser
erreicht werden soll .
Indem wir es nun als zugestanden annehmen , wie wir es wohl
thun dürfen , dass es in der That Bedingungen gibt, welche erfüllt
sein müssen , bevor das Glück zu erreichen ist , erhebt sich zunächst
die Frage, was darin ausgesprochen ist , wenn man gewisse Formen
vorschlägt, welche das Handeln controliren sollen, um das Glück
zu fördern , ohne dass man erst frägt, ob solche Formen nicht schon
bekannt sind. Es liesse sich daraus folgern , dass der menschliche
Verstand in der ganzen Vergangenheit , trotzdem er mannichfache
Erfahrungen sammelte, doch nicht im Stande gewesen sei, solche
Formen zu entdecken , während vom menschlichen Verstande der
Gegenwart erwartet werden dürfe, dass er alsbald dieselben aus
findig mache. Wer dies nicht behaupten will, muss zugeben, dass
gewisse Bedingungen zur Erreichung des Glückes bereits theilweise ,
wenn nicht vollständig festgestellt sind, und in diesem Falle sollte
es unser erstes Bestreben sein , uns nach diesen umzusehen. Haben
wir dieselben gefunden , so wäre das vernünftige Verfahren , den
Menschenverstand der Gegenwart dahin zu bringen , dass er sich
auf diese Erzeugnisse des Verstandes der Vergangenheit stütze, in
der Erwartung , er werde dieselben dem Wesen nach bestätigen und
nur in der Form möglicherweise verbessern. Behauptet man aber,
es seien bisher noch keine maassgebenden Grundsätze für das Han
deln von gesellschaftlich verbundenen menschlichen Wesen aufgestellt
184 Die Thatsachen der Ethik. Cap . IX .

worden und dieselben müssten nun ganz de novo ausgearbeitet wer


den, so behauptet man damit, dass der Mensch, wie er gegenwärtig
ist , in unglaublichem Grade von dem Menschen, wie er war, sich
unterscheide.
Abgesehen davon, dass also hier die Wahrscheinlichkeit oder
vielmehr die Gewissheit übersehen wird , dass die Erfahrung der
Vergangenheit, verallgemeinert durch den Verstand der Vergangen
heit, bis auf unsere Tage wenigstens theilweise , wenn nicht voll
ständig , einige der wesentlichsten Bedingungen zur Erreichung des
Glückes aufgedeckt haben wird , ignorirt BENTHAM's Satz auch die
bestimmt formulirte Kenntniss von denselben, welche thatsächlich
existirt. Denn woher stammt der Begriff der Gerechtigkeit und
das demselben entsprechende Gefühl ? Er wird kaum behaupten
wollen, dass sie ganz bedeutungslos seien, obgleich sich dies eigent
lich aus seinem Satze ableiten lässt ; wenn er aber zugibt , dass sie
eine Bedeutung haben , so muss er zwischen zwei Alternativen wäh
len , von denen jede seiner Hypothese verderblich wird . Sind es
übernatürlich verursachte Formen des Denkens und Fühlens , welche
die Menschen so zu bestimmen streben , dass sie die Bedingungen
zum Glücke erfüllen ? Dann ist ihre Autorität unantastbar. Oder
sind es Formen des Denkens und Fühlens, welche im Menschen auf
natürlichem Wege durch Erfahrung dieser Bedingungen entstanden
sind? Dann ist ihre Autorität nicht minder unantastbar. BENTHAM
versäumt also nicht allein , sich klar zu machen, dass gewisse Grund
sätze der Leitung bis jetzt festgestellt worden sein müssen, sondern
er weigert sich sogar, diese anzuerkennen, soweit sie thatsächlich
erreicht sind und ihm vor Augen liegen.
Und schliesslich gibt er nach alledem selber stillschweigend
das zu, was er ausdrücklich verneint , indem er sagt : „ Die Bedeu
,tung des Wortes Gerechtigkeit sei , welche sie wolle , welche an
,dere Auffassung kann es beanspruchen als die eines Mittels zum
„ Glück?" Denn wenn Gerechtigkeit ein Mittel ist, dessen Endzweck
das Glück bildet , so muss die Gerechtigkeit dem Glücke voraus
gehen , wie jedes andere Mittel den Vorrang vor seinem Endzweck
behauptet . BENTHAM's eigene sorgfältig ausgearbeitete Verfassung
ist ein Mittel , das Glück zu seinem Zwecke hat, ganz so wie Ge
rechtigkeit nach seinem eigenen Zugeständniss ein Mittel ist , das
Glück zu seinem Endzweck hat. Wenn wir also angemessener Weise
die Gerechtigkeit überspringen und unmittelbar auf den Endzweck
§. 62. Kritik und Erläuterungen . 185

Glück losgehen durften , so dürften wir wohl auch ebenso gut


BENTHAM'S Verfassung überspringen , um uns unmittelbar an den
Endzweck Glück zu halten . Kurz, wir werden zu der merkwürdigen
Schlussfolgerung geführt , dass wir in allen Fällen ausschliesslich
den Zweck im Auge behalten müssen und die Mittel nicht berück
sichtigen dürfen .

§. 62.

Diese Relation zwischen Zwecken und Mitteln , welche jeder


ethischen Speculation zu Grunde liegt, wird in noch helleres Licht
gerückt werden, wenn wir mit einigen der oben erreichten Folge
rungen gewisse andere vereinigen , die im letzten Capitel gezogen
wurden . Wir werden sehen , dass zwar das grösste Glück in ver
schiedenen Gesellschaften, die, obwohl von idealer Zusammensetzung,
doch ungleichen physischen Verhältnissen unterworfen sind, in ausser
ordentlich verschiedenen Abstufungen auftreten kann , dass aber
trotzdem gewisse fundamentale Bedingungen zur Erreichung dieses
grössten Glückes allen solchen Gesellschaften gemeinsam sind.
Es sei z. B. ein Volk gegeben, das einen Landstrich bewohnt ,
welcher ihm nomadische Gewohnheiten aufnöthigt : das Glück jedes
einzelnen Individuums wird hier am grössten sein , wenn seine Natur
so den Erfordernissen seines Lebens angepasst ist, dass alle seine
Fähigkeiten beim täglichen Austreiben und Hüten des Viehes , beim
Melken, Wandern und ähnlichen Beschäftigungen gehörig in Übung
kommen. Die Mitglieder einer im Übrigen ähnlich zusammen
gesetzten Gemeinschaft, die sich aber auf die Dauer festgesetzt hat,
werden sämmtlich ihr grösstes Glück dann erreichen , wenn ihre
Natur derart geworden ist, dass ein fester Wohnsitz und die da
durch nothwendig werdenden Beschäftigungen ihnen den Spielraum
gewähren, innerhalb dessen jeder Instinct und jede Emotion geübt
wird und die zugehörige Freude mit sich bringt. Die Bürger einer
grossen, industriell organisirten Nation haben das für sie mögliche
Ideal von Glück erreicht, wenn die Hervorbringung und Vertheilung
der Güter und andere Thätigkeiten in solcher Art und solchem
Grade stattfinden , dass jeder Einzelne darin einen Platz für alle
seine Kräfte und Fähigkeiten findet, während er zugleich die Mittel
zur Befriedigung aller seiner Bedürfnisse erlangt . Endlich dürfen.
wir nicht allein als möglich , sondern auch als wahrscheinlich die
schliessliche Existenz einer gleichfalls industriellen Gemeinschaft
186 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.

annehmen, deren Mitglieder, während ihre Natur ebenso vollkommen


diesen Anforderungen entspricht , sich ausserdem noch durch vor
herrschende ästhetische Fähigkeiten auszeichnen und die also voll
kommenes Glück erst dann erreicht haben, wenn ein grosser Theil
ihres Lebens mit künstlerischer Thätigkeit ausgefüllt ist . Offenbar
würden diese verschiedenen Typen des Menschengeschlechts mit ihren
verschiedenen Idealen von Glück die Möglichkeit zu diesem Glück,
die doch jeder Einzelne in seiner eigenen Gesellschaft findet , un
möglich finden können , wenn er in eine der andern Gesellschaften
versetzt würde. Obgleich sie diejenigen Arten des Glückes gemein
sam haben könnten , welche die Folge von Befriedigung der unum
gänglichen Lebensbedürfnisse sind , so würden sie doch augenschein
lich vieler anderen Arten des Glücks niemals gemeinsam fähig sein.
Während also , um das grösste Glück innerhalb jeder dieser
Gesellschaften zu erreichen , die speciell zu erfüllenden Bedingungen
von denen verschieden sein müssen , welche in den übrigen Gesell
schaften erfüllt werden müssen , ist doch wohl zu beachten, dass einige
allgemeine Bedingungen in sämmtlichen Gesellschaften Erfüllung
fordern. Harmonisches Zusammenwirken , durch welches allein in
jeder derselben das grösste Glück zu erreichen ist, wird, wie wir
sahen, blos durch gegenseitige Achtung vor den Rechten des Ein
zelnen möglich gemacht : es dürfen weder jene directen Angriffe
vorkommen, die wir als Verbrechen gegen Personen oder Eigenthum
bezeichnen , noch auch jene indirecten Angriffe , welche der Bruch
von Verträgen bedingt . So dass also die Aufrechterhaltung von
billigen Beziehungen zwischen den Menschen als nothwendige Be
dingung zur Erreichung des grössten Glückes in allen Gesellschaften
erscheint, wie sehr auch das in jeder einzelnen erreichbare grösste
Glück der Natur oder dem Umfang nach oder in beidem verschie
den sein mag.
Hier ist wohl auch die Herbeiziehung einer Analogie aus der
Physik ganz am Platze , um dieser Grundwahrheit die möglich
grösste Bestimmtheit zu geben . Eine Masse von Materie irgend
welcher Art behauptet ihren Zustand eines inneren Gleichgewichtes
so lange, als die sie zusammensetzenden Theilchen sich sämmtlich
in gleichen Abständen von ihren Nachbarn befinden. Wenn wir
uns den Ansichten der neueren Physik anschliessen , welche besagen,
dass jedes Molecül sich rhythmisch bewegt, so beruht ein Gleich
gewichtszustand darauf, dass jedes seine Bewegungen innerhalb eines
§. 62. Kritik und Erläuterungen . 187

Raumes ausführt , der von ähnlichen , für die Bewegungen der be


nachbarten Molecüle erforderlichen Räumen umgeben ist. Sind die
Molecule so angeordnet , dass die Schwingungen der einen stärker
beschränkt werden als die der andern , so entspringt daraus eine
entsprechende Unbeständigkeit des Gleichgewichts . Ist die Anzahl
der auf solche Weise übermässig beschränkten Molecüle bedeutend,
so wird die Unbeständigkeit so gross , dass der Zusammenhang an
irgend einer Stelle leicht aufgehoben werden kann , und es entsteht
ein Riss . Und finden solche übermässige Beschränkungen in erheb
lichem Grade und grosser Menge statt, so genügt eine geringfügige
Störung, um die ganze Masse in viele kleine Stückchen zerfallen
zu machen. Dem ist noch beizufügen , dass das bekannte Mittel
zur Aufhebung dieses unbeständigen Zustandes darin besteht , den
Körper unter solche physikalische Bedingungen (gewöhnlich eine
höhere Temperatur) zu bringen , dass die Molecule im Stande sind ,
ihre relativen Lagen soweit zu verändern , bis ihre gegenseitigen
Beschränkungen wieder auf allen Seiten gleich werden . Und nun
sei hervorgehoben, dass dies seine Geltung behält, welches immer
die Natur der Molecüle sei : sie mögen einfach , sie mögen zu
sammengesetzt sein, sie mögen aus diesem oder jenem Stoff in dieser
oder jener Anordnung bestehen. Oder in andern Worten : die spe
ciellen Thätigkeiten jedes einzelnen Molecüls, welche aus den rela
tiven Bewegungen seiner Einheiten bestehen , mögen der Art wie
dem Grade nach beliebig verschieden sein und dennoch bleibt es
wahr , sie seien , welche sie wollen , dass , um das innere Gleich
gewicht in der ganzen Masse von Molecülen aufrecht zu erhalten
die gegenseitigen Beschränkungen ihrer Thätigkeiten überall die
selben sein müssen.
Und dies ist die oben erörterte Vorbedingung für das sociale
Gleichgewicht, welches immer die specielle Natur der gesellschaftlich
verbundenen Personen sein mag. Wenn wir annehmen , dass inner
halb jeder Gesellschaft diese Personen von gleichem Typus seien,
welche alle zur Erfüllung ihres Lebens ähnlicher Thätigkeiten be
dürfen, so mögen zwar diese Thätigkeiten in der einen Gesellschaft
von dieser, in der andern von jener Art sein und so unbegrenzte
Variationen zulassen ; diese Vorbedingung des socialen Gleichgewichts
aber gestattet keinerlei Variation . Sie muss erfüllt sein , bevor das
vollkommene Leben , das heisst das höchste Glück in irgend einer
188 Die Thatsachen der Ethik. Cap. IX.

Gesellschaft erreicht werden kann , die besondere Qualität jenes


Lebens oder dieses Glückes sei , welche sie wolle. *

§. 63.
Nachdem wir nun untersucht haben, wie die Mittel und Zwecke
im Handeln sich zu einander verhalten und wie sich daraus gewisse
Schlussfolgerungen hinsichtlich ihrer relativen Ansprüche ergeben ,
vermögen wir nun auch bereits den Weg zu erkennen , auf welchem
die verschiedenen sich widerstreitenden ethischen Theorien zur Ver
söhnung gelangen können . Jede einzelne schliesst einen Theil der
Wahrheit in sich und es bedarf einfach einer Combination derselben
in der richtigen Ordnung, um die ganze Wahrheit hervortreten zu
lassen.
Die theologische Theorie enthält einen Theil derselben . Wenn
wir für den göttlichen Willen , der als übernatürlich geoffenbart
angenommen wird , den auf natürlichem Wege enthüllten Endzweck
an die Stelle setzen, welchem die in der ganzen Entwickelung sich
kundgebende Macht entgegenstrebt, dann zeigt sich, da ja die Ent
wickelung stets dem höchsten Leben zugestrebt hat und noch zu
strebt , dass einfach der Gehorsam gegen jene Principien , durch
welche das höchste Leben erreicht wird , einer Beförderung jenes
Endzweckes gleichkommt. Die Lehre anderseits , dass Vollkommen
heit oder Vortrefflichkeit des Wesens den Gegenstand des Strebens
bilden solle, ist gleichfalls in einem Sinne wahr, denn sie anerkennt
stillschweigend jene ideale Form des Daseins, welche das höchste
Leben bedingt und welcher die Entwickelung zustrebt. Ebenso liegt
eine gewisse Wahrheit in der Lehre, dass Tugend das Strebeziel zu
bilden habe , denn dies ist eigentlich nur in veränderter Form die
Lehre, dass man danach streben müsse, die Bedingungen zur Er
reichung des höchsten Lebens zu erfüllen . Dass die Intuitionen
eines gewissen moralischen Vermögens unser Handeln leiten sollen ,
ist ein Satz , in welchem sich abermals eine Wahrheit verbirgt,
denn diese Intuitionen sind nichts Anderes als die im Laufe der
Zeit organisirten Resultate von Erfahrungen , welche das Menschen
geschlecht angesammelt hat, während es unter dem Einflusse dieser

* Dieses universale Erforderniss war es , was ich im Auge hatte , als ich
für mein erstes, im Jahr 1850 veröffentlichtes Werk den Titel „Sociale Statik"
wählte.
§. 63. Kritik und Erläuterungen . 189

Bedingungen lebte. Und dass das Glück den höchsten Endzweck


bildet , ist ohne allen Zweifel richtig , denn dies ist die Begleit
erscheinung jenes höchsten Lebens, welches jede Theorie der morali
schen Leitung in mehr oder weniger klarer Form vor Augen hat .
Wenn wir in solcher Weise ihre relative Stellung beurtheilen ,
so erkennen wir, wie jene ethischen Systeme, welche die Tugend ,
das Recht, die Pflicht als höchste Zwecke hinstellen , die Ergänzung
zu jenen ethischen Systemen bilden , denen das Wohlergehen , die
Freude, das Glück als Hauptzwecke gelten. Obgleich die morali
schen Gefühle, welche in den civilisirten Menschen durch tägliche
Berührung mit den socialen Bedingungen und durch allmähliche
Anpassung an dieselben sich ausgebildet haben , als Anziehungs
und Abschreckungsmittel unentbehrlich sind , und obgleich die diesen
Gefühlen entsprechenden Intuitionen schon kraft ihres Ursprungs eine
allgemeine Autorität besitzen , welche ehrfurchtsvoll anzuerkennen
ist , so bleiben doch die hieraus entspringenden Sympathien und
Antipathien und zugleich die intellectuellen Ausdrucksformen der
selben in ihrer primitiven Gestalt nothwendigerweise sehr unbestimmt.
Um die Leitung durch dieselben für alle Erfordernisse ausreichend
zu machen, müssen ihre Gebote durch die Wissenschaft erläutert
und bestimmt formulirt werden, und zu diesem Zwecke müssen wir
eine Analyse jener Bedingungen des vollkommenen Lebens vorneh
men , welchen sie entsprechen und aus dem Verkehr mit welchen
sie hervorgegangen sind . Und eine solche Analyse bedingt noth
wendig die Anerkennung des Glückes für Alle als desjenigen End
zweckes, der durch Erfüllung dieser Bedingungen zu erstreben ist.
Wenn also alle die verschiedenen ethischen Theorien in ge
hörigem Maasse Anerkennung finden, so wird das Handeln in seiner
höchsten Form die angeborenen Anschauungen des Guten, nachdem
dieselben richtig erklärt und durch den analytischen Verstand genau
dargestellt worden sind, zu seinen Führern machen , wobei es sich
aber bewusst bleibt, dass diese Führer blos deswegen zunächst als
das Höchste gelten dürfen , weil sie zu jenem in letzter Linie hōch
sten Endzweck, zum besondern und allgemeinen Glück emporleiten .
X. Capitel.

Die Relativität von Leiden und Freuden.

§. 64.
Eine Wahrheit von grundlegender Bedeutung für die Thatsachen
der Ethik, auf welche wir nur gelegentlich im letzten Capitel Be
zug genommen haben, muss hier noch ausführlich erörtert werden.
Ich meine die Wahrheit, dass nicht allein Menschen von verschie
denen Racen, sondern auch verschiedene Menschen derselben Race ,
ja sogar dieselben Menschen in verschiedenen Perioden ihres Lebens
verschiedene Ideale des Glückes haben . Wenn man auch bei den
Moralisten einige Anerkennung dieser Thatsache finden mag, so geht
dieselbe jedenfalls nicht weit genug , und von den weitreichenden
Schlussfolgerungen , die sich ergeben , wenn die Relativität des Glückes
vollständig erkannt wird , ist kaum eine Ahnung vorhanden .
Es ist ein allgemein verbreiteter Glaube der Jugend ― ein
Glaube, der übrigens bei den meisten Leuten auch im spätern Leben
nur theilweise umgestaltet wird und sich nur bei sehr wenigen voll
ständig verliert - dass etwas innerlich Verborgenes in der An
nehmlichkeit gewisser Dinge liege , während andere Dinge ihrer
innern Natur nach unangenehm seien. Der Irrthum ist analog und
in der That auch zunächst verwandt mit demjenigen, in welchen der
rohe Realismus verfällt. Gerade so wie es dem ungebildeten Geiste
selbstverständlich erscheint, dass die Süssigkeit des Zuckers etwas
dem Zucker Innewohnendes sei , dass die Töne , wie wir sie wahr
nehmen, Töne seien, die als solche auch in der äussern Welt existir
ten, und dass die von einem Feuer ausströmende Wärme an sich
das sei , als was sie uns erscheint , so gilt es auch für selbstver
ständlich , dass die Süssigkeit des Zuckers nothwendigerweise an
genehm sei , dass in einem schönen Klang etwas liege, was für alle
Geschöpfe schön sein müsse, und dass das durch die Wärme hervor
gerufene angenehme Gefühl eine Empfindung sei , die auch jedes
andere bewusste Wesen angenehm finden müsse .
Wie aber die strenge Kritik beweist, dass die eine Gruppe von
Schlussfolgerungen falsch ist , so weist sie auch den Irrthum in der
§. 65. Die Relativität von Leiden und Freuden . 191

andern nach. Nicht allein sind die Qualitäten der äussern Dinge,
wie sie intellectuell von uns wahrgenommen werden , nur relativ
zu unserm eigenen Organismus so , sondern auch die Angenehmheit
oder Schmerzlichkeit der Gefühle , die wir mit solchen Qualitäten
verbinden , besteht gleichfalls nur relativ zu unserm eigenen Or
ganismus. Und zwar gilt dies in doppeltem Sinne. Sie sind relativ
zu seiner Structur und sie sind relativ zu den Zuständen seiner
Structur.
Um nun nicht bei einer blos nominellen Annahme dieser all
gemeinen Wahrheiten stehen zu bleiben , sondern dieselben so zu
würdigen , dass ihre volle Tragweite für die theoretische Ethik her
vortritt, müssen wir dieselben hier auch insofern näher betrachten ,
als sie durch belebte Wesen im grossen Ganzen uns vorgeführt
werden. Denn wenn wir erst die grossen Verschiedenheiten im Em
pfindungsvermögen untersucht haben, welche die grossen Verschieden
heiten in der Organisation begleiten, die von der gesammten Ent
wickelung hervorgebracht worden sind , dann werden wir auch besser
im Stande sein, die Verschiedenheiten im Empfindungsvermögen uns
zu vergegenwärtigen , welche von der weiteren Entwickelung der
Menschheit zu erwarten sind.

§. 65 .

Zuerst wollen wir uns mit den Schmerzen beschäftigen , weil


sie am raschesten zu erledigen sind ; ein fernerer Grund hiefür liegt
darin , dass wir auf diese Weise sofort jene Empfindungszustände
erkennen und nachher wieder ausser Betracht lassen können , deren
Qualitäten fast eher als absolut denn als relativ zu bezeichnen sind.
Die Schmerzhaftigkeit der Gefühle, welche durch Kräfte hervor
gerufen werden, die ein organisches Gebilde, sei es im Ganzen oder
theilweise, zu zerstören streben , ist natürlich allen einer Empfindung
überhaupt fähigen Geschöpfen gemeinsam. Wir haben es schon
früher als unumgängliche Folge kennen gelernt, dass sich im Laufe
der Entwickelung überall solche Zusammenhänge zwischen äussern
Einwirkungen und den von ihnen verursachten Bewusstseinszuständen
ausbilden mussten, dass die schädlichen Wirkungen von unangeneh
men, die wohlthätigen dagegen von angenehmen Gefühlen begleitet
werden. Dementsprechend muss ein Druck oder ein Zug, welcher
den Körper zerreisst oder quetscht, und eine Temperatur, die ihn
verbrennt oder verbrüht, da sie in jedem Fall theilweise oder ganz
192 Die Thatsachen der Ethik. Cap. X.

zerstörende Wirkungen haben , in jedem Fall schmerzhaft sein .


Allein sogar hier kann man in gewissem Sinne doch von der Rela
tivität der Gefühle sprechen . Denn die Wirkung einer Kraft von
gegebener Grösse oder Intensität wechselt theilweise entsprechend
der Grösse und theilweise entsprechend der Structur des ihr aus
gesetzten Geschöpfes. Das Gewicht, das ein grosses Thier kaum
fühlt , zermalmt ein kleines ; der Schlag , welcher die Knochen einer
Maus zerbricht, hat kaum eine Wirkung auf ein Pferd , und die
Waffe, welche ein Pferd zerfleischt, lässt ein Rhinoceros unbeschä
digt. Und mit diesen Verschiedenheiten der Verletzbarkeit verbinden
sich ohne Zweifel auch Verschiedenheiten des Gefühls. Indem wir
die Bestätigungen dieser Wahrheit, welche von empfindenden Wesen
im Allgemeinen geliefert werden, blos mit einem Blick berücksich
tigen , wollen wir diejenigen etwas näher betrachten , welche uns
das Menschengeschlecht bietet.
Eine Vergleichung zwischen einem kräftigen Arbeiter und Frauen
oder Kindern zeigt uns, dass ein Grad mechanischer Anstrengung,
welchen der erstere ungestraft erträgt, für die letzteren irgend
welche Beschädigung und diese begleitende Schmerzen zur Folge
hat . Die Entstehung von Blasen auf einer zarten Haut in Folge
einer mittelmässig starken Reibung, welche eine rauhe Haut nicht
einmal röthet, oder das Bersten oberflächlicher Blutgefässe und die
daraus entspringende Verfärbung , wie sie bei einer Person mit
schlaffen Geweben durch einen Schlag hervorgerufen werden , der
auf einem lebensfrischem Gewebe gar keine Spur zurücklässt, wer
den diesen Gegensatz genügend erläutern . Es sind aber die
durch gewaltsam einwirkende Kräfte verursachten Schmerzen nicht
allein relativ zum Charakter oder zu den constitutionellen Eigen
thümlichkeiten der unmittelbar betroffenen Theile, sondern sie sind
dies in ebenso hohem oder sogar in noch höherem Grade zum Cha
rakter der Nervengebilde. Die gewöhnliche Annahme ist die , dass
gleiche körperliche Beschädigungen auch gleiche Schmerzen hervor
rufen. Allein dies ist ein Irrthum. Das Ausziehen eines Zahnes
oder die Amputation eines Gliedes verursacht dem Einen einen ganz
andern Grad von Leiden als dem Andern . Nicht das Erdulden allein ,
sondern auch die Art des zu erduldenden Gefühles wechseln ausser
ordentlich und dieser Wechsel hängt ganz wesentlich vom Grade
der Ausbildung des Nervensystems ab. Dies geht deutlich aus der
grossen Unempfindlichkeit von Blödsinnigen hervor : Schläge, Wunden
§. 65. Die Relativität von Leiden und Freuden . 193

und aussergewöhnliche Hitze und Kälte pflegen solche Menschen


.
mit grossem Gleichmuth zu ertragen. * Zeigt sich in diesem
Falle, wo die Entwickelung des Centralnervensystems auf abnorm
niedriger Stufe steht, das Verhältniss in sehr ausgeprägtem Maasse,
so tritt es gleichfalls , wenn auch weniger deutlich da hervor ,
wo die Ausbildung des Centralnervensystems normaler Weise eine
niedrige ist , nämlich bei niedern Menschenracen . Viele Reisende
berichten von der wunderbaren Kaltblütigkeit , welche von Wilden
an den Tag gelegt wird, die in der Schlacht oder durch andere
Unglücksfälle zerfleischt worden sind ; und die Wundärzte in Indien
versichern , dass Wunden und Operationen von den Eingebornen
besser ertragen werden als von Europäern. Dazu kommt ferner
die entgegengesetzte Thatsache, dass unter den höheren Typen des
Menschen, welche überhaupt mit grösserem Gehirn und lebhafterer
Empfindlichkeit gegen Schmerzen ausgestattet sind als die niedrige
ren, am empfindlichsten diejenigen sind , deren nervöse Entwicke
lung, wie ihre Geistesfähigkeiten bezeugen , am weitesten gediehen
ist, wofür unter Anderem das verhältnissmässige Unvermögen spricht ,
unangenehme Empfindungen zu ertragen, welches bei genialen Men
schen so häufig vorkommt, und die für dieselben charakteristische
allgemeine Reizbarkeit. **
Dass der Schmerz nicht allein in Bezug auf die Structuren,
sondern auch in Bezug auf ihre Zustände relativ ist, ist gleichfalls
einleuchtend, ja sogar noch deutlicher erkennbar. Die Empfindlich
keit eines äussern Theiles hängt von seiner Temperatur ab. Man
kühle ihn bis unter einen gewissen Punkt ab und er wird, wie wir
zu sagen pflegen, starr, und hat man ihn durch einen feinen Äther
regen sehr kalt werden lassen, so kann man ihn abschneiden , ohne
ein Gefühl hervorzurufen . Umgekehrt braucht man den Theil nur
zu erwärmen , so dass sich seine Blutgefässe erweitern, so ist der
Schmerz , den irgend eine Beschädigung oder Reizung verursacht,
grösser als gewöhnlich. Wie sehr die Verursachung von Schmerz
von dem augenblicklichen Zustand des betroffenen Theiles abhängt,
ersehen wir aus der ausserordentlichen Empfindlichkeit einer ent
zündeten Oberfläche - einer Empfindlichkeit, die sich soweit stei

* 19 On Idiocy and Imbecility", by William W. Ireland , M. D , p. 255


-256.
** Beispiele hiefür siehe in Fortnightly Review" , Vol . XXIV (New Series),
p. 712.
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 13
194 Die Thatsachen der Ethik. Cap. X.

gert, dass eine leise Berührung ein Zusammenfahren veranlasst oder


dass die von einem Feuer ausgestrahlte Wärme, welche man gewöhn
lich gar nicht empfinden würde, geradezu unerträglich wird .
Gleiches gilt von den besonderen Sinnesorganen . Licht , welches
in gutem Zustand befindliche Augen ohne jedes unangenehme Ge
fühl aushalten , können entzündete Augen nicht ertragen. Und ab
gesehen vom localen Zustande wirken auch noch der Zustand des
ganzen Körpersystems und der Zustand der Nervencentren wesent
lich mit. Wer durch Krankheit geschwächt ist , wird von einem
Geräusch gequält , das ein Gesunder ganz gleichgültig anhört, und
Menschen mit überarbeitetem Gehirn werden durch physische und
moralische Belästigungen in aussergewöhnlichem Grade aufgeregt.
Endlich macht sich auch jener vorübergehende Zustand , der als
Erschöpfung bezeichnet wird, in diesem Verhältniss geltend . Sind
die Gliedmaassen durch lange dauernde Anstrengung übermüdet, so
können sie nicht mehr ohne Schmerzen Thätigkeiten ausüben , die
zu andern Zeiten gar kein wahrnehmbares Gefühl hervorrufen würden .
Wenn man andauernd mehrere Stunden lang gelesen hat, so fangen
selbst starke Augen an zu schmerzen . Geräusche , die man eine
kurze Zeit gleichgültig anhört , verursachen , wenn sie immer nicht
aufhören , zuletzt wahre Pein.
Obwohl also der Beziehung zwischen positiven Schmerzen und
Handlungen, welche positiv schädlich sind, insofern ein absoluter
Charakter zukommt, als diese Beziehung überall da stattfindet, wo
Empfindungsvermögen existirt , so lässt sich sogar hier von theil
weiser Relativität sprechen. Denn zwischen der wirkenden Kraft
und dem hervorgerufenen Gefühl besteht keine unabänderliche Be
ziehung. Der Grad des Gefühls wechselt mit der Grösse des Or
ganismus , mit dem Charakter seiner äussern Structur , mit dem
Charakter seines Nervensystems und endlich auch mit den zeit
weiligen Zuständen des betroffenen Theiles , des ganzen Körpers und
der Nervencentren.

§. 66.

Die Relativität der Freuden ist bei weitem auffälliger und zahl
los sind die Beispiele hiefür, welche uns die empfindende Welt im
Allgemeinen liefert.
Man braucht sich blos nach den verschiedenen Dingen umzu
sehen, welche die verschiedenen Geschöpfe zu verzehren durch ihre
§. 66. Die Relativität von Leiden und Freuden . 195

Begierden angetrieben werden und in deren Verzehren sie Befrie


digung finden : Fleisch für das Raubthier, Gras für den Pflanzenfresser,
Würmer für den Maulwurf, Fliegen für die Schwalbe, Samenkörner
für den Fink, Honig für die Biene , ein verfaulender Leichnam für
die Made ―――― um sich zu vergegenwärtigen, dass der Geschmack
an der Nahrung relativ ist zu dem innern Bau der einzelnen Ge
schöpfe .Und diese Wahrheit, welche bei einem Überblick über die
Thiere im Allgemeinen zu Tage tritt, drängt sich unserer Aufmerk
samkeit sogar bei einem Blick auf die verschiedenen Menschenracen
auf. Hier wird Menschenfleisch verabscheut , dort dagegen als die
grösste Delicatesse geschätzt ; in diesem Lande lässt man Wurzeln
in Fäulniss übergehen , bevor man sie isst, und in jenem ruft selbst
die leiseste Andeutung von Zerfall Widerwillen hervor ; Wallfisch
thran , den die eine Race mit Gier verschlingt , erzeugt bei einer
andern durch seinen blossen Geruch Übelkeit. Ja selbst ohne uns
nach aussen zu wenden, können wir schon in dem gewöhnlichen
Ausdruck : 99 Was dem Einen Gift, ist dem Andern Speise " , das all
gemeine Zugeständniss erblicken, dass Mitglieder einer und derselben
Gesellschaft weit genug von einander abweichen, um einen Geschmack ,
welcher den Einen angenehm ist, für die Andern widrig erscheinen
zu lassen. So ist es auch mit den übrigen Sinnen . Asa foedida
(Teufelsdreck) , welcher bei uns als Typus des Abscheulichen von
Geruch hingestellt wird , gehört bei den Esthen zu einem der belieb
testen Parfums , und selbst die Leute in unserer nächsten Umgebung
haben so verschiedene Liebhabereien in dieser Hinsicht , dass der
Geruch einer Blume dem Einen angenehm , dem Andern dagegen
widerwärtig vorkommt. Ähnliche Unterschiede in der Vorliebe für
diese oder jene Farbe können wir täglich äussern hören. Und in
grösserem oder geringerem Grade gilt dasselbe auch für alle Em
pfindungen bis herab zu denjenigen des Tastsinnes : das bei der Be
rührung von Sammet erzeugte Gefühl, welches den Meisten angenehm
ist, verursacht Manchem Knirschen der Zähne.
Wir brauchen ferner nur die Wörter Appetit und Sättigung
zu nennen , um auf zahlreiche Thatsachen hinzuweisen , welche zeigen ,
dass Freuden relativ sind nicht allein in Bezug auf die organischen
Structuren, sondern auch in Bezug auf ihre Zustände. Die Nahrung,
welche einen grossen Genuss gewährt , so lange der Hunger stark
ist, hört auf, angenehm zu sein, sobald derselbe gestillt worden
ist, und wird sie dann dem Essenden aufgedrungen, so weist er
13 *
196 Die Thatsachen der Ethik. Cap. X.

sie mit Widerwillen zurück . Ebenso kann eine besondere Speise


beim ersten Kosten so schmackhaft erscheinen, dass eine tägliche
Wiederkehr derselben für eine Quelle endlosen Genusses gehalten
wird, und doch wirkt sie in wenigen Tagen nicht allein unschmack
haft , sondern sogar abstossend. Glänzende Farben, welche, auf ein
derselben ungewohntes Auge fallend , dasselbe entzücken, quälen das
Sinnesorgan, wenn man dieselben lange anblickt, und es gewährt
eine Erleichterung, wenn man die von ihnen herrührenden Eindrücke
los wird. Töne, süss an sich und süss in ihrer Combination , welche
dem unermüdeten Ohre lebhafte Freude verursachen, werden gegen
das Ende eines langen Concertes nicht allein lästig, sondern , wenn
man ihnen nicht entrinnen kann , sogar zur Ursache lebhafter Reiz
barkeit. Das Gleiche gilt bis herab zu den einfachsten Empfin
dungen von Wärme und Kälte. Dasselbe Feuer , das an einem
Wintertage so behaglich erscheint , wird bei warmem Wetter drückend ,
und dann findet man Vergnügen an kaltem Wasser, vor dem man
im Winter zurückschrecken würde . In der That genügen schon
Erfahrungen , die sich blos über wenige Augenblicke erstrecken, um
zu zeigen, wie durchaus relativ angenehme Empfindungen dieser
Arten in Bezug auf die Zustände der Structuren sind. Denn es
lässt sich leicht beobachten , dass beim Eintauchen der kalten Hand
in warmes Wasser das anfängliche angenehme Gefühl sich allmäh
lich immer mehr verliert, je wärmer die Hand wird.
Diese wenigen Beispiele werden wohl schon die Wahrheit fest
begründet haben, die übrigens für Jeden, der genauer beobachtet,
klar genug ist, dass die Aufnahme jeder angenehmen Empfindung
in erster Linie abhängt von dem Vorhandensein einer Structur,
welche dabei in Mitleidenschaft gezogen wird , in zweiter Linie aber
auch vom Zustande dieser Structur, jenachdem derselbe sie für eine
solche Thätigkeit geeignet macht oder nicht.

§. 67.
Ebenso unzweifelhaft ist die Wahrheit, dass auch emotionelle
Freuden nur möglich werden theils durch das Vorhandensein von
ihnen entsprechenden Structuren und theils durch die Zustände dieser
Structuren.
Man beobachte einmal ein Thier, das ein Leben führt , welches
ungesellige Gewohnheiten erfordert, und dessen ganze Organisation
sich diesem Zustand angepasst hat : dasselbe verräth nicht durch
§. 67. Die Relativität von Leiden und Freuden. 197

das geringste Zeichen ein Bedürfniss nach der Gegenwart anderer von
seines Gleichen . Man beobachte dagegen ein gesellig lebendes Thier,
das von der Herde getrennt worden ist , und man erkennt leicht
die Zeichen des Unbehagens, so lange die Trennung andauert, und
ebenso deutliche Zeichen der Freude bei der Wiedervereinigung mit
seinen Genossen . Im ersteren Falle besteht keine nervöse Structur,
welche ihr Thätigkeitsgebiet nur im geselligen Zustande finden
könnte, während im letzteren Falle eine solche Structur in der That
existirt. Wie schon aus den im letzten Capitel aus andern Grün
den citirten Beispielen hervorging, hat sich bei den Thieren, deren
Lebensweise besondere Arten von Thätigkeiten bedingt, eine solche
Constitution ausgebildet, dass die Ausführung jener Thätigkeiten ,
wobei die zugehörigen Structuren geübt werden , die damit verbun
denen Freuden gewährt. Die im Käfig gefangen gehaltenen Raub
thiere verrathen uns durch ihr unablässiges Hin- und Herschreiten
von einer Seite zur andern das Bestreben , sich so gut es eben geht
den Genuss zu verschaffen, welcher für sie mit dem Herumstreifen
in ihrem natürlichen Wohngebiet verbunden ist , und dieselbe Be
friedigung bei der Übung ihrer Bewegungskräfte , welche uns die
ein Schiff umspielenden Delphine zeigen , gibt sich auch in den
ebenso unaufhörlichen Wanderungen von einem zum andern Ende
des Bassins kund , welche wir an einem gefangen gehaltenen Delphin
beobachten. Das fortwährende Herumhüpfen des Canarienvogels von
Stange zu Stange in seinem Käfig und der unermüdliche Gebrauch
der Klauen und des Schnabels bei einem in seinem Bauer umher
kletternden Papagei sind andere Thätigkeiten , welche , jede mit den
Bedürfnissen der betreffenden Art zusammenhängend , sämmtlich an
und für sich zur Quelle angenehmer Gefühle werden . Noch deut
licher ergibt sich aus den Anstrengungen , welche ein in Gefangen
schaft befindlicher Biber macht, um mit den ihm gerade zugäng
lichen Holzstücken und Prügeln Etwas aufzubauen , wie vorherrschend
in seiner Natur der Instinct zu bauen geworden ist und wie der
selbe ohne Rücksicht auf irgend einen damit erzielten Vortheil seine
Befriedigung findet, wenn er nur, so gut es eben geht, die Processe
des Aufbauens wiederholen kann, zu deren Ausführung er organisirt
ist. Die Katze, welche mit ihren Krallen an der Strohmatte herum
zerrt, weil sie nichts Anderes zum Zerreissen hat, die gefangene
Giraffe, welche in Ermangelung von Ästen, an die sie sich machen
könnte, die obern Ecken der Thüren ihres Hauses abnutzt, indem
198 Die Thatsachen der Ethik. Cap. X.

sie dieselben beständig mit ihrer beweglichen Zunge erfasst, das


Rhinoceros , welches , da ihm kein Feind gegenübersteht, den Boden
mit seinem Horn durchpflügt, sie alle liefern uns analoge Beweise.
Offenbar sind diese verschiedenen Thätigkeiten , welche all die ver
schiedenen Geschöpfe ausüben , nicht ihrem innern Wesen nach an
genehm, denn sie weichen je nach der Species mehr oder weniger
von einander ab und sind ausserordentlich ungleich. Das Angenehme
liegt einfach in der Übung derjenigen neuromuscularen Gebilde ,
welche der Ausübung dieser Thätigkeiten angepasst sind.
Obwohl die verschiedenen Menschenracen so sehr viel weniger
weit von einander abstehen als die Gattungen und Ordnungen der
Thiere, so hängen doch , wie wir im letzten Capitel sahen , mit den
sichtbaren Unterschieden noch unsichtbare Unterschiede und in Ver
bindung damit eine Vorliebe für verschiedene Lebensweisen zusammen .
Bei manchen , wie z. B. den Mantras , ist die Liebe zur unein
geschränkten Thätigkeit und die Missachtung der Gesellschaft so
gross , dass sie sich trennen , sobald sie in Streit mit einander ge
rathen, und daher ganz vereinzelt leben, während bei andern , wie
den Damaras, nur geringe Neigung zum Widerstand vorhanden ist
und im Gegentheil Jeder bewundert wird, der sich Gewalt über sie
anmaasst. Schon als ich die Unbestimmtheit des Glückes als eines
Endzieles der Thätigkeit erläuterte, nahm ich auf die verschieden
artigen Lebensideale Bezug, welchen die nomadischen und die sess
――――
haften , die kriegerischen und die friedlichen Völker nachjagen
verschiedenartige Ideale , welche Verschiedenheiten der Nervengebilde
voraussetzen, die selbst erst durch die vererbten Wirkungen ver
schiedenartiger und viele Generationen hindurch sich anhäufender
Gewohnheiten hervorgerufen worden sind. Diese Gegensätze , die
bei den verschiedenen Typen des Menschengeschlechts in so mannich
fach wechselnden Arten und Graden vorkommen, kann sich Jeder
durch entsprechende in seiner nächsten Umgebung wahrnehmbare
Gegensätze ergänzen . Dieselbe Beschäftigung , welche den Einen
entzückt, ist einem Andern von abweichender Constitution unerträg
lich , und während jedem Menschen sein eigenes Steckenpferd ganz
naturgemäss vorkommt, erscheint es oft seinen nächsten Freunden
-
lächerlich und beinah verrückt Thatsachen , welche uns allein
schon beweisen könnten , dass das Angenehme an einer Thätigkeit
von dieser oder jener Art nicht auf etwas im Wesen der Thätig
§. 68. Die Relativität von Leiden und Freuden . 199

keit Liegendem beruht, sondern auf dem Vorhandensein von Fähig


keiten , welche ihre Übung darin finden .
Es darf endlich nicht übersehen werden , dass jede angenehme
Emotion gleich jeder angenehmen Empfindung relativ ist nicht allein
zu einer bestimmten Structur , sondern auch zum Zustande dieser
Structur. Die hiebei in Erregung versetzten Theile müssen gehörige
Ruhe gehabt haben, müssen überhaupt in einer zur Thätigkeit ge
eigneten Beschaffenheit sein und nicht in einer solchen , wie sie
durch andauernde Arbeit hervorgebracht wird . Mag die Art der
Emotion sein , welche sie wolle , eine ununterbrochene Fortdauer der
Erregung durch dieselbe führt stets zur Übersättigung. Das an
genehme Bewusstsein wird immer weniger lebhaft und bald macht
sich das Bedürfniss nach zeitweiligem Aufhören geltend, während
dessen die bisher thätig gewesenen Theile ihre Tauglichkeit zu fer
neren Leistungen wiedererlangen können und während dessen über
dies die Thätigkeiten anderer Theile und die Erregung durch die
sie begleitenden Emotionen in gehöriger Weise stattfinden können .

§. 68.
Ich habe mich bei diesen allgemeinen Wahrheiten mit iel
leicht überflüssiger Ausführlichkeit aufgehalten, um den Leser auf
eine möglichst vollkommene Anerkennung einer Folgerung vorzu
bereiten, welche thatsächlich ganz übersehen wird . So reichlich
und unzweideutig die Beweise sind und so sehr sie sich tagtäglich
der Aufmerksamkeit eines Jeden aufdrängen , so pflegt man doch
die Schlüsse in Betreff des Lebens und des Handelns nicht daraus
zu ziehen , die gezogen werden sollten , und diese Schlüsse stehen
so sehr in Widerspruch mit den gangbaren Ansichten , dass die
Darlegung derselben gewöhnlich nur ungläubiges Kopfschütteln her
vorruft. In der ganzen Vergangenheit ist das Denken der Menschen
durchdrungen gewesen , und ist es grösstentheils jetzt noch , von der
Annahme, dass die Natur jedes Wesens ganz speciell für dasselbe
geschaffen worden und dass die gleichfalls speciell erschaffene
menschliche Natur gleich derjenigen anderer Geschöpfe unveränder
lich sei ; ebenso war meist das Denken durchdrungen von der ver
wandten Annahme, dass das Angenehme an gewissen Thätigkeiten
von ihren wesentlichen Eigenschaften abhänge , während andere
Thätigkeiten vermöge ihrer wesentlichen Eigenschaften unangenehm
200 Die Thatsachen der Ethik. Cap. X.

seien. Da ist es denn kein Wunder , wenn man sich nur schwer
Gehör zu verschaffen vermag für die Lehre, dass die Thätigkeits
arten, welche gegenwärtig angenehm sind, unter gewissen, einen
solchen Wechsel bedingenden Verhältnissen aufhören werden , dies
zu sein , während dafür andere Thätigkeitsarten angenehm erschei
nen werden. Selbst Solche, welche die Entwickelungslehre annehmen ,
hören meistentheils nur mit starken Zweifeln oder im besten Falle
blos mit nominellem Glauben auf die Folgerungen, welche hinsicht
lich der Menschheit der Zukunft daraus gezogen werden müssen.
Und doch, wie aus zahllosen Beispielen hervorgeht , von denen
oben nur einige wenige herausgegriffen wurden, haben jene natür
lichen Vorgänge, welche so mannichfaltige Structurformen hervor
gebracht und dieselben so mannichfaltigen Thätigkeitsformen an
gepasst haben , diese Thätigkeitsformen zugleich auch zu angenehmen
gestaltet. Und das unvermeidliche Ergebniss hieraus ist, dass inner
halb der durch die physikalischen Gesetze bedingten Grenzen sich
in Anpassung an jede beliebige neue Gruppe von Verhältnissen ,
welche in Wirkung treten mag, entsprechende Structuren entwickeln
werden, mit deren Functionen sich die zugehörige Befriedigung ver
binden wird.
Wenn wir uns einmal von der Neigung befreit haben, zu glau
ben, dass gewisse Arten der Thätigkeit nothwendigerweise angenehm
seien , weil sie uns Vergnügen bereiten , und dass andere Arten,
welche uns nicht erfreuen , nothwendigerweise unangenehm sein
müssen, so werden wir leicht einsehen , wie die Umwandlung der
menschlichen Natur zu einem für die Erfordernisse des socialen.
Lebens geeigneten Zustand schliesslich alle nothwendigen Thätig
keiten zu angenehmen gestalten muss , während sie dagegen alle
mit diesen Erfordernissen in Widerspruch stehenden Thätigkeiten
unangenehm macht. Sind wir einmal zur vollen Anerkennung der
Wahrheit durchgedrungen, dass den Anstrengungen , durch welche
z. B. ein wildes Thier erbeutet wird , nichts an sich Befriedigen
deres innewohnt als den Anstrengungen , welche die Aufzucht
von Pflanzen erfordert , und dass die combinirten Thätigkeiten
von Muskeln und Sinnesorganen beim Rudern eines Bootes ihrem
eigentlichen Wesen nach nicht in höherem Grade ein angenehmes
Gefühl hervorzurufen fähig sind als diejenigen, welche beim Ernten
des Kornes nöthig werden , sondern dass vielmehr Alles von den
mitwirkenden Emotionen abhängt, welche gegenwärtig mehr mit den
§. 68. Die Relativität von Leiden und Freuden . 201

einen als mit den andern in Einklang stehen , so werden wir auch
gerne zugeben , dass , sofern nur eine Abnahme jener Emotionen ,
welchen der sociale Zustand nur geringen oder gar keinen Spiel
raum gewährt , und eine Zunahme derjenigen stattgefunden hat ,
welche er andauernd unterhält , die in der Jetztzeit nur ungern,
aus einem Gefühle der Verpflichtung geleisteten Arbeiten später
mit unmittelbarer Freude werden gethan werden , während man das
jenige, dessen man sich gegenwärtig aus Pflichtgefühl enthält , dann
unterlassen wird, weil man ein Widerstreben dagegen empfindet .
Diese Folgerung, welche den volksthümlichen Ansichten ganz
fremd ist und selbst in ethischen Speculationen der Regel nach
übersehen oder höchstens nur theilweise und gelegentlich anerkannt
wird , muss der grossen Mehrzahl meiner Leser so unwahrscheinlich
vorkommen, dass ich eine fernere Rechtfertigung derselben zu geben
genöthigt bin , indem ich eine Beweisführung a priori durch eine
solche a posteriori stütze. So geringe Aufmerksamkeit man auch
der Thatsache geschenkt hat , so ist es doch ganz offenkundig, dass
das oben aus der Lehre von der allgemeinen Entwickelung gewon
nene Ergebniss durchaus mit demjenigen zusammenfällt , welches
die vergangenen und gegenwärtigen Veränderungen in der mensch
lichen Natur uns vor Augen führen . Die auszeichnenden Gegen
sätze des Charakters zwischen einem wilden und einem civilisirten
Menschen sind genau von der Art, wie sie diesem Anpassungsprocess
zufolge zu erwarten waren.
Das Leben des primitiven Menschen wird hauptsächlich mit
der Verfolgung von wilden Thieren , Vögeln und Fischen verbracht,
was ihn in eine genussreiche Erregung versetzt . Obgleich nun aber
auch dem civilisirten Menschen aus der Jagd eine gewisse Befrie
digung erwächst , so ist dieselbe doch weder so anhaltend , noch so
allgemein . Es gibt sehr eifrige „ Sportsmen " unter uns , aber es
sind ihrer doch auch viele , welche des Jagens und Fischens bald
überdrüssig werden, und gar nicht gering ist die Zahl derer, wel
chen derartige Beschäftigungen vollständig gleichgültig oder sogar
unangenehm sind. ―――― Im Gegensatze hiezu ist die Fähigkeit zu an
dauerndem Fleiss , welche beim primitiven Menschen nur einen ge
ringen Grad erreicht , bei uns sehr bedeutend entwickelt. Es ist
richtig, dass die Meisten durch die Nothwendigkeit zum Gewerb
fleiss gezwungen werden, allein durch die ganze Gesellschaft zer
streut finden sich Menschen, für welche lebhafte Beschäftigung ein
202 Die Thatsachen der Ethik. Cap. X.

Bedürfniss ist ―― Menschen, die keine Ruhe finden, wenn sie nicht
im Geschäft sind, und sich elend fühlen , wenn sie es schliesslich
aufgegeben haben , Menschen, für welche dieses oder jenes Unter
suchungsgebiet so anziehend ist, dass sie sich demselben Tag für
Tag, Jahr für Jahr widmen , oder Menschen, die sich so lebhaft für
öffentliche Angelegenheiten interessiren, dass sie mit ihren Bestre
bungen für politische Zwecke, welche sie für erspriesslich halten ,
ein mühevolles Leben führen, ohne sich selbst auch nur die für ihre
Gesundheit nöthige Ruhe zu gönnen.
Ebenso und noch schlagender kommt diese Veränderung zum
Vorschein, wenn wir das unentwickelte und das entwickelte Menschen
geschlecht hinsichtlich des durch das Gefühl für Andere angeregten
Handelns mit einander vergleichen . Grausamkeit viel eher als Güte
ist charakteristisch für den Wilden und in vielen Fällen erscheint
sie geradezu als Quelle grosser Befriedigung für ihn . Wenn es nun
auch unter den Civilisirten Manche gibt , bei denen dieses Merkmal
der Wilden noch fortbesteht , so ist doch Freude am Zufügen von
Schmerzen nicht allgemein verbreitet, und neben der grossen Zahl
derer, die sich wohlwollend bezeigen, stehen auch noch Solche, die
ihre ganze Zeit und einen grossen Theil ihres Vermögens menschen
freundlichen Zwecken aufopfern , ohne dabei an eine hier oder dort
zu erwartende Belohnung zu denken .
Offenbar entsprechen diese wichtigeren und mit ihnen noch
viele geringfügigere Veränderungen der menschlichen Natur ganz
dem oben ausgesprochenen Gesetze. Die den Bedürfnissen der Wil
den angemessenen Thätigkeiten, welche ihnen Freude bereiten , haben
für viele Civilisirte aufgehört , angenehm zu sein, während die letz
teren anderseits die Fähigkeiten für mancherlei andere ihnen an
gemessene Thätigkeiten und die sie begleitenden Freuden erworben.
haben, für welche die Wilden kein Verständniss besassen .
Nun ist es nicht blos vernünftig , zu schliessen , dass Verände
rungen gleich denen , welche im Verlaufe der Civilisation statt
gefunden, auch fortan noch stattfinden werden , sondern es wäre
geradezu unvernünftig, das Gegentheil zu thun . Nicht der Glaube,
dass die Anpassung noch zunehmen werde , ist absurd , sondern viel
mehr der Zweifel an dieser Möglichkeit. Der Mangel an Vertrauen
auf eine derartige Weiterentwickelung des Menschengeschlechts ,
dass dadurch seine Natur mit seinen Bedingungen in Einklang ge
bracht werde, führt uns nur abermals eines der zahllosen Beispiele
§. 68. Die Relativität von Leiden und Freuden . 203

eines ungenügend entwickelten Bewusstseins der Causalität vor Augen.


Wer gelernt hat, sowohl primitive Dogmen als die primitive An
schauungsweise der Dinge zurückzuweisen, und , indem er wissen
schaftliche Folgerungen annahm, sich diejenigen Denkgewohnheiten
angeeignet hat, welche die Wissenschaft hervorbringt, der wird auch
die oben gezogenen Folgerungen als unvermeidlich anerkennen . Er
wird unmöglich glauben können , dass die Vorgänge , welche bisher
alle Lebewesen dergestalt entsprechend den Anforderungen ihres
Lebens umgewandelt haben, dass sie in der Erfüllung derselben Be
friedigung finden, nicht auch noch fernerhin in gleichem Sinne wirk
sam sein werden . Jenen Typus der menschlichen Natur, welchem
das höchste sociale Leben genügenden Spielraum gewährt, um jedes
Vermögen den ihm angemessenen Grad und nicht mehr als diesen
Grad von Übung und den dieselbe begleitenden Genuss finden zu
lassen, wird er für den Typus der Natur halten, welchem der Fort
schritt nicht eher aufhören kann entgegenzustreben, als bis er er
reicht ist. Da Freude geschaffen werden kann durch die Übung
jedes Gebildes , das seinem speciellen Zwecke angepasst ist, so wird
er es als ein nothwendiges Ergebniss anerkennen , dass es keine
Art von Thätigkeit geben kann, welche nicht, ihre Vereinbarkeit
mit den Zwecken der Erhaltung des Lebens vorausgesetzt, am Ende
zur Quelle von Freuden werden muss , wenn sie fortgesetzt wird ,
dass also Freude schliesslich auch jede Handlungsweise begleiten
wird, welche die socialen Bedingungen erfordern.
Diese Folgerung betone ich hier deswegen so nachdrücklich,
weil sie bald eine wichtige Rolle in unserer Beweisführung spielen
wird.
XI . Capitel.

Egoismus versus Altruismus.

§. 69.
Wenn das energische Hervorheben selbstverständlicher Wahr
heiten ein feststehendes Gebäude von Ansichten zu erschüttern droht,
so wenden sich die Meisten stillschweigend von diesen Wahrheiten
ab oder man begegnet mindestens einer stummen Weigerung , die
allereinleuchtendsten Folgerungen aus denselben zu ziehen .
Von solchen derartig behandelten selbstverständlichen Wahr
heiten interessirt uns hier vornehmlich die, dass ein Geschöpf leben
muss, bevor es thätig sein kann . Hieraus ergibt sich ohne Wei
teres , dass die Handlungen, vermöge deren jedes Wesen sich selbst
am Leben erhält, allgemein gesprochen allen andern Thätigkeiten,
deren es überhaupt fähig ist, an Wichtigkeit voranstehen müssen.
Denn wenn man behaupten wollte , diese anderen Thätigkeiten
müssten vor denjenigen , welche das Leben erhalten , an Bedeutung
den Vorrang behaupten , und wenn dies als allgemeines Gesetz des
Handelns angenommen und von Allen befolgt werden würde , so
müssten offenbar, da nun die die Erhaltung des Lebens befördernden
Handlungen den andern hintangesetzt werden , welche das Leben
erst möglich macht, alle ihr Leben verlieren . Mit andern Worten,
die Ethik hat die Wahrheit anzuerkennen , welche übrigens im nicht
ethischen Denken längst anerkannt ist, dass der Egoismus vor dem
Altruismus kommt. Die zur fortgesetzten Selbsterhaltung erforder
lichen Thätigkeiten mit Einschluss des Genusses von durch solche
Thätigkeiten erlangten Vortheilen sind die allerersten Vorbedingun
gen der allgemeinen Wohlfahrt. So lange nicht jeder Einzelne ge
hörig für sich selber sorgt , wird seiner Sorge für die Andern durch
den Tod bald ein Ende gemacht , und wenn Jeder so zu Grunde
geht , so bleibt auch keiner mehr übrig , für den gesorgt werden
könnte.
Diese unabänderliche Überlegenheit des Egoismus gegenüber
dem Altruismus , welche schon durch Betrachtung des gegenwärtigen
§. 70. Egoismus versus Altruismus . 205

Lebens deutlich wird, tritt noch unverkennbarer hervor bei einer


Betrachtung des Lebens im Fortgang der Entwickelung.

§. 70.
Wer der neuesten Richtung der Anschauungen zustimmend ge
folgt ist, dem brauche ich nicht erst auseinanderzusetzen , dass in
allen vergangenen Zeiten das Leben , das in so gewaltigen Massen
und in so mannichfaltigen Arten sich über die Erde ausgebreitet
hat, stets nur in Unterordnung unter das Gesetz fortgeschritten ist,
dass jedes Individuum Vortheil ziehen soll aus jeder möglichen
Fähigkeit , die es besitzt, um die Bedingungen seines Daseins zu
erfüllen . Als Universalprincip hat stets gegolten , dass bessere An
passung einen grösseren Vortheil mit sich bringt, welcher grössere
Vortheil , während er das Wohlergehen des besser Angepassten stei
gert, zugleich auch sein Vermögen vergrössert, eine Nachkommen
schaft zu hinterlassen , auf welche sich seine bessere Anpassung in
höherem oder geringerem Grade vererbt. Und ebenso war stets
das andere damit zusammenhängende Universalprincip in Geltung,
dass der schlecht Angepasste, der sich also im Kampfe ums Dasein
im Nachtheil befindet, die schlimmen Folgen stets selbsttragen muss ,
indem er entweder zu Grunde geht, wenn seine Unvollkommenheit.
sehr gross ist, oder wenigstens eine kleinere Zahl von Nachkommen
hervorbringt, welche seine Unvollkommenheiten erben und daher
die Neigung haben, mit der Zeit dahinzuschwinden .
Dies hat sich von jeher für die angebornen Überlegenheiten
bestätigt, es hat sich aber auch für die erworbenen als zutreffend
herausgestellt. Durchweg hat das Gesetz bestanden, dass Steigerung
der Function eine Steigerung der Kraft nach sich zieht und dass
in Folge dessen jede aussergewöhnliche Thätigkeit , welche irgend
einem Mitglied einer Race zum Vortheil gereicht, in seiner Structur
ein erhöhtes Vermögen zur Ausführung solcher aussergewöhnlicher
Thätigkeiten hervorruft : die daraus erwachsenden Vortheile kommen
.
ihm zur Erhöhung und Verlängerung seines Lebens zu Gute. Um
gekehrt führt Herabsetzung einer Function zur Schwächung der
entsprechenden Structur und so hat das allmähliche Dahinschwin
den ungetrübter Fähigkeiten stets den Verlust des Vermögens , die
hierauf bezüglichen Zwecke zu erreichen , nach sich gezogen : das
Resultat aber einer ungenügenden Erreichung der Zwecke ist immer
eine Verminderung des Vermögens , das Leben zu erhalten. Und
206 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XI.

durch Vererbung haben solche functionell erzeugte Veränderungen


von jeher das Überleben der Nachkommenschaft gefördert , be
ziehungsweise gehindert.
Wie schon gesagt, ist das Gesetz , dass jedes Geschöpf die Vor
theile und die Nachtheile seiner eigenen Natur auf sich nehmen
muss , mögen dieselben nun von seinen Vorfahren herstammen oder
auf selbst hervorgebrachten Veränderungen beruhen, stets das Princip
gewesen , unter dessen Einfluss sich das Leben bisher entwickelt
hat, und es muss auch in Zukunft dies Princip bleiben , wie viel
ferneres Leben sich auch noch entwickeln mag. Gleichgültig welche
Einschränkungen dieser naturgemässe Verlauf des Processes jetzt
oder später noch erleiden möge , jedenfalls werden dieselben diesen
Verlauf ohne verderbliche Folgen nicht wesentlich ändern können .
Alle Einrichtungen , welche in irgend erheblichem Grade den Über
legenen verhindern, des Lohnes seiner Überlegenheit zu geniessen ,
oder welche den Zurückgebliebenen vor den Übeln schützen , welche
--
sein Zurückgebliebensein nach sich zieht — alle Einrichtungen ,
welche darauf hinarbeiten , es gleichgültig erscheinen zu lassen , ob
Jemand eine niedrigere oder eine höhere Stelle einnimmt, sind Ein
richtungen, welche dem Fortschritt der Organisation und der Er
reichung eines höhern Lebens schnurstracks zuwiderlaufen.
Stellt man aber den Satz auf, dass jedes Individuum der Vor
theile geniessen soll , welche ihm durch seine eigenen ererbten und
erworbenen Fähigkeiten zufallen , so erklärt man damit den Egoismus
zum höchsten Princip des Handelns. Es heisst dies nichts Anderes ,
als dass egoistische Ansprüche den Vorrang vor altruistischen zu
behaupten haben.

§. 71 .

Von biologischer Seite aus betrachtet kann dieser Satz kaum


bei denen Widerspruch finden , welche hinsichtlich der Entwicke
lungslehre mit uns übereinstimmen , aber wahrscheinlich werden sie
nicht ohne Weiteres zugeben wollen , dass die Anerkennung desselben
von seiner ethischen Seite aus ebenso unvermeidlich sei . Während,
soweit es sich um die Entwickelung des Lebens handelt, die segens
reiche Wirkung des dargelegten Universalprincips offenkundig genug
ist, lässt sich die gute Wirkung desselben , soweit es die Erhöhung
des Glückes betrifft , nicht sofort übersehen. Jedoch lassen sich
beide nicht von einander trennen.
§ 71. Egoismus versus Altruismus . 207

Unfähigkeit jeder Art und jeden beliebigen Grades verursacht


auf directem und indirectem Wege Unglück auf directem Wege
durch das Leiden, was die Folge einer Überanstrengung der unzu
reichenden Fähigkeiten ist und auf indirectem Wege durch Nicht
erfüllung oder nur unvollkommene Erfüllung gewisser Bedingungen
des Wohlergehens. Umgekehrt trägt Fähigkeit jeder Art, welche
den Erfordernissen genügt , unmittelbar und auf Umwegen zum
Glücke bei - unmittelbar durch die eine normale Übung jedes
Vermögens, das seiner Arbeit gewachsen ist, begleitende Freude,
und auf Umwegen durch die Freuden , welche aus den erreichten
Zielen erwachsen . Ein Geschöpf , das schwach oder in seinen Be
wegungen langsam ist und daher seine Nahrung nur durch er
schöpfende Anstrengungen gewinnen oder seinen Feinden nur mit
grosser Schwierigkeit entgehen kann, hat alle Leiden der übermässig
angespannten Kräfte, des ungestillten Hungers , der kummervollen
Emotionen zu erdulden , während der kräftige und schnellfüssige
Vertreter derselben Species sich seiner erfolgreichen Thätigkeiten
freut, in reicherem Maasse der Genüsse theilhaft wird , welche die
Nahrung ihm gewährt, sowie auch der daraus erwachsenden Er
neuerung seiner Lebenskraft , und zugleich weniger und geringere
Leiden zu ertragen hat, wenn er sich gegen seine Feinde verthei
digt oder ihnen entflieht. Gleiches gilt von stumpferen und schär
feren Sinnen oder von höheren und niedrigeren Graden der Schlau
heit. Das geistig untergeordnete Individuum jeder Race ist nega
tivem und positivem Elend unterworfen, während das geistig über
legene Individuum negative und positive Genüsse erlangt. Dieses
Gesetz also , welchem zufolge jedes Mitglied einer Species die Con
sequenzen seiner eigenen Natur zu tragen hat und kraft dessen
auch die Nachkommenschaft jedes Mitgliedes , welche an seiner
Natur theilnimmt, gleichfalls solchen Consequenzen unterliegt, ist
demnach ein unumstössliches Princip, das fortwährend bestrebt ist ,
das gesammte Glück der Species zu vergrössern , indem es die Ver
mehrung der Glücklicheren fördert und diejenige der minder Glück
lichen hemmt.
All das gilt nun von den Menschen so gut wie von anderen
Wesen. Wir sehen uns zu der Folgerung gezwungen , dass das
Streben nach individuellem Glück innerhalb der durch die socialen
Bedingungen vorgeschriebenen Grenzen das allererste Erforderniss
zur Erreichung des grössten allgemeinen Glückes ist . Um dies
208 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XI.

einzusehen, braucht man übrigens blos Diesen , der sich durch Rück
sichten gegen sich selbst in körperlichem Wohlsein erhalten , und
Jenen , dessen Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst ihre natur
gemässen Folgen gezeitigt hat , einander gegenüberzustellen und sich
dann zu fragen, was für ein Gegensatz zwischen zwei Gesellschaften.
bestehen müsste, die jeweils aus derartigen Individuen zusammen
gesetzt wären .
Nach ungestörtem Schlafe aus dem Bette aufspringend , singend
oder pfeifend während des Ankleidens , mit strahlendem Gesichte.
herunterkommend , bei der geringsten Veranlassung zum Lachen bereit ,
sehen wir den wahrhaft gesunden Menschen voll frischer Kraft , ver
gangener Erfolge bewusst und durch seine Energie, Raschheit und
Erfindungsgabe vertrauensvoll in Bezug auf die Zukunft gestimmt,
an sein tägliches Geschäft gehen , nicht mit Widerstreben , sondern
mit frohem Muthe ; und nachdem er von Stunde zu Stunde seine
Befriedigung in der mit Erfolg erledigten Arbeit gefunden, kommt
er mit einem reichlichen Überschuss von Energie nach Hause, welche
noch für alle Stunden der Musse ausreicht. Ein ganz anderes Bild
bietet der, welcher durch starke Vernachlässigung seiner selbst ge
schwächt ist. Seine von vornherein mangelhaften Kräfte werden
noch mangelhafter durch fortwährende Anstrengungen, Dinge aus
zuführen, welche sich als sein Vermögen übersteigend herausstellen ,
sowie in Folge der daraus entspringenden Entmuthigung. Hinter
dem niederschlagenden Bewusstsein von der unmittelbaren Zukunft
lauert noch die quälende Angst vor der entfernteren Zukunft mit
ihrer Wahrscheinlichkeit einer Häufung der Schwierigkeiten und
einer noch grösseren Schwächung des Vermögens , denselben Trotz
zu bieten. Stunden der Musse, die, wenn richtig verbracht, Freuden
mit sich bringen , welche die Lebenswelle erhöhen und die Arbeits
kraft erneuern , können gar nicht ausgenützt werden : es ist nicht
Frische genug vorhanden, um ein Vergnügen zu geniessen , das mit
irgend einer Thätigkeit verbunden ist , und der Mangel an froher
Stimmung hindert auch ein lebhaftes Eingehen auf passive Er
holungen. Kurzum , das Leben wird zu einer Last. Wenn nun,
wie zugegeben werden muss , in einer aus Individuen der ersteren
Art zusammengesetzten Gesellschaft das Gesammtglück relativ gross
sein wird, während in einer aus Individuen der letzteren Art be
stehenden Gesellschaft nur verhältnissmässig geringes Glück oder
vielmehr grosses Elend herrschen muss , so kann auch nicht
§. 72. Egoismus versus Altruismus . 209

geleugnet werden, dass ein Handeln , welches das eine Resultat hervor
bringt, gut, ein Handeln dagegen, welches das andere Resultat er
zeugt, schlecht ist.
Solche Verkürzungen des allgemeinen Glückes werden aber durch
unzulänglichen Egoismus noch auf verschiedene andere Arten be
wirkt. Diese wollen wir nun nach einander näher betrachten,

§. 72.

Wenn es keine Beweise für die Erblichkeit gäbe - wenn es


als Regel gälte , dass die Starken gewöhnlich von den Schwachen
gezeugt werden , während die Schwachen gewöhnlich von den Starken
abstammen, dass lebhafte Kinder die Familien melancholischer Eltern
bilden, während Väter und Mütter von übersprudelndem Geist vor
zugsweise einfältige Nachkommen zeugen, dass dumme Bauern in
der Regel Söhne mit hoch entwickelter Intelligenz haben, während
die Söhne der Gebildeten meistens zu nichts Anderem taugen , als
hinter dem Pflug her zu gehen — wenn es keine erbliche Übertragung
von Gicht, Scropheln und Geistes krankheiten gäbe und der Kranke
gewöhnlich gesunde, der Gesunde kranke Kinder in's Leben setzen
würde dann wären allerdings die Schriftsteller über ethische
Gegenstände gerechtfertigt, dass sie jene Folgen des Handelns ganz
ausser Acht lassen , welche die Nachkommenschaft durch die vom
Erzeuger ererbte Natur zu spüren bekommt.
Wie jedoch die Dinge thatsächlich liegen , klebt den landläu
figen Vorstellungen über die relativen Ansprüche des Egoismus und
des Altruismus wegen der Nichtbeachtung dieses hochwichtigen
Factors ein schwerer Fehler an. Denn wenn Gesundheit , Kraft und
Leistungsfähigkeit gewöhnlich erblich übertragen werden, und wenn
Krankheit, Schwäche und Dummheit allgemein bei den Nachkommen
wieder auftreten , so muss ein vernünftiger Altruismus gerade auf
jenen Egoismus wesentlichen Nachdruck legen, welcher im Genuss
derjenigen Befriedigungen seinen Ausdruck findet , die eine Erhaltung
des Körpers und Geistes im besten Zustand begleiten. Es ist ein
nothwendiges Ergebniss hieraus, dass durch gehörige Rücksicht auf
sich selbst zum Segen der Nachkommenschaft vorgesorgt wird,
während eine zu weit getriebene Nichtbeachtung seiner selbst dieser
zum Fluche ausschlägt . In der That, wenn wir uns erinnern , wie
oft man die Beobachtung machen kann , dass feste Gesundheit und
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 14
210 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XI.

übersprudelnde Laune jedes Lebensloos erträglich machen, während


chronische Kränklichkeit ein Leben auch unter den günstigsten Ver
hältnissen in düstere Farben kleidet , so muss es uns in Erstaunen
setzen, dass die Welt im grossen Ganzen und sogar die Schrift
steller , welche das Handeln zum Gegenstand ihres Studiums machen ,
die schrecklichen Übel übersehen können , welche die Missachtung
der persönlichen Wohlfahrt den noch Ungeborenen zufügt, und das
unberechenbare Gut , was durch Aufmerksamkeit auf persönliches
Wohlergehen für künftige Geschlechter angesammelt wird . Von
allen Vermächtnissen, welche die Eltern ihren Kindern hinterlassen
können, ist das werthvollste eine gesunde Constitution. Wenn auch
der Leib eines Menschen nicht ein Eigenthum ist, das einfach ver
erbt werden kann , so mag doch seine Constitution wohl mit einem
Fideicommiss verglichen werden , und wenn er seine Pflichten gegen
die Nachwelt richtig versteht, so wird er einsehen, dass es ihm ob
liegt , dieses Gut in unbeschädigtem, wenn nicht gar in verbesser
tem Zustande auf seine Nachfolger übergehen zu lassen. Damit
wird aber nichts Anderes behauptet , als dass er bis zu dem Grade
egoistisch sein muss, um alle jene Bedürfnisse zu befriedigen, welche
mit der gehörigen Ausübung aller Functionen zusammenhängen .
Ja es liegt noch mehr darin. Es wird damit erklärt , dass er in
gehörigem Maasse nach den verschiedenen Freuden streben muss ,
welche das Leben darbietet. Denn diese haben ja nicht blos die
Wirkung , den Strom des Lebens zu verstärken und die consti
tutionelle Frische zu erhalten , sondern sie bewahren und erhöhen
auch das Vermögen, für Freuden empfänglich zu sein. So Mancher,
der mit reichlichen Kräften und lebhaftem Sinn für die verschie
densten Dinge begabt ist , vermag aus stündlich wiederkehrenden
Gelegenheiten den mannichfaltigsten Genuss zu schöpfen , während
ein Anderer so schwerfällig ist und so wenig Interesse an dem ihn
Umgebenden findet, dass er sich nicht einmal die Mühe nehmen
mag, sich zu vergnügen. Will man also nicht die Erblichkeit leug
nen , so ist die Folgerung nicht zu umgehen , dass eine richtige
Hingebung an die vom Leben uns dargebotenen verschiedenen Freu
den die Empfänglichkeit für Erheiterung in der Nachkommenschaft
befördert, und dass anderseits die Eltern , welche ein dumpfes, ein
töniges Leben führen , dadurch ihren Nachkommen die Fähigkeit
verkümmern, die ihnen zufallenden Genüsse so gut als möglich aus
zunutzen.
§. 73. Egoismus versus Altruismus . 211

§. 73.

Abgesehen jedoch von der Verminderung des allgemeinen Glückes ,


welche so auf indirectem Wege herbeigeführt wird, wo der Egois
mus ungebührlich zurückgedrängt ist , hat dies noch eine andere
Verminderung des allgemeinen Glückes zur Folge, welche auf direc
tem Wege entsteht . Wer die Rücksicht auf sich selbst weit genug
treibt, um sich bei guter Gesundheit und frohem Muthe zu erhalten ,
der wird dadurch in erster Linie zur unmittelbaren Quelle von
Glück für Alle in seiner Umgebung, und in zweiter Linie bewahrt
er sich das Vermögen, ihr Glück durch altruistische Handlungen zu
vergrössern. Wessen Körperkräfte und geistige Gesundheit dagegen
durch allzu weit getriebene Selbstaufopferung untergraben sind , der
wird zunächst für seine Umgebung zu einer Ursache der Nieder
geschlagenheit und der hat sich überdies selbst unfähig oder
weniger fähig gemacht, ihr Wohlergehen thätig zu fördern .
Bei der Beurtheilung des Handelns dürfen wir nicht vergessen,
dass es Menschen gibt , welche durch ihre Fröhlichkeit auch bei
Andern Frohsinn erzeugen, wie anderseits auch solche, welche durch
ihre Melancholie einen düstern Schatten auf jeden Kreis werfen, in
den sie eintreten ; und wir haben wohl zu bedenken , dass ein Mensch
der ersteren Art durch Kundgebung seines überströmenden Glückes
mehr zum Glück der Andern beitragen kann als durch alle posi
tiven Anstrengungen , sich ihnen nützlich zu erweisen, und dass ein
Mensch der letztern Art ihr Glück durch seine blosse Gegenwart
mehr zu schädigen im Stande ist , als er es durch seine Handlungen
fördert. Der Eine voll Lebhaftigkeit ist stets willkommen . Für
seine Frau hat er Lächeln und muntere Reden , für seine Kinder
eine Menge Scherze und Spiele, für seine Freunde angenehmes Ge
spräch, untermischt mit witzigen Einfällen, wie sie aus sprudeln
dem Humor entspringen. Den Andern dagegen sucht man lieber
zu meiden. Tagtäglich hat seine Familie seine Reizbarkeit zu er
tragen , die bald aus Kränklichkeit , bald aus durch allgemeine
Schwäche hervorgerufenen Mängeln entsteht. Da es ihm an ge
nügender Frische fehlt, die Vergnügungen seiner Kinder zu theilen ,
so zeigt er im besten Falle nur ein laues Interesse für dieselben ,
und seine Freunde nennen ihn einen Waschlappen . So wenig Rück
sicht auch unsere gewöhnlichen sittlichen Urtheile darauf nehmen,
so ist doch die Thatsache einleuchtend, dass , weil Glück und Elend
14*
212 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XI.

entschieden ansteckend wirken , jene Rücksicht auf sich selbst,


welche zur Gesundheit und guten Laune beiträgt, für Andere eine
Wohlthat, jene Missachtung seiner selbst dagegen, welche körper
liche oder geistige Leiden nach sich zieht, ein Vergehen gegen An
dere ist.
Allerdings wird die Pflicht, sich angenehm zu machen , indem
man freudig scheint , gar oft lebhaft betont , und wer auf solche
Weise seinen Freunden Genüge thut, findet allgemeinen Beifall, so
lange damit eine selbstaufopfernde Anstrengung verbunden ist. Ob
gleich aber die Kundgebung wirklichen Glückes auf die Freunde
bei weitem wohlthätiger wirkt als das zur Schau Tragen eines blos
scheinbaren Glückes und zugleich nicht jene Kehrseite in Gestalt
von Heuchelei oder Anspannung hat, so wird es doch nicht für eine
Pflicht gehalten, die Bedingungen zu erfüllen, welche eben die Kund
gebung von wirklichem Glück ermöglichen . Nichtsdestoweniger aber,
wenn wenigstens die erzeugte Menge von Glück den Maassstab zu
bilden hat , ist das Letztere viel mehr geboten als das Erstere .
Und überdies , wie schon oben angedeutet wurde, gibt es neben
dieser primären Gruppe von auf Andere hervorgebrachten Wirkun
gen noch eine secundäre Gruppe derselben . Das in zuträglichem
Maasse egoistische Individuum bewahrt sich auch jene Kräfte , welche
altruistischeThätigkeiten möglich machen . Das ungenügend egoistische
Individuum verliert in höherem oder geringerem Grade seine Fähig
keit , altruistisch zu sein. Die Wahrheit des einen Satzes leuchtet
von selbst ein , und wie sehr der andere zutrifft , das lehren uns
täglich neue Beispiele. Vergegenwärtigen wir uns einige derselben.
Hier sehen wir eine Mutter, die, nach der unsinnigen, bei den
Gebildeten gebräuchlichen Mode erzogen , eine Constitution bekommen
hat, welche nicht stark genug ist, um ihr Kind selbst zu stillen ,
die aber , weil sie weiss , dass seine natürliche Nahrung die beste
wäre, und weil sie ängstlich um sein Wohlergehen besorgt ist, dem
selben länger ihre Brust zu reichen fortfährt , als ihr Körper es er
tragen kann. Schliesslich kommt die mehr und mehr sich häufende
Reaction zum Durchbruch. Es tritt Erschöpfung ein, welche viel
leicht durch gänzliche Entkräftung zu Krankheit führt und gelegent
lich sogar mit Tod endigt, häufig jedenfalls chronische Schwäche
nach sich zieht. Sie wird vielleicht für einige Zeit , vielleicht für
immer unfähig, den Geschäften ihres Haushaltes obzuliegen , ihre
andern Kinder leiden unter dem Mangel an mütterlicher Beauf
§. 73. Egoismus versus Altruismus . 213

sichtigung, und wo das Einkommen gering ist, da lasten die Aus


gaben für Amme und Arzt empfindlich auf der ganzen Familie .
Gleiches lehrt uns, was nicht selten mit dem Vater geschieht.
Indem auch er von einem lebhaften Sinn für die Pflicht durchdrungen
ist, aber durch die herrschenden Moraltheorien zu der Ansicht verleitet
wird , dass die Selbstverleugnung mit vollem Recht beliebig weit
getrieben werden dürfe , setzt er alltäglich seine Bureauarbeit stun
denlang fort, ohne auf seinen heissen Kopf und seine kalten Füsse
zu achten. Er entzieht sich allen geselligen Vergnügungen, für
welche er weder Zeit noch Geld übrig zu haben glaubt. Was ist
die Folge eines solchen vollkommen unegoistischen Verhaltens ?
Schliesslich ein plötzliches Zusammenbrechen, Schlaflosigkeit, Ar
beitsunfähigkeit. Die Ruhe, welche er sich nicht gönnen mochte,
als seine Empfindungen sie forderten , muss er nun in bedeutend
grösserem Maassstab nachholen . Die zum Wohle seiner Familie
zurückgelegten Ersparnisse werden rasch verschlungen durch kost
spielige Reisen, um die Genesung zu unterstützen , und durch die
zahlreichen Ausgaben , welche eine Krankheit mit sich bringt. Statt
der grösseren Fähigkeit , seine Pflicht für seine Nachkommen zu
erfüllen, steht er nun vor gänzlicher Unfähigkeit. Lebenslängliche
Übel statt des gehofften Wohlstandes schweben nun über ihrem
Haupte.
Und so verhält es sich auch mit den socialen Wirkungen des
unzulänglichen Egoismus. Alle Stände liefern uns Beispiele von
den positiven und negativen Schädigungen, welche der Gesellschaft
durch übermässige Vernachlässigung seiner selbst zugefügt werden .
Gestern hörten wir von einem Arbeiter , der gewissenhaft seine
Arbeit in brennender Sonnenhitze fortsetzte , ungeachtet des leb
haften Widerspruchs seiner Gefühle , und nun am Sonnenstich zu
Grunde geht, während seine Familie der Gemeinde zur Last fällt.
Ein ander Mal handelt es sich um einen Schreiber, dessen Augen
durch Überanstrengung dauernd verdorben sind oder der Tag für
Tag stundenlang schrieb, auch nachdem seine Finger sich schmerz
haft verkrümmt hatten, der nun aber am Schreibkrampf leidet und ,
ganz und gar zu schreiben unfähig, mit seinen bejahrten Eltern
in Armuth versinkt, zu deren Linderung seine Freunde um Hülfe
aufgerufen werden müssen . Und dort wieder sehen wir einen den
öffentlichen Interessen sich hingebenden Mann , welcher , indem er
seine Gesundheit durch rastlosen Fleiss erschütterte , nun alle die
214 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XI.

Ziele verfehlt, die er mit etwas vernünftigerer Theilung seiner Zeit


zwischen Arbeit zu Gunsten Anderer und Fürsorge für seine eigenen
Bedürfnisse erreicht haben würde .

§. 74.
Noch auf eine fernere Weise wird die ungebührliche Unterord
nung des Egoismus unter den Altruismus schädlich. Selbstlosig
keit bis zum Übermaass getrieben erzeugt sowohl direct als indirect
nichts Anderes als Selbstsucht.
Betrachten wir zunächst die unmittelbaren Folgen. Damit ein
Mensch einem andern eine Wohlthat erweisen könne, ist es nöthig,
dass der Andere sie annehme, und wo diese Wohlthat von der Art
ist, dass ihre beiderseitigen Ansprüche daran gleich sind oder dass
sie weder vom einen noch vom andern in höherem Grade begehrt
wird , da setzt die Annahme derselben eine Bereitwilligkeit voraus ,
auf Kosten des Andern eine Wohlthat zu empfangen. Wenn also
die Umstände und die Bedürfnisse Beider dieselben sind, so bedingt
die Übertragung auf der einen Seite eine ebenso starke Entwicke
lung des Egoismus, wie auf der andern Seite eine Entwickelung
des Altruismus. Es ist allerdings richtig , dass nicht selten ein
Unterschied zwischen ihren Mitteln oder auch zwischen ihrer Lust
nach einer Freude , welche der Eine häufig , der Andere dagegen
nur selten zu geniessen hatte, die Annahme jener Wohlthat dieses
Charakters entkleidet, und es ist ferner richtig, dass in andern Fällen
der Wohlthäter offenbar so viel Freude daran findet , Freude zu be
reiten, dass das Opfer nur zum Theil gilt und die Annahme des
selben nicht durchaus selbstsüchtig erscheint . Um aber die oben
angedeutete Wirkung zu erkennen , müssen wir solche Ungleichheiten
ausschliessen und nur in Betracht ziehen , was geschieht , wo die
Bedürfnisse annähernd dieselben sind und wo die Opfer fortwährend
nur von einer Seite geleistet werden , ohne zeitweilige Wiederver
geltung zu finden . Wenn wir die Frage so einschränken , so kann
ein Jeder Beispiele nennen , welche das angegebene Resultat be
stätigen. Jeder kann sich eines Kreises erinnern , in welchem die
tägliche Erweisung von Wohlthaten von Seiten des Grossmüthigen
an den Unverschämten nur eine Steigerung der Unverschämtheit
zur Folge hatte, bis ein ganz schrankenloser Egoismus daraus ent
stand , der für die ganze Umgebung unerträglich wurde. Es gibt
auch offenkundige sociale Wirkungen ähnlicher Natur. Die meisten
§. 74. Egoismus versus Altruismus . 215

denkenden Menschen anerkennen jetzt die Demoralisation , welche


durch unterschiedslose Wohlthätigkeit hervorgebracht worden ist.
Sie sehen ein , wie in dem Bettler, abgesehen von der Aufhebung
des normalen Verhältnisses zwischen geleisteter Arbeit und em
pfangenem Nutzen, die Erwartung gross gezogen wurde, dass An
dere für seine Bedürfnisse zu sorgen hätten , was sich manchmal
sogar darin äussert , dass er Flüche gegen diejenigen ausstösst ,
welche ihm eine Gabe verweigern .
Betrachten wir zweitens die entfernteren Resultate. Wenn die
egoistischen Ansprüche den altruistischen so sehr untergeordnet
werden, dass daraus physische Nachtheile entstehen , so erzeugt dies
eine Tendenz zur relativen Abnahme in der Anzahl der altruisti
schen und damit zu einem bedeutenderen Überwiegen der egoistischen
Individuen. Die Selbstaufopferung zum Nutzen Anderer führt , in's
Extrem getrieben, gelegentlich vor dem gewöhnlichen Zeitpunkt der
Verheiratung zum Tode, führt häufig zur Enthaltung von der Ehe,
wie bei den barmherzigen Schwestern , führt oft zu Kränklichkeit
oder zum Verlust der anziehenden Eigenschaften , was wieder ein
Hinderniss der Verheiratung bildet, und verhindert endlich auch oft
die Erwerbung der zum Heiraten nöthigen pecuniären Mittel . In
allen diesen Fällen also hinterlassen die aussergewöhnlich altruisti
schen Menschen keine Nachkommen. Wo die Hintansetzung der
persönlichen Wohlfahrt zu Gunsten der Wohlfahrt Anderer nicht
soweit gegangen ist , dass sie die Verheiratung geradezu unmöglich
machte, da kommt es doch nicht selten vor , dass die aus jahre
langer Selbstvernachlässigung entspringende physische Herabgekom
menheit Unfruchtbarkeit verursacht, so dass abermals die am meisten
altruistisch Begabten keine Nachkommenschaft von gleicher Natur
hinterlassen . Und in den weniger hervortretenden , aber viel zahl
reicheren Fällen machen sich die Folgen der Schwächung in der
Erzeugung einer verhältnissmässig schwachen Generation geltend ,
von welcher die einen früh sterben, die andern aber mit geringerer
Wahrscheinlichkeit als gewöhnlich den älterlichen Typus auf zu
künftige Generationen übertragen. Durch dieses Aussterben der
ganz besonders Unegoistischen wird also unvermeidlich jene so
wünschenswerthe Milderung des Egoismus in der durchschnittlichen
Menschennatur verhindert , welche sonst eingetreten sein würde.
Eine Nichtbeachtung seiner selbst , welche die körperliche Kraft
unter das Normalmaass herabdrückt , erzeugt schliesslich in der
216 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XI.

Gesellschaft als Gegengewicht ein Übermaass von Rücksicht auf


sich selbst.

§. 75.

Dass der Egoismus an gebieterischer Bedeutung dem Altruis


mus vorausgeht, ist somit klar dargethan. Die Handlungen , welche
eine Fortdauer des Lebens möglich machen , müssen im grossen
Ganzen dringlicher sein als alle jene andern Handlungen , welche
durch das Leben selbst erst möglich gemacht werden , also auch
mit Einschluss der Handlungen , welche Andern zum Vortheil ge
reichen. Wenden wir uns vom Leben in der Gegenwart zum Leben
in der Entwickelung , so ergibt sich uns dasselbe. Alle empfinden
den Wesen sind von den niedrigsten bis zu den höchsten Stufen
fortgeschritten nur unter der Herrschaft des Gesetzes , dass die
Überlegenen von ihrer Überlegenheit Vortheil haben und die Unter
geordneten von ihrer Untergeordnetheit leiden sollen. Unterwerfung
unter dies Gesetz ist stets nothwendig gewesen und ist es noch,
nicht allein für die Forterhaltung des Lebens , sondern auch für
die Erhöhung des Glückes , indem ja die Überlegenen immer die
jenigen sind , welche den Erfordernissen besser angepasste Fähig
keiten haben , Fähigkeiten also , welche durch ihre Übung grössere
Freuden und geringere Leiden mit sich bringen.
Mehr in's Einzelne gehende Betrachtungen schliessen sich diesen
allgemeinen an, um dieselbe Wahrheit zu belegen. Ein Egoismus,
der in einem kräftigen Körper einen lebhaften Geist bewahrt, trägt
wesentlich zum Glück der Nachkommen bei , denen durch ihre er
erbte Constitution die Arbeiten des Lebens leicht und seine Freuden
zu wirklichen Genüssen gemacht werden , während umgekehrt Un
glück über die Nachwelt heraufbeschworen wird durch jeden , der
seinen Kindern eine durch Selbstvernachlässigung geschädigte Con
stitution übermacht. Sodann wird das Individuum , dessen gute
Lebensführung sich in überströmendem Frohsinn verräth , durch
seine blosse Gegenwart zur Quelle von Freuden für Alle in seiner
Umgebung , während die Niedergeschlagenheit , welche gewöhnlich
die Kränklichkeit begleitet, sich allmählich der Familie und den
Freunden mittheilt. Ein fernerer Gegensatz liegt darin , dass, wäh
rend ein Mensch, der die gehörige Rücksicht auf sich selbst beob
achtet hat, sich auch das Vermögen bewahrt, Anderen hülfreich zu
sein , aus übermässiger Selbstverleugnung nicht allein Unfähigkeit ,
§. 75. Egoismus versus Altruismus . 217

Andern zu helfen , entspringt, sondern diesen vielmehr dadurch posi


tive Lasten aufgebürdet werden . Und endlich gelangen wir sogar
zu der Überzeugung , dass ungehöriger Altruismus den Egoismus
steigert, sowohl direct bei den Zeitgenossen als indirect bei der
Nachwelt.
Nun ist wohl zu beachten , dass zwar die durch diese speciellen
Schlüsse bestätigte allgemeine Folgerung allerdings mit den nominell
angenommenen , keineswegs aber mit den thatsächlich geltenden
Glaubenssätzen in Widerspruch steht. Läuft sie auch der Lehre
zuwider, nach welcher, wie man die Menschen lehrt, gehandelt wer
den sollte, so stimmt sie doch mit der Lehre überein , nach welcher
sie wirklich handeln und nach welcher auch , wie sie dunkel er
kennen, gehandelt werden muss. Denn setzen wir uns über solche
aussergewöhnliche Erscheinungen des Handelns hinweg, wie sie oben.
beispielsweise angeführt wurden , so bekennt eigentlich Jedermann
durch Wort und That, dass im täglichen Verkehr und Geschäft die
persönliche Wohlfahrt zu allererst Berücksichtigung fordert. Der Ar
beiter , der seinen Lohn als Entgelt für die gethane Arbeit verlangt ,
nicht minder als der Kaufmann, welcher seine Waaren mit Vortheil
verkauft, der Arzt, welcher für seinen Rath ein Honorar erwartet,
so gut wie der Priester, welcher den Ort seiner Amtsverrichtungen
„ a living “ ( wörtl . ein Leben , d . h. eine Pfründe) nennt, sie alle
nehmen die Wahrheit als über jeden Zweifel erhaben an, dass Selbst
sucht, welche sich darauf beschränkt , die eigenen Ansprüche zu ver
theidigen und sich des durch eigene Anstrengungen verdienten
Lohnes zu freuen , nicht blos ganz berechtigt, sondern ganz wesent
lich ist. Selbst Personen , die sich zu einer entgegengesetzten Über
zeugung bekennen, beweisen durch ihre Handlungen, dass dieselbe
völlig unwirksam bleibt. Denn wenn sie auch noch so oft mit
Salbung ihren Grundsatz wiederholen : „ Liebe Deinen Nächsten wie
Dich selbst ! " so denkt doch Keiner daran, all sein Besitzthum
hinzugeben, um die Bedürfnisse des Andern ebenso zu befriedigen,
wie er für seine eigenen Bedürfnisse sorgt. Auch pflegen diejenigen ,
deren extremer Wahlspruch lautet : „ Lebe für Andere ! " sich in ihren
Rücksichten auf ihr persönliches Wohlergehen weder in irgend be
merklicher Weise von den übrigen Leuten zu unterscheiden, noch
es zu versäumen , sich ihren Theil an Lebensfreuden anzueignen.
Kurz, was oben dargelegt wurde als der Glaube, zu welchem uns
die wissenschaftliche Ethik führt , ist auch der Glaube , den die
218 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XI.

Menschen wirklich glauben , wohl zu unterscheiden von dem, den


sie zu glauben glauben.
Endlich sei noch bemerkt, dass ein vernünftiger Egoismus, weit
entfernt davon , eine in höherem Grade egoistische Natur des Menschen
zu bedingen , vielmehr nur mit einer weniger egoistischen Natur
vereinbar ist. Denn ein Übermaass in der einen Richtung verhütet
keineswegs ein Übermaass in der andern Richtung ; im Gegentheil
pflegen starke Abweichungen vom Mittel nach der einen Seite hin.
gewöhnlich ebensolche nach der andern Seite nach sich zu ziehen.
Dieselbe Gesellschaft , in welcher die übertriebensten Grundsätze
der Selbstaufopferung zum Besten des Nächsten laut verkündet wer
den, ist im Stande, die gewissenloseste Aufopferung fremder Mit
geschöpfe nicht blos zu dulden , sondern sogar zu billigen. Hand
in Hand mit offenkundigem Eifer , diese übertriebenen Grundsätze
unter den Heiden zu verbreiten, kann die willkürliche Anzettelung
eines Krieges mit denselben gehen , in der Absicht, ihr Gebiet zu
annexiren. Männer, die jeden Sonntag den Geboten gelauscht und
zugestimmt haben , welche die Rücksicht für andere Menschen bis
zu einem ganz unausführbaren Maasse treiben , bringen es doch zu
wege, sich zu vermiethen , um auf Commandowort jedes beliebige
Volk in jedem Welttheil abzuschlachten , absolut gleichgültig dafür ,
wie gerecht oder ungerecht die von ihnen verfochtene Sache sei . Und
wie in diesen Fällen transcendentaler Altruismus der Theorie sich
mit brutalem Egoismus der Praxis verschwistert , so kann umgekehrt
ein eingeschränkterer Altruismus einen bedeutend gemilderten Egois
mus zum Begleiter haben . Denn indem man die gebührenden An
sprüche des eigenen Ich betont, zieht man im Grunde zugleich eine
Grenzscheide , jenseits deren jene Ansprüche ungebührlich wären ,
und rückt in Folge dessen auch die Ansprüche der Andern in ein
helleres Licht.
XII . Capitel.

Altruismus versus Egoismus .

§. 76.
Wenn wir den Altruismus so definiren, dass er jede Handlung
begreift, welche im normalen Verlauf der Dinge Anderen Nutzen
schafft statt dem Handelnden selbst , so ist derselbe von der ersten
Dämmerung des Lebens an nicht minder wesentlich gewesen als der
Egoismus. Obschon er ursprünglich vom Egoismus abhängig ist,
so hängt doch secundär der Egoismus von ihm ab.
Zum Altruismus in diesem umfassenden Sinne rechne ich auch
die Handlungen , durch welche die Nachkommenschaft versorgt und
die Gattung erhalten wird. Ausserdem müssen in dieser Gruppe
nicht blos solche Thätigkeiten zusammengefasst werden , die von
Bewusstsein begleitet sind, sondern auch solche, die zur Wohlfahrt
der Nachkommenschaft beitragen ohne geistige Wiedergabe dieser
Wohlfahrt - Thätigkeiten des automatischen Altruismus , wie wir
sie nennen könnten. Ebenso wenig dürfen dabei jene niedrigsten
altruistischen Thätigkeiten übergangen werden , welche der Arterhal
tung dienen , selbst ohne auch nur automatische Nervenprocesse vor
auszusetzen - Thätigkeiten, die nicht im entferntesten Sinne psy
chischer, sondern in ganz buchstäblichem Sinne physischer Natur
sind . Überhaupt, welche unbewusste oder bewusste Handlung immer
einen Aufwand an individuellem Leben zum Zwecke der Vermehrung
des Lebens anderer Individuen bedingt, ist unzweifelhaft in gewissem,
wenn auch nicht im gewönlichen Sinne altruistisch zu nennen , und
es ist wichtig, dieselben hier in diesem Sinne aufzufassen , um er
kennen zu können, wie der bewusste aus dem unbewussten Altruis
mus hervorgeht.
Die einfachsten Wesen vermehren sich gewöhnlich durch spon
tane Theilung. In diesem Falle lässt sich die Sache so auffassen,
dass der physische Altruismus von niedrigster Art , welcher sich
vom physischen Egoismus zu differenciren beginnt, doch noch nicht
davon unabhängig geworden ist. Denn da die beiden Theile , welche
220 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII.

vor der Theilung das Individuum ausmachten , nach derselben nicht


verschwinden , so müssen wir zugeben, dass , trotzdem die Indivi
dualität des älterlichen Infusoriums oder sonstigen Urwesens ver
loren geht, indem es aufhört, ein Einzelnes zu sein, doch das alte
Individuum in jedem der neuen Individuen zu existiren fortfährt.
Wenn jedoch, wie dies ganz allgemein bei diesen kleinsten Thier
chen vorkommt , nach einer Zwischenzeit der Ruhe ein Zerfall des
ganzen Körpers in winzige Stückchen eintritt, deren jedes der Keim
eines Jungen ist, so sehen wir den Erzeuger vollständig aufgeopfert ,
indem er die Nachkommenschaft hervorbringt.
Hier könnte des Näheren beschrieben werden , wie bei Ge
schöpfen aus höhern Classen die Ältern durch Theilung oder Knospen
bildung mehr oder weniger organisirte Theile ihres Körpers dahin
geben , um auf Kosten ihrer eigenen Individualität eine neue Genera
tion zu bilden . Auch liessen sich zahlreiche Beispiele der verschie
denen Weisen angeben , wie die Ausbildung der Eier sich bis zu
dem Maasse steigert , dass der älterliche Körper wenig mehr als
ein Gefäss für dieselben darstellt, was nichts Anderes besagt , als
dass die Ansammlung von Nährstoffen , welche durch die älterliche
Thätigkeit stattgefunden hat, ausschliesslich zu Gunsten der Nach
kommenschaft verwerthet wird. Und sodann könnten wir uns über
die mannichfaltigen Fälle verbreiten, wo , wie dies z. B. allgemein
in der Insectenwelt vorkommt, das Leben sein Ende findet , sobald
die volle Reife erreicht und für eine neue Generation gesorgt worden
ist ――――― wo der Tod unmittelbar auf die für die Nachkommen ge
brachten Opfer folgt.
Lassen wir jedoch diese niedrigen Classen , in welchen der
Altruismus nur physischer oder nur physischer und zugleich auto
matisch-psychischer Natur ist, bei Seite und steigen wir zu jenen
empor, in welchen sich ausserdem in erheblichem Grade Bewusst
sein damit verbindet. Wenn auch bei Vögeln und Säugethieren
diejenigen älterlichen Thätigkeiten, welche durch den Instinct ge
leitet werden , entweder von gar keinen oder nur von unbestimmten
Vorstellungen der Vortheile begleitet sind , welche den Jungen zu
Gute kommen, so finden wir doch bei ihnen auch gewisse Hand
lungen, die wir zu den altruistischen im höhern Sinne rechnen
können . Die Aufregung, welche Geschöpfe aus diesen Classen ver
rathen , wenn ihre Jungen in Gefahr sind, oft verbunden mit An
strengungen zu ihrer Rettung, sowie auch der Kummer , dem sie
§. 76. Altruismus versus Egoismus . 221

nach Verlust ihrer Jungen Ausdruck geben, machen es einleuchtend,


dass bei ihnen der älterliche Altruismus bereits von einer ent
sprechenden Emotion begleitet ist.
Wer freilich unter Altruismus nur die bewusste Aufopferung
des eigenen Ich zu Gunsten Anderer bei den menschlichen Wesen
versteht, der wird es für sonderbar, wo nicht sogar für abgeschmackt
erklären, wenn die Bedeutung des Wortes hier so weit ausgedehnt
wird. Allein die Berechtigung hiezu ist grösser, als es nach dem
Bisherigen den Anschein haben möchte. Ich meine nicht blos , dass
im Laufe der Entwickelung ein Fortschritt von den rein physischen
und unbewusstenOpfern des Individuums zur Wohlfahrt der Species
durch unendlich kleine Abstufungen hindurch bis hinauf zu den
mit Bewusstsein gebrachten Opfern stattgefunden habe. Ich meine
hauptsächlich, dass die Opfer von Anfang bis zu Ende, wenn man
sie auf den einfachsten Ausdruck zurückführt , im Wesentlichen
gleicher Natur waren : jetzt so gut wie beim ersten Anfang be
dingen dieselben einen Verlust an Körpersubstanz. Wenn sich ein
Theil des älterlichen Körpers in Gestalt einer Knospe , eines Eies
oder eines Fötus ablöst, so ist das mütterliche Opfer sehr augen
fällig , und auch wenn die Mutter dem Jungen Milch darbietet ,
durch deren Genuss dasselbe wächst, so kann nicht bezweifelt wer
den, dass auch hier ein mütterliches Opfer vorliegt. Obgleich nun
aber ein solches Opfer nicht unmittelbar sichtbar wird , wo den
Jungen durch zu ihren Gunsten ausgeübte Thätigkeiten Nutzen
gebracht wird, so ist doch klar, dass keine Anstrengung gemacht
werden kann ohne einen gleichwerthigen Verbrauch der Gewebe,
dass also , weil der körperliche Verlust genau im Verhältniss zu
der Ausgabe steht, welche ohne Wiederersatz durch aufgenommene
Nahrung stattfindet, auch die bei der Pflege der Nachkommenschaft
aufgewendeten Anstrengungen in der That einen Theil der älter
lichen Substanz repräsentiren , welche nur hier auf indirectem statt
auf directem Wege dahingegeben wird .
Selbstaufopferung ist somit nicht minder ursprünglich als Selbst
erhaltung. Ist sie schon in ihrer einfachen physischen Form absolut
nothwendig für die Fortdauer des Lebens von Anfang an und hat
sie sich in ihrer automatischen Form als unentbehrlich zur Erhal
tung der Gattung auf noch viel weiter vorgeschrittene Typen aus
gedehnt, um sich dann zu ihrer halbbewussten und zur bewussten
Form zu entwickeln, in Verbindung mit der anhaltenden und com
222 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII.

plicirten Pflege, vermöge deren die Nachkommenschaft höherer Ge


schöpfe bis zum reifen Alter gefördert wird, so erkennen wir, wie
die Entwickelung des Altruismus durchweg gleichzeitig mit der
jenigen des Egoismus vor sich gegangen ist. Wie schon in einem
der ersten Capitel dargelegt wurde , hat dieselbe Überlegenheit ,
welche ein Individuum befähigte , sich selbst besser zu erhalten ,
dasselbe auch in den Stand gesetzt , die von ihm abstammenden
Individuen besser zu erhalten , und jede höhere Species , die ihre
vervollkommneten Fähigkeiten in erster Linie zu egoistischen Vor
theilen verwerthete, hat sich auch in gleichem Maasse ausgebreitet ,
als sie dieselben in zweiter Linie zu altruistischen Vortheilen aus
nützte .
Die hochwichtige Bedeutung des Altruismus erscheint bei dieser
Auffassung in der That nicht geringer als diejenige des Egoismus ,
wie dieselbe im letzten Capitel nachgewiesen wurde , denn während
auf der einen Seite eine ungenügende Entfaltung normaler egoistischer
Thätigkeiten eine Schwächung oder gar den Verlust des Lebens und
damit auch den Verlust der Möglichkeit , altruistische Thätigkeiten
auszuüben, nach sich zieht, bedingt auf der andern Seite ein Mangel
von altruistischen Thätigkeiten , der den Tod oder unzulängliche
Ausbildung der Nachkommenschaft verursacht , ein Verschwinden
dieses Charakters, der eben nicht altruistisch genug ist, aus den
künftigen Generationen und damit auch eine Abnahme des Egoismus
im Allgemeinen. Kurz jede Species ist beständig damit beschäftigt,
sich von den in ungehörigem Maasse egoistischen Individuen zu
reinigen, während ihr zugleich beständig die in ungehörigem Maasse
altruistischen Individuen verloren gehen.

§. 77.
Wie ein gradweises Fortschreiten vom unbewussten älterlichen
Altruismus bis zum bewussten älterlichen Altruismus der höchsten
Art stattgefunden hat, so zeigt sich auch ein gradweises Fortschrei
ten vom Altruismus der Familie zum socialen Altruismus.
Vor Allem ist hier der Thatsache zu gedenken , dass nur da ,
wo altruistische Beziehungen im häuslichen Kreise hochausgebildete
Formen erreicht haben, auch die Bedingungen gegeben sind, welche
eine volle Entfaltung altruistischer Beziehungen auf staatlichem
Gebiete möglich machen. Stämme, bei denen freier geschlechtlicher
Verkehr vorherrscht oder bei denen die ehelichen Verhältnisse nur
§. 77. Altruismus versus Egoismus . 223

vorübergehend sind , ebenso auch solche, bei denen durch Polyandrie


auf andere Weise ungenügend feststehende Verhältnisse bedingt
werden , sind keiner hohen Organisation fähig. Auch jene Völker,
bei denen Polygamie die Regel ist, zeigen sich nicht befähigt, jene
hohen Formen des socialen Zusammenwirkens anzunehmen, welche
eine gehörige Unterordnung des Ich unter Andere verlangen . Nur
wo die monogamische Ehe zur allgemeinen und endlich zur aus
schliesslichen Einrichtung geworden ist, ――― nur wo in Folge dessen.
die innigsten Bande der Blutsverwandtschaft geknüpft werden , -
nur wo der Familien-Altruismus am meisten gepflegt wurde , ist
auch der sociale Altruismus zu ansehnlicher Entwickelung gelangt.
Man braucht sich blos der zusammengesetzten Formen der arischen
Familie zu erinnern , wie sie von Sir HENRY MAINE und Andern be
schrieben worden sind , um einzusehen , dass der Familiensinn , indem
er sich zunächst auf das Geschlecht und den Stamm und im Wei
teren auf die aus verwandten Stämmen gebildete Gesellschaft aus
dehnte , dem Mitgefühl für Angehörige eines fremden Volkes den
Weg bereitete.
Indem wir diesen natürlichen Übergang anerkennen, kommt es
uns hier hauptsächlich auf die Wahrnehmung an, dass während der
späteren so gut wie während der früheren Stadien des Fortschritts
die Zunahme der egoistischen Genüsse stets von einer Steigerung
der Rücksicht auf die Genüsse Anderer abhängig ist. Fassen wir
eine Reihe auf einander folgender Erzeuger und Nachkommen in's
Auge, so sehen wir, dass jeder Einzelne in seiner Jugend nur ver
möge der von seinen Vorgängern gebrachten Opfer zu leben im
Stande ist , dass er aber auch selbst im erwachsenen Alter gleich
werthige Opfer für seine Nachfolger zu bringen hat und dass , wo
eine solche allgemeine Ausgleichung der empfangenen und der ge
währten Vortheile fehlt , die Linie ausstirbt. Ebenso ist es ein
leuchtend , dass in einer Gesellschaft jede Generation , da sie für
alle die Vortheile, welche ihr aus der socialen Einrichtung erwach
sen, den vorhergehenden Generationen verschuldet ist , welche eben
durch ihre Opfer diese Organisation in's Leben gerufen haben , auch
dazu verpflichtet ist, für die nachfolgenden Generationen ähnliche
solche Opfer zu bringen, welche diese Organisation zum mindesten
aufrecht erhalten , wenn nicht gar verbessern : die einzige andere
Möglichkeit ist Verfall und schliessliche Auflösung der Gesellschaft ,
224 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII.

was aber auch allmähliche Abnahme der egoistischen Genüsse ihrer


Mitglieder bedingt.
Nun sind wir darauf vorbereitet, die verschiedenen Fäden näher
zu betrachten , durch welche unter den socialen Bedingungen die
persönliche Wohlfahrt von der schuldigen Rücksicht auf die Wohl
fahrt der Andern abhängt. Die zu ziehenden Folgerungen sind
bereits im Umriss dargestellt worden. Wie in dem Capitel über
den biologischen Standpunkt die im letzten Capitel definitiv dar
gelegten Schlüsse enthalten waren , so enthielt auch das Capitel über
den sociologischen Standpunkt bereits die Schlüsse, welche hier erst
definitiv zu erörtern sind . Einige derselben sind freilich bekannt
genug, allein sie müssen nichtsdestoweniger einzeln vorgeführt wer
den , da die ganze Darstellung ohne dieselben unvollständig wäre.

§. 78.
Zunächst haben wir jenen negativen Altruismus zu behandeln ,
welcher in einer derartigen Zurückdrängung der egoistischen Im
pulse besteht, dass directer Angriff verhindert wird .
Wie früher gezeigt wurde , müssen die Menschen , wenn sie ,
statt gesondert zu leben , sich zur Vertheidigung oder zu andern
Zwecken vereinigen sollen , sämmtlich mehr Gutes als Übles von
dieser Vereinigung haben. Im Durchschnitt muss jeder von den
Gegensätzen zu den Menschen, mit welchen er gesellschaftlich ver
bunden ist, weniger Verlust haben , als er aus der geselligen Ver
bindung Gewinn zieht. Im Anfang kann also jene Steigerung
egoistischer Genüsse, welche der sociale Zustand mit sich bringt,
nur durch einen Altruismus erkauft werden , der stark genug ist,
um eine gewisse Anerkennung der Ansprüche Anderer zu bewirken :
wenn nicht eine freiwillige, so doch eine zwangsweise Anerkennung.
So lange diese Anerkennung nur von der niedrigsten Art ist,
indem sie auf der Furcht vor Vergeltung oder vor der angedrohten
Strafe beruht, kann der egoistische Gewinn aus der Vereinigung
nur ein geringer sein, und er wird erst dann erheblich, wenn die
Anerkennung eine freiwillige , d. h. wenn sie in höherem Grade
altruistisch ist. Wo dem Recht des Stärkeren gar keine Grenzen
gesetzt sind und die Männer mit einander kämpfen , um sich in
Besitz der Frauen zu setzen, und die Frauen eines Mannes um ihn
sich zanken, wie wir dies bei einigen der wilden australischen Stämme
§. 78. Altruismus versus Egoismus . 225

sehen , da wird die Verfolgung egoistischer Genüsse hiedurch sehr


gehemmt . Neben den körperlichen Schmerzen , welche gelegent
lich einem Jeden im Kampf zugefügt werden, und dem grösseren
oder geringeren Maasse von daraus entspringender Unfähigkeit , an
dere Zwecke zu erreichen, kommt noch der Verbrauch an Kraft in
Betracht , welcher mit der beständigen Bereitschaft zur Selbstver
theidigung verbunden ist , und die gleichzeitige Inanspruchnahme
des Bewusstseins durch Emotionen , die in der Mehrzahl der Fälle
unangenehmer Art sind. Überdies wird der primäre Zweck der
Sicherheit gegenüber den äussern Feinden in demselben Maasse immer
unvollkommener erreicht , je mehr innere Streitigkeiten vorherrschen ;
jene Förderung der Genüsse , welche das industrielle Zusammen
wirken ermöglicht, ist unerreichbar, und endlich kann der Trieb,
für aussergewöhnliche Vortheile zu arbeiten , nur gering sein , so
lange die Erzeugnisse der Arbeit so unsicher sind . Und von diesem
Anfangszustand lässt sich bis auf verhältnissmässig späte Stadien
herab im Tragen von Waffen, in den lange fortgesetzten Familien
kämpfen und in den täglich beobachteten Maassregeln zur persön
lichen Sicherheit klar genug verfolgen , auf welche Weise die egoisti
schen Genüsse eines Jeden durch mangelhafte Entwickelung jenes
Altruismus verkürzt werden , welcher die offene Schädigung Anderer
verhütet.
Den persönlichen Interessen des Individuums wird im Durch
schnitt um so besser Rechnung getragen , nicht allein je mehr es
sich directer Angriffe enthält , sondern auch im Ganzen je mehr es
ihm gelingt, die Angriffe seiner Genossen auf einander zu vermin
dern. Häufige Streitigkeiten in der Umgebung hemmen die Thätig
keiten, die jeder Einzelne im Streben nach seinen Genüssen durch
zuführen hat, und machen, indem sie Unordnung verursachen, die
vortheilhaften Ergebnisse der Arbeit immer zweifelhafter. Deshalb
zieht also Jeder in rein egoistischem Sinne Nutzen aus der Ausbil
dung eines Altruismus, welcher Jeden drängt , zur Verhinderung oder
Verminderung von Gewaltthätigkeiten Seitens Anderer das Seinige
beizutragen.
Dasselbe bleibt auch in Geltung , wenn wir zu jenem Altruis
mus übergehen, welcher den ungebührlichen Egoismus, soweit er
sich im Vertragsbruch äussert, in Schranken hält. Die allgemeine
Annahme des Grundsatzes, dass Ehrlichkeit die beste Politik ist,
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 15
226 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII .

setzt die allgemeine Erfahrung voraus , dass die Befriedigung der


das eigene Ich berücksichtigenden Gefühle in letzter Linie gefördert
wird durch eine solche Zurückdrängung derselben , welche einen
rechtschaffenen Verkehr möglich macht. Und hier so gut wie vor
hin ist jeder Einzelne persönlich daran interessirt, eine gute gegen
seitige Behandlung seinen Mitmenschen zu sichern. Denn auf zahl
los verschiedene Weise hat das häufige Vorkommen von betrüge
rischen Handlungen für jeden Einzelnen schlimme Folgen. Wie
Jedermann weiss : je grösser die Zahl von Kaufmannsrechnungen,
welche von Seiten der einen Kunden unbezahlt bleibt, desto höher
müssen die Preise sein, welche die übrigen Kunden bezahlen . Je
mehr die Fabrikanten durch schlechtes Rohmaterial oder durch
Sorglosigkeit ihrer Arbeiter verlieren, desto mehr müssen sie von
den Käufern ihrer Fabrikate für dieselben fordern . Je weniger zu
verlässig die Leute sind, desto höher steigt der Zinsfuss , desto
grösser wird der Betrag an Capital , das todt liegen bleibt , und
desto höher thürmen sich die Schwierigkeiten für die Industrie auf.
Je weiter die Kaufleute und das Volk im Allgemeinen über ihre
Mittel hinausgehen und das Eigenthum Anderer zu blossen Specu
lationen verwenden , desto ernster werden jene Handelskrisen , welche
eine Menge von Menschen in's Unglück stürzen und Alle irgendwie
nachtheilig berühren .
Dies leitet uns endlich auf eine dritte Weise über , wie das
persönliche Wohlergehen, welches aus der Innehaltung des richtigen
Verhältnisses zwischen erworbenem Nutzen und geleisteter Arbeit
entspringt, davon abhängig ist, dass der socialen Wohlfahrt gewisse
Opfer gebracht werden. Ein Mann , der seine ganze Kraft blos auf
Privatgeschäfte verwendet und sich weigert, sich um die öffentlichen
Angelegenheiten zu bekümmern , indem er sich noch seiner Weisheit
in der Besorgung seiner eigenen Geschäfte rühmt , ist blind gegen
die Thatsache, dass sein eigenes Geschäft ja doch nur durch das
Fortbestehen eines gesunden socialen Zustandes möglich gemacht
ist und dass ihn durch mangelhafte Regierungseinrichtungen von
allen Seiten Verluste treffen können. Wo Viele desselben Sinnes
-
sind wo sich in Folge dessen die öffentlichen Ämter mit poli
tischen Abenteurern füllen und die öffentliche Meinung durch Dema
-
gogen gemacht wird wo Bestechlichkeit die Ausführung der
Gesetze befleckt und betrügerische Staatsunternehmungen zur Ge
wohnheit werden, da trifft schwere Strafe das ganze Gemeinwesen
§. 79. Altruismus versus Egoismus . 227

und unter Andern auch diejenigen, welche auf die erwähnte Weise
Alles nur für sich und nichts für die Gesellschaft gethan haben.
Ihre Capitalanlagen sind unsicher, die Einziehung ihrer Aussenstände
ist sehr schwierig und selbst ihr Leben ist weniger sicher , als dies
sonst der Fall wäre .
So sehen wir denn also, dass von solchen altruistischen Thätig
keiten, wie sie bedingt sind erstens dadurch, dass der Einzelne ge
recht ist , zweitens dadurch, dass er im Verkehr zwischen den übri
gen Menschen Gerechtigkeit walten sieht , und drittens dadurch,
dass er alle die Mittel hochhält und verbessert, durch welche die
Gerechtigkeit geübt wird, zum wesentlichsten Theil die egoistische
Befriedigung eines Jeden abhängt.

§. 79.
Allein der Zusammenhang zwischen persönlichem Vortheil und
dem Vortheil der Mitbürger geht noch viel weiter. Noch in vielen
andern Hinsichten steigt und sinkt das Wohlergehen des Einzelnen
mit dem Wohlergehen Aller.
Ein schwacher Mann, dem man für seine eigenen Bedürfnisse
allein zu sorgen überlässt , hat darunter zu leiden , dass er sich
weniger Nahrung und andere Lebensbedürfnisse erwirbt, als er sich
verschaffen würde, wenn er stärker wäre. In einem Gemeinwesen,
das aus lauter schwachen Menschen zusammengesetzt ist , welche
sich in ihre Arbeiten theilen und ihre Erzeugnisse austauschen ,
haben Alle in Folge der Schwäche ihrer Mitbürger Nachtheile zu
erleiden. Die Menge jeder Art von Erzeugnissen wird vermindert
durch die Mangelhaftigkeit der arbeitenden Kräfte , und der Antheil
am Ganzen, welcher jedem Einzelnen für den Beitrag an eigenen
Erzeugnissen zukommt, den er zu leisten vermag, ist verhältniss
mässig klein. Gerade wie die Unterhaltung von Armen , von Hospital
kranken, von Bewohnern anderer Anstalten und überhaupt aller
derer , welche blos consumiren und nicht produciren , für die Pro
ducenten einen geringeren Vorrath an Bequemlichkeiten zur Ver
theilung übrig lässt, als es der Fall sein würde, wenn es keine
Arbeitsunfähigkeit gäbe, so muss auch hier ein geringerer Vorrath
an Bequemlichkeiten zur Vertheilung übrig bleiben , je grösser die
Zahl der unzulänglichen Producenten oder je grösser der durch
schnittliche Mangel an produciren der Kraft ist. Was immer also
die Leistungsfähigkeit der Menschen im Allgemeinen herabsetzt ,
15*
228 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII.

das verringert auch die Genüsse jedes Einzelnen , indem es die Mittel
zur Erlangung derselben theurer macht.
Noch unmittelbarer und augenfälliger wird das körperliche
Wohlbefinden seiner Mitbürger bedeutungsvoll für ihn , denn ihr
körperliches Übelbefinden vermag , sobald es gewisse Formen an
nimmt, ähnliche körperliche Nachtheile über ihn selbst zu bringen.
Wird er nicht gar selber von Cholera , Pocken oder Typhus ergriffen ,
wenn diese Krankheiten in seiner Nachbarschaft auftreten , so bat
er doch oft unter der Gefährdung seiner Angehörigen schwer zu
leiden . Die Verhältnisse seien ihrer Ausbreitung günstig , und sein
Weib erkrankt an Diphtheritis oder sein Diener wird durch Schar
lach an's Lager gefesselt oder seine Kinder ziehen sich bald diese,
bald jene ansteckende Krankheit zu . Man rechne nur die unmittel
baren und die entfernteren Übel zusammen, welche Jahr für Jahr
durch Epidemien über ihn kommen, und es wird einleuchtend, dass
seine egoistischen Genüsse ganz wesentlich durch altruistische Tha
tigkeiten gefördert werden, welche die Herrschaft der Krankheiten
zu brechen geeignet sind.
Auf zahllose Weisen sind seine Genüsse aber auch mit den
geistigen so gut wie mit den körperlichen Zuständen seiner Mit
bürger verknüpft . Die Dummheit steigert gleich der Körperschwäche
die Preise aller Lebensbedürfnisse . Wo der Landbau noch in un
verbesserter Form getrieben wird , da stehen die Preise der Nah
rungsmittel höher, als es sonst der Fall wäre ; wo sich im Handel
und Verkehr veraltete Gebräuche forterhalten haben, da lasten die
unnöthigen Ausgaben für die Vertheilung der Güter auf Allen ; wo
es an Erfindungsgabe fehlt, da verliert Jeder die Vortheile, welche
durch verbesserte Einrichtungen gewährt werden. Ausser diesen
wirthschaftlichen Übeln entspringen aber noch ganz andere aus einer
durchschnittlich niedrigen Stufe der Intelligenz - periodisch durch
die Manien und Paniken , die entstehen , weil die Handelsleute
schaarenweise zusammenstürzen, um sämmtlich zu kaufen oder sämmt
lich zu verkaufen, und dauernd durch die schlechte Verwaltung des
Rechts , welches vom Volk sowohl wie von den Herrschern miss
achtet wird , während sie diese oder jene gesetzgeberische Utopie
verfolgen. Näher liegend und unzweifelhafter ist aber die Abhängig
keit seiner persönlichen Wohlfahrt von den Zuständen Anderer,
welche jeder Einzelne im eigenen Haushalt erfährt. Unpünktlich
keit und Unordnung sind unversiegliche Quellen des Verdrusses. Die
§. 79. Altruismus versus Egoismus . 229

Ungeschicklichkeit der Köchin verursacht häufigen Ärger und ge


legentlich Verdauungsbeschwerden. Der Mangel an Vorsicht von
Seiten des Hausmädchens führt zum Fall über einen Eimer im dun
keln Hausflur, und Unaufmerksamkeit beim Empfang eines Auftrags
oder Vergesslichkeit bei der Ausrichtung desselben bedingt oft die
Nichteinhaltung einer wichtigen Verabredung . Jeder Einzelne also
zieht in egoistischem Sinne Vortheil aus einem Altruismus, welcher
die durchschnittliche Intelligenz heben hilft. Ich meine freilich
nicht jenen Altruismus , welcher den Steuerzahlern Lasten auferlegt,
damit der Geist der Kinder mit Jahreszahlen und Namen , mit aller
hand Geschichten von Königen und Schilderungen von Schlachten
und anderen unnützen Mittheilungen vollgestopft werden könne,
wovon sie noch so viel in sich aufnehmen mögen , ohne dadurch
zu fähigen Arbeitern oder zu guten Bürgern zu werden , sondern
ich meine den Altruismus , der ein ordentliches Wissen von der
Natur der Dinge verbreiten und die Fähigkeit der Verwendung
dieses Wissens fördern hilft.
Und ebenso hat endlich Jeder privatim ein Interesse an der
öffentlichen Moral und Jeder hat Vortheil davon, wenn er dieselbe
verbessert. Nicht blos auf so rohe Weise wie durch directe An
griffe und Vertragsbrüche, durch Verfälschungen und falsches Maass
und Gewicht hat jeder Einzelne unter der allgemeinen Gewissen
losigkeit zu leiden, sondern ausserdem noch in zahlreichen gering
fügigeren Formen. Bald ist es die Unzuverlässigkeit einer Herrschaft ,
die einem schlechten Dienstboten ein gutes Zeugniss ausstellt, bald
ist es die Unachtsamkeit der Waschfrau , welche die Wäsche zu
Grunde richtet, indem sie Bleichmittel verwendet , um sich die Ar
beit des Waschens zu ersparen , oder es ist die absichtliche Täuschung
durch Mitreisende auf der Eisenbahn , welche ihre Mäntel ausbreiten ,
um Einen glauben zu lassen , dass alle Sitze im Coupé besetzt seien ,
während dies doch nicht der Fall ist . Gestern führte die Erkrankung
eines Kindes in Folge der Entwickelung schädlicher Gase zur Ent
deckung eines Abzugsrohres , das sich verstopft hatte , weil es von
einem unehrlichen Maurer unter der Aufsicht eines sorglosen oder
bestochenen Werkführers schlecht gebaut worden war. Heute ver
ursachen die zur Reparatur desselben bestellten Arbeiter durch ihr
Trödeln unnöthige Kosten und Unannehmlichkeiten und man hat
Gelegenheit, ihre schlechte Arbeit, welche durch das Princip der Ver
einigungen bedingt ist, dass nämlich die bessern Arbeiter die schlech
230 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII.

teren nicht in Misscredit bringen dürfen, indem sie sich durch ihre
Leistungen vor denselben auszeichnen, auf die unmoralische Ansicht
zurückzuführen , dass es der Unwürdige ebenso gut haben müsse wie
der Würdige. Und morgen stellt sich heraus , dass durch den
Schaden, den die Dachdecker angerichtet haben, dem Klempner Ar
beit verschafft worden ist.
So gewinnt also die Besserung Anderer in physischer, intellec
tueller und moralischer Hinsicht für jeden Einzelnen persönliche
Bedeutung, da ihre Unvollkommenheiten dazu beitragen , die Preise
aller Lebensbedürfnisse, die er kauft, zu steigern , die Steuern und
Abgaben, die er zahlt , zu erhöhen und ihm Tag für Tag durch die
Sorglosigkeit, Dummheit oder Gewissenlosigkeit Anderer Verluste
an Zeit, Arbeit und Geld zuzufügen .

§. 80.
Sehr offenkundig ist ein gewisser mehr unmittelbarer Zusammen
hang zwischen persönlichem Wohlergehen und der Vorsorge für das
Wohlergehen der Umgebung. Wir erkennen denselben in den Übeln,
welche diejenigen zu erleiden haben, deren Betragen unsympathisch
ist, und den Vortheilen, welche selbstloses Handeln dem Handeln
den selbst bringt.
Dass überhaupt Jemand seiner Erfahrung in dem Satze Aus
druck geben konnte, dass die Bedingungen zum Erfolg ein hartes
Herz und eine gesunde Verdauung seien, muss billig wunder nehmen,
wenn man sich der zahlreichen Beispiele erinnert , welche beweisen ,
dass Erfolge selbst materieller Art , da sie doch stets wesentlich
von den guten Diensten Anderer abhängen , durch Alles gefördert
werden, was Andere wohlgesinnt macht. Der Gegensatz zwischen
dem glücklichen Gedeihen derer, die mit nur mässigen Fähigkeiten
eine Natur verbinden , welche durch ihre Liebenswürdigkeit zur
Freundschaft auffordert, und dem Missgeschick Anderer , die , ob
gleich mit überlegenen Geistesgaben und grösseren Fertigkeiten aus
gestattet, doch durch ihre Härte oder Gleichgültigkeit Abneigung
hervorrufen , sollte einem Jeden die Wahrheit eindrücklich genug
machen, dass egoistische Genüsse durch altruistische Handlungen
gefördert werden.
Diese Erhöhung des persönlichen Wohlseins , welche durch
Wohlthun für Andere zu erreichen ist, lässt sich jedoch nur theil
weise erreichen, wo ein selbstsüchtiges Motiv zu der scheinbar selbst
§. 80. Altruismus versus Egoismus . 231

losen Handlung antreibt : vollständig wird dies Ziel blos erreicht,


wo die Handlung wahrhaft selbstlos ist . Wenn auch ein Dienst,
im Hinblick darauf geleistet, dass ich eines Tages eine Gegenleistung
empfangen werde, bis zu einem gewissen Grade seinen Zweck er
füllen mag, so ist dies doch gewöhnlich nur bis zu dem Grade der
Fall , dass er nur eine ungefähr gleichwerthige Gegenleistung ein
trägt . Wer mehr als Gleichwerthiges leistet, der wird überhaupt
nicht durch irgend einen Gedanken an gleichwerthige Gegenleistun
gen angetrieben. Denn offenbar ist es nur das spontane Überfliessen
einer guten Natur, nicht blos in den bedeutenderen Handlungen des
Lebens, sondern auch in allen seinen Einzelheiten , was in der ganzen
Umgebung die Anhänglichkeit erzeugen kann , aus der wieder un
getrübtes Wohlwollen entspringt.
Auch abgesehen jedoch von der Förderung der Wohlfahrt tragen
solche auf Andere bezügliche Handlungen noch erheblich zu auf das
Ich bezüglichen Genüssen bei , indem sie eine frohe Umgebung schaffen .
Mit einem sympathischen Wesen empfindet Jedermann weit mehr
Sympathien als mit einem andern . Jeder kommt mit mehr als
gewöhnlicher Liebenswürdigkeit einem Menschen entgegen, der selbst
zu jeder Stunde ein liebevolles Herz verräth . Ein solcher ist that
sächlich von einer Welt voll besserer Menschen umgeben als einer,
der minder anziehend erscheint. Vergleichen wir die Lage eines
im Besitz aller materiellen Mittel zum Glück befindlichen Menschen,
der sich aber durch seinen starren Egoismus vereinsamt hat , mit
der Lage eines altruistischen Menschen , der verhältnissmässig arm
ist an Mitteln , aber reich an Freunden, so wird uns verständlich ,
warum so mannichfaltige Genüsse, die nicht mit Geld zu erkaufen
sind , dem letzteren im Übermaass zuströmen , während sie dem
ersteren für immer unzugänglich bleiben.
Während es also eine Art von auf Andere bezüglichen und das
Wohlergehen der Mitbürger im Allgemeinen fördernden Handlungen
gibt, welche man absichtlich aus Beweggründen verfolgen darf, die
in letzter Linie das eigene Ich im Auge haben - auf der Über
zeugung fussend, dass das persönliche Wohlergehen in bedeutendem
Maasse von der Wohlfahrt der Gesellschaft abhängt — gibt es noch
eine zweite Art von auf Andere bezüglichen Handlungen, welche das
Element einer bewussten Rücksicht auf sich selbst absolut nicht in
sich dulden und welche nichtsdestoweniger wesentlich zur egoisti
schen Befriedigung beitragen .
232 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII.

§. 81 .
Es gibt aber noch andere Verhältnisse, in denen der nicht durch
Altruismus eingeschränkte Egoismus in der Regel zu kurz kommt.
Derselbe verkleinert nämlich die Gesammtsumme der egoistischen
Freuden, indem er die Empfänglichkeit für Freuden in mehreren
Richtungen herabsetzt .
Alle Formen der Selbstbefriedigung , mag man sie gesondert
oder im Ganzen betrachten , verlieren ihre anfängliche Intensität
durch zu lange Dauer derselben , wie es der Fall ist, wenn sie zum
ausschliesslichen Gegenstand des Strebens gemacht werden . Das
Gesetz, dass jede Function mit Verbrauch verbunden ist und dass
ein Vermögen, dessen Ausübung Freude gewährt , nicht unaufhörlich
thätig sein kann , ohne Erschöpfung und in Begleitung davon auch
Sättigung zur Folge zu haben , gestattet die Folgerung, dass Zwischen
zeiten, während deren die Kräfte durch altruistische Thätigkeiten
in Anspruch genommen werden , gerade die nothwendigen Ruhe
pausen sind, welche die Empfänglichkeit für Freuden ihre volle Höhe
wiedererlangen lassen. Die Empfindlichkeit für rein persönliche
Genüsse erhält sich auf einem höhern Niveau bei denen , welche
auch für die Genüsse Anderer sorgen , als bei denen , welche sich
ganz und gar ihren persönlichen Genüssen widmen.
Wenn diese Sätze selbstverständlich für die Zeit gelten , so
lange die Wellen des Lebens hoch gehen, so werden sie noch selbst
verständlicher , wenn die Ebbe des Lebens herannaht. Im Mannes
und Greisenalter ganz besonders können wir sehen , wie in dem
Maasse , als egoistische Freuden schwächer werden , altruistische
Thätigkeiten dafür eintreten , um dieselben in neuen Formen wieder
zubeleben. Der Gegensatz zwischen dem Entzücken des Kindes über
die neuen Dinge, welche ihm jeder Tag enthüllt, und der Gleich
gültigkeit, welche sich geltend macht, je mehr die umgebende Welt
uns vertraut wird, bis im erwachsenen Alter nur noch verhältniss
mässig wenige Dinge übrig bleiben , welche grossen Genuss gewähren,
drängt einen Jeden zu der Betrachtung, dass die Freuden sich ab
schwächen, je mehr die Jahre dahinschwinden . Und jedem Denken
den wird es klar, dass nur noch durch Mitgefühl Freuden indirect
aus Dingen gewonnen werden können , welche längst aufgehört
haben, directe Freuden zu gewähren . Dies tritt ganz auffällig in
den Genüssen hervor, welche Ältern aus den Freuden ihrer Kinder
§. 81. Altruismus versus Egoismus . 233

schöpfen . So alltäglich auch die Bemerkung ist , dass die Menschen


in ihren Kindern von neuem aufleben , so ist es doch nicht über
flüssig, dieselbe hier zu wiederholen , indem sie uns daran erinnert,.
auf welche Weise , wenn die egoistischen Genüsse im Leben ver
schwinden, der Altruismus diese erneuert, indem er sie umgestaltet.
Hiedurch werden wir zu einer allgemeineren Betrachtung über
geleitet - zu der egoistischen Ansicht der altruistischen Freuden.
Es ist natürlich hier nicht am Platze, die Frage zu erörtern, ob sich
das egoistische Element ganz aus dem Altruismus ausmerzen lasse ,
noch auch eine Unterscheidung aufzustellen zwischen dem Altruis
mus, welcher erstrebt wird im Hinblick auf das dadurch zu erlan
gende angenehme Gefühl, und dem Altruismus , welcher, obgleich
er dies angenehme Gefühl erreicht, doch nicht das Streben danach
zu seinem Beweggrund macht. Uns beschäftigt hier nur die That
sache, dass der eine altruistische Handlung begleitende Geistes
zustand, mag derselbe absichtlich oder unabsichtlich erzielt worden
sein, jedenfalls ein angenehmer Zustand ist und daher in der Summe
von Freuden, welche das Individuum zu geniessen vermag , mit in
Anschlag gebracht werden muss, dass er also in diesem Sinne nicht
anders als egoistischer Art sein kann . Dass wir die Sache so auf
fassen müssen , beweist schon die Beobachtung, dass diese Freuden
gleich jeder Freude überhaupt zum physischen Wohlergehen des
Ich beitragen . Wie jede andere angenehme Emotion die Flut des
Lebens verstärkt , so auch die angenehme Emotion , welche eine
wohlwollende Handlung begleitet. So wenig es geleugnet werden
kann, dass der durch den Anblick fremder Leiden verursachte Schmerz
die Lebensfunctionen herabstimmt —— manchmal sogar bis zu dem
Grade, dass das Herz still steht, wie bei Jemand, der angesichts
einer chirurgischen Operation in Ohnmacht fällt so wenig kann
auch geleugnet werden, dass die beim Anblick der Freuden Anderer
empfundene Freude die Lebensfunctionen steigert . Wie sehr wir
uns also auch dagegen sträuben mögen , altruistische Freuden als
eine höhere Art von egoistischen Freuden aufzufassen, so sehen wir
uns doch zur Anerkennung der Thatsache gezwungen , dass ihre
unmittelbaren Wirkungen , dass sie nämlich das Leben erweitern
und so das persönliche Wohlergehen befördern , ganz den Wirkungen
jener Freuden gleich sind, welche wir unmittelbar egoistische nennen .
Und daraus ergibt sich als nothwendige Folgerung, dass der reine
Egoismus selbst in seinen unmittelbaren Resultaten mit geringerem
234 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII.

Erfolge egoistisch ist als der in gehörigem Maasse durch Altruis–


mus eingeschränkte Egoismus, welcher nicht nur ganz neue Freuden
erzielt , sondern zugleich vermöge der gesteigerten Lebensfrische
eine grössere Empfänglichkeit für Freuden im Allgemeinen zur
Folge hat.
Dass auch das Gebiet der ästhetischen Genüsse für eine
altruistische Natur ein weiteres ist als für eine egoistische , ist
gleichfalls eine nicht zu übersehende Wahrheit. Die Freuden und
Leiden menschlicher Wesen bilden eines der wesentlichsten Elemente
unter den Gegenständen der Kunst und offenbar steigert sich die
Freude, welche die Kunst gewähren kann , um so mehr, je lebhafter
das Mitgefühl mit diesen Freuden und Leiden ausgebildet ist. Wenn
wir die Dichtungen der alten Zeiten , welche sich hauptsächlich mit
dem Krieg beschäftigen und grausame Instincte durch Beschreibung
blutiger Siege zu befriedigen suchen , mit der Poesie neuerer Zeiten
vergleichen, in welcher Mord und Todschlag nur eine untergeord
nete Rolle spielen , während ein grosser Theil von sanfteren Regun
gen handelt und die Gefühle der Leser zu Gunsten des Schwachen
zu stimmen sucht , so zeigt sich uns , dass sich mit der Ausbildung
einer mehr altruistischen Natur für den Menschen ein Gebiet des
Genusses eröffnet hat, welches dem gefühllosen Egoismus barbari
scher Zeiten ganz und gar unzugänglich war. So besteht auch
zwischen den Erzählungen der Vergangenheit und denjenigen der
Gegenwart der Unterschied , dass in jenen beinah ausschliesslich nur
die Thaten der herrschenden Classen vorkamen und unter diesen
hauptsächlich bei ihren Kämpfen und Gewaltthaten verweilt wurde ,
während die letzteren , die sich hauptsächlich Vorgänge aus einem
friedlichen Leben und zwar in beträchtlichem Umfange das Leben
der untern Classen zum Gegenstand nehmen, uns in den alltäglichen
Freuden und Leiden gewöhnlicher Menschen eine ganz neue Welt
von Interessen enthüllen. Ein ähnlicher Gegensatz existirt zwischen
den älteren und neueren Formen der plastischen Kunst. Wo es
nicht Cultushandlungen sind , da stellen die Wandsculpturen und
Wandgemälde der Assyrer und Ägypter oder die Tempeldecorationen
bei den Griechen nur die Thaten von Eroberern dar , wogegen in
den neueren Zeiten die Werke, welche zerstörende Thätigkeiten ver
herrlichen, immer weniger zahlreich werden, dafür aber in zunehmen
der Anzahl andere Werke vorkommen, welche die sanfteren Gefühle
des Beschauers befriedigen. Um sich klar zu machen, dass Jeder,
§. 82. Altruismus versus Egoismus . 235

der sich gar nicht um die Gefühle anderer Wesen kümmert , von
einem weiten Gebiet ästhetischer Freuden ausgeschlossen ist, braucht
man sich blos zu fragen, ob wohl zu erwarten wäre, dass Menschen ,
die an Hundekämpfen Freude finden , BEETHOVEN'S „Adelaide " zu
würdigen verstünden , oder ob wohl TENNYSON's n In Memoriam " eine
Rotte von Verbrechern besonders rühren würde .

§. 82.
Von den ersten Anfängen des Lebens an ist also der Egoismus
ebenso gut vom Altruismus abhängig gewesen wie der Altruismus
vom Egoismus, und im Fortgange der Entwickelung haben sich die
gegenseitigen Dienstleistungen beider beständig vermehrt.
Die rein physische und unbewusste Selbstaufopferung der Er
zeuger , um Nachkommenschaft hervorzubringen , welche uns die
niedrigsten Lebewesen allstündlich darbieten , führt uns in primitiv
ster Gestalt den Altruismus vor Augen, welcher erst den Egoismus
des individuellen Lebens und Wachsthums möglich macht. Steigen
wir zu Geschöpfen höherer Ordnung auf, so erscheint dieser älter
liche Altruismus als directe Hingabe nur eines Theiles des Körpers ,
aber verbunden mit einer stets zunehmenden Hülfeleistung von Seiten
des übrig gebliebenen Körpers in Gestalt von Geweben, welche durch
die zu Gunsten der Nachkommenschaft gemachten Anstrengungen
verbraucht werden . Diese indirecte Aufopferung von Substanz, welche
immer mehr die directe Aufopferung ersetzt, je höher sich der älter
liche Altruismus erhebt, erhält sich bis zum letzten Stadium fort, um
hier auch eine Form des Altruismus darzustellen, welche zwar nicht
mehr älterlicher Altruismus ist, denn auch diese Form bedingt Ver
lust an Substanz, während Anstrengungen gemacht werden, welche
sich nicht selbst direct durch persönliche Massenzunahme belohnen.
Nachdem wir dargelegt, wie im Menschengeschlecht der älter
liche und der Familienaltruismus in den socialen Altruismus über
gehen, bemerkten wir, dass eine Gesellschaft gleich einer Species
nur unter der Bedingung fortleben kann, dass jede Generation ihrer
Mitglieder gleichwerthige Vortheile auf die nächste übertrage , als
wie sie selbst von der vorhergehenden empfangen hat. Und darin
liegt ausgesprochen , dass die Sorge für die Familie durch Sorge
für die Gesellschaft ergänzt werden muss.
Da die volle Entfaltung der egoistischen Genüsse im gesell
schaftlichen Zustande in erster Linie von der Aufrechterhaltung des
236 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XII.

normalen Verhältnisses zwischen aufgewendeten Anstrengungen und


---
hiedurch erlangten Vortheilen abhängt ein Verhältniss , das über
haupt die Grundlage alles Lebens bildet - so wird dadurch ein
Altruismus bedingt, welcher sowohl zu gerechtem Handeln als auch
zum Erzwingen der Gerechtigkeit antreibt. Das Wohlbefinden jedes
Einzelnen ist aber noch auf mancherlei andere Weise mit dem
Wohlbefinden Aller verknüpft. Alles , was zu ihrer körperlichen
Kräftigung beiträgt, ist wichtig für ihn, denn es verringert die
Kosten für die Dinge, die er zu kaufen hat. Alles, was dazu bei
trägt, sie von Krankheit zu befreien , ist wichtig für ihn, denn es
vermindert für ihn selber die Möglichkeit, in Krankheit zu verfallen.
Alles, was ihre Intelligenz erhöht, ist wichtig für ihn, denn tag
täglich werden ihm durch die Unwissenheit oder Thorheit Anderer
Unannehmlichkeiten bereitet. Alles, was ihre Sittlichkeit fördert ,
ist wichtig für ihn, denn fast bei jedem Schritt hat er unter dem
durchschnittlichen Mangel an Gewissenhaftigkeit zu leiden .
Noch viel unmittelbarer jedoch hängen seine egoistischen Ge
nüsse von jenen altruistischen Thätigkeiten ab , welche die Sym
pathien Anderer zu erwerben geeignet sind. Indem der Selbst
süchtige sich seine nächsten Angehörigen entfremdet , verliert er
auch die nicht mit Geld zu bezahlende Hülfe, welche sie ihm ge
währen könnten, schliesst er sich gegen ein weites Gebiet socialer
Freuden ab und macht er es sich selbst unmöglich , jene erheben
den Freuden und jene Milderung der Schmerzen zu erfahren , welche
aus dem Mitgefühl der Menschen für ihre Lieben entspringen.
Endlich schneidet sich der ungehörige Egoismus in's eigene
Fleisch, indem er eine allgemeine Unempfänglichkeit für Glück nach
sich zieht. Rein egoistische Genüsse werden bei Übersättigung
minder lebhaft empfunden und zwar schon in jugendlichen Lebens
altern ,bis sie in den spätern fast vollständig verschwinden ; die
weniger übersättigenden Genüsse des Altruismus aber bleiben dann
während des ganzen Lebens und besonders in jenem Abschnitt des
selben aus, wo sie im grössten Umfange die egoistischen Genüsse
ersetzen sollten, und zuletzt tritt auch ein Mangel an Empfindungs
vermögen für ästhetische Freuden höherer Art ein.
Andeutungsweise sei hier noch auf die überhaupt kaum je an
erkannte Wahrheit hingewiesen , dass diese Abhängigkeit des Egois
mus vom Altruismus sich über die Grenzen jeder einzelnen Gesell
schaft hinauserstreckt und stets nach Universalität hinstrebt . Dass
§. 82. Altruismus versus Egoismus . 237

sie innerhalb jeder Gesellschaft um so inniger wird , je weiter die


sociale Entwickelung, welche ja eben eine Verstärkung der gegen
seitigen Abhängigkeit bedingt, fortschreitet, braucht nicht besonders
bewiesen zu werden , und es folgt von selbst daraus , dass , sowie
die Abhängigkeit der einzelnen Gesellschaften von einander durch
.
Handelsverkehr eine Steigerung erfährt , das innere Wohlergehen
einer jeden für die andern zu einer Sache von grosser Wichtigkeit
wird . Dass die Verarmung eines Landes , indem sie sowohl seine
Productions- als seine Consumtionskräfte vermindert , zum grossen
Nachtheil der mit demselben in Handelsverkehr stehenden Völker
ausschlägt , ist ein Gemeinplatz der Nationalökonomie. Überdies
haben wir in den letzten Jahren reichlich Gelegenheit gehabt, Er
fahrungen hinsichtlich der durch Kriege zwischen anderen Nationen
hervorgerufenen industriellen Stockungen zu sammeln , durch welche
Noth und Elend über ganze Völker gebracht wird , die unmittelbar
gar nicht dabei betheiligt waren . Und wenn die egoistischen Ge
nüsse der Mitglieder jeder Gemeinschaft durch Angriffe der benach
barten Gemeinschaften auf einander vermindert werden, so bewirkt
dies eine Gesellschaft in noch viel höherem Grade durch ihre eigenen
Angriffe. Wer darauf Acht hat, wie in allen Welttheilen jene ge
wissenlose Gier nach Eroberungen , die sich mit dem Vorwande
bemäntelt, die Segnungen englischer Herrschaft und englischer Re
ligion verbreiten zu wollen , jetzt zum ungeheuern Schaden der in
dustriellen Classen zu Hause ihre Rückwirkungen geltend zu machen
beginnt, indem sie einerseits die Ausgaben steigert und anderseits
den Handel lähmt, der muss einsehen, dass eben diese industriellen
Classen, weil sie ganz von den Fragen über Capital und Arbeit in
Anspruch genommen waren und sich gar nicht um unser Verhalten
im Ausland kümmern zu sollen glaubten , nun an den Folgen des
Mangels jenes weiterblickenden Altruismus zu leiden haben, welcher
streng an einer gerechten Behandlung anderer, wilder so gut wie
civilisirter Völker festhalten sollte. Und er wird auch erkennen ,
dass sie abgesehen von diesen unmittelbaren Übeln auf Generationen
hinaus noch unter den Übeln zu leiden haben werden, welche aus
der Wiedererweckung jenes Typus der socialen Organisation , der
eine Neigung zum Angreifen hervorruft, und aus der tieferen Stufe
der Moral entspringen müssen , die stets in seiner Begleitung
auftritt.
XIII. Capitel.

Untersuchung und Compromiss.

§. 83.

In den zwei vorhergehenden Capiteln ist die Sache zu Gunsten


des Egoismus und sodann zu Gunsten des Altruismus dargestellt
worden. Beide Parteien streiten mit einander, und wir haben nun
zu überlegen, was für ein Urtheil zu fällen ist.
Wenn die entgegengesetzten Darstellungen beider zutreffend
sind oder wenn jede auch nur zum Theil zu Recht bestehen kann,
so muss daraus geschlossen werden , dass der reine Egoismus ebenso
wie der reine Altruismus gesetzlich unzulässig ist . Ist der Grund
satz falsch : „ Lebe für Dich selbst " , so ist es auch der Grundsatz :
„ Lebe für Andere " . Ein Compromiss bleibt also als einzige Mög
lichkeit übrig .
Dieses Schlussergebniss will ich, obwohl es bereits unvermeid
lich erscheint, doch hier nicht ohne weiteres als bewiesen hinstellen .
Es soll die Aufgabe dieses Capitels sein , dasselbe vollständig zu
rechtfertigen, und ich spreche es nur deshalb gleich im Anfang aus ,
weil die Beweisführung leichter verständlich werden wird , wenn
der Schluss , dem sie entgegenstrebt, dem Leser bereits vor Augen
schwebt.
Wie sollen wir die Discussion einleiten , um diese Noth
wendigkeit eines Compromisses möglichst klar hervortreten zu lassen ?
Es dürfte vielleicht am besten sein , die Ansprüche der einen von
beiden Parteien in ihrer extremsten Form hinzustellen und dann
das Widersinnige derselben hervorzuheben. Das Princip der reinen
Selbstsucht so zu behandeln , würde jedoch unnöthige Raumver
schwendung sein. Es ist Jedermann einleuchtend , dass eine un
gezügelte Befriedigung aller persönlichen Gelüste in jedem Augen
blicke, ohne jede Rücksicht auf alle andern Wesen , nur allgemeinen
Kampf und sociale Auflösung zur Folge haben würde. Das Princip
der reinen Selbstlosigkeit dagegen, das weniger auffallendes Unheil
nach sich zieht, mag zu diesem Zwecke besser geeignet sein.
§. 84. Untersuchung und Compromiss . 239

Die Lehre, dass das Glück Anderer allein den wahren ethischen
Endzweck bilde, stellt sich uns von zwei verschiedenen Seiten dar.
Die " Andern " können einmal persönlich aufgefasst werden, als In
dividuen, mit denen wir in directe Beziehung treten, oder sie können
unpersönlich , als die Bestandtheile des Gemeinwesens aufgefasst
werden. Insoweit es sich um die durch reinen Altruismus bedingte
Selbstaufopferung handelt, ist es freilich gleichgültig , in welchem
Sinne die Andern " gebraucht werden. Es wird aber die Kritik
erleichtern, wenn wir zwischen diesen beiden Formen unterscheiden.
Fassen wir zunächst die letztere in's Auge.

S. 84.
Dies erheischt vor Allem eine Prüfung des Princips des gröss
ten Glückes " , wie es von BENTHAM und seinen Nachfolgern aus
gesprochen worden ist. Es wird nun zwar allerdings nicht sofort
zugestanden , dass die Lehre , das allgemeine Glück " habe den
Gegenstand des Strebens zu bilden , mit dem reinen Altruismus
identisch sei. Da aber , wenn wirklich das allgemeine Glück das
wahre Endziel des Handelns bildet, das handelnde Individuum seinen
Antheil daran blos als eine Einheit im ganzen Aggregat betrachten
muss , die von ihm nicht höher geschätzt werden darf als irgend
eine andere Einheit, und da diese Einheit im Vergleich zum ganzen
Aggregat beinah unendlich klein ist , so folgt daraus , dass sein
Handeln , sofern es ausschliesslich auf Erzielung allgemeinen
Glückes gerichtet ist , wenn auch nicht absolut, so doch so nahe
als möglich altruistisch ist. Deshalb darf die Theorie, welche all
gemeines Glück zum unmittelbaren Gegenstand des Strebens macht,
wohl mit Recht als die eine Form des Altruismus hingestellt wer
den, die hier erörtert werden soll.
Sowohl um diese Erklärung zu rechtfertigen, als auch um einen
bestimmt formulirten Satz zu haben, an den wir uns halten können,
will ich damit beginnen, eine Stelle aus Herrn MILL'S „ Utilita
rismus zu citiren .
»Das Princip des grössten Glückes " , sagt er, »ist ein leeres
>Wortgebilde ohne vernünftige Bedeutung, sofern nicht das Glück einer
> Person unter Voraussetzung eines gleichen Grades (und mit der nöthi
»gen Einschränkung für verschiedene Arten desselben) genau so hoch
»in Anschlag gebracht wird als das einer andern . Sind aber diese Be
>dingungen erfüllt, so könnte man BENTHAM'S Ausspruch : Jeder hat
240 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII .

„,,für Einen , Niemand für mehr als für Einen zu gelten' , ganz wohl
>> als erklärenden Commentar unter das Nützlichkeitsprincip setzen <
(p. 91 ).
Obgleich nun die Bedeutung des " grössten Glückes " als End
zweck hier bis zu einem gwissen Grade definirt ist, so macht sich
doch das Bedürfniss nach einer schärferen Definition in dem Augen
blicke geltend, wo wir versuchen , uns über die Mittel zur Regelung
des Handelns zu entscheiden , um jenen Endzweck zu erreichen . Vor
Allem erhebt sich die Frage : Müssen wir dieses Princip des höch
,,sten Glückes " als leitenden Grundsatz für die Gemeinschaft in
ihrer gesammten Empfindungsfähigkeit oder für ihre einzelnen Mit
glieder oder für beide annehmen ? Lautet die Antwort , dass das Princip
eher als Leiter der Regierungshandlungen als der individuellen Thätig
keiten zu nehmen sei , so tritt uns sofort die zweite Frage entgegen :
Was soll als Leiter für die individuellen Handlungen dienen ? Wenn
diese nicht etwa nur zu dem Zweck geregelt werden sollen , um „ das
grösste Glück der grössten Anzahl " zu erreichen , so wird irgend
ein anderes Princip der Regelung für die individuellen Handlungen
gefordert und das Princip des grössten Glückes ist also nicht im
Stande , uns den nöthigen ethischen Maassstab zu geben. Sollte
aber erwidert werden , dass das Individuum in seiner Eigenschaft
als staatliche Einheit sich die Förderung des allgemeinen Glückes
zum Ziel setzen müsse, indem es im Hinblick auf dieses Ziel seine
Stimme abgibt oder sonstwie auf die Gesetzgebung einzuwirken
sucht , und dass es ihm insoweit nicht an der nöthigen Leitung
mangle, so bleibt immer noch die Frage : Woher soll die Leitung
für den übrigbleibenden Theil des individuellen Handelns kommen,
der bei weitem der grössere ist ? Wenn dieser Privatabschnitt des
individuellen Handelns sich nicht das allgemeine Glück zum directen
Endzweck nehmen soll , so muss doch hiefür wieder ein anderer
ethischer Maassstab als der hier gebotene aufgesucht werden .
So lange also der reine Altruismus, so formulirt, nicht seine
Unzulänglichkeit eingesteht , muss er sich als ausreichendes Gesetz
für alles Handeln , das individuelle so gut wie das sociale, recht
1
fertigen. Wir wollen ihn zunächst daraufhin in's Auge fassen, dass
er als das wahre Princip für die öffentlichen Einrichtungen , und
sodann daraufhin , dass er als solches für die Privatthätigkeit hin
gestellt wird .
§. 85. Untersuchung und Compromiss . 241

§. 85.

Versucht man die eigentliche Bedeutung des Satzes zu ver


stehen , dass , wenn allgemeines Glück das Endziel bilde , als Gesetz
gelten müsse, dass - „ Jeder für Einen und Niemand für mehr als
für Einen zu gelten habe " , so wird man auf die Frage der Ver
theilung geführt. Wir können uns nun keine Vorstellung von einer
Vertheilung machen , ohne an etwas Vertheiltes und an die Em
pfänger dieses Etwas zu denken. Um uns also den Sinn jenes Satzes
ganz klar zu machen, müssen wir diese beiden Elemente desselben
möglichst klar zu fassen suchen. Halten wir uns zuerst an die
Empfänger.
„ Jeder hat für Einen und Niemand für mehr als für Einen zu
, gelten. " Soll dies bedeuten, dass hinsichtlich jedes beliebigen zu
vertheilenden Gutes jeder Einzelne denselben Antheil daran zu be
kommen habe, welches immer sein Charakter , welches immer sein
Handeln sei ? Soll der Träge ebenso viel haben wie der Thätige?
Soll der Unnütze ebenso viel haben wie der Nützliche ? Soll der
Verbrecher ebenso viel haben wie der Tugendhafte ? Wenn die Ver
theilung ohne Rücksicht auf die Natur und die Thaten der Empfän
ger vorgenommen werden soll, so muss erst nachgewiesen werden ,
dass ein System, das so weit als möglich eine gleichmässige Behand
lung der Guten und Bösen anstrebt, auch von wohlthätigen Folgen
sein werde . Geschieht die Vertheilung nicht unterschiedslos , so
verliert die Formel alle Bedeutung. Das zu Vertheilende müsste
dann anders als zu gleichen Theilen bemessen werden . Es müsste
eine Abschätzung verschiedener Grössen je nach den Verdiensten
stattfinden und wir würden in Betreff der Art dieser Abschätzung
abermals im Dunkel bleiben - wir hätten wieder ein neues leiten
des Princip aufzusuchen.
Fragen wir uns nun zweitens , was unter dem zu Vertheilenden
zu verstehen wäre ? Der nächstliegende Gedanke ist der, dass das
Glück selbst unter Alle gleichmässig vertheilt werden müsse. Buch
stäblich genommen liegt in den Sätzen, dass das grösste Glück das
zu erstrebende Endziel bilden und dass bei der Vertheilung desselben
Jeder für Einen und Niemand für mehr als für Einen gelten solle ,
die Voraussetzung ausgesprochen, dass das Glück etwas sei , was in
Portionen zerlegt und herumgereicht werden könne. Dies ist jedoch
eine unmögliche Auffassung. Haben wir aber die Unmöglichkeit
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 16
242 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII .

derselben anerkannt , so kehrt die Frage wieder : Was ist es , in


Betreff dessen Jeder für Einen und Niemand für mehr als für Einen
zu gelten hat ?
Sollen wir dies so auslegen , dass die concreten Mittel zum
Glück gleichmässig vertheilt werden sollten ? Geht man darauf aus,
die nothwendigen Lebensbedürfnisse , die Bedingungen des Comforts
und die Möglichkeit , sich zu vergnügen , Allen zu gleichen Theilen
zuzumessen ? Einfach als Vorstellung genommen scheint sich dies
eher vertheidigen zu lassen . Allein selbst abgesehen von der Frage
der staatlichen Einrichtung - abgesehen von der Frage, ob durch
eine solche Maassregel das höchste Glück in letzter Linie ge
wonnen werden könnte (was offenbar nicht der Fall wäre), stellt
sich bei näherer Prüfung auch heraus , dass das höchste Glück nicht
einmal zunächst auf solche Weise zu erreichen ist. Verschieden
heiten des Alters, der Körperbildung , der constitutionellen Bedürf
nisse, Unterschiede in der Thätigkeit und demgemäss in den Aus
gaben , Unterschiede der Begierden und des Geschmacks würden
unvermeidlich zur Folge haben , dass die materiellen Mittel zum
Glück, welche jeder Einzelne empfangen würde , seinen speciellen
Bedürfnissen nur wenig oder gar nicht angemessen wären. Selbst
wenn sich die Dinge nach ihrer Kaufkraft gleichmässig vertheilen
liessen, so würde doch das grösste Glück noch nicht erreicht sein ,
wo Jeder für Einen und Niemand für mehr als für Einen gälte ;
denn da die Fähigkeit, die gekauften Mittel zum Glück auszunutzen,
je nach der Constitution und dem Lebensalter wechselt, so würden
die Mittel, welche annähernd genügten , um die Bedürfnisse des Einen
zu befriedigen , durchaus ungenügend sein zur Befriedigung eines
Andern, und damit wäre abermals die grösste Summe von Glück
nicht erreicht : die Mittel liessen sich immer noch auf eine andere
Weise ungleichmässig vertheilen , die eine grössere Gesammtsumme
erzielen würde.
Wenn nun aber das Glück selbst sich nicht zerlegen und gleich
mässig vertheilen lässt und wenn eine gleichmässige Vertheilung
der materiellen Mittel zum Glück doch nicht das grösste Glück er
zielen würde , was soll denn so vertheilt werden ? - was ist es,
in Betreff dessen Jeder für Einen und Niemand für mehr als für
Einen gelten soll? Es scheint nur noch ein einziger Ausweg offen
zu stehen. Es bleibt nichts Anderes zu einer gleichmässigen Ver
theilung übrig als die Bedingungen , unter welchen jeder Einzelne
§. 86. Untersuchung und Compromiss. 243

das Glück erstreben kann . Die Einschränkungen des Handelns , der


Grad der Freiheit und des Zwanges sollen für Alle dieselben sein .
Jeder soll so viel Freiheit haben, seine Zwecke zu verfolgen , als
mit der Gewährung gleicher Freiheiten für Andere zur Verfolgung
ihrer Zwecke vereinbar ist, und der Eine so gut wie der Andere
soll dessen geniessen können , was seine innerhalb dieser Grenzen
gemachten Anstrengungen ihm einbringen . Wenn wir aber sagen ,
dass in Betreff dieser Bedingungen Jeder für Einen und Niemand
für mehr als für Einen gelten solle, so erklären wir damit nichts
Anderes , als dass Gerechtigkeit erzwungen werden müsse.
Wird also BENTHAM'S Princip als Grundsatz der öffentlichen
Verwaltung in's Auge gefasst, so verwandelt es sich bei näherer
Untersuchung geradezu in das Princip, das er so geringschätzig bei
Seite schiebt. Nicht allgemeines Glück erscheint als der ethische
Maassstab , nach welchem sich die gesetzgeberischen Bestrebungen
richten sollen , sondern universale Gerechtigkeit. Damit aber fällt
die altruistische Theorie in dieser Form in sich selbst zusammen .

§. 86.

Von der Prüfung der Lehre, dass allgemeines Glück das End
ziel der öffentlichen Thätigkeit sein sollte, gehen wir nun zur Prü
fung der Lehre über , dass dasselbe das Endziel der privaten Thätig
keit zu bilden habe.
Diese behauptet, dass vom Standpunkt der reinen Vernunft das
Glück Anderer keinen geringeren Anspruch darauf habe, Gegenstand
des Strebens jedes Einzelnen zu sein , als persönliches Glück. Wenn
man sie blos als Theile eines Ganzen betrachtet, so sind allerdings
das vom Ich empfundene Glück und ein gleiches von einem Andern
empfundenes Glück gleichwerthig , und hieraus wird dann geschlossen ,
dass nach vernünftiger Anschauung die Pflicht , zum Nutzen An
derer Anstrengungen zu machen, ebenso gross sei wie die Pflicht ,
zu seinem eigenen Nutzen zu arbeiten . So sagt Herr MILL , indem
er daran festhält, dass das utilitaristische Moralsystem, richtig auf
gefasst, mit dem christlichen Grundsatz : „ Liebe Deinen Nächsten
wie Dich selbst " durchaus übereinstimme, dass der Utilitarismus
,,von jedem Menschen verlange, hinsichtlich seines eigenen Glückes
,und desjenigen der Andern ebenso streng unparteiisch zu sein wie
, ein unbetheiligter und wohlwollender Zuschauer " (p. 24). Be
16 *
244 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.

trachten wir kurz die verschiedenen Erklärungen, welche sich für


diesen Satz geben lassen.
Nehmen wir zunächst an , es sei ein gewisses Quantum von
Glück auf irgend eine Weise verfügbar geworden und zwar ohne
die besondere Mitwirkung von A, B, C oder D, welche die hier in
Betracht kommende Gruppe bilden . Dann besagt jenes Princip,
dass jeder Einzelne bereit sein soll , einen oder mehrere von den
Andern ebenso sehr dieses Quantum von Glück geniessen zu lassen
wie sich selbst . Der unbetheiligte und wohlwollende Zuschauer
würde unstreitig in einem solchen Falle die Regel aufstellen , dass
keiner von ihnen mehr Antheil an diesem Glücke haben dürfe als
der Andere. Allein hier , wo wir ja annehmen, dass das betreffende
Quantum von Glück ohne die Mitwirkung eines Angehörigen der
Gruppe verfügbar geworden sei , hält uns die einfache Billigkeit
ebenso bestimmt dieses Gebot entgegen. Da Keiner auf irgend eine
Weise für sich einen höheren Anspruch begründet hat als die An
dern , so sind natürlich ihre Ansprüche gleich und die schuldige
Rücksicht auf die Gerechtigkeit , die Jeder zu nehmen hat, erlaubt
ihm nicht, jenes Glück allein für sich zu fordern.
Setzen wir nun einen etwas anderen Fall . Nehmen wir an,
das betreffende Quantum von Glück sei durch die Anstrengungen
eines Mitglieds der Gruppe verfügbar geworden. Nehmen wir an,
A habe durch eigene Arbeit einige materielle Hülfsmittel zum Glücke
erworben . Er entschliesst sich nun , so zu handeln , wie ihm der
unbetheiligte und wohlwollende Zuschauer gebieten würde. Wofür
wird er sich entscheiden was würde ihm der Zuschauer gebieten ?
Fassen wir die möglichen Annahmen in's Auge und beginnen wir
mit der am wenigsten vernünftigen .
Man kann sich vorstellen , der Zuschauer bestimme , dass die
von A bei der Erwerbung dieses materiellen Hülfsmittels zum Glück
aufgewendete Arbeit keinen Anspruch auf speciellen Genuss desselben
begründe, sondern dass es entweder einfach an B, C oder D dahin
gegeben oder dass es gleichmässig zwischen B, C und D oder aber
gleichmässig unter alle Mitglieder der Gruppe, mit Einschluss von A,
welcher dafür gearbeitet hat , vertheilt werden solle. Und wenn
man sich denkt, der Zuschauer fälle heute diese Entscheidung, so
muss es auch für alle künftigen Zeiten so gedacht werden , was zur
Folge haben würde , dass ein Einziger von der Gruppe alle An
strengungen zu machen hätte, um entweder gar nichts oder nur den
§. 86. Untersuchung und Compromiss . 245

auf einen Einzelnen entfallenden Antheil an dem Erworbenen zu


erhalten, während den Andern ihr Antheil am Nutzen ohne irgend
welche Anstrengung zufiele. Dass A sich vorstellen würde , jener
unbetheiligte und wohlwollende Zuschauer möchte wirklich in diesem
Sinne entscheiden , und dass er sich verpflichtet halten würde ,
gemäss dieser fingirten Entscheidung zu handeln, ist eine ziemlich
starke Annahme , und wahrscheinlich wird Jeder zugeben, dass eine
Unparteilichkeit solcher Art, weit entfernt davon , zum allgemeinen
Glück beizutragen , in Bälde für Alle die verderblichsten Folgen
haben würde. Aber dies ist noch nicht Alles. Ein Handeln gemäss
einer solchen Entscheidung würde thatsächlich gerade mit dem
Princip in Widerspruch gerathen, das als maassgebend hingestellt
wurde. Denn natürlich hat nicht blos A, sondern es haben auch
B, C und D nach diesem Princip zu handeln . Jeder von ihnen
muss sich so verhalten , wie er sich die Entscheidung eines un
parteiischen Zuschauers denkt. Wird nun B erwarten , dass der
unparteiische Zuschauer ihm die Früchte der Arbeit von A zuweisen
werde ? Dies würde die Voraussetzung bedingen , dass B denke ,
der unparteiische Zuschauer begünstige ihn mehr, als A sich denken
kann von ihm begünstigt zu werden , was mit der Hypothese un
verträglich ist. Schliesst B, wenn er sich in die Lage des unpar
teiischen Zuschauers versetzt, seine eigenen Interessen ebenso voll
ständig aus, wie dies A thun muss ? Wie könnte er dann die Ent
scheidung so sehr zu seinen Gunsten und so parteiisch fällen, dass
er sich selbst gestattete , von A einen gleichen Antheil des durch
A's Arbeit erworbenen Nutzens anzunehmen, für den doch er und
die Übrigen nicht das Geringste gethan haben ?
Verlassen wir nun diese zwar denkbare, aber nicht wohl glaub
hafte Entscheidung des Zuschauers , welche auch hier nur deshalb
erwähnt wurde , um darzuthun, dass regelmässiger Gehorsam gegen
dieselbe geradezu unmöglich wäre , so bleibt uns nur die Entschei
dung zu betrachten übrig, welche ein wirklich unparteiischer Zu
schauer abgeben würde. Ein solcher würde erklären , dass das Glück
oder das materielle Hülfsmittel zum Glück , das durch A's Arbeit
erworben wurde, auch dem A zufallen müsse. Er würde erklären ,
dass B, C und D darauf keine Ansprüche hätten , sondern nur auf
solches Glück oder solche Hülfsmittel zum Glück , die sie durch
eigene Arbeit erworben haben. Demgemäss ist also A, der nach
der Entscheidung des fingirten unparteiischen Zuschauers handeln
246 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.

will, durch dieses Zeugniss ganz gerechtfertigt , wenn er sich in


Besitz des Glücks oder der Hülfsmittel zum Glücke setzt , welche
er durch seine eignen Anstrengungen erreicht hat .
Somit ist also das Princip in seiner speciellen so gut wie in
seiner allgemeinen Form nur insofern richtig , als es Gerechtigkeit
in sich verborgen enthält. Durch genaue Analyse gelangen wir
abermals zu dem Resultat, dass allgemeines Glück " zum Endziel
des Handelns zu machen in Wirklichkeit nichts Anderes bedeutet ,
als das aufrecht zu erhalten , was wir billige oder gerechte Be
ziehungen zwischen den einzelnen Individuen nennen . Man weigere
sich , das Princip des grössten Glückes " in seiner unbestimmten
Form anzunehmen, man bestehe darauf, genau zu erfahren , welcher
Art das dadurch bedingte Handeln im öffentlichen oder Privatleben
sein solle , und es stellt sich heraus , dass das Princip keine Be
deutung hat, sofern es nicht etwa indirect aussprechen soll , dass
die Ansprüche jedes Einzelnen von Allen gehörig berücksichtigt
werden müssen. Der utilitaristische Altruismus erscheint als ein
in richtigem Maasse eingeschränkter Egoismus .

§. 87.
Nun können wir noch einen andern Standpunkt zur Beurthei
lung der altruistischen Theorie einnehmen . Wenn wir darüber einig
sind, dass allgemeines Glück den eigentlichen Gegenstand des Stre
bens zu bilden habe, und nun vernunftgemäss weitergehen wollen,
so müssen wir uns zunächst fragen , auf was für verschiedene Arten
das Aggregat, das wir allgemeines Glück nennen, zusammengesetzt
sein kann, um sodann zu prüfen , welche Zusammensetzung dessel
ben die grösste Summe ergibt.
Nehmen wir an, dass jeder Bürger sein eigenes Glück ganz
unabhängig verfolgt, nicht zum Schaden Anderer, aber auch ohne
active Rücksicht auf Andere ; dann stellt das Glück Aller zusammen
eine bestimmte Summe, ein gewisses allgemeines Glück dar. Nehmen
wir anderseits an, dass jeder Einzelne , statt sein eigenes Glück zum
Gegenstand seines Strebens zu machen, sich nur dem Glücke An
derer widmet : das ergibt wieder eine bestimmte Summe von Glück.
Diese Summe muss kleiner oder gleich gross oder grösser sein als
die erstere . Wenn man einräumt, dass diese Summe entweder kleiner
sei als die erste oder nur gleich gross, so ist also die altruistische
Handlungsweise eingestandenermaassen entweder schlechter oder
§. 87. Untersuchung und Compromiss . 247

zum mindesten nicht besser als die egoistische. Wir müssen des
halb annehmen, dass die so erlangte Summe von Glück grösser sei .
Sehen wir zu , was mit dieser Annahme behauptet wird.
Wenn jeder Einzelne ausschliesslich das Glück Anderer ver
folgt und zugleich ein Empfänger von Glück ist (was er natürlich
sein muss , weil sonst aus dem Glück der Individuen kein Aggregat
von Glück hervorgehen könnte) , so folgt daraus , dass jeder Einzelne
ausschliesslich das Glück geniesst, das auf altruistischer Thätigkeit
beruht , und dass dieses für Jeden einen grösseren Betrag ausmacht
als das egoistische Glück , das er erlangen könnte , wenn er sich
dem Streben nach demselben hingäbe. Lassen wir einen Augen
blick den relativen Betrag der beiden ausser Betracht und fragen
wir blos nach den Bedingungen , unter denen jeder Einzelne das
altruistische Glück empfängt. Ein mitleidiges Wesen findet Freude
daran, Freude zu spenden , und es ist selbstverständlich, dass , wenn
das allgemeine Glück den Gegenstand des Strebens bildet , Jeder
glücklich sein wird , Zeuge des Glückes Anderer zu sein. Allein
worin besteht in einem solchen Falle das Glück Anderer ? Diese
Andern sind ja der Hypothese zufolge ebenfalls Erzeuger und zu
gleich Empfänger altruistischer Freuden . Die Entstehung altruisti
scher Freuden in jedem Einzelnen muss also von der Kundgebung
von Freuden durch Andere abhängen , welche wieder von der Kund
gebung von Freuden durch Andere abhängen muss , und so weiter
in's Endlose. Wo soll also die Freude anfangen? Offenbar muss
es irgendwo eine egoistische Freude geben, bevor die altruistische
Freude möglich wird , welche durch Mitgefühl mit jener hervor
gerufen wird . Also muss offenbar jeder Einzelne in gehörigem
Maasse egoistisch sein , selbst wenn dies nur in der Absicht ge
schähe, um Anderen die Möglichkeit zu gewähren , altruistisch zu
sein. Weit entfernt davon, dass die Summe des Glückes grösser
wird , wenn sich Alle das allgemeine Glück ausschliesslich zum Ziele
setzen, reducirt sich diese Summe vielmehr gänzlich auf Null.
Wie grundverkehrt die Annahme ist, dass das Glück Aller zu
erreichen sei , ohne dass jeder Einzelne seinem eigenen Glücke nach
strebt, wird am besten durch ein physikalisches Beispiel erläutert .
Man denke sich einen Haufen von Körpern, von denen jeder Wärme
erzeugt und von denen in Folge dessen jeder nicht blos Wärme
auf diejenigen in seiner Umgebung ausstrahlt, sondern sich zugleich
gegen sie als Wärmeempfänger verhält. Selbstverständlicherweise
248 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.

besitzt jeder eine gewisse Eigenwärme, abgesehen von der Wärme ,


die er von den übrigen empfängt , und jeder wird von den übrigen
eine gewisse Wärmemenge empfangen , abgesehen von seiner Eigen
wärme . Was wird nun geschehen ? So lange jeder Körper fort
fährt, ein Wärmeerzeuger zu sein, beharrt er auch bei einer Tem
peratur, welche theilweise von ihm selber und theilweise von den
übrigen herstammt. Wenn aber jeder einzelne Körper aufhört , für
sich selbst Wärme zu erzeugen , und hinsichtlich seiner Temperatur
nur noch von der Wärme abhängig bleibt, die ihm von den übrigen
zugestrahlt wird , so erkaltet natürlich der ganze Haufen . Nun ent
spricht die selbst erzeugte Wärme ganz der egoistischen Freude,
die ausgestrahlte und empfangene Wärme der mitfühlenden Freude ;
und so ist denn auch das Verschwinden aller Wärme , wenn jeder
Körper aufhört, ein Erzeuger derselben zu sein, dem Verschwinden
aller Freude zu vergleichen , wenn jeder Einzelne aufhört, solche
auf egoistische Weise hervorzubringen.
Dem lässt sich noch eine fernere Folgerung anreihen . Ab
gesehen von der Thatsache, dass egoistische Freuden vorhanden sein
müssen, bevor altruistische Freuden möglich sind , und dass, wenn
die Gesetze des Handelns für Alle dieselben sein sollen , Jeder in
gehörigem Maasse egoistisch sein muss , kann auch die Thatsache
erschlossen werden , dass , um die grösste Summe von Glück zu er
reichen , Jeder mehr egoistisch als altruistisch sein muss. Denn
allgemein gesprochen können mitgefühlte Freuden immer nur weni
ger intensiv sein als die Freuden , für welche Mitgefühl vorhanden
ist . Unter sonst gleichen Umständen können ideale Gefühle nie so
lebhaft sein wie reale Gefühle. Es ist allerdings richtig , dass
Menschen mit sehr starker Einbildungskraft, besonders in Fällen ,
wo die Zuneigung mit in's Spiel kommt , den moralischen und viel
leicht sogar auch den physischen Schmerz eines Andern ebenso pein
lich empfinden mögen wie der thatsächlich Leidende selbst , und
dass sie ebenso mit gleicher Intensität an den Freuden Anderer theil
zunehmen im Stande sind ; ja manchmal mögen sie die empfundene
Freude im Geiste sogar stärker wiederspiegeln , als wie sie wirklich
ist, und so einer Reflexfreude theilhaftig werden, die grösser ist als
die directe Freude des Andern. Solche Fälle jedoch und ähnliche,
in welchen selbst neben der durch Zuneigung verursachten An
regung des Mitgefühls noch eine Summe von Gefühlen auftritt , die
sonstwie durch Mitleid geweckt sind und in ihrem Gesammtbetrag
§. 88. Untersuchung und Compromiss . 249

dem ursprünglichen Gefühle gleichkommen , sind nothwendigerweise


nur Ausnahmefälle. Denn hier umschliesst das Totalbewusstsein
neben den geistig wiedergegebenen Freuden und Schmerzen noch
viele andere Elemente , vor Allem das Wonnegefühl des Mitleids
und das Wonnegefühl der Güte , und die Entstehung dieser Empfin
dungen kann nur gelegentlich eintreten : sie könnten nicht die regel
mässigen Begleiterscheinungen der Freuden des Mitgefühls bilden ,
wenn in jedem Augenblick Alle diesen nachstrebten . Wenn wir
also die mögliche Gesammtsumme von mitgefühlten Freuden ab
schätzen wollen , so dürfen wir nichts weiter darunter begreifen
als die Repräsentationen der von Andern erfahrenen Freuden . Und
sofern man nicht behaupten will, dass sich die Bewusstseinszustände
Anderer in uns fortwährend lebhafter wiederzuerzeugen vermögen ,
als die gleichen Bewusstseinszustände durch ihre eigenen persön
lichen Ursachen in uns hervorgerufen werden , so muss man wohl
einräumen, dass die Gesammtheit der altruistischen Freuden der Ge
sammtheit der egoistischen Freuden unmöglich gleichkommen kann .
Neben der Wahrheit, dass , bevor altruistische Freuden möglich
sind, die egoistischen Freuden vorhanden sein müssen , da jene erst
aus dem Mitgefühl mit diesen entspringen können , sehen wir somit
auch den Satz bestätigt , dass es , um die grösste Summe von
altruistischen Freuden zu erzielen , einer noch grösseren Summe
egoistischer Freuden bedarf.

§. 88.

Dass der reine Altruismus sich selbst aufhebt , lässt sich noch
auf eine andere Weise darthun. Ein vollkommenes Sittengesetz
muss doch offenbar so beschaffen sein , dass es vollkommen ausführ
bar wird , wenn die menschliche Natur zur Vollkommenheit ge
langt. Wenn aber seine Ausführbarkeit abnimmt, je mehr sich die
menschliche Natur verbessert, und wenn eine ideale Menschennatur
nothwendig seine Unausführbarkeit bedingt, dann kann es nicht das
wahre Sittengesetz sein , nach dem wir streben .
Nun finden sich natürlich um so zahlreichere und verhältniss
mässig bedeutendere Gelegenheiten zur Ausübung des Altruismus ,
je mehr Schwäche oder Unfähigkeit oder Unvollkommenheit in der
Welt ist. Wenn wir über die Grenzen der Familie hinausgehen,
in welcher ein Gebiet für selbstaufopfernde Thätigkeiten offen bleiben
muss, so lange überhaupt Kinder aufzuziehen sind , und wenn wir
250 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.

uns fragen , auf welche Weise ein socialer Wirkungskreis für selbst
aufopfernde Thätigkeiten fortbestehen kann, so leuchtet sofort ein,
dass die Fortdauer von ernsteren Übeln , verursacht durch herrschende
Mängel der Natur des Menschen, die Bedingung dazu bildet . Je
mehr sich die Menschen den Erfordernissen des socialen Lebens an
passen, desto mehr werden sich die Anforderungen an die zu ihren
Gunsten zu machenden Anstrengungen vermindern . Und sind wir
am Endziel der Anpassung angelangt , sind alle Menschen zu gleicher
Zeit im Stande , sich vollkommen selbst zu erhalten und vollkommen
alle die Verpflichtungen zu erfüllen , welche ihnen die Gesellschaft
auferlegt, so verschwinden damit auch alle die Gelegenheiten zur
Hintansetzung des Ichs zu Gunsten Anderer, welche das Gebiet des
reinen Altruismus bildeten .
Solche Selbstaufopferungen werden dann sogar auf doppelte
Weise unausführbar. Indem die Menschen alle ihr Leben mit Er
folg durchführen , kann nicht allein Niemand mehr denjenigen in
seiner Umgebung die Gelegenheit, ihm Hülfe zu leisten , darbieten ,
sondern es kann ihm auch in der Regel nicht Hülfe geleistet wer
den, ohne mit seinen normalen Thätigkeiten in Conflict zu gerathen
und so seine Freuden zu vermindern . Gleich jedem niedrigeren
Geschöpf , das durch seine angebornen Begierden dazu angeleitet
wird, von selbst all das zu thun, was sein Leben erfordert , muss
auch der Mensch, wenn er vollkommen entsprechend dem socialen
Zustande umgewandelt ist, Begierden haben , welche dergestalt seinen
Bedürfnissen angepasst sind, dass er diese Bedürfnisse erfüllt , indem
er einfach seine Begierden befriedigt. Und wenn seine Begierden
alle durch die Ausübung der erforderlichen Thätigkeiten befriedigt
sind, so kann natürlich keine der letzteren statt seiner von einem
Andern ausgeführt werden , ohne dass dadurch die Befriedigung
seiner Begierden vereitelt würde. Die Entgegennahme der Ergeb
nisse der Thätigkeiten von Anderen kann nur unter der Bedingung
stattfinden, dass dafür auf die Freuden verzichtet wird, welche aus
eigener Thätigkeit entspringen. Das Resultat würde also vielmehr
eine Verminderung als eine Vermehrung des Glückes sein , wenn in
einem solchen Falle eine rein altruistische Handlungsweise erzwun
gen werden könnte.
Hiemit werden wir aber unmittelbar auf eine andere grundlose
Annahme übergeleitet, welche die Theorie macht.
§. 89. Untersuchung und Compromiss . 251

§. 89.

Die Forderung des Utilitarismus, wie sie in den oben citirten


Aussprüchen formulirt ist, und ebenso des reinen Altruismus , wie
sie anderwärts zum Ausdruck kommt , setzt den Glauben voraus ,
dass es möglich sei, das Glück oder die Mittel zum Glück oder die
Bedingungen des Glückes einfach zu übertragen. Ohne irgend welche
nähere Einschränkung wird der Satz für bewiesen angenommen ,
dass das Glück im Allgemeinen eine Ablösung von dem einen und
eine Anheftung an das andere Wesen zulasse dass es dem Einen
möglich sei, sein Glück in beliebigem Umfange aufzugeben , und dem
Andern, sich dasselbe in beliebigem Umfange anzueignen. Allein
eine kurze Überlegung zeigt uns , wie weit wir damit von der Wahr
heit entfernt sind . Einerseits wirkt ein Hingeben des Glückes bis
zu einem gewissen Punkte ausserordentlich nachtheilig und, wenn
noch weiter getrieben , verderblich, und anderseits ist ein grosser
Theil des Glückes , was ein Jeder geniesst, in ihm selbst entsprun
gen und kann weder dahingegeben noch empfangen werden .
Wer annimmt, dass egoistische Freuden in beliebigem Maasse
aufgegeben werden könnten , der verfällt damit in einen der vielen
Irrthümer der ethischen Speculation , welche aus Vernachlässigung
der Wahrheiten der Biologie hervorgehen . Als wir die Ethik vom
biologischen Standpunkt aus betrachteten, sahen wir , dass Freuden
eine jede in normalem Maasse ausgeübte Function begleiten, wäh
rend Schmerzen die Begleiter von Mängeln oder Excessen der Func
tionen sind , und ferner , dass das vollkommene Leben von einer
vollkommenen Ausübung der Functionen und damit von dem Em
pfinden der correlativen Freuden abhängt. Somit ist die Hingabe
normaler Freuden nichts Anderes als eine Hingabe von ebenso viel
Leben, und es erhebt sich die wichtige Frage : bis zu welchem
Maasse darf dies getrieben werden ? Wenn das Individuum fortleben
soll , so muss es eine bestimmte Summe jener Freuden empfangen ,
welche mit der normalen Ausübung der körperlichen Functionen
einhergehen , und muss es auch die Schmerzen vermeiden , welche
vollständige Nichtausübung derselben nach sich zieht. Absolute
Selbstverleugnung bedeutet Tod ; übermässige Selbstverleugnung be
deutet Krankheit ; weniger weitgehende Selbstverleugnung bedeutet
physisches Herunterkommen und in Folge dessen Verlust des Ver
mögens , seine persönlichen oder sonstigen Verpflichtungen zu er
252 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.

füllen . Wenn wir uns daher die Bedeutung des Vorsatzes , nicht
für Selbstbefriedigung , sondern für die Befriedigung Anderer zu
leben, im Einzelnen klar zu machen suchen, so stossen wir auf die
Schwierigkeit, dass derselbe jenseits einer gewissen Grenze gar nicht
mehr ausführbar ist. Und wenn wir ausgemacht haben, bis zu wel
chem Grade es für das Individuum zulässig ist , sich einer Vermin
derung seines körperlichen Wohlergehens zu unterwerfen , welche
durch Aufopferuug von Freuden und Erduldung von Schmerzen ver
ursacht ist, so drängt sich uns die Thatsache auf, dass der Antheil
des Glückes oder der Mittel zum Glück, welche zum Zwecke einer
Andersvertheilung hinzugeben ihm überhaupt möglich ist , einen sehr
eng begrenzten Theil bildet .
Noch strenger ist das Gebot der Einschränkung, welches der
Übertragung von Glück oder von Mitteln zum Glück von einer an
dern Seite entgegengehalten wird . Die durch wirksame Thätigkeit,
durch erfolgreiches Streben nach bestimmten Zwecken gewonnenen
Freuden können unter keiner Bedingung mit einem Andern getheilt
und auf keine Weise von diesem für sich angeeignet werden . Die
Gewohnheit, über das allgemeine Glück manchmal so zu sprechen ,
als ob es ein concretes Erzeugniss wäre , das man in einzelne Theile
zerlegen könnte , oder auch als ob es nach demselben Maassstab
bemessen werden könnte wie der Gebrauch jener materiellen Hülfs
mittel zur Freude , die sich allerdings geben und empfangen lassen,
hat zur Folge gehabt, dass die Menschen auf die Wahrheit unauf
merksam wurden, dass die Freuden des erfolgreichen Strebens nicht
übertragbar sind. Der Knabe, der sein Marmelspiel gewonnen , der
Athlet, der ein Kraftstück ausgeführt, der Staatsmann , der einen
Triumph seiner Partei errungen , der Erfinder , der eine neue Maschine
ausgedacht, der Mann der Wissenschaft , der eine neue Wahrheit
entdeckt, der Romanschreiber, dem die Zeichnung eines seiner Cha
raktere gut gelungen ist, der Dichter, der eine Gemüthsbewegung
zart wiedergegeben hat - sie alle empfinden Freuden , welche der
Natur der Sache nach ausschliesslich nur von demjenigen genossen
werden können, dem sie zukommen. Und wenn wir uns unter all
den Beschäftigungen umsehen , zu denen die Menschen nicht durch
absolute Nothwendigkeit gedrängt werden - wenn wir die mancherlei
ehrgeizigen Bestrebungen in's Auge fassen , welche im Leben eine
so grosse Rolle spielen , so erkennen wir, dass , so lange das Be
wusstsein der Leistungsfähigkeit eine wesentliche Freude bleibt , es
§. 90. Untersuchung und Compromiss . 253

auch so lange eine wesentliche Freude gibt, welche nicht auf altruisti
schem , sondern nur auf egoistischem Wege erstrebt werden kann .
Wenn wir also am einen Ende jene Freuden abziehen, welche
von der Erhaltung des Körpers in unbeschädigtem Zustande unzer
trennlich sind, und am andern Ende die Freuden erfolgreicher Thä
tigkeit wegnehmen, so erscheint der noch übrig bleibende Betrag
so klein, dass die Annahme unmöglich länger haltbar ist, dass das
Glück überhaupt eine Vertheilung in der Weise, wie es der Utili
tarismus annimmt, zulasse.

§. 90.

Endlich können wir noch von einer andern Seite her die In
consequenz dieses umgestalteten Utilitarismus nachweisen , welcher
seine Lehre für eine Erweiterung des christlichen Grundsatzes :
,Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst ", erklärt, sowie auch jenes
Altruismus, welcher noch weiter geht und den Grundsatz aufstellt :
29 Lebe für Andere ! "
Das wahre Gesetz des Handelns muss so beschaffen sein , dass
es mit Vortheil von Allen beobachtet werden kann. KANT sagt :
„ Handele nur nach dem Grundsatz , von dem Du zu gleicher Zeit
n wünschen kannst, dass er zum allgemeinen Gesetze werde. " Und
wenn wir von einigen nothwendigen Einschränkungen dieses Grund
satzes absehen, so können wir ihn offenbar bis zu dem Maasse
gelten lassen, dass wir einräumen, dass eine Handlungsweise , welche
unzulässig wird, wenn sie sich der Universalität annähert, unmög
lich die rechte sein kann. Wenn also die Theorie des reinen Al
truismus , welche ja besagt, dass die Anstrengungen nicht zum per
sönlichen Nutzen, sondern zum Nutzen Anderer zu machen seien,
haltbar sein soll, so muss nachgewiesen werden , dass sie auch dann
gute Resultate hervorbringen wird , wenn Alle danach handeln.
Vergegenwärtigen wir uns nun die Folgen, die daraus entspringen ,
dass Alle sich rein altruistisch verhalten.
In erster Linie setzt dies eine ganz unmögliche Vereinigung
sittlicher Attribute voraus. Die Hypothese nimmt von jedem Ein
zelnen an , er berücksichtige sich selbst so wenig und Andere so
sehr, dass er fortwährend seine eigenen Freuden aufopfere, um ihnen
Freude zu bereiten . Wenn dies aber zum allgemeinen Charakter
zug wird und die Handlungsweise durchaus und überall demselben
entspricht, so haben wir uns jeden Einzelnen nicht nur als einen
254 Die Thatsachen der Ethik. Cap . XIII .

sich selbst Aufopfernden , sondern auch als einen Empfänger von


Opfern vorzustellen. Während er so selbstlos ist, dass er freiwillig
die Vortheile dahingibt, für welche er gearbeitet hat , ist er doch
zugleich so selbstsüchtig , dass er es gern geschehen lässt , wenn
Andere ihm die Vortheile überlassen , für welche sie gearbeitet haben.
Um also den reinen Altruismus für Alle möglich zu machen, muss
jeder Einzelne zugleich ausserordentlich unegoistisch und ausser
ordentlich egoistisch sein . Als Geber darf er gar nicht an sich ,
als Empfänger gar nicht an Andere denken . Dies bedingt augen
scheinlich eine undenkbare geistige Beschaffenheit. Das Mitgefühl,
welches so sehr für Andere besorgt ist, dass es mit Freuden sich
selbst schädigt, um diesen wohlzuthun , kann unmöglich zu gleicher
Zeit so wenig Rücksicht auf Andere nehmen , dass es von ihnen
Wohlthaten annimmt , welche sie nur spenden können , indem sie
sich selbst schädigen.
In noch helleres Licht treten die Widersprüche , welche sich
zeigen, wenn wir uns den reinen Altruismus zur allgemeinen Richt
schnur des Handelns erhoben denken, bei folgender Darstellung.
Nehmen wir an, dass jeder Einzelne , statt die Freuden zu geniessen ,
welche ihm zukommen , oder die verwendbaren Mittel zur Freude ,
für welche er gearbeitet hat , oder die Gelegenheiten zur Freude ,
welche seine Anstrengungen belohnten , diese einem einzigen Andern
überlasse oder sie einem gemeinsamen Vorrath beifüge , aus welchem
Andere Vortheil ziehen . Was wird die Folge sein ? Darauf lassen
sich verschiedene Antworten geben, jenachdem wir annehmen, dass
dabei noch fernere Einflüsse in's Spiel kommen oder nicht. Nehmen
wir an, es seien keine solchen Einflüsse thätig. Wenn nun Jeder
sein Glück oder seine Mittel zum Glück oder seine Gelegenheiten
zum Glück auf einen Andern überträgt , während irgend ein An
derer für ihn dasselbe thut , so bleibt offenbar die Vertheilung des
Glückes im Durchschnitt unverändert ; oder wenn Jeder sein Glück
oder seine Mittel zum Glück oder seine Gelegenheiten zum Glück
einem gemeinsamen Vorrath beifügt , aus welchem jeder Einzelne
sich seinen Antheil zueignet, so bleibt abermals der durchschnitt
liche Zustand unverändert wie zuvor. Die einzige in's Auge fallende
Folge ist die , dass bei dieser Andersvertheilung mancherlei Vor
kehrungen getroffen werden müssen , woraus nur Verlust an Zeit
und Arbeit entspringen kann. Setzen wir nun aber irgend einen
ferneren Einfluss voraus, welcher diesem Process einen wohlthätigen
§. 90. Untersuchung und Compromiss . 255

Charakter verleiht ; welcher Art muss derselbe sein ? Die Gesammt


summe kann nur dadurch wachsen , dass die Thätigkeiten der Über
tragung die Menge dessen vermehren, was übertragen wird. Das.
Glück oder das, was dazu führt, muss grösser sein für denjenigen ,
welcher dasselbe durch die Anstrengungen eines Andern erreicht,
als dies der Fall gewesen wäre , wenn er es durch eigene Arbeit
erworben hätte ; oder setzen wir anderseits voraus, ein Vorrath von
Glück oder von dem, was dazu führt, sei aus den von jedem Ein
zelnen geleisteten Beiträgen gebildet worden , so muss Jeder, indem
er sich hieraus seinen Antheil zueignet, denselben grösser finden ,
als es der Fall wäre, wenn keine solche Ansammlung und Verthei
lung stattgefunden hätte. Um den Glauben an eine solche Ver
mehrung zu rechtfertigen, könnte man immerhin noch zwei denk
bare Annahmen machen . Die eine ist die, dass , obgleich zwar die
Summe der Freuden oder der freudebringenden Dinge dieselbe bleibt,
doch die Art der Freuden oder der freudebringenden Dinge, welche
Jeder im Austausch von den Andern oder vom Aggregat der An
dern empfängt , so beschaffen sei, dass er sie höher schätzt als jene
Art, für welche er selbst arbeitete. Wenn man aber dies annimmt,
so heisst dies nichts Anderes, als dass Jeder direct für das arbeite ,
was ihm weniger Freude macht, statt für das, was ihn mehr er
freuen würde : ――― eine offenbar verkehrte Annahme. Die andere
Voraussetzung ist die, dass zwar die ausgetauschte oder anders ver
theilte Freude egoistischer Art für jeden Einzelnen in ihrer Menge
dieselbe bleibe , dass sich aber derselben die altruistische Freude
beigeselle , welche den Austausch begleite. Allein diese Voraus
setzung ist offenbar unzulässig, wenn, wie doch angenommen wurde,
der ganze Vorgang ein universaler ist, derart, dass Jeder darin in
gleichem Maasse sowohl als Geber wie als Empfänger fungirt.
Denn wenn die Übertragung von Freuden oder von freudebringen
den Dingen von Einem auf den Andern oder auf Andere stets von
dem Bewusstsein begleitet ist , dass man von ihm oder von ihnen
ein Äquivalent empfangen werde, so kann dies zu nichts weiter als
zu einem stillschweigenden Austausch führen , sei es direct, sei es
auf Umwegen. Jeder wird nur in dem Grade altruistisch sein , als
dies nothwendig ist, um einfach gerecht zu sein , und da für Keinen
Ursache vorhanden ist, sein Glück durch Mitgefühl oder auf andere
Weise zu steigern, so kann er auch nicht eine Quelle des Glückes
des Mitgefühls für Andere sein.
256 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.

§. 91 .
Wenn wir also die Bedeutungen der vom reinen Altruismus
gebrauchten Ausdrücke näher prüfen oder die nothwendigen Folge
rungen aus dieser Theorie ziehen , so finden wir, dass er, in welcher
Form er sich auch ausdrücken mag, stets seine Anhänger in man
cherlei Widersprüche verwickelt.
Wenn " das grösste Glück der grössten Anzahl oder mit an
dern Worten " das allgemeine Glück " das wahre Endziel des Han
delns bildet, dann muss es nicht allein für alles öffentliche, sondern
auch für alles private Handeln das Endziel sein , weil sonst der
grössere Theil des Handelns ohne Leitung bliebe. Ziehen wir also
in Betracht, inwiefern dies Princip für jede Art geeignet erscheint.
Wenn die gemeinsame Thätigkeit ihre Leitung von diesem Princip
nebst dem erläuternden Commentar : „ Jeder hat für Einen und
Niemand für mehr als für Einen zu gelten " , empfangen soll , so
müssen alle Verschiedenheiten des Charakters und des Handelns ,
der Verdienste und der Verschuldung unter den Bürgern einfach
unbeachtet gelassen werden, da ja keine Unterscheidung vorgesehen
ist ; und da überdies dasjenige, hinsichtlich dessen Alle gleich viel
zu gelten haben, nicht das Glück selbst sein kann, welches sich
nicht vertheilen lässt , und da eine gleichmässige Zutheilung der
concreten Mittel zum Glück sowohl in letzter Linie als auch schon
zunächst nicht im Stande wäre, das grösste Glück hervorzurufen ,
so ergibt sich, dass als einzig haltbare Auslegung des Princips nur
die gleichmässige Vertheilung der Bedingungen übrig bleibt, unter
welchen das Glück verfolgt werden kann : wir finden mit andern
Worten in dem Princip nichts weiter, als dass es auf weitschwei
fige Art Billigkeit verlangt. Wenn anderseits Glück im Allgemeinen
als Ziel der privaten Thätigkeit hingestellt und vom Individuum
gefordert wird, dass es sein eigenes Glück und dasjenige der An
dern so beurtheile , wie dies ein unparteiischer Zuschauer thun
würde , so sehen wir , dass keinerlei Annahme hinsichtlich dieses
Zuschauers ausser der einen , welche ihn in Widerspruch mit sich
selbst bringt, zu einem andern Resultate führen kann, als dass
eben jeder Einzelne das Glück geniessen oder diejenigen Mittel zum
Glück sich aneignen soll , welche er durch seine eigenen Anstrengun
gen erwirbt : ―――― Billigkeit erweist sich abermals als der einzige
Inhalt des Satzes. Versuchen wir dann eine andere Methode und
§. 91 . Untersuchung und Compromiss . 257

sehen wir zu, wie die grösste Summe von Glück zusammengesetzt
sein müsste , wobei wir die Thatsache anerkennen, dass ein billiger
Egoismus eine gewisse Summe desselben erzeugen wird, und fragen .
wir uns nun , wie der reine Altruismus eine grössere Summe er
zeugen könnte , so ergibt sich , dass , wenn Alle ausschliesslich
altruistischen Freuden nachstrebten und auf diese Weise eine grössere
Summe von Freuden erzeugen sollten, dies nur unter der Voraus
setzung möglich wäre , dass altruistische Freuden , welche aus Mit
gefühl entspringen, ganz ohne egoistische Freuden existiren könnten ,
für welche Mitgefühl vorhanden sein möchte : ――――― eine offenbare Un

möglichkeit ; oder unter der andern Voraussetzung, dass , indem
die Nothwendigkeit egoistischer Freuden einmal zugegeben - be
hauptet wird, die grösste Summe von Glück werde erzielt werden ,
wenn alle Individuen mehr altruistisch als egoistisch sind , damit
indirect als allgemeine Wahrheit behauptet wird , dass repräsen
tative Gefühle lebhafter seien als präsentative : - abermals eine
Unmöglichkeit . Ferner nimmt die Lehre vom reinen Altruismus
an, dass das Glück in beliebigem Umfange übertragen oder anders
vertheilt werden könne , während die Sache thatsächlich so liegt ,
dass Freuden der einen Art sich in irgend erheblichem Maasse nicht
ohne verderbliche oder wenigstens ausserordentlich nachtheilige
Folgen übertragen lassen und Freuden einer andern Art überhaupt
keinerlei Übertragung gestatten . Sodann verwickelt sich der reine
Altruismus in den fatalen Widerspruch , dass , während doch ein
richtiges Princip des Handelns mehr und mehr in die Praxis über
gehen muss, je weiter die Besserung der Menschheit fortschreitet ,
das altruistische Princip vielmehr immer weniger und weniger durch
führbar wird , je mehr sich die Menschen einer idealen Form an
nähern , weil das Gebiet zur Ausübung desselben sich dabei fort
während verringert . Endlich erhellt sein sich selbst aufhebender
Charakter auch aus der Beobachtung, dass , wenn wirklich Alle das
selbe zum Grundsatz ihres Handelns machen sollen , wie es doch
geschehen muss , sofern es ein gesunder Grundsatz ist , dies noth
wendig bedingt, dass Alle zu gleicher Zeit im höchsten Grade un
―――
egoistisch und im höchsten Grade egoistisch seien bereit , sich
selbst zu Gunsten Anderer zu schädigen , und zugleich bereit , Vor
theile auf Kosten Anderer anzunehmen : — Charakterzüge, welche
unmöglich zusammen existiren können .
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 17
258 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.

Das Bedürfniss nach einem Compromiss zwischen Egoismus und


Altruismus kann sonach nicht länger zweifelhaft sein . Wir sehen
uns genöthigt, die Ansprüche anzuerkennen , welche das Wohlergehen
jedes Einzelnen auf seine Aufmerksamkeit erheben muss , wenn wir
bedenken , wie wir in der einen Richtung in eine Sackgasse ge
riethen , in einer andern auf Widersprüche und in einer dritten auf
verderbliche Folgen stiessen , sobald wir jene Ansprüche zu ignoriren
versuchten. Anderseits ist es ganz unleugbar , dass eine Missach
tung des Andern von Seiten jedes Einzelnen , sobald sie einen ge
wissen Grad erreicht , der Gesellschaft verderblich wird , wenn sie
aber noch weiter geht, der Familie und schliesslich sogar der Race
den Untergang bereitet . Egoismus und Altruismus sind somit gleich
wesentlich.

§. 92.

Welche Form soll denn der Compromiss zwischen Egoismus


und Altruismus annehmen ? Wie lässt sich den Ansprüchen beider
in richtigem Maasse Genüge thun?
Es ist eine Wahrheit, welche die Moralisten eifrig betonen und
welche auch im gewöhnlichen Leben anerkannt wird, dass die Er
reichung individuellen Glückes niemals im Verhältniss steht zu dem
Grade, in welchem das individuelle Glück zum unmittelbaren Gegen
stand des Strebens gemacht wird ; dagegen ist die Ansicht noch
keineswegs zum Allgemeingut geworden , dass auf ganz ähnliche
Weise die Erreichung allgemeinen Glückes nicht im Verhältniss
steht zu dem Grade , in welchem das allgemeine Glück zum un
mittelbaren Gegenstand des Strebens gemacht wird. Und doch ist
ein Misslingen des directen Strebens im letzteren Falle vernünftiger
weise noch viel eher zu erwarten als im ersteren .
Als wir die Beziehungen zwischen Mitteln und Zwecken er
örterten, sahen wir, dass, je weiter sich das individuelle Handeln
entwickelt, sein Grundsatz immer mehr und mehr dahin sich um
gestaltet, dass die Erreichung der Mittel zum nächstliegenden Zweck
erhoben wird, während es dem letzten Zwecke , der Wohlfahrt oder
dem Glück, überlassen bleibt , sich von selbst als Resultat einzu
stellen . Und wir sahen ferner, dass, wenn allgemeine Wohlfahrt
oder allgemeines Glück das letzte Ziel bildet , dieser Grundsatz so
gar noch strenger gilt, weil dieses letzte Ziel in seiner unperson
lichen Form natürlich weniger bestimmt ist als in seiner persön
§. 92. Untersuchung und Compromiss . 259

lichen Form und deshalb die Schwierigkeit, dasselbe durch directe


Verfolgung zu erreichen , noch grösser erscheint. Anerkennen wir
also die Thatsache, dass gemeinsames Glück noch viel mehr nicht
direct, sondern indirect erstrebt werden muss als individuelles Glück ,
so liegt uns als erste Frage vor : Welches muss die allgemeine
Natur der Mittel sein , durch welche es zu erlangen ist?
Es wird zugegeben, dass eigenes Glück in gewissem Maasse
erzielt werden könne durch Förderung des Glückes Anderer. Dürfte
es nun nicht umgekehrt auch zutreffen, dass allgemeines Glück zu
erlangen sei durch Förderung des eigenen Glückes ? Wenn die Wohl
fahrt jeder Einheit theilweise vermittelst der Fürsorge für die
Wohlfahrt des Aggregats zu erstreben ist , sollte nicht auch die
Wohlfahrt des Aggregats theilweise vermittelst der Fürsorge jeder
Einheit für sich selbst erstrebt werden müssen ? Offenbar kann
unser Schluss nur so lauten, dass allgemeines Glück hauptsächlich
durch ein entsprechendes Streben aller Individuen nach ihrem eige
nen Glück, das Glück der Individuen dagegen zum Theil durch ihr
Streben nach dem allgemeinen Glück erreicht werden kann .
Und diesen Schluss finden wir auch in den fortschreitenden
Ideen und Sitten der Menschheit verkörpert. Dieser Compromiss
zwischen Egoismus und Altruismus hat sich allmählich von selbst
hergestellt und die wirklichen Ansichten der Menschen , wohl zu
unterscheiden von ihrem nominellen Glauben , sind der vollen An
erkennung seiner Bedeutung mit der Zeit immer näher gekommen.
Die sociale Entwickelung hat uns endlich einen Zustand herbei
geführt, in welchem das Anrecht des Individuums auf die Erzeug
nisse seiner Thätigkeit und auf die hieraus entspringende Befrie
digung mehr und mehr als positive Forderungen geltend gemacht
wird , während zu gleicher Zeit die nachdrückliche Hervorhebung
der Anrechte Anderer und die gewohnheitsmässige Rücksichtnahme
auf dieselben erhebliche Fortschritte gemacht haben . Bei den rohesten
Wilden sind die persönlichen Interessen nur erst sehr unbestimmt
von den Interessen der Andern geschieden. Auf den früheren Stufen
der Civilisation ist die gebührende Zuerkennung von Vortheilen ent
sprechend den gemachten Anstrengungen noch ausserordentlich un
vollkommen : Sclaven und Leibeigene erhalten für ihre Arbeit nur
ganz willkürliche Beträge an Nahrung und Obdach , und da der
Handelsverkehr nur erst spärlich entwickelt ist, so ist wenig Anlass
vorhanden, die Vorstellung der Gleichwerthigkeit auszubilden. Allein
17 *
260 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIII.

wenn die Civilisation fortschreitet und Unterthanenverhältnisse in


Vertragsverhältnisse übergehen , so sammeln sich täglich Erfahrun
gen an über die Beziehungen zwischen aufgewendeter Arbeit und
genossenen Vortheilen : das industrielle System erhält ja stets durch
Angebot und Nachfrage eine angemessene Anpassung des einen an
das andere aufrecht. Und diese Ausbildung des freiwilligen Zu
sammenwirkens - dieser Austausch von Dienstleistungen nach Über
einkunft ist nothwendig begleitet gewesen von einer Abnahme der
Angriffe der Einzelnen auf einander und von einer Zunahme des
Mitgefühls ; schliesslich führte dies sogar zu gegenseitigen Dienst
leistungen über jede Abmachung hinaus. Mit andern Worten : die
nachdrücklichere Hervorhebung der individuellen Rechte und die
genauere Bemessung der persönlichen Genüsse nach den aufgewen
deten Anstrengungen sind Hand in Hand mit der Ausbreitung jenes
negativen Altruismus , der sich in gerechtem Handeln , und jenes
positiven Altruismus , der sich in freiwilliger Hülfeleistung aus
spricht, immer weiter fortgeschritten .
In unsern Zeiten endlich sind die ersten Anzeichen einer höhern
Phase dieser zwiefachen Änderung sichtbar geworden . Wenn wir
auf der einen Seite das Ringen nach politischer Freiheit , die Kämpfe
zwischen Arbeit und Capital , die Reformen der Rechtspflege, um
die Durchführung rechtlicher Ansprüche zu erleichtern, in's Auge
fassen , so sehen wir immer noch die Tendenz vorwalten, dass jeder
Einzelne sich im vollen Maasse alle die Vortheile zueignen könne ,
welche ihm zukommen , und demgemäss auch seine Mitmenschen
von diesen Vortheilen auszuschliessen vermöge . Bedenken wir aber
anderseits , was die Bedeutung der Übertragung so beträchtlicher
Macht auf die Massen des Volkes , der Abschaffung von Classen
privilegien , der Anstrengungen zur Verbreitung von Kenntnissen ,
der Agitationen zu Gunsten der Mässigkeit und der zahllosen phil
anthropischen Gesellschaften sein mag, so wird uns klar, dass die
Rücksicht auf das Wohlergehen Anderer pari passu mit der Ver
mehrung der Hülfsmittel zur Sicherung des persönlichen Wohl
ergehens zugenommen hat.
Was von den Beziehungen innerhalb jeder einzelnen Gesellschaft
gilt, das lässt sich auch in gewissem, wenn auch vielleicht in etwas
geringerem Umfange von den Beziehungen zwischen den verschie
denen Gesellschaften sagen. Wenn auch die civilisirten Staaten
sich immer noch mit Krieg überziehen , um ihren nationalen An
§. 92. Untersuchung und Compromiss . 261

sprüchen realer oder imaginärer und oft sehr kleinlicher Art Nach
druck zu geben , so respectiren sich doch die verschiedenen Nationali
täten viel mehr als in früheren Zeiten. Allerdings pflegen die Sieger
heute noch Theile des feindlichen Gebietes sich anzueignen und
Geldentschädigungen zu fordern , aber doch folgt gegenwärtig auf
eine Eroberung nicht mehr wie früher in der Regel die vollkommene
Einverleibung der besetzten Landstrecken und die Unterjochung ihrer
Bewohner. Die Individualität der Gesellschaften wird in bedeutend
höherem Maasse geschont. Gleichzeitig ist auch der altruistische
Wechselverkehr viel lebhafter : man leistet sich wesentliche Hülfe
bei grösseren Unglücksfällen durch Überschwemmungen , Feuersbrünste ,
Hungersnoth und Ähnliches. Und in den internationalen Schieds
gerichten , die wir in neuester Zeit kennen gelernt haben und die
geradezu eine Anerkennung des Rechts der einen Nation gegenüber
der andern enthalten , dürfen wir einen ferneren Fortschritt dieses
erweiterten Altruismus erblicken. Ohne Zweifel muss noch sehr
Vieles in milderndem Lichte betrachtet werden, denn in dem Ver
halten der Civilisirten gegen die Uncivilisirten ist noch wenig von
diesem Fortschritt zu merken. Man könnte sogar behaupten , das
Gesetz der Vorzeit -- , Leben um Leben " - sei von uns zu dem
Gesetz entwickelt worden, „ für ein Leben viele Leben " , wie in den
bekannten Fällen mit Bischof PATTESON und Mr. BIRCH ; allein dem
steht doch die versöhnende Thatsache gegenüber , dass wir unsere
Kriegsgefangenen nicht mehr foltern oder verstümmeln . Wenn man
sagt, wie die Juden sich für berechtigt hielten , die Länder in Besitz
zu nehmen, welche Gott ihnen versprochen hatte, und in einzelnen
Fällen die Bewohner einfach auszurotten , so pflegten wir , um „ die
" unverkennbare Absicht der Vorsehung " zu erfüllen , niedrigere Racen
aus ihrem Besitzthum zu vertreiben , wo immer es uns nach ihrem
Gebiete gelüstet - so lässt sich dem entgegenhalten , dass wir
wenigstens nicht viel mehr tödten , als nothwendig erscheint, und
diejenigen, die sich unterwerfen , ruhig gewähren lassen . Und sollte
Jemand darauf hinweisen , dass , wie Attila sich selbst für die
„ Geissel Gottes " erklärte , welche die Menschen für ihre Sünden
züchtige, während er die Völker und ganze Nationen unterwarf oder
vernichtete , so auch wir , wenigstens wie uns ein oberster Statt
halter und ein von ihm citirter Geistlicher repräsentiren, uns dazu
berufen halten , die Heiden, welche polygamisch leben , mit Flinten
und Kanonen zu züchtigen - so ist es doch anderseits unzweifel
262 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV .

haft, dass heute selbst der grausamste Jünger des Lehrers der Barm
herzigkeit seine Rachbegier nicht so weit treiben würde , ganze
Länder zu entvölkern und Dutzende von Städten dem Erdboden
gleich zu machen. Und erinnern wir uns überdies , dass es eine
,,Gesellschaft zum Schutz der Eingebornen " gibt, dass in gewissen
Colonien besondere Commissare eigens dazu angestellt sind, die In
teressen der Eingebornen zu beschützen , und dass in vielen Fällen
den Eingebornen ihr Land abgekauft wurde , worin , auf wie un
billige Weise es auch geschehen sein mag, doch immerhin eine ge
wisse Anerkennung ihrer Rechte ausgesprochen liegt, so dürfen wir
wohl sagen, dass, so gering auch der Fortschritt sein mag, welchen
der Compromiss zwischen Egoismus und Altruismus in internationalen
Angelegenheiten gemacht hat , doch jedenfalls die ersten Schritte
in der angedeuteten Richtung sich nicht verkennen lassen .

XIV . Capitel .

Versöhnung .

§. 93.

Nach der Darstellung im letzten Capitel scheint der Com


promiss zwischen den Ansprüchen des Ich und den Ansprüchen der
Andern einen unaufhörlichen Widerstreit zwischen beiden zu be
dingen. Wenn der Einzelne sein eigenes Glück verfolgen und zu
gleich auf das Glück seiner Mitmenschen die gebührende Rücksicht
nehmen soll, so muss augenscheinlich mit Nothwendigkeit die Frage
beständig wiederkehren : bis zu welchem Punkte darf das eine Ziel
verfolgt werden und bis zu welchem das andere ? ―――― was natürlich
das Leben eines Jeden wenn nicht zu absolutem Missklang, so doch
zum Mangel vollkommener Harmonie verurtheilen würde . Dies ist
jedoch keineswegs die einzige und unvermeidliche Folgerung.
Als im III. Theil der „ Principien der Sociologie" die Erschei
nungen der Arterhaltung bei den lebenden Wesen im Allgemeinen
besprochen wurden , um die Ausbildung der häuslichen Beziehungen
leichter verständlich zu machen, konnte nachgewiesen werden, dass
§. 93. Versöhnung . 263

im Laufe der Entwickelung beständig eine Versöhnung zwischen den


Interessen der Species , den Interessen der Erzeuger und den Interessen
der Nachkommen stattgefunden hat. Es wurde der Beweis geliefert ,
dass, wenn man von den niedrigsten bis zu den höchsten Lebens
formen emporsteigt , der Zweck der Arterhaltung erreicht wird unter
fortwährender Abnahme der Aufopferung von Leben sowohl junger
als ausgewachsener Individuen, sowie auch der Aufopferung älter
lichen Lebens für das Leben der Nachkommen. Wir sahen sodann ,
dass mit dem Fortschritt der Civilisation auch bei den mensch
lichen Wesen eine gleiche Veränderung vor sich gegangen ist und
dass in der That diejenigen häuslichen Beziehungen auf der höch
sten Stufe stehen , in welchen die Versöhnung der Wohlfahrt Aller
innerhalb der Familie am weitesten gediehen ist, während zugleich
die Wohlfahrt der Gesellschaft am besten gefördert wird. Es bleibt
uns daher hier blos der Nachweis übrig , dass eine ähnliche Ver
söhnung auch zwischen den Interessen der einzelnen Bürger und
den Interessen der Bürgerschaft im Ganzen stattgefunden hat und
noch stattfindet und dass dieselbe beständig einem Zustande ent
gegenstrebt, auf welchem beide in eins verschmelzen und die den
einen und den andern entsprechenden Gefühle zu vollkommener Über
einstimmung gelangen .
In der Familiengruppe , selbst wie man sie bei manchen niede
ren Wirbelthieren beobachtet , können wir leicht erkennen, wie das
älterliche Opfer , das hier bereits einen so mässigen Umfang an
genommen hat, dass es mit einer erheblichen Dauer des älterlichen
Lebens vereinbar ist , gar nicht vom Bewusstsein eines Opfers
begleitet wird, sondern im Gegentheil aus einer directen Begierde ,
dasselbe darzubringen , entspringt : die altruistischen Bemühungen
zu Gunsten der Jungen werden unter Befriedigung älterlicher In
stincte ausgeführt . Verfolgen wir diese Verhältnisse durch die ver
schiedenen Stufen der Menschheit aufwärts und beobachten wir, in
wie viel höherem Grade die Liebe als die Pflicht zur Fürsorge für
die Kinder antreibt, so kann uns nicht zweifelhaft sein , dass die
Versöhnung der Interessen bereits soweit gediehen ist , dass die Er
reichung älterlichen Glückes mit der Sicherung des Glückes der
Nachkommen zusammenfällt : der Wunsch vieler kinderloser Eheleute ,
Kinder zu besitzen , und die gelegentliche Adoption von Kindern
beweisen hinlänglich, wie nothwendig diese altruistischen Thätig
keiten sind, um gewisse egoistische Befriedigungen zu erzielen. Und
264 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV.

da die Weiterentwickelung, während sie die Natur des Menschen


höher bildet, zugleich eine Verminderung der Fruchtbarkeit und da
mit eine Erleichterung der auf den Ältern ruhenden Lasten mit sich
bringen wird, so ist die Erwartung wohl berechtigt, dass sie end
lich auch zu einem Zustande führen werde, auf welchem die Freu
den des erwachsenen Lebens in weit höherem Maasse noch als gegen
wärtig darin bestehen werden , die Nachkommenschaft zur Voll
kommenheit heranzuziehen und gleichzeitig das unmittelbare Glück
der Nachkommen zu fördern .
Obwohl nun der Altruismus socialer Art, schon weil ihm ge
wisse Elemente des älterlichen Altruismus fehlen, niemals dieselbe
Höhe zu erreichen vermag, so ist doch zu erwarten , dass er sich

---
auf eine Stufe erheben werde, auf welcher er, was die Spontaneität
seiner Äusserungen betrifft, ganz dem älterlichen Altruismus gleich
kommen wird, - auf eine solche Höhe, dass die Fürsorge für das
Glück Anderer zum täglichen Bedürfniss werden wird auf eine
solche Höhe, dass die niedrigeren egoistischen Genüsse beständig
diesem höheren egoistischen Genuss untergeordnet werden ; und dazu
wird es keiner besonderen Anstrengung bedürfen , sondern dieser
höhere egoistische Genuss wird stets von selbst den Vorzug erhalten ,
so oft er erreichbar ist.
Sehen wir nun näher zu , wie die Ausbildung des Mitgefühls
oder der Sympathie, welche natürlich so rasch fortschreiten muss ,
als dies die Verhältnisse überhaupt zulassen, diesen Zustand herbei
führen wird.

§. 94.

Wir haben gesehen , dass während der Entwickelung des Lebens


Freuden und Schmerzen nothwendigerweise stets die Anreiz- und
Abschreckungsmittel für Handlungen bildeten , welche durch die
Existenzbedingungen gefordert, respective verpönt wurden . Es ist
eine unmittelbar darin liegende Wahrheit, die aber hier besonders
hervorgehoben zu werden verdient, dass Fähigkeiten , deren Übung
unter den gegebenen Verhältnissen theilweise Freuden und theil
weise Schmerzen bereitet , sich nicht über die Grenze hinaus ent
wickeln können , an welcher sie noch einen Überschuss an Freuden
gewähren : denn wenn jenseits dieser Grenze aus der Übung der
selben mehr Schmerz als Freude entspringt, so muss natürlich ihre
Ausbildung zum Stillstand kommen .
§. 94. Versöhnung . 265

Durch Mitgefühl werden beiderlei Formen des Gefühls angeregt.


Bald erfüllt uns ein freudiger Bewusstseinszustand , wenn wir Zeugen
von Freude sind , bald regt es uns schmerzlich auf, wenn wir An
dere leiden sehen müssen. Wenn also die den Einzelnen umgeben
den Wesen in der Regel Freude und nur selten Schmerzen kund
geben, so gewährt das Mitgefühl dem Betreffenden einen Überschuss
an Freude, während umgekehrt, wenn gewöhnlich nur wenig Freu
den und viele Schmerzen zu beobachten sind , das Mitgefühl ihm
einen Überschuss an Schmerzen bereitet . Die durchschnittliche Aus
bildung des Mitgefühls muss sich mithin nach den durchschnitt
lichen Kundgebungen von Freuden und Schmerzen von Seiten An
derer regeln. Wenn das unter gegebenen socialen Bedingungen ge
wöhnlich mögliche Leben der Art ist, dass einem alltäglich durch
die Mitbürger Leiden zugefügt oder die Erduldung solcher vor Augen
geführt werden , so kann das Mitgefühl nicht zunehmen : wer eine
Zunahme desselben annehmen wollte , der würde damit annehmen ,
dass sich die Constitution des Menschen dergestalt abändern könnte ,
dass dadurch seine Schmerzen vermehrt und in Folge dessen seine
Energie vermindert würde , und der würde ferner die Wahrheit ausser
Acht lassen, dass das Erdulden jeder Art von Schmerzen mit der
Zeit eine Unempfindlichkeit gegen diese Schmerzen , eine gewisse
Abstumpfung verursacht . Besteht dagegen ein derartiger socialer
Zustand , dass die Kundgebungen von Freude überwiegen , so wird
das Mitgefühl zunehmen , da die mitgefühlten Freuden die Gesammt
summe der Freuden, welche ja allgemein eine Steigerung der Lebens
kräfte bewirken , vergrössern helfen und somit das physische Ge
deihen der am meisten Mitfühlenden fördern , und da ferner , wenn
die Freuden des Mitgefühls ihre Schmerzen bei Allen übersteigen ,
dadurch eine Übung dieses Gefühls bedingt wird , welche dasselbe
noch mehr kräftigt.
Die erstere Folgerung ist übrigens schon mehr als einmal an
gedeutet worden . Wir haben früher gesehen , dass gleichzeitig mit
kriegerischen Gewohnheiten und unter der Herrschaft eines densel
ben angepassten Typus der gesellschaftlichen Organisation das Mit
gefühl sich nicht in irgend erheblichem Grade auszubilden im Stande
ist. Die Zerstörungsarbeit, welche gegen die äusseren Feinde ge
richtet wird , erstickt dasselbe schon im Keime ; der herrschende
Gemüthszustand veranlasst innerhalb der Gesellschaft selbst häufig
Acte des Angriffs oder der Grausamkeit, und ausserdem drängt das
266 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV .

zwangsweise Zusammenwirken , das für ein kriegerisches Régime so


charakteristisch ist , das Mitgefühl nothwendigerweise zurück :
ist jenes doch überhaupt nur unter der Bedingung möglich, dass den
Einen durch die Andern eine mitgefühllose Behandlung widerfährt .
Allein selbst wenn das kriegerische Régime sofort abgeschafft
werden könnte , so würden die einer Entwickelung des Mitgefühls
entgegenstehenden Hindernisse immer noch gross genug sein . Ob
gleich das Aufhören der Kriege eine zunehmende Anpassung des
Menschen an das sociale Leben und eine Abnahme mancher Übel
im Gefolge hätte, so würde doch noch viel Nicht-Anpassung und
in Folge dessen viel Unglück bestehen bleiben. In erster Linie
könnte jene Seite der menschlichen Natur , welche von jeher
Kriege erzeugt hat und noch erzeugt, wenn sie auch unserer An
nahme nach eine höhere Stufe erreicht hätte , sich doch nicht auf
einmal auf eine so hohe Stufe erheben , dass alle Ungerechtigkeit
aufhören und die durch sie verursachten Leiden nicht mehr existiren
würden . Noch lange Zeit, nachdem die auf Raub und Plünderung
abzielenden Thätigkeiten aufgehört , würden die Mängel der Raub
natur fortdauern und mit ihnen ihre nur langsam sich vermindern
den übeln Folgen . In zweiter Linie muss die ungenügende An
passung der menschlichen Constitution an die Bestrebungen des in
dustriellen Lebens noch lange anhalten und es ist sogar zu er
warten, dass sie das Aufhören der Kriege in gewissem Maasse noch
überdauern werde : insofern nämlich, als die nunmehr geforderten
Thätigkeitsarten noch für unzählige Generationen einigermaassen un
angenehm erscheinen werden . Und in dritter Linie kann es auch
nicht ausbleiben , dass mangelhafte Selbstcontrole, wie sie uns der
Unvorsichtige zeigt , sowie jene zahlreichen andern Missgriffe des
Handelns , welche alle auf ungenügender Voraussicht der Folgen be
ruhen , immer noch, wenn gleich weniger fühlbar als gegenwärtig,
Leiden erzeugen werden.
Ja selbst die vollständige Anpassung , sofern sie sich auf das
Verschwinden der soeben angedeuteten Nichtanpassungen beschränkte,
würde nicht im Stande sein, sämmtliche Quellen des Elends zu ver
stopfen, die in dem Maasse, als sie zu Tage treten , das Wachsthum
des Mitgefühls hemmen . Denn so lange das Vermehrungsvermögen
noch dergestalt die Sterblichkeitsziffer übersteigt, dass dadurch ein
Druck auf die Subsistenzmittel hervorgerufen wird , muss auch die
Fortdauer von so mancherlei Unglück die Folge sein , sei es nun
§. 95. Versöhnung . 267

durch Vereitelung einer Zuneigung , durch Überanstrengung oder


durch Kärglichkeit der Mittel zum Lebensunterhalt veranlasst. Nur
in dem Maasse, als die Fruchtbarkeit abnimmt, was , wie wir ge
sehen haben, gleichzeitig mit höherer geistiger Ausbildung eintreten
muss (Principien der Biologie, §§ . 367-377) , kann eine solche Ver
minderung der zum ausreichenden Unterhalt des Einzelnen und seiner
Familie nöthigen Arbeit stattfinden, dass dieselbe nicht mehr eine
unangenehme Beeinträchtigung der Lebenskräfte ausmacht .
Allmählich also und nur sehr allmählich, wie diese verschie
denen Ursachen des Unglücks geringer werden , kann das Mitgefühl
an Bedeutung zunehmen . Das Leben würde ja unerträglich sein ,
wenn , während die Ursachen des Elends dieselben blieben wie heute ,
alle Menschen nicht allein in hohem Grade empfindlich wären für
die körperlichen und geistigen Schmerzen, welche ihre nächste Um
gebung zu erdulden hat oder welche sich auf den Gesichtern der
ihnen Begegnenden ausprägen , sondern auch unaufhörlich von dem
Bewusstsein all des Elends verfolgt würden, das die ganze Mensch
heit überall als Folge von Krieg, Verbrechen , verkehrtem Betragen ,
Missgeschick, Unvorsichtigkeit, Unvermögen erleiden muss . Je mehr
aber die Umprägung und Umgestaltung des Menschen und der Ge
sellschaft zu gegenseitigem Zusammenstimmen fortschreitet und die
durch Nichtzusammenstimmen verursachten Schmerzen abnehmen ,
desto mehr kann das Mitgefühl angesichts der Freuden , welche aus
jenem Zusammenstimmen entspringen , an Umfang gewinnen . Diese
beiden Umwandlungsprocesse stehen in der That in solcher Be
ziehung zu einander, dass jeder den andern fördert. Die Zunahme
des Mitgefühls , welche die Verhältnisse gestatten , trägt selbst wie
der dazu bei , die Schmerzen zu mindern und die Freuden zu mehren ,
und der hieraus erwachsende grössere Überschuss von Freuden macht
seinerseits ein ferneres Wachsthum des Mitgefühls möglich .

§. 95.
Von dem Grade, bis zu welchem das Mitgefühl sich wird ent
wickeln können, wenn alle Hindernisse aus dem Wege geräumt sind ,
werden wir uns leichter eine Vorstellung zu machen vermögen ,
nachdem wir erst die Agentien , durch welche es angeregt wird,
erörtert und die Gründe dargelegt haben, die uns vermuthen lassen,
dass jene Agentien später eine grössere Wirkung ausüben werden.
Zwei Factoren kommen hier in Betracht : die natürliche Sprache der
268 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV.

Gefühle bei dem Wesen , für welches Mitgefühl empfunden wird ,


und das Vermögen , diese Sprache zu deuten , bei dem Wesen, das
mitempfindet . Wir dürfen für beide eine Höherentwickelung voraus
setzen.
Bewegungen des Körpers und Veränderungen im Gesicht sind .
sichtbare Wirkungen von Gefühlen , und sind diese sehr lebhaft, so
entziehen sich jene der Controle des Willens . Ist jedoch ein Gefühl ,
sei es sensationeller , sei es emotioneller Art , minder heftig, so
können jene ganz oder theilweise unterdrückt werden , und wir haben
ja auch die mehr oder weniger tief eingewurzelte Gewohnheit, sie
zu unterdrücken , eine Gewohnheit , welche die Folgeerscheinung
unserer Natur ist , der es oft sehr unerwünscht wäre, wenn Andere
sehen könnten , was in ihr vorgeht. Für unsere gegenwärtigen
Charaktereigenschaften und Verhältnisse sind aber solche, aus den
genannten Ursachen entspringende Verstellungen so unerlässlich ,
dass sie ja sogar zu einem Bestandtheil unserer moralischen Pflich
ten geworden sind ; wird doch Verstellung um ihrer selbst willen
oft als ein Element des gesitteten Betragens hingestellt. All das
hat aber seinen Grund nur in dem Vorwalten von Gefühlen , welche
-
mit dem social Guten in Widerspruch stehen von Gefühlen , die
nicht an den Tag gelegt werden können , ohne Zerwürfnisse oder
Entfremdung hervorzurufen . Allein in demselben Maasse, als die
egoistischen Begehrungen mehr unter die Controle der altruistischen
gestellt werden und minder häufige und schwächere Impulse von
unzulässiger Art auftreten , wird auch die Nothwendigkeit abnehmen,
über dem Gesichtsausdruck und den Körperbewegungen so ängst
lich zu wachen, und diese werden dem Beschauer mit zunehmender
Deutlichkeit den geistigen Zustand enthüllen . Ja noch mehr : diese
Sprache der Emotionen kann sich gegenwärtig , wo ihr Gebrauch
so sehr in den Hintergrund gedrängt ist, unmöglich weiterbilden .
Allein sobald die Emotionen derartig geworden sind , dass sie sich
ungescheut äussern können , wird auch zugleich mit der Gewohnheit
einer Äusserung derselben die Ausbildung der Mittel zur Äusserung
I
stattfinden, so dass sich abgesehen von den heftigeren Emotionen
auch die zarteren Schattirungen und schwächeren Grade der Gemüths
bewegungen sichtbar darstellen werden : die emotionelle Sprache
wird zu gleicher Zeit reichhaltiger, mannichfaltiger und bestimmter
werden . Und offenbar wird das Mitgefühl hieraus in entsprechendem
Maasse Förderung empfangen .

I
§. 95. Versöhnung . 269

Noch ein anderer, ebenso wichtiger, wenn nicht sogar viel wich
tigerer Fortschritt von verwandter Natur ist ausserdem zu er
warten. Der Vocalausdruck der Empfindungszustände wird sich
gleichzeitig weiter entwickeln. Die Stärke, die Höhe, die Klang
farbe und die Veränderung eines Tones sind sämmtlich Merkzeichen
von Gefühlen, und in verschiedenen Weisen und Verhältnissen com
binirt können sie dazu dienen , verschiedene Grade und Arten von
Gefühlen zum Ausdruck zu bringen . Wie ich an einer andern Stelle
auseinandergesetzt habe, sind Cadenzen die Commentare der Emotionen
zu den Behauptungen des Intellects *. Nicht blos bei erregter Rede ,
sondern auch schon beim gewöhnlichen Sprechen deuten wir durch
auf- und absteigende Satztheile, durch verschiedene Grade der Ab
weichung von der mittleren Tonhöhe sowie durch Anbringung und
wechselnde Stärke eines besonderen Nachdrucks die Art des Empfin
dungszustandes an , welcher den betreffenden Gedanken begleitet.
Nun unterliegt aber die Kundgebung der Gefühle durch Tonschwan
kungen ebenso wie diejenige durch sichtbare Veränderungen gegen
wärtig einem gewissen hemmenden Zwang : die Motive zur Zurück
drängung derselben sind im einen Falle in gleicher Weise wirksam
wie im andern. Daraus entspringt eine zwiefache Wirkung . Diese
hörbare Sprache der Gefühle kommt nicht bis zur Grenze ihrer vor
handenen Leistungsfähigkeit zur Verwendung, und ausserdem wird
sie in erheblichem Maasse missbraucht , indem sie andere Gefühle
ausdrückt, als wirklich empfunden werden. Die einfache Folge dieses
Nichtgebrauchs und Missbrauchs ist , dass jene Entwickelung der
selben unterdrückt wird, welche durch den normalen Gebrauch unter
halten würde . Wir müssen nun aber annehmen , dass , wenn die
moralische Anpassung fortschreitet und die Nothwendigkeit , seine
Gefühle zu verbergen, immer geringer wird , ihr lautlicher Ausdruck
sich dabei immer höher ausbilden werde. Wenn auch nicht zu er
warten ist, dass Cadenzen jemals so genau unsere Emotionen wieder
zugeben im Stande sein werden, wie dies Worte für die Gedanken
thun, so ist es doch ganz wohl möglich, dass sich die emotionelle
Sprache der Zukunft ebenso hoch über diejenige der Gegenwart
erheben wird , als sich unsere intellectuelle Sprache bereits über die
der niedersten Menschenracen erhoben hat.
Die gleichzeitige Steigerung des Vermögens, sowohl sichtbare

* S. meinen Essay „Über den Ursprung und die Bedeutung der Musik“ .
270 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV. C

als hörbare Zeichen der Gefühle zu verstehen , darf auch nicht ausser
Acht gelassen werden . In unserer nächsten Umgebung können wir
erhebliche Verschiedenheiten beobachten sowohl hinsichtlich der
Fähigkeit, solche Zeichen überhaupt wahrzunehmen , als hinsichtlich
der Fähigkeit , die ihnen zu Grunde liegenden geistigen Zustände
und deren Ursachen sich vorzustellen : hier oft eine Stumpfheit , au
welche eine schwache Veränderung des Gesichtsausdrucks oder etwas
Ungewöhnliches in der Stimme gar keinen Eindruck macht oder
welche wenigstens nicht im Stande ist , sich zu denken , was der
Andere dabei fühlt ; und dort wieder eine so rasche Beobachtung
und ein so durchdringender Blick, dass der Geisteszustand des An
dern und seine Ursache augenblicklich erfasst wird. Wenn wir uns
nun diese beiden Eigenschaften vergrössert denken ― sowohl eine
feinere Wahrnehmung der Zeichen als auch eine lebhaftere construc
tive Einbildungskraft annehmen so werden wir einigermaassen
einen Begriff von der Vertiefung und Erweiterung des Mitgefühls
bekommen , die in Zukunft stattfinden wird . Die lebendigere Re
präsentation der Gefühle Anderer, welche eine ideale Anregung der
Gefühle bedingt, die sich der realen bedeutend nähert, muss auch
eine grössere Ähnlichkeit zwischen den Gefühlen des Mitfühlenden
und denen des Bemitleideten bedingen ――――――― eine Ähnlichkeit , welche
der Identität nahekommen mag.
Durch gleichzeitige Zunahme seiner subjectiven und seiner ob
jectiven Factoren kann sich das Mitgefühl demnach wohl, je mehr
die ihm entgegenstehenden Hindernisse zurücktreten , ebenso hoch
über den Grad erheben , den uns heute ein mitfühlender Mensch
vorführt, als es sich bei diesem über den Grad erhoben hat, auf
welchem der Stumpfsinnige noch verharrt.

§. 96.
Welche Richtung muss nun die diesen Process begleitende
Entwickelung des Handelns einschlagen ? Wie müssen sich die Be
ziehungen zwischen Egoismus und Altruismus gestalten, wenn sich
die menschliche Natur dieser Form annähert ?
Hier ist der Ort, uns eine im Capitel über die Relativität der
Freuden und Leiden gezogene Folgerung in's Gedächtniss zurück
zurufen, auf deren Bedeutung für später ich dort schon ausdrück
lich aufmerksam gemacht habe. Es wurde damals auseinander
- Voraus
gesetzt, dass es keinerlei Thätigkeit gibt, welche nicht
§. 96. Versöhnung. 271

gesetzt, dass sie mit der Forterhaltung des Lebens vereinbar ist -
zur Quelle von Freuden werden kann , wenn die Bedingungen der
Aussenwelt die Ausübung derselben andauernd verlangen . Und hier
können wir nun als einfache Erweiterung jenes Satzes hinzufügen ,
dass , wenn die Bedingungen irgend eine Classe von Thätigkeiten in
verhältnissmässig beträchtlichem Umfang erfordern , auch die jene
Classe von Thätigkeiten begleitenden Freuden sich in entsprechend
hohem Maasse ausbilden werden . Welche Tragweite haben nun
diese allgemeinen Schlüsse für die besondere uns vorliegende Frage ?
Dass das Mitgefühl sowohl für die öffentliche wie für die in
dividuelle Wohlfahrt von wesentlicher Bedeutung ist , ging aus dem
Früheren klar hervor. Wir sahen, dass das Zusammenwirken und
die Vortheile, welche es dem Einzelnen und Allen bringt , sich in
dem Maasse höher ausbilden, als die altruistischen Interessen oder,
was dasselbe besagt, die Interessen des Mitgefühls sich erweitern .
Die durch das Gefühl für die Nebenmenschen veranlassten Hand
lungen sind also vor Allem unter diejenigen zu rechnen, welche von
den socialen Bedingungen gefordert werden. Es sind Handlungen,
welche der Fortbestand und die Weiterentwickelung der socialen
Organisation fortwährend zu vermehren streben , und daher auch
Handlungen, mit denen sich stets zunehmende Freude verbinden wird.
Aus den Gesetzen des Lebens ergibt sich unmittelbar der Schluss,
dass die unaufhörlich wirksame sociale Schulung die menschliche
Natur soweit umgestalten muss , bis dieselbe schliesslich von selbst
den Freuden des Mitgefühls nachstreben wird bis zur äussersten
Grenze dessen, was dem Einzelnen und Allen vortheilhaft sein kann.
Das Streben nach altruistischen Genüssen wird nie hinter der Er
weiterung des Wirkungskreises altruistischer Thätigkeiten zurück
bleiben.
Wo die Natur der Menschen so geartet ist , da müssen zwar
die altruistischen Genüsse in gewissem, abgeändertem Sinne egoistisch
bleiben, sie werden aber nicht in egoistischem Sinne - nicht aus
egoistischen Motiven erstrebt werden . Obgleich das Freude-Bereiten
selbst wieder eine Quelle der Freude sein wird , so wird doch nicht
der Gedanke an die zu erwartende Freude des Mitgefühls , sondern
nur der Gedanke an die bereitete Freude das Bewusstsein beschäf
tigen. Dies ist ja in erheblichem Grade schon jetzt so . Bei einem
wahrhaft mitfühlenden Menschen ist die Aufmerksamkeit so sehr
durch den nächstliegenden Zweck, das Glück Anderer, in Anspruch
272 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV. 1

genommen, dass dem in Aussicht stehenden eigenen Glück, das in


letzter Linie daraus entspringt, gar keine Beachtung geschenkt wird .
Ein Vergleich wird dies Verhältniss klarer machen.
Ein Geizhals , der eifrig sein Geld zusammenscharrt, pflegt doch
dabei nicht ausdrücklich zu sich selbst zu sagen : „ Ich werde mir
"2 dadurch das Vergnügen verschaffen , was der Besitz gewährt " , son
dern er denkt nur an das Geld und an die Mittel , noch mehr zu be
kommen, und mehr nur zufällig geniesst er die Freude, welche aus
dem Bewusstsein des Besitzes entspringt. Reichthümer aufzuspei
chern ist das Ziel, was ihm seine Einbildungskraft vorspiegelt, und
nicht das Gefühl , welches die Folge des Erwerbs von Reichthümern
ist. Ganz ähnlich ist derjenige, der im höchsten Sinne mitempfindet ,
nur in der Richtung geistig in Anspruch genommen , als er sich
Freuden als von einem Andern erfahren vorstellt , und er strebt
denselben zum Besten dieses Andern nach , ohne einen Gedanken
daran , inwiefern ihm auch ein Antheil davon zufallen wird . Von
subjectivem Standpunkt betrachtet wird also die Versöhnung zwi
schen Egoismus und Altruismus schliesslich dahin lauten , dass zwar
die altruistische Freude, weil sie eben einen Theil des Bewusstseins
des sie Erfahrenden ausmacht , niemals im Grunde anders als
egoistisch sein kann , dass sie aber wenigstens nicht bewusst
egoistisch ist .
Legen wir uns nun die Frage vor, wie es in einer Gesellschaft
aussehen muss , die sich aus derartig beschaffenen Menschen zu
sammensetzt .

§. 97.

Zunächst müssen die Gelegenheiten zu jener Hintansetzung des


Ich zu Gunsten Anderer , worin eben der Altruismus nach der ge
wöhnlichen Auffassung besteht, auf verschiedene Weise mehr und
mehr beschränkt werden, je mehr sich die Gesellschaft dem höch
sten Zustande annähert .
Weitgehende Anforderungen an den Wohlwollenden setzen viel
Unglück voraus . Bevor an die Einen häufige und dringende Bitten
ergehen können , sich zum Besten Anderer zu bemühen, müssen viele
Andere in hülfsbedürftigem Zustand , in einem Zustand verhältniss
mässigen Elends sein. Allein wie wir oben gesehen haben , kann
die Ausbildung des Mitgefühls für die Nebenmenschen nur in dem
Maasse fortschreiten, als das Elend abnimmt. Das Mitempfinden
§. 97. Versöhnung . 273

kann seine volle Höhe erst dann erreichen , wenn längst nicht mehr
so häufige Gelegenheiten zu ernstlicher Selbstaufopferung oder Ähn
lichem vorhanden sind.
Betrachten wir die Sache von etwas verändertem Standpunkt
aus , und dieselbe Wahrheit zeigt sich uns blos von einer andern
Seite. Wir haben bereits gesehen , dass mit dem Fortschritt der
Anpassung Jeder eine solche Beschaffenheit erlangt, dass man ihm
nicht Hülfe leisten kann, ohne auf irgend eine Weise eine angenehme
Thätigkeit bei ihm zu hemmen. Ein wohlthätig wirkendes Da
zwischentreten zwischen Fähigkeit und Function ist in der That
unmöglich , wenn beide einander völlig angepasst sind . Folglich
müssen sich auch in demselben Maasse , als die Menschheit einer
vollkommenen Anpassung ihrer Natur an die socialen Bedürfnisse
näher kommt , immer weniger und untergeordnetere Gelegenheiten
zu gegenseitiger Hülfeleistung finden .
Und wie endlich im letzten Capitel dargelegt wurde , muss
dasselbe Mitgefühl, das zu Anstrengungen zum Wohle Anderer an
treibt, sich durch die Selbstschädigung Anderer verletzt fühlen und
daher eine Abneigung dagegen hervorrufen, Wohlthaten von ihnen
anzunehmen , welche durch Selbstschädigung derselben erkauft wer
den mussten . Was geht daraus hervor ? Während jeder Einzelne ,
sobald sich Gelegenheit dazu bietet , mit Freuden bereit, ja eifrig
besorgt ist , egoistische Genüsse aufzugeben, können die Andern nicht
umhin , da sie ebenso geartet sind, sich diesem Aufgeben zu wider
setzen. Sobald Jemand mit dem Vorsatze , sich selbst härter zu
behandeln, als ein "" unparteiischer Zuschauer " es anordnen würde ,
sich weigern sollte , das , was ihm zukommt , sich zu eigen zu
machen, werden Andere für ihn sorgen, da er nicht selbst für sich
sorgen will, und nothwendigerweise darauf bestehen müssen , dass
er das ihm Gebührende wirklich geniesse. Der allgemeine Altruis
mus in seiner völlig ausgebildeten Form muss also individuellen
Ausschreitungen des Altruismus unvermeidlich einen Damm ent
gegensetzen. Das Verhältniss , wie wir es gegenwärtig gewohnt sind ,
wird sich geradezu umkehren : statt dass jeder Einzelne seine eigenen
Ansprüche verficht , werden Andere seine Ansprüche für ihn ver
treten, natürlich nicht durch active Anstrengungen , welche nicht
nöthig sein werden , sondern indem sie einfach passiv jedes über
mässige Aufgeben derselben zurückweisen . Ein solches Verhalten
bedingt übrigens Nichts , was nicht schon jetzt in seinen ersten
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 18
274 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV.

Anfängen bei den verschiedensten Vorkommnissen des täglichen


Lebens wahrzunehmen wäre. In geschäftlichen Verhandlungen unter
rechtschaffenen Männern macht sich in der Regel auf beiden Seiten
der Wunsch bemerklich, dass der Andere nicht sich selber benach
theiligen möchte. Nicht selten begegnen wir einer Weigerung ,
etwas anzunehmen, was als einem Anderen zukommend betrachtet
wird, was aber dieser Andere aufzugeben bereit ist . Auch im ge
sellschaftlichen Verkehr sind die Fälle ganz gewöhnlich , wo die
Einen ihren Antheil an einer Freude gerne aufopfern würden , aber
von den Übrigen davon zurückgehalten werden. Die weitere Aus
bildung des Mitgefühls muss diese Art des Betragens nothwendig
immer allgemeiner machen und tiefer einwurzeln lassen .
Es gibt ausserdem noch einige minder einfache Einschränkungen
eines übermässigen Altruismus, welche auf etwas andere Weise dazu
beitragen, das Individuum auf einen normalen Egoismus zurückzu
drängen. Zwei davon mögen hier besonders erwähnt werden .
In erster Linie setzt eine oft wiederholte Selbstverleugnung von
Seiten des Handelnden die stillschweigende Annahme voraus , dass
bei den Andern, welche aus dieser Selbstverleugnung Vortheil ziehen ,
eine relativ bedeutende Selbstsucht vorherrsche. Selbst wie die
Menschen gegenwärtig sind, macht sich gelegentlich bei Solchen ,
zu deren Gunsten häufige Opfer gebracht werden, das Gefühl gel
tend, dass sie beinah eine Beleidigung in der Ansicht der Andern
erblicken müssten , als ob sie dieselben ohne weiteres anzunehmen
bereit wären ; und auch dem Geiste des Handelnden drängt sich
manchmal eine Anerkennung jenes Gefühls auf Seiten der Andern
auf und er empfindet in Folge dessen ein gewisses Widerstreben gegen
allzu beträchtliche oder allzu häufige Aufopferungen der eigenen
Freuden. Offenbar wird bei höher entwickelten Naturen diese Art
der Hemmung noch lebhafter wirken müssen .
Zweitens : wenn, wie die Hypothese annimmt, die altruistischen
Freuden eine grössere Intensität gewonnen haben als gegenwärtig,
so wird sich Jedermann von einem ungebührlich eifrigen Streben
nach denselben schon durch das Bewusstsein abgehalten sehen, dass
auch Andere solche Freuden zu haben wünschen und dass also diesen
gleichfalls die Möglichkeit zum Genuss derselben offen gelassen
werden sollte. Selbst heutzutage schon kann man in Bekannten
oder Freundeskreisen , in denen ein gewisser Wetteifer in der Liebens
würdigkeit stattfindet , öfter beobachten , wie der Eine diese oder
§. 97. Versöhnung . 275

jene Gelegenheit zur Selbstverleugnung unbenutzt lässt, damit ein


Anderer sich derselben erfreuen könne. 27 Lasst sie nur diesen Genuss
aufgeben, sie wird es mit Freuden thun “ ; „ lasst ihn die Mühe auf
sich nehmen , es wird ihm nur Vergnügen bereiten " - das sind
von Zeit zu Zeit zu hörende Äusserungen, welche die Wirksamkeit
dieses Bewusstseins Das höchst entwickelte Mitgefühl
bezeugen.
endlich wird um die Befriedigung des Mitgefühls Anderer ebenso
besorgt sein wie um deren egoistische Befriedigung. Was wir einen
höheren Gerechtigkeitssinn nennen könnten , wird sich ebenso gut
davor scheuen , in das Gebiet der altruistischen Thätigkeiten Anderer
überzugreifen, wie der niedrigere Gerechtigkeitssinn sich davor scheut,
in das Gebiet ihrer egoistischen Thätigkeiten überzugreifen . Und
durch diese Hemmung des egoistischen Altruismus, wie wir ihn be
zeichnen können , müssen ungebührliche Opfer von allen Seiten ver
hindert werden.
Was für Gebiete werden denn aber schliesslich für den Altruis
mus in der gewöhnlichen Auffassung noch übrig bleiben ? Es sind
deren drei . Das eine muss stetsfort in bedeutendem Umfange fort
bestehen, während sich die beiden andern mit der Zeit immer mehr
verengern werden, wenn sie auch nie ganz verschwinden können .
Das erste ist dasjenige , welches uns das Familienleben dar
bietet . Stets muss das Bedürfniss obwalten, beim Aufziehen der
Kinder die auf das Ich gerichteten Gefühle den auf Andere gerich
teten Gefühlen unterzuordnen . Wenn dies auch mit der Abnahme
der Zahl der Aufzuziehenden etwas geringer werden wird , so muss es
doch auf der andern Seite durch die grössere Sorgfalt und die längere
Fortdauer der zu ihren Gunsten aufgewendeten Thätigkeiten eine
gewisse Vergrösserung erfahren. Allein wie oben gezeigt wurde ,
kommt sogar schon gegenwärtig eine theilweise Versöhnung dadurch
zu Stande, dass jene egoistischen Genüsse , welche die Älternschaft
gewährt , durch altruistische Thätigkeiten erzielt werden - eine
Versöhnung, welche beständig der Vollkommenheit zustrebt . Eine
andere wichtige Weiterbildung des Familienaltruismus darf hier nicht
übersehen werden : die Fürsorge der Kinder für die Ältern in deren
alten Tagen - eine Fürsorge, die leichter durchführbar und also
auch besser durchgeführt werden wird und hinsichtlich deren eine
ähnliche Versöhnung zu erwarten ist.
Das Streben nach socialer Wohlfahrt im Allgemeinen muss
auch in Zukunft wie bisher der Hintansetzung selbstsüchtiger gegen
18 *
276 Die Thatsachen der Ethik . Cap. XIV.

über selbstlosen Interessen Spielraum gewähren , aber einen bestän


dig sich verengernden Spielraum ; denn je weiter die sociale An
passung fortschreitet , desto weniger tritt das Bedürfniss nach jenen
regulativen Thätigkeiten in den Vordergrund , welche das sociale Leben
harmonisch zu gestalten suchen . Und hier wird das Maass altruisti
scher Thätigkeit, was jeder Einzelne auf sich nimmt, von den Andern
nothwendigerweise in mässigen Schranken gehalten werden ; denn
wenn dieselben in gleichem Grade altruistisch sind , so können sie
nicht den Einen gestatten , zu ihrem eigenen erheblichen Nachtheil
öffentliche Zwecke zu verfolgen , wovon nur die Übrigen Nutzen haben.
In den privaten Beziehungen der Menschen werden sich Ge
legenheiten zur Selbstaufopferung, durch Mitgefühl veranlasst , stets
in gewissem, wenn auch mit der Zeit in immer geringerem Maasse
darbieten, in Folge von Unfällen, Krankheiten und Unglück über
haupt, da eben die Anpassung der menschlichen Natur an die phy
sischen und socialen Existenzbedingungen im Allgemeinen, so nahe
sie auch der Vollkommenheit kommen mag , dieselbe doch nie voll
ständig erreichen kann . Überschwemmungen, Feuersbrünste, Schiff
bruch müssen bis zu allerletzt von Zeit zu Zeit zu heldenmüthigen
Thaten Veranlassung geben , nur dass in den Beweggründen zu sol
chen Thaten die Besorgniss um Andere sich weniger mit dem Stre
ben noch Bewunderung mischen wird als gegenwärtig . So lebhaft
übrigens auch der Eifer für altruistische Handlungsweise bei den
seltenen hiedurch gebotenen Gelegenheiten sich bethätigen wird , so
kann doch der auf jeden Einzelnen entfallende Betrag derselben aus
den angeführten Gründen nur ein verhältnissmässig niedriger sein.
Obgleich nun aber unter den Vorkommnissen des täglichen
Lebens nur sehr selten der Fall eintreten wird , dass die Interessen
des Ich in erheblichem Grade denen Anderer hintangesetzt zu wer
den brauchten , so wird doch der tägliche Verkehr dafür immer
noch zahlreiche untergeordnetere Gelegenheiten zur Bethätigung des
Mitgefühls darbieten . Auch in Zukunft mag ein Jeder fortfahren ,
das Wohlergehen seiner Nebenmenschen zu fördern, indem er Übel
von ihnen abhält, die sie nicht sehen konnten , und ihre Thätigkeit
fördert durch Mittel, welche ihnen unzugänglich waren ; oder, um
es auch vom entgegengesetzten Standpunkt darzustellen , ein Jeder
mag gleichsam Hülfsaugen und -ohren bei andern Menschen haben,
welche für ihn Dinge wahrnehmen, die er nicht wahrzunehmen im
Stande war, und auf diese Weise sein Leben in zahlreichen Einzel
Versöhnung . 277
§. 98.

heiten vervollkommnen , indem sie seine Anpassung an die Einwir


kungen der Aussenwelt immer vollständiger werden lassen .

§. 98.

Geht nun daraus nothwendig hervor, dass schliesslich mit dieser


Einengung der Bethätigungsgebiete des Altruismus auch dieser selbst in
seinem gesammten Umfange immer mehr verschwinden werde ? Keines
wegs . Eine solche Folgerung würde auf einem Missverständniss beruhen.
Unter den gegenwärtig vorliegenden Bedingungen , wo die Leiden
so weit verbreitet sind und von den Glücklicheren so grosse An
strengungen gefordert werden, um den minder Glücklichen beizu
stehen, wird unter Altruismus natürlich nur Selbstaufopferung ver
standen oder zum mindesten eine Handlungsweise , welche zwar
einiges Vergnügen bereitet , das aber zugleich ein Aufgeben des
eigenen Ich zur Begleitung hat, welches nicht angenehm ist. Jenes
Mitgefühl aber, welches zur Selbstverleugnung antreibt , um Andern
Freude zu machen , findet auch Freude an ihren Freuden , selbst
wenn diese auf andere Weise verursacht sind. Je lebhafter die Mit
empfindung, welche zu Anstrengungen antreibt, um Andere glück
lich zu machen , desto lebhafter ist auch die Mitempfindung mit
ihrem Glück, mag dies wie immer entstanden sein .
In seiner höchsten Form wird also der Altruismus darin be
stehen, dass er Befriedigung findet in dem Mitgefühl für jene Be
friedigung Anderer, welche hauptsächlich durch die erfolgreiche Aus
übung ihrer Thätigkeiten jeder Art hervorgerufen wurde eine
mitfühlende Befriedigung, welche den Empfänger Nichts kostet, son
dern eine Gratisbeigabe zu seinen egoistischen Genüssen bildet . Das
Vermögen, sich in Gedanken den geistigen Zustand Anderer vorzu
führen, welches während des Anpassungsprocesses die Aufgabe hatte ,
das Leiden zu mildern , muss sich, wenn endlich das Leiden auf ein
Minimum reducirt ist, fast ausschliesslich darauf beschränken , die
Genüsse der Menschen gegenseitig zu erhöhen, indem es Jedermann
eine lebhafte Anschauung von den Genüssen seiner Nächsten gibt.
So lange der Schmerz wesentlich vorherrscht , wäre es natürlich gar
nicht wünschenswerth, dass Jeder am Bewusstsein des Andern einen
erheblichen Antheil nehmen sollte ; mit dem Überwiegen der Freu
den aber gestaltet sich die Theilnahme am Bewusstsein Anderer
zu einer Quelle der Freude für Alle.
Und so wird denn jener scheinbar unlösbare Gegensatz zwischen
278 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XIV.

Altruismus und Egoismus, wie er sich durch den im letzten Capitel


erreichten Compromiss ergab, doch verschwinden . Vom subjectiven
Standpunkt betrachtet wird sich die Versöhnung derart darstellen,
dass das Individuum nicht mehr beständig zwischen den auf sich
und den auf Andere bezüglichen Impulsen hin- und herschwanken
muss , sondern es werden im Gegentheil die Genüsse, welche aus
den Impulsen zu Gunsten Anderer entspringen und Selbstaufopferung
bedingen, selten sein und daher hoch geschätzt und so unbedenklich
vorgezogen werden, dass der Widerstreit der auf das Ich bezüglichen
Impulse mit jenen kaum fühlbar sein wird . Und ferner wird eine
subjective Versöhnung auch in der Hinsicht stattfinden , dass zwar
wohl altruistische Freuden sich einstellen werden, dass aber trotz
dem den Beweggrund zum Handeln nicht bewussterweise die Er
langung altruistischer Freuden bilden , sondern das Streben vor
herrschend dahin gehen wird , Andern Freude zu bereiten . Vom
objectiven Standpunkte betrachtet wird sich inzwischen die Versöh
nung ebenso vollkommen darstellen. Obgleich ein Jeder, da er nicht
mehr nöthig hat , seine egoistischen Ansprüche zu verfechten , viel
mehr geneigt sein wird , bei jeder Gelegenheit dieselben aufzuopfern ,
so werden doch die Übrigen, da sie gleicher Natur sind , ihm nicht
gestatten, dies in irgend erheblichem Maasse zu thun, und auf diese
Weise wird für die Befriedigung seiner persönlichen Begehrungen
gesorgt sein, welche nöthig ist , um sein Leben vollkommen zu ge
stalten sind dieselben auch jetzt nicht mehr egoistisch im gewöhn
lichen Sinne, so wird er sich doch der Folgen eines angemessenen
Egoismus erfreuen dürfen . Doch dies ist noch nicht Alles. Wie
in einem früheren Stadium die egoistischen Bestrebungen , nachdem
sie erst einen Compromiss erreicht, wonach Keiner mehr als seinen
billigen Antheil beansprucht , später bis zu einer solchen Versöhnung
sich erheben , dass Jeder sich darum bemüht , auch jedem Andern
seinen billigen Antheil zu verschaffen , so werden in einem spätern
Stadium auch die altruistischen Bestrebungen , nachdem sie erst den
Compromiss erreicht, wonach Jeder sich davor hütet, einen ungebühr
lichen Antheil an altruistischen Genüssen für sich zu beanspruchen ,
schliesslich zu einer solchen Versöhnung gelangen , dass Jeder dafür
Sorge trägt, dass jeder Andere gleichfalls Gelegenheit zu altruisti
schen Genüssen finde : der höchste Altruismus besteht ja eben darin ,
dass er nicht blos die egoistischen, sondern auch die altruistischen
Genüsse Anderer zum Gegenstand seiner Fürsorge macht.
§. 99. Versöhnung . 279

In welch weiter Ferne auch ein solcher Zustand zu liegen


scheint , so lässt sich doch ein jeder der Factoren, welche wir für
die Herbeiführung desselben in Rechnung zogen, unter hochgebil
deten Menschen schon jetzt als wirksam nachweisen . Was gegen
wärtig bei ihnen nur erst gelegentlich und schwach auftritt, das
dürfen wir mit der weiteren Entwickelung zur Gewohnheit werden und
erstarken zu sehen erwarten , und was gegenwärtig nur die ausnahms
weise Hochstehenden auszeichnet , das dürfen wir schliesslich als Merk
mal Aller zu finden hoffen . Denn wessen die beste menschliche Natur
fähig ist, das ist auch der Menschennatur im Allgemeinen erreichbar .

§. 99.

Dass diese Folgerungen irgendwo einigermaassen erhebliche


Anerkennung finden werden, ist mir sehr unwahrscheinlich . Dafür
schliessen sie sich weder den herrschenden Ideen noch den herrschen
den Gefühlen nahe genug an.
Eine solche Anschauung wird natürlich denen nicht zusagen,
welche über das Umsichgreifen des Unglaubens hinsichtlich der
ewigen Verdammniss jammern, noch denen , welche den Aposteln
der rohen Gewalt folgen und glauben , weil das Recht des Stärkeren
einstens gut war, es werde auch für alle Zeiten das richtige sein ,
noch endlich denen , welche ihre Verehrung für ihren Meister, der
sie das Schwert in die Scheide stecken hiess , dadurch bezeugen , dass
sie das Schwert ziehen, um seine Lehre unter den Heiden zu ver
breiten . Die hier vertretene Auffassung würde nur Verachtung finden
in jenem Milizregiment von Fifeshire , von welchem zur Zeit des
letzten deutsch-französischen Krieges achthundert Mann zum Dienst
im Ausland verwendet zu werden wünschten , es aber der Regierung
überlassen wollten , zu bestimmen , auf welcher Seite sie kämpfen
sollten. Von den zehntausend Priestern der Religion der Liebe , die
stillschweigen , wenn ihre Nation von der Religion des Hasses durch
drungen ist, wird gewiss kein Zeichen der Zustimmung kommen,
ebenso wenig wie von ihren Bischöfen , welche, weit entfernt, die
extreme Lehre ihres Meisters zu predigen , dem sie zu folgen vor
geben : wenn die eine Wange einen Streich bekommen hat, auch
die andere darzubieten ——— vielmehr dafür stimmen , nach dem Grund
satze zu handeln : schlag zu, damit Du nicht geschlagen wirst. Auch
bei jenen Gesetzgebern werden wir keinen Beifall finden , welche
erst beten: Vergib uns unsere Schulden , wie auch wir vergeben
280 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.
C
unsern Schuldigern , und unmittelbar darauf einen Angriff auf Men
schen beschliessen , die ihnen nicht das Geringste zu leide gethan
haben , und welche , nachdem die Thronrede „ den Segen des All
mächtigen Gottes " über ihre Berathungen herabgefleht hat, sofort
die Mittel bewilligen , um politische Gaunerei zu begehen.
Allein wenn auch die Meisten, welche sich zum Christenthum
bekennen und Heidenthum üben, keine Zuneigung zu solchen An
sichten empfinden können, so gibt es doch immerhin eine kleine.
Anzahl Solcher , die, gewöhnlich als Gegner des herrschenden Glau
bens verschrieen, es nicht für ungereimt halten, zu hoffen , dass die
ethischen Grundsätze jener Lehre in vernunftgemässer Umgestaltung
doch endlich zu allgemeiner Anerkennung gelangen werden .

XV . Capitel.

Absolute und relative Ethik.

· §. 100.

Wenn wir das Wort „ absolut " auf die Ethik anwenden ,
dürfte wohl Mancher glauben, es solle Principien des richtigen Han
delns bezeichnen , welche ausser jeder Beziehung zum Leben in seiner
Bedingtheit hier auf Erden stünden - ausserhalb jeder Beziehung
zu Zeit und Ort und unabhängig von dem Universum, wie uns das
selbe gegenwärtig sichtbar vorliegt - ,, ewige " Principien , wie man
sich auszudrücken pflegt. Wer sich jedoch der in den " Grundlagen
der Philosophie dargelegten Anschauungen erinnert, der wird nicht.
geneigt sein, dem Worte diese Erklärung unterzulegen . Gut , wie
wir es zu denken vermögen , bedingt nothwendig auch den Gedanken
an nicht gut oder böse als sein Correlativum ; wollte man also die
Handlungen der durch die Erscheinungen sich kundgebenden Macht
gut nennen, so würde man damit die Möglichkeit einräumen, dass
diese Macht auch böse Handlungen begehen könnte. Wie sollten
aber unabhängig von dieser Macht Bedingungen solcher Art existiren
können , dass die Unterwerfung ihrer Handlungen unter dieselben
diese zu guten , die Nichtunterwerfung zu bösen stempelte ? Wie
§. 101. Absolute und relative Ethik . 281

kann das bedingungslose Wesen Bedingungen unterworfen sein,


welche noch jenseits desselben lägen ?
Wenn z. B. Jemand behaupten wollte , dass die Ursache der
Dinge , in Hinsicht auf die grundlegenden moralischen Attribute als
ein uns ähnliches Wesen aufgefasst , gut handelte , indem sie ein
Universum hervorbrachte, welches im Laufe unmessbarer Zeiten ge
wissen, der Empfindung von Freude fähigen Geschöpfen den Ursprung
gab, und schlecht gehandelt haben würde, wenn sie sich der Hervor
bringung eines solchen Universums enthalten hätte , so haben wir
hiezu nur zu sagen, dass er damit die moralischen Ideen , welche
in seinem endlichen Bewusstsein entstanden sind, dem Unendlichen
Sein unterschiebt , welches jedes Bewusstsein übersteigt, dass er sich
also damit noch über jenes Unendliche Sein erhebt und demselben
die Grundsätze seines Handelns vorschreiben will.
Wie sich aus den vorhergehenden Capiteln ergibt , kann gut
und böse , so wie der Mensch es auffasst , nur in Bezug auf die
Handlungen von zur Empfindung von Freuden und Schmerzen be
fähigten Wesen gedacht werden , da wir ja gefunden haben, dass
die Analyse uns stets auf Freuden und Schmerzen als auf die
Elemente zurückführt , aus welchen jene Vorstellungen gebildet
worden sind.
Wenn aber das Wort „ absolut " , wie es oben gebraucht wurde,
sich nicht auf das Bedingungslose Sein bezieht wenn die Prin
cipien des Handelns , welche hier in absolute und relative unter
schieden werden , nur für das Handeln bedingter Wesen Geltung haben
sollen ――― in welchem Sinne haben wir dann diese Wörter zu ver
stehen ? Eine Erklärung ihrer Bedeutung wird sich am besten geben
lassen, indem wir die gangbaren Vorstellungen über gut und böse
einer Kritik unterziehen.

§. 101 .

In der Unterhaltung über die Angelegenheiten des täglichen


Lebens spricht sich gewöhnlich die Ansicht aus , dass jede irgend
erwähnte That entweder in diese oder in jene Classe gerechnet wer
den könne . Wird eine politische Frage erörtert, so nehmen es beide
Parteien für ausgemacht an, dass sich eine Handlungsweise finden
liesse, welche recht wäre , während alle andern Auswege in die Irre
führen würden . Ebenso verhält es sich mit den Urtheilen über die
Handlungen von Individuen : jede derselben wird gebilligt oder ver
282 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.

urtheilt auf Grund der Annahme, dass sie definitiv als gut oder
böse zu bezeichnen sei . Selbst wo etwa Einschränkungen zugestan
den werden , da geschieht dies nur mit dem Hintergedanken, dass
eigentlich doch irgend eine solche positive Beurtheilung gegeben
werden sollte.
Und es sind nicht etwa blos die Gedanken und Reden des
Volkes, in denen wir diese Anschauung entdecken. Dieselbe Ansicht 1
wird, wenn auch nicht so umfassend und bestimmt, so doch theil
weise und implicite von den Moralphilosophen ausgesprochen. In
seinen „ Methods of Ethics " ( 1. Aufl . p. 6) sagt Herr SIDGWICK : —
" Dass es unter allen irgend gegebenen Umständen jeweils nur Eines
„gibt, was man thun sollte, und dass man dies Eine auch erkennen
„ kann , ist eine fundamentale Voraussetzung, welche nicht blos die
"Philosophen machen , sondern jeder Mensch, der überhaupt über
„moralische Dinge nachzudenken angefangen hat " *. In diesem Satz
wird allerdings nur die letztere der oben genannten Behauptungen
ausdrücklich ausgesprochen, nämlich dass man in jedem einzelnen
Falle wissen könne, was gethan werden solle . Allein wenn auch
das , was gethan werden sollte , nicht unmittelbar mit dem Guten I
identificirt wird , so dürfen wir doch , da jede Andeutung für das
Gegentheil fehlt , wohl annehmen , dass Herr SIDGWICK beide für
identisch hält ; und unzweifelhaft befindet er sich, wenn er dies als
die Postulate der Moralwissenschaft hinstellt, durchaus im Einver
ständniss mit den meisten , wo nicht mit allen , welche dieselbe
zum Gegenstand ihres Studiums gemacht haben. Und auf den ersten
Blick scheint auch in der That Nichts selbstverständlicher, als dass,
wenn einmal die Handlungen überhaupt beurtheilt werden sollen ,
diese Postulate anzuerkennen seien. Nichtsdestoweniger lassen sich
gegen beide wichtige Einwände erheben, und ich hoffe sogar nach
weisen zu können , dass weder das eine noch das andere haltbar ist.
Weit entfernt, zuzugeben, dass es in jedem Falle nur einen guten
und einen bösen Weg gebe , behaupte ich vielmehr, dass in zahl
reichen Fällen von gut im eigentlichen Sinne gar nicht die Rede
sein kann , sondern nur von dem kleinsten Übel, und ausserdem

* Diese Stelle findet sich in der zweiten Auflage nicht mehr vor, allein
die Auslassung beruht allem Anschein nach nicht etwa auf einer Änderung
seiner Ansicht hierüber , sondern blos darauf , dass sich dieselbe der Beweis
führung , welche der Paragraph enthält , in der umgearbeiteten Form nicht
mehr ungezwungen einfügen liess.
§. 102. Absolute und relative Ethik . 283

behaupte ich , dass es in manchem dieser Fälle , wo es sich eben


nur um das kleinste Übel handeln kann , nicht einmal möglich ist,
irgendwie mit Bestimmtheit festzustellen , welches das kleinste
Übel ist.
Ein grosser Theil der Schwierigkeiten der ethischen Speculation
entspringt aus der Vernachlässigung dieses Unterschiedes zwischen
dem Guten und dem kleinsten Übel ―――― zwischen dem absolut Guten
und dem relativ Guten . Und noch viele andere Schwierigkeiten
bereitet man sich obendrein durch die Annahme, dass es auf irgend
eine Weise in jedem einzelnen Falle möglich sein müsse , zu ent
scheiden , welchen von zwei Wegen einzuschlagen man moralisch
verpflichtet sei.

§. 102 .

Das Gesetz des absolut Guten kann den Schmerz nicht in


Rücksicht ziehen, ausser insofern, als es ihn einfach negirt. Schmerz
ist das Correlativum irgend einer Art von böse - irgend einer Art
der Abweichung von derjenigen Handlungsweise, welche vollkommen
alle Erfordernisse erfüllt . Wenn aber, wie in einem der ersten Ca
pitel gezeigt wurde , die Vorstellung vom guten Handeln sich bei
näherer Untersuchung stets als die Vorstellung von einem Handeln.
herausstellte , das irgendwie einen Überschuss an Freude erzeugte,
während umgekehrt das für böse erklärte Handeln sich als ein
solches erwies , das irgendwie einen Überschuss an positivem oder
negativem Schmerz herbeiführt, so kann offenbar das absolut Gute ,
das absolut Richtige im Handeln nur dasjenige sein , was reine
Freude erzeugt Freude , die auf keinerlei Weise mit Schmerz
verknüpft ist. Demzufolge ist also ein Handeln, das von Schmerzen
irgend welcher Art begleitet wird oder das irgend eine schmerzliche
Folge hat, theilweise böse, und der höchste Anspruch , den ein solches
Handeln erheben kann , ist der, dass es als das kleinste Übel , was
unter den gegebenen Umständen möglich ist als das relativ gute
Handeln anerkannt wird.
Aus dem Inhalt des vorhergehenden Capitels ergibt sich durch
weg ohne weiteres, dass , vom Standpunkt der Entwickelung aus
betrachtet, die Handlungen der Menschen während der ganzen Über
gangszeit, welche bisher in beständigem Fortschreiten begriffen war,
es noch ist und noch auf lange hinaus sein wird , in der grossen
Mehrzahl der Fälle von der Art sein mussten, die wir hier als solche
284 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.

vom kleinsten Übel bezeichnet haben . Je nach der Stärke des


Widerstreits zwischen der Natur der Menschen, welche sie von ihrem
vorsocialen Zustand her überkommen haben , und den Anforderungen
des socialen Lebens, muss auch die Summe der Leiden, welche sie
durch ihre Handlungen sich selbst oder Andern zufügen, grösser
oder kleiner sein . Insofern aber überhaupt Schmerz erduldet wird,
wird damit irgend ein Übel geschaffen, und ein Handeln, das irgend
ein Übel schafft, kann nicht absolut gut sein.
Um den Unterschied, den ich hier so nachdrücklich betone,
zwischen jenem vollkommenen Handeln , das den Gegenstand der
absoluten Ethik, und dem unvollkommenen Handeln, das den Gegen
stand der relativen Ethik bildet , völlig klar zu machen, müssen
wir noch einige Beispiele zu Hülfe ziehen .

§. 103.
Die besten Beispiele von absolut guten Handlungen, die über 1
haupt in Frage kommen können , lassen sich dem Gebiete entnehmen ,
wo sich die Natur der Menschen und die an sie gestellten Anfor
derungen einander bereits vollständig angepasst haben, noch bevor
die sociale Entwickelung begann. Zwei davon werden hier genügen .
Man betrachte einmal das Verhältniss einer gesunden Mutter
zu einem gesunden Säugling. Zwischen beiden besteht eine gewisse
gegenseitige Abhängigkeit , welche für beide eine Quelle grosser
Freuden bildet. Indem die Mutter dem Kinde seine natürliche Nah
rung darreicht, empfindet sie eine hohe Befriedigung, während das
Kind die Befriedigung seines Hungers dabei findet - eine Befrie
digung, welche nur die Begleiterscheinung von Förderung des Lebens ,
von Wachsthum und sich steigernden Genüssen ist . Nun denke
man sich dies Verhältniss aufgehoben, und beide Theile leiden dar
unter. Die Mutter empfindet sowohl körperliche als geistige Schmer
zen, und die schmerzlichen Gefühle, welche das Kind zu ertragen
hat, ziehen als unvermeidliche Folge physisches Unheil und eine
gewisse Schädigung seiner emotionellen Natur nach sich . Somit ist
dies in der That eine Handlung, die beiden ausschliesslich Freude
bringt, während das Unterbleiben derselben beiden Schmerz zufügt ,
und sie gehört in Folge dessen zu der Gattung, die wir hier als
absolut gut bezeichnet haben.
Ein ähnliches Beispiel mag uns das Verhältniss eines Vaters
zu seinen Kindern liefern . Ist er an Körper und Geist gesund und
§. 103. Absolute und relative Ethik . 285

kräftig, so findet sein Knabe, voll Eifer für sein Spiel, bei ihm
stets ein theilnehmendes Eingehen auf dasselbe , und indem ihre
Scherze und Spässe beiden gegenseitige Freuden bereiten , fördern
sie zugleich nicht allein des Kindes physisches Wohlergehen , son
dern verstärken auch jene Bande des guten Einverständnisses zwi
schen beiden , welche die spätere Leitung des Knaben so sehr er
eichtern . Hat der Vater dann vernünftige Ansichten über geistige
Entwickelung, hält er sich von dem Unsinn des Erziehungssystems
fern, wie es leider gegenwärtig noch im Schwange und unglück
licherweise sogar vom Staate sanctionirt ist, und sieht er ein, dass
das Wissen aus zweiter Hand, wie es aus den Büchern zu erlangen
ist, erst dann das Wissen aus erster Hand , das durch directe Beob
achtungen gesammelt werden muss , zu ergänzen anfangen darf,
wenn von diesem letzteren bereits ein ordentlicher Grundstock an
gelegt ist, so wird er seinem Knaben mit lebhafter Theilnahme
bei jener Durchforschung der ihn umgebenden Welt behülflich sein ,
welche dieser mit so grossem Entzücken betreibt , und so wird er
in jedem Augenblick Befriedigung gewähren und empfangen, wäh
rend er zugleich auf's beste für das fernere Wohlergehen seines
Kindes sorgt. Auch hier haben wir also wieder Handlungen von
ausschliesslich freudebringender Art in ihren unmittelbaren so gut
wie in ihren entfernten Folgen also absolut gute Handlungen .
Der Verkehr Erwachsener unter einander bietet aus dem schon
angeführten Grunde verhältnissmässig wenig Fälle dar , welche voll
ständig in diese Kategorie gehören . In ihrem Zusammenwirken machen
sich fast zu jeder Stunde Ursachen geltend, welche den reinen Genuss
auf der einen oder andern Seite mehr oder weniger verkümmern in
Folge der unvollkommenen Anpassung an die gestellten Anforde
rungen . Die Freuden , welche den Menschen daraus erwachsen , dass
sie in ihrem Berufe thätig sein können und in dieser oder jener
Form den Lohn für ihre geleisteten Dienste empfangen , haben in
der Regel die schlimme Kehrseite, dass diese Berufsarbeiten in er
heblichem Grade unangenehm sind . Immerhin gibt es Fälle, wo
die Quelle der Lebenskräfte so reichlich fliesst , dass jede Unthätig
keit zur Last wird , und wo es sich zugleich um eine tägliche Ar
beit von nicht zu langer Dauer und von der Art handelt , welche
der betreffenden Natur gerade angemessen ist , wo also auch in Folge
dessen weit mehr Freude als Schmerz daraus entspringt. Wenn
nun die von einem solchen Menschen geleisteten Dienste ihm von
286 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.

einem Andern entsprechend vergolten werden , der gleichfalls ebenso


seiner Beschäftigung angepasst ist , so haben wir in Wirklichkeit
ein Thätigkeitsverhältniss ganz von der Art vor uns , wie wir es
oben dargestellt : ein freiwilliger, nach gegenseitiger Übereinkunft
sich vollziehender Austausch zwischen zwei so beschaffenen Menschen
wird für beide zu einer Ursache von Freuden, hinter denen keinerlei
Schmerz verborgen ist . Führen wir uns nun jene Form der mensch
lichen Natur vor Augen, welche die sociale Schulung hervorzubringen
strebt und wie sie schon aus dem Gegensatz zwischen Wilden und
Civilisirten sich ergibt, so leuchtet sofort ein , dass mit der Zeit
auch die Thätigkeiten der Menschen im grossen Ganzen diesen Cha
rakter annehmen werden . Erinnern wir uns, dass im Fortgang der
Entwickelung die Mittel zur Erlangung des Genusses schliesslich
immer selbst zu Quellen des Genusses wurden und dass es keine
Art von Thätigkeit gibt, welche nicht durch Ausbildung der ent
sprechenden Structuren zu einer genussreichen werden könnte , so
werden wir von selbst zu dem Schluss geführt , dass industrielle
Thätigkeiten, in freiwilligem Zusammenwirken ausgeübt, seiner Zeit
eben den Charakter des absolut Guten erlangen werden , wie wir
dies oben ausgeführt hatten . Übrigens ist sogar etwas diesem Zu
stand Ähnliches bereits bei Manchem von denen erreicht, welche
für die Befriedigung unserer ästhetischen Bedürfnisse sorgen . Der
geniale Künstler - Dichter, Maler oder Musiker - erwirbt sich
die Mittel zu seinem Unterhalt durch Thätigkeiten, die ihm direct
Freude bereiten, während sie zugleich für Andere unmittelbar oder
auf Umwegen zur Quelle von Genüssen werden.
Ausserdem dürfen wir zu den absolut guten Handlungen auch
manche derjenigen rechnen , die man im Allgemeinen als wohlthätige
Handlungen bezeichnet . Ich sage, manche derselben, weil ja solche
wohlthätige Handlungen , welche es nothwendig machen, dass Jemand
positivem oder negativem Schmerz sich unterziehe , damit Andere
einer Freude theilhaftig werden , schon auf Grund unserer Definition
ausgeschlossen sind . Allein es gibt in der That wohlthätige Hand
lungen anderer Art, welche ausschliesslich Freude gewähren . Dort
ist Jemand ausgeglitten, aber durch einen Dabeistehenden vor dem
Hinfallen bewahrt worden : dem Einen ist dadurch eine Beschädigung
erspart und beide empfinden reine Befriedigung. Ein Fussgänger
ist im Begriff , einen falschen Weg einzuschlagen , oder ein Mit
reisender steht auf dem Punkte, an der unrichtigen Station auszu
§. 103. Absolute und relative Ethik . 287

steigen, und sie werden, durch eine rechtzeitige Warnung belehrt,


vor Schaden behütet : alle Betheiligten fühlen sich in Folge dessen
befriedigt. Zwischen zwei Freunden hat sich ein Missverständniss
erhoben , und ein Dritter, der einsieht , wie es entstanden ist, er
klärt die Sache : das Ergebniss ist natürlich für Alle ein freudiges.
Die Dienste, welche wir unsern Nebenmenschen in den kleinen Vor
kommnissen des täglichen Lebens zu leisten im Stande sind , können
von der Art sein und sind es in der That häufig , dass sie dem
Geber wie dem Empfänger gleiche Freude machen. Es müssen so
gar, wie im letzten Capitel dargelegt wurde , die Handlungen des
entwickelten Altruismus in der Regel diesen Charakter haben . Und
so mögen die Menschen auf unzähligen andern Wegen ähnlich den
hier angeführten Beispielen gegenseitig zur Vermehrung ihres Glückes
beitragen, ohne dabei irgendwie Unglück veranlassen zu müssen
auf Wegen, die mithin alle absolut gut sind .
Im Gegensatz hiezu vergegenwärtige man sich nun die zahl
reichen Handlungen , welche allstündlich vollzogen werden und welche
bald für den Handelnden irgend welchen Schmerz im Gefolge haben ,
bald zu Resultaten führen , die für Andere theilweise schmerzlich
sind , welche aber nichtsdestoweniger dringend geboten erscheinen .
Wie wir schon aus den oben als Ausnahmsfälle hingestellten Bei
spielen entnehmen können, gilt für die Erwerbsthätigkeiten , wie sie
gewöhnlich betrieben werden , als Regel , dass ihre Beschwerlichkeit
sie eben insoweit zu schlechten Thätigkeiten stempelt ; allein ein
viel grösseres Leiden würde die Folge sein für den Arbeiter wie
für seine Familie und er würde mithin ein viel grösseres Unrecht
begehen, wenn er diese Beschwerlichkeit nicht ertragen wollte . Ob
gleich die Leiden, welche einer Mutter durch die Pflege zahlreicher
Kinder auferlegt werden, einen ganz wesentlichen Abzug von den
Freuden repräsentiren , die sie dadurch ihren Kindern und sich selbst
zu verschaffen im Stande ist, so übersteigt doch das Elend , was
eine Vernachlässigung dieser Pflichten unmittelbar oder indirect
nach sich ziehen würde, so weit alle jene Leiden , dass es zur morali
schen Pflicht wird , sich denselben bis zur äussersten Grenze des
Vermögens, sie zu ertragen, zu unterziehen : denn dies ist das kleinste
Übel. Ein Dienstbote, der den übernommenen Verpflichtungen hin
sichtlich seiner Arbeit nicht nachkommt oder der fortwährend Ge
schirr zerbricht oder der naschhaft ist, mag zwar erheblich darunter
leiden, wenn er deshalb aus seinem Dienste entlassen wird ; aber
288 Die Thatsachen der Ethik . Cap. XV.

da die Übel , welche alle Betheiligten zu ertragen haben, wenn Un


fähigkeit oder ungebührliches Benehmen , und zwar nicht blos in
einem Falle , sondern als Regel , ruhig geduldet wird, offenbar noch
viel grösser sind, so erscheint eine solche Veranlassung von Leiden
ganz gerechtfertigt, eben als das einzige Mittel, um noch grösseren
Leiden vorzubeugen. Indem man einem Kaufmann seine Kundschaft
entzieht, dessen Preise entweder zu hoch oder dessen Waaren von
schlechter Qualität sind oder der zu kleines Maass gibt oder unzu
verlässig ist , vermindert man allerdings seinen Wohlstand und
schädigt vielleicht sogar seine Angehörigen ; aber da man , wollte
1
man ihm diese Nachtheile ersparen , einfach selbst diese Nachtheile
auf sich nehmen müsste, welche sein fehlerhaftes Handeln verursacht,
und da eine solche Rücksicht auf sein Wohlergehen auf der andern
Seite die Nichtberücksichtigung des Wohlergehens manches andern
würdigeren oder leistungsfähigeren Kaufmanns voraussetzen würde ,
1
dem sich sonst die Kundschaft zugewendet hätte, und endlich und I
vor Allem, da , wenn ein solches Verfahren allgemein angenommen
werden sollte , die Folge nur die sein würde , dass der Geringere
nicht mehr entsprechend seiner geringeren Werthigkeit leiden müsste
und der Überlegene von seiner Überlegenheit keinen Vortheil mehr E
1
hätte, was allgemeines Elend verursachen würde , so ist jene Ent
ziehung der Kundschaft ganz berechtigt diese Handlungsweise
ist relativ gut.

§. 104 .

Ich gehe nun zu der zweiten der oben ausgesprochenen Be


hauptungen über. Nachdem wir die Wahrheit erkannt , dass ein
grosser Theil der menschlichen Handlungen nicht absolut, sondern
nur relativ gut sein kann , werden wir nun auch die fernere Wahr
heit erkennen , dass es in vielen Fällen , wo es keinen absolut rich
tigen, sondern nur in höherem oder geringerem Grade falsche Wege
gibt, ganz unmöglich ist , zu sagen , welcher der am wenigsten falsche
wäre. Wir brauchen blos auf die bereits erwähnten Beispiele zurück
zugreifen, um dies einleuchtend zu machen.
Es gibt eine Grenze , bis zu welcher es von einem Vater oder
einer Mutter noch relativ gut ist, die Selbstaufopferung für ihre
Nachkommen zu treiben ; es gibt aber auch einen Punkt, über wel
chen die Selbstaufopferung nicht hinausgehen darf , ohne dass sie
nicht über ihn oder sie wie nicht minder über ihre Familie grössere
§. 104. Absolute und relative Ethik. 289

Übel brächte , als die gewesen wären, welche dadurch verhütet wer
den sollten . Wer kann nun sagen, wo dieser Punkt liegt ? Dies
hängt ja von der ganzen Constitution und den Bedürfnissen des
Betreffenden ab, er liegt auch nicht in zwei Fällen genau an der
selben Stelle und kann also auch von Niemand mehr als höchstens
errathen werden. Die Übertretungen oder Unterlassungen eines
Dienstboten gehen von den kleinlichsten bis zu den ernstesten
Dingen , und ebenso können die übeln Folgen, welche seine Ent
lassung nach sich zieht, jeden irgend möglichen Grades sein , vom
gleichgültigsten bis zum bedenklichsten. Diese Strafe mag ihm
auferlegt werden in Folge eines sehr geringfügigen Vergehens : dann
hat die Herrschaft nicht gut gehandelt ; und wird er auch nach
zahlreichen schwereren Vergehen nicht bestraft, so hat sie gleichfalls
nicht gut gehandelt. Auf welche Weise soll nun aber der Grad
bestimmt werden, den das Vergehen erreichen muss , damit die Ent
lassung weniger schlimm erscheint als die Nichtentlassung ? In der
gleichen Verlegenheit befinden wir uns hinsichtlich des ungehörigen
Benehmens des Kaufmanns. Keiner vermag den Betrag an positiven
und negativen Schmerzen anzugeben, welche aus der Duldung des
selben entspringen, und Keiner den Betrag an positiven und negativen
Schmerzen, welche die Nichtduldung zur Folge hat, und noch weni
ger vermag uns in allen dazwischenliegenden Fällen Jemand zu sagen,
ob hier das eine oder das andere überwiegt .
In ihren Beziehungen zu weiteren Kreisen kommen die Menschen
häufig in Verhältnisse , welche eine Entscheidung für den einen oder
den andern Weg gebieterisch fordern , ohne dass jedoch selbst das
zartfühlendste Gewissen , unterstützt von der schärfsten Urtheils
kraft, zu bestimmen im Stande wäre , welche der beiden Alternativen
die relativ richtige ist. Zwei Beispiele werden genügen.
Hier sehen wir einen Kaufmann , der durch den Zusammenbruch
eines ihm verschuldeten Geschäftsfreundes Verluste erlitten hat.
Sofern er keine Hülfe findet, muss er selbst zu Grunde gehen , und
wenn er zu Grunde geht, so bringt er damit schweres Unheil nicht
blos über seine Familie, sondern auch über Alle, die ihm Credit ge
währt haben. Aber auch wenn er durch Aufnahme eines Anleihens
in den Stand gesetzt wird , den augenblicklich schwebenden Ver
bindlichkeiten nachzukommen, so ist er doch noch keineswegs ge
sichert , denn es herrscht eine Zeit der Panik und so ist es sehr
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 19
290 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.

wohl möglich, dass andere seiner Schuldner gleichfalls ihre Zahlungen


einstellen und ihn in neue Verlegenheiten stürzen . Soll er nun
einen seiner Freunde um ein Darlehen bitten ? Wäre es auf der
einen Seite nicht Unrecht, ohne weiteres über sich selbst, über seine
Familie und über Alle, welche in geschäftlicher Beziehung zu ihm
stehen, die Nachtheile seines Sturzes heraufzubeschwören ? Wäre es
aber auf der andern Seite nicht ebenso Unrecht , das Eigenthum
seines Freundes mit hereinzuziehen und ihn nebst seinen Angehörigen
und den von ihm Abhängigen gleichfalls in Gefahr zu bringen ?
Das Darlehen würde ihm wahrscheinlich über seine Schwierigkeit 1
hinweghelfen, in welchem Falle es doch gewiss ein Unrecht gegen
seine Gläubiger wäre, wenn er es unterliesse , sich danach umzuthun.
Anderntheils ist es aber auch sehr leicht möglich, dass das Darlehen
nicht genügt, um seinem Bankerott vorzubeugen, ―――― und würde nicht
in diesem Falle sein Bestreben , sich dasselbe zu verschaffen , in
Wirklichkeit geradezu betrügerisch erscheinen ? Wenn es auch in
extremen Fällen nicht schwierig sein mag , zu entscheiden , wel
cher Ausweg der am wenigsten falsche ist, - wie soll dies mög
lich sein in allen den mittleren Fällen , wo selbst der scharfsinnigste
Geschäftsmann nicht im Stande ist, alle Zufälligkeiten vorauszu
sehen ?
Oder nehmen wir die Schwierigkeiten , welche so häufig aus
dem Widerstreit der Pflichten gegen die Familie mit den socialen
Pflichten entspringen . Da ist ein Gutspächter , dessen politische
Überzeugungen ihn drängen, seine Stimme im Gegensatz zu seinem
Gutsherrn abzugeben. Ist er ein Liberaler und stimmt trotzdem
für einen Conservativen, so erklärt er durch diese seine Handlung
nicht blos das Gegentheil von dem, was er denkt, sondern er för
dert vielleicht auch gerade das, was er für schlechte Gesetzgebung
hält seine Stimme kann möglicherweise entscheidenden Einfluss auf
den Ausfall der Wahl haben und im Parlament kann bei getheilter
Stimmenzahl sehr wohl ein einzelnes Mitglied die Annahme oder
Ablehnung einer Vorlage bestimmen . Allein auch wenn wir solche
ernste Folgen als zu unwahrscheinlich ausser Betracht lassen , so
bleibt jedenfalls die unzweifelhafte Wahrheit, dass, wenn Alle, die
gleicher Ansicht sind wie er , sich auf ähnliche Weise davon ab
halten lassen, derselben durch ihre Wahl Ausdruck zu geben , dies
nothwendig eine andere Vertheilung der Gewalten und sogar eine
veränderte nationale Politik zur Folge haben muss ; woraus klar
§. 104. Absolute und relative Ethik . 291

hervorgeht, dass nur, indem Alle ihren politischen Grundsätzen treu


bleiben, diejenige Politik, welche die Mehrzahl für die richtige hält ,
aufrecht erhalten werden kann . Nun aber , wenn wir die Sache
von anderem Standpunkt betrachten : wie kann jener Pächter sich
der Verantwortlichkeit für alle die schlimmen Folgen entschlagen,
welche die von ihm Abhängigen zu erleiden haben werden , wenn er
so handelt, wie er es durch seine öffentlichen Pflichten für unbedingt
geboten erachtet ? Sind nicht seine Pflichten gegen seine Kinder
immer noch viel dringender ? Steht nicht die Familie höher als
der Staat und hängt nicht die Wohlfahrt des Staates durchaus von
dem Wohlergehen der Familie ab ? Darf er also einen Weg ein
schlagen, der ihn, falls die ausgestossenen Drohungen verwirklicht
werden, von seinem Pachtgut vertreibt und ihn , vielleicht nur für
einige Zeit, vielleicht aber auch dauernd ausser Stand setzt , seine
Kinder zu ernähren ? Und damit können wieder andere Übel von
unendlich verschiedenen Arten und Graden zusammenhängen. Das
eine Mal ferner verlangen die öffentlichen Pflichten unbedingten
Gehorsam , und die Gefahr , seinen Angehörigen dadurch Schaden
zuzufügen, ist dabei verhältnissmässig gering ; ein andermal wieder
ist der Ausfall der politischen Angelegenheit von ganz untergeordneter
Bedeutung , während die möglichen Nachtheile , welche die Familie
zu erleiden haben wird , sehr gross sind ; und zwischen diesen beiden
Extremen kommen alle denkbaren Abstufungen vor. Ausserdem
wechselt der Grad der Wahrscheinlichkeit jedes Resultates auf Seiten
des öffentlichen wie des Privatlebens vom nahezu Gewissen bis zum
beinah Unmöglichen. Gibt man also zu, dass es Unrecht ist, so
zu handeln, dass der Staat dadurch geschädigt werden kann, und
gibt man zugleich zu, dass es Unrecht ist, so zu handeln , dass die
Familie dadurch geschädigt werden kann, so wird sich auch Niemand
der Erkenntniss verschliessen können , dass in zahllosen Fällen un
möglich zu entscheiden ist, ob der eine oder der andere der beiden
angedeuteten Wege mit grösster Wahrscheinlichkeit zum kleinsten
Übel führt.
Diese Beispiele werden zur Genüge darthun , wie gewöhnlich
es im Handeln im Allgemeinen mit Einschluss also der Beziehungen
des Menschen zu sich selbst, zu seiner Familie, zu seinen Freun
den, zu seinen Schuldnern und Gläubigern und zur Öffentlichkeit
vorkommt, dass jegliches Verfahren , das m an wählen mag, in jedem
Falle irgendwo einigen Schmerz verursacht , welcher somit einen
19 *
292 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV .

Abzug von der sonst erreichten Freude darstellt und jenes Verfahren
dadurch als ein nicht absolut gutes erscheinen lässt. Und ferner
werden sie darthun, dass es für einen wesentlichen Theil des Han
delns kein leitendes Princip, keine Methode der Abschätzung gibt ,
die uns in den Stand setzen könnte , zu entscheiden , ob das vor
geschlagene Verfahren auch nur relativ gut ist , d. h . ob es zu
nächst und entfernter, im Speciellen und Allgemeinen den grössten
Überschuss des Guten über das Übel veranlassen wird.

§. 105 .
Und nun sind wir darauf vorbereitet, in systematischer Weise
den Unterschied zwischen Absoluter Ethik und Relativer
Ethik zu erörtern .
Zu wissenschaftlichen Wahrheiten jeder beliebigen Art gelangt
man dadurch, dass man alle störenden oder widerstreitenden Fac
toren eliminirt und blos die wesentlichen Factoren berücksichtigt.
Erst wenn durch abstracte Behandlung dieser wesentlichen Factoren ,
nicht wie sie sich in den wirklichen Erscheinungen, sondern wie sie
sich in idealer Ablösung von denselben darstellen , die allgemeinen
Gesetze festgestellt worden sind , wird es möglich , in concreten
Fällen Schlüsse daraus zu ziehen , indem man nebensächliche Fac
toren mit in Rechnung zieht. Aber nur indem wir diese letzteren
zuerst gänzlich ignoriren und ausschliesslich die wesentlichen Ele
mente im Auge behalten, können wir die gesuchten wesentlichen
Wahrheiten entdecken. Betrachten wir zur Erläuterung einmal die
Fortschritte der Mechanik von ihrer empirischen zu ihrer wissen
schaftlichen Gestalt.
Jedermann macht gelegentlich die Erfahrung , dass ein Mensch,
wenn er auf einer Seite über einen gewissen Grad hinaus angestossen
wird , sein Gleichgewicht verliert und hinfällt. Man beobachtet ,
dass ein in die Luft geworfener Stein oder ein abgeschossener Pfeil
nicht in gerader Richtung fortfliegt, sondern wieder zur Erde ge
langt, nachdem er einen Weg zurückgelegt, der immer mehr von
der ursprünglichen Richtung abgewichen war. Wer einen Stock über
dem Knie zu zerbrechen versucht, der bemerkt bald, dass er leichter
zum Ziele kommt, wenn er den Stock zu beiden Seiten möglichst
weit vom Knie entfernt anfasst , als wenn er ihn ganz nahe am
Knie hält. Durch den täglichen Gebrauch eines Speeres wird die
Aufmerksamkeit auch auf die Wahrheit gelenkt, dass man, wenn
§. 105. Absolute und relative Ethik. 293

seine Spitze unter einen Stein geschoben und der Schaft herab
gedrückt wird, den Stein um so leichter heben kann, je näher dem
andern Ende die Hand angreift. Das ist also eine Reihe von Er
fahrungen, die schliesslich zu empirischen Verallgemeinerungen zu
sammengruppirt werden, welche dann dazu dienen, die Handlungen
in gewissen einfachen Fällen zu leiten . Wie entwickelt sich nun
die wissenschaftliche Mechanik aus diesen einfachen Erfahrungen ?
Um zu einer Formel zu gelangen , welche die Gesetze des Hebels
ausdrückt, setzt sie einen Hebel voraus, der sich nicht biegen lässt
wie der Stock, sondern der absolut starr ist ; dann nimmt sie einen
Stützpunkt an, der nicht eine breite Oberfläche besitzt wie die ge
wöhnlich zur Verwendung kommenden, sondern der ohne jede Aus
de ist ; und endlich nimmt sie an, dass das zu hebende Ge
wicht nicht auf einem ansehnlichen Theil des Hebelarms aufruhe,
sondern nur auf einen bestimmten Punkt drücke. Ebenso geht es
mit dem seitlich geneigten Körper, der, wenn er eine gewisse Nei
gung überschritten hat, umfällt. Bevor sich die Gesetze hinsicht
lich der Verhältnisse von Schwerpunkt und Basis formuliren lassen ,
muss die Voraussetzung gemacht werden, dass die Oberfläche , auf
welcher der Körper steht, unnachgibig sei, dass auch die Kante ,
auf welcher der Körper ruht, starr sei , und dass seine ganze Masse ,
während sie mehr und mehr zum Überhängen gebracht wird , ihre
Form nicht verändere - Bedingungen, die in keinem der gewöhn
lich beobachteten Fälle erfüllt sind . So auch beim Wurfgeschoss :
die Bestimmung seines Laufes durch Ableitung von mechanischen
Principien lässt zunächst alle Abweichungen unberücksichtigt , welche
durch seine Gestalt und durch den Widerstand der Luft verursacht
werden. Die ganze wissenschaftliche Mechanik ist eine Wissen
schaft , die aus lauter solchen idealen Wahrheiten besteht und die
überhaupt nur dadurch möglich wurde, dass sie sich dergestalt blos
mit idealen Fällen beschäftigte. Sie kommt so lange nicht zur
Entwickelung, als die Aufmerksamkeit noch ganz von den concreten
Fällen in Anspruch genommen ist , welche alle Verwickelungen der
Reibung, der Zusammendrückbarkeit u . s. w. darbieten. - Nun aber,
nachdem einzelne grundlegende Wahrheiten der Mechanik heraus
gelöst worden , ist es möglich, mit deren Hülfe die Thätigkeiten
besser zu leiten, und dies ist noch mehr der Fall , wenn, wie bald
darauf geschieht, die verwirrenden Elemente, aus denen jene erst
herausgelöst werden mussten , selbst mit in Rechnung gezogen werden .
294 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.

Auf einem weiter vorgerückten Stadium werden die abändernden


Einflüsse der Reibung bestimmt und die betreffenden Schlüsse im
erforderlichen Umfange modificirt. Die Theorie des Flaschenzugs
wird in ihrer Anwendung auf thatsächliche Fälle verbessert, indem
man die Steifheit des Tauwerks berücksichtigt , deren Wirkungen
in einer Formel Ausdruck finden . Die Stabilität der Massen , die
sich in abstracto auf Grund der Lagen der Schwerpunkte der Massen
in Beziehung zu ihren Basen bestimmen lässt , wird in concreten
Fällen bestimmt, indem man auch ihre Eigenschaften mit Rück
sicht auf ihre Cohäsion nicht vergisst . Nachdem die Wege von
Projectilen erst theoretisch berechnet worden, als ob sie sich durch
den leeren Raum bewegten, werden dieselben nachher in genauerer
Übereinstimmung mit den Thatsachen ermittelt , indem man den
Widerstand der atmosphärischen Luft in Anschlag bringt.
Hier haben wir also einige Beispiele von dem Verhältniss zwi
schen gewissen absoluten Wahrheiten der wissenschaftlichen Mecha
nik und gewissen relativen Wahrheiten, welche jene umhüllen . Wir
erkennen daraus , dass eine wissenschaftliche Feststellung relativer
Wahrheiten nicht möglich ist , so lange nicht die absoluten Wahr
heiten unabhängig davon formulirt worden sind . Wir sehen, dass
eine wissenschaftliche Mechanik, die für die Anwendung im wirk
lichen Leben geeignet ist, nicht eher geschaffen werden kann , als
bis die ideale Wissenschaft von der Mechanik entstanden ist .
All das gilt ebenso von der Moralwissenschaft. Wie durch
frühe und rohe Erfahrungen auf empirischem Wege einige unklare ,
jedoch theilweise richtige Vorstellungen hinsichtlich , des Gleich
gewichts der Körper, der Bewegungen der Wurfgeschosse oder der
Wirkungen der Hebel erreicht wurden, so gelangte man auch durch
frühe und rohe Erfahrungen auf empirischem Wege zu einigen un
klaren, jedoch theilweise richtigen Vorstellungen hinsichtlich der
Rückwirkungen des Betragens der Menschen auf sich selbst, auf
einander und auf die Gesellschaft, welche im letztern so gut wie
im ersteren Falle bis zu einem gewissen Grade zur Leitung des
Handelns verwendbar waren . Und wie sodann jenes rudimentäre
mechanische Wissen in den ersten Stadien der Civilisation, obschon
es noch in empirischem Zustande verbleibt , doch sehr bald be
stimmter und umfassender wird , so nehmen auch diese ethischen
Ideen in den ersten Stadien der Civilisation , trotzdem sie noch
ihren empirischen Charakter bewahren, an Genauigkeit und Mannich
§. 106. Absolute und relative Ethik. 295

faltigkeit zu. Allein wenn wir dort sahen, dass das mechanische
Wissen der empirischen Stufe sich nur dadurch zur wissenschaft
lichen Mechanik entwickeln kann , dass zuerst alle einschränkenden
Umstände ausser Acht gelassen und die grundlegenden Gesetze der
Kräfte in absoluter Weise verallgemeinert werden , so sehen wir hier
nicht minder deutlich , dass sich die empirische Ethik nur dadurch
zur rationellen Ethik entwickeln lässt, dass man zuerst alle ver
wirrenden Zufälligkeiten vernachlässigt und die Gesetze des guten
Handelns abgesehen von allen den sie verdunkelnden Wirkungen
der Verhältnisse in jedem einzelnen Falle formulirt. Und so muss
denn auch die Schlussfolgerung dieselbe sein : gerade wie das System
mechanischer Wahrheiten, das in idealer Ablösung als absolut hin
gestellt wurde , in der Weise auf wirkliche mechanische Probleme
anwendbar wird , dass man alle nebensächlichen Umstände mit in
Betracht zieht und so zu Schlüssen gelangt, welche der Wahrheit
bei weitem näher kommen als die früher gewonnenen Ergebnisse ,
so wird auch ein System idealer ethischer Wahrheiten , welches das
absolut Gute ausdrückt, solchergestalt auf die Fragen unseres Über
gangszustandes anwendbar gemacht werden können, dass wir unter
Berücksichtigung der Widerstände eines unvollständigen Lebens
und der Unvollkommenheiten der jetzigen Menschennatur mit an
nähernder Genauigkeit zu ermitteln vermögen , was das relativ
Gute ist.

§. 106 .

In einem Capitel meiner „ Social Statics " , betitelt : Definition


der Sittlichkeit “ , habe ich die Behauptung aufgestellt , dass das
Sittengesetz im eigentlichen Sinne das Gesetz des vollkommenen
Menschen, die Formel für das ideale Handeln , die Darstellung dessen
sei, was in allen Fällen sein sollte , und dass es in seine Sätze
keinerlei Elemente aufnehmen könne, welche die Existenz dessen,
was nicht sein sollte , voraussetzen würden. Indem ich dann an
verschiedenen Beispielen die Frage nach dem richtigen Verfahren
in solchen Fällen erörterte, wo bereits Böses gethan worden ist,
kam ich zu dem Resultat, dass die Antwort auf solche Fragen nicht
„auf Grund rein ethischer Principien " gegeben werden könne. Meine
Beweisführung war folgende :
>Keine Folgerung kann auf absolute Wahrheit Anspruch erheben
ausser einer solchen , die von Wahrheiten abhängt, welche selbst absolut
296 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV .

sind. Bevor Genauigkeit in einem Schluss bestehen kann, muss Genauigkeit


in den vorausgehenden Sätzen sein. Der Geometer verlangt, dass die
geraden Linien, mit denen er sich befasst, in der That gerade seien.
und dass seine Kreise und Ellipsen und Parabeln mit genauen Defini
tionen übereinstimmen , vollkommen und unabänderlich gewissen be
stimmten Gleichungen entsprechen sollen . Stellt man ihm eine Frage,
in welcher diesen Bedingungen nicht genügt ist, so wird er erwidern ,
dass dieselbe nicht beantwortet werden könne. Ganz dasselbe gilt vom
philosophischen Sittenlehrer. Er handelt nur vom » geraden Menschen.
Er bestimmt die Eigenschaften des geraden Menschen, beschreibt, wie
der gerade Mensch sich beträgt ; er zeigt , in welche Beziehungen er
sich zu andern geraden Menschen stellt und wie ein Gemeinwesen von
geraden Menschen beschaffen sein muss. Jede Abweichung von der
strengsten Geradheit ist er durchaus zu ignoriren geradezu verpflichtet .
Dergleichen kann nicht in seine Prämissen aufgenommen werden, ohne
dass es alle seine Schlüsse verdürbe. Ein Problem, in welchem ein
>>krummer<< Mensch eines der Elemente darstellt, ist für ihn unlösbar. <

Herr SIDGWICK hat nun diese Ansicht ganz speciell in der


ersten , auf allgemeinere Weise in der zweiten Auflage seiner
„ Methods of Ethics " einer Betrachtung unterzogen. Er sagt darüber :
»Diejenigen, welche diese Ansicht vertheidigen, ziehen die Geometrie
als Beispiel heran, um zu zeigen , dass die Ethik sich mit ideal voll
kommenen menschlichen Verhältnissen zu befassen habe, gerade wie die
Geometrie von ideal vollkommenen Linien und Kreisen handelt. Allein
auch die unregelmässigste Linie hat bestimmte räumliche Beziehungen ,
mit welchen sich zu beschäftigen die Geometrie nicht verweigert, ob
gleich sie natürlich verwickelter sind als diejenigen einer geraden Linie .
So wäre es auch in der Astronomie für die Zwecke des Studiums zwar
viel bequemer, wenn sich die Sterne in kreisförmigen Bahnen bewegten,
wie man früher glaubte ; allein die Thatsache , dass sie sich nicht in
Kreisen, sondern in Ellipsen und sogar in unvollkommenen und viel
fach gestörten Ellipsen bewegen, schliesst sie deshalb noch nicht vom
Bereich der wissenschaftlichen Forschung aus : mit Geduld und Fleiss
haben wir selbst diese noch verwickelteren Bewegungen auf allgemeine
Principien zurückführen und genau berechnen gelernt. Es ist unzweifel
haft ein für die Zwecke des Unterrichts ganz passender Kunstgriff,
dass man annimmt, die Planeten bewegten sich in vollkommenen Ellip
sen (oder sogar auf einer noch früheren Stufe des Unterrichts
in Kreisen) : wir lassen damit die Erkenntniss des Individuums dieselben
Abstufungen der Genauigkeit durchlaufen , welche die Menschheit all
mählich durchlaufen hat. Allein was wir als Astronomen zu wissen
wünschen , das sind die wirklichen Bewegungen der Sterne und ihre
Ursachen , und ganz ebenso fragen wir als Moralisten natürlicherweise
nur danach, was in der wirklichen Welt, in der wir leben, gethan wer
den solle (p. 19 der zweiten Auflage).
§. 106. Absolute und relative Ethik . 297

Beginnen wir nun mit der ersten dieser beiden Behauptungen,


welche die Geometrie betrifft, so bin ich, wie ich gestehen muss ,
einigermaassen erstaunt, meine Sätze in Zweifel gezogen zu sehen,
während ich auf der andern Seite auch nach wiederholter Überlegung
im Zweifel bleibe, wie ich Herrn SIDGWICK'S Auffassungsweise des
Gegenstandes verstehen soll. Als ich an einer den oben citirten
Sätzen vorausgehenden Stelle die Unmöglichkeit hervorhob , „ auf
,,mathematischem Wege eine Reihe von Problemen über krumme
, Linien und ganz unregelmässige Curven zu lösen " , konnte ich in
der That nicht erwarten, dem die nackte Versicherung entgegen
gestellt zu sehen , dass 29 die Geometrie sich nicht weigere, sich mit
"‚ der allerunregelmässigsten Linie zu beschäftigen" . Herr SIDGWICK
erklärt, dass eine unregelmässige Linie , wie sie z. B. ein Kind auf
die Schiefertafel kritzelt, „ bestimmte räumliche Beziehungen " habe.
Welche Bedeutung legt er aber hier dem Worte „ bestimmt “ bei ?
Wenn er damit sagen will , ihre Beziehungen zum Raume im All
gemeinen seien in dem Sinne bestimmt, dass sie für eine unendliche
Intelligenz bestimmbar wären , so ist darauf zu entgegnen, dass für
eine unendliche Intelligenz alle räumlichen Beziehungen bestimm
bar wären , ― für eine solche gäbe es gar keine unbestimmten
räumlichen Beziehungen und das Wort „ bestimmt " würde somit
aufhören, irgend einen Unterschied zu bezeichnen. Wenn er aber
in dem Satze, dass eine unregelmässige Linie „ bestimmte räumliche
Beziehungen" habe , von Dingen sprechen will , welche für eine
menschliche Intelligenz bestimmt erkennbar seien , so bleibt immer
noch die Frage, wie man das Wort " bestimmt zu verstehen habe.
Alles , was als bestimmt bezeichnet wird, muss doch sicherlich eine
Bestimmung oder Definition zulassen ; wie sollen wir aber eine un
regelmässige Linie definiren ? Und wenn wir nicht die unregel
mässige Linie selbst definiren können , wie sollen wir dann ihre
,räumlichen Beziehungen " bestimmt kennen lernen? Und wie soll
sich die Geometrie, in Ermangelung einer Bestimmung derselben ,
mit ihr befassen ? Wenn aber Herr SIDGWICK etwa meint, dass sie
vermittelst der " Annäherungsmethode " behandelt werden könnte ,
so ist dagegen zu erinnern, dass in einem solchen Falle nicht die
betreffende Linie selbst geometrisch behandelt wird, sondern gewisse
bestimmte Linien, die willkürlich in quasi-bestimmte Beziehungen
zu jener gesetzt worden sind : das Unbestimmte wird nur durch das
Medium des Hypothetisch-Bestimmten der Erkenntniss zugänglich.
298 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.

Wenden wir uns nun zum zweiten Beispiel , so habe ich darauf
die Entgegnung zu machen , dass der hier aufgestellte Vergleich ,
soweit er sich auf das Verhältniss zwischen dem Idealen und dem
Realen bezieht, meine Behauptung keineswegs erschüttert , sondern
vielmehr verstärkt . Denn mögen wir die Astronomie von geometri
scher oder von dynamischer Seite betrachten und mögen wir dabei die
naturnothwendige oder die historisch gewordene Reihenfolge ihrer
Entwickelung im Auge haben -- stets bietet sich uns dieselbe Er
scheinung , dass nämlich gewisse Sätze hinsichtlich einfacher, theore
tisch genauer Beziehungen festgestellt sein müssen , bevor irgend
welche Sätze hinsichtlich der complicirten und praktisch genommen
ungenauen Beziehungen, welche thatsächlich vorhanden sind , fest
gestellt werden können . Nehmen wir speciell die Erklärung der
Planetenbewegungen , so sehen wir, dass die Theorie von den Cyklen
und Epicyklen sich auf die schon vorhandenen Kenntnisse vom Kreise
stützte : nachdem man die Eigenschaften einer idealen Curve kennen
gelernt hatte, war man in den Stand gesetzt, für die Bewegungen
der Himmelskörper einen bestimmten Ausdruck zu finden . Wir
sehen, dass die Erklärung des COPERNIKUS die Thatsachen mit Hülfe
der Annahme von anders vertheilten und combinirten Kreisbewegun
gen ausdrückte . Wir sehen , dass der Fortschritt KEPPLER'S von
der Vorstellung von kreisförmigen zu derjenigen von elliptischen
Bewegungen nur dadurch möglich wurde, dass er die Thatsachen,
wie sie sind, mit den Thatsachen verglich, welche sein würden ,
wenn jene Bewegungen kreisförmig wären. Wir sehen , dass die
nachher beobachteten Abweichungen von den rein elliptischen Be
wegungen nur auf Grund der bisherigen Voraussetzung, dass die
Bewegungen wirklich elliptisch wären , zur Kenntniss kommen konnten.
Und wir sehen endlich, dass selbst heute noch alle Vorhersagungen
in Betreff der genauen Stellungen der Planeten stets darauf fussen,
dass nach Berücksichtigung aller Störungen beständig wieder auf
die Ellipsen als auf ihre normalen oder durchschnittlichen Bahnen
für den gegebenen Zeitpunkt zurückgegriffen wird. So ist denn also
die Feststellung der thatsächlichen Wahrheiten nur mit Hülfe der
vorausgehenden Feststellung gewisser idealer Wahrheiten möglich
gewesen. Um einzusehen, dass die thatsächlichen Wahrheiten aber
auch nicht auf irgend einem anderen Wege hätten ermittelt werden
können, braucht man sich blos vorzustellen , dass Jemand erklärte ,
es gehe ihn als Astronom Nichts an , irgend etwas über die Eigen
§. 106. Absolute und relative Ethik . 299

schaften des Kreises und der Ellipse zu wissen , er habe es vielmehr


mit den wirklichen Thatsachen des Sonnensystems zu thun und zu
diesem Zwecke sei es seine Aufgabe, die Stellungen und Richtungen
zu beobachten und aufzuzeichnen und sich von den Thatsachen leiten
zu lassen, wie er sie vorfinde.
Dasselbe zeigt sich auch, wenn wir die Entwickelung der dyna
mischen Astronomie in's Auge fassen . Der erste Satz in NEWTON'S
„ Principia " handelt von der Bewegung eines einzelnen Körpers um
einen einzelnen Kraftmittelpunkt herum und die Erscheinungen der
Centralbewegung werden zunächst in einem Falle formulirt, welcher
nicht blos ideal ist , sondern in welchem auch keine nähere Angabe
über die wirkende Kraft gemacht wird : die Entfernung vom That
sächlichen ist so gross als möglich. Sodann behandelt die Gravi
tationstheorie, indem sie ein wirkendes Princip postulirt , welches
einem ganz idealen Gesetz entsprechen soll, die einzelnen Probleme
des Sonnensystems in willkürlicher Loslösung von den übrigen und
zugleich macht sie gewisse erdichtete Voraussetzungen , wie z. B.
die, dass die ganze Masse jedes in Frage kommenden Körpers in
seinem Schwerpunkt concentrirt sei. Erst später , nachdem die
grundlegenden Wahrheiten durch diesen Kunstgriff, die wesentlichen
von den unwesentlichen Factoren zu trennen, festgestellt worden
sind, wird die Theorie auf die thatsächlichen Probleme in ihrem
zunehmenden Grade der Complicirtheit angewendet, indem immer
mehr und mehr der untergeordneten Factoren in die Rechnung auf
genommen werden. Und wenn wir uns nun fragen , ob die dynami
schen Beziehungen des Sonnensystems auf irgend eine andere Weise
hätten ermittelt werden können , so sehen wir, dass auch hier ein
fache und nur unter idealen Bedingungen gültige Wahrheiten fest
gestellt werden mussten, bevor die thatsächlichen, unter den ver
wickelten Bedingungen der Wirklichkeit bestehenden Wahrheiten
sich feststellen liessen.
Damit ist auch, wie ich glaube, die behauptete Nothwendig
keit, der Relativen Ethik die Absolute Ethik vorausgehen zu lassen ,
noch ferner erläutert worden. Wer der allgemeinen Beweisführung
bis hieher gefolgt ist, der wird nicht in Abrede stellen können , dass
man sich ein ideales sociales Wesen von solcher Beschaffenheit vor
stellen kann , dass seine spontanen Thätigkeiten im Einklang stehen
mit den Bedingungen, welche ihm durch die von anderen ähnlichen
Wesen gebildete sociale Umgebung auferlegt werden . An vielen
300 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.

Stellen und auf die verschiedenste Weise habe ich dargelegt, dass
entsprechend den Gesetzen der Entwickelung im Allgemeinen und
den Gesetzen der Organisation im Besondern ein beständiger Fort
schritt in der Anpassung der Menschheit an den socialen Zustand
stattgefunden hat und noch stattfindet, wodurch sie in der Richtung
nach einer solchen idealen Übereinstimmung hin allmählich ver
ändert wird . Und schon früher wurde daraus der Schluss gezogen, I
der hier nur wiederholt zu werden braucht, dass der Zukunftsmensch E
so beschaffen sein wird, dass dieser Process in ihm eine Harmonie
zwischen allen Trieben seiner Natur und allen Anforderungen seines
Lebens , insofern er es in der Gesellschaft verbringt, erzeugt hat. 1
Wenn dem so ist, so ergibt sich daraus mit Nothwendigkeit, dass
ein idealer Codex des Handelns bestehen muss , welcher das Betragen
des vollkommen angepassten Menschen in der vollkommen entwickel
ten Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Ein solcher Codex ist es ,
was wir hier Absolute Ethik nennen zum Unterschiede von der
Relativen Ethik - ein Codex , dessen Gebote allein als absolut
richtig anzusehen sind im Gegensatz zu jenen , die nur relativ rich
tig oder am wenigsten böse sind , und der als System des idealen
Handelns den höchsten Maassstab darstellen soll, welcher uns zu
leiten hat , wenn wir so gut als möglich die Aufgaben des realen
Handelns zu lösen versuchen.

§. 107.

Eine klare Auffassung von dieser Sache ist so wichtig, dass


man mich wohl entschuldigen wird, wenn ich, um dieselbe zu för
dern, noch eine Erläuterung heranziehe, welche unzweifelhaft noch
passender ist, da sie aus dem Gebiete der organischen statt aus
dem der unorganischen Wissenschaft stammt. Das Verhältniss zwi
schen der eigentlichen Sittlichkeit und der Sittlichkeit in gewöhn
licher Auffassung ist ganz analog demjenigen zwischen Physiologie
und Pathologie, und das Verfahren, welches die Moralisten in der
Regel einschlagen , gleicht sehr dem eines Menschen , der Pathologie
studiren will, ohne vorher Physiologie studirt zu haben.
Die Physiologie beschreibt die verschiedenen Functionen, welche
in ihrer Verbindung das Leben ausmachen und erhalten ; indem sie
aber von diesen handelt, nimmt sie stets an , dass dieselben in rich
tiger Weise, in gehörigem Maasse und in der geeigneten Reihen
folge ausgeübt werden : sie kennt überhaupt nur gesunde Functionen .
§. 107. Absolute und relative Ethik. 301

Will sie z. B. die Verdauung erklären , so setzt sie voraus, dass das
Herz die Eingeweide mit Blut versorge und das Eingeweidenerven
system die unmittelbar in Frage kommenden Organe anreize. Gibt
sie eine Theorie des Blutkreislaufs , so nimmt sie an , dass Blut
durch die combinirten Thätigkeiten der zu seiner Bildung bestimm
ten Structuren erzeugt worden und dass es gehörig mit Sauerstoff
versehen sei. Sollen die Beziehungen zwischen der Athmung und
den Lebensvorgängen im Allgemeinen erläutert werden , so geschieht
dies unter der Voraussetzung, dass das Herz unaufhörlich fortfahre,
Blut nicht allein in die Lungen und in gewisse Nervencentren , son
dern auch nach dem Zwerchfell und den Zwischenrippenmuskeln zu
entsenden. Die Physiologie ignorirt durchaus etwaige Mängel in
den Thätigkeiten aller dieser Organe. Sie nimmt keine Rücksicht
auf Unvollkommenheiten, sie vernachlässigt Störungen, sie kennt
keinen Schmerz und weiss nichts von Übeln im Leben. Sie formulirt
einfach das, was vor sich geht als Resultat der vollständigen An
passung aller Theile an alle Bedürfnisse. Mit andern Worten, die
theoretische Physiologie nimmt zu den inneren , das körperliche
Leben ausmachenden Vorgängen dieselbe Stellung ein, welche der
theoretischen Ethik in ihrer absoluten Form nach der oben ge
gebenen Auffassung in Bezug auf die äusseren, das Handeln aus
machenden Vorgänge zukommt. In dem Augenblick, wo von Über
maass oder Hemmung oder Mangelhaftigkeit einer Function Kennt
niss genommen wird, geht die Physiologie in die Pathologie über.
Wir fangen damit an, böse Vorgänge im inneren Leben in Rech
nung zu ziehen , welche analog sind den bösen Vorgängen im äussern
Leben , auf welche die gewöhnlichen Moraltheorien Rücksicht zu
nehmen pflegen.
Der hiemit dargestellte Gegensatz ist jedoch noch keineswegs
erschöpft . Nachdem wir die Thatsache erkannt , dass es eine
Wissenschaft von den normalerweise ausgeübten Lebensthätigkeiten
gibt, welche alle abnormen Vorgänge unberücksichtigt lässt , haben
wir nun noch insbesondere zu beachten , dass die Wissenschaft von
den abnormen Thätigkeiten die ihr überhaupt mögliche Bestimmtheit
nur unter der Bedingung erlangen kann , dass die Wissenschaft von
den normalen Thätigkeiten vorher eine bestimmte Gestalt erreicht
hat ; oder sagen wir lieber, die Wissenschaft der Pathologie hängt
hinsichtlich ihrer Fortschritte von den Fortschritten ab, welche die
Wissenschaft der Physiologie zuvor machen muss. Schon allein die
302 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XV.

Vorstellung von einem in Unordnung gerathenen Vorgang setzt ja


das vorherige Vorhandensein einer Vorstellung von einem in guter
Ordnung befindlichen Vorgang voraus . Bevor sich entscheiden lässt ,
ob das Herz rascher oder langsamer schlage, als es eigentlich sollte,
muss man die Schnelligkeit seines Schlages im gesunden Zustand
kennen ; bevor man den Puls für zu schwach oder zu stark erklären
kann, muss seine normale Stärke bekannt sein, und so durchweg.
Selbst die rohesten und ganz empirischen Vorstellungen von Krank
heiten setzen Vorstellungen von den gesunden Zuständen voraus,
von welchen jene Abweichungen darstellen , und offenbar kann das
Erkennen der Krankheiten nur in dem Maasse wissenschaftlich wer
den , als die wissenschaftliche Kenntniss der organischen Vorgänge,
welche nicht krankhaft sind, zugenommen hat .
Ganz ähnlich steht es nun also auch mit dem Verhältniss zwi
schen der absoluten Sittlichkeit oder dem Gesetz vom vollkommen
Guten im menschlichen Handeln und der relativen Sittlichkeit,
welche das Böse im menschlichen Handeln anerkennt und zu ent
scheiden hat, in welcher Weise das Böse vom Guten abweicht und
wie man sich dem Guten am meisten nähern könnte. Wenn wir
durch Formulirung des normalen Handelns in einer idealen Gesell
schaft die Wissenschaft der absoluten Ethik ausgebildet haben, so
haben wir damit zugleich eine Wissenschaft erreicht, welche, wenn
dazu verwerthet, die Erscheinungen der wirklichen Gesellschaften
in ihren Übergangszuständen zu erklären, die so sehr von dem auf
Nichtanpassung beruhenden Elend aller Art durchdrungen sind (die
wir deshalb pathologische Zustände nennen können) , uns in den
Stand setzt, annähernd richtige Folgerungen hinsichtlich der Natur
dieser Abnormitäten zu ziehen und die Wege aufzufinden, welche
am ehesten in Richtung des Normalen führen möchten .

§. 108.
Und nun sei die Bemerkung ausgesprochen, dass die Auffassung
der Ethik, wie sie hier vorgetragen wurde, so sonderbar dies auch
Manchem klingen mag, in der That den Ansichten der Moralisten
im grossen Ganzen versteckt zu Grunde liegt. Wird dieselbe auch
nicht ausdrücklich anerkannt, so ist sie doch in undeutlicher Form
in vielen ihrer Äusserungen enthalten.
Von den ältesten Zeiten an begegnen wir in den ethischen
Speculationen hie und da einer Hinweisung auf den idealen Menschen ,
§. 108. Absolute und relative Ethik . 303

seine Handlungen , seine Gefühle, seine Urtheile. Das Gut-Handeln


fasst SOKRATES als das Handeln " des besten Menschen " , welcher
29 als Ehemann die Pflichten des ehelichen Lebens, als Wundarzt die
„ Pflichten der ärztlichen Kunst , im politischen Leben seine Pflichten
gegen das Gemeinwohl gehörig erfüllt. " PLATO fordert im Minos.
als Muster, nach welchem sich das Staatsgesetz richten sollte, „ die
99 Entscheidung irgend eines ideal weisen Mannes " , und im Laches
nimmt er an, dass die Kenntniss des weisen Mannes von Gut und Böse
den Maassstab abgeben solle : indem er 22 die Grundsätze der gegen
,wärtigen Gesellschaft " als unwissenschaftlich bei Seite setzt , an
erkennt PLATO als den wahren Führer nur jene "9 Idee vom Guten ,
„zu welcher sich blos ein Philosoph zu erheben vermag " . Nach
dem ARISTOTELES (Ethik, III. Buch, 4. Cap. ) die Entscheidungen
des guten Menschen für maassgebend erklärt , sagt er : - „ Denn
„ der gute Mensch beurtheilt ein Jegliches richtig und in jedem
" Falle erkennt er die Wahrheit als wahr ..... Und vielleicht be
„, steht der wesentliche Unterschied zwischen dem guten und dem
99 bösen Menschen darin , dass er die Wahrheit in jedem Falle sieht,
,da er gleichsam selbst die Regel und das Maass derselben ist . "
Auch die Stoiker stellten das als " vollkommene Rechtschaffenheit
99 des Handelns " hin, was „ Keiner erreichen kann ausgenommen der
,weise Mensch " - eben der ideale Mensch. Ebenso hatte EPIKUR
ein ideales Vorbild. Er erklärt, der tugendhafte Zustand sei „ ein
„ ruhiges , ungestörtes , unschädliches , mit Niemand wetteiferndes
99 Geniessen, welches beinah an die vollkommene Glückseligkeit der
„Götter heranreiche " , die weder selbst Sorge erduldeten , noch An
" dern Sorge bereiteten " *.
Wenn in neueren Zeiten , die durch theologische Dogmen in
Betreff des Sündenfalls und der menschlichen Sündhaftigkeit und
durch eine vom herrschenden Glauben abgeleitete Theorie der Pflich
ten beeinflusst waren, die Moralisten sich weniger häufig auf ein
solches Ideal bezogen haben, so lassen sich doch mancherlei Hin
weisungen darauf verfolgen. Eine solche finden wir in dem Aus
spruch KANT's : - ,,Handele nur nach dem Grundsatz , von dem
„ Du zu gleicher Zeit wünschen kannst , dass er zum allgemeinen
„ Gesetze werde. " Denn dies setzt die Annahme einer Gesellschaft

* Diese Citate habe ich grösstentheils Dr. BAIN'S „Mental and Moral Science "
entnommen .
304 Die Thatsachen der Ethik. Cap . XV.

voraus, in welcher jener Grundsatz von Allen befolgt und allgemeiner 1


Nutzen als die Folge davon anerkannt wird : es liegt also die Vor
stellung einer idealen Handlung unter idealen Bedingungen zu Grunde.
Und obgleich Herr SIDGWICK in dem oben aus seinem Buche ge
gebenen Citat es ausspricht, dass die Ethik sich mit dem Menschen ,
wie er ist , und nicht mit dem Menschen , wie er sein sollte , be
schäftige, so äussert er doch an einer andern Stelle wieder, dass
die Ethik vielmehr das Handeln , wie es sein sollte, als das Han
deln , wie es ist, zum Gegenstand habe, und postulirt also damit
ein ideales Handeln und indirect den idealen Menschen. Schon auf
der ersten Seite, wo er die Ethik in Zusammenhang mit der Juris
prudenz und der Staatskunst bespricht, sagt er, jene zeichne sich
,durch das Merkmal aus, dass sie nicht die Wirklichkeit, sondern
" das Ideale zu bestimmen suche ---- nicht das , was bestehe, sondern
,das, was bestehen sollte " .
Es ist nun blos noch nöthig , dass diese verschiedenen Vor
stellungen von idealem Handeln und von einer idealen Menschheit
consequent und bestimmt ausgestaltet werden , um sie mit der oben
dargelegten Auffassung in Übereinstimmung zu bringen. Gegen
wärtig sind solche Vorstellungen meist sehr unklar . Nachdem man
sich ein Bild von dem idealen Menschen auf Grund der herrschen
den Sittlichkeit gemacht, wird derselbe hierauf zum sittlichen Muster
erhoben , nach welchem die Gutheit der Handlungen zu beurtheilen
sein soll - ein richtiger Cirkelschluss. Um den idealen Menschen
zum Maassstab machen zu können , muss er erst mit Rücksicht auf
die Bedingungen , welche seine Natur erfüllt, definirt werden ,
mit Rücksicht auf jene objectiven Anforderungen, denen genügt wer
den muss, bevor das Handeln gut sein kann ; und der gemeinsame
Fehler aller jener Vorstellungen vom idealen Menschen liegt eben
darin , dass sie ihn ausser jede Beziehung zu solchen Bedingungen
setzen.
Alle oben angeführten , directen wie indirecten Hinweisungen
auf ihn kommen darin überein, dass sie den idealen Menschen unter
den gegenwärtigen socialen Bedingungen lebend und handelnd an
nehmen. Die stillschweigend aufgestellte Frage ist nicht, welches
seine Handlungen unter durchaus veränderten Umständen sein wür
den, sondern welches sie sein würden unter den gegenwärtigen Ver
hältnissen . Und diese Frage ist aus zwei Gründen verkehrt. Erstens
ist die Coexistenz eines vollkommenen Menschen und einer unvoll
§. 108. Absolute und relative Ethik . 305

kommenen Gesellschaft eine Unmöglichkeit , und zweitens würde ,


selbst wenn beide zusammen existiren könnten , das daraus ent
springende Handeln nicht den gesuchten ethischen Maassstab
liefern.
In erster Linie also : es seien die Gesetze des Lebens gegeben ,
wie sie gegenwärtig sind , so kann nicht ein Mensch von idealer
Natur in einer Gesellschaft entstehen , welche aus Menschen besteht,
deren Naturen so weit vom Ideal entfernt sind . Mit demselben
Rechte dürften wir erwarten, dass ein Kind von englischem Typus
unter Negern geboren werde, als wir annehmen dürften, dass unter
den ihrer Organisation nach Unmoralischen Einer auftreten werde ,
der von Natur moralisch wäre. Wenn man nicht in Abrede stellen
will, dass der Charakter von der ererbten Structur des Menschen
abhängt, so muss man zugeben , dass , da doch in einer Gesellschaft
jedes einzelne Individuum von einem Geschlecht abstammt , das
wir nur wenige Generationen zurückzuverfolgen brauchen , um es
überall durch die Gesellschaft sich verzweigen zu sehen , das also
auch durchaus an ihrer durchschnittlichen Natur theilnimmt, un
beschadet mancher scharf ausgeprägten individuellen Abweichung
eine Gemeinsamkeit des Charakters erhalten bleiben muss , die es
ganz unmöglich macht, dass Einer eine ideal hohe Stufe erreiche,
während alle Andern weit darunter stehen bleiben.
In zweiter Linie wäre ein ideales Handeln, wie es den Gegen
stand der theoretischen Ethik bildet, eine Unmöglichkeit für einen
idealen Menschen inmitten von ganz anders beschaffenen Menschen.
Ein absolut gerechter oder vollkommen mitfühlender Mensch könnte
unter einem Volke von Cannibalen nicht leben und seiner Natur
gemäss thätig sein. Unter Leuten, die betrügerisch und jeder Ge
wissenhaftigkeit baar sind, müsste vollständige Wahrhaftigkeit und
Offenheit zum Ruin führen. Wo die ganze Umgebung nur das Recht
des Stärkeren anerkennt, da muss ein Einzelner, dessen Natur ihm
nicht erlaubt, Anderen Schmerz zuzufügen, nothwendig zu Grunde
gehen. Eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem Handeln jedes
einzelnen Gliedes einer Gesellschaft und dem Handeln der Übrigen
ist durchaus erforderlich. Eine Handlungsweise, welche den herrschen
den Anschauungen völlig zuwiderläuft , kann nicht dauernd mit Er
folg fortgesetzt werden - sie muss schliesslich zum Tode des Han
delnden oder seiner Nachkommenschaft oder beider führen .
SPENCER, Die Thatsachen der Ethik. 20
306 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XVI.

Daraus geht klar hervor, dass wir uns den idealen Menschen
so vorstellen müssen, wie er im idealen socialen Zustand existiren
würde. Nach der Entwickelungshypothese bedingen beide einander
gegenseitig, und nur wo sie zusammen bestehen , da ist auch jenes
ideale Handeln möglich, welches die Absolute Ethik zu formuliren ,
die Relative Ethik aber zum Maassstab zu nehmen hat, nach wel
chem sie alle Abweichungen vom Guten oder die Grade des Bösen
abschätzt.

XVI. Capitel.

Der Umfang der Ethik.

§. 108.

Gleich im Anfang wurde dargelegt, dass, weil ja das Handeln ,


mit welchem sich die Ethik beschäftigt, einen Theil des Handelns
im Allgemeinen bildet, das Handeln im Allgemeinen verstanden
werden muss , bevor dieser Theil verständlich sein kann. Nachdem

wir einen allgemeinen Überblick über das Handeln gegeben, nicht
über das menschliche allein, sondern auch über das unter-mensch
liche, und nicht blos über das bestehende, sondern auch über das
sich entwickelnde , sahen wir, dass den Hauptgegenstand der Ethik
jenes am höchsten entwickelte Handeln bildet, wie es uns das am
höchsten entwickelte Wesen, der Mensch, vorführt dass sie eine
genaue Darstellung jener Eigenthümlichkeiten ist , welche sein Han
deln erlangt, wenn es die oberste Grenze seiner Entwickelung er
reicht. Nach dieser Anschauung , wonach die Ethik die Gesetze des
Gut-Lebens im Allgemeinen umfasst , hat dieselbe also ein viel wei
teres Gebiet, als ihr gewöhnlich zugetheilt wird. Ausser dem Han
deln, was gewöhnlich als gut oder böse gebilligt oder verurtheilt
wird , schliesst sie auch all das Handeln ein , was auf directem
oder indirectem Wege die Wohlfahrt des Ich oder Anderer fördert
oder hindert.
Wie in den vorhergehenden Capiteln an verschiedenen Stellen
angedeutet wurde, umfasst das gesammte Gebiet der Ethik die bei
den grossen Abtheilungen des persönlichen und des socialen Han
§. 110. Der Umfang der Ethik. 307

delns . Es gibt eine Classe von Handlungen, welche auf persönliche


Zwecke gerichtet sind und in ihrem Verhältniss zum persönlichen
Wohlergehen , ohne Rücksicht auf das Wohlergehen Anderer, be
urtheilt werden müssen : wenn sie auch in zweiter Linie die Mit
menschen ebenfalls beeinflussen , so gehen sie doch zunächst nur den
Handelnden selbst an und müssen demnach je nach ihren vortheil
haften oder nachtheiligen Folgen für ihn als an sich gut oder böse
bezeichnet werden. Dann gibt es aber auch eine andere Classe
von Handlungen, welche unmittelbar oder auf Umwegen Einfluss
auf die Nebenmenschen ausüben und demgemäss , obgleich ihre Folgen
für die Handelnden selbst nicht ganz übergangen werden dürfen ,
doch vorzugsweise nach ihren Wirkungen auf Andere als gut oder
böse zu beurtheilen sind . Die Handlungen dieser letzten Classe zer
fallen wieder in zwei Gruppen . Diejenigen der ersten Gruppe er
reichen ihre Zwecke auf solche Weise, dass sie der Verfolgung von
-
Zwecken durch Andere ungebührlichen Eintrag thun oder nicht
Handlungen, die wir auf Grund dieses Unterschiedes jeweils un
gerecht oder gerecht nennen . Diejenigen der zweiten Gruppe sind
von der Art, dass sie zwar den Zustand Anderer beeinflussen, ohne
jedoch direct auf diese oder jene Weise in die Beziehungen zwischen
ihrer Arbeit und deren Ergebnissen einzugreifen - Handlungen,
die wir als wohlthätige oder übelthätige bezeichnen . Und das Han
deln, welches wir als wohlthätig betrachten , lässt sich abermals
danach unterscheiden, ob es uns eine Selbstunterdrückung zeigt,
um die Zufügung von Schmerzen zu vermeiden, oder eine Aufwen
dung von Anstrengungen, um Freude zu bereiten - negative und
positive Wohlthätigkeit.
Jede dieser Abtheilungen und Unterabtheilungen ist dann zu
erst als Abschnitt der Absoluten Ethik und hernach als Abschnitt
der Relativen Ethik zu betrachten. Indem wir ermitteln , welches
ihre Gebote für den idealen Menschen unter den vorausgesetzten
idealen Bedingungen sein müssten , haben wir uns zugleich darauf
vorbereitet, zu erkennen, wie solche Gebote am vollkommensten von
wirklichen Menschen unter den gegenwärtigen Bedingungen erfüllt
werden könnten.

§. 110.

Aus bereits angeführten Gründen kann ein Codex des voll


kommenen persönlichen Handelns niemals zu einem bestimmten
20 *
308 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XVI .

Abschluss gebracht werden. Mancherlei Formen des Lebens , die in


erheblichem Grade von einander abweichen, können in einer Gesell
schaft so durchgeführt werden, dass sie alle vollständig die Be
dingungen eines harmonischen Zusammenwirkens erfüllen . Wenn
aber verschiedene Typen der Menschen, den verschiedensten Typen
der Thätigkeiten angepasst, ihr Leben so zu gestalten vermögen ,
dass das Leben jedes Einzelnen in seiner Art vollkommen ist , so
ist eine eingehende Darstellung der allgemein zum persönlichen
Wohlergehen erforderlichen Thätigkeiten nicht möglich.
Allein obschon die besondern Erfordernisse, welche für ein voll
kommenes Wohlergehen des Individuums zu erfüllen sind, entspre
chend der Mannichfaltigkeit der materiellen Bedingungen jeder ein
zelnen Gesellschaft variiren müssen, so gibt es doch gewisse all
gemeine Erfordernisse, welche von den Individuen aller Gesellschaften
erfüllt werden müssen. Ein durchschnittliches Gleichgewicht zwi
schen Verbrauch und Ernährung muss durchweg aufrecht erhalten
werden. Das normale Leben bedingt ein gewisses Verhältniss zwi
schen Thätigkeit und Ruhe , das innerhalb mässiger Grenzen der
Variation eingeschlossen ist. Die Fortdauer der Gesellschaft hängt
von der Befriedigung jener in erster Linie persönlichen Bedürfnisse
ab, welche zur Heirat und Aelternschaft führen. Die Vollkommen
heit des individuellen Lebens setzt mithin gewisse Handlungsweisen
voraus, welche in allen Fällen annähernd gleich sind und daher einen
wesentlichen Bestandtheil des Gegenstandes der Ethik ausmachen .
Man kann jedoch kaum behaupten, dass es möglich sei, diesen
Abschnitt der Ethik mit wissenschaftlicher Bestimmtheit darzustellen .
Immerhin aber können die ethischen Erfordernisse hier insoweit an
physikalische Nothwendigkeiten angeknüpft werden , dass dieselben
dadurch eine theilweise wissenschaftliche Begründung erhalten. Es
ist klar, dass zwischen der Verausgabung von Körpersubstanz bei
den Lebensthätigkeiten und der Aufnahme von Materialien , aus
welchen diese Substanz sich wieder ergänzen lässt, eine directe Be
ziehung besteht. Es ist ferner klar, dass eine ebenso directe Be
ziehung stattfindet zwischen dem Verbrauch von Geweben durch An
strengungen und dem Bedürfniss nach jenem Aufhören der An
strengungen, während dessen der Wiederersatz den Verbrauch wie
der einholen kann . Und es ist nicht minder klar, dass zwischen
der Sterblichkeitsziffer und der Vermehrungsziffer in jeder Gesell
schaft ein solches Verhältniss besteht , dass die letztere eine be
§. 110. Der Umfang der Ethik . 309

stimmte Höhe erreichen muss, bevor sie der ersteren das Gleich
gewicht halten und den allmählichen Untergang der Gesellschaft
verhindern kann. So ist denn auch wohl die Annahme berechtigt,
dass die Verfolgung anderer wesentlicher Zwecke auf gleiche Weise
durch gewisse Naturnothwendigkeiten bestimmt sei und von diesen
ihre ethische Sanction ableite. Dass es jemals thunlich sein wird,
ganz genaue Gesetze für das private Handeln in Übereinstimmung mit
solchen Erfordernissen aufzustellen , mag wohl bezweifelt werden .
Allein die Aufgabe der Absoluten Ethik in Bezug auf das private
Handeln ist schon gelöst, wenn sie den Erfordernissen desselben in
allgemeinen Ausdrücken eine sichere Grundlage gegeben , wenn sie
die gebieterische Nothwendigkeit der Unterwerfung unter dieselben
dargethan und damit das Bedürfniss nachgewiesen hat, eingehend
zu untersuchen , ob das Handeln diese Erfordernisse so gut als irgend
möglich erfüllt .
Zur Ethik des persönlichen Handelns, in Bezug auf die gegen
wärtigen Bedingungen betrachtet, sind alle Fragen hinsichtlich des
Grades zu rechnen , in welchem das unmittelbare persönliche Wohl
ergehen entweder dem persönlichen Wohlergehen in letzter Linie
oder dem Wohlergehen Anderer hintanzusetzen ist . Wie das Leben
jetzt verläuft, setzt es allstündlich die Ansprüche des gegenwärtigen
Ich denjenigen des zukünftigen Ich entgegen und bringt es jeden
Augenblick die individuellen Interessen in Widerstreit mit den In
teressen anderer Individuen, mögen diese einzeln oder als Glieder
der Gesellschaft in Frage kommen. In vielen dieser Fälle können
die Entscheidungen nichts weiter sein als Compromisse und die
Ethik , welche hier nothwendigerweise auf der empirischen Stufe
stehen bleibt, kann Nichts weiter thun, als dazu beitragen, Com
promisse zu schliessen, welche möglichst wenig dem Vorwurf aus
gesetzt sind. Um aber in jedem Falle den besten Compromiss zu
Stande zu bringen, bedarf es richtiger Vorstellungen von den alter
nativen Ergebnissen dieses oder jenes Verfahrens. Und insofern also ,
als die absolute Ethik des individuellen Handelns zu bestimmter
Gestaltung gebracht werden kann , muss sie uns demgemäss auch
behülflich sein, zwischen den sich widerstreitenden persönlichen An
forderungen und zwischen der Nothwendigkeit der Selbstbehauptung
und der Nothwendigkeit der Unterordnung des Ich zu entscheiden.
310 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XVI.

§. 111 .

Von dieser Abtheilung der Ethik, welche sich mit der gehörigen
Regelung des privaten Handelns beschäftigt, das hiebei ohne Rück
sicht auf die unmittelbar auf Andere hervorgebrachten Wirkungen
in's Auge gefasst wurde, wenden wir uns nun zu jener Abtheilung
der Ethik, welche ausschliesslich die Wirkungen des Handelns auf
Andere berücksichtigt und sich nun mit der gehörigen Regelung
des Handelns im Hinblick auf solche Wirkungen befasst.
Die erste Gruppe von Gesetzen , welche zu diesem Abschnitt
gehört, bezieht sich auf das, was wir als Gerechtigkeit unterscheiden.
Das Leben des einzelnen Individuums ist nur unter der Bedingung
möglich, dass jedes Organ für seine Thätigkeit durch ein Äquivalent
von Blut entschädigt wird, während der Organismus als Ganzes aus
der Umgebung assimilirbare Stoffe aufnimmt , welche ihm für seine
Anstrengungen Ersatz gewähren; und ebenso macht es die gegen
seitige Abhängigkeit der Theile im socialen Organismus nothwen
dig, dass sowohl für sein Gesammtleben als für das Leben seiner
Einheiten auf ähnliche Weise ein gehöriges Gegenseitigkeitsverhält
niss zwischen Lohn und Arbeit aufrecht erhalten werde : die natur
gemässe Beziehung zwischen Leistung und Wohlergehen muss un
verändert bestehen bleiben . Die Gerechtigkeit, welche den Umfang
des Handelns und die hieraus entspringenden Einschränkungen for
mulirt , ist mithin sowohl die aller wichtigste Abtheilung der Ethik
als auch zugleich diejenige, welche die grösste Bestimmtheit zulässt .
Jenes Princip der Äquivalenz, das uns schon entgegentritt, wenn
wir seine Wurzeln in den Gesetzen des individuellen Lebens auf
suchen, bedingt die Idee von Maass , und gehen wir zum socialen
Leben über, so führt uns dasselbe Princip auf die Vorstellung von
Billigkeit oder Gleichmässigkeit in den Beziehungen der Bürger
zu einander : die Elemente der hieraus sich ergebenden Fragen sind
also quantitativer Art und deshalb erreichen auch die Lösungen
eine mehr wissenschaftliche Form. Wenn wir auch die Glieder einer
Gesellschaft nicht als absolut gleich betrachten können , da wir ja
auch alle die Verschiedenheiten zwischen den Individuen zu beachten
haben, welche auf Alter, Geschlecht oder anderen Ursachen beruhen ,
und obgleich wir in Folge dessen die aus ihren Verhältnissen erwach
senden Probleme nicht mit der Genauigkeit behandeln können ,
welche die absolute Gleichheit möglich machen würde , so dürfen
§. 111 . Der Umfang der Ethik. 311

wir sie doch auf Grund ihrer gemeinsamen menschlichen Natur als
annähernd gleich in Anschlag bringen und können also , indem wir
die Fragen der Billigkeit unter dieser Voraussetzung besprechen,
Schlüsse von hinlänglich bestimmter Art zu erreichen hoffen.
Diese Abtheilung der Ethik hat, von der absoluten Seite ge
nommen, die billigen Beziehungen zwischen vollkommenen Individuen
zu definiren, welche durch ihr Zusammensein ihre Thätigkeitsgebiete
gegenseitig beschränken und ihre Zwecke durch Zusammenwirken
erreichen . Sie hat aber noch weit mehr zu leisten. Abgesehen von
der Gerechtigkeit zwischen Mensch und Mensch bildet namentlich
noch die Gerechtigkeit zwischen jedem einzelnen Menschen und dem
Aggregat von Menschen ihren Gegenstand . Die Beziehungen zwi
schen den Individuen und dem Staate als Vertreter aller Individuen
müssen abgeleitet werden - eine sehr wichtige und verhältniss
mässig schwierige Sache. Welches ist die ethische Grundlage für
die Regierungsautorität ? Zu welchen Zwecken darf dieselbe gesetz
licherweise ausgeübt werden ? Wie weit ist sie zu gehen berech
tigt ? Bis zu welchem Grade ist der einzelne Bürger verpflichtet ,
die Gesammtentscheidung der übrigen Bürger anzuerkennen, und
von welchem Punkte an darf er es mit Recht wagen, ihnen den
Gehorsam zu verweigern ?
Sind diese Beziehungen privater und öffentlicher Art von dem
Gesichtspunkt aus festgestellt, als ob sie unter idealen Bedingungen
stattfinden würden , so haben wir dann die entsprechenden Beziehun
gen unter realen Bedingungen zu behandeln : - während absolute
Gerechtigkeit als höchstes Vorbild stehen bleibt , muss die relative
Gerechtigkeit dadurch bestimmt werden , dass wir erwägen , wie weit
wir uns derselben unter den gegenwärtigen Umständen annähern
können . Wie bereits an mehreren Stellen hervorgehoben wurde ,
ist es während der Übergangsstadien , welche beständig von neuem
Compromisse nothwendig machen, ganz unmöglich , den Geboten ab
soluter Billigkeit nachzuleben, und so lassen sich denn auch nur
empirische Urtheile über den Umfang aufstellen, bis zu welchem
dieselben zu den verschiedenen Zeiten erfüllt werden können . So
lange die Kriege fortdauern und Ungerechtigkeiten zwischen den
einzelnen Gesellschaften verübt werden , ist nicht von ferne an die
Herrschaft einer vollkommenen Gerechtigkeit innerhalb jeder Gesell
schaft zu denken . Kriegerische Organisation so gut wie kriegerische
Thätigkeit ist unvereinbar mit reiner Billigkeit, und die durch jene
312 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XVI.

bedingte Unbilligkeit macht sich unausweichlich in allen socialen


Verhältnissen geltend. Allein immerhin gibt es auf jeder Stufe der
socialen Entwickelung einen gewissen Spielraum, innerhalb dessen
es möglich ist , sich den Anforderungen der absoluten Billigkeit
mehr zu nähern oder sich weiter davon zu entfernen. Und deshalb
müssen wir diese Anforderungen stets im Auge behalten , wenn wir
die relative Billigkeit ermitteln wollen.

§. 112 .
Von den beiden Unterabtheilungen , in welche die Wohlthätig
keit zerfällt, der negativen und der positiven, lässt sich keine im
Einzelnen ausführen . Unter idealen Bedingungen hat die erstere
üb upt nur eine nominelle Existenz und die letztere geht grössten
theils in eine abgeänderte Form über, welche blos eine allgemeine
Definition gestattet .
Im Handeln des idealen Menschen unter idealen Menschen muss
jene Selbstbeherrschung , deren Beweggrund der Wunsch ist, Schmer
zen zu vermeiden , in Wirklichkeit ganz verschwinden . Wenn Nie
mand mehr Gefühle empfindet, die zu Handlungen antreiben, welche
Andere unangenehm beeinflussen, so kann es auch kein Gesetz der
Einschränkung mehr geben, das zu dieser Abtheilung des Handelns
zu rechnen wäre.
Allein während die negative Wohlthätigkeit nur einen nominel
len Bestandtheil der Absoluten Ethik bildet, stellt sie einen wirk
lichen und sehr wesentlichen Theil der Relativen Ethik dar. Denn
so lange noch die Natur der Menschen unvollkommen dem socialen
Leben angepasst ist, so lange müssen sich auch in ihnen Antriebe
geltend machen, welche in manchen Fällen geradezu die Handlungen
verursachen, die wir ungerecht nennen , in den andern aber solche,
die wir unfreundlich nennen - unfreundlich bald in Thaten und
bald in Worten ; und in Hinsicht auf diese Art des Betragens,
welche zwar nicht aggressiv ist , aber trotzdem herbe Schmerzen
bereiten kann, erwachsen uns zahlreiche und verwickelte Probleme.
Manchmal wird Anderen Schmerz zugefügt , wenn wir einfach an
einem billigen Anspruch festhalten ; zu andern Zeiten entspringen
Schmerzen aus der Zurückweisung einer Bitte und dann wieder
aus dem Verfechten einer bestimmten Ansicht. In diesen und zahl
reichen ähnlichen Fällen muss die Frage beantwortet werden , ob,
um die Zufügung von Schmerzen zu vermeiden, persönliche Gefühle

1
§. 112. Der Umfang der Ethik. 313

aufgeopfert werden sollten und wie weit dies gehen darf. In Fällen
von anderer Art sodann wird Schmerz nicht durch ein passives ,
sondern durch ein actives Verhalten hervorgerufen. Wie weit darf
man Jemand, der sich ungehörig betragen hat, Kummer verursachen ,
indem man ihm seine Abneigung verräth ? Soll man einem Menschen ,
dessen Handlungsweise nicht gebilligt werden kann , seine Miss
billigung aussprechen oder soll man lieber stillschweigen ? Ist es
recht, einen Andern zu beunruhigen, indem man über das Vorurtheil
abspricht, woran jener noch festhält ? Diese und verwandte Fragen
müssen beantwortet werden , indem wir den unmittelbar zugefügten
Schmerz , den durch Zufügen desselben möglicherweise erzielten
Nutzen und das durch Nichtzufügung desselben möglicherweise ver
ursachte Übel in Anschlag bringen. Bei der Lösung von Problemen
dieser Classe besteht die einzige Hülfe, welche die Absolute Ethik
uns geben kann, darin , dass sie die Überzeugung bekräftigt , dass
es Unrecht wäre , jemals mehr Schmerzen zu bereiten , als durch die
gehörige Rücksicht auf sich selbst oder durch das Streben nach
dem Vortheil eines Anderen oder durch die Hochhaltung eines all
gemeinen Princips nothwendig bedingt wird .
Von der positiven Wohlthätigkeit unter ihrer absoluten Form
lässt sich nichts weiter sagen , als dass sie immer in entsprechen
dem Maasse entwickelt werden muss , als ein Wirkungskreis für
dieselbe übrig bleibt, in welchem sie dazu beiträgt , das Leben jedes
Einzelnen als eines Empfängers von Diensten zu vervollkommnen
und zugleich das Leben eines Jeden als eines Diensteleistenden zu
erhöhen. Da nun aber mit der weiteren Entwickelung der Mensch
heit das Streben nach solcher Wohlthätigkeit von Seiten eines Jeden
so zunehmen und die Möglichkeit zur Ausübung derselben so ab
nehmen wird, dass sich ein altruistischer Wetteifer entfalten muss
ähnlich dem jetzt stattfindenden egoistischen Wetteifer, so mag es
wohl sein, dass die Absolute Ethik schliesslich auch das umfassen
wird, was wir früher einmal als höhere Billigkeit bezeichneten ,
welche die gegenseitigen Beschränkungen der altruistischen Thätig
keiten vorschreibt.
In ihrer relativen Form bietet die positive Wohlthätigkeit zahl
reiche, ebenso wichtige als schwierige Probleme dar , welche blos
eine empirische Lösung zulassen. Wie weit darf die Selbstaufopfe
rung zu Gunsten eines Andern in jedem einzelnen Falle getrieben
werden ? eine Frage , welche verschieden beantwortet werden.
21 *
314 Die Thatsachen der Ethik. Cap. XVI.

wird, je nach dem Charakter und den Bedürfnissen des Andern und
je nach den verschiedenen Ansprüchen des Handelnden und seiner
Angehörigen , welche dabei in's Spiel kommen . Bis zu welchem
Umfange soll unter gegebenen Umständen das private Wohlergehen
der öffentlichen Wohlfahrt untergeordnet werden ? eine Frage,
die sich erst beantworten lässt, nachdem die Wichtigkeit des Zweckes
und die Tragweite des Opfers erwogen worden sind. Welcher Nutzen
und welche Nachtheile werden aus der einem Andern freiwillig ge
leisteten Hülfe entspringen? - eine Frage, die in jedem Falle eine
neue Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten voraussetzt. Bedingt
es irgend welche unbillige Behandlung mehrerer Anderer, wenn ich
diesen einen Andern besser als gerade billig behandle ? Bis zu wel
cher Grenze kann der lebenden Generation der Niedrigstehenden
Unterstützung gewährt werden, ohne dadurch Unheil für zukünftige
Generationen der Höherstehenden heraufzubeschwören ? Offenbar
können auf alle diese und so viele verwandte Fragen, welche in
diese Abtheilung der relativen Ethik gehören, immer nur annähernd
richtige Antworten gegeben werden .
Allein obschon die Absolute Ethik durch den Maassstab, den
sie uns an die Hand gibt, hier der Relativen Ethik nicht wesent
liche Hülfe leisten kann, so ist sie ihr doch wie in andern Fällen
dadurch einigermaassen förderlich, dass sie unserm Bewusstsein eine
ideale Versöhnung der verschiedenen in Frage kommenden Ansprüche
vorhält und dass sie zur Aufsuchung eines solchen Compromisses
zwischen denselben anregt, der Niemand unberücksichtigt lässt, son
dern Alle im höchsten irgend denkbaren Maasse befriedigt.
II . Theil .

Die Inductionen der Ethik.

SPENCER, Principien der Ethik. I. 21


I. Capitel.

Die Verwirrung des ethischen Denkens .

§. 111.
Wenn gemeinsam mit andern Dingen die menschlichen
Gefühle und Ideen dem allgemeinen Gesetze der Entwicklung
folgen, so ist die Folgerung nahe liegend , dass die Reihe von
Vorstellungen, welche die Ethik bilden , in Verbindung mit den
begleitenden Empfindungen sich aus einem verhältnismässig
unzusammenhängenden und unbestimmten Bewusstsein erheben
und langsam Zusammenhang und Bestimmtheit erhalten , zu der
selben Zeit, in welcher sich ihre Menge aus der grösseren Menge,
mit welcher sie ursprünglich vermischt war, differenzierte. Lange
Zeit ununterscheidbar bleibend und nur ganz unbestimmt erkenn
bar, kann nur dann von der Ethik eine deutliche Verkörperung
erwartet werden, wenn die geistige Entwicklung eine hohe Stufe
erreicht hat.
Daher rührt die gegenwärtige Verwirrung des ethischen
Denkens . Im Anfange vollständig , ist sie nothwendigerweise
während des socialen Fortschritts im Ganzen gross geblieben,
und es muss auch, obgleich sie kleiner geworden ist, angenommen
werden , dass sie in unserm jetzigen halbcivilisierten Zustande
noch gross ist. Begriffe von Recht und Unrecht, in verschiedener
Weise abgeleitet und mit jedem Wechsel der socialen Ein
richtungen und Thätigkeitsäusserungen wechselnd , bilden eine
Menge , von der wir folgern können , dass sie selbst jetzt noch
in hohem Maasse chaotisch ist .
Wir wollen einige der hauptsächlichen Factoren des ethischen
Bewusstseins betrachten und die Reihen von widerstreitenden
21 *
318 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.

Glaubenspunkten und Meinungen untersuchen , welche einzeln


aus ihnen entspringen.
§. 112 .
Ursprünglich giebt es keine von Religion , welche sie in
Lösung hält , gesonderte Ethik. Religion selbst ist in ihrer
frühesten Form von Vorfahrenanbetung ununterscheidbar. Und
die Begütigungen der Geister der Vorfahren , vorgenommen um
die Übel zu vermeiden , welche sie verhängen , und die Wohl
thaten zu erlangen , welche sie gewähren könnten, werden durch
kluge Betrachtungen veranlasst gleich denen , welche die ge
wöhnlichen Handlungen des Lebens leiten.
„ Komm und nimm hieran Theil ! Gieb uns Unterhalt , wie
Du es thatest als Du lebtest ! " So ruft der unschuldige Wald
Veddah dem Geiste seines Verwandten zu , wenn er ihm ein
Opfer darbringt ; dann erwartet er, zu einer andern Zeit , dass
dieser Geist ihm bei der Jagd Erfolg gewährt . Ein Zulu träumt,
dass seines Bruders Geist , ihn wegen der Unterlassung eines
Opfers auszankend und schlagend , zu ihm sagt : „ ich wünsche
Fleisch . " Und auf die Antwort : „ Nein, mein Bruder, ich habe
keinen Ochsen , siehst Du einen in der Hürde ? " ist die Ent
gegnung : „ Auch wenn nur einer da ist , so verlange ich ihn. "
Der australische Medicin - Mann preist den todten Jäger und,
auf die Antworten aus dem Leichnam horchend , verkündigt er,
dass er , wenn er genügend gerächt werde , versprochen habe,
",dass sein Geist den Stamm nicht heimsuchen, ihm keine Furcht
verursachen , ihn nicht auf falsche Wege irreleiten , ihm keine
Krankheiten bringen und in der Nacht keinen lauten Lärm
machen werde. " So ist es ganz allgemein . Wilde schreiben
ihr Glück oder Unglück den Geistern der Todten zu , die sie
zufrieden gestellt oder gekränkt haben ; und während sie ihnen
Speise und Trank und Kleidung darbringen , versprechen sie ,
sich ihren Wünschen zu fügen , und bitten um ihre Hülfe * .
Wenn wir von der ersten Stufe, auf welcher nur die Geister
der Väter und anderer Verwandten von den Gliedern einer
jeden Familie besänftigt werden , zu der zweiten Stufe übergehen,
auf welcher mit der Begründung einer anerkannten Häuptlings

* Wegen weiterer Erläuterungen s. Principien der Sociologie , §. 142,


143, und ebenda : Kirchliche Einrichtungen, §. 584.
§. 112. Die Verwirrung des ethischen Denkens . 319

schaft eine besondere Furcht vor dem Geiste des Häuptlings


eintritt , so geht daraus eine Besänftigung auch dieses daraus
hervor , — Opfergaben , Anpreisungen , Gebete , Versprechen .
Wenn ein starker Mann , als Krieger oder Herrscher , Bewun
derung und Furcht erregt hat, so ist die Besorgnis, mit seinem
noch mächtigeren Geiste auf gutem Fusse zu stehen, gross und
veranlasst zur Beachtung seiner Befehle und Verbote. Wenn
ihn viele Siege zu einem Könige gemacht haben , so werden
natürlich die Ausdrücke der Unterwürfigkeit gegen seinen ver
götterten , als allmächtig und schrecklich angesehenen Geist
noch entschiedener und die Unterwerfung unter seinen Willen
wird zwingend : die begleitende Idee ist, dass Recht und Un
recht einfach in Gehorsam und Ungehorsam ihm gegenüber
besteht.
Alle Religionen geben für diese Beziehungen der Thatsachen
Beispiele . In Bezug auf die Eingebornen der Tonga - Inseln
sagt MARINER :
" Verschiedene von allen civilisierten Nationen als Verbrechen
angesehene Handlungen werden unter vielen Umständen von ihnen als
bedeutungslose Sachen betrachtet, " wenn sie nicht Missachtung gegen
13 die Götter, Adligen und alte Leute mit sich bringen.
In seiner Beschreibung gewisser Völkerschaften der Gold
küste zeigt Major ELLIS , dass bei ihnen die Idee der Sünde
auf die den Göttern angethanenen Beleidigungen und die Ver
nachlässigung der Götter beschränkt ist.
„Die grässlichsten Verbrechen , als nur von Mensch zu Mensch
begangen , können die Götter mit Gleichmuth ansehen . Diese sind
Sache der Menschen und müssen von Menschen ausgeglichen oder be
straft werden . Aber gleich den Göttern von Völkern, welche in der
Civilisation viel weiter vorgeschritten sind , beleidigt sie nichts An
deres so tief , als wenn sie unbeachtet gelassen werden , oder wenn
ihre Macht in Frage gestellt wird, oder wenn sie verlacht werden. "
Wenn wir von diesen Fällen , in welchen die geforderte
Unterwürfigkeit sich ausschliesslich in Gebräuchen zeigt, welche
Ehrfurcht ausdrücken , zu Fällen übergehen, in denen sich Gebote
der Art finden, die ethisch genannt werden, so sehen wir, dass
die Rücksicht , Gott nicht zu erzürnen , den hauptsächlichen
Grund zu ihrer Erfüllung bildet. Wo er die Ermahnungen
beschreibt, welche bei den alten Mexicanern Eltern ihren Kindern
geben, führt ZURITA folgende beispielsweise an :
320 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.

29 Vergifte Niemand , da Du damit gegen Gott in seinem Ge


schöpfe sündigen würdest ; die Verbrechen würden entdeckt und be
straft werden ... und Du würdest denselben Tod erleiden " (p . 138 ).
„ Füge Niemand Unrecht zu, meide Ehebruch und Üppigkeit ; das ist
ein niedriges Laster , welches denjenigen ruiniert , der ihm fröhnt ,
und welches Gott beleidigt " (p. 139) . " Sei bescheiden ; Demuth ver
schafft uns die Gunst Gottes und der Mächtigen " (p . 141).
Viel schärfer war indessen bei den Hebräern der Glaube
ausgeprägt , dass Recht und Unrecht einfach durch den Willen
Gottes dazu gemacht worden sind . Wie SCHENKEL bemerkt :
" Insofern der Mensch den Gesetzen Gottes Gehorsam schuldig
ist, wird Sünde als Empörung betrachtet (Jes . I, 2 ; LIX , 13 ;
Hos . VII , 13 ; Amos IV , 4 ) . “ Auf Übereinstimmung mit gött
lichen Vorschriften wird nur bestanden, weil sie göttliche Vor
schriften sind, wie aus 3. Mose, XVIII , 4. 5 hervorgeht :
„Nach meinen Rechten sollt ihr thun, und meine Satzungen
sollt ihr halten , dass ihr darinnen wandelt ; denn ich bin der
Herr, euer Gott. Darum sollt ihr meine Satzungen halten und
meine Rechte . "
Solchergestalt war die Ansicht , welche die Hebräer selbst
rückhaltlos bekannten . Dies wird durch ihre späteren Schriften
bewiesen. BRUCH bemerkt , dass dem Verfasser des Buches der
Weisheit Salomons zufolge : Tugend Gehorsam gegen den
Willen Gottes ist ; und wo dieser im Gesetze ausgedrückt wird ,
wird seine Erfüllung gefordert (VI, 5. 19) . " Und in gleicher
Weise sagt FRITZSCHE : "" Im Buche Sirach erscheint das Ge
bot Gottes als der eigentliche Beweggrund der Moralität. “
Wie wenig gutes und schlechtes Betragen im Gedanken
mit dem innerlichen Wesen von Recht und Unrecht verbunden
waren, und wie vollständig sie im Gedanken mit Gehorsam und
Ungehorsam gegen Jahve verknüpft waren , sehen wir in den
Thatsachen , dass Wohlstand und Vermehrung als Belohnungen
der Folgsamkeit versprochen wurden , während solchem nicht
ethischen Ungehorsam wie dem Unterlassen der Beschneidung
oder der Volkszählung Strafe angedroht wurde.
Dass die Befolgung der Vorschriften ebenso wie das Opfer
bringen und das Singen von Lobliedern in Ansehung dessen
geübt wurde , dass als Gegengabe für Unterwürfigkeit Wohl
thaten empfangen würden, zeigen uns andere alte Völker. Hier
folgen erläuternde Stellen aus dem Rig - Veda :
§. 112. Die Verwirrung des ethischen Denkens . 321

„ Die nichtopfernden Sanakas kamen um. Im Kampfe mit den


Opferern flohen , o Indra , die Nicht-Opferer mit abgewendetem Ant
litz. " I. 33 , 4-5.
Die Menschen bekämpfen den Feind und versuchen durch ihre
Thaten den zu überwinden, der keine Opfer bringt. " VI. 14, 3.
„ Mag alles übrige Volk um uns herum in Nichts vergehen,
unsere eigenen Nachkommen aber in dieser Welt gesegnet bleiben . “
X. 81. 7.
„ Wir , die wir Pferde , Beute , Frauen wünschen • Indra,
Starker, der uns Frauen giebt. " IV. 17 , 16 .

Eine gleiche Erwartung eines Austausches von Verbind


lichkeiten zeigt sich bei den Ägyptern, wenn Ramses, den Ammon
um Hülfe anrufend , ihn an die Hekatomben von Stieren erinnert,
die er ihm geopfert hat. Und Ähnliches bietet sich bei den
früheren Griechen dar , wenn Chryses im Gebete um Rache die
Ansprüche an Apollo betont , welche er durch Ausschmückung
seines Tempels begründet hat. Offenbar wird das Gute und
das Übel , welches von befohlenen und verbotenen Handlungen
herrührt , als direct von Gott verursacht angesehen und nicht
indirect als eine Folge der Einrichtung der Dinge.
Dass gleiche Vorstellungen während des ganzen Mittelalters
in Europa herrschten , weiss Jedermann . Dem Anrufen von
Heiligen um Hülfe im Kampfe , den Gelübden , der Jungfrau
Kapellen zu bauen , um auf diesem Wege Verbrechen gut zu
machen , und den Unternehmungen der Kreuzzüge und Pilger
fahrten als Heilsmittel lag die Idee zu Grunde, dass göttlichen
Vorschriften zu gehorchen sei , einfach deswegen, weil es gött
liche Vorschriften sind ; und die begleitende Idee war , dass
Gutes und Übles Folgen von Gottes Willen und nicht natürlich
verursachte Folgen seien. Die allgemein verbreitete Idee zeigt
sich deutlich in den Formeln der Freilassung : „Aus Furcht
vor dem Allmächtigen Gott und zum Heil meiner Seele spreche
ich Dich frei “ u. s. w. , oder „ Zur Minderung meiner Sünden “
u. s. w. Selbst jetzt noch ist in den meisten Menschen eine
verwandte Vorstellung lebendig geblieben . Es ist nicht bloss
der populäre Glaube , dass Recht und Unrecht es durch das
göttliche „ Es werde " werden , es ist auch der Glaube vieler
Theologen und Moralisten. Die bischöflichen Reden in Bezug
auf den Gesetzentwurf über die Heirath mit der Schwester der
verstorbenen Frau bekunden genügend die Haltung der ersteren ;
322 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.

und verschiedene Bücher, unter andern das des Quäker-Moralisten


JONATHAN DYMOND , bezeugen das zweite . Obgleich eine unbestimmte
Anerkennung der natürlichen Gutheissung, welche manche Hand
lungen erhalten und andere nicht erhalten , sich schon lange
weiter verbreitet hat , besteht doch noch immer der allgemeine
Glaube , dass die moralische Verpflichtung übernatürlichen Ur
sprungs ist.
§. 113 .
Verschiedene Mythologien alter Völker, ebenso wie diejenigen
einiger jetzt lebenden Wilden , beschreiben die Kämpfe ihrer
Götter : bald unter einander, bald mit fremden Feinden . Wenn
die Gottheiten der Skandinavier, der Mongolen , der Indier, der
Assyrier, der Griechen nicht sämmtlich erfolgreiche Krieger sind,
so wird doch die Obergewalt der Götter über andere Wesen,
oder eines derselben über die andern , gewöhnlich als durch
Sieg befestigt dargestellt. Selbst von der hebräischen Gottheit,
als 97 ein Mann des Kampfes " bezeichnet , wird beständig als
von dem Überwinder der Feinde gesprochen , wenn nicht per
sönlich , so doch durch Stellvertretung.
Die zu Göttern gemachten Häuptlinge, welche zu mytholo
gischen Personen werden (häufig eindringende Eroberer, wie die
ägyptischen Götter, welche nach Ägypten aus dem Lande Punt
kamen), lassen gewöhnlich im Fortgange begriffene Kriege oder
nicht ausgetragene Fehden zurück ; und Erfüllung ihrer Gebote,
oder ihrer bekannten Wünsche , zum Überwinden von Feinden
wird dann eine Pflicht. Selbst wo keine ererbten Feindselig
keiten mit umgebenden Völkerschaften vorhanden waren , ver
binden sich von dem Kriegerkönig gegebenes Beispiel und Gebot
dazu , der Ethik der Feindschaft göttliche Sanction zu geben.
Hieraus erklärt sich eine solche Thatsache wie die von dem
Fidschi-Häuptling erzählte , welcher sich in einem Zustande geistiger
Agonie befand , weil er seinem Gotte deshalb missfallen hatte,
dass er nicht genug Feinde getödtet habe. Darauf beziehen
sich solche Darstellungen , wie sie von assyrischen Königen
gegeben werden : Salmanassar II. behauptet, dass Assur stark
in ihn gedrängt sei, zu erobern und zu unterwerfen " ; Tiglath
Pileser nennt Assur und die grossen Götter als die , die ihm
befohlen hätten , seinem Reiche 72 eine erweiterte Grenze " zu
geben ; Sennaherib schildert sich selbst als das Werkzeug Assur's
§. 113. Die Verwirrung des ethischen Denkens . 323

und als von ihm im Kampfe unterstützt ; Assurbanipal als im


Dienste der Götter kämpfend , welche, wie er sagt , seine Führer
im Kriege seien. Von gleicher Bedeutung ist die Schilderung ,
welche der ägyptische König Ramses II. von seinen über
schwänglichen Heldenthaten im Felde giebt , wo er vom Geiste
seines Gott gewordenen Vaters inspiriert war . Nicht anders
verhält es sich mit den Führern von Kriegen bei den Hebräern
in Befolgung göttlicher Befehle : so wenn es heisst : „ Alle ,
die der Herr , unser Gott , vor uns vertrieben hat , (solltest Du
uns lassen einnehmen) " (Buch der Richter , XI , 24) . Und in
späteren Zeiten finden wir bei andern Völkern dieselbe Ideen
verbindung , so in dem von Attila angenommenen Namen „die
Geissel Gottes " .
Die Gutheissung von Thaten , welche durch die Kämpfe
zwischen Gesellschaften veranlasst werden . ergiebt sich , wenn
sie nicht aus diesen hervorgeht , aus socialer Nothwendigkeit .
Zwischen dem als zur Selbsterhaltung nothwendig befundenen
Betragen und dem für recht gehaltenen Betragen muss Über
einstimmung hergestellt werden . Wenn durch eine ganze Ge
meinschaft tägliche Handlungen mit Gefühlen in Widerstreit
sind, vermindern sich diese beständig zurückgedrängten Gefühle
und entgegengesetzte, beständig ermuthigte Gefühle nehmen zu ,
bis die durchschnittlichen Empfindungen sich den durchschnitt
lichen Erfordernissen angepasst haben. Was nur immer den
Feinden Nachtheil bringt , wird dann nicht bloss für gerecht
fertigt, sondern für rühmenswerth und als ein Theil der Pflicht
betrachtet . Über jede andere grosse That ruft das Tödten
Bewunderung hervor ; Niederbrennen von Wohnungen und Ver
wüsten von Land werden Sachen , deren man sich zu rühmen
hat , während der Eroberer und seine Nachfolger in Trophäen,
welche bis zu Pyramiden von Schädeln der Erschlagenen gehen ,
jenen Stolz erweisen , welcher das Bewusstsein grosser Thaten
zur Voraussetzung hat.
Diese Vorstellungen und Gefühle , in alten epischen Gedichten
und Geschichtsschilderungen sichtbar, sind während des Verlaufes
der socialen Entwicklung erkennbar geblieben und sind noch
immer erkennbar. Wenn wir , anstatt nach dem nominellen
Gesetzbuch der Menschen für Recht und Unrecht , nach ihrem
wirklichen Gesetzbuche fragen, sehen wir, dass in der Seele
324 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.

der meisten Menschen die Tugenden des Kriegers die erste Stelle
einnehmen . Über einen Officier , der in einem ungerechten
Kriege getödtet worden ist , kann man die Bemerkung hören :
„ er starb den Tod eines Ehrenmannes. " Und unter den Civilisten
ist ebenso wie unter den Soldaten die stillschweigende Billigung
der in verschiedenen Theilen der Welt vor sich gehenden
politischen Räuberei zu finden , während sich keine Proteste
erheben gegen die , euphemistisch Bestrafung " genannten Ge
metzel.
§ . 114.
Obgleich nun aber zur Vertheidigung gegen Genossenschaften
und Besiegung solcher , im wechselseitigen Verhältnis , Schaden
bringende Handlungen aller Arten nothwendig gewesen sind
und im Geiste der Menschen jene Gutheissung erlangt haben,
welche in ihrer Bezeichnung als rechter liegt , so sind doch der
artige schadenbringende Handlungen innerhalb einer jeden Ge
nossenschaft nicht nothwendig gewesen ; es sind im Gegentheile
Handlungen einer entgegengesetzten Art nothwendig gewesen.
So gewaltthätig auch häufig das Betragen der Stammesangehöri
gen zu einander sein mag , thätiges Auftreten derselben gegen
andere Stämme müsste bei Abwesenheit von etwas gegenseitigem,
aus der Erfahrung einer gewissen Freundschaftlichkeit und
Ehrlichkeit sich ergebendem Vertrauen unmöglich sein . Und da
ein Benehmen, welches ein harmonisches Zusammenwirken inner
halb des Stammes begünstigt , zu dessen Wohlstand und Wachsthum
führt, daher auch zur Besiegung anderer Stämme, so verursacht
das Überleben des Passendsten unter den Stämmen die Be
festigung eines solchen Benehmens zu einem allgemeinen Zuge.
Die Autorität der herrschenden Männer giebt der Ethik
des freundlichen Benehmens noch weitere Unterstützung . Da
die Zwietracht von den Häuptlingen als eine Quelle der Schwäche
des Stammes erkannt wird , werden Handlungen , die zu ihr
führen , von ihnen bestraft ; und wo die Vorschriften unter die
Götter versetzter Häuptlinge in Erinnerung bleiben , da tritt
eine übernatürliche Gutheissung von Handlungen ein, welche zu
Harmonie führen , und eine übernatürliche Verdammung von
Handlungen, die damit in Widerspruch stehen . Hierin liegt der
Ursprung dessen, was wir als Moralgesetzbücher unterscheiden .
Hieraus erklärt sich die Thatsache , dass in zahlreichen , von
§. 114. Die Verwirrung des ethischen Denkens . 325

verschiedenen Menschenrassen gebildeten Genossenschaften der


artige Moralgesetzbücher darin übereinstimmen , dass sie Hand
lungen verbieten , welche in auffallendem Grade antisocial sind.
Wir finden Beweise dafür, dass in dieser Weise entstehende
Moralgesetzbücher von Generation auf Generation, bald formlos ,
bald förmlich überliefert werden . So schreiben die Karru alle
ihre Gesetze und Verordnungen den ältesten vorausgehenden
Generationen zu " . Nach SCHOOLCRAFT " Wiederholen die Dakotas
die Überlieferungen ihren Familien mit Grundregeln und sagen
ihren Kindern , dass sie nach ihnen leben müssten " . Ferner
erzählt uns MORGAN , dass , wenn die Irokesen um ihre Häupt
linge , Sachems , trauern , ein hervorragender Theil des Cere
moniells in der Wiederholung ihrer alten Gesetze und Gebräuche
besteht ." Hiernach ist es offenbar , dass , da die Sachems die
herrschenden Männer waren , diese Wiederholung ihrer Vor
schriften während ihrer Trauerfeierlichkeit dem stillschweigen
den Ausdruck des Gehorsams gleichkam ; die Vorschriften wurden
zu einem ethischen Glaubensbekenntnis, das eine gewissermaassen
übernatürliche Sanction erhielt.
Die schwersten , zuerst als solche anerkannten Überschrei
tungen und ihre für ausgemacht angenommene Abscheulichkeit
werden , bei Abwesenheit eines systematisierten Gesetzbuches
des Betragens , von den frühesten Lehrern nicht besonders auf
fallend gerügt , nicht mehr als unsere eignen Priester das Un
rechtmässige von Mord und Raub besonders hervorheben. Verbote ,
welche sich auf die weniger auffallenden Abweichungen vom
gewöhnlichen Betragen beziehen, und Vorschriften, sich würdig
zu benehmen , sind äusserst häufig. Die Werke der alten Indier
bieten Erläuterungen dar ; gleichzeitig zeigen sie, wie die Reac
tion gegen den äussersten Egoismus zur Verkündigung des
äussersten Altruismus führt. So lesen wir in dem späteren Theile
des heterogen zusammengesetzten Werkes, des Mahabharata :
27 Freue Dich des Glückes Andrer,
Obgleich Du selbst unglücklich bist. Edle Menschen
Haben Freude am Glücke ihrer Nachbarn. "

Ferner heisst es in Bharavi's Kiratarjůnīya :


„Die edel Gesinnten widmen sich
Der Beförderung des Glückes
Anderer ―――― selbst derer , die ihnen Unrecht thun. "
326 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.

So lautet auch eine Stelle im Cural :


" Wohlthätigkeit auszuüben ist der ganze Zweck , Besitz zu
erlangen.
„Derjenige lebt wahrhaft, der die Pflichten der Wohlthätig
keit kennt und ausübt. Der , welcher sie nicht kennt , kann
unter die Todten gerechnet werden . "
In den chinesischen Büchern haben wir ausser den Vor
schriften der Taonisten die Moralgrundsätze des Confucius, welche
die hohe Entwicklung der Ethik der Freundlichkeit erläutern.
Bei Aufzählung der fünf Cardinaltugenden sagt Confucius :
„ An erster Stelle unter ihnen steht Menschlichkeit , das
heisst , jene allgemeine Sympathie , welche zwischen Mensch und
Mensch ohne Unterschied der Classe oder Rasse bestehen sollte.
Gerechtigkeit , welche jedem Gliede der Genossenschaft das ihm
Gebührende ohne Gunst oder Neigung giebt . "
Und ferner drückt er an einer andern Stelle in einer ver
schiedenen Form den christlichen Grundsatz aus :
„ Lass keinen Menschen gegen die , die unter ihm stehen , das
thun, was er bei denen , die über ihm stehen, missbilligt , oder denen,
die vor ihm stehen , das , was er bei denen , die hinter ihm stehen,
missbilligt , und denen , die an seiner rechten Seite sind, das , was er
bei denen, die an seiner linken Seite sind, missbilligt. "
Das sociale Leben im alten Ägypten hatte eine deutliche
Erkenntnis der wesentlichen Grundsätze des harmonischen Zu
sammenwirkens hervorgerufen. Mr. CHABAS , von RENOUF an
geführt und bestätigt, sagt :
" Keine der christlichen Tugenden ist darin vergessen : Frömmig
keit, Liebe, Sanftmuth, Selbstbeherrschung in Worten und Handlungen,
Keuschheit, Schutz der Schwachen , Wohlwollen gegen den Niedrigen,
Achtung vor den Höherstehenden , Achtung vor dem Eigenthum in
seinen minutiösesten Einzelnheiten , .. Alles ist dort ausgedrückt
und zwar in ausserordentlich guter Sprache. "
Demnach haben wir , nach KUENEN , welcher die Überein
stimmung nachweist , dieselben Grundsätze , welche von den
Hebräern angenommen worden sind und welche Moses in den
allbekannten zehn Geboten in eine bestimmte Form gebracht
hat, deren Wesenheit, in dem christlichen Grundsatz zusammen
gefasst, zusammen mit diesem, als Maassstab des Betragens bis
auf unsere jetzige Zeit dient.
Die grosse Thatsache , welche uns hier angeht , ist , dass
Genossenschaften auf die eine oder die andere Weise gewohn
heitsgemäss für sich selbst bald stillschweigend , bald in aus
§. 115. Die Verwirrung des ethischen Denkens . 327

gesprochener Weise, hier in rudimentären , dort in ausgearbeiteten


Formen , Reihen von Geboten und Verboten festgestellt haben ,
welche zu freundlichem Wesen innerhalb des Verbandes führten .
Die Entstehung derartiger Gesetzbücher und die theilweise
Anpassung an dieselben , ist nothwendig gewesen ; denn , wenn
sie nicht in irgend einem Grade anerkannt und befolgt wurden,
musste sociale Auflösung erfolgen .

§. 115.
Da die Ethik der Feindseligkeit und die Ethik des Wohl
wollens, welche nach Vorstehendem in jeder Genossenschaft im
Gefolge äusserer und innerer Verhältnisse beziehungsweise sich
bilden , gleichzeitig erhalten werden müssen , so entwickelt sich
eine Menge gänzlich unvereinbarer Empfindungen und Ideen .
Ihre einzelnen Bestandtheile können nach keinerlei Möglichkeit
zum Einklang gebracht werden , und doch müssen sie alle an
genommen und muss nach ihnen gehandelt werden . Jeder Tag
bringt Beispiele für die sich daraus ergebenden Widersprüche
und bringt auch Beispiele dafür , wie sich die Menschen damit
zufrieden geben.
Wenn nach Gebeten , in welchen um göttliche Führung
gefleht wird , nahezu alle Bischöfe einen ungerechtfertigten An
griff , wie den auf Afghanistan , billigen , geht der Vorfall ohne
irgend einen Ausdruck der Überraschung vorüber ; während
umgekehrt, wenn der Bischof von Durham den Vorsitz bei einer
Friedensversammlung übernimmt , seine Handlungsweise als be
merkenswerth besprochen wird. Wenn auf einer Diöcesan
Conferenz ein Pair (Lord CRANBROOK) gegen ein internationales
Schiedsgericht spricht und sagt , " er sei nicht ganz sicher , ob
cin Zustand des Friedens für eine Nation nicht gefährlicher
sei als Krieg", so erheben die versammelten Priester der Religion
der Liebe dagegen keinen Widerspruch ; auch erhebt sich kein
Tadel , von Seiten der Geistlichkeit oder der Laien , wenn ein
Kirchenfürst , Dr. MOORHOUSE , eine körperliche und sittliche
Disciplin , welche die Engländer zum Kriege tüchtig macht, ver
theidigt , den Wunsch ausdrückt , " sie so zu machen , dass sie
thatsächlich wie der Fuchs, wenn ihn die Hunde gefasst haben,
beissend sterben “ , und sagt, „ dies seien moralische Eigenschaften ,
welche unter unserm Volke zu ermuthigen und zu vermehren
328 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.

seien , und er glaube , dass hierzu nichts Anderes genüge , als


die Gnade Gottes , die an ihren Herzen arbeite. " Wie voll
kommen in Übereinstimmung mit dem allgemein verbreiteten
Gefühl, in einem mit christlichen Kirchen und Kapellen bedeckten
Lande, diese Ermahnung des Bischofs von Manchester ist, sehen
wir auch in solchen Thatsachen , wie, dass die Menschen eifrig
die Berichte über Fussball - Spiele lesen , bei denen im Mittel
wöchentlich ein Todesfall vorkommt , dass sie sich in Menge
dazu drängen, Zeitungen zu kaufen, welche detaillierte Berichte
über einen brutalen Preiskampf bringen, welche aber mit einigen
wenigen Zeilen die Verhandlungen eines Friedens - Congresses
abmachen, und dass sie in verschwenderischer Weise illustrierte
Blätter begünstigen , in denen die Hälfte der Holzschnitte Zer
störung von Leben oder Hülfsmittel zu solcher Zerstörung zum
Gegenstande haben.
Noch augenfälliger finden wir die Nichtübereinstimmung
zwischen der nominell angenommenen Ethik der Liebe und der
thatsächlich angenommenen Ethik der Feindschaft, wenn wir auf
das Festland kommen. In Frankreich , wie anderswo , sind die
zahlreichen, zur Verbreitung der Vorschrift , den Feinden Gutes
zu thun , angestellten Männer thatsächlich stumm in Bezug auf
diese Vorschrift und sind, anstatt zu versuchen ihre Leute dazu
zu bringen, das Schwert einzustecken , nach den Bestimmungen
dieser Leute, welchen sie Lehrer gewesen sind, selbst verbunden
während ihrer Studienzeit im Heer zu dienen . Nicht um einen
humanitären Zweck zu erfüllen , noch die Glückseligkeit der
Menschheit zu befördern , sei es in der Heimath oder im Aus
lande , ertragen die Franzosen das zermalmende Gewicht ihres
Militärbudgets , sondern um Gebiete wieder an sich zu reissen,
welche ihnen zur Strafe für ihre Streitsüchtigkeit weggenommen
worden sind. Und wie wir vor Kurzem gesehen haben , hätte
eine Sturmfluth von Enthusiasmus beinahe einen Soldaten zur
obersten Gewalt erhoben, von dem man erwartete, er würde sie.
zu einem Rachekriege führen.
Dasselbe ist auch im protestantischen Deutschland der Fall,
- dem Lande Luther's und der Lieblingsheimath der christlichen
Theologie. Bezeichnend für das Nationalgefühl war jener General
befehl an seine Soldaten , welchen der Kaiser bei Besteigung des
Thrones erliess und worin er sagt, dass „ Gottes Beschluss mich
§. 116. Die Verwirrung des ethischen Denkens . 329

an die Spitze der Armee stellt" , und an anderer Stelle seine


Unterwerfung unter „ Gottes Willen " ausdrückt, und zum Schlusse
schwört, 99 mich immer daran erinnern zu wollen, dass die Augen
meiner Vorfahren aus der andern Welt auf mich niederblicken,
und dass ich ihnen eines Tages werde Rechenschaft über den
Ruhm und die Ehre der Armee ablegen müssen . " Zu diesem
tritt noch, in Übereinstimmung mit diesem der Empfindung und
Idee nach gleich heidnischen Schwur, seine noch neuere Belobung
der die Duelle bestimmenden Ehrengerichte, eine Belobung, welcher
bald darauf die persönliche Abhaltung des Gottesdienstes an
Bord seiner Yacht folgte.
Wie absolut durch ganz Europa der Widerspruch ist zwischen
den, beziehungsweise den Forderungen inneren Wohlwollens und
äusserer Feindschaft angepassten Gesetzbüchern des Betragens ,
sehen wir in der offen zu Tage liegenden Thatsache, dass neben
mehreren hunderttausend Priestern, von denen man voraussetzt,
dass sie Vergebung für erlittenes Unrecht predigen, Armeen be
stehen, die unendlich grösser sind als irgend welche früher ge
schilderte.
§. 116 .
Aber neben den oben beschriebenen ethischen Vorstellungen,
welche auf die eine oder die andere Weise entstehen und die
eine oder die andere Sanction erhalten , hat sich langsam eine
davon verschiedene Vorstellung entwickelt ―― eine Vorstel
lung , welche gänzlich aus der Anerkennung natürlich hervor
gerufener Folgen hergeleitet wird . Dieses allmähliche Erstehen
einer utilitaren Ethik ist in der That unvermeidlich gewesen ;
denn die Gründe, welche einen lebenden, oder unter die Götter
versetzten Herrscher zu Geboten und Verboten bestimmten,
waren gewöhnlich Gründe der mehr oder weniger für Alle
sichtbaren Zweckmässigkeit. Wenn auch derartige Gebote und
Verbote , einmal ausgesprochen , hauptsächlich deshalb befolgt
worden sind , weil Gehorsam gegen die dieselben erlassende
Autorität eine Pflicht war , so ist doch in Begleitung damit
sehr allgemein die Wahrnehmung ihrer Zweckmässigkeit auf
getreten.
Selbst unter den Nicht- Civilisierten oder nur wenig Civi
lisierten finden wir einen Utilitarianismus in Entstehung begriffen.
Die Malagassen zum Beispiel haben
330 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.

"9 Gesetze gegen Ehebruch , Diebstahl und Mord ; . . . derjenige


Mensch wird auch mit Strafe belegt, welcher den Eltern eines Andern
flucht. Sie schwören nie missbräuchlich ; diese Dinge thun sie aber,
wie sie sagen , weil es schicklich und passend ist ; und wir könnten
"
nicht Einer mit dem Andern leben, wenn es nicht solche Gesetze gäbe. "
In den späteren Schriften der Hebräer sind die Anfänge
einer utilitaren Ethik erkennbar ; denn obgleich, wie BRUCH VOM
Verfasser des Buches Jesus Sirach bemerkt, 27 alle seine moralischen
Regeln und Vorschriften in echt hebräischer Weise in der Idee
von der Furcht Gottes zusammenlaufen " , so haben doch viele
seiner Vorschriften ihren Ursprung nicht in göttlichen Ermah
nungen . Wenn er den Rath giebt , nicht zu sicher zu werden,
einen guten Namen zu schätzen , im Reden vorsichtig , und im
Essen und Trinken verständig zu sein, lässt er sich offenbar von
den Resultaten der Erfahrung leiten . Ein vollständig entwickeltes
System der Zweckmässigkeitsmoral haben einige Ägypter errichtet.
Mr. POOLE schreibt :

Ptah-hotep ist ermüdet von den bereits abgenutzten gottes


dienstlichen Handlungen und anstatt der endlosen Vorschriften der
gangbaren Religion versucht er eine einfache , auf die Beobachtung
eines langen Lebens gegründete Lehre der Moral zu geben ".
Seine Sprüchwörter „ bringen die Vortheile eines tugendhaften Lebens
in der Gegenwart zur Geltung. Die Zukunft hat in seinem System
keinen Platz “ . . . . „ Diese Moralphilosophie der Weisen steht weit
über dem Todtenbuche , insofern sie alles Bedeutungslose bei Seite
lässt und nur die nothwendigen Pflichten lehrt. Sie ruht aber auf
einer Grundlage der . . . Zweckmässigkeit . Die Liebe zu Gott und
die Liebe zu den Menschen werden nicht als Ursachen der Tugend
berücksichtigt . “
Ähnlich war es bei den späteren Griechen. In den Ge
sprächen Plato's und in der Ethik des Aristoteles sehen wir die
Moralität in grossem Maasse von der Theologie getrennt und auf
eine utilitare Grundlage gestellt.
Kommen wir herab auf moderne Zeiten , so wird das Ab
weichen der Zweckmässigkeits-Ethik von der theologischen Ethik
sehr gut in PALEY erläutert, welcher in seiner officiellen Stellung
Recht und Unrecht von göttlichen Geboten , sie aber in seiner
nicht- officiellen Stellung von der Beobachtung der Folgen ab
leitete . Seit seiner Zeit hat sich die letzte dieser Ansichten
auf Kosten der ersten ausgebreitet, und von BENTHAM und MILL
sehen wir die Nützlichkeit als den einzigen Maassstab des Be
§. 117. Die Verwirrung des ethischen Denkens . 331

tragens hingestellt. Wie vollständig bei dem letzteren die Nütz


lichkeit für menschliche Wohlfahrt die oberste Gutheissung aus
machte , die angenommenen göttlichen Gebote ersetzend , sehen
wir in seiner Weigerung, ein oberstes Wesen „gut“ zu nennen,
dessen Handlungen nicht von " der höchsten menschlichen Mora
lität " gutgeheissen werden, und durch seine Angabe, dass, "7 wenn
ein solches Wesen mich zur Hölle verurtheilen kann , weil ich
es nicht so nenne, ich zur Hölle gehen will. "

§. 117.
Es muss indessen noch ein anderer Ursprung moralischer
Vorschriften, als gleichzeitig entstanden , anerkannt werden. Mit
Regeln des Benehmens in Übereinstimmung stehende Gebräuche
haben Empfindungen hervorgebracht , die solchen Regeln an
gepasst sind. Die Disciplin des gesellschaftlichen Lebens hat
bei den Menschen Vorstellungen und Gemüthsbewegungen er
zeugt , welche , ohne Rücksicht auf vermeintliche göttliche Be
fehle und ohne Rücksicht auf beobachtete Folgen, aus gewissen
Graden von Gefallen an einem die sociale Wohlfahrt begün
stigenden und von Missfallen an einem damit in Widerspruch
stehenden Betragen hervorgehen. Offenbar ist eine solche Mode
lung der menschlichen Natur durch das Überleben des Passendsten
gefördert worden, da Gruppen von Menschen, welche den socialen
.
Bedürfnissen am wenigsten angepasste Gefühle haben, bei Gleich
heit der übrigen Verhältnisse , vor Gruppen von Menschen, welche
jenen am meisten angepasste Gefühle haben , zu verschwinden
neigen müssen .
Die Wirkung in dieser Weise entstehender moralischer
Empfindungen zeigen sich bei zum Theil civilisierten Rassen.
Cook sagt :
Die Otahitier "7 haben eine Kenntnis von Recht und Unrecht
nach den blossen Vorschriften des natürlichen Gewissens ; und sie ver
urtheilen sich unwillkürlich , wenn sie Andern das thun, für was sie
Andere verurtheilen würden , wenn diese es ihnen thäten. "
Dass ferner moralische Empfindungen während der früheren
Zustände mancher civilisierten Rassen von Einfluss waren, dafür
geben alte indische Bücher den Beweis . Im Mahabharata be
klagt sich Draupadi über das harte Geschick ihres rechtschaffenen
Mannes und klagt die Gottheit der Ungerechtigkeit an ; Yud
dishthira antwortet ihr aber :
SPENCER, Principien der Ethik. I. 22
332 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.

"9 Du äusserst ungläubige Empfindungen . Ich handle nicht aus


dem Verlangen, für meine Werke Belohnung zu erlangen . Ich gebe,
was ich zu geben habe . . . . Mag mir eine Belohnung erwachsen
oder nicht , ich thue nach meinen besten Kräften , was ein Mensch
thun soll . . . . Meine Gedanken sind nur auf Pflicht gerichtet, und
dies zwar naturgemäss . Der Mensch , welcher Rechtschaffenheit zu
einer gewinnbringenden Waare macht, ist niedrig. Der Mensch, welcher
Rechtschaffenheit zu melk en sucht, erhält seinen Lohn nicht . .
Gieb keinem Zweifel über Rechtschaffenheit Raum ; wer dies thut, ist
auf dem Wege als Thier geboren worden zu sein . “
In ähnlicher Weise lesen wir in einem andern dieser alten
Bücher, dem Rámáyana :
„ Tugend ist ein Dienst , den sich der Mensch selbst schuldig
ist ; und wenn es auch keinen Himmel , noch irgend einen Gott , die
Welt zu regieren , gäbe , so wäre sie nicht weniger das bindende
Gesetz des Lebens . Es ist das Vorrecht des Menschen, das Rechte
zu kennen und ihm zu folgen . "
In gleicher Weise wird , EDKINS zu zufolge, unter den Chinesen
das Gewissen als die höchste Autorität angesehen. Er sagt :
"9 Wenn die Zeugnisse einer neuen Religion ihnen vorgelegt werden ,
vergleichen sie dieselbe sofort mit einem moralischen Maassstabe und
geben mit der äussersten Bereitwilligkeit ihre Zustimmung, wenn sie
die Prüfung besteht . Sie fragen nicht danach, ob sie göttlich, son
dern ob sie gut ist . "
An einer andern Stelle bemerkt er , dass nach dem mora
lischen Maassstabe des Confucius Sünde "2 eine Handlung ist,
welche den Menschen seiner Selbstachtung beraubt und sein Ge
fühl für Recht beleidigt " und nicht als eine Übertretung der
Gesetze Gottes betrachtet wird " .
Unter den modernen Schriftstellern , welche das Vorhanden
sein eines moralischen Sinnes behaupten und die von ihm aus
gehenden Erkenntnisse als Führer des Betragens ansehen, können
wir zwei Classen unterscheiden . Es giebt solche , welche , von
einer ähnlichen Ansicht ausgehend wie der oben angeführten des
Confucius , der Meinung sind , dass die Aussprüche des Ge
wissens autoritativ sind, ohne Rücksicht auf vorausgesetzte gött
liche Gebote, und dass sie in der That eine Probe abgeben, nach
welcher Gebote als nicht göttlich erkannt werden können , wenn
sie dieselbe nicht bestehen . Auf der andern Seite giebt es solche,
welche die Autorität des Gewissens als derjenigen nachstehend
betrachten, die die von ihnen als göttlich angenommenen Gebote
besitzen, Gebote , deren Wirkung es ist , Gehorsam gegen der
§. 118. Die Verwirrung des ethischen Denkens . 333

artige Gebote anzuregen . Die Beiden stimmen aber insofern


überein , als sie die Aussprüche des Gewissens über die Er
wägungen der Zweckmässigkeit stellen, und auch darin, insofern
sie stillschweigend das Gewissen als einen übernatürlichen Ur
sprung habend betrachten . Ferner ist noch hinzuzufügen , dass ,
während sie darin gleich sind , dass sie das moralische Gefühl
als angeboren ansehen und das gewöhnliche Dogma , die mensch
liche Natur sei überall dieselbe, annehmen , sie auch, als selbst
verständliche Folgerung , in der Voraussetzung übereinstimmen ,
das moralische Gefühl sei bei allen Menschen identisch .
Wie aber aus dem Anfange dieses Abschnittes hervorgeht,
ist es möglich, mit den Moralisten der intuitiven Schule in Bezug
auf die Existenz eines moralischen Gefühls übereinzustimmen,
andererseits von ihnen in Bezug auf seinen Ursprung abzuweichen.
In der vorausgehenden Abtheilung dieses Werkes und an andern
Orten habe ich behauptet , dass , obgleich Gefühle der angenom
menen Art bestehen , sie nicht eines übernatürlichen , sondern
eines natürlichen Ursprungs sind, dass sie, hervorgerufen durch
die Disciplin der socialen Thätigkeitsäusserungen , innerer wie
nach aussen gerichteter , nicht bei allen Menschen gleich sind ,
sondern überall mehr oder weniger im Verhältnis zu der Ver
schiedenheit der socialen Thätigkeitsäusserungen verschieden
sind , und dass sie , in Folge ihrer Entstehungsweise , eine den
Eingebungen der Nützlichkeit beigeordnete Autorität haben.

§. 118 .
Ehe weiter gegangen wird , dürfte es gut sein , diese ver
schiedenen einzeln angeführten Angaben zusammenzufassen , da
bei die Reihenfolge und den Gesichtspunkt etwas verändernd.
Überleben des Passendsten sichert es, dass die Fähigkeiten
einer jeden Art von Geschöpfen dahin streben, sich ihrer Lebens
weise anzupassen . Dasselbe muss beim Menschen der Fall sein .
Von den frühesten Zeiten an müssen Gruppen von Menschen ,
deren Gefühle und Vorstellungen mit den Bedingungen , unter
denen sie lebten , übereinstimmten , bei sonst gleichen Verhält
nissen sich weiter verbreitet und diejenigen ersetzt haben, deren
Gefühle und Vorstellungen mit ihren Lebensbedingungen nicht
übereinstimmten .
Unter Anerkennung einiger weniger Ausnahmen , welche
22*
334 Die Inductionen der Ethik. Cap. I.

specielle Umstände möglich gemacht haben , gilt es sowohl für


rohe Stämme als für civilisierte Gesellschaften , dass sie be
ständig nach aussen hin Selbst- Vertheidigung , nach innen Zu
sammenwirken auszuüben gehabt haben , - — äusseren Anta
gonismus , und innere Freundschaft . Ihre Glieder haben daher
zwei verschiedene Reihen von Empfindungen und Ideen erlangt,
diesen beiden Arten von Thätigkeitsäusserung angepasst.
Bei Gesellschaften , welche eingeborene Religionen haben,
ist der hieraus sich ergebende Conflict nicht zu Tage tretend.
Da die Gebote äussere Feinde zu zerstören und sich der Hand
lungen zu . enthalten , welche innere Misshelligkeiten erzeugen ,
entweder vom lebenden Herrscher oder von dem unter die Götter
versetzten Herrscher ausgehen , und da in beiden Fällen die
Verbindlichkeit nicht von der Wesenheit der vorgeschriebenen
Handlungen, sondern von der Nothwendigkeit des Gehorsams aus
geht, so wird , da beide die nämliche Sanction erhalten haben ,
nicht wahrgenommen , dass sie einander widersprechen . Wo
aber, wie in der ganzen christlichen Welt, die eingeborene Re
ligion, in welcher die Ethik der Feindschaft und die Ethik des
Wohlwollens mit gleichen Autoritäten neben einander bestanden ,
von einer von aussen her eindringenden Religion unterdrückt
worden ist , welche , allein auf der Ethik der Liebe bestehend,
die Ethik der Feindschaft verurtheilt, ist der innere Widerstreit
entstanden . Da internationale Gegensätze fortbestanden haben,
ist nothwendigerweise die Ethik der Feindschaft leben geblieben,
welche , in dem nominell angenommenen Glauben nicht mit ein
geschlossen, keine religiöse Gutheissung erfahren hat . Wir haben
daher die Thatsache vor uns, dass eine dünne Schicht von Christen
thum eine dicke Masse von Heidenthum überlagert. Das Christen
thum besteht auf Pflichten , welche das Heidenthum nicht als
solche anerkennt , und das Heidenthum besteht auf Pflichten,
welche das Christenthum verbietet. Die neue sich über der alten
ausbreitende Religion mit ihrem Moralsystem hat die nominelle
Ehre und man bekennt sich zu ihrer Befolgung , während das
Moralsystem der alten und unterdrückten Religion nominell ver
dächtigt, aber praktisch befolgt wird . An Beide wird geglaubt,
an die letztere aber fester als an die erstere ; und Menschen,
welche jetzt nach den Grundsätzen der einen, jetzt wieder nach
denen der andern handeln, je nach den Umständen , richten sich
§. 118. Die Verwirrung des ethischen Denkens . 335

mit ihren sich einander widersprechenden Glauben so gut ein


wie sie können, oder vielmehr, sie vermeiden es, die Widersprüche
anzuerkennen.

Hieraus entsteht die erste jener verschiedenen Verwirrungen


des ethischen Denkens. Weil der allgemeinen Ansicht nach mora
lische Vorschriften mit göttlichen Geboten identificiert werden,
so werden nur jene Vorschriften als moralisch betrachtet, welche
mit der nominell angenommenen Religion, dem Christenthum, in
Übereinstimmung sind ; während jene Vorschriften , welche der
primitiven und unterdrückten Religion angehören, für so autori
tativ sie auch betrachtet werden mögen und so eifrig ihnen
gehorcht werden mag , nicht als moralisch angesehen werden.
Es sind daher zwei Classen von Pflichten und Tugenden ent
standen, in ähnlicher Weise verurtheilt und gebilligt, von denen
aber die eine mit ethischen Vorstellungen vergesellschaftet ist,
die andere nicht: das Resultat ist, dass die Menschen ihren wirk
lichen und ihren nominellen Glauben nicht in Harmonie mit ein
ander bringen können .
Dann haben wir noch die weiteren Verwirrungen , welche
nicht aus dem Widerstreit der Gesetzbücher , sondern aus dem
Conflict der Sanctionen entstehen . Göttliche Befehle sind nicht
die Autoritäten , von denen Regeln des Betragens hergeleitet
werden, sagen die Utilitarier ; ihre Autoritäten werden vielmehr
durch die Zweckmässigkeit zur menschlichen Wohlfahrt , wie
durch Induction ermittelt wird , dargeboten . Dann haben wir,
entweder mit Anerkennung göttlicher Gebote oder ohne solche,
Schriftsteller der Schule des Moralgefühls, welche das Gewissen
zum Schiedsrichter machen, und seine Aussprüche für autoritativ
halten ohne Rücksicht auf voraus berechnete Folgen . Augen
scheinlich liegt der wesentliche Unterschied zwischen diesen
beiden Classen von Moralisten darin , dass die eine die Gefühle ,
mit denen Handlungen angesehen werden , von keinem Werthe
als Richtschnur hält , während die andere diesen Gefühlen den
obersten Werth zuerkennt.
Da der Widerstreit der Gesetzbücher und der Widerstreit
der Sanctionen ein derartiger ist, was muss unser erster Schritt
sein ? Wir müssen die wirklich vorhandenen , das Betragen be
treffenden Ideen und Gefühle, welche die Menschen hegen, los
gelöst von angenommenen Nomenclaturen und gang-und-gäben
336 Die Inductionen der Ethik. Cap. II.

Bekenntnissen betrachten . Wie nothwendig eine solche Analyse


ist, wird sich unten weiterhin zeigen , während wir sie anstellen ;
denn es wird sich offenbar ergeben , dass die Verwirrung des
ethischen Denkens selbst noch grösser ist, als wie wir es bereits
gesehen haben.

II. Capitel.

Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch?

§. 119.
Beim Lesen jenes Abschnittes des vorhergehenden Capitels,
welcher die Ethik der Feindschaft beschreibt , werden viele und
wahrscheinlich die meisten Leser einen stillschweigenden Protest
erhoben haben . Von Gefühlen und Ideen geleitet , welche von
ihrem frühesten Unterricht herrühren und welcher ihnen im
Hause und in der Kirche beständig vorgehalten worden sind,
haben sie eine beinahe unauflösliche Verbindung zwischen einer
Lehre von Recht und Unrecht im Allgemeinen und jenen be
sonderen Geboten und Verboten , die in den zehn Geboten ent
halten sind , hergestellt , welch' letztere , die Handlungen der
Menschen unter einander in einer und derselben Genossen
schaft in Betracht ziehend, von ihren gemeinsamen Handlungen
gegen Menschen fremder Genossenschaften keine Notiz nehmen.
Die Vorstellung der Ethik ist auf diese Weise darauf be
schränkt worden , was ich als die Ethik der Liebe unter
schieden habe ; und von der Ethik der Feindschaft zu sprechen ,
erscheint absurd.
Doch bringen ausser allem Zweifel die Menschen Ideen
von Recht und Unrecht in Verbindung mit dem Fortführen von
Streitigkeiten zwischen Stämmen und zwischen Nationen ; und
dies oder jenes Verhalten in der Schlacht erfährt Beifall oder
Verurtheilung nicht weniger entschieden , als dies oder jenes
Verhalten im gewöhnlichen socialen Leben . Müssen wir nun
sagen , dass es eine Art von Recht und Unrecht giebt , welche
die Ethik anerkennt , und eine andere Art von Recht und Un
recht, welche von der Ethik nicht anerkannt wird ? Und wenn
§. 119. Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 337

dies der Fall ist, unter welcher Bezeichnung sollen wir diese zweite
Art von Recht und Unrecht behandeln ? Offenbar sind die Ideen
der Menschen über das Betragen in einem so unorganisierten
Zustande , dass , während eine grosse Classe von Handlungen
eine offenkundig anerkannte Sanction erfahren hat , eine andere
grosse Classe von Handlungen eine gleich starke oder noch
stärkere Sanction besitzt, welche nicht offenkundig anerkannt ist.
Die Existenz dieser verschiedenen Arten von Sanction,
von denen die eine moralisch genannt wird , die andere nicht ,
tritt noch deutlicher hervor , wenn wir die Grundsätze des
Christenthums den Dogmen der Anhänger der Duelle gegenüber
stellen . Jahrhunderte lang hat durch ganz Europa bestanden
und besteht selbst jetzt noch durch den grösseren Theil eine
imperative „ Verpflichtung " , unter gewissen Bedingungen einen
Andern zum Zweikampfe herauszufordern , und ebenso eine
――――
imperative Verpflichtung , die Herausforderung anzunehmen ,
eine Verpflichtung , welche noch viel gebieterischer ist als die ,
eine Schuld abzutragen . Jedem der Kämpfenden gegenüber
wird das Wort „ Du musst " mit ebenso starkem Nachdruck
gebraucht , wie es gebraucht würde , wenn ihm vorgeschrieben
würde , die Wahrheit zu sagen. Die 99 Pflicht" des beleidigten
Mannes ist, seine Ehre zu vertheidigen ; und wenn er dies nicht
thut , wird sein Benehmen für so unrecht angesehen , dass er
von seinen Freunden als ein entehrter Mensch gemieden wird ,
genau so , als wenn er einen Diebstahl begangen hätte. Ausser
Frage sehen wir daher hier Ideen von Recht und Unrecht genau
so scharf ausgesprochen , mit entsprechenden Empfindungen der
Billigung und des Tadels in gleicher Stärke , wie diejenigen ,
welche sich auf das Erfüllen oder die Verletzung der Vorschriften
beziehen , welche als moralische classificiert werden . Wie nun,
können wir die letzteren in die Ethik einschliessen und die
ersteren von ihr ausschliessen ?
Die Nöthigung , die geläufige Vorstellung der Ethik be
deutend zu erweitern , ist indess noch grösser , als hier ge
zeigt worden ist . Es giebt noch andere grosse Classen von
Handlungen , die Ideen und Gefühle erregen , welche in ihrer
wesentlichsten Eigenheit von denen , auf welche der Ausdruck
ethisch hergebrachterweise beschränkt wird , nicht zu unter
scheiden sind.
338 Die Inductionen der Ethik. Cap. II.

§. 120.
Bei nicht civilisierten und halbcivilisierten Völkern sind die
durch den Brauch auferlegten Verpflichtungen peremptorisch.
Der allgemein entwickelte Glaube, dass derartige Dinge gethan
werden sollen , wird gewöhnlich nicht dadurch offenbar , dass
diejenigen, welche sich nicht fügen, von Strafe oder Tadel heim
gesucht werden , weil von einem Sich-nicht-fügen kaum gehört
wird. Wie unerträglich für die allgemeine Ansicht das Verletzen
von Gebräuchen ist, zeigt sich gelegentlich , wenn ein Herrscher
abgesetzt oder selbst getödtet wird , weil er sie vernachlässigt
hatte ein genügender Beweis dafür, dass seine Handlungsweise
für unrecht gehalten wird . Und zuweilen finden wir deutliche
Ausdrücke von moralischer Empfindung in Bezug auf Gebräuche ,
welche nichts an sich haben , was wir moralische Autorität
nennen könnten , und selbst in Bezug auf Gebräuche , welche
wir gründlich unmoralisch nennen würden .
Ich will mit einem Beispiele beginnen , welches ich an
einem andern Orte in anderm Zusammenhang angeführt habe.
_____ dem von einigen mahomedanischen Stämmen dargebotenen

Beispiele , welche das Rauchen als eines der schwersten Ver


gehen ansehen : 29 das Schändliche trinken " , wie sie es be
zeichnen. PALGRAVE erzählt , dass , während "7 einem Geschöpfe
göttliche Ehren zu erweisen " von den Wahhabees als 99 die erste
der grossen Sünden “ betrachtet wird , die zweite grosse Sünde
das Rauchen ist , eine Sünde , im Vergleiche mit welcher Mord ,
Ehebruch und falsches Zeugnis bedeutungslose Sünden sind. In
ähnlicher Weise ist bei gewissen Secten in Russland nahe bei
Sibirien das Rauchen ein von allen andern dadurch unter
schiedenes Vergehen , dass es niemals vergeben wird : „ jedes
Verbrechen kann durch Reue gesühnt werden , ausgenommen
dieses eine." In diesen Fällen ist der gegen eine von uns
für völlig harmlos gehaltene Handlung empfundene Widerwille
von derselben Art wie der gegen das abscheulichste Verbrechen
empfundene Widerwille : der einzige Unterschied ist der , dass
er noch intensiver ist .
LICHTENSTEIN erzählt uns , dass , als Mulihawang, König der
Matelhapees (einer Abtheilung der Betschuanen) hörte , es sei
den Europäern nicht erlaubt, mehr als eine Frau zu haben, „ er
§. 120. Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 339

sagte , es sei ihm vollkommen unbegreiflich , wie eine ganze


Nation sich willkürlich solch ausserordentlichen Gesetzen unter
werfen könne. “ Ähnlich war die Meinung des arabischen Scheik .
welcher ebenso wie sein Volk die Schilderung der Monogamie
in England mit Indignation aufnahm und sagte : „ die Thatsache
ist einfach unmöglich ! Wie kann ein Mann mit nur einer
Frau zufrieden sein ? " Es sind auch nicht die Männer allein ,
welche so denken . LIVINGSTONE erzählt von den Frauen der
Makololo an den Ufern des Zambesi , dass sie über die Mit
theilung , in England habe ein Mann nur eine Frau , ganz be
treten gewesen seien : nur eine zu haben , sei nicht „ achtungs
werth" . So ist es auch nach READE im äquatorialen Africa,
" Wenn ein Mann heirathet und seine Frau glaubt , dass er
noch eine andere Frau erhalten könne, so quält sie ihn , noch einmal
zu heirathen , und nennt ihn einen „ knickerigen Kerl " , wenn er ab
schlägt, es zu thun . “
Ähnlich ist das Gefühl, welches die Frauen der Araucanier
zeigen.
", Weit entfernt, darüber verstimmt zu werden oder irgend welche
Eifersucht gegen den neuen Ankömmling zu zeigen , sagte sie [ eine
der beiden Frauen ] , dass sie wünsche, ihr Mann möchte noch einmal
heirathen ; denn sie betrachtete es als eine grosse Erleichterung ,
Jemand zu haben , der sie in ihren häuslichen Pflichten und im Unter
halt ihres Mannes unterstützte . "

Kein Gedanke an Immoralität , noch viel weniger an


Criminalität , so wie wir solche mit Bigamie und Polygamie in
Verbindung bringen , regt sich hier ; wenn eine Frau ihren Mann
einen „knickerigen Kerl " nennt, wenn er nicht eine zweite Frau
nimmt , haben wir gerade im Gegentheile einen Beweis dafür,
dass Monogamie verworfen wird .
Sich auf das gegenseitige Verhältnis der Geschlechter be
ziehende Ideen , welche von unsern eigenen noch gründlicher
verschieden sind , zeigen sich an vielen Orten. Reisebeschreibungen
haben die Leser mit der Thatsache vertraut gemacht, dass bei
verschiedenen Rassen einem von einem Häuptling aufgenommenen
Reisenden eine Frau oder eine Tochter als ein zeitweiliger
Bettgenosse angeboten wird ; und die Pflicht der Gastfreund
schaft verlangt ihrer Ansicht nach dieses Anerbieten . In andern
Fällen nimmt dieses Verleihen eine etwas verschiedene Gestalt
an. Von den Chinooks lesen wir :
340 Die Inductionen der Ethik. Cap. II.

" Bei allen Stämmen wird ein Mann seine Frau oder Tochter
für einen Angelhaken oder eine Schnur Perlen verleihen . Ein An
erbieten dieser Art abzulehnen , hiesse allerdings die Reize der Dame
herabsetzen und enthält daher eine solche Beleidigung, dass , obgleich
wir gelegentlich die Indianer mit Strenge behandeln mussten , doch
Nichts beide Geschlechter so sehr reizen konnte , als unsere Weige
rung, die Gunst der Frauen anzunehmen. "
Noch schärfer ausgesprochen ist das Gefühl , wie es die
Glieder eines asiatischen Stammes darlegen, den ERMANN besuchte.
„ Die Tschucktschen bieten den Reisenden , welche sie zufällig
besuchen , ihre Frauen und auch , was wir die Ehre ihrer Töchter
nennen würden , an und empfinden das Ablehnen derartiger An
erbietungen als tödtliche Beleidigung. "
Wir sehen hier , dass Handlungen , welche unter uns zu
den grössten Schandthaten gerechnet werden würden , nicht
bloss als solche betrachtet werden , welche das Schamgefühl
nicht verletzen, sondern dass das Ablehnen , an ihnen Theil zu
nehmen, Indignation verursacht, was das Gefühl eines Unrechts
Voraussetzt.
Da es noch in einer andern Weise die Beziehungen der
Geschlechter zu einander betrifft , will ich zunächst noch einen
weiteren Contrast zwischen den bei vielen theilweise civilisierten
Völkern herrschenden Empfindungen und denen anführen, welche
sich mit dem Fortschreiten der Civilisation entwickelt haben.
Verbote von Heirathen zwischen Personen verschiedener Rang
classen , deren Verletzung in manchen Fällen die schwersten
Bestrafungen zur Folge gehabt haben , reichen in sehr frühe
Zeiten zurück. So lesen wir im Mahabharata , dass Draupadi
den ehrgeizigen Karna “ zurückweist und sagt : „ ich heirathe
nicht den niedrig Geborenen . " Wenn wir dann zu vergleichs
weise modernen Zeiten herabkommen, so finden wir die Bussen,
welche denen aufgelegt wurden , die die Gesetze gegen Mes
alliancen verletzten , so in Frankreich während der feudalen
Perioden für Edelleute, die unter ihrem Stande heiratheten sie
wurden , ebenso wie ihre Nachkommen , von den Tournieren
ausgeschlossen . Der Verurtheilung solcher Fälle , wie sie sich
vor fünf Jahrhunderten aussprach , kann aber jetzt Nichts ver
glichen werden. Wenn auch in manchen Fällen ein gewisses
Maass von Missbilligung sichtbar wird , findet sich doch in andern
Fällen Zustimmung , wie TENNYSON'S " Des Müllers Tochter “
§. 120. Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 341

und Mrs. BROWNING'S 22 Lady Geraldine's Werbung" bezeugen.


Hier sind die verschiedenen angeregten Gefühle , obgleich sie
ihrer Natur nach denen gleich sind , die wir moralisch nennen,
nicht in Beziehung weder zu vermeintlichen göttlichen Geboten
noch zu Handlungen , die gewöhnlich als moralisch oder un
moralisch bezeichnet werden.
Zu den uncivilisierten Rassen zurückkehrend , will ich die
Vorstellungen anführen , welche mit der Theilung der Arbeit
unter den Geschlechtern verknüpft sind . Betreffs verschiedener
Stämme americanischer Indianer , im Norden und Süden , lesen
wir, dass der Gebrauch, die Thätigkeit der Männer hauptsäch
lich auf den Krieg und die Jagd zu beschränken , den Frauen
alle die niedrigen und mühevollen Beschäftigungen auflegt ; und
diese Gebräuche haben gebieterische Sanction erhalten . So
sagt FALCONER von den Patagoniern :
,,So streng sind " die Frauen „ zur Erfüllung ihrer Pflicht ver
bunden, dass ihre Männer ihnen bei keiner Gelegenheit helfen können,
oder nur in der grössten Noth , ohne die grösste Schande auf sich
zu laden . "
Und diese Gebräuche werden von den Frauen selbst in
hohem Grade gebilligt ; als Zeugnis diene der folgende , die
Dakotas betreffende Auszug :
„ Es ist die grösste Beschimpfung , welche ein Mannweib dem
andern im Momente des Zankes anthun kann. 99 Schändliche Frau, "
wird sie ausrufen , „ ich habe Deinen Mann Holz in seine Wohnung
tragen sehen zum Feueranzünden . Wo war seine Frau , dass er
genöthigt war, sich selbst zum Weibe zu machen ? "

Offenbar ist diese Indignation die Begleiterscheinung eines


starken moralischen Gefühls , welches sich mit Rücksicht auf das
vorgeschriebene Betragen entwickelt hat . Wenn es aber bei
uns selbst, wie bei den Esquimaux , irgend welchen Frauen über
lassen würde , Steine [zum Hausbau] , beinahe schwer genug,
ihnen den Rücken zu brechen , zu schleppen " , während „ die
Männer mit der grössten Gefühllosigkeit zusehen und nicht einen
Finger rühren , ihnen zu helfen " , so würde moralische Miss
billigung empfunden werden Da es keine specifischen Vor
schriften, göttliche oder menschliche, giebt, welche sich auf Vor
kommnisse dieser Art beziehen , so müssen die stark mit einander
contrastierenden Gemüthsbewegungen , welche sie in uns selbst
und bei diesen uncivilisierten Völkern erregen , den Ungleich
342 Die Inductionen der Ethik. Cap. II.

heiten der Gebräuche zugeschrieben werden , ― Ungleichheiten


indessen, welche selbst wieder bezeichnend sind für angeborene
Ungleichheiten der Gemüthserregungen.
Um diese Verschiedenheiten der Gefühle, welche ihrer Natur
nach mit denen verwandt sind , die wir moralisch nennen , die
aber nicht für gewöhnlich als solche aufgezählt werden , in ver
schiedenen Formen weiter zu erläutern , will ich , ohne mich über
eine jede eingehend zu verbreiten, hier noch eine Reihe solcher
hinzufügen.
„ Die Kaffern verachten die Hottentotten , Buschmänner, Malaien
und andere farbigen Völker deshalb, weil sie nicht beschnitten sind.
Aus diesem Grunde betrachten sie sie als Knaben und werden es
ihnen nicht gestatten, in ihrer Gesellschaft zu sitzen oder mit ihnen
zu essen. 66
Ein Mayoruna , welcher getauft worden war , war in seiner
Todesstunde sehr unglücklich , . . . weil er , nun als Christ sterbend,
anstatt seinen Verwandten eine Mahlzeit zu bieten , von Würmern
gefressen werden würde. “
„ Die Bambara-Waschweiber waren vollkommen nackt , und
doch zeigten sie keine Scham , als sie von den unsere Karawane
bildenden Leuten in diesem Zustande gesehen wurden. "
Und eine ganz ähnliche Angabe macht in Bezug auf die
Wakavirondo THOMSON , welcher ihre Frauen als nichtsdesto
weniger durchaus bescheiden schildert und , dabei bemerkend,
dass " Moralität mit Kleidern nichts zu thun habe " , von diesen
Leuten sagt , dass sie die moralischsten von allen Stämmen
dieser Gegend und sie einfach Engel an Reinheit neben den
anständig gekleideten Masai sind " .
„ Ich habe gefunden, dass die verheiratheten Männer " unter den
Hassanyeh- Arabern, sagt PETHERICK, "2 sich durch irgend welche Auf
merksamkeiten gegen ihre besseren Hälften während deren freien Tage
in hohem Grade geschmeichelt fühlten . [[Ihre Ehen sind nur für drei
oder vier Tage in der Woche. ] Sie scheinen solche Aufmerksamkeiten
als Beweise dafür aufzunehmen , dass ihre Frauen anziehend sind. "
Bei den Khonds ist Treue gegen einen Mann bei einer Frau
so wenig gefordert , dass ihre gesellschaftlichen Ansprüche nicht im
mindesten in den Augen beider Geschlechter Abbruch erleiden , wenn
ihren überführten Liebhabern Bussen aufgelegt werden, während auf
der andern Seite Untreue seitens eines verheiratheten Mannes für in
hohem Grade unehrenhaft gehalten und oft durch die Entziehung
vieler gesellschaftlicher Vorrechte bestraft wird. "
Ich habe bis zuletzt zwei merkwürdige Fälle aufgehoben .
in denen Gefühle , gleich denen , welche wir als moralisch be
§. 121 . Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 343

zeichnen, in uns sehr überraschender Weise ausgedrückt werden.


Der erste betrifft die Tahitier, welche Cook beschreibt als ohne
Scham in Bezug auf Handlungen , welche bei uns ganz besonders
Scham erregen , und als Scham empfindend in Bezug auf Hand
lungen , welche bei uns kein Schamgefühl hervorrufen . Diesen
Leuten war unser Gebrauch , in Gesellschaft zu essen , ausser
ordentlich zuwider. Sie essen allein , sagen sie , weil es recht
ist. " Das andere , in gleichem Grade abnorme Beispiel ist selbst
noch erschreckender. In Vate "" wird es als ein Schimpf für die
Familie eines betagten Häuptlings angesehen , wenn er nicht
lebendig begraben wird " . Ein gleicher Gebrauch und ein den
selben begleitendes Gefühl bestand in Fidschi .
Ein Sohn sagte , als er im Begriffe war , seine Mutter lebendig
zu begraben , 39 dass es aus Liebe zu seiner Mutter sei , dass er es
thue ; dass sie in Folge dieser selben Liebe sie nun begraben würden
und dass niemand Anderes als sie selbst eine so heilige Handlung
vornehmen könnten oder sollten ! . . . sie sei ihre Mutter und sie
seien ihre Kinder, und sie sollten sie tödten . “
Es besteht nämlich der Glaube , dass die Menschen das
Leben in der andern Welt auf der Stufe beginnen , welche sie
beim Verlassen dieser Welt erreicht haben , dass also das Hinaus
schieben des Todes bis in ein hohes Alter eine spätere elende
Existenz mit sich bringt .
Wir haben hiernach überreichliche Beweise dafür, dass mit
Handlungen, welche unsere moralischen Empfindungen verletzen ,
in dem Bewusstsein anderer Rassen Gefühle und Ideen ver
gesellschaftet sind , welche dieselben nicht bloss rechtfertigen,
sondern aufnöthigen. Sie werden mit einem Gefühl von Ver
pflichtung dazu ausgeführt ; und Nichtausführung derselben , als
Verletzung der Pflicht betrachtet, bringt Verurtheilung und dar
aus sich ergebende Selbstanklage mit sich.

§. 121 .
Während des socialen Fortschritts geht überall Gebrauch
thum in Gesetz über. Praktisch gesprochen ist in unentwickelten
Genossenschaften Gebrauchthum Gesetz . „ Die alten Innuiten
handelten so und daher müssen wir , " sagen die jetzt lebenden
Innuiten (Esquimaux) ; und andere nicht civilisierte Völker drücken
in ähnlicher Weise den Zwang aus, unter dem sie sich befinden .
Auf späteren Stufen werden die Gebräuche die anerkannten
344 Die Inductionen der Ethik? Cap. II.

Grundlagen der Gesetze . Es ist richtig, dass später die Gesetz


bücher zum Theil aus vermeintlichen göttlichen Geboten gebildet
werden, so z. B. die Themistes der Griechen ; aber in Wirk
lichkeit bringen diese , vermeintlich von Jemand ausgehend , welcher
ursprünglich ein als Gott verehrter Herrscher war , gewöhnlich
bestehende Gebräuche zur Geltung. Das dritte Buch Mosis bietet
uns eine ganze Sammlung von Gebräuchen dar, von denen viele
von der Art sind, welche jetzt weder für religiös noch für mora
lisch angesehen werden würden , welche aber danach Autorität
erlangt haben. Ob sie von den nicht unterscheidbarem Vor
fahren des Stammes ererbt worden sind oder dem Willen eines
verstorbenen Königs zugeschrieben werden, die Gebräuche ver
körpern die Herrschaft der Todten über die Lebenden , wie es
auch die Gesetze thun, zu welchen sie sich erhärten.
Es ist daher natürlich , dass , wenn sich Ideen von Pflicht
und Gefühle von Verbindlichkeit an Gebräuche hängen , solche
sich auch an die daraus abgeleiteten Gesetze hängen. Die
Empfindung des „ Sollen " gelangt dazu , mit einer gesetzlichen
Vorschrift verknüpft zu werden , ebenso wie eine Vorschrift,
welche auf die allgemeine Autorität von Vorfahren oder auf die
specielle Autorität eines Gott gewordenen Vorfahren zurück
geführt werden. Und es entsteht hieraus nicht bloss das Be
wusstsein, dass Gehorsam gegen ein jedes einzelne Gesetz recht
und Ungehorsam unrecht ist, sondern es entwickelt sich schliess
lich das Bewusstsein, dass Gehorsam gegen Gesetz im Allgemeinen
recht und Ungehorsam unrecht ist. Besonders ist dies der Fall ,
wo dem lebenden Herrscher der Charakter eines Gottes oder
Halbgottes beigelegt wird. Dies beweist die folgende Angabe
in Bezug auf die alten Peruvianer :

„ Die gewöhnlichste Strafe war Tod ; denn sie sagten, dass ein
Verbrecher nicht wegen der Missethaten bestraft würde , die er be
gangen hat , sondern weil er die Gebote des Ynca verletzt habe ,
welcher als Gott verehrt wurde . "

Und dieser Vorstellung, welche uns an die in alten Zeiten


geläufigen und noch immer geläufigen religiösen Vorstellungen
erinnern, sind praktisch genommen die Vorstellungen an die Seite
zu stellen, welche noch jetzt von Juristen geäussert und von den
meisten Bürgern angenommen werden. Denn obgleich in den
jenigen Fällen , wo das Gesetz von einer Art ist , in Betreff
§ 121. Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 345

welcher die Ethik keinen bestimmten Ausspruch thun kann .


meistens ein Unterschied zwischen gesetzlicher Verpflichtung und
moralischer Verpflichtung gemacht wird , so ist doch die Ver
pflichtung zu gehorchen dahin gelangt, wenn auch nicht nominell ,
so doch praktisch , eine moralische Verpflichtung zu sein . Die
gewohnheitsgemäss gebrauchten Ausdrücke schliessen dies in
sich . Es wird für „ recht" gehalten, dem Gesetze zu gehorchen ,
und für 99 unrecht " , ihm nicht zu gehorchen. Die Befolgung und
die Nichtbefolgung bringt Billigung und Missbilligung mit sich ,
genau so , als wenn die gesetzliche Vorschrift eine moralische
Vorschrift wäre . Ein Mensch, welcher das Gesetz verletzt hat,
selbst wenn dies in Bezug auf eine Sache ohne moralische Be
deutung wäre, ―――― sagen wir, ein Haushaltungsvorstand, welcher
sich geweigert hat , seine Hausliste auszufüllen , oder ein Hau
sierer, welcher keinen Hausierschein gelöst hat , - fühlt, wenn
er vor die Obrigkeit gebracht wird , dass er nicht bloss von
dieser, sondern auch von Zuschauern als moralisch tadelnswerth
angesehen wird. Das hier wachgerufene Gefühl ist ebenso stark
wie es sein würde, wenn er für schuldig befunden worden wäre,
seine Nachbarn belästigt zu haben, - durch beständigen Lärm
oder pestilentialische Gerüche , was eigentlich sogenannte
moralische Vergehen sind. Das heisst also , das Gesetz wird
durch ein Gefühl getragen , welches von moralischem Gefühl
ununterscheidbar ist. In manchen Fällen übrigens, wo die beiden
mit einander in Widerstreit gerathen , besiegt die Empfindung ,
welche den gesetzlichen Ausspruch unterstützt, die Empfindung,
welche den moralischen Ausspruch trägt, ――― wie in dem oben
angeführten Falle des Hausierers . Seine Handlungsweise, ohne
Erlaubnisschein zu verkaufen , ist moralisch gerechtfertigt, und
ihm zu verbieten , ohne Erlaubnisschein zu verkaufen , ist mora
lisch ungerechtfertigt , - ist eine Beschränkung der ihm zukom
menden Freiheit , welche moralisch ungerechtfertigt ist. Doch
triumphiert das künstlich entstandene moralische Gefühl , welches
sich auf Grund der gesetzlichen Autorität gebildet hat , über
das natürliche moralische Gefühl , welches sich auf Grund der
rechtmässigen Freiheit entwickelt hat.
Wie machtvoll die künstliche Sanction ist, welche eine ver
fassungsmässig eingesetzte Autorität erlangt , zeigt sich sehr
auffallend in dem Gebahren der Actiengesellschaften . Wenn
346 Die Inductionen der Ethik. Cap. II.

die Directoren einer Gesellschaft , welche sich zur Ausführung


eines speciell angegebenen Unternehmens gebildet hat , be
schliessen, ihre Thätigkeit zu erweitern, so dass Unternehmungen
mit einzuschliessen sind , welche ursprünglich nicht besonders
bezeichnet sind , und selbst Unternehmungen , welche in gar
keiner Verbindung mit den ursprünglich speciell angegebenen
stehen, und wenn sie ihre Vorschläge, so zu verfahren, vor die
Actienbesitzer bringen , so wird als gültig angenommen , dass,
wenn eine Majorität (eine Zeit lang einfache Majorität , jetzt
aber Zwei- Drittel) den Vorschlägen zustimmt, die Actienbesitzer
sämmtlich durch den Beschluss gebunden sind . Sollten einige
Wenige dagegen protestieren , derartigen neuen Unternehmungen
mit überliefert zu werden , so werden sie scheel angesehen und
als unverständige Störenfriede verhöhnt : moralischer Tadel macht
sich Luft über einen solchen Widerstand gegen die leitende
Kräfte und deren Unterstützer. Nichtsdestoweniger sollte aber
der moralische Tadel umgekehrt geäussert werden . Als eine
Frage einfacher Billigkeit kann die incorporierte Gesellschaft
sich nicht mit irgend einem Geschäfte befassen, welches in der
Incorporationsurkunde nicht speciell bezeichnet oder nicht in
ihr mit begriffen war. Diejenigen , welche den ursprünglichen
Contract brechen dadurch , dass sie sich auf nicht angeführte
Geschäfte einlassen , handeln unberechtigt , während diejenigen,
welche auf dem ursprünglichen Contracte bestehen , so wenig
ihrer auch sein mögen , gerechtfertigt sind . Und doch ist die
quasi- moralische Sanction, welche sich mit den Handlungen einer
verfassungsgemäss eingesetzten Autorität verknüpft, so mächtig,
dass ihr moralisch unrechtes Verfahren für recht angesehen
wird und das Beharren auf der Achtung vor dem moralisch
rechten Verfahren für unrecht gehalten wird!

§. 122 .
Wie sind denn nun ethische Ideen und Empfindungen zu
――――――― Ja , wie sind sie in irgend einer folgerechten
definieren ?
Weise zu verstehen ? Wir wollen recapitulieren.
Durch die ganze Vergangenheit und herab bis auf die jetzige
Zeit sind bei den meisten Menschen Vorstellungen von Recht
und Unrecht direct mit vermeintlichen göttlichen Vorschriften
in Verbindung gebracht worden . Handlungen sind als gut oder
§. 122. Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 347

als schlecht bezeichnet worden , nicht wegen ihrer eigentlichen


Wesenheit , sondern wegen ihrer äusseren Beweggründe ; und
Tugend hat in Gehorsam bestanden . Unter gewissen Umständen
sehen wir, dass das Betragen für lobenswerth oder für tadelns
werth angesehen wird , je nachdem es Mitgeschöpfen Leiden ver
ursacht oder deren Tod herbeiführt oder nicht, während wir unter
andern Umständen finden , dass Lob oder Tadel ausgesprochen
wird , je nachdem das Betragen zur Wohlfahrt der Genossen
führt oder nicht führt. Ferner besteht ein Gegensatz zwischen
Hedonismus und Asceticismus : bei Manchen finden Thaten Billigung,
welche augenscheinlich zum eigenen Glücke oder zum Glücke
Anderer oder zu beiden führen , während Andere eine Lebens
weise mit Missbilligung betrachten , welche das Glück als ein
zu erreichendes Ziel betrachtet. Von jener Classe werden die
Vorstellungen von gutem und bösem Betragen , in Verbindung
mit der Liebe zu dem einen und dem Hasse zum andern , auf
ein moralisches Gefühl zurückgeführt ; die Moral wird zu einer
Frage des Gewissens und zum Gehorsam gegen dasselbe. Ent
gegengesetzter Weise wird von dieser Classe eine solche Führung
lächerlich gemacht, und die Berechnung der Folgen, ohne Rück
sicht auf ein Gefühl von Recht oder eine Theorie des Rechten,
nimmt den ganzen Umfang der Ethik ein. Ganz allgemein auf
frühen Stufen und in beträchtlichem Grade in späteren Zuständen
wird die Idee "des „ Sollen " in Verbindung gebracht mit der Über
einstimmung mit feststehenden Gebräuchen, ohne ihre wesentliche
Beschaffenheit zu berücksichtigen ; und wenn feststehende Ge
bräuche zu Gesetzen werden, gelangt die Idee des „ Sollen " dazu
mit dem Gehorsam gegen Gesetze in Verbindung gebracht zu
werden, gleichgültig, ob sie ihrem inneren Wesen nach für gut
oder ihrem inneren Wesen nach für schlecht angesehen werden.
Offenbar haben daher die Vorstellungen von Recht , Ver
bindlichkeit , Pflicht und die mit diesen Vorstellungen ver
knüpften Empfindungen einen bei weitem grösseren Umfang als
das gewöhnlich als Hauptgegenstand der Moralwissenschaft
betrachtete Betragen . An verschiedenen Orten und unter ver
schiedenen Umständen werden die ihrem Inhalte nach nämlichen
Ideen und Gefühle mit Classen von Handlungen vollständig
entgegengesetzter Arten in Verbindung gebracht , und ebenso
mit Classen von Handlungen , von denen die Moralwissenschaft,
SPENCER, Principien der Ethik. I. 23
348 Die Inductionen der Ethik. Cap. II.

wie sie gewöhnlich aufgefasst wird , keine Kenntnis nimmt. Wenn


wir daher den Gegenstand wissenschaftlich behandeln wollen , müssen
wir die Grenzen der conventionellen Ethik ausser Acht lassen und
untersuchen , was das innere Wesen der ethischen Ideen und Empfin
dungen ist.
§. 123.
Ein allen als ethisch zu bezeichnenden Empfindungen und
Ideen gemeinsamer Zug ist das Bewusstsein der Autorität.
Die Natur der Autorität ist verschieden. Es kann die eines
zum Gott gewordenen Herrschers oder die einer andern Gottheit
sein , von der vorausgesetzt wird , dass sie Gebote gebe . Es
kann die von Vorfahren sein , welche Gebräuche vererbt haben,
mit Vorschriften ihnen zu folgen oder ohne solche . Es kann
die eines lebenden Herrschers sein, welcher Gesetze macht, oder
eines militärischen Befehlshabers , welcher Befehle erlässt . Es
kann die einer gemeinsamen öffentlichen Meinung sein, entweder
durch eine Regierung oder auf eine andere Weise sich äussernd.
Es kann die einer vorgestellten Nützlichkeit sein , welche zu
befördern Jedermann verbunden ist. Oder es kann die eines
inneren als Gewissen unterschiedenen Mahners sein .
Neben das Element der Autorität, gleichzeitig vom Ver
stande anerkannt und vom Gemüthe befolgt , tritt mehr oder
weniger bestimmt das Element der Nöthigung. Das Be
wusstsein des „ Sollens " , welches die Anerkennung der Autorität
enthält , ist mit dem Bewusstsein des "" Müssens" verbunden,
welches die Anerkennung der Macht enthält. Mag es die Macht
eines Gottes, eines Königs, eines Soldatenanführers, einer Volks
regierung, eines ererbten Gebrauchthums, eines nicht organisier
ten socialen Gefühls sein, die Vorstellung von Macht ist immer
vorhanden . Selbst wenn die Vorschrift die eines inneren Mahners
ist, fehlt die Vorstellung einer Macht nicht , da die Erwartung
der Busse eigener Vorwürfe , welche Ungehorsam mit sich bringen
.
dürfte , in unbestimmter Weise als zwingend anerkannt wird.
Ein weiterer Bestandtheil des ethischen Bewusstseins, und
häufig der grösste, ist die bekannt gewordene Meinung anderer
Individuen , welche gleichfalls in einem gewissen Sinne eine
Autorität bilden und eine Nöthigung ausüben. Diese dient ge
meiniglich mehr als irgend etwas Anderes dazu , abzuhalten oder
anzutreiben , mag sie nun entweder thatsächlich im Benehmen
§. 123. Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 349

Anderer ausgedrückt sein oder mag an sie , wenn die Andern


nicht gegenwärtig sind , nur gedacht werden . Ein wie grosser
Bestandtheil dies ist , sehen wir an einem Kinde, welches, wenn
es unrechterweise in den Verdacht eines Vergehens kommt,
ebenso stark erröthet , als wenn der Verdacht gerechtfertigt
war ; und wahrscheinlich haben die Meisten dafür schon Beweise
erhalten , dass im Falle der Schuldlosigkeit das durch die er
fahrene Missbilligung Anderer erzeugte Gefühl kaum von dem
Gefühle unterschieden werden kann, welches im Falle der Schuld
durch eine derartige Missbilligung erzeugt wird. Dass der Ge
danke an die öffentliche Meinung das hauptsächliche Element des
Bewusstseins in Fällen ist , in denen die zugeschriebenen oder
begangenen Handlungen ihrem inneren Wesen nach unrecht sind,
zeigt sich , wenn sich diese in Gedanken vorgestellte oder aus
gedrückte Meinung sich auf Handlungen bezieht , welche ihrem
inneren Wesen nach nicht unrecht sind . Die Erregung von Scham,
welche gewöhnlich irgend eine grobe Verletzung einer social- con
ventionellen Sitte begleitet, mag diese moralisch gleichgültig oder
selbst moralisch lobenswerth sein (so z . B. das Nach- Hause- rollen
des Standfasses eines gelähmten Hökers), kann völlig ebenso stark
sein wie die Erregung von Scham, welche der Veröffentlichung
einer überführterweise ungerechtfertigten Schmähschrift folgt,
einer ihrem inneren Wesen unrechten Handlung . Bei der Mehr
zahl der Menschen wird das Gefühl des „ Nicht sollen " im
ersten Falle peremptorischer sein als im letzten.
Wenn wir nun die Sache , abgesehen von hergebrachten
Classificationen , ansehen, so finden wir, dass, wo das Bewusstsein
von Autorität , von Nöthigung und von öffentlicher Meinung , in
verschiedenen Verhältnissen mit einander verbunden , in eine
Idee und ein Gefühl von Verpflichtung ausgeht , wir diese als
ethisch bezeichnen müssen , ohne Rücksicht auf die Art von
Handlung , auf die sie sich beziehen. Wenn die verbundenen
Vorstellungen von Recht ähnlich sind und wenn die antreibenden
Erregungen ähnlich sind , so müssen wir auch die geistigen
Zustände als von derselben Natur ansehen, auch wenn sie wegen
einander radical entgegengesetzter Handlungen aufgetreten sind .
Oder wir wollen vielmehr sagen , dass wir sie , mit Ausnahme
einer beiläufig berührten Idee und Empfindung , als einen Kreis
von Gedanken und Gefühlen bildend aufstellen müssen, welcher
23*
350 Die Inductionen der Ethik. Cap. II.

pro -ethisch genannt werden kann, und welcher bei der grossen
Menge der Menschen die Stelle der eigentlich sogenannten Ethik
einnimmt.
§. 124.
Denn wir müssen beachten, dass die eigentlich so genannte
ethische Empfindung und ethische Idee von den oben als von
äusseren Autoritäten , und von Nöthigungen und Billigungen,
religiösen , politischen oder socialen ――――――― ausgehenden Ideen und
Empfindungen unabhängig sind . Das wahre moralische Bewusst
sein, welches wir Gewissen nennen, bezieht sich nicht auf jene
äusserlichen Folgen des Betragens , welche die Gestalt von Lob
oder Tadel , von Belohnung oder Bestrafung , äusserlich zuge
sprochen, annehmen ; es bezieht sich vielmehr auf die innerlichen
Resultate des Betragens, zum Theil und von Manchen intellectuell
wahrgenommen , hauptsächlich und von den Meisten intuitiv
gefühlt. Das eigentliche moralische Bewusstsein betrachtet die
Verbindlichkeiten nicht als von einer äusseren Macht auferlegt ;
auch beschäftigt es sich nicht hauptsächlich mit dem Abschätzen
der Grade von Vergnügen und Schmerz, welche gegebene Hand
lungen hervorrufen könnten , obgleich diese deutlich oder un
deutlich wahrgenommen werden können , sondern es beschäftigt
sich hauptsächlich mit der Anerkennung und der Berücksichtigung
derjenigen Bedingungen , durch deren Erfüllung Glückselig
keit erreicht und Elend vermieden wird. Die in Bezug auf
diese Bedingungen auftretende Empfindung steht oft in Harmonie
mit der pro-ethischen Empfindung, deren Bildung oben beschrieben
wurde , freilich auch von Zeit zu Zeit in Widerstreit mit ihr ;
mag sie aber mit ihr in Übereinstimmung oder Widerstreit sich
befinden, sie wird unbestimmt oder bestimmt als der rechtmässige
Führer erkannt ; sie entspricht eben thatsächlich Folgen, welche
nicht künstlich und wechselnd, sondern Folgen, welche natürlich
und dauernd sind .
Es muss bemerkt werden , dass neben der festgestellten
Oberherrschaft dieses eigentlichen ethischen Gefühls, das Gefühl
der Verpflichtung, obschon fortdauernd im Hintergrunde des Be
wusstseins existierend , aufhört den Vordergrund einzunehmen,
denn die rechten Handlungen werden gewöhnlich aus freien
Stücken oder aus Neigung ausgeführt. Obgleich nun , solange
die moralische Natur unvollkommen entwickelt ist , häufig ein
§. 124 . Welche Ideen und Empfindungen sind ethisch ? 351

dem ethischen Empfinden gemässes , unter dem Gefühl eines von


ihm ausgehenden Zwanges erfolgendes Handeln eintritt, und ob
gleich in andern Fällen eine Nichtbefolgung desselben eine Quelle
späterer eigener Vorwürfe sein kann (so beispielsweise das Er
innern an einen unterlassenen Dank , welches eine Quelle für
Schmerz werden kann , ohne dass damit ein Gedanke an eine
äussere Busse damit verbunden wäre) , so wird doch bei einer
vollkommen abgewogenen moralischen Natur keines dieser Ge
fühle entstehen, weil das, was gethan worden ist, in Befriedigung
des angemessenen Wunsches gethan worden ist.
Und nun , nachdem wir wesentlich zum Zwecke , die Dar
stellung vollständig zu machen , die eigentliche moralische Em
pfindung betrachtet haben , als von der pro- ethischen Empfindung
unterschieden , können wir sie praktisch für jetzt aus unsern
Gedanken entlassen und nur die Erscheinungen in Betracht
nehmen , welche die pro- ethische Empfindung unter ihren ver
schiedenartigen Gestalten darbietet. Denn im Verlaufe aller
übrigen Capitel dieser Abtheilung , welche inductiv von den von
der Menschheit im Grossen und Ganzen dargebotenen Ideen und
Gefühlen handelt , werden wir beinahe ausschliesslich mit der
pro-ethischen Empfindung zu thun haben : das eigentliche mora
lische Gefühl ist in der grossen Mehrzahl der Fälle kaum er
kennbar.
Ehe ich an die eben angedeutete Aufgabe herantrete, muss
ich sagen , dass sich auf den nun unmittelbar folgenden Seiten
Vieles finden wird, was an Wiederholung streift, - nicht Wieder
holung , soweit die mitgetheilten Beweise in Betracht kommen,
sondern in sofern die Hauptideen betrachtet werden. In der
vorläufigen Erörterung, welcher dieses Capitel und das vorher
gehende gewidmet waren, ist es nothwendig gewesen , in Kürze
einige der leitenden Vorstellungen anzuführen , welche ein all
gemeiner Überblick der Erscheinungen anregt. Diese Vor
stellungen sind nun ausführlich , in Verbindung mit der Masse
von Thatsachen, welche sie hervorrufen, zu entwickeln . Während
es aber wohl angebracht zu sein scheint, von vornherein wegen
des Wiederzurückkommens, in ausgearbeiteter Form, auf Ideen,
welche schon in kleinerem Raum ausgesprochen worden sind,
um Entschuldigung zu bitten, so bedaure ich doch nicht durch
aus , dass ich die Ideen auszuarbeiten habe ; denn es wird
352 Die Inductionen der Ethik. Cap. III.

mir dadurch Gelegenheit geboten, Schlussfolgerungen nachdrück


lich hervorzuheben , bei denen man sich kaum zu lange auf
halten kann.

III. Capitel.

Angriff.

§. 125.
Unter dieser Überschrift, in ihrer weitesten Bedeutung ge
nommen , können vielerlei Arten von Handlungen umfasst werden,
- so vielerlei und so verschiedenartige, dass sie nicht in einem
Capitel behandelt werden können . Ich beabsichtige hier die An
wendung der Überschrift auf Handlungen zu beschränken , welche
Andern körperlichen Schaden zufügen, bis zur Tödtung oder Ver
wundung derselben, - Handlungen der Art , welche wir ver
derblich, destructiv, nennen.
Selbst von diesen Handlungen , welche wir als vollständig
oder theilweise menschentödtend betrachten können , giebt es
mehrere Arten , welche nicht unter Angriff in der gewöhnlichen
Bedeutung verstanden werden können . Ich meine diejenigen,
welche keinen Antagonismus oder Streit zur Voraussetzung haben.
Die erste von ihnen anzuführende ist Kindesmord . Weit
entfernt davon als Verbrechen betrachtet zu werden , wurde
Kindestödtung in frühen Zeiten in der ganzen Welt , und wird
in verschiedenen Theilen der Welt noch immer, nicht einmal als
Vergehen betrachtet : gelegentlich galt und gilt sie geradezu als
Pflicht. Wir haben jene Kindestödtung , welche durch das Be
streben eingegeben wird , das Leben der Erwachsenen zu er
halten ; denn bei einem Stamme , welcher sich beständig an der
Grenze des Verhungerns befindet, kann die Zunahme seiner Zahl
um Einige sich für Andere als verhängnisvoll ergeben . Weibliche
Kindestödtung wird ferner häufig durch den Gedanken an die
Wohlfahrt des Stammes veranlasst : die hergebrachte Stammes
klugheit ist , Mädchen zu tödten , welche , während sie für die
Aufgaben des Krieges und der Jagd von keinem Nutzen sind ,
wenn in Überzahl, die Nahrungsvorräthe in nachtheiliger Weise
§. 125. Angriff. 353

in Anspruch nehmen . Ferner finden wir , dass Kindesmord in


einem leidenschaftlichen Anfall begangen wird . Unter Wilden ,
und selbst unter den halbcivilisierten wird dies als eine be
deutungslose Sache angesehen : denn die Gewalt über Leben und
Tod der Kinder wird in frühen Zeiten als ausgemacht betrachtet.
Dann haben wir noch das Opfern von Kindern , um menschen
fressende Häuptlinge , lebende oder todte , zu besänftigen. Als
Verpflichtung betrachtet kann dies als durch eine pro- ethische
Empfindung angeregt aufgefasst werden.
Wenden wir uns zu den social sanctionierten Tödtungen ,
deren Opfer Erwachsene sind , so mögen zuerst diejenigen an
geführt werden, welche an vielen Orten bei Leichenbestattungen
vorkommen , so z. B. bis in die neueren Zeiten die indischen
Witwenverbrennungen. Nach einem viel grösseren Maassstabe
finden die Menschenopfer bei den Leichenbegängnissen von Häupt
lingen und Königen statt. Das Tödten von Frauen, um ihre ver
storbenen Männer in die andere Welt zu begleiten , und das
Tödten des männlichen Gefolges (zuweilen auch das von Freunden) ,
um jenen in der andern Welt zu dienen , sind Formen von Metzelei
im Grossen , welche in vielen Ländern vorgekommen sind und
noch immer in Theilen von Africa vorkommen . Und diesen
können derartige Metzeleien an die Seite gestellt werden , wie
sie in Dahomey häufig sind , wo ein Mensch getödtet wird , da
mit sein Geist eine Botschaft des Königs seinen verstorbenen
Vorfahren überbringe. Auch Menschentödtung dieser Classe
haben eine Art pro- ethischer Gewähr ; denn sie werden ver
anlasst durch die Ehrfurcht vor dem Gebrauchthum und die Ver
bindlichkeit zum Gehorsam.
Endlich haben wir die Menschentödtungen, welche durch , als
religiös aufgefasste Glaubenssätze veranlasst werden. Opferungen
von Menschen den Gottheiten dargebracht , sei es , dass diesen
Cannibalismus zugeschrieben wurde oder nicht , haben in frühen
Zeiten sehr verbreitet bei verschiedenen Rassen geherrscht,
――――― bei Phöniciern, Skythen , Griechen , Römern , Assyriern, He
bräern u. s. W. , an einigen Orten zu grossen Extremen ge
führt , so im alten Mexico , wo jährlich Tausende von mensch
lichen Opfern auf Altären geschlachtet wurden und wo Kriege
geführt wurden unter dem Vorwande , dass die Götter hungrig
wären . Und diesen religiösen Menschentödtungen , welche auf
354 Die Inductionen der Ethik. Cap. III.

früheren Stufen den vermeintlichen Gelüsten der Götter dar


gebracht wurden, müssen die religiösen Menschentödtungen an
gereiht werden, welche in vergleichsweise neueren Zeiten , ebenso
bei Katholiken wie bei Protestanten, begangen wurden, um den
vermeintlichen Zorn ihres Gottes gegen Ungläubige zu besänftigen .
Nach jener Theorie, welche die Rechtmässigkeit der Hand
lungen als durch die Erfüllung göttlicher Vorschriften begründet
betrachtet, waren diese religiösen Menschentödtungen, gemeinsam
mit mehreren der oben beschriebenen, durch eines jener Motive
angeregt, welche wir als pro -ethisch anführen.

§. 126.
Von diesen Arten des Angriffs , die Form der Menschen
tödtung annehmend , welche keine Folgen persönlichen oder
Stammes-Antagonismus sind , wollen wir zu denen übergehen .
deren Ursache Blutdurst ist , mit oder ohne eine zwischen Per
sonen oder Stämmen bestehenden Feindschaft .
Ich will mit einem Beispiele anfangen , welches ich schon
an anderer Stelle angeführt habe, - das der Fidschi-Insulaner,
bei welchen Mord für ehrenhaft gehalten wurde . Glaubwürdig
keit dieser Angabe, welche man sonst zu bezweifeln geneigt sein
könnte , wird durch das Bekanntwerden ganz ähnlicher , andere
Völker betreffender Angabe gewährleistet. LIVINGSTONE er
zählt , dass :
ein Buschmann „beim Feuer sass und seine früher erlebten
Abenteuer erzählte : unter diesen war die Tödtung fünf anderer Busch
männer. Zwei , ' sagte er, sie an seinen Fingern herzählend ,, waren
Frauen, einer ein Mann und die beiden andern Kälber.' -- Was für
ein Schurke bist Du , Dich des Tödtens von Frauen und Kindern
Deiner eigenen Nation zu rühmen ! Was wird Gott sagen, wenn Du
vor ihm erscheinst ?' ―――― ,Er wird sagen, ' entgegnete er, ,dass ich ein
sehr geschickter Kerl war ' . . . . Ich entdeckte , dass er, obgleich er
das Wort gebrauchte, welches bei den Bakwains beim Sprechen von
der Gottheit benutzt wird, nur die Idee eines Häuptlings damit ver
band und dass er die ganze Zeit Sekomi meinte. "
Noch erschreckender ist der Zustand der Dinge und die
Art des Empfindens , wie sie von WILSON und FELKIN in ihrer
Schilderung von Uganda beschrieben werden. Hier ist ein er
läuternder Vorfall.
17 Ein junger Page Mtesa's [des Königs von Uganda] , Sohn eines
untergeordneten Häuptlings , wurde oft dazu verwandt , mir Botschaften
§. 127. Angriff. 355

vom Palaste zu bringen ; eines Tages kam er in mein Haus herunter


und theilte mir mit grosser Freude mit, dass er soeben seinen Vater
getödtet habe. Ich forschte nach, warum er das gethan habe, worauf
er mir sagte, er sei müde gewesen, nur ein Diener zu sein und habe
gewünscht , ein Häuptling zu werden , und habe dies Mtesa gesagt ;
hierauf habe Mtesa erwidert : , 0 , tödte Deinen Vater und Du wirst ein
Häuptling werden ' ; und das hat nun der Junge gethan . "
Dass es unter Völkern , welche ein Leben voller Angriffe
führen , eine Tugend ist , ein Zerstörer , und ein Laster , fried
fertig zu sein, beweisen mancherlei Fälle .
„ Der Name Harami', Brigant , ist noch immer bei den Hejazi
Beduinen ehrenvoll . . . Andererseits wird derjenige , der , wie wir
sagen würden , so glücklich ist , in seinem Bette zu sterben , , fatis ‘
(Aas, das corps crévé der Klephten) genannt ; seine weinende Mutter
wird ausrufen : , 0 , dass mein Sohn doch von einem Halsabschneider
umgebracht wäre !' und die ihr aufwartenden alten Weiber werden
ehrerbietigst die Vermuthung äussern, dass ein solches Unglück vom
Willen Allah's ausgienge. "
Wie fest der Glaube an die Tugendhaftigkeit der Menschen
tödtung werden kann , zeigt sich deutlich bei den Kukis , deren
Paradies „ das Erbe des Mannes ist , welcher in seinem Leben
die grösste Anzahl von seinen Feinden getödtet hat, da ihm die
von ihm getödteten Leute als seine Sklaven aufwarten . "
Mit dieser vermeintlichen göttlichen Gutheissung der Men
schentödtung können wir sich in andern Fällen äussernde sociale
Gutheissung in Verbindung bringen. Unter den Pathans, einem
der Stämme an der Nordwestgrenze des Pendschab, 27 findet sich
kaum ein Mann, dessen Hände rein von Blut sind “ und „ Jeder
mann zählt seine Morde auf" . Dass unter wilden socialen Zu
ständen eine Empfindung dieser Art leicht entsteht, hat sich in
Californien während der Goldperiode gezeigt . Mörder „ bezeich
neten die Zahl ihrer Opfer beständig durch Kerben an den sauber
gehaltenen Griffen ihrer Pistolen oder Messer " .

§. 127.
Wenn wir uns von dem stillschweigend angenommenen oder
ausgesprochenen Glauben an die Ehrenhaftigkeit privaten Men
schenmordes , wofür noch jetzt lebende Wilde Beweise liefern ,
zu dem Glauben an das Ehrenhafte jener öffentlichen und im
Grossen stattfindenden Menschenmorde wenden , zu welchen wirk
liches oder angeblich zugefügtes Unrecht zwischen Stämmen oder
356 Die Inductionen der Ethik. Cap. III.

zwischen Nationen Veranlassung geben , so bieten alle Berichte


von barbarischen und halbcivilisierten Völkern äusserst zahlreiche
Belege dar.
Unter den Göttern der ältesten Indier wird im Rig- Veda
Indra als der verwüstende Krieger gepriesen , und auch Agni
„ war geboren als der Todtschläger der Feinde “ und „der Zer
störer der Städte " . Ihren Göttern nacheifernd rühmen sich die
Krieger des Rig- Veda und des Mahabharata ihrer Waffenthaten.
Indra mit reichlichen Libationen geneigt machend fleht der Held :
"" Lass uns am Reichthum dessen Antheil haben , den Du er
schlagen hast ; bringe uns zu dem Hausstand dessen, der schwer
zu besiegen ist. " Und dann mögen mit derartigen , kriegerischen
Völkern gemeinsamen Gebeten Stellen aus dem Mahabharata zu
sammengehalten werden , welche Scheusslichkeiten empfehlen .
" Lass einen Menschen aus irgend einem wirklichen Grunde seinem
Feinde Vertrauen einflössen und dann schlage ihn zur rechten Zeit
nieder, wenn sein Fuss ein wenig ausgeglitten ist . "
„ Ohne in das Mark des Feindes zu schneiden, ohne etwas Fürchter
liches zu thun, ohne niederzuschlagen gleich einem Tödter von Fischen,
erreicht ein Mann keinen grossen Wohlstand . “
„ Ein Sohn , ein Bruder , ein Vater oder ein Freund , welche
Jemandes Interessen irgend ein Hindernis bereiten , sind zu tödten. “
Blicken wir nun nach diesen frühen Ariern auf einige der
frühen Semiten. Aus ihren geschichtlichen Documenten geht
hervor, dass sie in der angenommenen Preiswürdigkeit blutiger
Thaten selbst noch extremer waren . Assyrische Könige rühmen
sich auf Inschriften , in denen Metzeleien im Grossen und die
wildesten Grausamkeiten beschrieben werden . Sennaherib , der
seinen Kriegswagen "" durch tiefe Lachen von Blut " fährt , ist
stolz darauf, dass "9 dessen Räder durch anhängendes Blut und
Fleisch beschwert" waren ; Assurbanipal sagt von den Besiegten :
„ ihre Zungen riss ich aus ; " „ihre abgeschnittenen Glieder liess
ich fressen von Hunden, Bären , Adlern, Geiern, den Vögeln des
46
Himmels ; Tiglath - Pileser's Schilderung von den erschlagenen
Muskayans lautet , dass "7 ihre Leichname bedeckten die Thäler
und die Gipfel der Berge" ; auf einer Inschrift von Assur- natsir
pal kommen die Worte vor : ich bin eine Waffe , welche nicht
schont" , die empörten Edelleute habe ich geschunden und habe
mit ihrer Haut die Pyramiden bedeckt “ , „ihre jungen Männer
und Jungfrauen habe ich als ein Brandopfer verbrannt " ; und
§. 127. Angriff. 357

von seinen Feinden sagt Salmanassar II.: ?? mit ihrem Blute


habe ich die Berge wie Wolle gefärbt . " Offenbar wurde die Er
wartung gehegt , dass die Menschen späterer Zeiten diese un
barmherzigen Metzeleien bewundern würden, und dies setzt den
Glauben an ihre Rechtmässigkeit voraus ; denn wir können doch
nicht annehmen , dass sich diese assyrischen Könige absichtlich
für ewige Zeiten berüchtigt gemacht haben.
Lassen wir die Zeugnisse bei Seite, welche die Geschichte
der Ägypter , Perser , Griechen , Macedonier , Römer uns in
Menge liefern , so finden wir, dass auch die Völker des nördlichen
Europa verwandte Gedanken und Gefühle darbieten . Die Gallier
früherer Zeiten , welche mit den Köpfen ihrer Feinde an ihre
Sättel geschlungen nach Hause galoppierten , stellten dieselben
auf Pfählen aus oder verwahrten sie in Kästen . Der Angabe
Caesar's zufolge
halten es die Sueven und allgemein die Germanen 99 für ihren
grössten Ruhm . . •" dass die Ländereien im Umkreis ihrer Terri
torien in sehr grosser Ausdehnung wüst liegen. "
Und die Thatsache, dass die Normänner sich das Paradies
als einen Ort für tägliche Kämpfe vorstellten , zeigt genügend,
wie vorherrschend der Glaube an die Tugendhaftigkeit erfolg
reicher Angriffe war. Dass während der ganzen Zeiten des
Mittelalters Erfolg in Angriffen die eine Sache war, für welche
es zu leben werth war, bedarf keiner Beweise . Die Geschichte,
welche wenig mehr ist als der Newgate- Kalender der Nationen ,
da sie die politischen Räubereien und ihre Erfolge beschreibt ,
bietet Erläuterungen auf jeder Seite dar : "7 Waffen und der
Mann " liefern das ganz allgemeine Thema. Es giebt keine
bessere Art , die bis auf vergleichsweise neuere Zeiten herr
schende Empfindung nachzuweisen , als die Wahlsprüche der
Edelleute anzuführen , von denen hier einige englische folgen.
Earl of Rosslyn ――― "Kämpfe " ; Baron Hawke ― "" Triff" ; Earl
of Sefton ――― Siegen ist Leben " ; der Marquis of Devonshire -
,,Durch Gott und mein Schwert will ich herrschen " ; der Earl of
Carysfort - "" Diese Hand ist feindlich" ; Graf Magawley
„ Die rothe Hand zum Siege " ; der Herzog von Athole ――― " Vor
wärts, Fortuna , fälle die Fesseln " . Der allgemein herrschende
Geist offenbart sich gut in den Zeilen , welche den Wahlspruch
der Familie Middleton erläutern :
358 Die Inductionen der Ethik. Cap. III.

„ Mein Schwert , mein Speer , mein zottig Schild ,


Die sollen für meine Herrschaft zeugen.
Und wer meine Lanze fürchtet , muss
Unter mein zottig Schild sich beugen .
Land und Weingärten muss er entbehren,
Was Feiglinge haben, soll mir gehören. "
Da Wahlsprüche den Ausdruck der Empfindungen enthalten.
welche vor allen andern für würdig gehalten werden , und still
schweigend das Vorhandensein gleicher Empfindungen bei Andern
voraussetzen, so sprechen die angeführten für die sociale Sanction ,
welche der Angriffbereitschaft gewährt wurde ; und wir brauchen
uns nur an die religiösen Ceremonien bei der Weihe eines Ritters.
zu erinnern, um zu sehen, dass vorausgesetzt wurde , sein kämpfen
des Leben habe auch eine göttliche Sanction. Krieg , selbst
ohne Herausforderung begonnener Krieg , wurde von einem
pro-ethischen Gefühl getragen .
Es ist auch selbst jetzt nicht wesentlich anders . Dünn
verschleiert von der conventionellen Ehrfurcht vor dem im Be
kenntnis ausgesprochenen religiösen Glauben, offenbart sich be
ständig der alte Geist. Ein viel lebendigeres Gefühl, als durch
eine Hymne erregt wird , wird durch das Lied von den „ kühnen
Normannen" erregt ; und fortwährend sympathisiert das Volk
mit dem Stolze auf die Thaten "7 der Seewölfe " , welche „ die
Normandie eroberten", wie es durch die Zeile : " 0, nie vergessen
wir unsere Väter " bezeugt wird . Keine Lectüre ist volksthüm
licher als die Erzählung von Schlachten ; und der Beiname „ der
(6
Grosse wird Alexander, Karl, Peter, Friedrich , Napoleon bei
gelegt , trotz aller Scheusslichkeiten , die sie begangen haben .
Gelegentlich begegnen wir auch thatsächlich einem unverhüllten
Ausdrucke dieser Empfindung. Lord Wolseley sagt vom Soldaten :
„ Er muss des Glaubens sein , dass seine Pflichten die edelsten
sind, welche einem Menschen beschieden sein können . Er muss
gelehrt werden, alle die des bürgerlichen Lebens zu verachten " ,
eine Empfindung, welche nicht auf die „ Pflichten " des Soldaten
als eines Vertheidiger seines Vaterlandes , die er in unserer
Zeit niemals ausübt , beschränkt , sondern erweitert wird auf
seine 99 Pflichten " als Eines , der in andere Länder , besonders
diejenigen schwacher Völker, einfällt ; der Geschmack am Angriff
wandelt Niedertracht zu Adel. Wenn in dem Epos der Hindus
Indra beschrieben wird als eine Frau besiegend , so sind wir
§. 128 . Angriff. 359

erstaunt zu finden , dass ein Dichter einen Sieg , welchen wir


für so feig halten, rühmt ; und wenn wir auf den Mauern von
Karnak Ramses als einen Riesen dargestellt sehen , der ein
halbes Dutzend Zwerge bei den Haaren hält und ihnen mit
einem Schwunge seines Schwertes sämmtlich die Köpfe abschlägt,
so halten wir es für befremdend , dass es ihm eingefallen sein
kann , sich durch die Darstellung eines leichten Triumphs des
Starken über Schwache zu verherrlichen. Wenn aber mit
Präcisionsgewehren, mit Bomben, mit Raketen, mit weittragen
den Kanonen Völker , welche nur armselige Waffen haben , mit
derselben Leichtigkeit, wie wenn ein Mann ein Kind überwältigt,
besiegt werden, dann kommt der Beifall in unsern Tagesblättern ,
mit Titeln und Belohnungen für die Führer ! Die in solcher
Weise erfüllten "9 Pflichten " des Soldaten werden „ edel " genannt,
während, im Gegensatz zu ihnen besonders hervorgehoben, die
jenigen der friedfertigen Bürger verachtungswerth genannt
werden.
Es ist daher ausser Frage , dass das Gefühl , welches sich
an persönlicher Überlegenheit erfreut und , nicht erst nach einer
billigen Ursache fragend , bereit ist , unter einer von ihm willig
anerkannten Autorität sogenannte Feinde hinzuschlachten , noch
immer vorherrschend ist. Die sociale Sanction und die als
deren Folge eintretende innere Sanction , stellen ein pro- ethisches
Gefühl dar, welches bei internationalen Beziehungen das oberste
bleibt.
§. 128.
Die in Vorstehendem durch Beispiele erläuterte Ethik der
Feindseligkeit , bei manchen Stämmen von Wilden , besonders
Cannibalen, sehr wenig gemässigt, nur in einem mässigen Grade
bei allen halbcivilisierten Gesellschaften eingeschränkt und während
der Entwicklung civilisierter Gesellschaften fortdauernd vor
herrschend , ist mehr und mehr durch die Ethik der Liebe ge
mildert worden in dem Maasse , als das innere sociale Leben
die Menschen zum friedlichen Zusammenwirken erzogen hat :
die relative Wohlfahrt der Nationen ist, während sie zum Theil
durch ihre Siegesbereitschaft bestimmt wurde, allenthalben zum
Theil durch den Grad bestimmt worden , bis zu welchem im
täglichen Verkehr die Angriffbereitschaft ihrer Glieder ein
geschränkt worden ist .
360 Die Inductionen der Ethik. Cap. III.

Solche Völker , welche eine Litteratur entwickelt haben.


zeigen uns in verhältnismässig frühen Zeiten das Erwachen einer
Ethik des Wohlwollens , in einen Widerstreit zu der Ethik der
Feindseligkeit tretend. Von dem Munde der Dichter und Weisen
ausgehend, wie es die entsprechenden Ausdrücke zeigen , können
wir die damals vorherrschenden Glaubenssätze nicht abmessen,
ebensowenig wie wir die jetzt vorherrschenden Glaubenssätze
nach den . beständig von unsern Priestern ausgesprochenen
Vorschriften, den Feinden zu vergeben, bemessen können . Aber
selbst die gelegentliche Verkündigung altruistischer Empfindungen.
in alten Gesellschaften auftretend , nachdem bei ihnen lange
begründete Zustände eines relativ friedlichen Lebens bestanden
hatten , ist bezeichnend . Und es ist auch interessant zu be
obachten, wie nach der absoluten Selbstsucht der antagonistischen
Handlungsweise eine heftige Reaction zur Verkündigung absoluter
Selbstlosigkeit führte. Während so z. B. die älteren Theile
jener grossen Compilation , welche den Mahabharata bildet, ihrem
Fühlen nach blutig sind , enthalten die späteren Theile Ver
urtheilungen unnützen Kriegführens . Es wird gesagt, dass das
Kämpfen das schlechteste Mittel ist, den Sieg zu erringen , und
dass ein König seine Eroberungen ohne Kampf erweitern sollte.
Es finden sich noch viel mehr Ausdrücke der Missbilligung von
aggressiven Handlungen , wie folgender :

„ Behandle Andere so , wie Du selbst behandelt werden möchtest.


Füge Deinem Nächsten nichts zu , von dem Du später
Nicht möchtest, dass es Dein Nächster Dir zufügte.
Man gewinnt eine Regel zum Handeln , wenn man seinen Nächsten
so ansieht wie sich selbst . "

Ferner lesen wir in den Schriften eines indischen Moralisten.


deren Alter Sir WILLIAM JONES auf drei Jahrhunderte vor Christus
bestimmt , die extreme Angabe :
„ Ein guter Mensch , welcher nur daran denkt , seinem Feinde
wohlzuthun , hat kein Gefühl der Feindseligkeit gegen ihn , selbst
nicht in dem Augenblicke, wo er von ihm vernichtet wird . "
In ähnlicher Weise finden wir unter den Persern , dass
Sadi schreibt : „ Zeige Freundlichkeit selbst Deinen Feinden " ;
und ferner: „ Die Menschen von Gottes wahrem Glauben, habe
ich gehört , kränken selbst die Herzen ihrer Feinde nicht. "
Ganz gleich war bei den Chinesen die Lehre des Lao - Tsze :
§. 128. Angriff . 361

„Friede ist sein höchstes Ziel . . . derjenige , welcher Freude


an der Zerstörung menschlichen Lebens hat , ist nicht geeignet , mit
Macht in der Welt betraut zu werden . Derjenige, welcher als Werk
zeug beim Tödten vieler Menschen gedient hat , sollte an ihnen mit
bitteren Thränen vorübergehen. "

Confucius hat gesagt : „ Warum solltest Du beim Führen


Deiner Herrschaft überhaupt vom Tödten Gebrauch machen ?
Lass Deine offenbarten Wünsche auf das gerichtet sein,
was gut ist , und das Volk wird gut sein. " Mencius war der
Meinung , dass 99 derjenige , welcher kein Vergnügen am Tödten
der Menschen hat , das Reich einigen kann " ; und von den
Kriegerischen sagte er :
" Wenn Streitigkeiten über Land den Grund abgeben, aus welchem
sie kämpfen , so tödten sie Menschen , bis die Felder von ihnen an
gefüllt sind. Wenn irgend ein Streit um eine Stadt der Grund ist,
aus welchem sie kämpfen , so tödten sie Menschen, bis die Stadt von
ihnen gefüllt ist . . . . Tod ist nicht genug für ein solches Verbrechen. "
In so früher Zeit auch Mong- tse gelebt hat , so hatte er
doch höhere Empfindungen als „ die westlichen Barbaren " in der
Jetztzeit. Er würde wahrscheinlich dieselbe Charakterisierung ,
die man der Sklaverei gegeben hat , - die Summe aller Scheuss
lichkeiten " dem aggressiven Kriege gegeben haben .
In §. 573 der „ Principien der Sociologie " , wie auch in
§. 437 , sind Beispiele von verschiedenen Stämmen angeführt
worden , welche nach aussen nicht - aggressiv , auch nach innen
nicht- aggressiv sind, Stämme, bei denen gewaltthätige Ver
brechen so selten sind , dass kaum irgend eine Controle noth
wendig ist. Es mögen hier noch einige wenige weitere Beispiele
hinzugefügt werden . Da sind die Ureinwohner von Sumatra,
ein einfaches Volk , welches , von den Malayen in das Innere
gedrängt, von MARSDEN beschrieben wird als „ mild, friedfertig und
langmüthig " - das ist nicht- aggressiv. Da sind ferner die Thârus,
einen einsamen Streifen Waldes am Fusse des Himalayas bewohnend ,
der ihnen als Zufluchtsort vor Eindringlingen dient , welche als
99 eine friedfertige und gutmüthige Rasse " beschrieben werden .
Ferner haben wir besonders bedeutungsvolle Zeugnisse , welche
von verschiedenen Autoritäten über die Irokesen abgegeben
werden. In seinem Werke „ Der Bund der Irokesen " sagt MORGAN :
" Es war der Stolz der Irokesen, dass der hauptsächliche Zweck
ihrer Eidgenossenschaft der Friede war , den Geist des beständigen
362 Die Inductionen der Ethik. Cap. III.

Kriegführens zu brechen , welcher die rothe Rasse von Jahrhundert


zu Jahrhundert verwüstet hatte. "
Dann ist ein deutlicher Hinweis auf die Resultate in der
folgenden Angabe des nämlichen Schriftstellers enthalten :
" Verbrechen und Vergehen sind unter ihrem gesellschaftlichen
System so selten , dass man kaum sagen kann , die Irokesen haben
ein Strafgesetzbuch . "
Die Wahrheit indessen, welche hier besonders zu beachten
uns angeht, ist, dass während der Zustände von Feindseligkeit,
welche den Angriff zur Gewohnheit machen , dieser eine sociale
Sanction erhält , in manchen Fällen eine göttliche Sanction : in
Bezug hierauf wird eine pro- ethische Empfindung angeregt.
Umgekehrt erfährt in den oben angeführten Fällen die Neigung
zu Angriffen Missbilligung. Ein richtig sogenanntes ethisches
Gefühl ruft ein Widerstreben gegen sie hervor.
Es war auch bei den Hebräern nicht anders . Nachdem
die chronischen Streitigkeiten eines nomadischen Lebens durch
ihre Gefangenschaft ein Ende erreicht hatten und nachdem ihre
späteren Eroberungskriege in einen vergleichsweise friedlichen
Zustand ausgegangen waren, wurde der Ausdruck altruistischer
Empfindungen bemerkbar ; bis wir im dritten Buche Mosis den
oft als ausschliesslich christlich angesehenen Grundsatz auf
tauchen sehen : „ Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich
selbst", - ein Grundsatz indessen , welcher auf "" die Gemeinde
der Kinder Israels " beschränkt worden zu sein scheint . Und
dann wurde durch die Essäer , ebenso wie durch Christus und
seine Apostel die Ethik der bis zum Einschluss der Feinde er
weiterten Liebe, bis zu dem Extrem fortgeführt, dem Schlagenden
auch die andere Wange zuzuwenden .

§. 129.
Zu welcher allgemeinen Folgerung können nun diese That
sachen zusammengefasst werden ? Im Ganzen genommen zeigt
das Beweismaterial, wie sich hätte erwarten lassen, dass in dem
Verhältnisse wie feindliche Gegensätze zwischen Stämmen und
Nationen gross und beständig sind , auch die zur Ethik der
Feindschaft gehörenden Ideen und Gefühle vorherrschen ; und
da sie thatsächlich mit den zur Ethik des Wohlwollens ge
hörenden Ideen und Gefühlen in Widerstreit stehen , welche
§. 129. Angriff . 363

dem inneren Leben einer Gesellschaft eigen sind, so drängen sie


diese in grösserem oder geringerem Grade zurück und durch
dringen das Betragen des Menschen zum Menschen mit Angriffen .
Verschiedenartige Formen von Menschentödtung, wie solche
im Eingange angeführt wurden , Kindestödtung , Tödtung zum
Zwecke des Cannibalismus , Metzeleien bei Begräbnissen , den
Göttern gebrachte Opfer , ________ sind für Gesellschaften charak
teristisch, bei denen Kriege gewöhnlich sind . Jene grässlichsten
Menschenfresser , die Fidschi - Insulaner , bei denen Jedermann
sein Leben in der Hand trug, begründeten ihre tiefeingewurzelte
Streitsucht mit ihrer Vorstellung von der andern Welt, wo ihre
Götter „ Krieg führen und einander tödten und essen “ , und
solche Namen tragen wie "9 der Mörder " , „ frisch vom Nieder
schlagen oder Todtschlag " , u . s . w. , wo ein nach dem Tode
ankommender Häuptling sich rühmt, dass er „ viele Städte zer
stört und Viele im Kriege erschlagen hat" , und wo „ Männer,
die keinen Feind erschlagen haben " , „ die erniedrigendste von
allen Strafen " erdulden . Die Buschmänner , welche Stolz auf
privaten Mord zeigen, führen ihr Leben in unaufhörlichem Kampfe
mit Menschen und Thieren ringsherum, angreifend und angegriffen .
Ferner üben auch die Beduinenstämme , von denen gleichfalls
angeführt wird , dass sie jeden Tod , mit Ausnahme des im
Kampfe erlittenen , für entehrend halten , endlose Angriffe aus .
Und die Waganda , deren König seinem Pagen den , von diesem
auch freudig ausgeführten Vatermord vorschlug, sind als Soldaten
bekannt , deren " kriegerischer Charakter" ihrem ganzen Leben
und ihrer Regierung einen besondern Zug verleiht .
Wenn wir von den in diesen extremen Fällen erläuterten
Verhältnissen zu den bei sich entwickelnden Gesellschaften sich
darbietenden Verhältnissen übergehen , so sehen wir , dass mit
der Abnahme der Streitsucht nach aussen auch die Neigung zu
Angriffen nach innen abnimmt . Während der Merovingischen
Periode mit ihren chronischen Händeln in grossem und in kleinem
Maassstabe , die sich selbst bis zu Kriegen zwischen Städten
ausdehnten , zeichnete fortwährende Gewaltthätigkeit die Be
ziehungen zwischen Individuen aus ; Könige ermordeten ihre
Königinnen, königliche Väter wurden von ihren Söhnen ermordet,
Prinzen ermordeten ihre Brüder , während Blutvergiessen und
Grausamkeit überall herrschte. In der nächsten Periode waren
SPENCER, Principien der Ethik. I. 24
364 Die Inductionen der Ethik. Cap. IV.

die Siege Karls des Grossen von grossen und geringen Greuel
thaten begleitet . Er enthauptete 4000 Sachsen an einem Tage
und bestrafte die mit dem Tode, welche die Taufe verweigerten
oder während der Fasten Fleisch assen. In ähnlicher Weise
begleiteten während der feudalen Jahrhunderte beständige Kämpfe
zwischen den Edelleuten die immer wiederkehrenden internatio
nalen Händel ; die Chronisten beschreiben wenig Anderes als
Verbrechen ; und der Todtschlag von Vasallen durch Ritter
wurde als eine keinerlei Vorwürfe herausfordernde Sache über
gangen. Als aber der Verlauf der Jahrhunderte und die Be
festigung der Reiche eine Verminderung des verbreiteten Kriegs
zustandes mit sich brachte und als in Folge hiervon industrielle
Thätigkeit mit der daraus hervorgehenden inneren Zusammen
wirkung einen grösseren Raum im Leben der Menschen einnahm,
fiengen die gewissenloseren Formen der Gewaltthätigkeit an , Tadel
zu begegnen , während durch Rücksicht auf Andere ausgezeichnetem
Betragen Lob gespendet wurde. Und wenn auch neuere Zeiten
grosse Kriege gesehen haben , so sind doch , da die auf Kampf
ausgehenden Handlungen nicht so allgemein geherrscht haben
wie in früheren Zeiten, die, friedfertigen Thätigkeitsformen zu
sagenden Empfindungen nicht so ganz allgemein zurückgedrängt
worden. Übrigens hat , wie ich an einem andern Orte gezeigt
habe (Principien der Sociologie , § . 573) , die Brutalität der
Bürger unter einander von Zeit zu Zeit mit der erneuten Kampf
zeit zugenommen und mit ihrem Nachlasse wieder abgenommen ,
während Modificationen des ethischen Maassstabes damit Hand
in Hand auftraten.

IV . Capitel.

Raub .

§. 130.
Die natürliche Verwandtschaft zwischen dem sich einander
körperlichen Schaden Zufügen , theilweise oder bis zur Tödtung,
und dem Schädigen Anderer durch Besitzergreifung seines Körpers,
und seiner Arbeitskraft oder seines Besitzthums ist in die Augen
fallend. Beides , directe und indirecte Beschädigung wurden unter
§. 130. Raub . 365

dem Ausdrucke Angriff zusammengefasst, und das zweite hätte ,


ebenso gut wie das erste , ohne eine unrechtmässige Dehnung
der Worte , mit in den Bereich des letzten Capitels gebracht
werden können. Wie aber schon vorhin angedeutet, ist es mir
zweckmässiger erschienen, den Angriff, welcher beinahe immer
Blutverguss in Gefolge hatte , von dem Angriffe zu trennen ,
welcher gewöhnlich unblutig ausgeht. Hier haben wir es nun
mit diesem letzteren zu thun.
Die extremste Form dieser letzten Classe von Angriffen ist
die, welche damit endet , dass ein Mensch gefangen genommen
und zum Sklaven gemacht wird. Wenn auch mit der Einordnung
dieser Handlung unter das Capitel des Raubes diesem Namen
etwas Gewalt gethan wird , so können wir doch vernünftiger
weise sagen , dass das Hinwegnehmen eines Menschen von ihm
selbst und die Benutzung seiner Kräfte zu andern Zwecken
als seinen eigenen , Raub im höchsten Grade ist. Anstatt ihn
irgend eines Erzeugnisses früherer , freiwillig übernommener
Arbeit zu berauben , beraubt er ihn der Resultate künftiger, ge
zwungen übernommener Arbeit. Mag es nun mit Recht oder
mit Unrecht Raub genannt werden, auf alle Fälle ist es als ein
Angriff aufzufassen , wenn auch nicht so schwer wie ein Todt
schlag, so doch diesem an Schwere zunächst stehend .
Es ist unnöthig hier noch Beweise dafür beizubringen, dass
diese Art von Angriff, von sehr frühen Stufen des menschlichen
Fortschrittes an , in Begleitung der Streitsucht aufgetreten ist.
Die Besiegten aufzuessen oder sie zu Leibeigenen zu machen ,
war gewöhnlich die Alternative, wo Kämpfe zwischen Stämmen
perpetuierlich waren. Aus der beiläufigen Gefangennahme von
Feinden hat sich häufig die Absicht, Gefangene zu machen, ent
wickelt. Eine feststehende Politik hat dann Überfälle vor
geschrieben, um Arbeiter oder Opfer zu verschaffen . Aber gleich
viel ob mit oder ohne Beabsichtigung ist dieser Raub im höchsten
Grade allenthalben eine Begleiterscheinung beständigen Krieges
gewesen , konnte allerdings bis zu einer gewissen Ausdehnung
sich kaum ohne Krieg entwickelt haben.
Eine nahe damit verwandte Form von Raub ―――――――― etwas älter,
da wir sie bei rohen Stämmen finden , welche keine Sklaven
machen, ――― ist das Stehlen von Frauen . Natürlich ist mit dem

Siege über die Kämpfenden die Aneignung der ihnen gehörigen


24*
366 Die Inductionen der Ethik. Cap. IV.

Nicht-Kämpfenden einher gegangen, und Frauen sind folglich auf


allen frühen Stufen unter der Beute der Eroberer gewesen . In
Büchern, welche von primitiver Heirath handeln , wie dem von
Mr. Mc LENNAN, wird man Belege dafür finden, dass das Stehlen
von Frauen nicht selten der normale Vorgang wird, durch welchen
die Kopfzahl eines Stammes aufrecht erhalten wird . Es hat sich
als das Beste herausgestellt , die Kosten ihres Grossziehens zu
vermeiden und durch Kampf oder Diebstahl die nothwendige An
zahl von andern Stämmen zu erhalten. Da dies eine traditionelle
Politik wird, so erhält dieser Gebrauch häufig eine machtvolle
Sanction ; von Manchen wird vermuthet , dass er das Verbot
einer Heirath mit Frauen desselben Stammes veranlasst hat.
Wie sich dies aber auch verhalten mag, wir finden gewöhnlich,
dass Frauen als die werthvollste Siegesbeute angesehen werden,
und häufig werden , wenn die Männer getödtet werden , die Frauen
erhalten , um Mütter zu werden . Dies war der Fall bei den
Caraiben in den Zeiten ihres Cannibalismus ; so war es auch bei
den Hebräern, wie aus dem vierten Buche Mosis, XXXI. 17, 18
hervorgeht, wo wir lesen, dass nach einem erfolgreichen Kriege
Moses befahl , alle Frauen und „ Alles , was männlich ist unter
den Kindern zu tödten , aber die Jungfrauen zum Gebrauche
der Sieger zu bewahren (vergl. auch 5. Buch Mos . XXI).
Die hier zu beobachtende Thatsache ist nun die , dass in
Gesellschaften, welche sich noch nicht auf hohe Stufen entwickelt
haben, das ethische Gefühl, oder richtiger das pro-ethische Ge
fühl , keinen Widerspruch gegen Räubereien dieser Art erhebt,
ihnen im Gegentheil Unterstützung gewährt. Die grausame Be
handlung der Gefangenen, wie sie auf ägyptischen und assyrischen
Wandmalereien und Wandsculpturen abgebildet ist, setzt voraus,
wie es auch die Geschichtsdarstellungen berichten , dass eine
sociale Sanction für ihre spätere Knechtschaft vorhanden war.
In ähnlicher Weise finden wir in der Litteratur der Griechen
ebensowenig wie in der Litteratur der Hebräer, dass das Halten
.
von Männern als Sklaven moralische Missbilligung hervorgerufen
hätte . Dasselbe galt auch von der Gefangennahme von Frauen
und das Nehmen derselben zu Frauen oder häufiger zu Con
cubinen : dies war eher rühmlich als unrühmlich . Mit der socialen
Gutheissung des Stehlens von Frauen bei den frühen Ariern,
wie es im Mahabharata erzählt wird , verband sich auch eine
§. 131. Raub . 367

göttliche Sanction ; und offenbar hatte auch bei den Hebräern


das Wegnehmen der Jungfrauen von Jabes- Gilead zu Frauen
und das „ Stehlen der Töchter von Silo" (Buch der Richter, XXI)
eine sociale , wenn nicht eine göttliche Sanction .
Bei Gelegenheit dieses Abschnittes braucht nur noch hin
zugefügt werden , dass der moderne Fortschritt mit seiner lange
währenden Erziehung innerer Freundlichkeit, im Gegensatz zur
Übung äusserer Feindschaft , das Verschwinden dieser gröbsten
Formen von Raub im Gefolge gehabt hat. Das richtig so
genannte ethische Gefühl ist bis zu dem für ihre Unterdrückung
nothwendigen Grade entwickelt worden .

§. 131 .
Ist Erfolg im Kriege ehrenhaft, so werden auch alle damit
verbundenen Sachen und die Zeichen solchen Erfolges ehrenhaft .
Hand in Hand mit dem Zu-Sklaven-machen der Gefangenen,
wenn sie nicht gegessen werden, und der Aneignung ihrer Frauen
als Concubinen oder Frauen , geht daher das Ergreifen ihres
Besitzthumes . Eine natürliche Folge hiervon ist , dass nicht
bloss während des Krieges, sondern auch zu andern Zeiten die
Beraubung von Feinden , und , in stillschweigender Folgerung,
von Fremden, welche gewöhnlich als Feinde betrachtet werden,
von der Beraubung der Stammesgenossen unterschieden wird:
die erste wird gut genannt , selbst wenn die letzte schlecht ge
nannt wird.
Unter den Comanchen 99 wird ein junger Mann nicht für
würdig erachtet, zu der Reihe der Krieger gezählt zu werden ,
bis er nicht von irgend einem erfolgreichen Plünderungszuge
zurückgekehrt ist, . . . die grössten Diebe . . . sind die achtungs
werthesten Glieder der Gesellschaft" . Ein Patagonier wird
" ebenso gleichmässig für unfähig betrachtet , eine Frau zu er
halten, wenn er nicht in der Kunst, einen Fremden zu bestehlen ,
erfahren ist". LIVINGSTONE sagt von den Ost- Africanern :

" Bei Stämmen, welche an das Kinder- Stehlen gewöhnt sind, wird
diese Handlung nicht in der Weise , wie es Diebstahl wird , für un
moralisch angesehen . Ehe ich die Sprache hinreichend kannte , sagte
ich zu einem Häuptlinge : ,Du hast die Kinder von dem und dem ge
stohlen. , Nein , ich habe sie nicht gestohlen, ' war die Anwort ,, ich
habe sie nur ausgehoben. Das Wort ,gapa' ist mit dem Hochland
ausdruck für dieselbe That identisch . "
368 Die Inductionen der Ethik. Cap. IV.

In Betreff der Kalmücken lautet die Schilderung PALLAS'


dahin, dass sie dem Stehlen und Rauben in grossem Maasse er
geben sind, aber nicht bei Leuten ihres eigenen Stammes . Und
ATKINSON behauptet dasselbe von den Kirghisen.
„ Diebstahl dieser Art [ Stehlen von Pferden oder Kamelen von
Einem desselben Stammes ] wird bei den Kirghisen augenblicklich be
straft ; aber eine Baranta, wie das Plündern einer Stadt , ist ehren
hafte Beute."
Zweifelsohne entsteht hieraus der uns so fremdartig er
scheinende Contrast zwischen der Behandlung, welche räuberische
Stämme, wie die Beduinen , Fremden angedeihen lassen , solange
sie unter ihrem Dache sind , und der entgegengesetzten Be
handlung , welche sie jenen nach deren Abreise erweisen . AT
KINSON sagt :
„ Mein Wirth [ ein Kirghisenhäuptling] sagte, Koubaldos [ ein an
derer Kirghisenhäuptling , zu dem zu gehen ich im Begriffe war] würde
mich in seinem Aul nicht belästigen, aber seine Banden würden un
serer Spur folgen und versuchen, uns auf dem Marsche zu berauben. "
Die auffallendsten Erläuterungen der Art und Weise , wie
räuberische Stämme dazu gelangen, Diebstahl als ehrenhaft an
zusehen, finden wir vielleicht bei den Turkmenen . Von den Be
wohnern von Merw werden Raubzüge „ selbst unter den Gliedern
eines und desselben Stammes, oder wurden es noch bis vor kurzer
Zeit, nicht als Räubereien angesehen " ; die Razzias müssen aber
in einem achtungswerthen Maassstabe ausgeführt werden .
29 Es ist merkwürdig, dass , während blutiger Mord und Raub bei
den Tekke-Turkomanen als Mittel zur Existenz anerkannt wurden,
Diebstahl , in dem Sinne , einer Person Etwas zu stehlen oder einen
Gegenstand in einem Laden oder einem Bazar zu entwenden , für ver
achtungswerth gehalten wurde. "
Und später erzählt Mr. O'DONOVAN, dass, als er in der Raths
versammlung in Merw darauf gedrungen habe, die marodierenden
Züge aufhören zu lassen , ein Mitglied „ mit ärgerlicher Ver
wunderung" gefragt habe, wie sie in Allah's Namen denn leben.
sollten , wenn Razzias nicht mehr angestellt werden dürften ! "
Allen diesen Zeugnissen kann noch hinzugefügt werden , 22 dass
die Pathan- Mutter oft betet , ihr Sohn möchte ein erfolgreicher
Räuber werden " , dass der Angabe RowNEY's zufolge die Afridi
Mutter dasselbe thut , und ferner auch die Thatsache , dass bei
den Turkomanen ein berühmter Räuber ein Heiliger wird und
§. 132. Raub . 369

dass Pilgerfahrten nach seinem Grabe veranstaltet werden , um


dort zu opfern und zu beten.
Während in den meisten dieser Fälle ein bestimmter Unter
schied anerkannt wird zwischen Raub ausserhalb des Stammes
und Raub innerhalb des Stammes , wird doch in andern Fällen
das letztere ebensowohl wie das erstere nicht allein für be
rechtigt , sondern für lobenswerth gehalten . DALTON sagt von
den Kukis :
„ Die Fertigkeit , welche unter ihnen am höchsten geschätzt wird,
ist die Geschicklichkeit beim Stehlen. "
In ähnlicher Weise werden nach GILMOUR
in der Mongolei Diebe für achtungswerthe Glieder der Gesell
schaft gehalten . Solange sie ihre Sachen ordentlich anstellen und
erfolgreich sind , scheint ihnen kein oder nur geringer Tadel an
zuheften. "
Von einem andern asiatischen Stamme lesen wir :
"2, Sie [ die Angamis] sind gewandte Diebe und rühmen sich ihrer
Kunst, denn bei ihnen , wie bei den alten Spartanern , gilt der Dieb
stahl nur dann für unehrenhaft und der Bestrafung unterliegend ,
wenn er im Augenblicke seiner Ausführung entdeckt wird. "
Aus America mag der Fall von den Chinooks angeführt
werden , bei welchen „verschlagen ausgeführter Diebstahl für
ehrenhaft gilt ; sie verachten aber und bestrafen oft den un
geschickten Dieb . " In Africa bieten die Waganda , kriegerisch
und blutdürstig , ein Beispiel dar, bei denen
„ der Unterschied zwischen Mein und Dein sehr wenig bestimmt
ist ; und in der That ist jede Sünde nur relativ, das Verbrechen be
steht darin, sich haben entdecken zu lassen. "
Gehen wir dann noch nach Polynesien, so finden wir, dass
bei den Fidschis
„Erfolg, ohne entdeckt zu werden, für vollständig genügend ge
halten wird, Diebstahl tugendhaft zu machen, ebenso eine Betheiligung
an dem schlechterlangten Gewinne ehrenhaft . "
In diesen Beispielen rechtfertigt also Geschicklichkeit oder
Muth jede Verletzung der Eigenthumsrechte.

§. 132.
Bei den Rassen , welche eine Geschichte haben , geben die
historischen Zeugnisse einen Beweis dafür , dass Hand in Hand
mit einem weniger werkthätigen Leben äusserer Feindschaft und
einem werkthätigeren Leben inneren Wohlwollens eine Ver
370 Die Inductionen der Ethik. Cap. IV.

änderung in den ethischen Ideen und Empfindungen einher geht,


derjenigen verwandt , welche im letzten Capitel hervorgehoben
wurde.
Der Rig- Veda beschreibt die diebischen Handlungen der
Götter . Vishnu „ stahl das gekochte Gericht “ bei den Libationen
Indras . Als Tvashtri begann ein Soma-Opfer darzubringen zu
Ehren seines Sohnes, der von Indra erschlagen worden war und
auf Grund dieses Mords dem letzteren verweigerte, an der Cere
monie Theil zu nehmen, 99 unterbrach Indra die Feier und trank
das Soma mit Gewalt. "
Dem durch diese Beispiele erläuterten moralischen Grund
satze der Götter geht der von den Menschen empfohlene mora
lische Grundsatz parallel.

„ Selbst wenn er das Eigenthum anderer Leute begehren sollte ,


so ist er doch als ein Kshatriya verbunden, es durch die Gewalt der
Waffen zu nehmen und nicht darum zu bitten . “

Die indische Litteratur späterer Zeiten, welche die Resultate


des ruhiger gewordenen Lebens darbietet , schärft entgegen
gesetzte Grundsätze ein.
Über weitere illustrative Thatsachen , wie solche andere
historische Völker darbieten , hinweggehend , wird es genügen .
die Thatsachen zu überblicken , welche die mittelalterlichen und
neueren Geschichten darbieten . DASENT erzählt uns von den
Nordmännern , dass 99 Räuberei und Seeraub in einer im Grossen
ausgeführten offenen Weise geehrt und geachtet wurden " . Ähn
lich war es bei den alten Germanen . Wo Caesar dieselben be
schreibt, sagt er:
19 Räubereien , welche jenseits der Grenzen jedes einzelnen Staates
begangen wurden , brachten keine Schande · . . Und wenn irgend
einer ihrer Häuptlinge in einer Versammlung gesagt hat , dass er
ihr Anführer sein will, diejenigen, die ihm folgen wollen, mögen ihre
Namen nennen , ' so erheben sich die , welche die Unternehmung so
wohl als den Mann für gut halten, und versprechen ihre Unterstützung,
auch zollt das Volk ihnen Beifall ; diejenigen unter ihnen , welche
ihm nicht gefolgt sind , werden als Ausreisser und Verräther an
gesehen und in allen Angelegenheiten wird ihnen später Vertrauen
verweigert. "
Da es unmöglich ist, die Aufgabe auszuführen , durch einige
zehn Jahrhunderte die Beziehung zwischen den beständigen
Kriegen , grossen und kleinen , öffentlichen und privaten , und
§. 132 . Raub . 371

dem gegenseitigen Plündern der Leute unter einander, im Grossen


und im Einzelnen zu verfolgen, wird es genügen, einzelne Perioden
herauszugreifen . Über Frankreich in der frühen feudalen Periode
sagt STE. PALAYE :

" Unsere alten Schriftsteller klagen über Geiz, Habsucht, Betrug,


Meineid, Plündern , Diebstahl und Räuberwesen, und andere Ausschrei
tungen eines zügellosen Kriegsvolks , ebenso bar an Grundsätzen , wie
an Moral und Gefühl. "

Während des hundertjährigen Krieges war die Herrschaft


der Räuberei ganz allgemein . Bei den Edelleuten war das Be
gehren nach Beute der Beweggrund zum Kämpfen . Überall fand
Strassenräuberei in grossem Maassstabe statt , ebenso wie in
kleinem Maassstabe . Ausser der grossen Menge einzeln zerstreut
thätiger Strassenräuber gab es organisierte Vereine von Räubern,
welche ihre Festungen hatten , verschwenderisch von der Plün
derung des umliegenden Landes lebten, Kinder zu Pagendiensten
und Frauen zu Concubinen raubten und Reisenden freies Geleite
zu hohen Preisen verkauften. Dann bestand aber auch neben
allen diesen Plündereien zu Lande beständige Räuberei auf der
See . Nicht bloss Staaten, sondern Städte und Individuen rüsteten
Fahrzeuge zur Seeräuberei aus ; und es wurden Zufluchtsorte
für Freibeuter zur See eingerichtet . Man denke ferner an die
Zeugnisse , welche der dreissigjährige Krieg in Deutschland dar
bietet. Ganz allgemeines Plündern wurde feststehendes System.
Soldaten waren Räuber. Sie beraubten nicht bloss das Volk
überall , sondern wendeten „tausendfältige Martern " an , um die
Leute dazu zu bringen , ihnen die Orte zu entdecken , wo sie
ihre Güter verborgen hatten ; und die Bauern mussten gegen ihre
Landsleute bis an die Zähne bewaffnet " ihre Felder bestellen.
Mittlerweile wurden die Soldaten selbst von ihren Officieren ,
hohen und niedrigen , betrogen , von denen einige durch ihre
aufgesammelten Unterschlagungen grosse Vermögen erwarben ,
während gleichzeitig die Fürsten die Nation durch Verfälschung
der Münzen beraubten .
So verwickelt und trübe die Belege sind , so wird doch Nie
mand die allgemeine Thatsache verkennen, dass mit dem Fort
schreiten nach einem Zustande hin , in welchem der Krieg weniger
häufig und nicht mehr wie in alten Zeiten beinahe Jedermann
in ihn verwickelt ist , eine Abnahme der Unehrenhaftigkeit
372 Die Inductionen der Ethik. Cap. IV.

und eine höhere Werthschätzung der Ehrenhaftigkeit eingetreten


ist, in dem Maasse, dass gegenwärtig das Berauben eines Fremden
ein ebenso grosses Verbrechen geworden ist wie das Berauben
eines Mitbürgers . Es ist richtig , dass es noch immer Diebe
giebt . Die Diebstähle sind aber nicht so zahlreich und die Be
trügereien sind nicht von so grober Art, wie sie früher waren.
Seit den Zeiten, wo Könige ihre Gläubiger betrogen und Krämer
sich ihrer Geschicklichkeit, schlechtes Geld auszugeben, rühmten,
wie uns DEFOE erzählt , sind wir in Bezug auf das Mein und
Dein etwas fortgeschritten . Ja, wie PIKE'S „ Geschichte des Ver
brechens " zeigt , der Contrast ist selbst schon ausgesprochen
zwischen dem Maasse von Überschreitungen gegen das Eigen
thum während der mit 1815 endenden Kriegsperiode und dem
neueren Maasse solcher Vergehen .

§. 133 .
Die deutlichsten Beweise aber für die erwähnten Wechsel
beziehungen bieten die Contraste dar zwischen den kriegerischen
uncivilisierten Stämmen , von welchen oben Beispiele angeführt
worden sind, und den friedlichen uncivilisierten Stämmen . Hier
folgen Züge, welche einige dieser letzteren darbieten .
Nach HARTSHORNE ist der harmlose Wald-Veddah nicht nur
vollkommen ehrlich , sondern kann es nicht für möglich halten,
dass ein Mensch 99 das nehmen sollte , was ihm nicht gehört " .
Von den Eskimos , bei denen Krieg unbekannt ist , lesen wir,
dass sie gleichmässig als äusserst peinlich ehrlich beschrieben
werden “ ; und alle solche Einschränkungen dieser Angabe, wie sie
BANCROFT gemacht hat, beziehen sich auf Eskimos, welche durc
die Berührung mit weissen Kauffahrern demoralisiert worden
sind . Von den Feuerländern erfahren wir durch DARWIN, dass :
"" Wenn irgend ein Geschenk für ein Canoe bestimmt war und
es fiel nahe bei einem andern nieder, es unabänderlich dem richtigen
Empfänger gegeben wurde. "
Auch sagt SNOW , dass sie in ihren Handelsgeschäften mit
ihm sehr anständig waren. Was gewisse Papuas an der Südküste
von Neu-Guinea betrifft, welche für eine combinierte Thätigkeit
im Kriege als zu unabhängig beschrieben werden, so lesen wir,
dass " die Eingebornen in ihren Kaufhandlungen allgemein sehr
ehrlich waren , weit mehr so als unsere eigenen Leute " . Und
§. 134. Rache . 373

mit Bezug auf andere Glieder dieser Rasse erzählt uns Kops ,
dass die Eingebornen von Dory Zeugnis geben " für eine Neigung
zu Recht und Gerechtigkeit und starke moralische Grundsätze .
Diebstahl wird von ihnen als ein sehr schweres Vergehen ge
halten und kommt nur sehr selten vor. " Ein ähnlicher Charakter
wird von KOLFF den Ureinwohnern von Lette zugeschrieben .
In den Principien der Sociologie ' , §§ . 437 und 574 habe ich
Zeugnisse angeführt betreffs der Ehrlichkeit der Todas, Santáls ,
Lepchas , Bodo und Dhimáls , Hos , Chakmás , Jakunen . Hier
bringe ich noch weitere Zeugnisse bei . Consul BAKER erzählt
uns von den Eingebornen von Vera Cruz, jetzt eine unterworfene,
dem Kriegsdienst abgeneigte Rasse , dass 99 der Indianer ehrlich
ist und selten selbst der grössten Versuchung zum Stehlen nach
giebt " . Bei seiner Beschreibung einer Rasse , welche einen
langen Streifen von Sumpf und Wald “ am „ Fusse des Himalaya "
bewohnt, sagt Mr. NESFIELD , dass 22 ihre Ehrlichkeit durch Hun
derte von Geschichten gewährleistet ist " , so ist wenigstens der
Charakter des Thâru, solange er in der sicheren Abgeschlossen
heit seiner einsamen Wildnisse bleibt " , wo er von Feindselig
keiten frei ist . Endlich haben wir mit der von MORGAN in Bezug
auf die Irokesen angeführten Thatsache , dass "" Diebstahl , das
allerverächtlichste von allen menschlichen Verbrechen, unter ihnen
kaum gekannt wurde " , die Thatsache zu verbinden, dass ihr Bund
zur Erhaltung des Friedens unter den ihn bildenden Völkern er
richtet worden war und in der Erreichung seines Zieles viele
Generationen hindurch Erfolg gehabt hatte .

V. Capitel.

Rache .

§. 134 .

Bei intelligenten Geschöpfen bringt der Kampf um's Dasein


Angriffe mit sich. Wo dies nicht die zerstörenden Angriffe
fleischfressender Geschöpfe auf ihre Beute sind , sind es die ,
nicht nothwendigerweise zerstörenden, aber gewöhnlich gewalt
374 Die Inductionen der Ethik. Cap. V.

samen Angriffe von Geschöpfen , welche mit einander um ihre


Nahrung in Concurrenz sind . Thiere , welche einzeln vom Hunger
gedrängt werden , werden durch das Bestreben , das , was sie
nur irgend für Nahrung erlangen können , zu ergreifen , unver
meidlich in Streitigkeiten geführt ; und mehr oder weniger
entschiedene Schädigungen gehen damit Hand in Hand .
Angriff führt zum Gegenangriff. Wo beide Geschöpfe die
Kraft zum Angriff haben, ist es wahrscheinlich, dass Beide davon
Gebrauch machen , besonders wo ihre Kräfte zum Angriff an
nähernd gleich sind, das heisst, wo es Geschöpfe einer und der
selben Art sind : derartige Geschöpfe sind es auch , welche
gewöhnlich in Mitbewerb gebracht werden . Dass Folgen dieser
Art unvermeidlich sind , wird einleuchten , wenn man sich er
innert , dass von den Gliedern einer und derselben Species
diejenigen Individuen , welche nicht in irgend einem beträcht
lichen Grade Angriffe geahndet haben, stets zum Verschwinden.
geneigt haben und hinter denen zurückgeblieben sein müssen.
welche mit einigem Erfolg Gegenangriffe gemacht haben . Es
sind also Kämpfe, nicht bloss von Raubthieren mit ihrer Beute.
sondern von Thieren derselben Art mit einander von Anfang
an unvermeidlich gewesen und haben bis zuletzt fortbestanden.
Jeder Kampf ist eine Aufeinanderfolge von Wiedervergel
tungen , Biss wird für den Biss und Schlag für den Schlag
beigebracht. Gewöhnlich folgt eines auf das andere schnell
hinter einander, aber nicht immer . Es giebt eine aufgeschobene
Wiedervergeltung ; und eine aufgeschobene Wiedervergeltung
ist das , was vir Rache nennen. Sie kann für eine so kurze
Zeit aufgeschoben werden, dass sie bloss als ein Wiederbeginn
des Kampfes erscheint , oder sie kann für Tage aufgeschoben
werden, oder sie kann Jahre lang aufgeschoben werden . Daher
kommt es , dass die Wiedervergeltung , welche das darstellt,
was wir Rache nennen , unmerkbar von den Wiedervergeltungen
verschieden wird , welche einen Streit charakterisieren .
Aber die Ausübung der Rache , in gleicher Weise einer
sofortigen wie einer aufgeschobenen , bildet an sich in einem
gewissen Maasse ein Hemmnis für den Angriff, da der Antrieb
zum Angriff durch das Bewusstsein , dass ein Gegenangriff er
folgen wird , gehemmt wird , wenn nicht sofort , so doch nach
einiger Zeit.
§. 135. Rache . 375

§. 135 .
Unter menschlichen Wesen ist daher auf frühen Zuständen
nicht nur die Ausübung der Rache entstanden , sondern auch
der Glaube , dass Rache gebieterisch gefordert wird , ――― dass
Rache eine Pflicht ist. Das Folgende , aus Sir GEORGE GREY'S
Schilderung der Australier, ist ein deutliches Bild der Empfindung
und ihrer Resultate :
Die heiligste Pflicht , zu deren Erfüllung ein Eingeborner be
rufen ist , ist die , den Tod seiner nächsten Verwandten zu rächen ,
denn es ist seine besondere Pflicht dies zu thun : solange bis er diese
Aufgabe erfüllt hat, wird er von den alten Weibern verhöhnt ; seine
Frauen, wenn er verheirathet ist, würden ihn bald verlassen ; ist er
nicht verheirathet , so würde keine einzige junge Frau mit ihm
reden ; seine Mutter würde beständig weinen und es bejammern , dass
sie je einen so entarteten Sohn geboren habe ; sein Vater würde ihn
mit Verachtung behandeln und beständig würden Vorwürfe in sein
Ohr klingen . "
Von Beispielen aus Nord -America mag das angeführt werden,
welches die Sioux darbieten . BURTON sagt :
29 Die Rachgier ihrer Vendetta ist sprichwörtlich ; sie hassen mit
dem Hasse der Hölle ' ; und , wie die Hochländer in alten Zeiten,
wenn der Urheber einer Kränkung ihnen entgeht , lassen sie ihre
Wuth an dem Unschuldigen aus , weil er desselben Stammes oder
derselben Farbe ist . "
Aus Süd - America mag ein von SCHOMBURGK erzählter Fall
angeführt werden.
" Meine Rache ist noch nicht befriedigt , es lebt noch ein Glied
der gehassten Familie, " sagte ein Eingeborner von Guiana , dessen
Verwandter seiner Vermuthung nach vergiftet worden war.
Ferner ist hier ein Beispiel aus WILLIAM'S Schilderung der
Fidschi - Insulaner.
29 In der Stunde des Todes vergisst er niemals einen Feind und
in dieser Zeit vergiebt er nie einem . Der sterbende Mann nennt
seinen Feind, damit seine Kinder seinen Hass immerwährend erhalten ,
_________ es kann sogar gegen seinen eigenen Sohn sein, und ihn bei
der ersten Gelegenheit tödten . "
Und dann erzählt uns THOMSON von den Neu - Seeländern,
dass "7 einen Todten nicht zu rächen , dem eingebornen Gesetze
entsprechend , für ein allerfeigstes Gemüth zeugt. " Auf Asien
übergehend will ich MACRAE's Schilderung der Kukis anführen.
" Wie alle wilden Völkerschaften " sind die Kukis " von äusserst
rachsüchtiger Gesinnung ; um Blut muss immer Blut vergossen wer
376 Die Inductionen der Ethik. Cap. V.

den ... Wenn ein Mensch zufällig durch einen gelegentlichen Fall
von einem Baume getödtet werden sollte , so würden sich alle seine
Verwandten versammeln . . . und diesen in Späne zerschlagen . "
Bei PETHERICK lesen wir, dass
das Vergiessen von Blut 27 bei den Arabern ein Vergehen ist,
welches weder die Zeit noch zerknirschende Reue vergessen machen
können ; der Durst nach Rache geht vom Vater auf den Sohn über,
und selbst durch mehrere folgende Generationen . “
So schreibt auch BURTON von den Ost - Africanern :
12 Rache ist eine herrschende Leidenschaft , wie die vielen , mit
tiefem Groll geführten brudermörderischen Kriege , welche zwischen
verwandten Stämmen , selbst eine Generation hindurch geherrscht
haben , beweisen . Wiedervergeltung und Rache sind in der That
die grossen Triebfedern der moralischen Controle. "
In allen diesen Fällen sehen wir , dass entweder aus
gesprochenermaassen oder stillschweigend Rache als eine mo
ralische Verpflichtung angesehen wird .
Die frühen Zustände verschiedener, noch jetzt bestehender
Völker liefern gleicherweise deutliche Beweise . In seinem „ Japan
in alten Zeiten " übersetzt Mr. DENING das Leben des Musashi.
herausgegeben vom Momtusho (dem Erziehungs - Departement).
worin eine lange dauernde Vendetta , voll von Kämpfen und
Morden , erzählt wird ; und , zum Theil mit den japanesischen
Erziehungsmännern sympathisierend , macht er die Bemerkung.
dass seines Heroen Thaten nicht aussterbender Rache so viele
Seiten von den edleren Seiten der menschlichen Natur " offen
barten und 97 darauf berechnet sind, Vertrauen in die Menschheit
einzuflössen . " Ein verwandter Geist zeigt sich in der frühen
indischen Litteratur. Die Götter sind rachsüchtig . Wie im
Rig Veda beschrieben wird,
„ Agni verschlingt seine Feinde , zerreisst ihre Haut, zerstückelt
ihre Glieder und wirft sie den Wölfen vor, dass sie von diesen oder
von den kreischenden Geiern gefressen werden. “
Und an dem, den Göttern zugeschriebenen Charakter haben.
deren Anbeter Theil, wie die Anrufung zeigt :
„ Indra und Soma , verbrennt die Rakshas , zerstört sie , werft
sie nieder , Ihr zwei Stiere , das Volk , das in der Dunkelheit lebt.
Schlagt die Wahnsinnigen nieder , erstickt sie , tödtet sie, schleudert
sie fort und erschlagt die Gefrässigen. Indra und Soma , zusammen
auf gegen den fluchenden Dämon ! Mag er brennen und zischen wie
ein Opfer im Feuer ! Werft Euren ewigen Hass auf den Schurken ! "
§. 135. Rache . 377

Die Erzählung des grausamen und tödtlichen Kampfes " ,


„mit all der wahnsinnigen Wuth von Dämonen “ geführt , wie
WHEELER sagt, ist voll von Rachegelübden, einer Rache, die
bis zur entsetzlichen Behandlung der Überreste von Feinden
sich erstreckt. Wir finden auch nicht, dass von den Hebräern
ein verschiedenes Gefühl dargeboten würde, mag es in den, dem
Jahve zugeschriebenen Handlungen oder in denen seiner Anbeter
sein . Der Befehl , „ das Gedächtnis der Amalekiter auszutilgen
unter dem Himmel " (5. Moses , XXV. 19 ) und die Befolgung
dieses Gebotes durch Saul und Samuel, selbst so weit, dass sie
nicht bloss die Amalekiter , sondern all ihr Vieh tödteten , ist
――
ein typisches Beispiel der vorausgesetzten göttlichen Rache ,
ein Beispiel , dem noch andere parallele Fälle zur Seite stehen.
Und wir sehen, dass mit dieser Heiligsprechung der Rache die
Handlungen und Empfindungen der Hebräer selbst harmonisierten.
Die Ausübung der Rache wurde als eine Pflicht vermacht ; so
wenn David , nachdem er Salomon vorgehalten hatte , in den
Wegen des Herrn zu wandeln, ihm sagte, den Sohn eines Mannes ,
der ihm geflucht hatte (dem zu vergeben er aber geschworen
hatte) , nicht zu schonen , sondern ihn ermahnte , „ seine grauen
Haare mit Blut hinunter in die Hölle zu bringen " (1. Könige, II. 9).
Es ist überflüssig, die verwandten Empfindungen und Ideen
europäischer Völker durch die ganzen mittelalterlichen Zeiten
hindurch durch einzelne Beispiele zu erläutern . Die meisten der
geschichtlich überlieferten politischen und privaten Vorkommnisse
bieten sie dar . Rache auszuüben wurde bei ihnen , wie jetzt
noch unter den Wilden , als eine Verpflichtung betrachtet ; und
wenn die Stimmung gelegentlich bei den Männern einzuschläfern
begann , wurde sie von den Frauen wach gehalten , wie in der
Merovingischen Periode von Fredegonde und Brunehaut . Dann
bestanden in späteren Jahrhunderten zwischen Edelleuten überall
chronische Familienfehden , die von Generation auf Generation
überliefert wurden. Und dieser Geist war noch herab bis zu
der Zeit des Abbé Brantôme lebendig, welcher in seinem letzten
Willen seinem Neffen vorschreibt , an seiner Statt Rache aus
zuüben , falls er selbst verletzt werden sollte , wenn er zu alt
wäre , selbst Rache zu nehmen . Ja, die einst so ganz allgemeine
Vendetta ist selbst jetzt im Osten von Europa noch nicht aus
gestorben.
378 Die Inductionen der Ethik. Cap. V.

Wenn nun auch durch die ganze moderne civilisierte Welt,


welche nicht aller Orten und fortwährend durch Kämpfe be
unruhigt wird , das Leben nicht so vielfache Beispiele gleicher
Meinung darbietet , so ist doch das Überleben der Ethik der
Feindschaft , insoweit sie Rache mit sich bringt , hinreichend
offenbar. Beinahe täglich an einem oder dem andern Orte auf
dem Continente vorkommende Zweikämpfe erweisen die Vor
stellung von einer Verpflichtung in ihren privaten Formen ; und
für ihre öffentliche Form haben wir ein auffallendes Beispiel
vor uns in dem von den Franzosen beharrlich gehegten Ver
langen , die Deutschen dafür zu strafen , dass sie sie besiegt
haben , ――――― ein Verlangen , dessen Stärke vor Kurzem (August
1891 ) durch die merkwürdige Thatsache offenbar geworden ist,
dass , während sie ausgesprochen enthusiastische Vertheidiger
der Freiheit und Aufrechterhalter freier Institutionen sind , sie
„ das edle russische Volk " und den despotischen Czar , welcher
es in Knechtschaft hält , gepriesen haben ; und Alles nur des
wegen , weil sie hoffen , in dieser Weise in ihrem ersehnten
Kampfe mit Deutschland unterstützt zu werden . Offenbar ist
der passende Ausdruck für ihre Empfindung : Nicht dass wir
die Freiheit weniger liebten, wir lieben aber Rache mehr.

§. 136.
Es sind aber , während Gesellschaften im Verlaufe ihres
Wachsthums und ihrer Festigung begriffen waren , gelegentliche
Ausdrücke von Ideen und Empfindungen aufgetreten , die den
vorstehend erwähnten entgegengesetzt waren , - gelegentliche
Ausdrücke , welche, da sie mit der Erreichung geordneter socialer
Zustände verknüpft sind , ganz wohl als Folgen einer Vermin
derung kriegerischer Thätigkeit angesehen werden können .
Verschiedene Illustrationen bietet die Litteratur von Hindostan
dar. In dem Gesetzbuche des Manu lesen wir :
" Verwunde nicht den Andern, auch wenn Du herausgefordert wurdest
von ihm ,
Füge Keinem durch Gedanken oder That Unrecht zu ,
Äussere kein Wort , Deinen Mitgeschöpfen Schmerz zu bereiten. “
Ferner findet sich an einem Orte die Ermahnung :
Behandle Niemand mit Verachtung , ertrage mit Geduld
Schmähende Rede : mit einem zornigen Menschen
Sei niemals zornig ; gieb Segnungen für Flüche . "
§. 136. Rache . 379

Desselben Geistes ist das Folgende aus dem Cural :


" Selbst Feinden nicht Übles zuzufügen , wird das Haupt der

Tugenden genannt werden. "
Ebenso ist es bei einigen Persern . In ihrer Litteratur des
7. Jahrhunderts finden wir folgende Stelle :
"9 Denke nicht, dass die Tapferkeit eines Mannes nur in Muth und
Kraft besteht :
Wenn Du Dich über den Zorn erheben und vergeben kannst, bist
Du von unschätzbarem Werthe. "
In einer späteren Zeit , nämlich in einer Geschichte von
Sadi , kommt die Vorschrift vor :
" Ist Dir Unrecht zugefügt worden ? dulde es und reinige
Dich selbst von Schuld dadurch , dass Du die Sünden Anderer
vergiebst. "
Noch extremer ist die Lehre, die wir bei Hafiz finden :
29 Lerne von des Morgenlandes Muschel Deinen Feind zu lieben
Und fülle die Hand mit Perlen , die Dir Leid bringt ;
Frei wie der Fels von rachegier'gem Stolze
Schmücke die Faust mit Edelsteinen , die Dich verwundet . “
Auch die Schriften der Chinesen sind nicht ohne Äusserungen
ähnlichen Empfindens . Lao - Tsze sagt : „Vergilt Unrecht mit
Freundlichkeit. " So auch nach Mencius :
39 Ein wohlwollender Mann sammelt nicht seinen Zorn auf, auch
pflegt er nicht den Groll gegen seinen Bruder , sondern betrachtet
ihn nur mit Zuneigung und Liebe. "
Confucius dagegen , in Übereinstimmung mit seiner Lehre
vom Gemeinen, drückt eine weniger extreme Ansicht aus.
"" Was sagst Du in Bezug auf den Grundsatz , dass Unrecht mit
Freundlichkeit vergolten werden sollte ?' Der Meister sagte : """Womit
willst Du denn dann Freundlichkeit vergelten ? Vergilt Unrecht mit
..
Gerechtigkeit, und vergilt Freundlichkeit mit Freundlichkeit. "
In den späteren Zuständen der hebräischen Civilisation finden
wir in ähnlicher Weise die sociale und göttliche Gutheissung
der Rache gelegentlich eingeschränkt , ― eine Mischung ent
gegengesetzter Ideen und Empfindungen . Während in Jes .
Sirach XXX . 6 ein Vater als glücklich betrachtet wird , welcher
" einen Rächer wider seine Feinde" hinterlässt, findet sich doch
Cap . X. 6 die Vorschrift : „ räche nicht allzu genau alle Misse
that " , - eine Vorschrift, welche den Keim des ethischen Grund

satzes enthält , der Jahrhunderte später im Christenthum Gestalt


gewann.
SPENCER, Principien der Ethik. I. 25
380 Die Inductionen der Ethik. Cap. V.

§. 137.
Beweise dafür, dass die Abnahme der Rachsüchtigkeit und
die Zunahme der Versöhnlichkeit mit der Abnahme der Streit
barkeit und der Zunahme friedlichen Zusammenwirkens ver
bunden sind , können nicht ganz klar aus den Thatsachen ab
geleitet werden ; denn die beiden Formen von Lebensstimmung
sind beinahe überall und zu allen Zeiten in einem oder dem
andern Verhältnisse mit einander verbunden gewesen. Derartigen
allgemeinen Beweisen, wie sie die im Vorhergehenden angeführten
Sätze liefern , können aber noch einige von jetzt bestehenden
Gesellschaften dargebotene Zeugnisse hinzugefügt werden.
So ist es Thatsache , dass im ganzen Leben der haupt
sächlichsten Nationen von Europa die Familienrache in einer
Periode verschwunden ist , in welcher die Kämpfe zwischen den
Nationen weniger beständig geworden sind und der friedliche
Austausch von Diensten innerhalb einer jeden Nation lebendiger
geworden ist ein Unterschied zwischen alter und neuer Zeit,
welcher sich am frühesten da geltend machte, wo der industrielle
Typus am frühesten entwickelt wurde, nämlich in England .
Es ist auch ferner Thatsache , dass in unserer eigenen
[englischen] Gesellschaft, mit ihrer vergleichsweise geringen Zahl
von Soldaten und mit einer weniger vorherrschenden Streitbar
keit als bei den Continentalstaaten mit ihren ungeheuren Armeen
und ihrer kriegerischen Haltung , die Rache für Privatbeleidi
gungen unterdrückt wird , während sie bei jenen fortbesteht.
Und die rachsüchtige Stimmung hat so weit abgenommen , dass
ein beleidigter Mann , welcher dauernd gegen den , der ihn be
leidigt hat, feindlich gesinnt ist, eher getadelt als gelobt wird :
jedenfalls wird die Versöhnlichkeit von Vielen gutgeheissen .
Wenn wir uns aber nach einem Falle umsehen, in welchem
die für besonders christlich gehaltene Tugend ausgeübt wird,
so müssen wir ihn bei den Nicht - Christen suchen. Gewisse
friedliche Stämme Indiens sind dadurch ausgezeichnet , wie es
die folgende Schilderung der Lepchas bezeugt :
„ Sie sind wunderbar ehrlich ; Diebstahl ist bei ihnen kaum be
kannt ; sie streiten selten unter einander . . . Sie sind , nach einer
schnell vorübergehenden Verstimmung , eigenthümlich geneigt , Be
leidigungen zu vergeben. Obgleich sie bereit genug waren, in Fällen
von Angriff und andern Vergehen Klagen gegen einander vor die
§. 138. Gerechtigkeit . 381

Obrigkeit zu bringen , so verfolgten sie dieselben doch nicht bis zu


einem Urtheilsspruche , sondern zogen es allgemein vor , sich einem
Schiedsgericht zu unterwerfen , oder gegenseitig Abbitte zu leisten
und Concessionen zu machen. Soldat zu sein widersteht ihnen , und
sie können nicht dazu gebracht werden , sich in unsere Armee ein
reihen zu lassen , selbst nicht zu örtlichem Dienste in ihren Bergen . “
Wir erhalten hiernach sowohl positive als negative Zeugnisse
dafür , dass die rachsüchtige Gesinnung innerhalb einer jeden
Gesellschaft im Verhältnis zu dem beständigen Streite mit
andern Gesellschaften steht ; und dass , während an dem einen
Extrem die Rache eine moralische Sanction erhält , an dem
andern Extrem die Versöhnlichkeit eine moralische Sanction
erfährt.

VI . Capitel.

Gerechtigkeit .

§. 138.
Der Geist des Guten in bösen Dingen wird vielleicht durch
kein anderes Beispiel besser erwiesen als durch das gute Ding,
Gerechtigkeit, welches in einer rudimentären Form in dem bösen
Dinge , Rache , besteht. Einem Angriffe durch einen Gegen
Angriff zu begegnen , ist an erster Stelle ein Versuch , es zu
vermeiden , von dem Angreifer unterdrückt zu werden, und jene
Fähigkeit , das Leben weiterzuführen, zu bewahren , welche die
Gerechtigkeit mit sich bringt ; und an zweiter Stelle ist es ein
Bestreben, Gerechtigkeit dadurch zu erzwingen, dass Gleichheit
mit dem Angreifer hergestellt wird : so grosses Unrecht zu
zufügen als erhalten worden ist.
Der rohe Vorgang, die Ansprüche abzuwägen , verfehlt ge
wöhnlich den Zweck , das Gleichgewicht herzustellen . Rache,
beständig nicht bloss so weit genommen als hinreichend ist , das
empfangene Unrecht auszugleichen , sondern womöglich noch
weiter, fordert eine Gegenrache heraus , welche ebenfalls , wenn
möglich , bis zum Excess getrieben wird ; und so entstehen chro
nische Kriege zwischen Stämmen und chronische Feindseligkeiten
zwischen Familien und zwischen Individuen . Diese setzen sich
gewöhnlich von Generation auf Generation fort.
25*
382 Die Inductionen der Ethik. Cap. VI.

Gelegentlich aber zeigt sich eine Neigung zur Herstellung


eines Gleichgewichts , dadurch dass Angriff und Gegen -Angriff
zu einer bestimmten , durch das Maass ausgeführten Abwägung
gebracht werden. Sehen wir uns nach den Zeugnissen hierfür um.

§. 139.
Menschen verschiedener roher Stämme , so die Australier,
offenbaren die Idee , sie stillschweigend anerkennend und nach ihr
handelnd, dass der Verlust eines Lebens in einem Stamme durch
die Vornahme einer Tödtung in einem andern Stamme compensiert
werden muss , aus welchem irgend ein Mitglied , bekannter oder
vermuthetermaassen , den erwähnten Verlust eines Lebens ver
ursacht hat. Und da Todesfälle in Folge von Krankheit oder
hohem Alter, unter Anderm, den Machinationen von Feinden zu
geschrieben werden , und da entsprechende Tödtungen auch für
diese vorgenommen werden müssen , haben solche Ausgleiche von
Verlusten häufig stattzufinden . (Es erscheint indessen klar, dass
diese Rachen und Gegenrachen nicht immer , so wie behauptet
wird, ausgeführt werden können . Denn wenn nicht bloss Todes
fälle durch Gewalt , sondern auch Todesfälle durch Krankheit
sie mit sich führten , würden die beiden Stämme durch gegen
seitige Ausrottung bald ganz verschwinden .) Viel weiter vor
geschrittene Rassen führen in manchen Fällen nicht diese ge
heimen Ausgleichungen der Sterblichkeitsrechnung aus , sondern
begleichen sie offenkundig . Dies ist bei den Sumatranern der
Fall , bei welchen die Unterschiede durch Geldzahlungen aus
geglichen werden .
Dieses Aufrechterhalten von Gerechtigkeit zwischen Stämmen,
zum Theil veranlasst durch das Bewusstsein jenes corporativen
Schadens , welchen der Verlust eines Mitglieds mit sich bringt
und der das Zufügen eines gleichwerthigen corporativen Schadens
dem verletzenden Stamme erfordert , besitzt den Zug , dass es
gleichgültig ist, welches Mitglied des verletzenden Stammes zur
Ausgleichung getödtet wird : ob es der schuldige oder irgend
ein unschuldiger Mensch ist , hat nichts zu bedeuten . Diese
Auffassung von Gerechtigkeit zwischen Stämmen wiederholt sich
in der Auffassung einer in den Beziehungen von Familien zu
einander bestehenden Gerechtigkeit. Jene frühere Typen socialer
Organisation, bei denen die Familie die Einheit der Zusammen
§. 139. Gerechtigkeit . 383

setzung bildet , zeigt uns , dass in jeder Familie eine mit


der Idee der Nationalität verwandte Idee entsteht ; und dem
gemäss ist ein verwandtes System von Repressalien zur Aus
gleichung der Schäden die Folge . Die philippinischen Inseln
liefern Beweise . " In der Provinz La Isabela führen die Ne
grito- und Igorrote- Stämme ein regelmässiges Debet und Credit
von Köpfen. " Eine weitere interessante Erläuterung wird
von den Quianganes von Luzon dargeboten . Aus einer von
Prof. F. BLUMENTRITT gegebenen Schilderung derselben folgt hier
eine Stelle :
"2 Blutrache ist bei den Quianganes ein geheiligtes Gesetz . Wird
ein Plebejer von einem andern getödtet, wird die Sache in einfacher
Weise dadurch abgemacht, dass der Mörder oder irgend Jemand aus
seiner Familie , der gleichfalls Plebejer ist , getödtet wird. Wird
aber ein hervorragender Mann oder ein Adliger von einem Plebejer
getödtet , so ist die Rache an dem Mörder , einem blossen Plebejer,
nicht genügend ; der Gegenstand des Sühnopfers muss dem Range
nach gleichwerthig sein. Es muss ein anderer Adliger für den er
mordeten Edelmann fallen , denn ihre Theorie ist : Was für Ent
schädigung wäre es, irgend Einen zu tödten , der nicht besser ist als
ein Hund ? Die Familie des erschlagenen Edelmanns sieht sich da
her um , ob sie nicht einen Verwandten des Mörders , der gleichfalls
Edelmann ist , finden kann , um an ihm Rache zu nehmen , während
der Mörder selbst unbeachtet gelassen wird . Wenn kein Adliger
unter seinen Verwandten gefunden werden kann , wartet die Familie
des Ermordeten geduldig, bis irgend einer von ihnen in die Classe der
Adligen aufgenommen wird ; dann wird die Vendetta ausgeführt, ob
gleich viele Jahre schon verflossen sein können. Wenn der Blut
fehde Genüge gethan worden ist , findet eine Versöhnung der strei
tenden Parteien statt. Bei allen Fehden werden die Köpfe der ge
tödteten Kämpfer abgeschnitten und nach Hause genommen , und die
Kopf- Jäger begehen die Angelegenheit festlich. Die Schädel werden
an den Vorderseiten der Häuser befestigt. "
Hier ist die Nöthigung , einen Schaden von gleichem Maasse
zuzufügen und dadurch den Verlust auszugleichen, offenbar die vor
herrschende Nöthigung . Die semitischen Völker im Allgemeinen
bieten verwandte Thatsachen dar. BURCKHARDT schreibt :

" Es ist ein bei allen Arabern bestehendes Gesetz , dass der,
welcher das Blut eines Menschen vergiesst , dafür der Familie der
erschlagenen Person Blut schuldet . . . Die directen Nachkommen
aller derer , welche im Augenblicke der Tödtung berechtigt waren
sich zu rächen, erben dieses Recht von ihren Eltern . "
Und was dieses System der Ausübung einer Gerechtigkeit
384 Die Inductionen der Ethik. Cap. VI.

in roher Form durch Ausgleichung der Todesfälle zwischen


Familien betrifft, bemerkt BURCKHARDT :
„ Ich bin zu der Ansicht geneigt , dass diese heilsame Einrich
tung in einem höheren Maasse als irgend ein anderer Umstand dazu
beigetragen hat, die kriegerischen Stämme Arabiens davon abzuhalten,
einander auszurotten Die fürchterliche Blutrache ' macht den
allerhartnäckigsten Krieg beinahe blutlos . "
Offenbar liegt hier stillschweigend der Gedanke zu Grunde,
dass die Furcht vor dieser beständigen Rache die Glieder der
verschiedenen Familien und Stämme ängstlich macht einander
zu tödten. Dass mit den Empfindungen und Gewohnheiten der
jetzt lebenden Semiten diejenigen der alten Semiten überein
stimmten , ist guter Grund zu glauben vorhanden. Die Auto
risierung der Blutrache zwischen Familien ist im 1. Buch der
Könige , II . 31 , 33 , ebenso wie an andern Stellen enthalten .
Wie bei europäischen Völkern in frühen Zeiten verwandte Auf
fassungen zu verwandten Gebräuchen führten , braucht nicht in
Einzelnheiten nachgewiesen zu werden . Die Thatsache , dass,
als das System Leben um Leben zu nehmen durch das System
von Entschädigungen ersetzt wurde, diese den Rangverhältnissen
angepasst wurden, so dass die Tödtung einer der Gruppe, zu der
sie gehörte, werthvolleren Person durch eine grössere jener zu
zahlende Geldbusse ausgeglichen wurde , zeigt, wie vorherrschend
die Idee des der Gruppe zugefügten Schadens und wie vor
herrschend die Idee der Gleichwerthigkeit war.

§. 140.

Diese Ideen von Familien- Schaden und Familien- Schuld sind


aber durchaus von den Ideen des individuellen Schadens und der
individuellen Schuld begleitet gewesen : hier sehr deutlich , dort
weniger deutlich .
Bei einigen Völkern auf frühen socialen Stufen sind sie sehr
deutlich, wie die Schilderung zeigt , welche IM THURN von den
Guiana- Stämmen giebt.
"2 Bei der Abwesenheit von irgend Etwas, was polizeilichen Ord
nungen entsprechen könnte , sind ihre gegenseitigen Beziehungen im
alltäglichen Leben ganz gut geordnet, durch die traditionelle Achtung,
welche jedes Individuum vor den Rechten der Andern fühlt und durch
die Scheu vor der ungünstigen öffentlichen Meinung, wenn es solchen
Traditionen entgegenhandeln sollte . . . Die geringste Schädigung,
§. 140. Gerechtigkeit . 385

welche ein Indianer einem andern zufügt, selbst unbeabsichtigt, muss


gesühnt werden durch das Erdulden einer ähnlichen Schädigung. "
Und dass bei den Hebräern ein Abwägen der individuellen
Schäden statt fand , ist eine Thatsache, welche häufiger erwähnt
wird als die Thatsache, dass ein Abwägen der Familien- Schädigung
bestand ; ein Zeugnis hierfür giebt das bekannte „Auge um Auge,
Zahn um Zahn , Hand um Hand , Fuss um Fuss " , was im 5. Buch
Mosis , XIX . 21 ( 2. B. Mosis , XXI. 24) vorgeschrieben ist.
Die Abnahme der Familien - Verantwortlichkeit und die Zu
nahme der individuellen Verantwortlichkeit scheinen Begleit
erscheinungen der Änderung in der socialen Organisation zu
sein von dem Typus , in dem die Familie die Einheit in der Zu
sammensetzung ist, zu dem Typus , in welchem das Individuum
die Einheit in der Zusammensetzung ist . Denn offenbar hören ,
so schnell wie sich die Familienorganisation auflöst, irgend welche
Gruppen zu bestehen auf, welche unter einander wegen Be
schädigungen , die ihre Mitglieder zugefügt haben , für verant
wortlich gehalten werden können ; und so schnell wie dies eintritt,
muss die Verantwortlichkeit auf die Glieder selbst fallen . So
ereignet es sich denn natürlich, dass zusammen mit der socialen
Entwicklung sich aus jener ungerechten Form der Wieder
vergeltung , in welcher die Gruppen verantwortlicher sind , als
die dieselben zusammensetzenden Menschen , jene gerechte Form
herausbildet, in welcher die Menschen selbst verantwortlich sind :
die schuldige Person nimmt die Folgen seiner Handlungen auf
sich und überlässt das Tragen derselben nicht andern Personen .
Ein lehrreicher Gegensatz in der Litteratur der Hebräer
unterstützt diese Schlussfolgerung . In den früheren Schriften
wird Gott dargestellt als nicht bloss diejenigen bestrafend , welche
gegen ihn gesündigt haben, sondern auch ihre Nachkommen für
Generationen . In den späteren Schriften findet sich indessen
die Prophezeiung einer Zeit , in welcher dies nicht länger so sein
soll . Hier ist eine Stelle aus Jeremias, XXXI. 29, 30.

„ Zu derselben Zeit wird man nicht mehr sagen : die Väter haben
Herrlinge gegessen und der Kinder Zähne sind stumpf geworden ;
sondern ein Jeglicher wird um seiner Missethat willen sterben , und
welcher Mensch Herrlinge isst , dem sollen seine Zähne stumpf werden. "
Dass bei europäischen Völkern das Wachsthum dieses Factors
in der Auffassung der Gerechtigkeit Hand in Hand gegangen ist
386 Die Inductionen der Ethik. Cap. VI.

mit dem Verfall der Gruppenorganisation und dem Erstehen des


individuellen Bürgerthums , ist offenbar . Und es ist interessant
zu beobachten, wie fremdartig uns jetzt die alte Idee und Em
pfindung erscheint , wenn wir mit derselben in Berührung kommen,
wie in China, wo die Gruppenorganisation sich hinfristet und es
für genügend gehalten wird, wenn zur Compensation für Einen
aus unserm Volke , der ermordet worden ist , ein Opfer aus
geliefert wird, gleichgültig, ob dieses Opfer der schuldige Mensch
ist oder nicht.

§. 141 .
Während aber in den vorgeschritteneren socialen Entwick
lungsstufen die Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen dem
Betragen und seinen Folgen dazu kommt als durch die Gerech
tigkeit für nothwendig anerkannt zu werden, ist auf den früheren
socialen Stufen die Idee der Gleichheit diejenige, welche haupt
sächlich Anerkennung findet, und zwar unter der Form des Zu
fügens gleichwerthiger Schäden. Es konnte auch kaum anders.
sein. Während der Zeiten unaufhörlichen Kampfes , mit bestimmt
eingetheilten Wunden und Tödtungen, ist dies die einzige Gleich
heit, welche einer Aufrechterhaltung fähig ist . Aus dieser Ge
pflogenheit Tödtungen und Verstümmelungen abzuwägen, strebt
sich indessen offenbar ein Bestandtheil zu der Auffassung der
Billigkeit zu entwickeln .
Wir können auch beobachten , dass die Thätigkeitsäusserungen
eines kämpfenden Lebens selbst Raum gewähren für eine weitere
Entwicklung der Idee ; und gelegentlich entstehen Gebräuche,
welche ein gewisses Aufrechterhalten der Billigkeit erfordern,
selbst mitten in den Kämpfen . Wo er von gewissen frühen in
den indischen Büchern berichteten Kriegen spricht , bemerkt
WHEELER, dass
"" das Gefühl von Ehre , welches zweifellos bei den alten Ksha
triyas entwickelt war, sie den Angriff auf einen schlafenden Feind als
ein nichtswürdiges Verbrechen betrachten liess . " ?? Als Aswattháma
entschlossen war , an dem Mörder seines Vaters Rache zu nehmen,
weckte er selbst seinen schlafenden Feind , ehe er ihn erschlug. "
Und verschiedene Geschichten geben gelegentlich Zeichen
des Glaubens, dass unter gewissen Umständen ―――――――――― besonders bei
persönlichen Kämpfen ――― die Feinde in Lagen gebracht werden
sollten, die annähernd gleich wären, ehe sie angegriffen würden,
§. 141 . Gerechtigkeit . 387

obschon sehr allgemein die Hauptaufgabe das Umgekehrte war


sie unter jedwedem Nachtheil anzugreifen.
Dass allenthalben die Idee der Gleichheit der Behandlung
in die Beziehungen der Menschen zu einander im Allgemeinen,
aber hauptsächlich unter den Mitgliedern einer und derselben
Gesellschaft, eingetreten ist, ist offenbar. Irgend eine beträcht
liche Entwicklung derselben ist aber mit einem kämpfenden
Leben und einer streitbaren Organisation unverträglich gewesen.
Während Krieg , selbst ein zur Wiedervergeltung geführter ,
nothwendigerweise eine Schule der Ungerechtigkeit gewesen ist .
da er Verwundungen und Tod über Individuen brachte, welche
meist am Angriff unschuldig waren, hat er nothwendigerweise
innerhalb einer jeden Gesellschaft einen Organisationstypus hervor
gerufen, welcher die Anforderungen der Gerechtigkeit unbeachtet
liess : in gleicher Weise durch die zwingenden Anordnungen
innerhalb des kämpfenden Theils , durch die Tyrannei über
Sklaven und Leibeigene, welche den industriellen Theil bildeten ,
und durch die unterworfene Stellung der Frauen . Hieraus ent
springt die allgemeine Thatsache, dass im ganzen Verlaufe der
Civilisation die Wechselbeziehungen der Bürger verhältnismässig
gleich nur in dem Maasse geworden sind, in dem die Streitbar
keit weniger vorherrschend wurde, und dass nur in Verbindung
mit dieser Veränderung die Idee der Gerechtigkeit mehr aus
gesprochen worden ist.
Als gegentheilige Zeugnisse muss ich mich wiederum auf
die Gewohnheiten und Empfindungen beziehen , welche eine voll
ständige Friedfertigkeit begleiten. Bereits im vorletzten Capitel
habe ich einige Völkerschaften angeführt, deren Friedfertigkeit
andern Völkerschaften gegenüber Hand in Hand geht mit Fried
fertigkeit unter sich selbst , und natürlich ist dieser Zug zum
Theil jener Achtung vor den Ansprüchen Anderer zuzuschreiben,
welche Gerechtigkeit mit sich bringt. Ferner habe ich bereits
im letzten Capitel Reisende angeführt zum Beweise der grossen
Ehrlichkeit , welche Stämme dieser Classe charakterisiert ; und
natürlich kann ihre Ehrlichkeit in beträchtlichem Grade als ein
Beweis für das vorherrschende Gefühl der Gerechtigkeit ange
nommen werden . Diesen indirecten Zeugnissen will ich hier
noch Zeugnisse einer directeren Art hinzufügen , wie solche
durch die Behandlung der Frauen und Kinder bei ihnen dar
388 Die Inductionen der Ethik. Cap. VI.

geboten werden . In den „ Principien der Sociologie " , §§ . 324 ,


327, habe ich einen Vergleich gezogen zwischen der niedrigen
Stellung der Frauen bei kriegerischen Wilden , ebenso wie bei
den kriegerischen Halbcivilisierten, und der hohen Stellung der
Frauen bei jenen uncultivierten , aber unkriegerischen Völker
schaften ; ich zeigte, dass bei den Todas, so niedrig auch ihre
Stellung in mehrfacher Beziehung ist , die Frauen von aller
harten Arbeit befreit sind , und " nicht einmal vor die Thür
gehen , um Wasser oder Holz zu holen " , dass die Frauen der
Bodo und Dhimáls 99 von jeder Art von Arbeit ausserhalb des
Hauses befreit sind " , dass bei den Hos eine Frau "" die voll
ständigste , ihrem Geschlechte zukommende Achtung geniesst “ ,
und dass bei den arbeitsamen , friedliebenden und ehrsamen "
Pueblos " kein Mädchen gezwungen wird , gegen ihren Willen
zu heirathen “ und „ die gewöhnliche Ordnung der Werbung
umgekehrt ist " , Thatsachen , welche sämmtlich eine An
erkennung jener Gleichheit der Ansprüche erweisen , welche ein
wesentliches Element in der Idee der Gerechtigkeit ist . Und
hier will ich noch ein früher nicht mitgetheiltes Beispiel an
führen , welches die Manansas darbieten , die eine bergige Land
schaft bewohnen, wohin sie sich vor den angreifenden Bamang
watos und Makololo geflüchtet haben . Einer von ihnen sagte
zu HOLUB : "9 Wir brauchen nicht das Blut der Thiere , noch
viel weniger dürsten wir nach Menschenblut " ; sie werden daher
von den machtvolleren Stämmen mit grosser Verachtung ange
sehen . HOLUB sagt indessen , ihre Ehrlichkeit und Anhänglich
keit bezeugend, dass " nichts Schlimmeres gegen sie vorgebracht
werden kann , als ihre beständige Höflichkeit und Freundlich
keit" , und fügt hinzu : „ Sie behandeln ihre Frauen in einer
Weise , welche einen sehr günstigen Contrast darbietet sowohl
den Bechuanas als den Matabeles gegenüber", das heisst, sie
sind verhältnismässig gerecht gegen sie. In ähnlicher Weise
habe ich in den „ Principien der Sociologie " , §§ . 330—332,
gezeigt , wie weit die Art und Weise , wie die Kinder bei
kriegerischen Völkern behandelt werden, welche ihnen gegenüber
die Gewalt über Leben und Tod ausüben und sich Knaben gegen
über bei weitem besser benehmen als Mädchen gegenüber, von
der Art und Weise verschieden ist , in welcher sie von diesen
unkriegerischen Völkern behandelt werden , deren Benehmen
§. 141. Gerechtigkeit . 389

ihnen gegenüber sowohl liebevoll als gleich ist : Mädchen werden


ebenso gut behandelt wie Knaben.
Diesen Andeutungen , dass das Gefühl der Gerechtigkeit
merkbar wird , wo die Lebensgewohnheiten friedlich sind , ist
noch Etwas in Bezug auf den offenkundigen Ausdruck desselben
hinzuzufügen. Von Uncultivierten kann nur wenig Bestimmtes
erwartet werden , da Beides , sowohl das Gefühl als die Idee,
complicierter Art ist. Wir können aber doch annehmen , dass
ein Wald-Veddah , welcher es nicht begreifen kann , dass ein
Mensch das nehmen sollte, was nicht sein eigen ist, doch eine
hinreichend deutliche , wenn auch nicht formulierte Idee von
Gerechtigkeit hat ; und wir dürfen wohl auch sagen, dass diese
Idee bei den friedfertigen Thârus vorhanden ist, "" welche , wenn
sie in die Berge, ihre Zufluchtsorte, fliehen , immer irgend welche
Rentenrückstände , welche sie schuldig sein könnten , in einen
Lappen eingebunden am Thürsturz ihrer verlassenen Häuser
zurücklassen. " Auch können wir nicht daran zweifeln , dass Beides ,
Gefühl und Idee, woraus die Achtung vor den Ansprüchen Anderer
entspringt , bei den Hos vorherrschend sein muss , von denen
wir lesen, es sei nicht unwahrscheinlich, dass ein im Verdacht
des Diebstahls Stehender Selbstmord begehe , wie auch von den
Let-htas , einem als ideal gut beschriebenen eingebornen Berg
volke in Burma, geschildert wird, dass Einer, der von Mehreren
einer schlechten Handlung bezichtigt wird , "" sich an einen ab
gelegenen Ort zurückzieht , dort sein Grab gräbt und sich er
drosselt. " Aber nur wenn wir zu Völkern kommen , welche
sich auf einen hinreichend hohen Culturzustand erhoben haben,
eine Litteratur zu entwickeln , erhalten wir bestimmte
Zeugnisse in Bezug auf den Begriff von Gerechtigkeit, der sich
entwickelt hat , und bei diesen begegnet uns eine sehr bezeich
nende Thatsache .
Denn bei allen alten Gesellschaften im Grossen und Ganzen,
streitbar in ihren Lebensäusserungen, in dem Typus ihres Auf
baues und in dem ganz allgemein eingerichteten System einer
Stammrolle oder einer zwangsweisen Zusammenwirkung , ist Ge
rechtigkeit dem Begriffe nach nicht vom Altruismus im All
gemeinen differenziert. In den Litteraturen der Chinesen , der
Perser , der alten Indier , der Ägypter , der Hebräer wird
Gerechtigkeit meist mit Edelmuth und Humanität zusammen
390 Die Inductionen der Ethik. Cap. VII.

gemengt . Der gewöhnlich für besonders christlich angesehene


Grundsatz , welcher aber , wie wir gesehen haben , in ver
wandter Form bei verschiedenen Völkern der vorchristlichen
Zeit ausgesprochen wurde , zeigt uns dies. " Handle gegen
Andere so, wie Du möchtest, dass sie gegen Dich handelten . "
ist eine Vorschrift, welche Edelmuth und Gerechtigkeit in Eins
verschmilzt . An erster Stelle macht sie keinen Unterschied
zwischen dem , was Andern zu thun Du durch Gründe der
Billigkeit aufgefordert wirst , und dem , was Andern zu thun
Du durch Gründe der Freundlichkeit veranlasst wirst ; und an
zweiter Stelle enthält sie keinerlei, weder ausgesprochene noch
stillschweigende, Anerkennung jener Ansprüche des Handelnden,
welche wir "" Rechte" nennen . In dem Bewusstsein der eigent
lich sogenannten Gerechtigkeit ist ein egoistisches ebenso wohl
wie ein altruistisches Element eingeschlossen, - ein Bewusstsein
der Ansprüche des Selbst und ein sympathisches Bewusstsein
der Ansprüche Anderer. Die Vorstellung und der Ausdruck
dieses Anspruchs des Individuums kann sich in einer zum Krieg
führen organisierten und durch zwangsweise Zusammenwirkung
fortbestehenden Gesellschaft nicht entwickeln . Ganz allgemeine
Lähmung würde die Folge sein, wenn jeder Mensch , innerhalb
der durch Billigkeit vorgeschriebenen Grenzen , die Freiheit
hätte , zu thun was ihm beliebte . Unter einer despotischen
Regierung ist Raum für jedes Maass von Edelmuth , aber nur
für ein beschränktes Maass von Gerechtigkeit. Das Gefühl
und die Idee können nur in dem Maasse zunehmen, in welchem
die äusseren Widerstreite der Gesellschaften abnehmen und die
innere harmonische Zusammenwirkung ihrer Mitglieder zunimmt.

VII . Capitel.

Edelmuth .

§. 142.
Es ist schwierig , die verschiedenen Arten des Benehmens.
welche gewöhnlich unter der Bezeichnung Edelmuth zusammen
gefasst werden , in eine verständliche Ordnung zu bringen. zum
§. 142. Edelmuth . 391

Theil deshalb , weil Vieles , was unter diesem Namen begriffen


wird , nicht von edelmüthigen Gesinnungen eingegeben ist , und
theilweise auch , weil der richtig so genannte Edelmuth seiner
Natur nach compliciert und seiner Zusammensetzung nach ver
schieden ist.
Edelmuth ist ein Gefühl , welches zwei Wurzeln hat : die
eine dieser Wurzeln ist sehr alt und die andere sehr modern.
Seine alte Wurzel ist der Instinct zur Liebe der Nachkommen
schaft (philoprogenetischer Instinct) , welcher , wie er sich in
einem grossen Theile des Thierreichs zeigt, zum Aufopfern seiner
selbst zum Besten der Nachkommen führt. Diese Form von
Edelmuth besteht bei vielen Geschöpfen zusammen mit absoluter
Rücksichtslosigkeit für das Wohlergehen Aller, ausgenommen der
Nachkommen : so ist es in augenfälliger Weise bei den Carnivoren
und in weniger augenfälligem Grade bei den Pflanzenfressern.
Die verhältnismässig moderne Wurzel des Edelmuths ist Sym
pathie, welche von einigen der höheren in Heerden lebenden Ge
schöpfen , so vom Hunde , in beträchtlichem Maasse dargeboten
wird. Dieser Zug ist in verschiedenartigerer und ausgedehnterer
Weise bei menschlichen Wesen entwickelt und besonders bei ge
wissen höheren Typen derselben . Der frühere , dem Gefühl zu
Grunde liegende Factor ist persönlich und eng , während der
spätere unpersönlich und weit ist .
In der Menschheit verbindet der Edelmuth gewöhnlich Beide.
Die Liebe zu den Hülflosen , welche den wesentlichen Theil des
philoprogenetischen Instincts ausmacht , ist nahezu immer mit
genossenschaftlichem Gefühl vergesellschaftet : der Erzeuger sym
pathisiert mit dem Vergnügen und den Schmerzen des Kindes .
Umgekehrt enthält das Gefühl, welches eine edelmüthige Hand
lung eines Erwachsenen gegen einen andern veranlasst , gewöhn
lich ein aus dem früheren Instinct hergeleitetes Element. Das
Individuum , welchem geholfen wird , wird in einer bestimmten
oder ganz unbestimmten Weise als ein Gegenstand des Mitleids
aufgefasst ; und Mitleid ist ein dem elterlichen nahe verwandtes
Gefühl , da es erweckt wird gegenüber einem verhältnismässig
hülflosen oder unglücklichen oder leidenden Wesen.
Eine Folge dieser vermischten Natur dieses Gefühls , wie
es gewöhnlich dargeboten wird , ist die Verwirrung in seinen
Äusserungsweisen bei Rassen auf verschiedenen Stufen ; und ihr
392 Die Inductionen der Ethik. Cap. VII.

müssen folglich die Schwierigkeiten zugeschrieben werden , welche


befriedigenden Folgerungen im Wege stehen.

§. 143.
Einleitungsweise muss ferner noch bemerkt werden , dass
das Gefühl des Edelmuths , selbst in seiner entwickelten Form ,
einfacher ist als das Gefühl der Gerechtigkeit ; es wird daher
auch früher offenbart. Das eine ist das Resultat geistiger Vor
stellungen der Freuden oder Leiden eines Andern oder Anderer —.
es zeigt sich in Handlungen , welche durch die Empfindungen
angeregt werden , die diese geistigen Vorstellungen hervorrufen.
Das andere aber setzt Vorstellungen voraus , nicht einfach der
Schmerzen und Freuden, sondern auch, und zwar hauptsächlich,
Vorstellungen der Bedingungen , welche zur Vermeidung von
Leiden oder zur Gewährung von Freuden erforderlich sind oder
dazu führen. Es schliesst daher eine Reihe von geistigen Thä
tigkeiten ein , welche noch über den , den Edelmuth bildenden
geistigen Thätigkeiten eintreten.
Die Anerkennung dieser Wahrheit macht die Reihe ihrer
Aufeinanderfolge im Verlaufe der Civilisation verständlich .
Und
diese Reihenfolge wird noch begreiflicher gemacht, wenn wir uns
daran erinnern , dass Edelmuth bei Menschen von niederer In
telligenz häufig das Resultat ihrer Unfähigkeit ist, sich deutlich
die Folgen der von ihnen gebrachten Opfer vorzustellen , ―――――― sie
haben keine Voraussicht.

§. 144 .
Zuerst muss von jenem Pseudo -Edelmuth gehandelt werden ,
welcher hauptsächlich aus andern als wohlwollenden Empfindungen
gebildet wird. Der Wunsch für die Wohlfahrt eines Andern ist
allerdings selten ohne einen Zusatz : meist sind noch andere
Motive gegenwärtig , - hauptsächlich das Verlangen nach Bei
fall . Aber für die niedrigsten der anscheinend durch Edelmuth
veranlassten Handlungen bilden diese andern Motive die vor
herrschende oder alleinige Anregung, anstatt in untergeordneter
Weise eine Anregung zu geben .
Die Äusserungen von Gastfreundschaft unter uncivilisierten
oder barbarischen Völkerschaften bieten auffallende Beispiele
dar. Von dem Beduinen, „ gleichzeitig räuberisch und verschwen
derisch " , und welcher peinlich gastfreundlich ist , sagt PALGRAVE :
§. 144 . Edelmuth . 393

77 Er hat im Allgemeinen wenig zu bieten und für das Wenige


verspricht er sich nicht selten einen reichlichen Wiederersatz dadurch ,
dass er seinen Gast der letzten Nacht, wenn er auf seiner Reise am
Morgen wenige Stunden entfernt ist, plündert. "
In ähnlicher Weise erzählt uns ATKINSON von den Kirghisen ,
dass ein Häuptling , welcher die Reisenden nicht belästigt , so
lange sie bei ihm sind , seine Leute ihnen nachschickt , um sie
auf ihrem Marsche auszurauben. Ferner wird in Ost-Africa ein
Häuptling von Urori „ seine Gäste gastfreundlich aufnehmen , so
lange sie in seinem Dorfe bleiben , sie aber plündern in dem
Augenblicke, in dem sie es verlassen . " Noch weit auffallender
sind die anscheinenden Widersinnigkeiten des Benehmens bei den
Bewohnern der Fidschi-Inseln .
„ Ein und derselbe Eingeborne, welcher wenige Yards von seinem
Hause einen ankommenden oder weggehenden Gast um eines Messers
oder Beiles willen ermorden würde, wird ihn mit Gefahr seines eigenen
Lebens vertheidigen , sobald er die Schwelle seines Hauses über
schritten hat. ""C
Und wie eine nur geringe Beziehung zwischen gerechter
weise so genanntem Edelmuthe und Gastfreundschaft in der
artigen Fällen besteht, wird ferner durch die Angabe von JACKSON
erwiesen, dass die Europäer, welche lange Zeit unter den Fidschi
Insulanern gelebt haben, gastfrei geworden sind : „ eine Gewohn
heit , welche sie durch das Beispiel dieser Wilden angenommen
haben. "
Unter den uncivilisierten Völkern im Ganzen, von welchem
Typus sie auch sein mögen, wird Gastfreundschaft einer weniger
verrätherischen Art beständig entfaltet, anscheinend durch einen
Gebrauch veranlasst, dessen Ursprung schwer zu verstehen ist.
,,Gebrauch schreibt die Ausübung von Gastfreundschaft jedem
Aino vor. Sie nehmen alle Fremden auf, so wie sie mich aufgenommen
haben, geben ihnen von ihrem Besten, setzen sie an den ehrenvollsten
Platz, bringen ihnen Geschenke dar und versorgen sie, wenn sie fort
gehen, mit Kuchen von gekochter Hirse . "
Wir lesen , dass unter den Australiern die Gesetze der
Gastfreundschaft es erfordern , dass Fremde
während ihres
Aufenthaltes vollständig unbelästigt bleiben müssen . JACKSON
sagt , dass nach den Regeln der Gastfreundschaft von Samoa
Fremde gut behandelt werden und das Beste von Allem erhalten.
LICHTENSTEIN zufolge sind „ die Kaffern gastfrei " ; und dass „ die
Gastfreundlichkeit der Africaner beinahe von jedem Reisenden
394 Die Inductionen der Ethik. Cap. VII.

erwähnt worden ist , der viel unter ihnen gelebt hat " , wird von
WINTERBOTTOM bemerkt. Von den Stämmen, welche Nord- America
bewohnen, sagt MORGAN :

„ Einer der anziehendsten Züge der Gesellschaft der Indianer


war der Geist der Gastfreiheit , welcher sie durchdrang. Vielleicht
hat niemals irgend ein Volk diesen Grundsatz bis zu dem gleichen
Grade der Universalität geführt, wie es die Irokesen gethan haben. "
So erzählt uns ferner ANGAS von den Neu- Seeländern, dass
sie gegen Fremde sehr gastfrei sind.
Dies letzt genannte Volk zeigt uns , in einem wie hohen
Maasse die Liebe für Beifall ein Factor bei dem scheinbaren
Edelmuthe ist . Die Neu- Seeländer, schreibt THOMSON, Zollen der
Verschwendung eine grosse Bewunderung und wünschen sehr,
bei ihren Festen für freigiebig angesehen zu werden ; und an
einer andern Stelle sagt er, dass bei ihnen 99 das Anhäufen von
Reichthümern, wenn sie nicht zum Verschwenden benutzt werden,
für unehrenhaft gilt " . Einem verwandten Gefühl kann der Zug
zugeschrieben werden, den die Einwohner der St. Augustin -Insel
darbieten, bei welchen die Verstorbenen beurtheilt und in Selig
keit oder Elend geschickt werden je nach ihrer „ Güte “ oder
„ Schlechtigkeit " ; und "" Güte wurde einem nachgesagt , dessen
Freunde ein grossartiges Bestattungsfest gegeben hatten , und
„Schlechtigkeit " einem , dessen geizige Freunde durchaus gar
nichts besorgt hatten. " In manchen Fällen ist eine Folge dieses
gebieterischen Verlangens nach Beifall ein bei Gelegenheit eines
Todesfalls oder einer Hochzeit erforderter Aufwand von einer
solchen Höhe , dass dadurch die Familie für Jahre verarmt wird ;
und in einem Falle, wenn nicht in mehreren, wird weiblicher Kindes
mord im Hinblick auf die Vermeidung des verderblichen Aufwandes
begangen, den die Verheirathung einer Tochter mit sich bringt.
Den hier aufgeführten Motiven , welche Pseudo-Edelmuth
anregen , kann noch ein anderes hinzugefügt werden , welches
die Lebensweise civilisierter Ansiedler in abgelegenen Gegenden
darbietet. Da diese Leute ein einsames Leben führen, so bringt
die Ankunft eines Fremden eine ungeheure Erlösung von der
Monotonie ihres Lebens und befriedigt ihr brennendes Verlangen
nach geselligem Verkehr. Daher kommt es, dass Reisende und
Jäger nicht allein willkommen geheissen werden , sondern selbst
in sie gedrungen wird, zu bleiben .
§. 145. Edelmuth . 395

Es ist daher offenbar das Gefühl, welches in vielen Fällen


den Antrieb zur Gastfreiheit gegen Besucher und zu Festlich
keiten für Freunde abgiebt, ein pro- ethisches Gefühl. Mit ihm
ist nur wenig oder nichts von dem eigentlichen ethischen Gefühl
verbunden .

§. 145 .
Wir finden indessen unter einigen der am meisten uncivili
sierten Völkerschaften Entfaltung eines Edelmuths , welcher
――――――
offenbar echt ist, zuweilen in der That eine stärkere Entfaltung
eines solchen als unter den civilisierten .
BURCHELL erzählt uns selbst von den Buschmännern , dass
sie gegen einander " die Tugenden der Gastfreundschaft und des
Edelmuths oft in einem ausserordentlichen Grade ausüben " . So
sagt er ferner , dass die Hottentotten unter sich selbst und
häufig auch gegen Leute aus andern Stämmen sehr gastfrei
sind ; und KOLBEN drückt die Ansicht aus , dass „in Freigebig
keit und Gastfreundschaft die Hottentotten vielleicht über alle
die andern Nationen der Erde gehen " . Ferner sagt LIVINGSTONE
von den Ost-Africanern :
„ Die wahrhafte Höflichkeit , mit welcher von nahezu allen
Stämmen des Innern , welche nicht viel Verkehr mit Europäern gehabt
haben , Nahrung gegeben wird , macht es zu einem Vergnügen , sie
anzunehmen. “
Obgleich in dem folgenden, das Volk von Loango betreffen
den Auszuge ein Beweis dafür enthalten ist, dass die Liebe zur
Anerkennung ein mächtiger Sporn zu edelmüthigen Handlungen
ist, so scheint er doch auch zu bezeugen , dass mit jener eine
wahre Empfindung von Edelmuth verbunden ist .
„ Sie sind immer bereit, das Wenige, was sie haben, mit denen
zu theilen, von denen sie wissen, dass sie in Noth sind. Wenn sie
beim Jagen und Fischen glücklich gewesen sind oder etwas Seltenes
erlangt haben , so laufen sie sofort herum und erzählen es ihren
Freunden und Nachbarn , Jedem einen Antheil davon gebend. Sie
würden eher vorziehen , sich einzuschränken , als jenen nicht diesen
Beweis ihrer Freundschaft zu geben . Sie nennen die Europäer
,geschlossene Hände ' , weil sie Nichts um Nichts geben . "
Andere Rassen , manche niedriger , manche höher stehend ,
bieten ähnliche Thatsachen dar. Wir lesen , dass die austra
lischen Eingebornen , welche beim Jagen erfolgreich gewesen
sind , immer , und ohne irgend welche Bemerkung zu machen,
SPENCER, Principien der Ethik. I. 26
396 Die Inductionen der Ethik. Cap. VII.

diejenigen ihrer Genossen . welche keinen Erfolg gehabt haben.


mit einem Theil ihres Mahles versorgen. Die von VANCOUVER
gegebene Schilderung der Sandwich-Insulaner zeigt, dass sie in
ihrem Edelmuthe gegen Fremde den meisten uncivilisierten
Völkern, ehe die schlechte Behandlung durch die Europäer sie
demoralisiert hatte, gleich waren . Er sagt :
"2 Unsere Aufnahme und Bewirthung hier [in Hawaii ] seitens
dieser ungebildeten Menschen , welche im Allgemeinen mit dem Namen
von Wilden bezeichnet worden sind , war eine solche, wie sie, glaube
ich , nur selten von den civilisiertesten Nationen von Europa geboten
wird. "
BRETT beschreibt die Stämme von Guiana als „ ihre Kinder
leidenschaftlich liebend , gastfrei gegen Jedermann , und unter
sich edelmüthig einem Vergehen gegenüber " . Als Bestärkung
will ich diesen Beispielen ein anderes aus einer ganz entfernten
Gegend hinzufügen . BOGLE lebte während seines Aufenthaltes
in Thibet mit der Familie des Lamas , d. h. mit dessen Ver
wandten, von denen er viel Freundlichkeit erfuhr. Als er ihnen
Geschenke anbot , verweigerten sie es , dieselben anzunehmen ;
sie sagten : „ Du . . . bist von einem fernen Lande ; es ist unsere
Sache . Deinen Aufenthalt hier angenehm zu machen , warum
willst Du uns Geschenke machen ?"

§. 146.
Verschiedene uncivilisierte Völkerschaften entfalten Edelmuth
noch in andern Weisen als durch Gastfreundschaft , und in
Weisen , welche dies Gefühl noch deutlicher von andern Ge
fühlen losgelöst darbieten . Erläuterungen hierzu bietet jene
sehr niedrig stehende Rasse , die Australier , dar. Sie waren
immer bereit , Mr. EYRE zu zeigen, wo Wasser zu haben war,
und wollten, selbst unaufgefordert, seinen Leuten helfen, nach
Wasser zu graben. Ihre Freundlichkeit in dieser Beziehung
erscheint um so merkwürdiger , wenn man sich erinnert , wie
schwierig es für sie war , eine gehörige Menge für sich selbst
zu finden. STURT erzählt uns , dass ein freundlich gesinnter
Eingeborner bekanntermaassen mit grosser persönlicher Gefahr
für Reisende eingetreten ist , welche ein feindlicher Stamm im
Begriffe war anzugreifen . Mit einem in der Nähe lebenden
Stamme war dasselbe der Fall . Während unruhiger Zeiten in
Tasmanien wurde das Leben weisser Bewohner in mehreren
§. 147. Edelmuth . 397

Fällen „ von den eingebornen Frauen gerettet , welche sich oft


von ihrem Stamm fortstahlen und den Weissen die Nachricht
von einem beabsichtigten Überfalle brachten " . In einer andern
Form zeigen die Bewohner der Tonga- Inseln viel Edelmuth in
ihrem Gefühl . MARINER schreibt von ihnen :

" Sie frohlocken nie über irgend welche Beweise von Tapferkeit ,
welche sie geliefert haben möchten , sondern ergreifen im Gegentheil
jede Gelegenheit , ihre Gegner zu rühmen ; und das wird ein Mann
thun, selbst wenn sein Gegner einfach ein Feigling ist, und wird einen
Entschuldigungsgrund für ihn finden, so : dass die Gelegenheit sehr
ungünstig, oder er sehr ermüdet oder in üblem Gesundheitszustande ,
oder sein Platz ein schlechter gewesen ist, u . s . f. "
Diese und viele verwandte Thatsachen beweisen offenbar,
dass der so oft für uncivilisierte Völker gebrauchte Name
92 Wilde " uns irreleitet , und legen es nahe , dass dieser Name
mit viel grösserer Berechtigung auf Viele unseres eignen Volkes
und unserer europäischen Nachbarn angewendet werden könnte .

§. 147.
Wenn , wie wir gesehen haben , Edelmuth weit verbreitet
ist bei Völkern , welche sich nicht aus niedrigen Culturstufen
erhoben haben, und zwar in der Form einer durch den Gebrauch
aufgenöthigten Gastfreiheit, in welchem Falle aber dieselbe viel
fach geheuchelt wird , oder in Formen, in welchen er entschie
dener echt ist, so brauchen wir nicht überrascht zu sein , Aus
drücke edelmüthiger Gesinnung oder Vorschriften zur Ausübung
edelmüthiger Handlungen in den frühen Litteraturen von Rassen
zu finden, welche sich auf höhere Zustände erhoben haben. Die.
alten Bücher der Indier liefern hierfür Beispiele . Hier ist ein
Auszug aus dem Rig -Veda, welcher eine eigennützige und nicht
auf Sympathie beruhende Anregung zum Edelmuth darbietet :
" Die Geber von Reichthum wohnen hoch im Himmel ; die Geber
von Pferden leben mit der Sonne ; die Geber von Gold erfreuen sich
der Unsterblichkeit ; die Geber von Kleidung verlängern ihr Leben. "
In ähnlicher Weise wird Rig- Veda X. 107 die Freigebig
keit gegen Priester gepriesen :
„ Ich betrachte den als den König der Menschen, der zuerst ein
Geschenk darbrachte ...
. . . Der weise Mann giebt reichliche Gaben ,
indem er sein Brustschild giebt . Grossmüthige Menschen sterben.
weder, noch gerathen sie in Unglück ; weder Unrecht noch Schmerz
26 *
398 Die Inductionen der Ethik. Cap. VII.

erleiden sie. Ihre Freigebigkeit verleiht ihnen sowohl diese ganze


44
Welt als auch den Himmel .
In dem Gesetzbuche des Manu lesen wir ferner , dass
Fremden der Aufenthalt gestattet werde und sie gut bewirthet
werden sollen. Er muss vor dem Hausherrn essen (III. 105) .
Die Ehrung eines Gastes verleiht Reichthum , Ansehen , Leben
und den Himmel (III . 106 ; IV . 29) und erlöst von Schuld (III . 98).
Und ähnliche Gründe für Gastfreiheit giebt auch APASTAMBA :
Die Aufnahme von Gästen wird belohnt durch " Freibleiben von
Unglücksfällen und durch himmlische Wonne " (II. 3 , 6. 6). 2 Der,
welcher Gäste für eine Nacht aufnimmt , erlangt irdisches Glück, eine
zweite Nacht bringt die mittlere Luft, eine dritte himmlisches Glück,
eine vierte die Welt unübertreffbarer Wonne, viele Nächte verschaffen
endlose Welten " (II. 3 , 7 , 16 ) .
Die Litteratur der Perser enthält ähnliche Gedanken . In
dem Shâyast wird gesagt, die Kleider der Seele in der, nächsten
Welt werden gebildet 29 aus Almosen " . Stellen im Gulistan
schreiben Freigebigkeit vor, während sie Askese tadeln .
" Der freigebige Mann, welcher isst und mittheilt, ist besser als
der fromme Mann , welcher fastet und zusammenscharrt. Wer nur
die Üppigkeit aufgegeben hat, um die Billigung der Menschen zu er
langen, ist von der gesetzlichen zur ungesetzlichen Wollust abgefallen. "
In demselben Werke findet sich eine noch positivere Vor
schrift edelmüthig zu sein , aber noch immer in Begleitung des
eigenen Interesses als Motiv .
"2 Handle gut und sprich nicht davon , und sicherlich wird Dir
Deine Güte belohnt werden. "
Wenn wir uns nach China wenden , so finden wir im Con
fucius verschiedene verwandte Vorschriften , auch losgelöst von
der Anregung niedrigerer Motive . Hier folgen einige Beispiele :
" Wenn nun ein Mensch von vollkommener Tugend wünscht,
selbst festgegründet zu sein , so sucht er auch Andere fest zu gründen ;
wenn er wünscht , sich zu erweitern , so sucht er auch Andere zu
erweitern. "
"7 Der Meister hat gesagt : Wenn auch ein Mensch Fähigkeiten
hat , so bewundernswerth wie diejenigen des Herzogs von Chow, so
sind doch, wenn er stolz und filzig ist , diese andern Dinge wirklich
nicht werth, beachtet zu werden ."
„Wenn irgend einer von seinen [Confucius] Freunden starb und
derselbe hatte keine Verwandten , auf welche man sich wegen der
nothwendigen Gebräuche verlassen konnte , sagte er , ,Ich werde ihn
begraben. ""
§. 148. Edelmuth . 399

Dass sich in den heiligen Schriften der Hebräer gleichartige


Ermahnungen finden , hier verbunden mit Versprechungen über
natürlicher Belohnungen , dort ohne derartige Versprechungen ,
braucht nicht erwähnt zu werden . Es muss indessen hinzu
gefügt werden, dass wir durch die oben angeführten Stellen nicht
in den Stand gesetzt werden, die von Indiern, Persern, Chinesen
oder Hebräern dargebotenen Charakterzüge mit denen zu ver
gleichen, welche uns in den vorstehend gegebenen Schilderungen
Reisende von uncivilisierten Völkern erzählen ; denn diese Stellen
sind den Schriften ausnahmsweise begabter Männer Dichter
und Weisen entnommen. Obgleich nun aber auch heftige
Reaction gegen eine Alles durchziehende Selbstsucht meistens
die Ursache der übertriebenen Äusserungen von Edelmuth ge
wesen sein mag , so müssen wir doch zugeben, dass die blosse
Möglichkeit solcher übertriebener Ausdrücke immerhin etwas
werth ist.

§. 148.
Was den Edelmuth bei europäischen Völkern betrifft , wie
solcher in der Geschichte auf den aufeinander folgenden Stufen
ihres Fortschrittes dargeboten wird , so können sehr bestimmte
Angaben nicht gemacht werden. Wir haben Beweise dafür ,
dass in frühen Zeiten nahezu die nämlichen Gefühle und Ge
-
wohnheiten bestanden , wie sie bei Wilden jetzt bestehen ,
Gewohnheiten , welche Edelmuth simulieren . TACITUS sagt von
den alten Deutschen :
„ Keine Nation giebt sich verschwenderischer den Bewirthungen
und der Gastfreiheit hin . Irgend ein menschliches Wesen von ihren
Wohnungen auszuschliessen, wird für gottlos gehalten. "
Und diese Gebräuche und Ideen giengen , wie wir wissen,
Hand in Hand mit einem vollständigen Mangel an Sympathie :
sie enthielten nur das durch Überlieferung geheiligte Schauspiel
von Edelmuth .
Durch das ganze Mittelalter und herab bis auf vergleichs
weise neuere Zeiten sehen wir in Verbindung mit der zurück
weichenden Schaustellung von Edelmuth wenig mehr als einen
durch die Hoffnung , sich dadurch die göttliche Gunst zu er
kaufen , angeregten Edelmuth . Dieser Beweggrund ist voll
kommen in dem Worte ausgedrückt : „ Wer sich des Armen er
barmet, der leihet dem Herrn " (Sprüche Sal . XIX . 17 ) ; und es
400 Die Inductionen der Ethik. Cap. VII.

wird erwartet, dass der Herr gute Zinsen zahlt. Das Christen
thum stellt selbst in seiner anfänglichen Form das Almosengeben
als ein Mittel zur Seligkeit dar ; und während vieler Jahrhunderte
der christlichen Geschichte hatte das Geben von Almosen wenig
andere Motive . Ebenso wie sie Kapellen bauten , um Verbrechen
dadurch auszugleichen , oder wie sie Sklaven frei liessen , um
Frieden mit Gott zu machen, so war ausser dem Verlangen nach
Beifall, welcher der Freigebigkeit folgte , das einzige Motiv für
die Reichen , Werke der Liebe zu thun , ein anderes weltliches
Motiv : die Furcht vor der Hölle und der Wunsch nach dem
Himmel. Wie Mr. LECKY bemerkt : „ Die Leute gaben Geld den
Armen , einfach und ausschliesslich zu ihrem eigenen geistigen
Vortheil , und die Wohlfahrt des Leidenden war ihren Gedanken
vollständig fremd . " Wie vollständig dem mit Recht sogenannten
Edelmuth fremd das dabei wirksame Gefühl war, wird durch das
Geständnis erwiesen , welches an der von Mr. LECKY angeführten
Stelle Sir THOMAS BROWNE ohne zu erröthen und geradezu mit
Selbstbefriedigung macht : „ Ich gebe keine Almosen , um den
Hunger meines Bruders zu stillen , sondern um den Willen und
Befehl meines Gottes zu erfüllen und auszuführen . "
In neueren Zeiten indessen lässt sich echter Edelmuth in
zunehmendem Maasse erkennen, ―――― das ethische Gefühl als unter
schieden von dem pro- ethischen Gefühl . Wenn sich auch noch
immer in vorherrschendem Maasse jene transcendentale Selbst
sucht findet , welche hier Gutes thut , um im Jenseits Seligkeit
zu erlangen, wenn selbst noch grosse Mengen von Menschen
vorhanden sind, welche, im Geiste von Sir THOMAS BROWNE sich
nicht über das Bekenntnis schämen, dass ihre Liebesthaten gegen
Andere mehr durch den Wunsch Gott zu gefallen angeregt werden,
als durch den Wunsch menschliche Wohlfahrt zu fördern , so giebt
es doch auch Viele, welche beim Erzeigen von Wohlthaten haupt
sächlich, und Andere , welche gänzlich durch das Mitgefühl mit
denen, welchen sie helfen , bestimmt werden . Und ausser den
Offenbarungen dieses Gefühls echten Edelmuths in privaten Hand
lungen finden sich gelegentlich auch Offenbarungen desselben in
öffentlichen Handlungen ; so z . B. als die Nation ein Opfer von
zwanzig Millionen baren Geldes brachte, dass die westindischen
Sklaven emancipiert werden konnten .
Dass diese Entwicklung wahren Edelmuthes eine Folge der
§. 149 . Edelmuth . 401

Zunahme von Sympathie gewesen ist, und dass Sympathie Raum


zur Bethätigung und zum Wachsthum mit dem Fortschritt zu
einem geordneten und freundlichen gesellschaftlichen Leben er
langt hat, bedarf kaum einer besondern Erwähnung.

§. 149 .
Aus den bereits Anfangs mitgetheilten Gründen ist es
schwierig , die verschiedenen Äusserungsformen von Pseudo
Edelmuth und von Edelmuth im eigentlichen Sinne zu Verall
gemeinerungen einer bestimmten Art zu verwerthen. Und das
Hindernis , welches eine Folge der Complexität und der ver
schiedenen Zusammensetzung der zu edelmüthigen Handlungen
treibenden Erregung ist , wird noch durch die Unbeständigkeit
der Gemüthszüge vergrössert , welche die Menschen, namentlich
die niederen Typen der Menschen darbieten . Gleichgewichtslos ,
wie ihre Naturen sind , handeln sie in vollständig entgegen
gesetzter Weise , je nach dem Antriebe , welcher sich für den
Augenblick im Besitze des Bewusstseins befindet. ANGAS berichtet,
dass 99Kindesmord bei den Neu-Seeländern häufig" sei . Und
doch lieben beide Eltern ihre Kinder fast abgöttisch " ; und
während sie Cook als „ unbarmherzig gegen ihre Feinde" be
schrieben hat, beobachtete THOMSON, dass sie gegen ihre Sklaven
freundlich waren . Andere Beispiele werden von den Neger
Rassen dargeboten. READE sagt , dass in Theilen des äqua
torialen Africa , wo sich die grösste Treulosigkeit findet , auch
starke Beweise anhänglicher Freundschaft gefunden werden . In
Bezug auf die Ost- Africaner schreibt BURTON:
99, Wenn die Kindheit vorübergegangen ist , werden Vater und
Sohn natürliche Feinde , nach der Art wilder Thiere. Und doch sind
sie eine sociale Rasse und der plötzliche Verlust von Verwandten
führt zuweilen von Trauer zu Hypochondrie und Wahnsinn . “
Bei Abwesenheit jener höheren Gemüthsbewegungen , welche
dazu dienen, die niederen einzuordnen, bestimmen diese letzteren
die Handlungen einzeln , und zwar bald in dieser , bald in
jener Weise , je nach den Zufälligkeiten des Augenblicks . Wir
erhalten daher nur durch Vergleichung der Extreme einige
Aussicht, irgend welche bedeutungsvolle Beziehungen der That
sachen entdecken zu können.
In den Schilderungen jener grausamsten Wilden , der
402 Die Inductionen der Ethik. Cap. VII.

menschenfressenden Bewohner der Fidschi-Inseln , welche can


nibalische Götter anbeten , ――――― Wilde , deren Ehrentitel sind : „ Ver
wüster der und der Küste" , "" Entvölkerer der und der Insel".
und welche Scheusslichkeiten begiengen , von denen WILLIAMS
sagte ich darf sie hier nicht erzählen “ , wird keinerlei Edel
muthes Erwähnung gethan , ausser dem , welcher zur Schau
stellung dienen soll . Unter den räuberischen rothen Menschen
von Nordamerica können die Dakotas herausgehoben werden.
welche im höchsten Grade die durch ein Leben chronischer
Kriegführung genährte Sucht zu Angriffen und zum Rächen
zeigen, - Menschen, welche Gefangene, besonders betagte , ihren
Squaws ausliefern , dass diese sie zu ihrem Amusement foltern .
Von Edelmuth wird hier nur gesprochen , um seine vollständige
Abwesenheit zu erwähnen : der Dakota ist unedelmüthig, sagt
BURTON, er giebt niemals , ausgenommen um mehr dafür zurück
zuerhalten. Von den Nagas, in beständigem Kampfe, Dorf mit
Dorf ebenso wie mit benachbarten Rassen, Blutfehden bis zum
Extrem durchführend , als Räuber und Mörder gefürchtet und
ihre todten Feinde immer verstümmelnd , lesen wir ähnlich, dass
‫ܟ‬ihnen jeder Funke von Edelmuth fehlt und dass sie auch nicht
die werthlosesten Gegenstände geben, ohne dafür Belohnung zu
empfangen" .
Für den umgekehrten Zusammenhang von Charakterzügen
sind die Zeugnisse gewöhnlich nicht deutlich , und zwar aus dem
Grunde, dass der nicht beständige Feindseligkeiten durchführen
den Stämmen zugeschriebene Edelmuth meistens von der Art
ist , welche sich in Gastfreiheit äussert ; und diese ist immer der
Auslegung offen, dass sie zum Theil, wenn nicht gänzlich, Folge
von Gebrauch oder von Neigung zur Schaustellung ist . So erzählt
COLQUHOUN , welcher von den gastlichen Eingebornen " spricht
und sagt :„ es ist geradezu erfrischend , von den christlichen
Anamiten zu den weniger abstossenden , wenn auch heidnischen
Bergstämmen (den Steins , welche 99 von Fieber heimgesuchte
Striche" , wo sie ein friedliches Leben führen können, bewohnen)
zu kommen " , dass bei ihnen ein Fremder eines Willkommens
sicher ist. Das gemästete Schwein oder Huhn wird sofort ge
schlachtet, der Freundschaftsbecher gebracht. In ähnlicher Weise
spricht Mr. COLQUHOUN in seinem früheren Werke Across Chrysê.
wo er von den eingebornen , hier und da inselartig zwischen
§. 149. Edelmuth . 403

den erobernden Tataren lebenden Stämmen erzählt , von diesen


als sehr angenehm in ihrem Benehmen , freundlich und gast
frei " ; und später führt er die Eindrücke eines dort lebenden
französischen Missionärs an , welcher von den friedlichen ein
gebornen Bewohnern als 29 einfach , gastlich , ehrlich " , le bon
coeur habend sprach , während sein Urtheil über die herr
schenden Chinesen und besonders die militärischen Mandarine
war : „être mandarin , c'est être voleur, brigand ! " Von gleicher
Bedeutung ist der Unterschied, welchen der Abbé FAVRE in seiner
„ Schilderung der wilden Stämme der Malayischen Halbinsel"
darstellt. Auf der einen Seite beschreibt er die erobernde Rasse .
die Malayen, als voll von räuberischen Lastern , lügnerisch , be
trügend , plündernd „ Niemand kann ihnen irgend Etwas
anvertrauen" ―――――― und weit entfernt , gastfreundlich zu sein ,
wenden sie alle Mittel an , den Reisenden zu rupfen . Von den
eingebornen Leuten , die 99 in die sicheren Plätze des Innern ge
flohen sind, wo sie seitdem in einem wilden Zustande fortgelebt
haben “ , erzählt er andererseits , dass ihre Streitigkeiten ohne
Kämpfe und Bosheit" ausgeglichen werden, dass sie "" durchaus
harmlos “ und 27 im Allgemeinen freundlich , leutselig und zu
Dankbarkeit und Wohlthun geneigt , freigebig und edelmüthig
sind. Die Beiden kurz einander gegenüberstellend , sagt er:
„ Die Handlungen der Malayen zeigen allgemeine niedrige
Empfindung und schmutziges Gefühl ; die Jakuns sind dagegen
von Natur stolz und edelmüthig. " Dann fragt er : „Woher
kommt eine so merkwürdige Verschiedenheit ? " Als eine Ursache
schildert er „ die Plündereien und blutigen Thaten " der see
räuberischen Malayen , während die Jakuns an ihren festen
Orten zu ruhigem Leben gebracht worden sind . Zuletzt sei
nur noch gestattet , den Fall der friedfertigen und „ einfachen
Arafuras " anzuführen , von denen der französische Resident,
Mr. BIK , sagt : „Sie haben einen sehr entschuldbaren Ehrgeiz ,
den Namen reicher Leute zu erlangen , dadurch , dass sie die
Schulden ihrer ärmeren Dorfgenossen bezahlen ... Der einzige
Gebrauch, den sie von ihrem Reichthum machen, ist daher der,
Streitigkeiten auszugleichen. "
404 Die Inductionen der Ethik. Cap. VIII.

VIII . Capitel.

Humanität .

§. 150 .
Die Scheidung zwischen dem in diesem Capitel zu behan
delnden Gegenstande und dem im letzten Capitel behandelten
ist in hohem Maasse künstlich und ist nur durch Gründe der
Bequemlichkeit zu vertheidigen . Freundlichkeit, Mitleid , Barm
herzigkeit , welche wir hier unter dem allgemeinen Abschnitt
der Humanität zusammenstellen , sind dem Edelmuth nahe ver
wandt, obgleich sie weniger dem ausgesetzt sind , durch nied
gere Gefühle simuliert zu werden . Es sind dies sämmtlich
altruistische Gefühle und haben als gemeinsame Wurzel das
Mitgefühl. Wir dürfen daher zu finden erwarten, wie wir auch
finden werden , dass in Bezug auf ihre Beziehungen zu andern
Charakterzügen , und zum Typus des socialen Lebens beinahe
dasselbe von ihnen gesagt werden kann , was vom Edelmuth
gesagt werden kann.
Es kann von ihnen auch wie vom Edelmuthe gesagt werden,
dass , während sie in ihrer entwickelten Form hauptsächlich
durch die geistigen Vorstellungen von den Schmerzen oder
Freuden anderer Wesen angeregt werden , sie gewöhnlich zuletzt,
wenn sie es auch in hauptsächlichem Maasse zuerst thun , das
elterliche Gefühl mitenthalten , jenes Gefühl , welches durch das
Bewusstsein der verhältnismässigen Unfähigkeit oder Hülflosig
keit erregt wird, ―― das Vergnügen , welches durch das Sorgen
für Etwas empfunden wird, was stillschweigend um Hülfe bittet.
Die gemischte Beschaffenheit dieser Empfindungen, welche hieraus
entsteht , vergrössert , wie beim Falle des Edelmuthes , die
Schwierigkeit einer Verallgemeinerung.
Eine weitere Schwierigkeit, welche allerdings eine Folge der
letzteren ist , entspringt aus den einander widersprechenden Ge
müthserregungen , welche viele Typen von Völkern , besonders die
niedrig stehenden Typen, entfalten. So , während einerseits MOFFAT
anführt, die Buschmänner können ihre Kinder ohne Gewissens
bisse tödten , " und während LICHTENSTEIN uns erzählt, dass keine
andern Wilden " einen so hohen Grad von brutaler Grausamkeit "
§. 151. Humanität. 405

darbieten, sagt MOFFAT, wo er von den ihm, während er krank


war, erwiesenen Aufmerksamkeiten spricht : „ ich war tief gerührt
durch die Sympathie dieser armen Buschmänner , denen wir
vollkommen fremd waren. " Mit BURCHELL übereinstimmend be
schreibt KOLBEN die Hottentotten als freundlich , freigebig , wohl
wollend ; und doch erfahren wir, durch KOLBEN ebenso wie durch
SPARRMAN , dass sie häufig Kinder lebendig begraben und ihre
Alten an einsamen Stellen allein sterben lassen. Dasselbe ist
auch bei den Australiern der Fall. Während sie ihre alten
Leute verlassen , wenn sie sterben , und oft ihre Kinder um
bringen , werden sie als liebende und nachsichtige Eltern und
als häufig Reisenden freundliche Stimmung zeigend dargestellt.
Noch auffallender wird dieser Contrast in Borneo dargeboten,
wo nach der Erzählung BOYLE'S häufig ein Dyak " durch ein
erobertes Dorf rennend gesehen wurde , welcher in seinen Armen
ein kleines Kind so zärtlich wie möglich umfasste , ohne den
blutbedeckten Kopf von dessen Vater aus der Hand zu lassen . "
Solchen Thatsachen gegenüber scheint es unwahrscheinlich,
dass unsere Inductionen betreffs der Beziehungen humaner Em
pfindungen zum Typus der Menschen und zum gesellschaftlichen
Typus mehr als grobe Annäherungen sein könnten .

§. 151.
Wir können passender Weise mit Beispielen des vollstän
digen Fehlens von Sympathie beginnen, welches bald die nega
tive Form einfacher Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden
Anderer , bald die positive Gestalt von Entzücken an ihrem
Leiden annimmt. Von den Karenen sagt MASON :

„ Ich habe bei einem alten Weibe gestanden , welches allein in


einer elenden Hütte starb und vergebens versuchte, ihre Kinder und
Enkelkinder, die ganz nahe bei waren, dazu zu bestimmen , dass sie
kämen, ihr zu helfen. "

Das Fehlen von Gefühl , wie es die Menschen von Hon


duras zu HERRERA's Zeiten darboten, weist er in dem Beispiele
nach, wo eine Frau es verweigerte, ein Huhn für ihren kranken.
Mann zu schlachten ; sie sagte : " ihr Mann würde doch sterben
und dann verlöre sie ihn und das Huhn dazu." Verschiedene
Negerrassen bieten ähnliche Beispiele dar . Während MONTEIRO
in Betreff der Eingebornen von Loando sagt , dass "" der Neger
406 Die Inductionen der Ethik. Cap. VIII.

keine Neigung zur Grausamkeit hat (d . h . nicht factisch grausam


ist) , so hat er doch nicht die leiseste Idee von Barmherzigkeit.
Mitleid oder Mitgefühl :
„ Ein Mitgeschöpf oder Thier , was sich vor Schmerz oder
Martern windet , ist für ihn ein Anblick , der im hohen Grade zur
Heiterkeit und Belustigung anregt. "
DUNCAN und BURTON stimmen in dem Ausspruche überein.
dass die Dahomeer, denen Beides, sowohl Dankbarkeit als Mit
gefühl , selbst in ihren eignen Familien fehlt, " " was elterliche
Liebe betrifft, tiefer stehen als Thiere " . Ferner sehen wir bei den
Ashantis diese Gleichgültigkeit zu einem Princip des Benehmens
ausgebildet. Zwei Sprichwörter lauten, wie sie BURTON wieder
giebt , so : „ Wenn ein Andrer Schmerzen leidet , so leidet. [ für
Dich] ein Stück Holz. " „ Das Unglück Andrer geht Dich nichts
an ; beunruhige Dich nicht deswegen . "
Wenn wir von einer negativen zur positiven Grausamkeit
übergehen , so finden wir bei den Damaras Beispiele beider.
BAINES sagt von ihnen :
„ Jedermann weiss , dass bei andern Stämmen die betagten und
hülflosen Individuen verlassen werden , um umzukommen , dass aber
eine Mutter sich weigern sollte , einige wenige Bündel Gras zu
pflücken , um eine Hütte zum Schlafen für ihre kranke Tochter zu
schliessen . . . ist doch beinahe kaum zu glauben . “
Und der Angabe GALTON'S zufolge wird ein kranker Mensch
„ von seinen Angehörigen aus seiner Hütte vom Feuer weg in
die Kälte gestossen ; sie thun Alles, was sie nur können, seinen
Tod zu beschleunigen. " So kann ferner der negativen Unmensch
lichkeit der Dahomeer , die oben erwähnt wurde , noch ihre
positive Unmenschlichkeit angereiht werden , wie sie sich bei
spielsweise in den jährlichen Gebräuchen " zeigt , bei denen
zahlreiche Opfer geschlachtet werden , um einen verstorbenen
König "" mit neuem Gefolge in der Schattenwelt zu versorgen " ,
und wie sich ferner in dem Gebrauche zeigt , ihre Häuser mit
zahlreichen menschlichen Schädeln zu verzieren , zu deren Er
langung sie Krieg führen . Von ähnlichen Zeugnissen giebt
HOLUB eines in Bezug auf die Marutse, behauptend , dass „ eine
thierische Grausamkeit einer der vorherrschenden Fehler dieser
Menschen" sei ; ein anderes wird von Lord WOLSELEY gegeben.
welcher sagt , dass die Lust am Blutvergiessen und die Lust,
menschlichen körperlichen Leiden in jeder Form zuzusehen, für
§. 152. Humanität . 407

die Neger von Westafrica ein wirkliches , natürliches Ver


gnügen ist. "
Diesen Beispielen positiver Unmenschlichkeit können noch
die hinzugefügt werden , welche die räuberischen Stämme von
Nordamerica darbieten, welche, während sie ihre jungen Männer
damit erziehen , dass sie sie Martern unterwerfen , auch ihre
Feinde martern . " Wölfe von Weibern geboren " , wie die Prairie
Indianer genannt werden , überantworten sie "" eine alte Frau
oder einen alten Mann " zum Martern „ den Squaws und Papusen
[Kindern ] , pour les amuser" . BURTON, welcher uns dies erzählt,
sagt von den Yutahs , dass sie ,, so grausam sind , wie es ihr
beschränkter Intellect ihnen zu sein gestattet" . Von einer
andern Autorität erfahren wir , dass bei den Comanchen die
Squaws grausamer sind als die Männer und sich an dem Martern
der Gefangenen ergötzen .

§. 152.
Wie oft regen doch missbräuchlich angewandte Worte irre
leitende Gedanken an ! Die Bezeichnung „ Wilde “ , ursprünglich
roh, wild, uncultiviert bedeutend, wurde consequent auf die ein
gebornen Bevölkerungen angewandt. Ein verrätherisches und
grausames Benehmen gegen Reisende, wie es manche von ihnen
aus Wiedervergeltung zeigten , wurde als ganz allgemeiner
Charakterzug betrachtet ; und „ Wild " kam zu der Bedeutung
"" Grausam" . Daher rührt die grundlose Annahme , dass Wild
heit in diesem Sinne die uncivilisierten Völker im Gegensatz zu
den civilisierten charakterisiere . Es ist aber die Unmenschlich
keit , welche die als civilisiert bezeichneten Rassen dargeboten
haben , sicherlich nicht geringer , und ist oft grösser gewesen
als die von Rassen dargebotene , welche als uncivilisiert auf
geführt werden .
Übergehen wir die mannichfaltigen Greuelthaten , welche die
Annalen der alten orientalischen Nationen beflecken, von denen
die Assyrier als Beispiel angeführt werden können , zählen wir
nur die Thaten der bewunderten homerischen Griechen auf
Lügner, Diebe und Mörder, wie GROTE nachweist , - deren Helden
in Greuelthaten schwelgen ; halten wir uns auch nicht bei den
Brutalitäten der Spartaner oder der Verschlagenheit , wenn nicht
etwas Schlimmerem, der späteren Griechen auf: wir wollen uns
408 Die Inductionen der Ethik. Cap . VIII.

zu den Römern wenden, deren erbarmungslose Civilisation , von Be


wunderern ihrer Eroberungen gepriesen, Jahrhunderte von Elend
über Europa brachte . Zwanzig Generationen raubgieriger Kriege
entwickelten eine Natur, deren Wildheit von der der schlimmsten
uns bekannten barbarischen Rassen nur selten erreicht worden
ist . Obgleich das Martern der Gefangenen von den nordameri
canischen Indianern ausgeübt wurde , hatten sie doch nicht die
Gewohnheit , ihre Sklaven zu martern . Obgleich es bei den
Fidschi-Insulanern unterworfene Stämme gab, welche dem aus
gesetzt waren , bei cannibalischen Festlichkeiten gebraucht zu
werden, so giengen sie doch nicht so weit , Hunderte von Mit
sklaven zusammen mit einem, der seinen Herrn ermordet hatte.
zu tödten . Und wenn uncivilisierte Völker sehr häufig diejenigen
von den Besiegten , welche nicht erschlagen wurden, in Knecht
schaft nahmen , so bildeten sie doch keine Heerden aus ihnen .
liessen sie nicht wie Hausthiere arbeiten und sprachen ihnen
nicht alle menschlichen Privilegien ab ; auch benutzten sie keine
von jenen, ihren Appetit nach Blutvergiessen durch Kämpfe in
den Arenen zu befriedigen , Appetite , welche in Rom so all
gemein waren , dass das Bedürfnis , sie zu befriedigen , mit dem
Bedürfnis , den körperlichen Hunger zu befriedigen, verbunden
hingestellt wurde. Gebraucht man das Wort „ Wilde " in seiner
modern angenommenen Bedeutung , so können wir ganz wohl
sagen, dass, die Fidschi -Insulaner ausser Vergleich gelassen , die
weissen Wilden von Rom alles das übertroffen haben , was die
dunklen Wilden irgendwo anders gethan haben.
Wenn die Menschen nicht durch theologische Voreingenommen
heit und durch das Gefühl des Patriotismus geblendet wären, so
würde es ihnen klar werden, dass auch durch das ganze christ
liche Europa während des grösseren Theiles seiner Geschichte
die durch die Kriege zwischen Gesellschaften ebenso wie durch
die Fehden innerhalb der einzelnen Gesellschaften beförderte Un
menschlichkeit zu Extremen geführt worden ist, welche noch über
die von niedrig stehenden , von uns als wild angesehenen Völker
schaften erreichten hinausgehen . Wenn auch die von solchen halb
civilisierten Rassen wie den Mexicanern und Central- Americanern
verübten Scheusslichkeiten , wie das Lebendig - Schinden ihrer
Opfer und das Herausreissen ihrer schlagenden Herzen, in Europa
wohl nicht ihres Gleichen gefunden haben , so haben die sich
§. 153 . Humanität . 409

laut zu einer Religion der Liebe bekennenden Europäer jene in


ihren mannichfaltigen , scharfsinnig ausgedachten Veranstaltungen,
Ketzern, Hexen und politischen Missethätern langdauernde Todes
kämpfe zu bereiten , bei weitem übertroffen . Und selbst jetzt
noch werden , obgleich in der Heimath die erziehende Wirkung
eines friedfertigen socialen Lebens derartige Unmenschlichkeiten
nahezu zum Verschwinden gebracht hat, in der Fremde von unserm
Volke noch immer unmenschliche Thaten begangen , wenn auch
nicht von der Art jener, so doch von anderer Art. Die Thaten
der australischen Ansiedler den Eingebornen gegenüber , der
Strandräuber und Seelenverkäufer im Stillen Ocean sind Bei
spiele, welche in nur allzu lebendiger Weise das barbarische Be
nehmen der europäischen Eindringlinge den eingebornen Rassen
gegenüber erläutern , Rassen, welche, wenn sie Wiedervergeltung
üben , als „ Wilde " verurtheilt werden.

§ . 153.
Während Menschen verschiedener Varietäten des Mitgefühls
und der aus diesem hervorgehenden moralischen Charakterzüge
bar zu sein scheinen, giebt es doch Menschen anderer Varietäten ,
welche, wenn sie auch in Bezug auf allgemeine Cultur niedriger
als wir selbst stehen mögen , doch , was Menschlichkeit betrifft ,
uns gleich sind , und von denen einige sogar höher stehen als
wir. Ich reihe hier in der kürzesten Weise die Zeugnisse von
Reisenden aneinander, deren Namen in dem Litteraturnachweise
zu finden sind .
Die Veddahs sind "" im Allgemeinen sanft und liebevoll " ;
" Witwen werden immer von der Gemeinde erhalten." Tanna
Insulaner : Die Kranken werden bis zuletzt freundlich gepflegt. "
In Neu-Guinea haben manche Stämme Europäern , welche ihrer
Willkür verfallen waren, grosse Menschlichkeit gezeigt. Dyaks
" Human bis zu einem Grade, welcher uns wohl beschämen dürfte . "
Malagassen : „ Behandeln einander mit mehr Humanität als wir
es thun. " Eskimos : "" Wie unter einander , kann es kein Volk
geben, welches sie in dieser Tugend , Wohlwollen des Herzens ,
übertreffen könnte. " Irokesen : " Güte gegen die Waisen , Gast
freundschaft gegen Alle und allgemeine Brüderlichkeit “ wurde
vorgeschrieben. Chippeways : ehe die weissen Menschen kamen ,
wurde mehr 99 Liebe gegen einander ausgeübt ; Witwen und
410 Die Inductionen der Ethik. Cap . VIII.

Waisen wurden niemals in Armuth und Mangel leben gelassen. "


Araucanier : Kein bedürftiges Individuum ist zu finden . . . die
jenigen , welche am unfähigsten sind sich zu erhalten , werden
anständig gekleidet “ : „ sind edelmüthig und menschlich gegen die
Besiegten. " Mandingos : „ Es ist mir unmöglich , die uneigen
nützige Liebe und zarte Sorgfalt zu vergessen , mit welchen
viele dieser armen Heiden . . . mit mir bei meinen Leiden sym
pathisierten . " Und wo KOLFF von der „fortwährenden Freund
lichkeit der Einwohner von Luan spricht, sagt er : „ Ich bin nie
mals einer grösseren Harmonie, Zufriedenheit, Duldsamkeit, einer
grösseren Bereitwilligkeit zu gegenseitigem Beistand , grösserem
häuslichen Frieden und Glück , grösserer Menschlichkeit und
Gastfreundschaft begegnet. "
Wenn auch in manchen Fällen , so bei den Buschmännern,
wie sie in der ersten Abtheilung dieses Capitels nach MOFFAT
charakterisiert worden sind , humane Handlungen bei manchen
Gelegenheiten mit brutalen Handlungen bei andern Gelegenheiten
vergesellschaftet sind , so besteht doch bei mehreren der hier
beispielsweise erwähnten Völker keine solche Verquickung , so
bei den Veddahs, den Eskimos und den Einwohnern von Luan.

§. 154.
In den Litteraturen alter orientalischer Völker finden sich
zahlreiche Aussprüche humaner Empfindungen und Ermahnungen
zu humanen Handlungen, Äusserungen von Dichtern und Weisen,
welche, wenn sie auch nur in geringem Maasse als die allgemein
verbreiteten Empfindungen ausdrückend betrachtet werden können,
doch in gewissem Maasse als bezeichnend für den Fortschritt,
welcher dem ruhig geordneten socialen Leben folgt , angesehen
werden dürfen. Unter den frühen indischen Büchern enthält
der Mahabharata die folgende Stelle :
" Nicht einen durch Gedanken, Wort oder That zu verletzen,
Andern mitzutheilen und gegen Alle freundlich zu sein :
Dies ist die beständige Pflicht des Guten. “
Und in demselben Buche sagt die Princessin Savitri, welche
in Yama, den Gott des Todes, dringt, ihr die Seele ihres Gatten,
welche er fortzuführen im Begriffe ist, wiederzugeben , dem Gotte,
wie edel die Eigenschaft der Barmherzigkeit sei . Sie führt als
Grund an, dass Geben göttlicher ist als Nehmen, Erhalten ge
§. 155. Humanität . 411

waltiger als Zerstören . Das heilige Buch der Perser, der Zend
Avesta, scheint zu der Aufnahme humaner Vorschriften in einem
gewissen Maasse durch die Lehre von der Seelenwanderung be
stimmt worden zu sein : so die milde Behandlung der Thiere,
auf welcher zum Theil aus diesem Grunde bestanden wird ; der
Sadi hat im Gulistan bestimmte Vorschriften der betreffenden Art :
„ Zeige Barmherzigkeit gegen den armen Bauer . . . es ist straf
bar, die armen und vertheidigungslosen Untergebenen mit dem Arm
der Gewalt niederzudrücken . . . Der Du gleichgültig gegen die
Leiden Anderer bist, verdienst nicht Mensch genannt zu werden. "
Auch bei den alten Ägyptern wurde ein wohlthätiges Be
tragen verlangt . Nach BIRCH und DUNCKER war vorgeschrieben ,
„dem Hungrigen Brod , dem Durstigen Wasser , Kleider dem
Nackenden , Zuflucht dem Wanderer zu geben " ; und die In
schriften in den Grabstätten „ stellen das Leben Gerechter und
Wohlthätiger dar , den Schutz der Witwen und Bedürftigen,
Sorge für das Volk in Zeiten der Hungersnoth " . In ähnlicher
Weise stimmen die Bücher der chinesischen Weisen in dem
Rühmen der aus dem Mitgefühl für Andere hervorgehenden
Tugenden überein . Der Angabe LEGGE's zufolge „ scheint Lâo
tsze die Verhängung der Todesstrafe zu verdammen, und er be
klagt die Kriegführung " . In gleichem Geiste sagt CONFUCIUS ,
dass " Wohlthätigkeit das charakteristische Element der Mensch
lichkeit ist " . Und auch MENCIUS macht, während er behauptet,
dass " das Fühlen von Erbarmen für den Menschen wesentlich
sei " , die Bemerkung : „ der höher stehende Mensch ist gegen
Thiere so gesinnt , dass, nachdem er sie lebend gesehen hat, er
es nicht ertragen kann , sie sterben zu sehen. " Allem diesen
muss natürlich das von den heiligen Büchern der Hebräer ge
gebene Zeugnis zugefügt werden ; in den späteren derselben
finden sich Vorschriften , Liebe und Barmherzigkeit nicht bloss
den Menschen, sondern auch Thieren zu erweisen - Vorschriften,
zu deren Befolgung die europäischen Völker , welche sie offen ,
in Verbindung mit den noch humaneren Lehren Jesu angenommen
hatten , viele Jahrhunderte hindurch so wenig, selbst in geringem
Maasse beigetragen haben .

§. 155.
Mitten unter störenden Fällen und widerstreitenden Zeug
nissen scheinen keine allgemeinen Folgerungen zuverlässig zu
SPENCER, Principien der Ethik. I. 27
412 Die Inductionen der Ethik. Cap. VIII.

sein mit Ausnahme derer , zu welchen man durch das Gegen


überstellen der extremsten Fälle gelangt. So angestellte Ver
gleiche rechtfertigen einen vorausgefassten Begriff.
Von den Karenen, welche oben als absolut herzlos angeführt
wurden , wird gesagt , dass „ jeder Stamm jedem andern feind
selig ist " , und es findet beinahe beständiger Krieg statt. Das
selbe gilt für eine andere indische Rasse, die Afridis . Die In
tensität des bei ihnen bestehenden Hanges zum Kämpfen ist
derartig, dass ein Afridi meistens eine Blutfehde mit neun unter
zehn seiner eigenen Verwandten hat" ; und ihr Mangel an allem
menschlichen Gefühl wird durch die Angabe angedeutet , dass
,,unbarmherziges , feiges Rauben , kaltblütiger verrätherischer
Mord für einen Afridi das Salz des Lebens ist " . Dann haben
wir den Fall der Dahomeer , welche oben als jeder Sympathie,
selbst mit ihrer eigenen Nachkommenschaft , bar dargestellt
wurden und deren absolut kriegerischer socialer Zustand so aus
nahmsweise deutlich durch ihr Amazonenheer erwiesen wird.
Auch die wildesten Stämme der nordamericanischen Indianer,
die Dakotas und die Comanchen , deren Unmenschlichkeit durch
das Martern ihrer Gefangenen bezeugt wurde , sind Krieger
Stämme , welche chronische Fehden und beständige Kriege
führen.
Von dem entgegengesetzten Verhalten sind die alleraus
gesprochensten unter den oben aufgeführten Fällen diejenigen ,
welche gewisse absolut friedfertige Völkerschaften darbieten .
die Eskimos , die Einwohner von Luan, die Veddahs. Frei, wie
diese sind , von jenen Leidenschaften , welche Feindschaften
zwischen einzelnen Stämmen erregen und vergrössern , bieten
sie uns ein ganz ungewöhnliches Entfalten jenes Mitgefühls für
Genossen dar , dessen Folgen ein freundliches Benehmen und
wohlwollende Handlungen sind.
Und hier mag in Verbindung mit diesem Contrast ein an
derer Contrast verwandter Natur angereiht werden, der zwischen
dem Fehlen und dem Vorhandensein eines mit humanem Gefühl
verwandten Zuges , ich meine Dankbarkeit ; denn die letzte
Wurzel der Dankbarkeit ebenso wie der Humanität ist die
Sympathie. Von den kämpfenden und zerstörenden Fidschi
Insulanern sagt WILLIAMS : Undankbarkeit befleckt tief und
schmählich den Charakter der Heiden von Fidschi. "
§. 156. Wahrhaftigkeit . 413

27 Wenn einer von ihnen bei Kranksein von mir Arznei erhielt,
so hielt er mich für verbunden , ihm Nahrung zu geben ; das Em
pfangen von Nahrung hielt er für eine Begründung seines Anspruchs
an mich auf Kleidung ; und war diese gesichert , so glaubte er die
Freiheit zu haben , um Alles, was er brauchte , zu betteln und mich
zu schmähen, wenn ich es verweigerte, auf sein unvernünftiges Ver
"
langen einzugehen .
Was lesen wir andererseits von den Veddahs, welche immer
in Frieden leben ? Mr. ATHERTON beschreibt sie als "2 sehr dank
bar für Aufmerksamkeit oder Beistand " ; und nach einem Citat
bei PRIDHAM sagt Mr. BENNETT, dass , nachdem er einigen Veddahs
Geschenke gegeben und einen Dienst erwiesen hatte,
",, ein paar Elephanten- Stosszähne, nahebei sechs Fuss lang, über
Nacht ihren Weg auf seine Vorder-Veranda gefunden hatten , dass
aber die Veddahs , die dieselben gebracht hatten , ihm niemals Ge
legenheit gegeben haben zur Vergeltung . Was für eine Lehre der
Dankbarkeit und Zartheit, " bemerkt er , " kann selbst ein Veddah
geben ! "
Sehr wahr, allerdings ; damit , dass sie ihren Dank, der an
Werth grösser ist als die Verbindlichkeit dazu , in einer so un
aufdringlichen und mühevollen Weise abstatten , können sie die
Lehre geben ; sie dürften aber noch mehr lehren ; sie dürften
lehren , dass da , wo die christlichen Tugenden nicht gepredigt
worden sind, diese in einem noch höheren Grade entfaltet werden
können als da , wo sie prahlend bekannt und beständig vor
geschrieben werden.

IX . Capitel .

Wahrhaftigkeit .

§. 156.
Vollkommene Wahrhaftigkeit ist eine der seltensten Tugenden .
Selbst diejenigen, welche sich für absolut wahrhaft halten, machen
sich täglich übertriebener oder verkleinerter Angaben schuldig .
Übertreibung ist beinahe ganz allgemein. Der beständige
Gebrauch des Wortes sehr" , wo die Gelegenheit es gar nicht
erfordert, zeigt, wie weit verbreitet und festsitzend die Gewohn
heit der falschen Darstellung ist. Und diese Gewohnheit tritt
zuweilen neben den lautesten Denunciationen von Falschheit
27*
414 Die Inductionen der Ethik. Cap. IX.

auf. Nach vielem heftigem Reden über die „ Glaubwürdigkeiten"


kommen vollständig unglaubwürdige Schilderungen von Sachen
und Leuten heraus, - Schilderungen, welche durch den Gebrauch
emphatischer Worte unglaubwürdig gemacht werden, da, wo nur
gewöhnliche, einfache Worte gerechtfertigt sind : Bilder, deren
Umrisse richtig sind , deren Lichter und Schatten und Farben
aber doppelt und dreimal so stark sind als sie sein sollten .
Unter den zahllosen Abweichungen der Angaben vom That
sächlichen haben wir es hier nur mit denjenigen zu thun , bei
denen die Form ebenso falsch wie die Farbe ist - diejenigen,
bei denen die Aussage nicht bloss eine Entstellung des that
sächlichen Verhaltens, sondern , praktisch genommen, eine Um
kehrung desselben ist. Hauptsächlich haben wir hier auch von
Fällen zu handeln , in denen persönliche Interessen der einen
oder der andern Art die Beweggründe zur Falschheit darstellen :
bald das Verlangen , Schaden zuzufügen , wie durch falsches
Zeugnis , bald das Verlangen , einen materiellen Vortheil zu
erreichen , bald das Verlangen , einer Bestrafung oder einem
drohenden Übel zu entgehen, bald das Verlangen, sich dadurch
in Gunst zu setzen, dass man sagt, was gefällt. Denn in der
Menschheit im Grossen und Ganzen ist die Liebe zur Wahrheit
um der Wahrheit willen , ohne Rücksicht auf Folgen , nur in
wenig Fällen vorkommend .
Wir wollen hier einige Beispiele von Wahrhaftigkeit und
- hauptsächlich Unwahrhaftigkeit - be
Unwahrhaftigkeit
trachten, die von verschiedenen menschlichen Rassen dargeboten
werden.
§. 157 .
Die Angehörigen wilder Stämme in verschiedenen Theilen
der Welt , welche , als Jäger oder als Nomaden , mit ihren
Nachbarn mehr oder weniger in Feindschaft leben , werden
nahezu immer von Reisenden wegen ihrer Unwahrhaftigkeit
verurtheilt ; dasselbe gilt von den Gliedern grösserer Gesell
schaften, welche durch Eroberung unter despotischen Herrschern
zusammengefügt worden sind.
Von den Dakotas sagt BURTON : " Der Indianer, gleich andern
Wilden, sagt niemals die Wahrheit. " Von den Mishmis schreibt
GRIFFITH : „ Sie haben so wenig Achtung vor der Wahrheit, dass
man sich nicht sehr auf das verlassen kann , was sie sagen. “
J
§. 158. Wahrhaftigkeit . 415

Und eine allgemeine , in Bezug auf die Kirghisen gemachte Be


merkung geht auf dasselbe hinaus . „ Durch das ganze Central- Asien
ist Wahrheit nur dem Mächtigen dienstbar, und ein Herrscher,
welcher nachsichtig regiert, geniesst nur wenig Respect. "
Unter den geordneten Gesellschaften sind zuerst die Fidschi
Insulaner anzuführen. WILLIAMS erzählt uns, dass :
29 unter den Fidschi-Insulanern die Neigung zum Lügen so stark
ist, dass sie gar nicht zu wünschen scheinen, deren Vorhandensein zu
leugnen ... Geschicklichkeit im Lügen wird dadurch erreicht , dass
beständig Gebrauch davon gemacht wird, um die Pläne und Anschläge
der Häuptlinge zu verheimlichen , für welche ein bereitwilliger und
geschickter Lügner eine werthvolle Erwerbung ist . . . Eine Fidschi
Wahrheit ist als Synonym für eine Lüge gehalten worden. “
Von ähnlicher Art, unter ähnlichen Zuständen ist der von
dem Volke von Uganda dargebotene Charakterzug.
" Gemeinsam mit allen wilden Stämmen wird Wahrheit in sehr
geringer Schätzung gehalten , und es wird niemals für unrecht ge
halten , zu lügen ; es wird geradezu ein erfolgreicher Lügner für
einen gewandten , geschickten Menschen gehalten und er wird eher
L
noch bewundert.
Dasselbe war auch mit den alten halbcivilisierten Völkern
von Central- America der Fall. DE LAET sagt von gewissen
unter einem despotischen und blutigen Regimente lebenden Stämmen
unter ihnen : „ sie sind Lügner, wie die meisten Indianer. " Und
was die modernen Indianer betrifft, von denen vermuthet werden.
dürfte , dass sie den Charakter ihrer Vorfahren mehr oder
weniger bewahrt haben, schreibt DUNLOP :
„ Ich habe niemals irgend einen Eingebornen von Central-America
gefunden , welcher hätte zugeben wollen, dass das Lügen irgendwie
ein Laster sei ; und wenn es einem geglückt ist , einen andern zu
betrügen , wie grob und schmählich der Betrug auch gewesen sein
mag , so werden die Eingebornen doch nur bemerken : , Que hombre
vivo' (Was für ein geschickter Kerl) . "
Eine gleiche Thatsache wird von Mr. FOREMAN in seinem
Werke über die Philippinen-Inseln mitgetheilt . Er sagt , „ die
Eingebornen scheinen das Lügen nicht als Sünde anzusehen,
sondern vielmehr als eine berechtigte, wenngleich verschmitzte
Bequemlichkeit. "

§. 158.
Die Litteraturen alter halbcivilisierter Völker liefern Beweise
für Entwicklungsstufen , während welcher die Wahrheit wenig

+
416 Die Inductionen der Ethik. Cap. IX.

geschätzt wurde , oder vielmehr , während welcher dem Lügen


stillschweigend oder offen Beifall gezollt wurde. Wie wir in
einem früheren Capitel gesehen haben (§. 127) , wurde Betrug,
in Verbindung mit Abscheulichkeit , gelegentlich in der älteren
indischen Litteratur als ein Mittel zum persönlichen Fortkommen
eingeschärft. In der Bibel finden wir Beweise, dass , abgesehen
von dem Lügen , welches ein falsches Zeugnis darstellte und
dem Nächsten zum Schaden gereichte , bei den Hebräern nur
wenig Verdammung für das Lügen empfunden wurde. Es wäre
allerdings merkwürdig , wenn es anders gewesen wäre, da Jehova
das Beispiel gegeben hatte ; so , als er, um Ahab zu verderben ,
einen „falschen Geist " aussandte ( 1. Könige , XXII , 22) , um seine
Propheten zu täuschen ; oder wenn er nach Hesekiel, XIV, 9
drohte, Betrug als ein Mittel zur Rache anzuwenden :
33Wo aber ein betrogener Prophet etwas redet , den will ich, der
Herr, wiederum lassen betrogen werden , und will meine Hand über
ihn ausstrecken und ihn aus meinem Volke Israel ausrotten . "

Offenbar entstand bei einem Rassencharakter, welcher eine


derartige Auffassung von den Grundsätzen einer Gottheit ent
wickeln liess , keine grosse Achtung vor der Wahrhaftigkeit.
Dies war in verschiedenen Fällen zu sehen ; so , wenn Isaak
sagte, Rebekka sei nicht sein Weib , sondern seine Schwester,
und doch in demselben Jahre eine reichliche Ernte erhielt : „ der
Herr segnete ihn " ( 1. Mos . , XXVI, 12) ; oder wenn Rebekka
Jakob überredete, seinem Vater eine Lüge zu sagen und Esau
zu betrügen - eine Lüge, die nicht verdammt wurde, sondern
welcher nach kurzer Zeit ein göttliches Versprechen an Wohl
ergehen folgte ; oder wenn Jeremias auf Veranlassung des Königs
eine Unwahrheit sagt. Wir dürfen indessen nicht übersehen ,
dass in den Schriften der hebräischen Propheten ebenso wie in
Theilen des Neuen Testaments das Lügen streng verurtheilt
wird . Ziehen wir aus den Zeugnissen das Mittel , so können
wir folgern, dass mit dem sesshaft geordneten Leben der Hebräer
unter ihnen eine erhöhte Wahrhaftigkeit entstanden war.
Viel Achtung vor Wahrhaftigkeit war unter den Griechen
kaum zu erwarten . In der Iliade werden die Götter dargestellt,
nicht bloss als die Menschen , sondern als sich untereinander
betrügend. Die Häuptlinge „ zögern nicht , in jeder Weise zu
lügen" . Es wird beschrieben , wie Pallas Athene den Ulysses
§. 158. Wahrhaftigkeit . 417

in liebte, weil er so ränkevoll war ; und , mit den Worten MAHAFFY's ,


WEE die homerische Gesellschaft war voll von " Betrug und Falsch
and b heit **. Auch war es in späteren Zeiten nicht wesentlich ver
det schieden. Der den Cretensern nachgesagte Charakterzug -
Forth "7 immer Lügner" - wenn er auch bei ihnen mehr ausgesprochen
gewesen sein mag als bei den Griechen im Ganzen , bildete
keinen wesentlichen Unterschied . MAHAFFY beschreibt die
griechische Handlungsweise im attischen Zeitalter als durch
" Verrätherei " und selbstsüchtige Büberei " charakterisiert und
e, da ! sagt, Darius habe einen Griechen, der sein Wort gehalten habe ,
Terz für eine bemerkenswerthe Ausnahme gehalten.
91EX Zeugnisse für die Beziehung zwischen chronischen Feindselig
keiten und äusserster Missachtung der Wahrheit werden von der
1: ganzen Geschichte Europa's dargeboten . In der Merovingischen
Periode -- 29 dem Zeitalter des Blutes " ― werden von Herrschern

e Hal gegebene , selbst mit dem Legen der Hände auf den Altar ab
tten gelegte Eide sofort wieder gebrochen ; und SALVIANUS schreibt :
welches wenn ein Franke falsch schwört , wie kann man sich darüber
wundern, wenn er den Meineid nur für eine Form der Rede, nicht
hrhaft für ein Verbrechen hält ? " Nach den beständigen Kriegen während
Wein& der zweihundert Jahre der Carolingischen Zeit , mit Arabern,

Schra * Merkwürdig sind die Wirkungen des durch die Erziehung einge
Thielt . pflanzten Vorurtheils. Vertrautheit mit dem Thun und Treiben dieses Kreises,
an Be so vieler „ Abscheulichkeiten" schuldig , durch solche 77 empörende Grausam
keit der Sitten " charakterisiert , wie GROTE sagt , welche durch alle Stufen,
mis
von ihren Göttern hinab bis zu ihren Sklaven , Lügner waren , und deren
de, so Religion aus grobem und brutalem Aberglauben zusammengesetzt war,
as F zeichnet einen unserer leitenden Staatsmänner aus und wird , in Verbindung
des Ex mit dem Vertrautsein mit dem Thun und Treiben anderer Griechen , als die
möglichst beste Vorbereitung für ein Leben der höchsten Art darbietend
angesehen. In einer in Eton gehaltenen, in den „Times " vom 16. März 1891
ISO T
mitgetheilten Rede sagte Mr. GLADSTONE : " Wenn der Zweck der Erziehung
Teru der ist, den menschlichen Geist zur wirksamen Ausübung der grössten Leistungen
80 fähig zu machen , so ist die antike Cultur , und vor Allem die griechische
erH Cultur, bei weitem das beste, das dauerndste und das elastischste Werkzeug,
das möglicherweise in ihr angewendet werden kann. " Andere Fragen bei k
War
Seite gelassen kann man mit verlegener Neugierde fragen , welches von
IG Mr. GLADSTONE'S Glaubensbekenntnissen, als Staatsmann, es ist, das man dem
darg Einflusse der griechischen Cultur zuschreiben muss - ob das Glaubens
teres bekenntnis, mit dem er als Tory auftrat, als er frisch von Oxford kam, oder
WA das extrem radicale Glaubensbekenntnis , welches er in den letzten Jahren
angenommen hat ?
en D
418 Die Inductionen der Ethik. Cap. IX.

Saracenen , Aquitaniern , Sachsen , Lombarden , Slaven , Avaren,


Normanen, kam die ältere feudale Zeit, von der H. MARTIN sagt :
„ Das zehnte [Jahrhundert] kann für das Zeitalter der Falsch
heit und des Betrugs gelten. In keiner andern Epoche unserer Ge
schichte scheint das moralische Gefühl so vollständig aus der mensch
lichen Seele ausgelöscht gewesen zu sein als in jener ersten Periode
des Feudalismus. “

Und als Begleiterscheinung und Folge der inneren Feind


seligkeiten, welche mit der Begründung der französischen Mon
archie ihr Ende fanden, bestand eine noch immer fortdauernde
Verrätherei : die Aristokratie war in ihren Beziehungen unter
einander " ohne Zuverlässigkeit , Loyalität und Interesselosig
keit · Weder das Leben noch der Charakter war in ihren
Händen sicher." Obgleich Mr. LECKY die mittelalterliche „ Gleich
gültigkeit gegen Wahrheit" andern Ursachen als der chro
nischen Streitsucht zuschreibt , so bietet er doch einen Satz
dar, welcher der hier gezogenen Folgerung indirect eine Unter
stützung gewährt und für um so werthvoller gehalten werden
muss , als nicht damit beabsichtigt wurde , eine solche Unter
stützung zu gewähren. Er bemerkt, dass, 99 wo der industrielle
Geist nicht eingedrungen ist , die Wahrhaftigkeit in der popu
lären Meinung selten die nämliche hervorragende Stellung in
dem Kataloge der Tugenden einnimmt " , wie er es bei denen
thut, " welche in den Gewohnheiten des industriellen Lebens er
zogen sind".
Es kann uns auch in der gegenwärtigen Zeit in den Ver
schiedenheiten zwischen den östlichen und westlichen Nationen
Europas eine ähnliche Beziehung der Erscheinungen nicht ent
gehen.
§. 159.
Überlegung zeigt uns indessen, dass diese Beziehung keine
directe ist . Es besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen
Blutdürstigkeit und dem Sagen von Lügen . Auch folgt es nicht
ohne weiteres , dass , weil ein Mensch freundlich gesinnt ist , er
auch wahrheitsliebend ist. Wenn, wie oben angenommen wurde,
ein Leben von Freundschaft zur Wahrhaftigkeit führt, während
ein Leben von Feindschaft Unwahrhaftigkeit befördert, so müssen
.
die Abhängigkeitsverhältnisse indirect sein . Nach Betrachtung
einiger weiteren Thatsachen werden wir besser verstehen , in
§. 159. Wahrhaftigkeit . 419

welchen Weisen diese Züge des Lebens und des Charakters ge


wöhnlich mit einander verbunden sind.
In Bezug auf Wahrhaftigkeit , ebenso wie in Bezug auf
andere Tugenden habe ich wiederum verschiedene eingeborne
Völkerschaften als Beispiele anzuführen, welche von eindringenden
Rassen in unerwünschte Wohnsitze verdrängt worden und dort
entweder in absoluter Ruhe oder frei von chronischen Feind
seligkeiten mit ihren Nachbarn geblieben sind. Indem er von
den Kois sagt , dass sie alle an chronischem Fieber zu leiden
scheinen (welches genügend darauf hinweist , warum sie in
ihren von Malaria heimgesuchten Wildnissen unbelästigt gelassen
21

werden) , erzählt uns MORRIS , dass


,sie wegen ihrer Wahrhaftigkeit bekannt sind und in dieser Be
ziehung den civilisierten und höher cultivierten Bewohnern der Ebenen
geradezu ein Vorbild geben."
Eine Bemerkung von SHORTT in seinen Hill Ranges of
Southern India lautet :

29 Ein angenehmer Zug in ihrem [ der Sowrahs ] Charakter ist ihre


vollkommene Wahrhaftigkeit . Sie verstehen es nicht , eine Lüge zu
sagen. Sie sind nicht hinreichend civilisiert , um fähig zu sein , zu
erfinden. "
Im Vorübergehen will ich bemerken , dass ich auch von
andern Anglo-Indiern den Mangel an Intelligenz als die Ursache
dieses guten Charakterzuges habe bezeichnen hören — ein nicht
sehr achtungswerther Versuch , den Credit der höheren Rassen
aufrecht zu halten . Wenn man bedenkt , dass kleine Kinder
Lügen sagen und dass Lügen , wenn schon nicht in Worten, so
doch in Handlungen von Hunden gesagt werden , so zeigt sich
wohl eine beträchtliche Kühnheit darin , die Wahrhaftigkeit dieser
und ähnlicher Völkerschaften der Dummheit zuzuschreiben. In
seinen Highlands of Central India schreibt FORSYTH :
" Der Eingeborne ist das wahrhaftigste Geschöpf und leugnet
nur selten eine Zahlungsverbindlichkeit oder ein Verbrechen ab, was
wirklich gegen ihn vorgebracht werden kann . “
Bei der Schilderung der Râmósîs behauptet SINCLAIR :
Ľ
29 Sie sind ebenso grosse Lügner , wie die allercivilisiertesten
L
Rassen und sind darin von den eigentlichen Bergstämmen und von
den Parwârîs verschieden , von denen ich einmal einen Brahmanen
habe sagen hören : die Kunabîs werden , wenn sie ein Versprechen
gegeben haben , dasselbe halten , aber ein Mahâr [Parwârî ] ist ein
420 Die Inductionen der Ethik. Cap. IX.

solcher Narr , dass er die Wahrheit durchaus ohne jede Ursache


sagen wird.""
Und diese von den Brahmanen ausgedrückte Meinung illu
striert sehr gut die Art und Weise , in welcher ihre civilisier
teren Nachbarn diese wahrheitliebenden Eingebornen verderben ;
denn während SHERWILL , über einen andern Stamm schreibend,
sagt : „Die Wahrheit wird von einem Santál heilig gehalten, in
dieser Beziehung ihren lügnerischen Nachbarn , den Bengalis ,
ein glänzendes Beispiel gebend " , macht MAN über sie die Be
merkung, dass
" Schlimmer Verkehr übt seine verderbliche Wirkungen auf sie
aus , und bald , fürchte ich , wird die jetzt sprüchwörtliche Wahr
haftigkeit der Santáls aufhören ein Sprüchwort zu sein. "

In den „ Principien der Sociologie " , 3. Band , §§ . 437 und 574


habe ich die Namen von noch andern dieser indischen Berg
stämme , welche durch ihre Wahrhaftigkeit bekannt sind , an
geführt ―――― die Bodo und Dhimáls, die karnatischen Ureinwohner,
die Todas, die Hos ; und hier will ich noch einen weiteren hin
zufügen , die Puluyans , deren Wohnorte „ auf allen Seiten von
Bergen , Wäldern , Stauwässern , Sümpfen und dem Meere ein
geschlossen sind " und welche „ zuweilen durch einen seltenen
Charakterzug der Wahrhaftigkeit und Ehrenhaftigkeit aus
gezeichnet sind , welchem die in der Stufenordnung der Kasten
über ihnen Stehenden wohl nacheifern sollten " . Dasselbe gilt für
ein benachbartes Land, für Ceylon. Die Wald - Veddahs werden
als „ sprüchwörtlich wahrhaft und ehrlich " beschrieben . Aus
andern Gegenden kommen ähnliche Zeugnisse. Von einigen
nordamericanischen Völkerschaften, welche augenscheinlich ohne
irgend eine Organisation zum Angriff oder zur Vertheidigung
sind, lesen wir : Zum Ruhme der Ostiaken und Samojeden muss
gesagt werden , dass sie sich durch Rechtschaffenheit und Wahr
haftigkeit hervorragend auszeichnen . “
Nun haben wir aber Thatsachen anzuführen , welche uns zu
bedenken geben . Es giebt Beispiele von Wahrhaftigkeit bei
Völkern, welche nur zum Theil friedfertig sind , und bei andern,
welche alles Andere , nur nicht friedfertig sind . Obgleich die
Hottentotten als „ sanft , ruhig und furchtsam "
charakterisiert
werden, haben sie doch nicht selten Kriege wegen Ländereien,
und doch sagt KOLBEN, in Übereinstimmung mit Barrow :
§. 159. Wahrhaftigkeit . 421

" Das Wort eines Hottentotten ist heilig , und es giebt kaum
irgend Etwas auf Erden , was sie als ein noch schändlicheres Ver
brechen ansehen als den Bruch einer eingegangenen Verbindlichkeit. "
ihre
Bei Schilderung der Irokesen sagt MORGAN, dass " die Liebe
lenTex
zur Wahrheit ein anderer ausgesprochener Zug im Charakter
im sis
der Indianer war" . Und obgleich das Bündnis der Irokesen
ggels ausdrücklich zum Zwecke der Erhaltung des Friedens gebildet
den Be
worden war und diesen Zweck auch in Bezug auf die dasselbe
zusammensetzenden Nationen erreichte , führten diese Nationen
doch Kämpfe mit ihren Nachbarn . Die patagonischen Völker
kunrea stämme haben häufig Kämpfe untereinander, ebenso wie mit den
aggressiven Spaniern, und doch sagt SNow : „ eine Lüge wird von
L'
ihnen verabscheut. " Ebenso haben die Khonds , welche glauben,
dass Wahrhaftigkeit eine der heiligsten von den Göttern auf
lischer erlegten Pflichten ist , blutige Kämpfe zwischen den einzelnen
int sh Stämmen betreffs ihrer Ländereien . Und von den Kolîs, welche
Creins die Bergländer des Dekhan bewohnen , lesen wir , dass sie ,
weitera obgleichmännlich, einfach und wahrhaft " , "grosse Plünderer"
1 Se sind und sich „ unbarmherziger Grausamkeit “ schuldig machen.
Was haben nun diese wahrhaftigen und friedfertigen Stämme
nen und jene Stämme , welche mehr oder weniger kriegerisch sind ,
mit einander gemeinsam ? Der gemeinsame Zug ist der , dass
der E sie nicht einer Zwangsherrschaft unterworfen sind. Dass dies
elte mit Stämmen, welche friedfertig sind , der Fall ist, habe ich an
dabs einem andern Orte gezeigt (Principien der Sociologie , 3. Bd . ,
§§. 573-574) ; und hier stossen wir auf die bedeutungsvolle
Too E Thatsache , dass dies auch bei wahrhaftigen Stämmen der Fall
Lein ist, welche nicht friedfertig sind. Die Hottentotten werden von
ertheid einer Versammlung regiert, welche durch Majorität entscheidet,
und die an der Spitze stehenden Männer haben nur geringe
Autorität. Die Irokesen standen unter der Controlle eines
D
Rathes von fünfzig erwählten Sachems, welche von ihren Stämmen
abgesetzt werden konnten , und kriegerische Expeditionen, welche
von nach ihren Verdiensten gewählten Häuptlingen angeführt
hela wurden, wurden der Privatunternehmung und freiwilligem Dienen
überlassen. Bei den Patagoniern bestand nur eine schwache
rake Regierung ; die Gefolgsleute verliessen ihre Hauptleute , wenn
sie nicht befriedigt waren. Wo er von dem „ System der Ge
Lärde
sellschaft" bei den Khonds schreibt , sagt MACPHERSON : „Der
422 Die Inductionen der Ethik. Cap. IX.

Geist der Gleichheit durchdringt seine ganze Ausbildung , die


Gesellschaft wird allein von dem moralischen Einflusse der
natürlichen Häupter regiert , bei gänzlichem Ausschlusse des
Princips der zwingenden Autorität . "

§. 160.
In den Bemerkungen mehrerer Reisender finden wir Zeug
nisse dafür , dass das Vorhandensein oder die Abwesenheit
despotischer Herrschaft es ist, welches zu vorherrschender Falsch
heit oder zur vorherrschenden Wahrheit führt.
Aus einer Bezugnahme auf die Reports on the Discovery
of Peru von XERES und PIZARRO (pp . 68-69 , 85-86, 114-120)
geht offenbar hervor, dass die geschilderte allgemeine Unwahr
haftigkeit eine Folge des Einjagens von Furcht war , dem die
Indianer ausgesetzt waren. So lautete auch in Bezug auf die
Mexicaner das Zeugnis der Franziscaner : „ sie sind Lügner,
aber denen gegenüber , welche sie gut behandeln , reden sie
bereitwillig die Wahrheit. " Eine deutliche Erfassung der Be
ziehung zwischen Lügenhaftigkeit und Furcht wurde LIVINGSTONE
durch seine Erfahrung vermittelt. Von der Falschheit der Ost
Africaner sprechend, sagt er :
„So gross aber auch dieser Fehler unter den freien Leuten ist,
so ist er doch unter den Sklaven noch viel lästiger. Man kann
kaum einen Sklaven dazu bewegen , irgend Etwas richtig zu über
setzen ; er ist so geflissen darauf bedacht, was angenehm sein kann. "
Und er macht die weitere Bemerkung, dass „ Unwahrhaftig
keit eine Art von Zuflucht für den Schwachen und Unter
drückten ist " .
Ein Blick auf civilisierte Gemeinschaften bietet sofort Be
stätigung dar. Unter den europäischen Völkern sind die Russen
diejenigen, welche der absolutesten Herrschaft unterworfen sind ,
von ihrem autokratischen Herrscher durch alle Stufen hinab
reichend und sie sind wegen ihrer äussersten Unwahrhaftigkeit
notorisch . Unter den Ägyptern , welche lange Zeit einem von
despotischen Beamten durchgeführten Despotismus unterworfen
waren , rühmt sich ein Mensch einer erfolgreichen Lüge und
wird selbst einen Mangel in seinem Werke dem Umstande zu
schreiben, dass es ihm nicht geglückt ist , irgend einen Andern
zu betrügen. Dann haben wir den Fall bei den Hindus ; in
§. 160. Wahrhaftigkeit . 423

ihren früheren Zeiten unverantwortlich beherrscht , später eine


lange Periode hindurch der brutalen Herrschaft der Mohamme
WAN
daner und seit jener Zeit dem kaum weniger brutalen Regimente
der Christen unterworfen , sind sie so vollständig unwahrhaftig ,
dass Eide an den Gerichtshöfen bedeutungslos sind ; ohne Scham
bekennen sie sich zur Lüge. Die Geschichte erzählt wie ein
den Märchen von einer Lügenhaftigkeit, welche, bei den Beherrschten
1 anfangend, die Herrschenden ansteckt. Über die spätere feudale
henda! Periode in Frankreich schreibend, sagt MICHELET : „ Es ist merk
würdig , von Jahr zu Jahr die Lügen und Winkelzüge der
he s königlichen Falschmünzer zu verfolgen ; " heutigen Tages aber
96. 114 sind in Frankreich politische Betrügereien , obschon sie noch
eine Er immer ausgeübt werden , durchaus nicht so grob . Es ist auch
Tar, e bei uns selbst nicht anders gewesen . Wenn wir der „ganz
Berna allgemeinen und abscheuerregenden Verrätherei , deren jeder
Staatsmann jeder Partei beständig schuldig war, " während der
1. N Regierung Elisabeth's , wo die monarchische Gewalt nur noch 1
Sing wenig beschränkt war , die Wahrhaftigkeit der Staatsmänner
LA neuer Zeiten gegenüberstellen , so sehen wir ein ähnliches Bei
spiel der Beziehungen zwischen der die Tyrannei begleitenden
Unwahrhaftigkeit und der Wahrhaftigkeit , welche mit dem Zu
nehmen der Freiheit entsteht.

-E Es sind daher derartige Zusammenhänge , wie wir sie


htig zwischen Lügenhaftigkeit und einem Leben äusserer Feindschaft
msak und zwischen Wahrhaftigkeit und einem Leben innerer Freund
Wah schaft verfolgen können , nicht Folgen irgend welcher directer
Beziehungen zwischen Gewaltthätigkeit und Lügen und zwischen
Friedfertigkeit und Wahrheit- Reden ; sie sind vielmehr Folgen
Shr der Zwang äussernden socialen Structur, welche sich bei chro

die nischer äusserer Feindschaft entwickelt , und der nicht zwingen


vortes den socialen Structur, welche ein Leben innerer Freundlichkeit

uter = entwickelt hat. Es muss hier noch hinzugefügt werden , dass


bri bei der einen Gruppe von Bedingungen eine geringe oder keine
ethische oder vielmehr pro-ethische Verurtheilung des Lügens
elber
vorhanden ist, während bei der andern Gruppe von Bedingungen
Inter
die pro-ethische Verurtheilung des Lügens, und in beträchtlichem
Maasse die ethische Verurtheilung stark wird .

Terb
Hicks
424 Die Inductionen der Ethik. Cap. X.

X. Capitel.

Gehorsam .

§. 161 .
Unter dem einen Namen 97 Gehorsam " werden zwei Arten des
Benehmens zusammengefasst , deren Gutheissung von zwei sehr
weit verschiedenen Punkten ausgeht : die Gutheissung der einen
ist fortdauernd , die der andern nur zeitweilig. Kindlicher Ge
horsam und politischer Gehorsam werden so bezeichnet , mit
beiden ist die Idee der Tugendhaftigkeit verknüpft ; und bei
nahe Jedermann meint , dass eine Untergebung , welche in dem
einen Falle rühmenswerth ist, auch in dem andern Fall rühmens
werth sei.
Wir haben hier die Wahrheit anzuerkennen, dass , während
die Unterordnung des Kindes den Eltern gegenüber aus einer
beständigen Ordnung der Natur hervorgeht und bedingungslos
gut ist, die gehorsame Unterordnung der Bürger unter die Re
gierung einem vorübergehenden Hergang angepasst und nur
bedingungsweise gut ist .
Es ist wohl richtig , dass in Gesellschaften , welche eine
Entstehungsweise hatten, von der Sir HENRY MAINE irrthümlich
vermuthete, sie sei ganz allgemein , die beiden Arten des Gehor
sams eine gemeinsame Wurzel haben : die patriarchalische Gruppe
wächst aus der Familie heraus und mit unmerkbaren Schritten
geht die Unterwerfung der Kinder unter die Eltern in die Unter
werfung erwachsener Söhne unter ihren Vater und in die Unter
werfung von Familien-Gruppen unter den Vater des Vaters oder
den Patriarchen über . Es ist ferner auch richtig , dass durch
Vereinigung vieler patriarchalischer Gruppen eine Organisation
hervorgebracht wird , in welcher ein oberster Patriarch das
politische Oberhaupt ist. Aber in so entwickelten Gesellschaften.
wie denen der heutigen Zeiten , sind diese primitiven Verwandt
schaftsverhältnisse vollständig verschwunden und die beiden Arten
von Gehorsam sind ganz verschieden geworden . Da sie aber
in ausgedehntem Maasse durch das nämliche Gefühl eingegeben
werden, variieren auch beide gewöhnlich zusammen.
Bei der Betrachtung der Thatsachen wollen wir zuerst die
jenigen nehmen, welche die Unterwerfung des Kindes dem Vater
§. 162. Gehorsam . 425

gegenüber betreffen , und dann diejenigen , welche sich auf die


Unterwerfung des Bürgers unter die Regierung beziehen.

§. 162 .
Die frühesten Stufen socialer Entwicklung sind nicht nur
Zwe durch die Abwesenheit von Häuptlingen, und daher Abwesenheit
TOR jenes Gefühls , welches politische Unterwerfung hervorruft, charak
STORE terisiert, sondern sind auch häufig durch eine so geringe Unter
AMER ordnung der Söhne charakterisiert, wie eine solche die menschliche
•72 ' ‫ע‬ Familiengruppe der thierischen Familiengruppe nahe verwandt
macht, ―――― einer Gruppe, in welcher elterliche Verantwortlichkeit
auf der einen und kindliche Unterwerfung auf der andern Seite
FA bald aufhören .
Die americanischen Rassen bieten hierfür Beispiele dar.
Die Araucanier „ züchtigen ihre männlichen Kinder niemals , da

bers sie eine Züchtigung für entwürdigend halten und dazu angethan ,
den künftigen Mann kleinmüthig und für die Pflichten eines
22 Kriegers untauglich zu machen " . Bei den Arawaken scheint
Liebe der Beweggrund zu dieser milden Behandlung zu sein :
ein Vater , wird lieber irgend eine Beleidigung oder Beschwerde
von seinem Kinde geduldig ertragen, als eine persönliche Strafe
anzubringen" . Dann lesen wir von einem Dakota- Knaben , dass
INE I
ten des „ er mit zehn oder zwölf Jahren sich öffentlich gegen alle häus
lichen Gesetze auflehnt und nicht zögert, seinen Vater zu schlagen :
der Vater geht dann fort , sich die schmerzende Stelle reibend und
arenSt
brüstet sich gegen seine Nachbarn des tapferen Sohnes , den er er
in zeugt hat. "
& Manche altweltliche Rassen bieten ähnliche Beispiele dar.
es Tate Von den Ost-Africanern erzählt BURTON : " Wenn die Kind
2. das heit vorüber ist , werden Vater und Sohn natürliche Feinde,
e Op nach Art der wilden Thiere. " Ebenso erzählt uns ferner BURCK
Patri HARDT , WO er über den Charakter der Beduinen schreibt und
TENEN , die täglichen Streitereien zwischen Eltern und Kindern " erwähnt,
en Terr dass " der Vater , anstatt den Sohn höfliche Sitten zu lehren ,
ebelle von ihm verlangt , dass er die Fremden , welche zu dem Zelte
Da S kommen, schlage und werfe, " um seinen hohen Muth auszubilden :
hl an einer andern Stelle fügt er hinzu , dass
n. ,,der junge Mann, sobald es nur in seiner Macht steht, sich von
der Autorität des Vaters emancipiert . . . Sobald er nur immer Herr
H

ir
eines Zeltes für sich selbst werden kann , . . . hört er auf keinen
426 Die Inductionen der Ethik. Cap. X.

Rath mehr , noch gehorcht er irgend einem Befehle auf Erden als
dem seines eigenen Willens . "
In Verbindung mit Unbotmässigkeit den Eltern gegenüber
finden wir zuweilen, dass sie im Alter grausam behandelt werden.
Ein alter Mann bei den Chippewähs " wird vernachlässigt und
mit grosser Missachtung behandelt ,
selbst von seinen eigenen
Kindern" ; und die Kamtschadalen " betrachteten es nicht einmal
als eine Verletzung der kindlichen Pflichten sie [ihre Eltern]
zu tödten, wenn sie ihnen lästig wurden " .
Gegen Mütter wird ganz besonders Missachtung gezeigt :
ihre verhältnismässig niedrige Stellung , als die Sklaven der
Männer , ruft Verachtung gegen sie hervor. Von den Dakotas
27 wird der Sohn gelehrt , seine Mutter sich für ihn abmühen zu
lassen" . Bei den Fidschi-Insulanern " ist eine der ersten Lehren,
welche dem Kinde beigebracht wird , die, seine Mutter zu schlagen;
würde diese Lehre vernachlässigt, so würde die Furcht erzeugt,
dass das Kind zu einem Feigling heranwachsen möchte. " Wenn
ein junger Hottentotte in die Gesellschaft der Männer zugelassen
worden ist,

" kann er seine Mutter, wenn es ihm beliebt, straflos beschimpfen.


Er mag sie prügeln , wenn es ihm gefällt , nur nach seiner Laune,
ohne Gefahr zu laufen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden."
Solche Handlungen werden " als Zeichen eines männlichen Charakters
und von Tapferkeit angesehen “ .
In Betreff der Zulu-Knaben schreibt THOMPSON :

99 Es ist eine melancholische Thatsache, dass, schon wenn sie in


ein sehr frühes Alter gekommen sind , sollten ihre Mütter es versuchen
sie zu züchtigen , das Gesetz der Art ist , dass es diesen jungen
Burschen gestattet ist in dem Augenblicke ihre Mütter zu tödten. “
Und MASON sagt von den Karenen :
„ Gelegentlich, wenn die Mutter ihren Kindern Verdruss macht,
dass sie dieselben tadelt, wird ein Junge sagen : , Meine Mutter schwatzt
über die Maassen. Ich werde nicht glücklich bis sie stirbt. Ich
werde sie verkaufen, obgleich ich nicht mehr als ein Gong oder fünf
Rupien für sie bekomme.' Und er verkauft sie . "

Soweit diese Beispiele gehen , lassen sie eine Verknüpfung


von Mangel des Gehorsams der Kinder gegen die Eltern mit
einem niedrigen Typus der socialen Organisation erkennen . Diese
Beziehung ist indessen nicht durchgehend gleichförmig , wie wir
in dem Falle der Eskimos sehen, bei denen 99 die Liebe der Eltern
§. 163. Gehorsam . 427

zu ihren Kindern sehr gross und Ungehorsam seitens der letzteren


selten ist . Die Eltern fügen den Kindern niemals eine körper
liche Züchtigung zu . " Als Thatsache dürfte sich ergeben, dass
wir in den niedrigsten socialen Gruppen entweder kindlichen
Gehorsam oder kindlichen Ungehorsam finden, dass aber , wenn
die Gruppen von der Art sind , welche ein Leben voll von Kämpfen
führt , dann bei Abwesenheit kindlichen Gehorsams jener Zu
sammenhang sich nicht bildet, welcher zu einer socialen Organi
sation erforderlich ist.

§ . 163.
Dies geht aus dem umgekehrten Zusammenhange hervor,
welchen wir bei verschiedenen Typen der Menschen entwickelt sehen.
Wenn wir den oben genannten wandernden Semiten die
Semiten gegenüberstellen , welche, obschon ursprünglich wandernd ,
sich niederliessen und politisch organisiert wurden, so finden wir
bei den ersteren wenig, bei den andern viel kindliche Unterwürfig
keit. Bei den Hebräern hatte das Haupt der Familie Recht über
Leben und Tod (1. Mose , XXXVIII. 24) . In den zehn Geboten
(2. Mose, XX . 12) folgt das Gebot, die Eltern zu ehren, gleich
auf das, Gott zu gehorchen. Im 3. Buche Mosis , XX . 9 wird
dem Strafe angedroht , der seinem Vater oder seiner Mutter
flucht , genau so , wie es für Gotteslästerung der Fall ist ; und
im 5. Buch Mosis , XXI . 18-21 wird angeordnet , dass ein
rebellischer Sohn öffentlich zu Tode gesteinigt werde. Von einem
andern Zweige der Rasse, welcher den Zwang ausübenden Typus
der socialen Organisation angenommen hatte, ――――――― den Assyriern —,
lesen wir, dass
„ ein Vater in seinem Hausstand die höchste Gewalt hatte . . .
Wenn der Sohn oder die Tochter ihren Vater verleugneten , wurden
sie als Sklaven verkauft , und wenn er seine Mutter verleugnete ,
wurde er in die Acht erklärt. "
1
Von den Hindus , welche kindliche Pietät in den Opfern
von Nahrung für den verstorbenen Vater, Grossvater, Urgross
vater u. s. f. lebendig bezeigen , wurde diese in frühen Zeiten
auch zu Lebzeiten lebendig dargeboten .
„ Der Vater des Nakiketas hatte sich erboten , ein , wie es ge
nannt wird, All - opfer zu bringen , welches verlangt , dass der Mann.
alles das , was er besitzt , weggebe. Als sein Sohn von dem Gelübde
#
seines Vaters hört , frägt er ihn, ob er die Absicht hat , sein Gelübde
SPENCER, Principien der Ethik. I. 28
428 Die Inductionen der Ethik. Cap. X.

ohne Rückhalt ganz zur Ausführung zu bringen , oder nicht . An


fänglich zögert der Vater ; endlich, ärgerlich werdend, sagt er : „Ja,
ich werde auch Dich in den Tod bringen . Nachdem der Vater das
einmal gesagt hatte , war er verbunden , sein Gelübde zu erfüllen
und den Tod seines Sohnes als Opfer zu bringen. Der Sohn ist
vollkommen bereit zu gehen , um des Vaters vorschnell gegebenes
Versprechen einzulösen. "
Nicht weniger augenfällig ist dieser Zusammenhang in China
an den Tag gelegt worden, wo er von der frühesten Zeit , über
welche Berichte vorhanden sind, bis auf unsere Tage fortbestan
den hat . Neben der vorgeschriebenen Verehrung der Vorfahren,
von denen angenommen wird, dass sie die ihnen periodisch dar
gebrachten Opfer von Nahrung u. s. w. verzehren , ist immer
die absolute Unterordnung der Kinder den lebenden Eltern
gegenüber einher gegangen. CONFUCIUS Sagt — 77 Kindliche Ehr
furcht und brüderliche Ergebung ! --- sind diese nicht die Wurzel
aller wohlwollenden Handlungen ? " Und ein altes chinesisches
Wort lautet : "" Unter den hundert Tugenden ist kindliche Ehr
furcht die Haupttugend ; " und ein heiliges Edict von 1670 sagt ,
die kindliche Ehrfurcht ist das erste und grösste aller Gebote
in China " . Dasselbe war in einer andern grossen Gesellschaft
der Fall , deren zusammenhängendes Bestehen über unsere Chrono
logie hinaus zurückreicht : ich meine die der Ägypter . Nach
dem Ausspruche des РTAH-HOTEP ist das Geheimnis der mora
lischen Pflichten Gehorsam ; kindlicher Gehorsam ist seine
Wurzel. " Auch war es nicht anders bei der Gesellschaft, welche
als ein kleines Häufchen von Stämmen beginnend sich weiter
und weiter ausbreitete , bis sie ganz Europa und Theile von
Asien und Africa überzog . Die Unterwerfung der Söhne unter
die Väter war in den frühen römischen Zeiten , und noch lange
späterhin, absolut , in der That weniger beschränkt als in
China ; denn obgleich herab bis auf die gegenwärtige Zeit
chinesische Eltern das Recht haben, ihre Kinder zu tödten , und
sie dieselben als Diener oder Sklaven verkaufen dürfen , und
obgleich, als stillschweigende Folgerung, erwachsene Söhne nichts
ohne die elterliche Zustimmung thun oder Besitzthum eignen
können, was nicht der elterlichen Confiscation ausgesetzt wäre,
so lesen wir doch nicht , dass die Chinesen die Gewalt über
Leben und Tod an erwachsenen Kindern ausgeübt hätten , wie
es die Römer gethan haben . Natürlich war mit der Anordnung
§. 164. Gehorsam . 429

dieser absoluten elterlichen Gewalt die Annahme verknüpft , dass


auch die kindliche Unterwerfung absolut sein müsse . Und wenn
durch die ganze folgende europäische Geschichte hindurch die
Autorität eines Vaters und die Unterwerfung eines Kindes
weniger extrem gewesen sind, so sind sie doch bis in vergleichs
weise moderne Zeiten herab sehr scharf ausgesprochen gewesen .
Verschiedene menschliche Typen zeigen uns daher , dass
kindlicher Gehorsam beständig Wachsthum und Festigung der
Gesellschaft begleitet hat : und zwar , wenn nicht während der
ganzen Entwicklung, so doch während ihrer früheren Stufen.

§. 164.
Die Höhe , zu welcher sich politischer Gehorsam erhebt ,
wird in hauptsächlichem Maasse durch das Vorhandensein gün
stiger Bedingungen bestimmt. Wenn die physische Beschaffen
heit des Wohnortes eine solche ist , dass sie grosse Versamm
lungen von Menschen unthunlich macht, wie es bei weiten,
wüst liegenden, zu nomadischem Leben veranlassenden Gebieten
oder da , wo Bergketten die einzelnen Gruppen von einander
trennen, der Fall ist, - scheint sich das kindliche Gefühl nicht
weiter zu entwickeln , als bis zum patriarchalischen ; und mit
dieser beschränkten Entwicklung kann ein Widerstreben gegen
eine umfassendere Herrschaft Hand in Hand gehen. Die Khonds
geben hierfür ein Beispiel :
"9 Vor dem Haupte einer Familie haben alle Stämme die grösste
Achtung ; bei ihm gilt nämlich das Sprüchwort , dass , eines Menschen
Vater sein Gott auf Erden ist ' . Die sociale Organisation bei ihnen
ist in der That streng patriarchalisch , der Vater einer Familie ist
ihr absoluter Herrscher in allen Fällen. Ungehorsam gegen ihn
wird unter allen Umständen als ein Verbrechen betrachtet . "
Diesen Charakterzug besitzt auch noch ein anderes Bergvolk,
die Bhils , welche neben einem gewissen Maasse von Unter
werfung unter allgemeine Häuptlinge eine ausserordentliche
Unterthänigkeit gegen ihre Familienhäupter oder Patriarchen,
die sogenannten Turwees zeigen.
„ So wunderbar ist der Einfluss des Häuptlings über dieses ver
blendete Volk , dass es in keinerlei Lage , so verzweifelt sie auch
immer sein mag, dazu bewogen werden kann, ihn zu verrathen. “ " Einen
Andern zu tödten, wenn ihr Turwee es verlangt, oder selbst den Tod
zu erleiden , ist augenscheinlich für sie in gleicher Weise gleichgültig. "
28*
430 Die Inductionen der Ethik. Cap. X.

Aus diesem sich in Ausdehnung erweiternden kindlichen


Gehorsam kann sich mit der Zeit ein feststehender politischer
Gehorsam entwickeln , wo es die physischen Bedingungen be
günstigen ; besonders aber , wo sich eine gemeinsame Thätigkeit
im Kriege ausbildet . PALLAS erzählt uns , dass die Kalmücken
eine grosse „ Anhänglichkeit an ihre rechtmässigen Herrscher"
offenbaren ; und dass sie ihre Eltern ehren und ihnen gehorchen.
Bei den Sgaus , einer Abtheilung der Karenen (augenscheinlich
verschieden von den andern Abtheilungen)
„ sagen die Ältesten : , 0 Kinder und Enkel ! achtet und verehrt
Euren Vater und Eure Mutter. ' ‚ 0 Kinder und Enkel ! gehorcht den
Befehlen der Könige , denn in früheren Zeiten gehorchten die Könige
den Geboten Gottes. ""
Es sind aber die grösseren Gesellschaften der primitiven
Typen, in welchen die beiden Arten von Gehorsam am engsten
mit einander verknüpft sind . In China , wo , wie wir früher ge
zeigt haben, der kindliche Gehorsam bis zum Äussersten besteht,
sehen wir, dass auf beiden verbunden bestanden wird ; so geht
dies daraus hervor , wenn Tsze - hea einen Mann preist , " wenn
er , seinen Eltern dienstwillig , seine äusserste Kraft aufbieten
kann , wenn er, seinem Fürsten dienend , ihm sein Leben widmen
kann ;" und wie aus dem bereits angeführten kindlichen Ge
horsam einschärfenden Betragen des CONFUCIUS hervorgeht,
welcher , " als er beim leerstehenden Platze des Fürsten vor
überging , in seiner ganzen Haltung sich zu verändern schien,
seine Füsse beugten sich unter ihm und seine Worte kamen
heraus , als wenn er kaum Athem hätte , sie hervorzubringen. “
Wenn wir anerkannt haben , dass in China gelegentlich abwei
chende Ansichten auftraten , wie bei MENCIUS , welcher an einer
Stelle Rebellion vorschlägt , wollen wir auf Persien übergehen.
Auch hier fanden sich vereinzelte Äusserungen von Unabhängig
keit , wie die des Derwisches , welcher sagte , dass „ die Könige
zum Schutze ihrer Unterthanen , nicht die Unterthanen zum
Dienste der Könige vorhanden seien ; " im Allgemeinen wurde
aber politischer Gehorsam gefordert, aus Gründen der Klugheit,
wenn nicht aus andern. Einer ihrer Vezire hat gesagt :
29 Von der der Könige verschiedne Meinung zu haben,
Heisst, Deine eignen Hände im eignen Blute zu baden.
Sollte er behaupten, der Tag sei die Nacht,
So sage, Du sähest den Mond und das Licht der Plejaden. "
§. 164. Gehorsam . 431

Und SADI schärft eine unterwürfige Haltung als einen Theil


der Pflicht ein : ein Beispiel liefert der Satz :
"7 Wer nur immer die Eigenschaften der Rechtschaffenheit be
sitzt, legt sein Haupt auf die Schwelle des Gehorsams . "

Bei den alten Indiern , welche oben als Beispiele der bis
zu einem extremen Grade entwickelten Unterwürfigkeit eines
Sohnes unter den Vater angeführt wurden , wurde sehr stark
auf politischer Unterwürfigkeit bestanden ; so in dem Gesetzbuche
des MANU, wo es als unrecht bezeichnet wird , selbst ein Kind,
wenn es König ist , so zu behandeln , " als wäre es ein Sterb
licher ; er ist eine grosse Gottheit in menschlicher Gestalt. "
Dann mag aus Ägypten neben jener Ermahnung den Eltern zu
gehorchen, welche von PтAH-HOTEP citiert wurde , seine Billigung
eines noch weiteren Gehorsams genannt werden : , wenn Du Dich
dadurch erniedrigst , dass Du einem Oberen gehorchst , so ist
Dein Betragen vor Gott durchaus gut. " Wo DUNCKER die kriechen
den Demüthigungen bespricht, welche auf ihren Sculpturen und
Gemälden dargestellt sind, bemerkt er , dass die Ägypter 99 ihre
Könige als die Gottheiten des Landes anbeteten " . Allerdings
werden in den Inschriften auf den Gräbern von Beamten die ,
eine solche Anbetung voraussetzenden Handlungen einzeln als
Beweise ihrer Tugend aufgezählt. Es war auch bei den Hebräern
nicht anders . Während in den zehn Geboten religiöser Gehor
sam und kindlicher Gehorsam eng mit einander verknüpft werden ,
wurde an andern Stellen noch politischer Gehorsam mit jenen
verbunden ; so in den Sprüchen Salomonis, XVI . 10, wo gesagt
wird : "" Weissagung ist in dem Munde des Königs , sein Mund
fehlet nicht im Gericht. "
Durch die ganze europäische Geschichte ist eine gleiche
Beziehung nachweisbar. Zusammen mit der Theorie und Praxis
der absoluten Unterwerfung des Kindes unter den Vater, gieng
Hand in Hand die Theorie und Praxis der absoluten Unterwer
fung unter den Häuptling der Gruppe , - hier unter den ört
lichen Hauptmann, wo die Gruppen klein und ohne Zusammen
hang waren , und dort unter den centralen Häuptling , wo sie
gross und wohl befestigt geworden waren. Nachdem weniger
bestimmte Formen der Herrschaft durch den Feudalismus ersetzt
worden waren, kam zuerst die Lehnstreue gegen den Lehnsherrn
und dann mit fortschreitender politischer Festigung die Unter
432 Die Inductionen der Ethik. Cap . X.

thanstreue gegen den König. In dem alten französischen Epos


ist das eine unsühnbare Verbrechen der Verrath eines Vasallen ;
die edelste Tugend ist die Treue eines Vasallen. In unserm
eigenen Vaterlande ist die äusserste Unterthanstreue der Hoch
länder gegen die Häuptlinge ihrer Clans und später gegen die
Stuarts als ihre Könige ein Beispiel des allgemeinen Herrschens
dieses Gefühls , während der englische Adel , unter andern Weisen
dieses Gefühl an den Tag zu legen , dasselbe in verschiedenen
seiner Wahlsprüche documentiert hat ; so beispielsweise PAULET
und Andere : „ Aimez loyaulté , " EARL GREY und Andere : „ De
bon vouloir servir le roy, " EARL OF LINDSAY : „ Loyalität bindet
mich, " Baron MOWBRAY : „ Ich will mein Leben lang loyal sein, “
EARL OF ROSSE : „ Für Gott und den König, " ADAIR : „ Loyal bis
zum Tode. "
Und hier sei noch darauf hingewiesen , wie die Häufigkeit,
mit welcher die Unterthanentreue hier als die höchste der Em
pfindungen ausgedrückt wird , an die Häufigkeit erinnert , mit
welcher Bereitwilligkeit zum Angriff anderer Edelleute als das
Gefühl gewählt wurde , dessen Bekennen am würdigsten sei.

§. 165.
Die Bedeutung dieser Beziehung liegt in der Thatsache ,
dass beide Gefühle Begleiterscheinungen chronischer Streitsam
keit sind. Wenn wir uns daran erinnern, dass vor allen Dingen
der Häuptling , in späteren Zeiten der König und noch später
der Kaiser ursprünglich und zuerst der oberste Befehlshaber
ist, und dass seine Häuptlingsschaft im Frieden nur, eine Folge
seiner Häuptlingsschaft im Kriege ist , so ist es klar , dass im
Anfange politischer Gehorsam identisch ist mit militärischem
Gehorsam. Man braucht sich dann ferner nur zu vergegen
wärtigen, dass zu Erfolg im Krieg absolute Subordination unter
den Hauptbefehlshaber wesentlich ist , und dass absolute Sub
ordination unter ihn als König damit Hand in Hand geht , um
zu sehen , dass , solange die Streitsamkeit vorherrschend bleibt,
beide eins bleiben .
Weitere Beweise für diese Beziehung liefern einige wenige
Fälle , in denen der politische Gehorsam bis zu einem Extrem
geführt wird , welches Gehorsam aller andern Arten übertrifft.
Der erste hier anzuführende Beweis wird von einem Volke dar
§. 165 . Gehorsam . 433

geboten, welches verschwunden ist : den kriegerischen und canni


balischen Mexicanern, welche ihre Nachbarn überfielen , um Opfer
zu erhalten und damit ihre hungrigen Götter zu befriedigen.
Montezuma II., sagt HERRERA , " liess sich selbst so hoch ver
ehren, dass es fast bis zur Anbetung kam. Kein gemeiner Mann
durfte ihm in's Gesicht sehen, und wenn er es that, so starb er
darum . " Nach PETER Von Gent ist der allerschlimmste Zug
im Charakter der Indianer ihre Unterwürfigkeit " ; wo dann
HERRERA ihre Unterthanentreue erläutert , führt er einen Mann
an, welcher seinen Herrn nicht verrathen, sondern, ehe er dies
thäte , es erdulden wollte , von Hunden "" in Stücke gerissen zu
werden “ . Unter den jetzt lebenden Völkern wird ein auffallendes
Beispiel von den cannibalen Fidschi-Insulanern dargeboten. Diese
grausamen Wilden , die in Krieg und Zerstörung schwelgen ,
werden von ERSKINE als ausserordentlich loyal beschrieben.
Gegen ihre Häuptlinge sind sie so gehorsam , sagt JACKSON, dass
man erfahren hat, sie essen Bimsstein, wenn ihnen befohlen wurde
es zu thun ; und WILLIAMS sagt , dass ein verurtheilter Mann
ungefesselt dasteht um getödtet zu werden und selbst noch er
klärt : " Was auch der König nur immer sagt, das muss gethan
werden . " Von den blutgierigen Dahomeern mit ihrer Armee
von Amazonen erfahren wir ferner von einem Reisenden , dass
77 Vor dem Könige Alle in gleicher Weise Sklaven sind " , und
von einem andern, dass " sie ihn mit einer Mischung von Liebe
und Furcht verehren , wobei wenig bis zur Anbetung fehlt " ;
„man ist der Meinung, dass Eltern kein Recht oder keinen An
spruch an ihre Kinder haben , welche wie alles Andere dem
.
Könige gehören. " Politische Subordination unterdrückt danach
.
alle andern Arten von Subordination .
Dieser Zusammenhang wird aber nicht bloss durch diese
extremen Fälle und durch die umgekehrten Fälle extremer Art
nachgewiesen . Er tritt auch in den zwischen beiden liegenden
Fällen zu Tage : Beispiele sind die verschiedenen Völker Europas .
In Russland hält die Streitbarkeit mit ihren Einrichtungen das
ganze nationale Leben in Unterwerfung ; und unter den Euro
päern zeigen die Russen den verächtlichsten Gehorsam : womit
sie den Beifall des Mr. CARLYLE erlangen. Loyal bis zum An
beten unterwerfen sie sich ohne Widerstand den Vorschriften
aller Staatsbeamten , hinab bis zum untersten . Auf der andern
434 Die Inductionen der Ethik. Cap. X.

Seite sind wir selbst das Volk , bei welchem Streitbarkeit und
ihre Einrichtungen den geringsten Raum im nationalen Leben
einnehmen, und bei welchem sich die geringste politische Unter
werfung findet. Die Regierung ist dazu gekommen, ein Diener
zu sein anstatt ein Herr. Staatsbürger kritisieren scharf ihre
Fürsten , erörtern die Angemessenheit einen Theil der Gesetz
gebung aufzuheben und vertreiben Minister, welche ihnen nicht
gefallen, aus ihrem Amte.
Es ist auch nicht anders, wenn wir frühere und spätere Ent
wicklungsstufen einer und derselben Nation mit einander ver
gleichen. Auch hierdurch erkennen wir , dass mit derselben
Schnelligkeit , mit welcher das Leben der inneren Freundschaft
das Leben äusserer Feindschaft überwächst , auch das Gefühl
des Gehorsams abnimmt . Obschon unterwürfige Loyalität gegen
den lebenden Deutschen Kaiser gross ist , so ist sie doch nicht
so gross wie die unterwürfige Loyalität gegen seinen erobernden
Vorfahren FRIEDRICH II.; wie FORSTER Schrieb : Was mich haupt
sächlich widerwärtig berührte, war die Vergötterung des Königs. "
Wenn ungeachtet der nominell freien Form ihrer Regierung die
Masse des französischen Volkes duldet, dass seine Freiheiten in
einer Ausdehnung mit Füssen getreten werden , von der der eng
lische Abgeordnete zu einem Trades-Union- Congress in Paris
sagte , es sei eine Schande für eine republikanische Nation und
eine Anomalie in einer solchen " , so ist doch die willige Unter
ordnung nicht so gross, wie sie zu der Zeit war, wo Krieg die
französische Monarchie auf ihren Zenith gebracht hatte . Während
ferner in unserm eignen Falle ein ausgesprochener Contrast
zwischen der Ausdehnung der Kriege, innerer wie äusserer , in
früheren Zeiten, und dem vollständigen inneren Frieden in Ver
bindung mit einem langen äusseren Frieden, welchen die neueren
Zeiten gekannt haben, besteht, so besteht auch ein nicht weniger
ausgesprochener Contrast zwischen der grossen in früheren Zeiten
bestandenen Loyalität und der mässigen, in hohem Grade nomi
nellen Loyalität , welche gegenwärtig besteht.
Es erübrigt noch hinzuzufügen , dass zusammen mit dem
Niedergang politischer Subordination auch die kindliche Sub
ordination abgenommen hat. Das herbe Regiment der Eltern
und das demüthige Unterwerfen der Kinder in vergangenen
Jahrhunderten ist in unseren Zeiten gegen ein sehr gemässigtes
§. 166. Gehorsam . 435

24
Ausüben elterlicher Autorität und eine kindliche Unterwerfung
114
vertauscht worden , welche , während der Jugend viel weniger
augenfällig als sie zu sein pflegte, beinahe aufhört mit dem
Erreichen des heirathsfähigen Alters.
EN
§. 166.
Es haben also die beiden Arten von Gehorsam , der kind
liche und der politische, obschon sie in dem sie veranlassenden
Gefühl verwandt sind und auch in der Hauptsache mit einander
abändern, doch verschiedene Gutheissungen erfahren. Der eine
ist eng mit den Gesetzen des Lebens verknüpft , während der
andere von den Bedürfnissen des socialen Staates abhängt und
sich in dem Maasse ändert, wie diese sich ändern .
Für den Gehorsam des Kindes gegen die Eltern besteht
die Gewähr , welche aus der verhältnismässig unvollkommenen
Entwicklung hervorgeht , und es besteht ferner die Gewähr,
welche in der Verpflichtung zu einer Vergeltung für die empfange
nen Wohlthaten ihren Grund hat. Diese sind augenscheinlich
beständig ; und wenn auch mit dem Fortschreiten von niederen
zu höheren Typen des Menschen und der Gesellschaft die kind
2. liche Unterwerfung abnimmt , muss ein gewisser Grad davon
doch immer bestehen bleiben und muss fortdauernd durch ein
Exy 3:
NE. im eigentlichen Sinne sogenanntes ethisches Moment hervor
gerufen werden.
TOARK Auf der andern Seite tritt politischer Gehorsam , welcher
Te T in Gruppen primitiver Menschen nicht vorhanden ist , in's Leben

Ver 05 während der durch Kriege bewirkten Bildung politischer Körper, --



während des Wachsthums und der Organisation grosser durch
dnsseng
Head aufeinander folgende Eroberungen gebildeter Gesellschaften.
Die Entwicklung politischen Gehorsams in solchen Gesellschaften
ist eine Nothwendigkeit, da ohne ihn die verbundenen Thätigkeits
The
äusserungen, durch welche Unterjochungen und Consolidierungen
bera
zu Stande gebracht werden , nicht ausgeführt werden können .
Die natürlich zu ziehende Schlussfolgerung ist , dass das
Gefühl politischen Gehorsams , welcher nur eine vorübergehende
Bedeutung hat, an Stärke abnehmen muss , in dem Maasse, wie
die Nothwendigkeit desselben abnimmt. In Verbindung mit dem
Niedergang jenes Staatssystems , welches den streitsamen Or
P
ganisationstypus charakterisiert, und dem Erstehen jenes Contract
gelles
436 Die Inductionen der Ethik. Cap. X.

systems , welches den industriellen Typus charakterisiert , wird


die Nothwendigkeit der Unterwerfung allmählich geringer. Die
diesen Übergang von zwangsweiser Zusammenwirkung zu frei
williger Zusammenwirkung begleitende Änderung des Gefühls
modificiert auch, während sie die Beziehungen der Staatsbürger
zu einander modificiert, deren Beziehungen zur Regierung : dieser
gegenüber wird derselbe Grad von Gehorsam weder erfordert
noch gefühlt. Demüthige Unterwerfung hört auf eine Tugend
zu sein ; an ihre Stelle tritt die Tugend der Unabhängigkeit.
Die Abnahme politischen Gehorsams und der verblassende
Glaube an die Verpflichtung zu ihm geht Hand in Hand mit
sich steigernder Subordination unter ethische Grundsätze , einer
klareren Erkenntnis von der Oberherrschaft derselben und dem
Entschlusse, sich eher bei ihnen als bei gesetzgeberischen Vor
schriften zu beruhigen . Mehr und mehr kommen die pro- ethischen
Gefühle , welche Gehorsam gegen die Regierung anregen , mit
dem ethischen Gefühl in Widerstreit , welches Gehorsam gegen
das Gewissen anregt. Mehr und mehr verursacht dies letztere
eine ablehnende Stellung Gesetzen gegenüber, welche mit Billig
keit in Widerspruch stehen . Und mehr und mehr kommt es
dahin , dass gesetzlicher Zwang nur in so weit als berechtigt
empfunden wird , als das Gesetz die Gerechtigkeit erzwingt.
Dass politischer Gehorsam hiernach lediglich eine über
gangsweise Tugend ist , kann nicht wahrgenommen werden,
während die Nothwendigkeit für politische Subordination gross
bleibt ; und so lange diese gross bleibt , wird die unbegrenzte
Autorität der herrschenden Macht (wenn es nicht ein Mensch
ist, so ist es eine Majorität) beständig behauptet werden . Dürfen
wir aber von vergangenen Änderungen auf künftige Änderungen
Folgerungen ziehen, so können wir schliessen , dass auf einem
vorgeschrittenen Zustande die Sphäre des politischen Gehorsams
vergleichsweise enge Grenzen haben wird , und dass über diese
Grenzen hinaus die Unterordnung der Staatsbürger unter die
Regierung für nicht mehr verdienstlich gehalten werden wird,
als jetzt das Kriechen eines Sklaven vor seinem Herrn .
167. Industrie. 437

h
wirke XI. Capitel.
1
Industrie.
Ber Star
egler §. 167.
wederz
Wenn wir den Ursprung und die Umänderungen der Empfin
dungen , ethischen und pro- ethischen , verstehen wollen , welche
Cooli zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten in Bezug
er verte auf Industrie und das Nichtvorhandensein von Industrie geherrscht
201
haben, so müssen wir zuerst gewisse fundamentale Unterschiede
TA zwischen Classen menschlicher Thätigkeiten und zwischen ihren
elte : Beziehungen zum socialen Staate betrachten.
Industrie , wie wir dieselbe jetzt verstehen , besteht kaum
eprot unter ursprünglichen Menschen ― kann in der That kaum be
anres stehen , ehe Hirtenstaaten oder Agriculturstaaten gegründet
el . worden sind. Von wilden Naturerzeugnissen lebend haben Wilde
1
der frühesten Typen ihre Kräfte in erster Linie dem Sammeln
tec und Fangen dieser zu widmen : das Erlangen einiger von diesen ,
ehr k wie Früchte und Wurzeln , war leicht und gefahrlos , und das
Erlangen anderer , wie Thiere , von denen manche schnell und
tera manche gross sind , war schwierig und gefahrvoll. Die nach
-har diesen noch übrig bleibenden Thätigkeitsäusserungen , schwieriger
nhea und gefahrvoller als diejenigen, welche die Jagd mit sich brachte,
linati wurden durch das Kriegführen mit andern Menschen veranlasst.
CETAT Es können daher die Beschäftigungen der gänzlich Uncivilisierten
tel ungefähr eingetheilt werden in diejenigen , welche Stärke, Muth
-plet und Geschicklichkeit in hohem Maasse erfordern , und in die
eÅnko jenigen , welche diese Eigenschaften nur in geringem Maasse
oder gar nicht erfordern. Und da in den meisten Fällen die
$8
Erhaltung des Stammes hauptsächlich durch den Erfolg im
site Kriege und in der Jagd bestimmt wird , so ergiebt sich das

er Resultat, dass Kraft, Muth oder Geschicklichkeit, die in diesen


werk beiden an den Tag gelegt wurden , sowohl ihrer selbst willen

Hem als auch wegen ihres Werthes für den Stamm zu Ehre und
Ansehen gelangten. Da umgekehrt das Ausgraben von Wurzeln,
das Einsammeln wilder Früchte und das Sammeln von Schal
thieren keine Kraft, keinen Muth, kein Geschick erfordern und
die Erhaltung des Stammes nicht in augenfälliger Weise fördern ,
438 Die Inductionen der Ethik. Cap. XI.

so kamen diese Beschäftigungen dazu , wenig geehrt oder ver


hältnismässig verachtet zu werden . Ein sich von selbst er
gebender Schluss verschärft noch den Contrast. Während das
stärkere Geschlecht dazu berufen wird , sich der einen Be
schäftigung zu widmen , ist die andere dem schwächeren Ge
schlecht überlassen : zuweilen mit der Unterstützung durch
besiegte Männer oder durch Sklaven. Hieraus entsteht noch
ein weiterer Grund , warum in primitiven Gesellschaften den
räuberischen Thätigkeiten Ehre gegeben wird , während die
friedlichen Beschäftigungen in Missachtung stehen. Es wird
daher Industrie , oder das , was sie anfänglich repräsentiert.
nicht unnatürlicherweise von dem pro- ethischen Gefühl verurtheilt.
Die einzigen als industriell zu bezeichnenden Arten von
Thätigkeit, welche die Krieger des Stammes übernehmen dürften.
sind diejenigen , welche durch das Anfertigen von Waffen und
die Errichtung von Wigwams oder Hütten nothwendig erfordert
werden die eine , in enger Verbindung mit Krieg und der Jagd,
verlangt auch die Ausübung von Geschicklichkeit, und die andere
erfordert beides, sowohl Geschick als Kraft — nicht die mässige.
in eintöniger Arbeit dargebotene Kraft, sondern die bedeutende
Kraft , welche plötzlich aufgewendet werden muss . Und diese
anscheinenden Ausnahmen bieten eine Bestätigung dar ; denn
sie zeigen weiter , dass die mit Verachtung behandelten Be
schäftigungen diejenigen sind , welche , da sie verhältnismässig
wenig Kraft , körperliche oder geistige , erfordern , von den
niedriger Stehenden ausgeführt werden können .
Dieser in angegebener Weise aufgetretene Contrast zwischen
den Empfindungen, mit denen diese Classen von Beschäftigungen
betrachtet werden , hat mit geringer , wennschon zunehmender
Beschränkung während des ganzen Verlaufs des menschlichen
Fortschrittes bestanden ; und er hat bestanden , weil die Ur
sachen dazu der Hauptsache nach bestanden haben . Solange die
Selbsterhaltung der Gesellschaften in augenfälligster Weise von
den auf erfolgreiche Kriege verwendeten Thätigkeitsäusserungen
al gehangen hat, sind derartige Thätigkeitsäusserungen in Ehren
gehalten worden, und als stillschweigende Folge sind industrielle
Thätigkeiten für verächtlich gehalten worden . Erst während
der neueren Zeiten , erst jetzt, wo die nationale Wohlfahrt mehr
und mehr von den höheren Kräften der Production abhängig
§. 168. Industrie . 439

wird und wo solch höheres Vermögen der Production mehr und


mehr von den höheren geistigen Fähigkeiten abhängig wird,
erheben sich auch andere Beschäftigungen als die auf Kampf
abzielenden zur Anerkennung ihrer Achtbarkeit, während gleich
zeitig Achtbarkeit auch der begleitenden Fähigkeit zu anhalten
den und eintönigen Verrichtungen zuerkannt wird.
Im Besitze dieses Schlüssels werden wir nun besser im
Stande sein die Ethik der Arbeit zu verstehen, wie sie sich von
Volk zu Volk und von Jahrhundert zu Jahrhundert ändert.

§. 168.
Die nordamericanischen Indianer bieten die einfachsten und
deutlichsten Erläuterungen dar von räuberischer Lebensweise
und sich damit verknüpfenden Empfindungen. SCHOOLCRAFT sagt
von den Chippewähs :
„Sie betrachten den Gebrauch des Bogens und Pfeils, der Kriegs
keule und des Speers als die edelsten Beschäftigungen des Mannes . . .
Gut zu jagen und gut zu kämpfen sind die ersten und die letzten
Gegenstände ihrer Hoffnungen und des Ruhmes Lebender und Todter.
Auf Landbau betreffende und mechanische Arbeiten haben sie immer
als erniedrigend herabgesehen. "
Von den Schlangen- Indianern schreiben LEWIS und CLARKE :
Sie würden sich für erniedrigt betrachten, wenn sie gezwungen
wären , irgend eine Strecke weit zu gehen. " Von ähnlicher
Beschaffenheit ist BURTON's Schilderung der Dakotas :
„ Der Krieger, welcher die Jagd als einen reichlichen Theil des
Arbeitsfluches ansieht, ist so faul, dass er seinen Pony nicht satteln
oder absatteln will . . . Wie ein wildes Thier kann er nicht zum Ar
beiten gezähmt werden : er würde eher sterben als sich mit ehrbarer
Gewerbsthätigkeit zu beschäftigen . "
Auch die civilisierteren Irokesen zeigten das primitive Ge
fühl : „ Der Krieger verachtete die Mühen der Haushaltung und
hielt alle Arbeit unter seiner Würde. " Selbst vom unkriegerischen
Eskimo sagt man, dass er gleichen Widerwillen zeige .
„ Er jagt und fischt ; nachdem er aber seine Beute an's Land
gebracht hat , kümmert er sich nicht weiter darum ; denn es wäre
ein Flecken auf seinem Charakter , wenn er selbst nur so viel thun
wollte, wie eine Robbe aus dem Wasser zu ziehen . “
Für diesen Gebrauch besteht vielleicht eine Entschuldigung,
gleich der , welche der Gebrauch bei den Chippewähs gefunden
hat, bei welchen, " wenn die Männer ein grosses Thier getödtet
440 Die Inductionen der Ethik. Cap. XI.

haben , immer die Frauen ausgeschickt werden , es in das Zelt


zu bringen" 9 die Entschuldigung nämlich , dass die Jagd,
mag sie auf der See oder auf dem Lande sein , äusserst er
schöpfend ist.
Gehen wir auf Süd-America über, so begegnen uns That
sachen ganz ähnlicher Bedeutung. Die Männer der Stämme von
Guiana nehmen keinen Antheil an industrieller Thätigkeit, aus
genommen Land zum Anbau von Nahrungspflanzen urbar zu
machen : ein Jeder liegt „ indolent in seiner Hängematte bis es
nothwendig wird zu fischen oder zu der gewaltsameren An
strengung der Jagd zu gehen, um die Bedürfnisse seiner Familie
zu befriedigen" . Und dann wird uns von den Araucaniern.
kriegerisch aber ackerbauend (augenscheinlich weil es für die
Jagd nicht viel giebt) , erzählt , dass 927 der Herr und Meister
wenig mehr thut als essen, schlafen und umherreiten. "
Aus dem Wortlaute dieser letzteren Angabe können wir,
wie stillschweigend aus den andern Angaben sich ergebend.
entnehmen , dass auf frühen Stufen der Egoismus der Männer,
uneingeschränkt durch den Altruismus, welchen ein freundlicher
socialer Verkehr erzeugt , sie dazu führt , alle Anstrengungen,
welche , weil ihnen das Vergnügen an der Ausführung fehlt, ein
tönig und langweilig sind , auf die Frauen abzuwälzen. „ Der
Herr und Meister" thut was ihm beliebt , und es gefällt ihm,
die Frau (oder seine Frauen , wie es der Fall mit sich bringen
mag) alle langweilige und harte Arbeit verrichten zu lassen.
Beweise hierfür sind vielfach vorhanden. America bietet Bei
spiele hierfür dar in den Schilderungen der Chippewähs , Creeks.
Tupis, Patagonier ; wie folgende Auszüge belegen :
"" Diese mühevolle Aufgabe [ das Ziehen der Schlitten ] fällt äus
serst drückend den Frauen zu ; die Gefühle einer Person, die an civili
siertes Leben gewöhnt ist, kann nichts stärker verletzen , als Zeuge
ihrer Erniedrigung zu sein. “
„ Die Frauen verrichten alle Arbeit , sowohl im Hause als
auf dem Felde , und sind thatsächlich nur die Sklaven der
Männer. "
" Wenn sie ihren Wohnort verändern , sind die Frauen die Last
thiere, sie tragen die Hängematten, Töpfe, die hölzernen Stösser und
Mörser und allen ihren Haushaltungskram . "
Das Leben der patagonischen Frauen ist " eine beständige Scene
von Arbeit . . . Sie thun Alles mit Ausnahme des Jagens und Käm
pfens. "
§. 168. Industrie . 441

Hier folgen ferner Zeugnisse , welche Reisende in Africa in


Betreff der Hottentotten, Betschuanen , Kaffern , Aschantis , der
Bewohner von Fernando Po und dem untern Niger gegeben haben.
Die Frau "7 ist dazu verurtheilt, alle die Mühe, Lebensmittel für "
ihren Mann, " sie selbst und die Kinder zu tragen . • und alle die
Sorgen und Plackereien im Hause zu übernehmen , dazu noch einen
Theil der mit der Wartung des Viehs verbundenen Mühe. “
„ Die Frauen bauen die Häuser , pflanzen und ernten das Ge
treide, schaffen Wasser und Feuerung herbei und kochen die Nahrung .
Es ist sehr selten zu sehen , dass die Männer den Frauen , selbst bei
der beschwerlichsten Arbeit , helfen. "
"2 Ausser ihren häuslichen Pflichten hat die Frau alle schwere
Arbeit zu verrichten ; sie ist ihres Mannes Ochse , wie einmal ein
Kaffer zu mir sagte, - sie ist gekauft worden, folgerte er, und muss
deshalb arbeiten . "
29 Es mag bemerkt werden, dass die schwersten Pflichten allgemein
der Frau zufallen , welche man ,beim Drehen der Handmühle' , beim
Besorgen der Geschäfte auf dem Markte oder beim Bestellen der Pflan
zung findet. "
" Den Frauen in Fernando Po ist ein reichlicher Theil der
Arbeit übergeben , so das Pflanzen und Einsammeln der Yams .
sicher werden sie aber mit grösserer Rücksicht und Freundlichkeit
behandelt als in irgend einem Theile von Africa , den wir besucht
haben. "
Am unteren Niger „ werden die Frauen gewöhnlich zu dem ge
ringen Detailhandel durch das Land benutzt ; sie verrichten auch ein
gut Theil schwerer Arbeit, besonders beim Bestellen des Landes . "
In Bezug auf diese Auszüge mag bemerkt werden, dass die
1
letzten, welche sich auf fortgeschrittenere Rassen , welche fester
stehende Gewerbthätigkeit haben, beziehen, den Nachweis geben,
dass bei diesen Rassen die Sklaverei der Frauen weniger scharf
ausgesprochen ist. "
Ausser jener Missachtung, welche sich auf frühen Entwick
lungsstufen an Arbeit knüpft , weil sie von Frauen ausgeführt
werden kann, welche in den meisten Fällen unfähig sind oder
für unfähig gehalten werden , im Kriege zu kämpfen oder zu
jagen , wird noch eine weitere Missachtung mit ihr verbunden, 18
weil sie , worauf oben hingewiesen wurde , auch von besiegten A
Männern oder von Sklaven ausgeführt wird, — von Menschen ,
#
heisst das , welche in der einen oder andern Weise sich als niedriger
erwiesen haben. In sehr frühen Zuständen finden wir zuweilen ,
dass Sklaven zu den nicht räuberischen Beschäftigungen ver
wandt werden , welche ihre Herren lästig finden . Selbst von

1
442 Die Inductionen der Ethik. Cap . XI.

den Chinooks lesen wir, dass „ Sklaven alle beschwerliche Arbeit


verrichten ; und sie werden in dieser Beschäftigung häufig mit
Frauen zusammengebracht. " So sagt ANDERSSON :
„ Die Damaras sind faule Geschöpfe. Was nicht von den Frauen
gethan wird , wird den Sklaven überlassen , welche entweder Nach
kommen verarmter Mitglieder ihres eigenen Stammes oder . . . ge
fangene Buschmänner sind. "
WO TUCKEY das Volk von Embomma am Congo beschreibt,
sagt er:
„Die Bestellung des Landes ist durchaus das Geschäft der Skla
ven und Frauen, die Töchter des Königs und die Frauen der Prinzen
werden beständig in dieser Weise beschäftigt. "
BURTON erzählt uns , dass in Dahome 27 Landbau verachtet
wird , weil Sklaven dazu verwandt werden " ; ein grosser Theil
davon scheint aber von Frauen gethan zu werden. Und in
ähnlicher Weise lesen wir von den Mishmees in Asien , dass
„ die Frauen und Sklaven den ganzen Landbau besorgen" .
Es entsteht dann ganz natürlich , und wir können aller
dings sagen nothwendig, in jenen frühen Stufen ein tiefes Vor
urtheil gegen Arbeit ―――― ein pro- ethisches , sie verurtheilendes
Gefühl. Wie dieses pro- ethische Gefühl , welches die Sanction
angestammter Gebrauchthümer erhalten hat, je nach den Lebens
gewohnheiten , welche durch die Umgebung bestimmt werden,
diesen oder jenen besondern Charakter annimmt , wird uns auf
verschiedene Weisen gezeigt . So lesen wir , dass
die Buschmänner „ geschworene Feinde jeglichen hirtenmässigen
Lebens sind. Manche ihrer Grundsätze bestimmen sie, von der Jagd
und vom Plündern zu leben . "
"" Die echten Araber verachten Landwirthschaft als eine Beschäfti
gung, welche sie erniedrigen würde . "
Aus diesen Beispielen , wie aus vielen bereits mitgetheilten,
sehen wir , wie eine lange befolgte Lebensart eine damit über
einstimmende Reihe von Gefühlen und Ideen bestimmt. Und
die Stärke der Vorurtheile , welche vererbte Gebräuche dieser
Classe aufrecht erhalten , wird durch mannigfache anomale
Fälle erwiesen. LIVINGSTONE erzählt uns von den Ost - Afri
canern, dass
„ wo Rindvieh vorhanden ist , die Frauen das Land bestellen, das
Korn pflanzen und die Hütten bauen . Die Männer bleiben zu Hause,
um zu nähen, zu spinnen , zu weben und zu schwatzen und die Kühe
zu melken . "
§. 169. Industrie . 443

Noch befremdlicher ist die feststehende Theilung der Arbeit


zwischen den Geschlechtern in Abyssinien . Nach der Angabe
von BRUCE
E , ist es eine Schande für einen Mann auf den Markt zu gehen
und irgend etwas einzukaufen. Er kann kein Wasser tragen oder
Brod backen ; er muss aber die Kleider , die beiden Geschlechtern
gehören, waschen, und bei dieser Verrichtung können ihm die Frauen.
Im nicht helfen . "
In CIEZA'S Schilderung gewisser alter Peruaner, der Cañaris ,
finden wir ein verwandtes System:
Die Frauen " sind grosse Arbeiter, denn sie sind es , welche das
Land bebauen, das Getreide säen und die Ernten einbringen, während
ihre Männer in den Häusern bleiben, nähen und weben, ihre Kleidung
schmücken und andere weibliche Verrichtungen besorgen Manche
Indianer sagen , das käme von dem Mangel an Männern und dem
grossen Überfluss an Frauen. “
Möglicherweise sind derartige Anomalien wie vorstehend
angeführte in Fällen entstanden , wo die Lebensbedingungen ,
welche eine Abnahme der räuberischen Thätigkeitsäusserungen
verursachten und unter denen die Arbeit der Frauen fortdauernd
für die Zwecke der Production genügten , es den Männern ge
statteten , ein müssiges oder ein mit leichten Beschäftigungen
erfülltes Leben zu führen. Wir können mit Sicherheit schliessen,
dass bei barbarischen Völkern die Männer keine harte oder
1: eintönige Arbeit ergriffen , als bis sie dazu gezwungen wurden .

§. 169.
Wo aber chronische Kämpfe nicht in wirksamer Weise die
Bevölkerung niederhielten , machte die Zunahme derselben es
für die Männer zur zwingenden Nothwendigkeit sich der Nah
rungserzeugung zu widmen ; und mit dieser Wandlung wurde
auch eine Änderung in den die Arbeit betreffenden pro- ethischen
Gefühlen angebahnt . Die Khonds bieten hiefür ein Beispiel .
Sie " halten es für unter ihrer Würde, Tauschhandel oder sonstige
Handelsgeschäfte zu treiben . . . und betrachten alle diejenigen als
niedrig und plebejisch , welche nicht entweder Krieger oder Acker
bauer sind. "
So wird uns von den Javanern gesagt, dass
,,sie den Handel verachten , und die Mitglieder höherer Rang
722

stufen halten es für schimpflich , darin beschäftigt zu sein ; das ge


meine Volk ist aber allezeit bereit , sich mit den Thätigkeiten des
SPENCER, Principien der Ethik. I. 29
444 Die Inductionen der Ethik. Cap. XL

Landbaues zu beschäftigen, und die Häuptlinge sind bereit, landwirth


schaftlichen Fleiss zu ehren und zu ermuthigen. “
Aus verschiedenen Quellen erfahren wir, dass die germani
schen Stämme , sowohl in ihren ursprünglichen Wohngebieten
als in denjenigen, welche sie eroberten , sich mit der Landwirth
schaft als Ersatz für Jagen und Plündern befreundeten : zweifellos
weil durch keine andere Beschäftigung der entsprechende Unter
halt beschafft werden konnte .
In Bezug auf diese und auf verwandte Übergangszustände
mögen zwei beiläufige Bemerkungen gestattet sein. Die eine
ist diese da Gewerbthätigkeit , hauptsächlich landwirthschaft
liche , zuerst von Sklaven und Frauen ausgeführt wird , welche
unter einer Autorität arbeiten, so folgt daraus, dass freie Leute.
wenn sie aus Nahrungsmangel genöthigt sind zu arbeiten , ein
starkes Vorurtheil gegen das Arbeiten für Andere , d . h. das
Arbeiten um Lohn , haben ; denn das Arbeiten unter Autorität
nach einem Vertrage , ist dem Arbeiten unter Autorität durch
Zwang gar zu ähnlich . Während SCHOMBURGK die Caraiben als
die thätigste Rasse in Guiana charakterisiert, sagt er, dass nur
die alleräusserste Noth einen Caraiben dazu bewegen könne .
seine Würde so weit zu erniedrigen, um Lohn für einen Europäer
zu arbeiten. Diese Empfindung tritt mit gleicher oder selbst
noch grösserer Stärke bei manchen friedfertigen Völkern auf.
bei denen gehorsame Unterordnung ungewöhnlich oder unbekannt
ist . Von den Bewohnern von Südost - Indien sprechend , sagt
LEWIN :

„ Unter den Bergstämmen kann Arbeit nicht gemiethet werden :


die Leute arbeiten ein jeder für sich selbst . Im Jahre 1865 musste
in diesem Districte eine Strasse durchgeschlagen werden ; obgleich
aber fabelhaft hohe Arbeitslöhne geboten wurden , verweigerte die
Bergbevölkerung doch fest zu arbeiten. "

Und noch entschiedener ist der Widerwille gegen das


Arbeiten unter Befehl , welchen die im Übrigen arbeitsamen
Sonthals zeigen .

„ Der Sonthal wird keinen Dienst bei irgend Jemand annehmen,


er wird keine Arbeit verrichten ausgenommen für sich selbst oder
seine Familie , und sollte irgend ein Versuch gemacht werden ihn zu
zwingen , · so flieht er aus dem Lande oder dringt in das dichteste
Jungle, wo er, unbekannt und nicht gesucht , anfängt, ein Stück Boden
abzuräumen und sich seine Blockhütte zu errichten. "
§. 170. Industrie . 445

Die andere Bemerkung ist folgende : die Verachtung für den


Handel, welche , wie oben gezeigt wurde , anfänglich neben der
ehrenden Anerkennung des Landbaues bestand , ist möglicher
weise eine Folge der Thatsache , dass er ursprünglich haupt
sächlich von unsteten Classen getrieben wurde , welche einzeln
losgelöste , unzuverlässliche Glieder einer Gemeinschaft waren,
in welcher die meisten Leute feste Stellungen hatten . Die
Zunahme des Handels brachte aber langsam eine Änderung in
seiner Schätzung mit sich. Wie bei jagenden Stämmen die
verhältnismässig unwesentliche Landwirthschaft verachtet wurde ,
aber achtungswerth wurde , als sie ein unentbehrliches Mittel
für die Erhaltung des Lebens wurde , so entbehrte auch der
Handel , anfangs verhältnismässig unwesentlich (da die wesentlich
nothwendigen Gegenstände meist zu Hause gemacht wurden) ,
in ähnlicher Weise der Gutheissung der Nothwendigkeit und
des von den Vorfahren überkommenen Gebrauchs ; als er aber
im Laufe der Zeit Bedeutung erlangte, hörte er allmählich auf, ·
jenes pro-ethische Gefühl zu erregen, welches sich in Verachtung
Luft macht.
§. 170.
Mit dem Wachsthum volkreicher Gesellschaften und der
immer gebieterischer auftretenden Nöthigung zur Bebauung des
Landes , erfährt doch noch für lange Perioden die Achtbarkeit
der Arbeit keine Anerkennung, und zwar aus den im Eingange
angegebenen Ursachen : sie wird von Sklaven , oder von Leib
eigenen, oder in späteren Zeiten von Menschen ausgeführt, welche
an Körper oder Geist mehr oder weniger niedriger stehen . Es
wird hiernach eine machtvolle Gedankenassociation hergestellt ;
und der natürliche Widerwille gegen Arbeit wird noch durch
den Glauben verstärkt , dass eine Beschäftigung mit ihr ein
Eingeständnis einer niedrigen Natur ist.
Obgleich wir in den Litteraturen aller civilisierter Gesell
schaften finden, dass die Pflicht zur Arbeit betont wird, so scheint
es doch meistens die Pflicht unterworfener Menschen gewesen
zu sein. Die in dem Gesetzbuch des MANU enthaltene Vor
schrift : "" Verrichte täglich Deine eigene zugetheilte Arbeit un
ermüdlich " bezieht sich, wie stillschweigend geschlossen werden
muss , auf Menschen unter Autorität : „ zugetheilte " Arbeit setzt
einen Herrn voraus. So hatte ferner nach dem 99Todtenbuche "
29*
446 Die Inductionen der Ethik. Cap. XI.

(CXXV) der Ägypter , wenn er nach dem Tode gefragt wurde,


zu erklären : „ Ich bin nicht faul gewesen“ und „ ich habe nichts
aufgeschoben und keine Zeit vertändelt " . Aus dem Wortlaute
des letzten Satzes können wir ruhig folgern, dass die mit Fleiss
ausgeführte Arbeit befohlene Arbeit war. In Bezug auf die
Hebräer kann derselbe Schluss gezogen werden . Wenn man
sich daran erinnert , dass sie , welche ursprünglich ein Hirten
volk waren, eine lange Zeit hindurch die auf das Vieh verwandte
Mühe für verhältnismässig ehrenwerth hielten (ebenso wie die
jetzt lebenden Araber , bei denen , wenn die Männer nicht auf
Raubzügen begriffen sind , die einzige passende Beschäftigung
das Hüten der Herden ist ) , so können wir in ähnlicher Weise
folgern, dass die Verpflichtung zur Arbeit die auf Dienern oder
Sklaven liegende Verpflichtung war : das Wort Sklaven ist hier
gewöhnlich das richtige Wort. Obgleich sich das dritte Gebot
ebenso wohl auf Herren wie auf Diener bezieht , so lässt doch,
selbst wenn man annimmt, die Gebote seien eingebornen Ursprungs
gewesen, die Thatsache, dass das Leben noch immer der Haupt
sache nach das eines Hirtenvolkes war, folgern, dass die Arbeit,
von der gesprochen wird , eine Hirtenarbeit , keine Handarbeit
war . Es ist wohl richtig , dass in der Legende von Adam's
Verdammung der Fluch der Arbeit allen seinen Nachkommen
aufgelegt wird ; an erster Stelle haben wir aber guten Grund
zur Annahme, dass diese Legende babylonischen Ursprungs ist,
und an zweiter Stelle haben wir den aus neueren Untersuchungen
sich ergebenden Schluss , dass die Adamis , eine dunkle Rasse,
Sklaven waren und dass das Essen der verbotenen, der höheren
Rasse vorbehaltenen Frucht ein strafbares Vergehen war, ebenso
wie es im alten Peru das Essen der Coco war, welche der Ynca
Classe vorbehalten war. So lag auch möglicherweise bei den
Hebräern die Verpflichtung zum Arbeiten mehr auf den niedri
geren Männern als auf den Männern als solchen . In der persi
schen Litteratur begegnet uns allerdings eine bestimmtere An
erkennung der Tugendhaftigkeit der Arbeit ohne Rücksicht auf
äussere Bedingungen. So wird gesagt : „Wer Samen säet, ist in
Ormusd's Augen so gross , als hätte er tausend Geschöpfen das
Leben gegeben. " Und in den „ Parsees " von DOSABHOY FRAMJEE
lesen wir , " der Anhänger Zoroaster's wird von seiner Religion
gelehrt, sein Brod im Schweisse seines Angesichtes zu verdienen. "
§. 171. Industrie . 447

§. 171 .
Die Völker Europas, von frühen Zeiten an bis herab auf unsere
eigenen, erläutern diese Beziehung zwischen der Arbeit socialer
Thätigkeit und dem herrschenden Gefühl in Bezug auf Arbeit.
Wir haben zunächst das Zeugnis , das uns die Griechen
darbieten. PLATO zeigt seine Empfindung gegen Handeltreibende,
wenn er sagt , der Gesetzgeber übergehe sie , während er vor
Landbestellern eine solche Achtung zeigt, wie sie aus dem Um
stande hervorgeht, dass ihnen Gesetze gegeben werden ; und in
der Republik' zeigt er ausführlicher , für wie niedrig stehend
er alle Erzeuger und Verbreiter hält : er vergleicht sie mit den
niedrigsten Theilen der individuellen Natur. In ähnlicher Weise
wird von ARISTOTELES die Ansicht ausgesprochen und die Em
pfindung offenbart, welcher sagt : „ Es ist für Jemand , der das
Leben eines Handwerkers oder eines gedungenen Dieners führt,
unmöglich ein tugendhaftes Leben zu führen. "
Weiter nach Westen ist es nicht anders gewesen. In der
römischen Welt gieng mit der beständigen und thatsächlichen
Streitsamkeit Hand in Hand eine immer zunehmende Herabsetzung
der nicht streitsamen Classe ――――――― der Sklaven und Freigelassenen.
Und durch die ganzen „ finsteren Jahrhunderte “ , welche den Zu
sammenbruch der brutalen Civilisation Roms hinter sich liess ,
ebenso wie durch die ganzen Jahrhunderte , während welcher be
ständig wiederkehrende Kriege mit der Zeit zur Gründung grosser
und stetiger Reiche führten, dauerte diese Verachtung des Ge
werbfleisses , sowohl körperlich als geistig, fort, so dass nicht bloss
die rohe Handarbeit und die geschickte Arbeit des Handwerkers ,
sondern auch die geistige Arbeit der gut erzogenen Männer mit
Verachtung behandelt wurden. Nur in dem Verhältnis, in welchem
das Kämpfen aufhörte, der ausschliessliche Beruf Aller mit Aus
nahme der untergeordneten Classen zu sein , und nur als die
untergeordneten Classen, gleichzeitig an Grösse zunehmend, einen
grösseren Antheil an der Bildung der öffentlichen Meinung ge
wannen, wurde die Ehrbarkeit des Gewerbfleisses in einem ge
wissen Maasse anerkannt : jedes ihm früher von den herrschenden
Classen gespendete Lob war nur eine Folge des Bewusstseins ,
dass er zu ihrem Wohlsein führte.
In neueren Zeiten und besonders bei uns selbst und den
Americanern hat der industrielle Theil der Gesellschaft den
448 Die Inductionen der Ethik. Cap. XI.

kämpfenden Theil so bedeutend überwachsen , und ist dazu ge


kommen , so viel wirksamer bei der Bildung der Gefühle und
Ideen in Bezug auf Gewerbfleiss zu sein , dass diese beinahe
umgekehrt worden sind . Obgleich kein Geschick erfordernde
Arbeit noch immer mit etwas der Verachtung Ähnlichem be
trachtet wird, als etwas, was niedrige Fähigkeit und eine niedrige
sociale Stellung beweist , und obgleich die Arbeit des Hand
werkers , mehr geachtet wegen der höheren geistigen Kraft, die
sie erfordert, wegen ihrer Classengenossenschaft wenig geachtet
wird, so hat die geistige Arbeit in neueren Zeiten eine achtungs
werthe Stellung erreicht. Aber die hauptsächlich zu bemerkende
Thatsache ist , dass in Verbindung mit dem Fortschritte des
Industrialismus nach Oberherrschaft im socialen Leben das bei
nahe ganz allgemeine Gefühl entstanden ist , dass irgend eine
Art nützlicher Beschäftigung zwingend gebieterisch ist . Verur
theilungen der „faulen Reichen " werden heutzutage von Reichen
selbst geäussert .
Es mag indessen bemerkt werden , dass selbst jetzt noch
bei denen , welche das ancien régime repräsentieren , ― den
Officieren des Heeres und der Flotte , - das alte Gefühl fort
lebt, und zwar mit dem Resultate, dass diejenigen unter ihnen,
welche die höchste Cultur besitzen , -die ärztlichen Beamteten,
sowohl im Heere als in der Flotte, und die Ingenieur- Officiere,
als auf einer niedrigeren Stufe als die übrigen stehend angesehen
und von den Autoritäten mit weniger Achtung behandelt werden.

§. 172.
Wir sehen demnach , wie in allen vorausgehenden Capiteln
so auch in dem vorliegenden , dass die ethischen Begriffe , oder
vielmehr die pro- ethischen Begriffe durch die Formen der socialen
Thätigkeiten bestimmt werden . Solchen Thätigkeiten gegenüber,
welche am augenscheinlichsten zur Wohlfahrt der Gesellschaft
führen, werden Gefühle der Billigung wachgerufen, und umgekehrt :
das Resultat ist, dass die Idee von recht mit ihrer Anwesenheit
und die Idee von unrecht mit ihrer Abwesenheit verknüpft wird.
Daher rührt der allgemeine Contrast , der sich von den
frühesten Stufen bis auf die spätesten herab zeigt, zwischen der
Schimpflichkeit der Arbeit in ausschliesslich kriegerischen Gesell
schaften und der Ehrbarkeit der Arbeit in friedlichen Gesell
§. 172. Industrie . 449

ndi schaften oder in relativ friedlichen . Dieser Contrast wird in


er bedeutsamer Weise durch den Contrast in den Ceremonien bei
diar der Einsetzung eines Herrschers ausgedrückt. Bei uncivilisierten
ck streitsamen Völkern erscheinen in dem formellen Acte des Machens
Ala oder Krönens eines Häuptlings oder Königs immer Waffen : hier
nd einer wird er auf einem Schilde auf die Schultern seines Gefolges
erhoben, dort wird ihm das Schwert umgegürtet oder der Speer
igenEr eingehändigt. Und da in den meisten Fällen verhältnismässig
friedliche Gesellschaften in ihren Überlieferungen die während
eine 17 ihrer ausschliesslich kämpfenden Vergangenheit gebrauchten Cere
Zb monien beibehalten haben, so trifft es sich nur selten , dass bei
der Einsetzung eines Herrschers Symbole dieser Art fehlen.
Ein bezeichnender Fall vom Fehlen solcher wird von dem bereits

88 irge genannten Stamme in Africa , den Manansas, dargeboten, welche,


chis von kriegerischen Stämmen um sie herum in ein Bergland ge
zerze trieben, sich dem Landbau gewidmet haben, und welche sagen :
29 Wir brauchen das Blut der Thiere nicht , noch viel weniger

bist lezz dürstet es uns nach dem Blute von Menschen ! " , denn bei ihnen
empfängt, nach der Erzählung HOLUB's, ein neuer Herrscher als
jeren.-
Symbole etwas Sand, Steine und einen Hammer, „ Industrie und
Arbeit symbolisierend . "
Cote
Noch bleibt eine Thatsache zu erwähnen und mit Nachdruck
en Feat
zu betonen übrig . Aus den pro - ethischen Empfindungen , welche
T-0
dem Gewerbfleisse Sanction vermitteln und ihn · achtbar machen ,
enda
entwickelt sich gelegentlich das eigentliche ethische Gefühl . Dies
schreibt Arbeit nicht ihrer selbst willen vor , sondern schreibt
sie vor als stillschweigend in der Pflicht der eigenen Erhaltung
liegend anstatt der Erhaltung durch Andere . Die Tugend der
deait
Arbeit besteht wesentlich in der Verrichtung solcher Handlungen,
welche genügen die Kosten der Erhaltung seiner selbst und
des
seiner Abhängigen zu decken und die socialen Pflichten zu er
De
füllen ; wogegen die Schimpflichkeit des Müssiggangs wesentlich
۱۲۳
darin besteht, dass die Mittel zum Leben aus dem gemeinsamen
Vorrathe genommen werden, während Nichts gethan wird ent
Apres
weder zu diesem beizutragen oder auf andere Weise das Glück
L
der Menschen zu fördern.
ch ra
#2
caug
450 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII

XII . Capitel.

Mässigkeit.

§. 173.

Diejenigen ethischen , oder vielmehr pro- ethischen Gefühle,


welche sich mit Mässigkeit verknüpfen , haben zunächst , wie
verschiedene der damit verbundenen pro- ethischen Gefühle.
einen religiösen Ursprung . Wie in den „ Principien der Sociologie ",
§. 140, gezeigt wurde, wird das Ertragen von Hunger in vielen
Fällen eine Tugend , weil es eine Folgethatsache davon ist, dass
einem Vorfahren Nahrung übriggelassen, oder, auf einer späteren
Entwicklungsstufe , weil Nahrung einer Gottheit geopfert wird.
Wo Nahrung nicht im Überfluss vorhanden ist , bedeutet das
Übriglassen davon entweder absolutes Fasten oder eingeschränkte
Mahlzeiten ; und hieraus entsteht daher eine Association der
Gedanken in Bezug auf Mässigung im Essen und einer gehor
samen Unterordnung , welche entweder religiös oder quasi
religiös ist.
Möglicherweise tritt in manchen Fällen eine ähnliche Ent
haltung beim Trinken geistiger Getränke, welche zu Libationen
benutzt werden , auf , da die zu diesen erforderlichen Mengen
gleichfalls die für die Opfernden übrigbleibenden Mengen ver
ringern . Wenn , wie es häufig der Fall ist, bei jeder Mahlzeit
ein Beiseitewerfen von Getränk , ebenso wie von Nahrung für
die unsichtbaren Wesen ringsherum stattfindet , wird es eine
stillschweigend gezogene Folgerung , dass Jemand , welcher so
übermässig ist, dass er berauscht wird , diese unsichtbaren Wesen
missachtet hat und daher zu tadeln ist . Es ist richtig , dass ,
wie wir sofort sehen werden , zuweilen andere Ideen zu ent
gegengesetzten Meinungen und Empfindungen geführt haben ; es
ist aber möglich , dass die göttlichen Verdammungsurtheile,
welche in manchen Fällen ausgesprochen worden sind, aus dieser
Ursache herzuleiten sein dürften.
Seitdem die vorstehenden Sätze niedergeschrieben wurden.
habe ich einen deutlichen Beweis dafür erhalten, dass die darin
ausgedrückte Vermuthung wohl begründet ist. Von einem Volke.
bei welchem Ahnen - Verehrung und das gebräuchliche Opfern
§. 174. Mässigkeit . 451

für Ahnen durch alle Zeiten , von denen wir Kunde haben ,
eifrigst durchgeführt worden ist , erhalten wir Zeugnisse dafür,
dass Mässigung sowohl im Essen als im Trinken, selbst bis zur
Askese getrieben , eine Folgeerscheinung der Achtung vor den
Todten ist , denen beständig Opfer dargebracht werden . CONFUCIUS
sagt : " Wer ein Mensch von vollkommener Tugend zu sein
strebt, sucht bei seinen Mahlzeiten nicht seinen Appetit zu be
friedigen." Hier haben wir eine Bezeichnung der Tugend, los
gelöst von ihren Beweggründen . CONFUCIUS sagt aber auch :
" Ich kann keinen Flecken im Charakter des Yu finden . Er
benutzte für sich selbst grobe Nahrung und Getränk , zeigte
aber die äusserste kindliche Pietät gegen die Geister. Seine
gewöhnliche Kleidung war ärmlich , in seinem Opferhut und
seiner Opferschürze entfaltete er aber die äusserste Eleganz . "
Hier haben wir die Tugend im Zusammenhang mit religiöser
Pflicht dargestellt : die letztere ist die Ursache , die erstere
die Folge .
Von der angenommenen religiösen Gutheissung losgelöst
kann die Tugend der Mässigkeit natürlich keine andere Gut
heissung haben als ihre , durch Erfahrung ermittelte Nützlichkeit.
Die beobachteten wohlthätigen Wirkungen der Mässigkeit und
die beobachteten schädlichen Wirkungen des Übermaasses bilden
die Grundlagen für die Beurtheilung wie für die begleitenden
Empfindungen .
Vernünftige Ideen in Bezug auf Mässigkeit ―― besonders
Mässigkeit in der Nahrung können nicht eher entwickelt
werden , als bis wir einen Blick auf die Verschiedenheiten in
den physiologischen Erfordernissen geworfen haben , welche

wiederum durch die umgebenden Umstände bestimmt werden .

§. 174 .
Was unter uns selbst als eine widerwärtige Gefrässigkeit
verurtheilt werden würde , ist unter den Bedingungen , denen
gewisse Menschenrassen ausgesetzt sind, vollständig normal und
geradezu nothwendig . Wo das Wohngebiet ein solches ist , dass
es zu einer gewissen Zeit nur sehr wenig Nahrung darbietet,
zu andern Zeiten aber Nahrung im grossen Überfluss , da hängt
das Lebenbleiben von der Fähigkeit ab , ungeheure Nahrungs
mengen aufzunehmen , wenn sich die Gelegenheit dazu bietet .
452 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII.

Ein gutes Beispiel hiervon bietet Sir GEORGE GREY'S Schilderung


der Orgien, welche dem Stranden eines Walfisches in Australien
folgen.
„ Nach und nach kommen andere Eingeborne heiter von allen
Seiten haufenweise herzugeeilt : des Nachts tanzen und singen sie und
den Tag über essen und schlafen sie , und dieses Fest dauert Tage
lang ununterbrochen, bis sie sich endlich ordentlich in den Walfisch
hinein gegessen haben ; man sieht sie dann in dem stinkenden Aas
und um dasselbe herumklettern und sich Leckerbissen wählend . . .
sie bleiben viele Tage lang bei dem Aas , vom Kopf bis zu den Füssen
mit stinkendem Thran beschmiert , bis zur Fülle mit faulem Fleisch
gestopft ... Wenn sie zuletzt ihr Mahl verlassen, schleppen sie so
viel fort, als sie nur schwankend tragen können . "
Da die Australier in einem unfruchtbaren Lande leben und
oft halb verhungern, so werden diejenigen aus ihrer Zahl, welche
eine Gelegenheit wie die vorstehend geschilderte nicht voll
ständig ausnutzen können , die ersten sein , welche während
Zeiten der Hungersnoth sterben würden . Einen Beweis dafür,
dass dies die richtige Erklärung ist , bietet CHRISTISON'S Schil
derung eines Stammes des centralen Queensland dar. Sie sind
grosse Esser nur zu Anfang ; wenn sie sich aber an Rationen
und regelmässige Mahlzeiten gewöhnt haben , mit Einschluss
von Brod oder Brei , sind sie sehr mässige Esser , vielleicht
mässiger als Europäer. "
In andern Fällen ist das , was uns als die äusserste und
beinahe unglaubliche Unmässigkeit erscheint, Folge der physio
logischen Nothwendigkeit Wärme zu erzeugen in Klimaten, wo
der Wärmeverlust sehr gross ist . Darin liegt die Erklärung
der folgenden Geschichte.
99 Von Kooilittiuk erfuhr ich von einer neuen Schwelgerei der
Eskimos : er hatte gegessen , bis er trunken war und jeden Augen
blick einschlief , mit geröthetem und erhitztem Gesicht und offenem
Munde an seiner Seite sass Arnalooa [seine Frau ] , welche ihren
Kochtopf besorgte und in kurzen Zwischenräumen ihren Ehegesponst
aufweckte , um ihm so viel wie möglich von einem grossen Stücke
halbgekochten Fleisches mit Unterstützung ihres Zeigefingers in den
Mund zu schieben und dann, nachdem sie ihn ganz voll gestopft hatte ,
den Bissen dicht an den Lippen abzuschneiden . Diesen kaute er lang
sam, und sobald nur immer eine kleine leere Stelle zu bemerken war,
wurde diese wiederum mit einem Stück rohen Specks ausgefüllt. Wäh
rend dieser Operation bewegte der glückliche Mann keinen Theil seines
Körpers mit Ausnahme seiner Kinnladen , nicht einmal seine Augen
§. 175. Mässigkeit . 453

öffnend ; seine ausserordentliche Befriedigung zeigte sich aber gelegent


lich durch ein äusserst ausdrucksvolles Grunzen, sobald er sich hin
reichenden Raumes für den Durchgang eines Lautes erfreuen konnte . "
Ein anderer , gleicherweise erstaunlicher Fall wird von
Nord - Asien erzählt. Mr. COCHRANE sagt :
Die Jakuten und Tungusen sind grosse Fresser. „ Ich gab dem
Kinde [ einem ungefähr fünf Jahre alten Knaben ] ein aus dem aller
unreinsten Talge gemachtes Licht , ein zweites und ein drittes - sie
wurden alle mit Begierde verschlungen. Der Steuermann gab ihm

Manag
dann mehrere Pfund saurer gefrorner Butter ; auch diese wurde so
fort verzehrt ; endlich noch ein grosses Stück gelber Seife , - Alles
gieng denselben Weg . . . Thatsächlich giebt es Nichts in der Form
von Fisch oder Fleisch, von was für einem Thiere immer , so faulig
und ungesund es auch sein mag, was sie nicht ungestraft verzehren
könnten ; und die Quantität schwankt nur zwischen dem , was sie
haben , und dem , was sie bekommen können . Ich habe wiederholt
gesehen, dass ein Jakute oder Tunguse an einem Tage vierzig Pfund
Fleisch verschlungen hat. "
Das folgende Zeugnis des Capt. WRANGELL zeigt die physio
logischen Resultate dieser enormen Nahrungsaufnahme.
27 Selbst in Sibirien werden die Jakuten Eisenmenschen ge
nannt und ich bin der Meinung , dass es auf der ganzen Erde kein
anderes Volk giebt, welches Kälte und Hunger so ertragen kann wie
sie. Ich habe häufig in der strengen Kälte dieses Landes und wenn
P das Feuer längst verlöscht und die leichte Jacke von ihren Schultern
heruntergesunken war, gesehen , wie sie vollständig dem Himmel aus
21: gesetzt mit kaum irgend einem Stück bekleidet ruhig schliefen , wäh

rend ihr Körper mit einer dicken Schicht Reif bedeckt war.'
Ferner ist die merkwürdige und bezeichnende Thatsache zu
‫ܒ‬
‫ܒ‬

Ex beachten , dass da , wo das Lebenbleiben an erster Stelle von


dieser Fähigkeit ungeheure Mengen von Nahrung zu essen und
zu verdauen abhängt , diese Fähigkeit eine ethische oder pro
ethische Gutheissung erhält . Nach ERMAN lautet ein jakutisches
44 Sprüchwort : "" Viel Fleisch zu essen und davon fett zu werden,
ist die höchste Bestimmung des Menschen. "

§. 175.
Gehen wir von diesen äussersten Beispielen für die Art
und Weise , in welcher die nothwendigen Lebensbedingungen
entsprechende Ideen von Recht und Unrecht erzeugen , weiter
und kommen wir zu den gewöhnlichen Fällen , wie wir ihnen
in gemässigten und tropischen Klimaten begegnen , wo etwas
454 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII.

einer ethischen Sanction , wie wir es gewöhnlich verstehen,


Ähnliches mit in's Spiel kommt , so finden wir keinerlei Zu
sammenhang zwischen Mässigkeit in der Nahrungsaufnahme und
andern Zügen , wenn es nicht eine allgemeine Ideenverbindung
zwischen Schlemmerei und Erniedrigung ist.
Selbst diese eingeschränkte Verallgemeinerung dürfte für
zweifelhaft gehalten werden . Cook erzählt von den Tahitianern,
dass ein Jeder 99 wunderbare " Mengen von Nahrung aufnehme.
Und doch waren sie körperlich eine schöne Rasse, geistig vielen
überlegen , und werden von Cooк , obgleich sie ausschweifend
waren , als verschiedene bewundernswerthe Charakterzüge be
sitzend beschrieben . Umgekehrt sind die Araber vergleichsweise
enthaltsam sowohl im Essen als im Trinken . Während sie aber
in den geschlechtlichen Beziehungen ungefähr so niedrig stehen
wie die Tahitianer , da sie beständig die Frauen wechseln , und
sie von sich selbst sagen : „ Hunde sind besser als wir sind “ .
sind sie in jeder Beziehung wenig zu bewundern sie sind
fanatisch rachsüchtig und betrachten mit Geschick ausgeführte
Räuberei als Befähigung zum Heirathen.
Während die uncivilisierten Völker im Grossen und Ganzen
keine bestimmten Beziehungen zwischen Mässigkeit oder Un
mässigkeit in der Nahrung und ihren übrigen Charakterzügen
darbieten , lassen sie doch gleichzeitig wenig oder gar kein
Gefühl in Bezug auf das eine oder das andere von der Art
erkennen , welche ethisch genannt werden könnte. Mit Aus
nahme des oben von den Jakuten angeführten merkwürdigen
Sprüchworts hat die allgemeine Meinung über diesen Gegenstand
unter ihnen keine Gestalt erhalten .
Bei manchen alten halbcivilisierten Gesellschaften indessen
war doch das Bewusstsein entstanden, dass Übermaass im Essen
unrecht ist. Im Gesetzbuche des MANU wird geschrieben :

" Denn Schlemmerei ist hassenswerth, schadet der Gesundheit ,


Kann zum Tode führen und versperrt sicherlich den Weg
Zu heiligem Verdienst und himmlischen Segnungen . "
Die Thatsache , dass in Stellen des Mahabharata „himm
lische Seligkeit " ohne irgend eine Art von " sinnlicher Befrie
digung beschrieben wird , lässt stillschweigend folgern , dass
Unmässigkeit im Essen verurtheilt wird . Das ist auch in dem
asketischen Leben enthalten, auf welchem die indischen Weisen
§. 176. Mässigkeit . 455

inlich bestanden. Die Hebräer hatten auch dieses Bewusstsein : ge


legentlich erscheint eine Vertheidigung der Enthaltsamkeit , wie
ir ke
in dem Sprüchwort :
Desata
Ideer " Sei nicht unter den Säufern und Schlemmern ; denn die Säufer
und Schlemmer verarmen , und ein Schläfer muss zerrissene Kleider
"
tragen. (Sprüche Salom. XXIII. 20. 21. )
rang Von den Ägyptern wurde Schlemmerei als ein Laster an
denit erkannt, wurde aber nichtsdestoweniger mit Vorbedacht ausgeübt.
hrung42 Auf der einen Seite wurde Übermaass im Essen und Trinken
e, get als eine der zweiundvierzig Hauptsünden der Ägypter aufgezählt,
e ans während es auf der andern Seite heisst :
arakter " Bei ihren Festmahlen scheinen die Ägypter nicht sehr mässig
vergla gewesen zu sein. HERODOT erzählt uns (II. 78) , dass ein kleines
ährende hölzernes Bild einer Mumie bei ihren Gastereien herumgereicht wurde
mit der Mahnung : , Sieh dies an, trinke und sei fröhlich . Wenn Du
nied
todt bist, wirst Du wie dies Bild sein ! Diese Ermahnung war nicht
1 wate ohne Resultate. In den Bildern auf den Denkmälern finden wir nicht
als bloss Männer, sondern auch Frauen , welche das Übermaass von Nah
rung und Wein wieder auswerfen. "
adera:&
ick as Der allgemeine Charakter der Zeugnisse scheint aber die
Folgerung zuzulassen , dass mit dem Erstehen festgeordneter
senm Gesellschaften und mit der Verallgemeinerung der Erfahrung
ket sich vom Nützlichkeitsstandpunkte aus eine Verurtheilung des
Übermaasses im Essen und Trinken entwickelte.

oder a
e vode §. 176.
nte. Y Übermaass im Trinken ist ein Ausdruck, welcher , obgleich
ment er wohl auch auf das Trinken ungegohrener Getränke in schäd
sen Geg lichen Mengen anwendbar ist , sich praktisch genommen doch
nur auf Getränke bezieht, welche entweder gegohren und daher
haftes berauschend sind , oder aus irgend einem andern Grunde be
maas rauschen. Die allgemeine Meinung in Bezug auf das Geniessen
derselben wird hauptsächlich durch die Erkenntnis der Wir

Gr kungen, welche sie hervorbringen, bestimmt , - hier mit Billi


den W gung, dort mit Verurtheilung betrachtet .
en. Es ist ein Irrthum anzunehmen , dass der Zustand des
harat Berauschtseins überall verurtheilt wird . Mag er durch Alkohol
nliefert oder durch irgend ein anderes Mittel hervorgebracht worden
folger sein , er ist in frühen Zeiten gepriesen worden und wird es
St auch an manchen Orten noch immer . Eine Erklärung wird durch
456 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII.

die Bemerkung eines Arafura nahe gelegt, welcher, als ihm der
Glaube an den Gott der Christenheit empfohlen und ihm gesagt
wurde, dass Gott überall gegenwärtig sei, sagte : „ Dann ist dieser
Gott auch gewiss in Eurem Arak, denn ich fühle mich niemals
glücklicher als wenn ich reichlich davon getrunken habe . " Die
hier stillschweigend zu Grunde liegende Idee wurde von den
alten Indiern bestimmt und fortwährend in ihren Anpreisungen
des Soma-Trinkens ausgedrückt . Es wurde angenommen , der
Gott Soma sei in dem Safte der Soma genannten Pflanze gegen
wärtig ; Berauschung war das Resultat des von ihm Besessen
seins, und der exaltierte, ersehnte , hervorgerufene und gepriesene
Zustand war ein Zustand religiöser Seligkeit : es wurde an
genommen , dass die Götter selbst in dieser Weise vom Gotte
Soma inspiriert würden. MAX MÜLLER sagt :

Madakyut ein solcher 77 Zustand der Intoxication, wie er mit


dem Charakter der alten Götter nicht unvereinbar war . . . Wir
haben kein dichterisches Wort , um einen hohen Zustand geistiger
Aufregung , durch das Trinken des berauschenden Saftes der Soma
oder anderer Pflanzen hervorgerufen , auszudrücken , welches nicht
irgend etwas Schimpfliches ihm beigemischt enthielte, während in alten
Zeiten dieser Zustand der Aufregung als eine Segnung der Götter
gepriesen wurde , als nicht der Götter selbst unwürdig , ja als ein
Zustand, in welchem Beide, sowohl der Krieger als der Dichter, ihre
höchsten Leistungen vollbringen würden . "

So wurde auch von den alten Griechen geglaubt , dass der


Gott Dionysus im Weine gegenwärtig sei und dass die „ Bacchische
Erregung mit der sie begleitenden prophetischen Gabe eine
Folge des von ihm Besessen-seins sei . Hieraus entstand eine
religiöse Gutheissung der Trunkenheit , wie durch die Orgien
erwiesen wird . Es fehlt auch in unseren jetzigen Zeiten nicht
an Fällen. Die Dahomeer halten es , nach Angabe BURTON'S.
für eine Pflicht gegen die Götter , trunken zu sein " ; und die
Ainos heiligen ihr Berauschen mit 22 der Fiction , , den Göttern zu
trinken je mehr saké die Ainos trinken , desto frömmer sind
sie und desto grösseres Wohlgefallen haben die Götter. " Ver
wandte Ideen und Empfindungen bestehen in Polynesien im Zu
sammenhange mit dem Trinken der berauschenden ava , kava
oder yagona. Auf den Fidschi - Inseln wird die Zubereitung und
das Trinken von Gebeten zu den Göttern und Gesängen begleitet
und Theilnahme an den Ceremonien wird für ehrenvoll gehalten.
§. 177. Mässigkeit . 457

her.An
Offenbar findet daher die Trunkenheit , anstatt in allen
Fällen einer religiösen Verurtheilung zu unterliegen , in manchen
Dans
Fällen religiöse Gutheissung und gelangt dazu , von einem pro
le
ethischen Gefühl gerechtfertigt zu werden . Dies zeigt sich sehr
kenLe deutlich bei den Ainos , welche es ablehnen sich mit denen zu
wark vergesellschaften, die nicht trinken wollen .
A
KEN IDE §. 177.
Praz Entweder mit oder ohne diese Art von Sanction ist Un
the mässigkeit , in einer oder der andern Form , bei den niederen
unla Rassen weit verbreitet.
es T Von den Kalmücken erzählt uns PALLAS, dass sie im Essen

have
eise va und Trinken unmässig sind , wenn sich ihnen Gelegenheit dazu
bietet . „ Die Festlichkeiten der Khonds, " sagt CAMPBELL , „ endigen

many
tion. gewöhnlich mit allgemeinem Betrunkensein . " BRETT schreibt ,
dass die Trunkenheit der Eingebornen von Guiana zuweilen die
ustand Form „ fürchterlicher, nach Zwischenräumen auftretender Excesse "
Saftes & annimmt. Und von den jetzt lebenden Eingebornen Guatemalas
#2

a man am
lesen wir , dass "" die grösste Glückseligkeit dieser Leute in
währe
Trunkenheit besteht , die durch den übermässigen Genuss von
ang
... Chicha hervorgerufen wird. " Diese letzteren , americanische
dig

mea
Völkerschaften der jetzigen Zeit betreffenden Zeugnisse bringen
ähnliche Zeugnisse in Bezug auf alte americanische Völker in
Jack & die Erinnerung. GARCILASSO sagt von den Peruanern : 99 Sie
lie Be brachten Branntwein in grosser Menge, denn das war eines der
Den G am meisten herrschenden Laster bei den Indianern. " Von den

ents Yucatanesen sagt LANDA : „Die Indianer waren sehr ausschweifend


ch de und wurden oft betrunken ; " 99 die Frauen wurden bei den Fest
nZeite mahlen, aber unter sich, berauscht. " Und SAHAGUN schreibt von
abe B den Mexicanern, dass
ein *:z " sie sagten , die bösen Wirkungen der Trunkenheit würden von
Ten Ge einem der Weingötter hervorgebracht. Daher scheint es, dass sie das nicht
als Sünde betrachteten, was sie in der Trunkenheit gethan hatten . "
INDE
Unmässigkeit ist aber durchaus nicht ganz allgemein bei
Götter
den nichtcivilisierten und halbcivilisierten Völkern : Nüchternheit
Desier
bieten sowohl manche der völlig primitiven als auch der be
len
trächtlich fortgeschrittenen dar. Von den Veddahs lesen wir :
bere
„Sie rauchen nicht und sind sehr mässig ; sie trinken nur Wasser. "
ingerle
CAMPBELL sagt :
nvida
458 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII.

19 Trotzdem die Lepchas gegohrene und geistige Getränke lieben,


sind sie doch nicht der Trunkenheit ergeben. "
Von dem Sumatraner des Inneren, welcher nur theilweise durch
die Berührung mit Malayen verdorben ist, erzählt uns MARSDEN :
„Er ist mässig und nüchtern , er ist ebenso enthaltsam in Bezug
auf Fleisch und Trinken. " Auch Africa liefert Beispiele .
" Die Foolas und Mandingos enthalten sich streng gegohrener
Getränke und von Spirituosen , vor welchen sie einen solchen Abscheu
haben, dass ein reines Gewand, auf welches zufällig ein einziger Tro
pfen fiele, zum Tragen unbrauchbar würde, bis es gewaschen wäre . "
Und WAITZ macht die allgemeine Bemerkung, dass
29, die Neger, ausgenommen wo sie mit den Weissen viel Verkehr
gehabt haben , nicht beschuldigt werden können , berauschenden Ge
tränken besonders zugethan zu sein. "
Diese letztere Angabe , welche uns an die durch Europäer
hervorgerufene Demoralisierung der eingebornen Rassen , die sie
zu civilisieren vorgeben, erinnert und uns noch ganz besonders
an die unseligen Wirkungen erinnert, die dem Versorgen jener
mit Whisky oder Rum folgen, zeigt uns , wie vorsichtig wir in
unseren Schlussfolgerungen in Bezug auf die Beziehungen zwischen
den Gewohnheiten zu trinken und den socialen Zuständen sein
müssen. Es ist klar, dass in manchen Fällen , so in dem der Veddahs,
Nüchternheit eine Folge des Fehlens von berauschenden Mitteln
sein dürfte, und dass in andern Fällen Unmässigkeit nicht natur
gemäss dem Typus oder dem Stamme angehört, sondern eingeführt
worden ist.
§. 178.
Vielleicht dürften wir bei europäischen Völkern mit ihrer
langen Geschichte mit der meisten Aussicht auf Erfolg nach
einer derartigen Beziehung suchen , wie sie zwischen Nüchtern
heit und socialen Bedingungen besteht. Im besten Falle scheint
aber eine solche Beziehung nur unbestimmter Art zu sein.
Brutal wie ihr sociales System war , waren die Spartaner
auch in ihrer Lebensweise asketisch ; und wenn wir uns der
Verweise erinnern , welche betrunkene Heloten sich einzuprägen
veranlasst wurden, so ist es klar, dass die Spartaner ursprüng
lich Trunkenheit verurtheilten und gewöhnlich nüchtern waren.
Mittlerweile waren aber die Athener, so viel sie auch in ihrem
socialen Zustande civilisierter und so viel höher sie in der Cultur
waren , durchaus nicht so nüchtern . Einige dürftige Zeugnisse
§. 178. Mässigkeit . 459
Gen
lassen den Schluss zu, dass bei den europäischen Völkern, welche
The in jener Zeit social nur in einem niedrigen Grade organisiert
waren, Excesse im Trinken häufig waren. Von den alten Galliern
maltsan sagt DIODORUS : „ Sie sind dem Weine so ausserordentlich ergeben,
dass sie ihn hinuntertrinken, sobald er vom Kaufmann eingebracht
Bes
worden ist. " Und bei der Beschreibung der alten Germanen
keng
sagt uns TACITUS , dass " das Verbringen eines ganzen Tages
und einer ganzen Nacht mit Trinken Niemand entehrt" . Natür
(W lich ist in Bezug auf die Trinkgewohnheiten der Männer während
g. „der dunkeln Jahrhunderte " nicht viel auf uns gekommen ; das
Sen T Vorherrschen der Unmässigkeit kann aber aus den Andeutungen,
Patsie die wir besitzen, erschlossen werden. Einer der Excesse, welcher
während der Merovingischen Zeit vorkam, war, dass der Bischof
CarbE
Eonius während der Messe betrunken umfiel ; und es wird von
Rasse
Karl dem Grossen gesagt, dass er mässig war : die nahe liegende
ranzbe
Folgerung ist , dass Mässigkeit etwas Ausnahmweises war. In
ersina Bezug auf Frankreich mag noch bemerkt werden, dass selbst wenn
Sta keine Berauschung hervorgebracht wurde , doch während vieler
THI späterer Jahrhunderte Wein in grossem Übermaasse getrunken
Instaca wurde . Während MONTAIGNE sagt, dass Trunkenheit weniger sei,
derT als zu der Zeit wo er ein Knabe war, erzählt er uns :
Leade
" Ich habe einen grossen Herrn meiner Zeit gesehen . . ., wel
it her cher , ohne sich dazu niederzusetzen und nach seinem gewöhnlichen
ern ele Maasse des Trinkens bei Mahlzeiten, nicht viel weniger als fünf Quart
Wein hinuntertrank. "

Offenbar ist seit den Zeiten MONTAIGNE's herab bis zu denen


15. der modernen Franzosen , von denen die Mehrzahl sich ihren
Ext gewöhnlichen leichten Wein mit Wasser vermischt, die Abnahme
der Unmässigkeit ausgesprochen . Und auch unter uns selbst
Falle hat , wenn schon mit grosser Unregelmässigkeit eine ähnliche
ZO 22 Wandlung stattgefunden . Von den alten englischen und dänischen
le spe Zeiten, in denen Trunkenheit bei Mönchen ebenso wie bei andern
wir e verbreitet war, bis herab auf die Zeiten der Normannen , welche
"
ein bald ebenso unmässig wurden wie die, die sie unterjocht hatten,
1
erus waren die Excesse in Getränken der weniger schweren Sorten
tera K gross und allgemein . Im Anfang des vorigen Jahrhunderts, wo
der Verbrauch spirituoser Getränke ganz bedeutend zunahm
und bis nahezu eine Gallone auf den Kopf der Bevölkerung
c jährlich stieg und solche Scenen hervorrief, wie sie HOGARTH in
ele
SPENCER, Principien der Ethik . I. 30

·
460 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII .

seinem " Gin Lane " dargestellt hat , kam der Abhülfe schaffen
sollende Gin Act ; er wurde indessen bald wieder aufgehoben,
nachdem er Unheil angerichtet hatte . Während dann während
des übrigen Theiles des Jahrhunderts „ Trunkenheit das gewöhn
liche Laster der mittleren und unteren Classen " war , liessen
sich wohlhabendere Leute bei ihren Gastereien in Bezug auf
Wein so sehr gehen, dass sie nicht selten verarmten.

§. 179.
Offenbar sind die Beziehungen zwischen den Trinkgewohn
heiten und den Arten des socialen Lebens dunkel. Wir können
nicht , wie es die Mässigkeits-Apostel gern hätten , ein regel
mässig proportionales Verhältnis zwischen Mässigkeit und Civili
sation oder zwischen Unmässigkeit und moralischer Erniedrigung
im Grossen und Ganzen behaupten . Der Generalarzt BALFOUR
sagt : Die Hälfte der asiatischen Rassen - Araber , Perser.
Hindu , Burmesen , Malayen , Siamesen . . . sind Abstinenzler ; "
und doch wird Niemand behaupten wollen , dass diese Rassen.
weder im gesellschaftlichen Typus noch im socialen Betragen.
den Rassen von Europa überlegen sind , welche doch nichts
weniger als enthaltsam sind. Innerhalb Europas selbst lehren
uns die vorhandenen Verschiedenheiten dasselbe. Die nüchterne
Türkei steht im socialen Leben nicht so hoch wie das Whisky
trinkende Schottland . Wenn wir ferner Italien mit Deutschland
vergleichen, so sehen wir nicht, dass parallel zu dem Gegensatze
zwischen dem geringen Trinken des einen und dem reichlichen
Trinken des andern Landes, ein Gegensatz zwischen dem morali
schen Stande beider von einer Art und Weise , die erwartet
werden sollte, vorhanden wäre . Nehmen wir auf der einen Seite
den Beduinen , welcher, obschon gewohnheitsmässiger Räuber und
zahlreiche andere Laster darbietend trotzdem keine gegohrenen
Getränke trinkt und ein 97 Pfui über Dich , Du Trunkenbold"
ausruft , und auf der andern Seite den geschickten englischen
Handwerker , welcher gelegentlich im Übermaass trinkt (und die
geschickten sind am meisten dazu aufgelegt) , aber oft in andern
Beziehungen ein guter Kerl ist , so finden wir keine deutliche
Verbindung zwischen Mässigkeit und Rechtschaffenheit.
Vernünftigerweise lässt sich vermuthen , dass zwischen
Trunkenheit und allgemeiner Schlechtigkeit ein gewisses Ver
§. 180 . Mässigkeit . 461

hältnis besteht. Wo das Leben elend ist, ist eine grosse Neigung
dec
zum Trinken vorhanden, zum Theil um sich von augenblicklichem
-ED P
Vergnügen zu verschaffen was eben zu haben ist , und zum
betd Theil um sich unglückliche Gedanken über die Zukunft fern zu
1 halten. Wenn wir uns aber die Trunkenheit in's Gedächtnis
ik rufen , welche im vorigen Jahrhundert in unseren oberen Classen
rue herrschte, so können wir sagen, dass Elend , oder auf alle Fälle
physisches Elend sie entschuldigen konnte. Auch scheint Lange
weile häufig als eine Ursache angeführt werden zu können , und
en dürfte sie die durch ganz Europa in frühen Zeiten herrschende
cel T Unmässigkeit wohl hervorgerufen haben , wo es seine Schwierig
ter. E keit hatte , die nicht mit Kämpfen und Jagen besetzte Zeit

gket hinzubringen . Dennoch finden wir verschiedene Völker , deren


Leben eintönig genug ist und welche trotzdem nicht trinken.
Talaz Offenbar wirken hier verschiedene Einflüsse zusammen ; und es

Arate hat den Anschein , als wären ihre Resultate zu unregelmässig,


um verallgemeinert zu werden .

§. 180.
jalez S
he doch Wir haben es aber hier hauptsächlich damit zu thun , wie
s sellst Mässigkeit und Unmässigkeit moralisch betrachtet werden. Dass
Unmässigkeit, mag es im Essen oder im Trinken sein, von dem
Die
le d eigentlichen moralischen Gefühl verurtheilt wird , welches sich
nitDes nicht auf die nach aussen zu Tage tretenden , sondern auf die
nach innen gehenden Wirkungen bezieht, als in gleicher Weise
lem G
dem Körper und Geiste Schaden bringend , braucht nicht
lem re
erst erwähnt zu werden . Anders verhält es sich aber mit
len de
dem pro- ethischen Gefühle . Es finden sich zahlreiche Fälle,
die er
welche zeigen, dass Billigung oder Verurtheilung der Unmässig
der e
gerRach keit je nach den religiösen Ideen und socialen Gebräuchen
auftritt.
ine ges
Wir haben bereits gesehen , dass das Berauschtsein durch
Track 8
gewisse theologische Glaubensansichten gutgeheissen werden
ten
kann ; und hier haben wir noch zu bemerken, dass die herrschende
trick ·
Unmässigkeit im Trinken und die allgemeine Meinung , welche
er offs
in Verbindung damit entsteht , zu einer socialen Gutheissung
Seine führen kann . Eine von den uncivilisierten Rassen zeigt uns,
dass die Gewohnheit , ein berauschendes Mittel zu nehmen , da
dass
wo sie allgemein ist , an und für sich selbst nicht bloss eine
20W 30*
462 Die Inductionen der Ethik. Cap. XII

Rechtfertigung , sondern noch etwas mehr hervorbringen kann.


YULE sagt von den Kasias :

„ Das Erste vielleicht , was einem Fremden bei dem Volke auf
fällt , ist die ausserordentliche Weise , in welcher sie dem Betelkanen
ergeben sind , und ihre gänzliche Nichtachtung der Spuren , welche
dasselbe an den Zähnen und Lippen hinterlässt. Sie rühmen sich
derselben geradezu und sagen , dass , Hunde und Bengalesen weisse
Zähne haben . “

In Schilderungen alter civilisierter Rassen finden wir Zeug


nisse für ein ähnliches Rühmen derartiger Excesse . Abgesehen
von ihrer religiösen Gutheissung wurde die trunkene Begeisterung,
welche dem Soma- trinken folgte , von den indischen rishi ge
priesen ; und bei einem benachbarten Volke wurde Übermaass
im Trinken alkoholischer Getränke von Manchen für das Gegen
theil von schimpflich gehalten , wie die Grabinschrift des Darius
Hystaspes bezeugt , welche sagt , dass er ein grosser Eroberer
und ein grosser Weintrinker war , wie es auch die Selbst
empfehlung des Cyrus bezeugt , welcher in seinem Briefe an
die Spartaner sagt, dass er in vielen Beziehungen passender als
sein Bruder dazu sei , ein König zu sein , und hauptsächlich weil
er grosse Mengen von Wein vertragen könne. " Aber das
moderne Europa hat die deutlichsten Beweise dafür gegeben,
dass das Verbreitetsein von Unmässigkeit im Trinken ein Gefühl
erzeugen kann , welches die Unmässigkeit rechtfertigt. Die
Trinkgebräuche in Deutschland in vergangenen Zeiten und herab
bis auf die jetzige Zeit bei Studenten zeigen, dass in Verbindung
mit einem ungemessenen Verlangen nach gegohrenem Getränke
und einer kaum glaublichen Fähigkeit solches zu absorbieren.
sich eine Verachtung für diejenigen herausgebildet hatte, welche
mit ihrer Fähigkeit zu trinken weit unter dem Mittel blieben,
und ein Stolz darin gesetzt wurde , im Stande zu sein , in der
kürzesten Zeit die grösste Quantität zu trinken. Bei uns selbst
übrigens herrschten im vorigen Jahrhundert verwandte Ideen
und Empfindungen . Das Sprüchwort : „Das ist ein armseliges
Herz , das sich nie erfreut " wurde als eine Rechtfertigung des
Excesses angesehen. Das Nehmen von Salz , um Durst zu er
zeugen , der Gebrauch von Weingläsern , welche nicht stehen
können , und die Ermahnung ""keine Neigen " weisen deutlich
auf jene Missbilligung der Mässigkeit , welche mit dem Beifall
§. 181 . Keuschheit . 463

Enorms für den " Drei - Flaschen - Mann " Hand in Hand gieng. Es leben
wohl noch Leute, welche an Orgien Theil genommen haben, bei
denen , nachdem die Thür verschlossen und eine Anzahl von
Flaschen auf den Nebentisch gestellt worden war , der Wirth
sie das
er Sprz verkündete , dass diese vor dem Aufstehen geleert werden
müssten : ein Weigern , den erforderlichen Antheil zu sich zu
Bensale nehmen, rief Missbilligung hervor ¹ .
Während aber hiernach bei den vergangenen Generationen

Endear ein gewisses pro- ethisches Gefühl Unmässigkeit unterstützte,


Desse wird in unserer jetzigen Generation Mässigkeit sowohl durch

eneBes das moralische Gefühl als auch durch ein pro- ethisches Gefühl
getragen. Es wird nicht bloss ein Übermaass im Trinken ganz

wurde allgemein missbilligt, und berauscht gewesen zu sein, lässt selbst


einen Flecken auf dem Rufe eines Mannes zurück , sondern es
n fürde
besteht jetzt sogar eine grosse von welcher selbst
Classe ,
mässiges Trinken verurtheilt wird. Und in America ist Wasser
Ter
das ganz allgemeine Getränk bei Mahlzeiten und das Nehmen
much &
von Wein wird kaum für anständig gehalten .
einen
en pass
s
De 4 XIII. Capitel.
dafir
nken et Keuschheit.

chtier
§ . 181 .
eiten mi
sinV Ehe wir die ethische Bedeutung der Keuschheit verstehen
können, müssen wir untersuchen, welche Gutheissungen sie von
ener
biologischer und sociologischer Seite her erhalten hat. Da das
zu al
Dienlichsein zur Wohlfahrt , zur individuellen oder zur socialen
t hatte
Mittel 1 Der verstorbene Mr. John Ball , F. R. S. , welcher in der Nähe von
sein Belfast erzogen wurde , war , obgleich nominell katholisch , mit einer wohl
Bei habenden protestantischen Familie eng befreundet , an deren Spitze ein alter
Herr stand , welcher bei seinen Nachkommen in hoher Verehrung stand .
Iwant
Mr. Ball erzählte mir , dass dieser Patriarch eine grosse Zuneigung zu ihm
ein a gefasst habe. Als er eines Tages nach dem Mittagessen das Zimmer verliess ,
attete nahm er ihn bei Seite, klopfte ihm auf die Schulter und sagte : „ Mein lieber
junger Freund, ich muss ein paar Worte mit Ihnen über Ihren Wein sprechen. E
J
Sie trinken nicht genug. Folgen Sie meinem Rathe, - gewöhnen Sie Ihren 1
nich "
Kopf so lange sie noch jung sind ; Sie werden dann im Stande sein , Ihr
reisen ganzes Leben lang wie ein Gentleman zu trinken. "
it da

"
464 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIII

oder zu beiden , das letzte Criterium der entwicklungsgeschicht


lichen Ethik ist, so ist die Forderung von Keuschheit in ihren,
unter gegebenen Bedingungen eintretenden Wirkungen zu suchen.
Beim Menschen wie bei niederen Geschöpfen bestimmen die
Bedürfnisse der Species das Recht oder Unrecht dieser oder jener
geschlechtlichen Beziehungen ; denn geschlechtliche Beziehungen,
welche in Bezug auf das Erziehen von Nachkommenschaft , so
wohl hinsichtlich der Zahl als der Beschaffenheit, ungünstig sind,
müssen zur Verschlechterung und zum Aussterben führen. Die
Thatsache , dass einige Thiere polygam sind , während andere
monogam sind , ist hiernach zu erklären . Im dritten Theile der
Principien der Sociologie bei Behandlung der 22 häuslichen
Einrichtungen" wurde gezeigt, dass die Beziehung zwischen den
Geschlechtern dem ausgesetzt ist , durch die umgebenden Be
dingungen in diese oder jene Form gebracht zu werden , und
dass gewisse niedere Formen dieser Beziehung unter manchen
Bedingungen als nothwendig erscheinen : Nichtannahme derselben
wird für die Gemeinschaft verhängnisvoll. Es wurde ein natür
licher Zusammenhang gefunden zwischen Polygamie und einem
Leben voll beständiger Feindseligkeiten, welche Zerstörung von
Menschenleben in grossem Umfange mit sich bringen ; denn von
zwei gegenseitig die Männer mordenden Stämmen hinterlässt der
eine , welcher monogam lebt , viele Frauen unverheirathet und
kinderlos und ist nicht im Stande seine Bevölkerungszahl auf
recht zu halten gegenüber dem andern, welcher polygam ist und
daher alle seine Frauen als Mütter ausnutzt (§. 307) . Wir sehen
ferner, dass in manchen Fällen, besonders in Thibet , Polyandrie
als die sociale Wohlfahrt mehr fördernd erscheint als irgend eine
andere Form der Beziehungen zwischen den Geschlechtern . Sie
findet bei Reisenden Billigung und selbst ein mährischer Missionär
vertheidigt sie der Missionär spricht die Ansicht aus, dass „ über- .
mässige Zunahme der Bevölkerung in einem unfruchtbaren Lande
ein grosses Unglück sei und , ewigen Krieg oder ewigen Mangel'
hervorrufen müsse “ (§. 301) .
Diese niederen Formen der Heirathen sind unverträglich
mit jener Auffassung von Keuschheit, welche die fest geordnete
Monogamie fortgeschrittener Gesellschaften begleitet. Wie wir
das Wort verstehen, so drückt es entweder das Nichtvorhanden
sein irgend einer geschlechtlichen Beziehung aus , oder es be
§. 182. Keuschheit . 465

zeichnet die dauernde geschlechtliche Beziehung eines Mannes


zu einer Frau . Wir dürfen aber diese höhere Auffassung von
Keuschheit nicht auf jene niedriger stehenden Gesellschaften aus
dehnen . Wir dürfen nicht annehmen, dass bei ihnen irgend eine
solche ethische Verurtheilung dieser weniger eingeschränkten Be
ziehungen besteht, wie sie bei uns hervorgerufen wird . Um dies
deutlich zu machen, müssen wir einen Blick auf die Thatsachen
werfen.
§. 182 .
Bereits in §. 120 habe ich verschiedene Beweise für die,
alle Jene , deren Erziehung sie in Unwissenheit über die viel
gestaltige Menschheit gelassen hat, in Erstaunen setzende Wahr
heit angeführt , dass die Einrichtung der Polygamie an ver
schiedenen Orten moralisch gebilligt wird , während die entgegen
gesetzte Einrichtung verurtheilt wird . Indessen sollte diese Wahr
heit keine Überraschung hervorrufen in Anbetracht des Umstandes ,
dass doch von der Kindheit an Alle mit der stillschweigenden
Billigung dieses Gebrauches in dem von ihnen als göttlich an
gesehenen Buche vertraut sind. Von der Polygamie der Patri
archen wird als von einer sich von selbst verstehenden Sache
gesprochen ; auch findet sich die stillschweigende Billigung der
selben seitens einer Frau , welche ihren Mann dazu bestimmt,
eine Concubine zu nehmen . Ausserdem sehen wir aber in dem
Falle David's sowohl die religiöse als sociale Gutheissung eines
Harems die eine liegt in der Angabe , dass David , welchem
Gott seines " Herrn Frauen “ gegeben hatte , ein Mann „ nach
seinem Herzen" war , und die andere in der Thatsache , dass ,
wo ihm Nathan Vorwürfe macht , sich diese darauf beziehen ,
dass er das einzige Weib Uriahs genommen habe, nicht darauf,
dass er bereits viele Frauen gehabt habe (1. Sam. XIII . 14. ,
2. Sam. XII) . Wir dürfen vernünftigerweise annehmen , dass
seine vielen Frauen ein Zeichen seiner Würde bildeten, wie es
die der Könige unter wilden und halbcivilisierten Völkern noch
jetzt thun. Es besteht daher offenbar unter gewissen socialen
Bedingungen eine pro- ethische Empfindung in Unterstützung der
Polygamie und der darin liegenden Art von Unkeuschheit.
Dasselbe gilt auch für die Polyandrie. Verschiedene Stellen
in dem Mahabharata lassen erkennen , dass sie bei den älteren
Indern eine anerkannte Einrichtung war , welche von ihnen für
466 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIII

vollkommen in Ordnung gehalten wurde : ja geradezu von denen


ausgeübt, welche als Vorbilder der Tugend hoch gehalten wurden.
Die Heldin des Gedichts , Draupadi , ist die Frau von fünf Männern.
Ein Jeder von ihnen hatte ein Haus und einen Garten für sich
und Draupadi wohnte mit ihnen 77 der Reihe nach für zwei Tage
auf einmal “ . Mittlerweile spricht , wie wir bereits gesehen haben
(§. 117) , einer der Ehegatten , Yudhishthira , unglücklich un
geachtet seiner Güte , die Lehre aus, dass recht gehandelt werden
muss, ohne Rücksicht auf die Folgen , während an einer andern
Stelle Draupadi die einem Weibe angemessene Tugend beschreibt
und sich als eine dieser entsprechend handelnde Frau darstellt .
Ähnliche Beweise bieten in der gegenwärtigen Zeit manche von
-
den Stämmen in den Thälern des Himalaya dar, die Ladakhis
und Champās . Wo DREW Von den Ladakhis erzählt , dass sie
Polyandrie ausüben , sagt er , dass sie 29 gemüthlich , willig und
gutmüthig" sind ; sie sind nicht streitsüchtig " , sind dem „ Wahr
sprechen sehr ergeben " ; und er fügt hinzu , dass " die sociale
Freiheit der Frauen . . . , wie man meiner Ansicht nach sagen
kann, so gross ist wie die der Arbeiterfrauen in England . “
Um indessen diese Thatsachen richtig zu erklären , muss
hinzugefügt werden, dass der sociale Zustand , bei welchem Poly
andrie unter den indischen Völkerschaften ursprünglich existierte,
aus einem in Beziehung auf die geschlechtlichen Beziehungen noch
niedrigeren Zustande hervorgegangen war. So schlimm die Götter
der Griechen waren , die Götter der alten Inder waren noch
schlimmer. In den Puranas ebenso wie im Mahabharata finden
sich Geschichten über die 99 ehebrecherischen Liebschaften " von
Indra, Varuna und andern Göttern , zu derselben Zeit , wo die
,,himmlischen Nymphen ausdrücklich als Buhlerinnen bezeichnet
und „ von den Göttern von Zeit zu Zeit abgeschickt werden,
ernste Gelehrte zu verführen . " Eine Gesellschaft , welche eine
Theologie dieser Art hatte , kann nicht wohl anders als aus
schweifend gewesen sein . Mit der Thatsache, dass einigen ihrer
Götter selbst Blutschande beigemessen wurde, gieng die äusserste
Missachtung vor Zurückhaltung unter ihnen Hand in Hand . Im
Mahabharata lesen wir :

„ Die Frauen waren früher unbeschränkt und schwärmten unab


hängig je nach ihrem Vergnügen umher. Wenn sie auch in ihrer
jugendlichen Unschuld ihre Ehemänner verliessen, so machten sie sich
§. 183 . Keuschheit . 467

dadurch keines Vergehens schuldig ; denn das Gesetz war in früheren


gebater Zeiten ein solches. "
Und einer in das Gedicht aufgenommenen Überlieferung
Gare zufolge
hfr „ wurde dieser Zustand der Dinge von Svētakēhi , Sohn des Rishi
to get Uddalaka, aufgehoben, welcher darüber entflammt wurde, dass er sah,
wie seine Mutter von einem fremden Brahmanen weggeführt wurde .
UNCIA
Sein Vater sagte ihm , dass kein Grund darüber böse zu sein vor
liege , da , die Frauen aller Kasten auf Erden unbeschränkt seien :
an einer. genau so wie die Lage der Rinder sei auch die der menschlichen
rent Wesen, innerhalb ihrer entsprechenden Kasten'. "
Fr Möglicherweise könnte daher Polyandrie als eine Ein
Zeit ma schränkung der unterschiedlosen Vermischung entstanden sein.
-& Das zu ihrer Unterstützung bestehende ethische Gefühl hätte
zäh daher in Wirklichkeit eine verhältnismässige Keuschheit unter
stützt.
lich,
nddem. §. 183 .
ass de Kehren wir nun von dieser halb parenthetischen Erörterung
jener typischen Fälle von nicht entwickelter Keuschheit, welche
Engli in den niedrigsten Formen der Ehe enthalten sind , zurück und
erklära nehmen wir die Besprechung von Keuschheit und Unkeusch
heit , in ihren einfachsten Formen betrachtet , wieder auf , so

***
***
an
**
deBage
glichers wollen wir zuerst uns umsehen , welche Beweise uns verschiedene
nicht civilisierte Völker darbieten . Und bei Einhaltung des
ziehung
selben Weges , den ich in den vorausgehenden , von andern
imm
er whe Theilen des Betragens handelnden Capiteln eingeschlagen habe ,

bhara bin ich auch hier genöthigt , Thatsachen anzuführen , welche bei
Abwesenheit zwingender Gründe übergangen werden sollten.
Sie sind indessen keinen stärkeren Einwänden ausgesetzt als
Zeit.
enbeza viele, über welche in unseren täglichen Zeitungen berichtet wird
mit keinem besseren Motive als eine kitzelnde Neugier zu be
friedigen.
7. wel
Das absolute oder relative Fehlen von Keuschheit kann in
ders &
passender Weise durch eine Reihe von Auszügen aus Reise
elnica
werken vorgeführt werden. Wir können mit Nord-America be
die
ginnen. Das Zeugnis von LEWIS und CLARKE in Bezug auf die
inH
Chinooks , welches mit dem von Ross übereinstimmt , lautet
wie folgt :
wärmt " Bei diesen Leuten , wie in der That bei allen Indianern , wird
asch die Prostitution unverheiratheter Frauen so wenig als criminell oder
achter&
468 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIII.

unpassend angesehen , dass sich die Frauen selbst um die Gunst


bezeugungen des andern Geschlechts bemühen , unter vollständiger
Billigung ihrer Freunde und Verwandten. "
Was die Sioux betrifft, so führen dieselben Reisenden eine
in gleicher Weise bezeichnende Thatsache an :
„ Die Sioux hatten uns Frauen angeboten ; als wir aber nach
Ablehnung des Anerbietens dort blieben, verfolgten sie uns mit dem
Anerbieten von Frauen zwei Tage lang. "
Weiter nach Süden gehend können wir , nach der Angabe
von SCHOOLCRAFT , die Creeks als nicht besser als die Chinooks
anführen. Gleiche Zeugnisse bieten südamericanische Rassen
dar, wie die Tupis und Caraiben :
„Die Bande [ der Keuschheit] wurden ohne Furcht durchbrochen
und Unenthaltsamkeit wurde nicht als Vergehen betrachtet . "
Die Caraiben " legen keinen Werth auf die Keuschheit unverhei
ratheter Frauen " .
Zu diesen von America entnommenen Beweisen gesellen sich
noch einige , in denen die Unkeuschheit von einer bestimmten
Art ist. Der Thatsache , dass es 92 unter den Eskimos für ein
grosses Zeichen von Freundschaft angesehen wird , wenn zwei
Männer für einen oder zwei Tage mit ihren Frauen tauschen ,
kann eine gleiche Thatsache hinzugefügt werden, die die Chippe
wähs darbieten :
„ Es ist ein bei den Leuten dieses Landes sehr gewöhnlicher Ge
brauch , dass die Männer abwechselnd eine Nacht bei der Frau des
andern wohnen . Aber weit entfernt , diese Handlung als eine straf
bare zu betrachten , wird sie vielmehr von ihnen als eines der stärk
sten Freundschaftsbande zwischen zwei Familien angesehen. “
Die Dakotas liefern ein Beispiel (wie an andern Orten viele
gefunden werden) von dem gleichzeitigen Bestehen der Un
gebundenheit vor der Verheirathung und der Strenge nach ihr.
„ Es giebt wenig Völkerschaften in der Welt, bei denen von die
sem Gebrauche , aus dem Verlangen entstehend , nicht , einen Sprung
in's Dunkle' zu machen, nicht Spuren angetroffen werden können . Und
doch leben sie gleich den spartanischen Matronen nach der Verhei
rathung in Bezug auf das andere Geschlecht ein strenges Leben. "
Im alten Nicaragua bestand , wie in verschieden andern
Ländern, eine noch andere Art von Compromiss zwischen Keusch
heit und Unkeuschheit.

" Bei Gelegenheit eines gewissen jährlichen Festes war es erlaubt,


dass alle Frauen , welcher Stellung sie auch sein mochten , sich in
§. 183. Keuschheit . 469
That
unter die Arme irgend Jemandes nach ihrem Belieben hingeben durften . Zu
allen andern Zeiten wurde indessen rigoröse Treue von ihnen ge
fordert. "
Den Re
Zu andern Zeiten scheint aber für die Unverheiratheten
1
keine Beschränkung bestanden zu haben, wie HERRERA'S Angabe
als 2
bezeugt :
en sie .
" Viele von den Frauen waren schön , und ihre Eltern pflegten,
wenn die Mädchen heirathsfähig waren, sie auszuschicken , um ihren
past Antheil zu verdienen ; sie schwärmten daher in einer schamvollen
als Weise im Lande umher, bis sie genug zusammengebracht hatten, sich
zu verheirathen . "
ricatis
Asien bietet Erläuterungen noch eines andern, bei den un
Furcht das civilisierten Völkern gewöhnlichen Gebrauchs dar. Die Kam
betrachte tschadalen und Aleuten leihen ihre Frauen den Gästen ; und
Teachi verschiedene andere von den nordasiatischen Rassen thun das
Gleiche. PALLAS erzählt uns , dass die Kalmücken in Bezug auf
eisen ihre Frauen nur wenig Eifersucht haben und sie oft Bekannten
einerbe abgeben. Und von einem benachbarten Volke lesen wir :
Esti „ Die Beziehung zwischen den Geschlechtern ist bei den Kirghi
wird, ve sen durchaus noch von einer sehr primitiven Art ; Mütter, Väter und
Frater Brüder betrachten jede Verletzung der Moralität mit grosser Milde,
und Ehemänner ermuthigen sogar ihre Freunde zu einem vertrauten
en, died
Umgange mit ihren Frauen ... Gleich den Kirghisen ist den Bur
jäten Eifersucht fremd . "
hrgewitz.
So erzählt uns ferner PRCZEVALSKY von den Mongolen, dass
t bei der
lang abe " Ehebruch nicht einmal verborgen und nicht als eine Sünde an
als eines gesehen wird " . Von Völkerschaften weiter südlich mögen zwei
angesele Beispiele angeführt werden.
andernCr " Es wird berichtet , dass bei den rothen Karenen Keuschheit,
bei Verheiratheten als bei Unverheiratheten, merkwürdig locker
Hestelet ist. Der Verkehr der Geschlechter unter den jungen Leuten wird,
Strenge als nichts Unrechtes , vertheidigt, weil es " unser Gebrauch ist'. "
bei den " Prostitution ist ausserordentlich gewöhnlich , während Keusch
ichte heit unter den Frauen der Todas eine seltene Tugend ist ; die Bande
erdenFe der Ehe und Blutsverwandtschaft bestehen nur dem Namen nach . “
Bach Allen diesen Beispielen von andern Ländern mögen noch
strenges einige von Africa hinzugefügt werden . In seinen „ Highlands
e
rschied of Ethiopia " schreibt HARRIS :
zwisch e
„ Das Juwel der Keuschheit steht hier [in Shoa] in keinem An
sehen ; und der höchste Betrag einer Entschädigung , der von einem
stes ware Gericht für den erschwerendsten Fall von Verführung erlegt werden
muss, beträgt nur fünf Pence Sterling ! "
mochter
470 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIII.

Die Beschaffenheit der am obern Congo herrschenden Em


pfindung zeigt der folgende Auszug aus TUCKEY :
"7 Vor der Verheirathung bieten die Väter oder Brüder eines Mäd
chens dasselbe jedem Manne an, der zwei Faden Tuch bezahlen will ;
auch schädigt dies in keiner Weise ihren Charakter oder ist ihrer
späteren Verheirathung hinderlich. "
Dasselbe ist auch bei einigen verschiedenen Völkern weiter
südlich der Fall .
" Bei den Buschmännern wird Untreue gegen den Heiratsvertrag ...
nicht als Verbrechen betrachtet ; sie wird von der verletzten Person
kaum beachtet . . . Sie scheinen keine Idee von einem Unterschiede
zwischen Mädchen , Jungfrau und Frau zu haben ; dies wird Alles
durch ein einziges Wort ausgedrückt. "
In Polynesien haben wir das bekannte Zeugnis, welches die
Arreoi- Gesellschaft auf Tahiti darbietet ; und von derselben
Gegend, oder vielmehr von Micronesien kommt noch ein weiterer
Beweis . Bei seiner Schilderung der Einwohner der Ladrone
Inseln schreibt FREYCINET :
„ Souvent on avoit vu les pères vendre sans rougir les prémices
de leurs filles . . . les mères elles -mêmes engager leurs enfants à suivre
l'impulsion de leurs sens ... On possède encore une des chansons
qu'elles chantoient à leurs filles en pareille circonstance . "
Die Pelew- Insulaner bieten einen gleichen Fall dar : der
ganz allgemeine Gebrauch ist der, dass die Mutter die neu ein
geweihte Tochter lehrt , immer Bezahlung zu fordern ; die Er
klärung des Gebrauchs ist „der durch Gewohnheit anerkannte
Geiz der Eltern ".
Von dem entgegengesetzten Charakterzuge wird von primi
tiven oder nicht cultivierten Völkern eine grosse Zahl von Zeug
nissen dargeboten. Zwei derselben kommen mitten aus den im
Allgemeinen ungebundenen Stämmen von Nord-America. CATLIN
sagt von den Mandan-Indianern :
――――― und unter den an
29 Ihre Frauen sind schön und bescheiden ,
ständigen Familien wird Tugendsamkeit ebenso hoch geschätzt und
ist ebenso unnahbar wie in irgend einer Gesellschaft . "
Und von den Chippewähs schreibt KEATING :
99 Keuschheit ist eine bei den Chippewähs in hohem Ansehen
stehende Tugend , ohne welche keine Frau erwarten könnte , von einem
Krieger zur Frau genommen zu werden. "
Im Weitergehen giebt er aber zu , dass ziemlich viel ver
borgene Unregelmässigkeiten vorkommen . Auch Africa liefert
§. 183. Keuschheit . 471

manche Beispiele . „ Eine Kaffer-Frau ist Beides , keusch und


ET: bescheiden , " man sagt , dass Fälle von Untreue sehr selten
Br sind ; " dasselbe wird auch von den Bachassinen gesagt. MARINER
achba erzählt uns , dass in Tonga Ehebruch sehr selten ist . „ Keusch
ter de :
heit ist bei diesen [ den Sumatranern ] vielleicht mehr als bei
irgend einem andern Volke verbreitet , " sagt MARSDEN. Ganz
ähnlich lautet die Angabe von Low über die Inland-Bevölkerung
von Borneo : 99 Ehebruch ist ein unbekanntes Verbrechen , und
kein Dyak (Land- D. ) konnte sich erinnern, dass jemals ein Fall

it vorgekommen wäre. " So wird in Dory, Neu-Guinea , nach Kops ,


Keuschheit in hoher Achtung gehalten . . . Ehebruch ist un
bekannt. " Und ERSKINE giebt den Frauen von Uea , Loyalty
TIN T Inseln , das Zeugnis , „ dass sie vor der Verheirathung streng
Fel keusch und später treue Frauen sind . " Manche Völker, welche in
ochet andern Beziehungen zu den niedrigst stehenden gehören, finden
r der sich in dieser Beziehung unter den höchst stehenden . SNOW
erzählt , dass die Frauen der Feuerländer auf der Picton- Insel

girly merkwürdig bescheiden sind ; und eine der besonderen Erwähnung


Sentar werthe Thatsache ist, dass bei den rohesten Mushera von Indien ,

gjakutanan
ne des c

Chesna
welche keine förmliche Ehe kennen , 99 Unkeuschheit , oder ein

Jade
partisi
vlak
fatto
Mobil
BIGP *

Ban

đề
An
de
vanNa%%“
Wechsel der Liebhaber , auf beiden Seiten , sobald einmal ein
Fall& gegenseitiges Zu-eigen-geben stattgefunden hat , ein nur selten
er dea vorkommendes Ereignis ist ; " wenn es aber vorkommt , ver
rdern-5 anlasst es die Ausstossung. Die noch übrigen zwei äusserst
eit ar ausgesprochenen Beispiele finden sich bei andern friedfertigen
Stämmen der indischen Berge . So sagt HODGSON von den
ird va Bodo und Dhimals : „Keuschheit wird von Männern und Frauen,
Pa verheiratheten und unverheiratheten, hochgeschätzt. " Und nach
DALTON
en $3.
Ters " werden die Santál-Frauen von Allen, welche über sie geschrieben
haben , als ausserordentlich keusch dargestellt ; und doch sind die
jungen Leute beiderlei Geschlechts der Gesellschaft einander in hohem
Grade zugethan und sie verbringen viel Zeit mit einander. "

Mit diesen Fällen von eingeborner Keuschheit können noch


Fälle von Völkerschaften angeführt werden, welche durch fremde
Dobess Einflüsse gesunken sind. In einem Aufsatze über die Veddahs,
Dte. T
deren Nachbarn, die Singhalesen, ausserordentlich zügellos sind ,
citiert VIRCHOW GILLINGS , um zu zeigen , dass man unter ihnen
nur da von Ehebruch und Polygamie hören könne, wo Versuche
Afric
472 Die Inductionen der Ethik. Cap . XIII .

gemacht worden sind , sie zu civilisieren . Und so wenig wir


ferner hätten erwarten können, von einem Geistlichen in Bezug
auf eine so niedrig stehende Rasse, wie die Australier, ein der
artiges Zeugnis zu erhalten , so wird uns doch, nach dem Citate
bei TAPLIN, von dem Rev. R. W. HOLDEN erzählt, dass
" die Ankunft der Weissen die Eingebornen noch viel gesunkener,
hülfloser und leider viel ――― empfänglicher für allerhand Krank
heiten gemacht hat. Vor unserer Ankunft waren bei ihnen die Ge
setze streng und wurden befolgt , besonders diejenigen in Bezug auf
junge Männer und junge Frauen. Ein junger Mensch oder Mann , der
vor der Verheirathung geschlechtlichen Umgang gehabt hatte , war
beinahe des Todes. "
Das Gleiche kann aber von andern australischen Stämmen
nicht gesagt werden.
Wie nun hiernach die Thatsachen von den uncivilisierten
Rassen dargeboten werden, so fallen sie nicht unter deutlich sich
heraushebende allgemeine Folgerungen : sie weisen keine be
stimmten Beziehungen zwischen Keuschheit oder Unkeuschheit
und socialen Formen oder Rassentypen nach. Allerdings über
wiegen die Zeugnisse zu Gunsten der vergleichsweise oder durch
aus friedfertigen Stämme , doch ist diese Beziehung nicht ohne
Ausnahme ; und umgekehrt , wenn auch der Maassstab der Keusch
heit bei den meisten kriegerischen Gesellschaften niedrig ist, so
ist er doch nicht bei allen niedrig . Auch erhalten wir, wenn wir
ausgesprochene Gegensätze in Betracht ziehen, keine klaren Be
weise . Von den wilden Fidschi-Insulanern , welche in ihrem
Cannibalismus alle andern Völker übertreffen und welche sich
der Lüge , des Stehlens und Mordens rühmen , lesen wir bei
ERSKINE , dass die Frauen bescheiden sind und dass " wirkliche
Tugend als auf einem hohen Maassstab stehend angenommen
werden kann “ , während nach SEEMANN „ Ehebruch eines der all
gemein mit dem Tode bestraften Verbrechen ist ". Auf der andern
Seite beschreibt Cook die Tahitianer als des Gefühls der Keusch
heit gänzlich bar . Er sagt :
Sie sind „ Menschen , welche nicht einmal die Idee von Unan
ständigkeit haben und welche jede Begierde und jede Leidenschaft
vor Zeugen befriedigen, ohne ein stärkeres Gefühl des Unpassendseins
dabei zu empfinden als wir , wenn wir unsern Hunger an einem ge
selligen Tische mit unsern Familiengliedern oder Freunden stillen. "
Gleichzeitig spricht er sehr günstig von ihrer Sinnesart :
§. 184. Keuschheit . 473

nd
" Sie scheinen brav, offen und ehrlich, ohne Verdacht oder Ver
rath, Grausamkeit oder Rachgier zu hegen ; in Folge davon setzten
wir dasselbe Vertrauen in sie, wie in unsere besten Freunde. "
DAE Hier liegen Widersprüche vor , welche nach den bei civili
Elt,da sierten Völkern geläufigen Ideen völlig unvereinbar erscheinen.
вто
alle §. 184.
bet ne
Im Verlaufe aller vorausgehenden Abschnitte ist es Auf
Zen X
gabe gewesen, durch Untersuchung der Thatsachen zu ermitteln,
hodak
halt
welche Beziehungen - wenn überhaupt - zwischen Keusch
heit und dem socialen Typus , ebenso wie zwischen dieser Tugend
ischen ... und andern Tugenden bestehen ; wir müssen aber jetzt im Be
sonderen die vorherrschenden ethischen Empfindungen in Betracht

a podr ziehen, welche die Ausübung und die Nichtausübung der Tugend

ter begleiten . In vielen der oben angeführten Stellen sind diese


Empfindungen ausgedrückt oder stillschweigend zu verstehen
elsen le
gegeben worden ; um aber den Gegenstand ganz vollständig ab
zuhandeln , scheint es nothwendig zu sein , die äussersten Ab
weichungen von dem, was wir als normal ansehen können , welche
eise z
sie zuweilen erleiden, mit Bestimmtheit zu beobachten. Ich will
CHYA
drei Beispiele anführen : eines von einem uncivilisierten , ein
tabdezi
anderes von einem halbcivilisierten , jetzt ausgestorbenen , und
ein drittes von einem jetzt lebenden civilisierten Volke .
Win
Von den Wotyäken, einer finnischen Rasse, sagt der deutsche
eine Reisende BUCH :
elche
„ Es ist in der That schimpflich für ein Mädchen , wenn sich
pukeut
chalkulatura
denilaietan

nd wh
semantica
alangkung

die jungen Männer nur wenig um sie bewerben . . . . Es ist daher


data"
aeth
damat
tes
magar—y(',

lesen nur ein logischer Schluss , dass es für ein Mädchen ehrenhaft ist ,
ass Kinder zu haben . Sie bekommt dann einen vermögenderen Gatten und
ar ihrem Vater wird ein höherer Kalym für sie bezahlt . "
elites Was die alten Chibchas von Central-America betrifft , SO
A lesen wir :

" Manche Indianer ... kümmerten sich nicht viel darum , dass
ihre Frauen noch Jungfrauen sein sollten . . . Im Gegentheil dachten
Manche, wenn sie entdeckten, dass sie noch keinen Umgang mit Män
dee To
nern gehabt hatten , sie seien elend und unglücklich , weil sie bei
+1 Männern keine Zuneigung erweckt hatte : in Folge dessen fanden sie
[ dieselben als erbärmliche Frauen widerwärtig . “
TME
Die civilisierte Nation , von welcher erwähnt wurde , dass
sich bei ihr in manchen Fällen eine Empfindung zeige , welche
TerS
474 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIII .

beinahe das Umgekehrte von der ist , welche bei den Nationen
des Westens so stark ausgesprochen ist , finden wir im fernen
Osten . DIXON sagt von den Japanesen :
" Es pflegte keine ungewöhnliche Sache für eine pflichttreue Toch
ter zu sein (und wir haben keine deutlichen Beweise dafür , dass der
Gebrauch jetzt in Abnahme gekommen ist) , sich für eine bestimmte
Zeit von Jahren an den Besitzer eines übel beleumundeten Hauses
zu verkaufen , damit sie das zerstörte Vermögen ihres Vaters wieder
gewinne . Wenn sie dann nach Hause zurückkehrte , haftete kein
Make an ihr ; eher wurde sie noch wegen ihrer kindlichen Ergebung
geehrt. "
Obgleich Mr. HENRY NORMAN in einem eben erschienenen
Werke "" The Real Japan " diese erwähnte Rückkehr in's Haus
in glaubwürdiger Weise verneint (für neuere Zeiten wenigstens) ,
so bestätigt er den ersten Theil der Angabe , dass Töchter für
bestimmte Zeiten von ihren Eltern verkauft werden : die That
sache , dass solche Eltern geduldet werden , ist ein ganz ge
nügender Hinweis auf die Art der herrschenden Empfindung .
Wir erhalten daher hier den Beweis , dass in Bezug auf
diesen Theil des Betragens, wie hinsichtlich der Theile des Be
tragens , von denen in vorausgehenden Capiteln gehandelt worden
ist, die Gewohnheiten Empfindungen erzeugen , welche mit ihnen
harmonisieren . Es ist eine abgenutzte Bemerkung , dass das
Individuum , welches im Unrecht- thun beharrt , vorkommenden
falls alles Gefühl dafür, dass es Unrecht ist , verliert und end
lich glaubt, dass es recht handle ; dasselbe gilt auch social ____
es muss allerdings social richtig sein , da die öffentliche Meinung
nur eine Sammlung individueller Meinungen ist.

§. 185.
Wenn wir , anstatt eine Gesellschaft mit einer andern zu
vergleichen , frühe Zustände derjenigen Gesellschaften , welche
Civilisationen entwickelt haben , mit den späteren Zuständen
vergleichen, so finden wir sehr wechselnde Beziehungen zwischen
Keuschheit und socialer Entwicklung . Nur in modernen Gesell
schaften können wir sagen , dass diese Beziehung erträglich
deutlich wird.
Wir haben bereits gesehen , wie niedrig in Bezug auf die
geschlechtlichen Beziehungen das Volk von Indien in frühen
Zeiten war , und wie , nachdem allgemeine Vermischung und
§. 185. Keuschheit . 475

Polyandrie ausgestorben waren , die Dichter und Weisen in spä


teren Zeiten sich bemühten , die traditionellen Vergehen ihrer
Götter wegzuerklären , während jetzt lebende Hindus sich
schämen, wenn ihnen die unerlaubten Liebschaften ihrer Heroen
und Heroinen vorgeworfen werden. Hier scheint daher ein Fort
schritt der erwarteten Art eingetreten zu sein.
Dass unter benachbarten Gesellschaften manche verwandte
Umwandlungen statthatten , scheint durch die Thatsache be
stätigt zu werden , dass Prostitution in Tempeln, welche bei den
Babyloniern , Ägyptern u . s . w. in Gebrauch war und welche
wie andere mit Religion zusammenhängende Gebräuche, dauernder
als allgemeine Gebräuche, wahrscheinlich gewisse Gewohnheiten
früherer Zeiten darstellte, zum Theil, wenn nicht vollständig ver
schwand. Es ist ferner zu bemerken , dass mit dem während
primitiver Zustände civilisierter Völker, wie noch jetzt bei den
uncivilisierten gewöhnlichen Frauenraub natürlicherweise eine
niedrige Stellung der gefangenen Frauen Hand in Hand gieng
(eine gewöhnliche Begleiterin war das Concubinat) , und dass
daher mit dem Aufgeben desselben eine Ursache niedriger ge
schlechtlicher Beziehungen in Wegfall kam . Dass auch in dem
von den Hebräern dargebotenen Falle ein weiterer Fortschritt
stattfand , wird durch die Thatsachen erwiesen , dass , obgleich
Herodes der Grosse neun Frauen hatte und im Mischnah von
der Polygamie als im Gebrauche befindlich gesprochen wird,
doch die Hinweisungen im Buche Jesus Sirach das allgemeine
Bestehen der Monogamie voraussetzen .
Die offenbaren Umwandlungen im Verlaufe der griechischen
Civilisation rechtfertigen entschieden die Behauptung nicht, dass
bessere Beziehungen der Geschlechter zu einander höhere sociale
Einrichtungen begleiten . Die Ausdehnung des Concubinats, wie
sie in der Iliade enthalten ist, war geringer als durch das Halten.
weiblicher Sklavinnen und Dienerinnen in den atheniensischen
Häusern ausgedrückt wird ; und die bestehende Einrichtung der
Hetären , unter denen neben den vielen Ausgezeichneten eine
Menge nicht Ausgezeichneter existierte, die Erhöhung der öffent
lichen Einnahmen durch eine Steuer auf berüchtigte Häuser, und
das Fortbestehen autorisierter Prostitution in den Tempeln der
Aphrodite Pandemos beweisen noch weiter, dass die Beziehungen
der Geschlechter entartet waren. Gehen wir auf Rom über, so
SPENCER, Principien der Ethik. I. 31
476 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIII .

finden wir einen nicht wegzuleugnenden Fall von Rückschritt


in geschlechtlichen Einrichtungen und Gebräuchen , welcher mit
jener Form von socialem Fortschritt Hand in Hand gieng,
welcher in der Ausdehnung des Reiches und der Zunahme poli
tischer Organisation gegeben war. Der Contrast zwischen den
geregelten Beziehungen zwischen Männern und Frauen in frühen
römischen Zeiten und den äusserst ungeregelten Beziehungen,
welche in den Zeiten der Kaiser herrschten , wo das Bescheiden
sein als Hässlich- sein bedeutend angenommen wurde , und wo
patricische Damen durch Gesetz davon zurückgehalten werden
mussten, prostituierte Dirnen zu werden , beweist, dass moralische
Entartung dieser Art einen Typus vorschreitender Civilisation
begleiten kann .
Die Reaction , welche nach diesen verderbtesten römischen
Zeiten anfieng , wurde durch das Christenthum bedeutend ge
fördert. Diese Förderung kann indessen nicht einer richtigen
Auffassung der Beziehungen der Geschlechter zu einander und
einem dementsprechenden Gefühle zugeschrieben werden , viel
mehr einem Asceticismus, welcher die Theilnahme an Vergnügen
tadelte , und ein Schmerzen-Erdulden pries. Das veranlassende
Motiv war mehr ein ander- weltliches als ein seiner Natur nach
moralisches, obgleich wahrscheinlich der ander-weltliche Beweg
grund den moralischen förderte. In diesem Falle aber , wie in
zahllosen andern , wurde das allgemeine Gesetz des Rhythmus
bestätigt. Dieser heftig auftretenden Reaction folgte mit der
Zeit eine heftige Gegen- Reaction , so dass nach einer Periode
geschlechtlicher Einschränkungen eine Periode geschlechtlicher
Ausschreitungen kam, - eine Periode, in welcher das Verhältnis
der Reaction zur Gegen- Reaction noch weiter durch die That
sache erläutert wurde , dass die nominell im Cölibat lebenden
Geistlichen und Nonnen schlimmer wurden , als die nicht an das
Cölibat gebundene Laienschaft.
Es muss noch hinzugefügt werden , dass die Völker von
Nord -Europa , bei welchen die Beziehungen der Geschlechter zu
einander ursprünglich gut gewesen zu sein scheinen , im Ver
laufe der Zeit gleichfalls , wenngleich in einem weniger scharf
ausgesprochenem Grade , den geschlechtlichen Rückschritt dar
boten , welcher mit bestimmten Formen socialen Fortschrittes
Hand in Hand geht . In neueren Zeiten ist indessen in Begleitung
§. 186. Keuschheit . 477

des Fortschrittes zu höheren politischen Typen und geordneteren


socialen Zuständen durchschnittlich in dieser wie in andern Be
ziehungen eine Verbesserung eingetreten .

§. 186 .

Eine befriedigende Erklärung dieser vielen fremdartigen


Widersprüche und Umwandlungen zu geben , ist unausführbar :
die ursächlichen Verhältnisse sind zu compliciert. Wir können
indessen gewisse Ursachen bezeichnen, welche gelegentlich von
Einfluss gewesen zu sein scheinen, obschon wir nicht sagen können ,
in welcher Ausdehnung .
Die äusserste Ungebundenheit der Tahitianer kann mög
licherweise durch die unendliche Fruchtbarkeit ihres Wohnorts
ermuthigt worden sein . Wenn er den Überfluss von Nahrung
schildert , den ihr Boden beinahe von selbst hervorbringt , sagt
Cook von den Tahitianern : " Sie scheinen von dem ersten all
gemeinen Fluche : ,der Mensch soll sein Brod im Schweisse seines
Angesichts essen' , befreit zu sein. " Wo die Erhaltung des eigenen
Lebens , und als Folge davon die Erhaltung von Kindern so
ausserordentlich leicht ist, scheint vergleichsweise nur geringer
Schaden daraus zu entstehen , wenn einer Mutter überlassen wird ,
ein Kind oder Kinder ohne die Hülfe eines Vaters aufzuziehen ;
und beim Fehlen jener üblen Wirkungen auf Beide , den Er
zeuger und den Nachkommen , welche dort eintreten , wo die
nothwendigen Lebensbedürfnisse schwer zu beschaffen sind, dürfte
jene sociale Verurtheilung der Unenthaltsamkeit nicht aufzutreten
neigen , welche da auftritt , wo die nachtheiligen Folgen jener
augenfällig sind.
Africa giebt uns die Andeutung noch einer andern Ursache
der Ungebundenheit, welche zuweilen wirksam sein dürfte . Die
Thatsache, dass " der Dahomeer, wie beinahe alle Halb- Barbaren,
eine zahlreiche Familie als die grösste Segnung ansieht “ , —
eine Thatsache, welche an ähnliche in der Bibel enthaltene er
innert , — wird verständlich, wenn wir uns daran erinnern , dass
auf früheren , durch beständigen Widerstreit, inneren wie äusseren ,
charakterisierten Zuständen es von Bedeutung ist , nicht bloss
die Mitgliederzahl des Stammes , andern Stämmen gegenüber,
sondern auch die Gliederzahl der Familien und Clans aufrecht
zu halten , da die schwächeren unter ihnen an die Wand ge
31 *
478 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIII.

drückt werden , wenn Kämpfe stattfinden . Hieraus ergiebt sich,


dass nicht allein Unfruchtbarkeit eine Schande, sondern Frucht
barkeit ein Grund zur Achtung ist ; möglicherweise liegt hierin
der Grund , weshalb es in Ost-Africa „ keine Schande für ein
unverheirathetes Frauenzimmer ist , Mutter einer Familie zu
werden" ; die Bemerkung eines Reisenden , welche ich augen
blicklich nicht finden kann , in Betreff eines andern Stammes
geht dahin, dass die Regellosigkeiten einer Frau ihr leicht ver
geben werden , wenn sie viele Kinder zur Welt bringt.
Diese Thatsache scheint auf die Folgerung hinzuweisen, auf
welche viele der vorausgehenden Thatsachen hingewiesen haben,
dass nämlich ein Zusammenhang besteht zwischen Unkeuschheit
und einem kriegerischen Leben , wenn man bedenkt , dass das
Hervorbringen vieler Kinder nur da ein Desideratum ist, wo die
Sterblichkeit durch Gewalt gross ist. Einen weiteren Grund
zur Vermuthung, dass dieser Zusammenhang besteht, finden wir
in der niedrigen Stellung der Frauen, welche in gleichförmiger
Weise ein ausgesprochenes Kampfleben begleitet (s . Principien
der Sociologie , III . Theil , 10. Capitel, die Stellung der Frauen " ).
Wo , wie bei beständig kämpfenden Völkerschaften, die schwere
Arbeit von Sklaven und Frauen ausgeführt wird , -- wo die
Frauen Siegesbeute sind, mit denen die Sieger verfahren können,
wie es ihnen beliebt, ――― wo sie, wenn sie nicht gestohlen oder im
Kampfe errungen sind , gekauft werden : da muss offenbar -
der Wille der Frauen kommt dabei nicht in Betracht ―――――― der
ungehinderte Egoismus der Männer mit der Ausbreitung der
Keuschheit in Widerstreit gerathen . Und in der anerkannten
Polygamie in Gesellschaften , welche eine grosse Anzahl von
Männern im Kampfe verlieren , in den grossen Harems der Könige
und Häuptlinge , in dem Kaufe weiblicher Sklaven , ―― alles
charakteristische Züge des kriegerischen Typus , in all diesem
sehen wir Beziehungen der Geschlechter zu einander , welche
jeder moralischen Einschränkung zuwiderlaufen . Wenn wir uns
daran erinnern , dass der äusserste Grad der Lasterhaftigkeit
in Rom nach langen Jahrhunderten von Eroberungen erreicht
wurde ; wenn wir uns daran erinnern , dass während der aus
Kriegen hervorgehenden feudalen Organisation das jus primae
noctis fortlebte ; wenn wir von Russland, ausschliesslich für den
Krieg organisiert , lesen , dass bis vor Kurzem jedes Mädchen
§. 187. Keuschheit . 479

auf einem Gute zur Verfügung des Herrn stand , so sehen


wir noch einen weiteren Grund zu der Annahme , dass der
kriegerische Gesellschaftstypus höheren Beziehungen der Ge
schlechter zu einander ungünstig ist . Wir dürfen indessen nicht
folgern, dass Keuschheit immer Gesellschaften des nicht- kriege
rischen Typus charakterisiert. Obgleich die oben genannten fried
fertigen Stämme von den uncivilisierten Stämmen im Grossen und
Ganzen durch die Reinheit ihrer geschlechtlichen Beziehungen
unterschieden sind , so ist dies doch mit einem andern fried
fertigen Stamme nicht der Fall , den Todas : diese sind eher
durch das Gegentheil ausgezeichnet . Ferner wissen die Eskimos,
bei welchen ein Austausch der Frauen stattfindet, nicht einmal,
was Krieg ist.

§. 187.

Es bleibt nur übrig, die mitten in allen Verwicklungen und


Abänderungen erkennbare Wahrheit nachdrücklich hervorzu
heben , dass man ohne vorherrschende Keuschheit keinen guten
socialen Zustand findet. Wenn auch ein Vergleich der zwischen
inneliegenden Typen dies nicht deutlich hervortreten lässt ,
so wird es doch durch den Vergleich extremer Typen klar.
Unter den Niedrigsten haben wir eine derartige Gruppe , wie
die Ku -ka-tha , West-Süd-Australien bewohnend , deren haupt
sächliche charakteristischen Merkmale „ Verrath , Undankbarkeit,
Lügen und jegliche Art von Betrügen und Überlisten " sind ,
welche „kein Eigenthum " , „ keine Bestrafung von Vergehen “ ,
„keine Idee von Recht und Unrecht" haben und welche ein
absolutes Fehlen des in Rede stehenden Gefühls zeigen : „ Keusch
heit und Treue sind ihnen vollständig unbekannt. " Am andern
Ende der Reihe stehen die vorgeschrittensten Gesellschaften
von Europa und America , bei denen in Verbindung mit einem
verhältnismässig hohem Maassstabe der Keuschheit (wenigstens
für die Frauen) hohe Ausbildungsgrade der verschiedenen für
sociales Leben erforderlichen Züge vorhanden sind , die jenen
Australiern fehlen . Ebenso bietet die Vergleichung verschie
dener Entwicklungsstufen civilisierter Nationen Beweise ; als Bei
spiel kann der Gegensatz angeführt werden zwischen unserer
eigenen Zeit und der Zeit nach der Restauration, sowohl in Bezug
auf die Keuschheit als in Bezug auf die allgemeine Wohlfahrt.
480 Die Inductionen der Ethik. Cap . XIII.

Es giebt drei Wege , auf denen Keuschheit einen höheren


socialen Zustand fördert . Der erste ist der im Eingang er
wähnte, - ihre Dienlichkeit zur Aufziehung der Nachkommen
schaft. Beinahe überall, aber besonders da, wo die Schärfe der
Concurrenz das Aufziehen der Kinder schwierig macht , muss
das Fehlen der Hülfe seitens des Vaters die Mutter überbürdet
werden lassen und eine unzureichende Ernährung der Nach
kommenschaft mit sich bringen . Es strebt daher Unkeuschheit
zur Hervorbringung untergeordneter Individuen und muss , wenn
sie weit verbreitet wird , den Verfall der Gesellschaft ver
ursachen.
Die zweite Ursache liegt darin, dass Unkeuschheit, welche
als solche mit der Herstellung normaler monogamer Verhältnisse
in Widerstreit geräth , jenen höheren Empfindungen entgegen
tritt, welche solche Verhältnisse veranlassen. In Gesellschaften,
welche durch niedrigere Formen der Ehe oder durch unregel
mässige Verbindungen charakterisiert sind , kann sich zu keiner
grossen Ausdehnung jene machtvolle Combination von Gefühlen
――――――――― Zuneigung, Bewunderung, Sympathie entwickeln , welche
in so merkwürdiger Weise aus dem geschlechtlichen Instinct
herausgewachsen ist. Und bei Abwesenheit dieser zusammen
gesetzten Leidenschaft, welche offenbar ein Verhältnis zwischen
einem Manne und einer Frau zur Voraussetzung hat, verschwindet
das oberste Interesse im Leben und lässt nur verhältnismässig
untergeordnete Interessen zurück . Offenbar scheidet vorherr
schende Unkeuschheit die höheren Bestandtheile der geschlecht
lichen Beziehungen von den niederen ; die Wurzel kann wohl
einige wenige Blätter hervorbringen , aber keine echte Blüthe.
Verschiedene der höchsten ästhetischen Freuden müssen zu
gleicher Zeit untergraben werden . Es braucht nur daran er
innert zu werden , welchen vorherrschenden Antheil in Werken
der Fiction, Drama, Poesie, Musik, das romantische Element in
der Liebe spielt, um zu sehen , dass Alles , was dagegen streitet ,
die hauptsächlichsten Annehmlichkeiten, welche den arbeitsfreien
Theil des Lebens ausfüllen sollten , mindert, wenn nicht geradezu
zerstört .
§. 188. Zusammenfassung der Inductionen . 481

XIV. Capitel .

Zusammenfassung der Inductionen .

§. 188.
Wo nur wenig , aber genaue Angaben vorhanden sind , da
können bestimmte Folgerungen gezogen werden ; wo sie aber
zahlreich und ungenau sind , müssen die daraus gezogenen Schlüsse
verhältnismässig unbestimmt sein . Reine Mathematik bietet ein
Beispiel für das eine , Sociologie für das andere dar. Die von
dem individuellen Leben dargebotenen Erscheinungen sind in
hohem Maasse verwickelt , und noch verwickelter sind die von
dem Leben verbundener Individuen dargebotenen Erscheinungen ;
und ihre grosse Complexität wird durch die Vielgestaltigkeit und
Veränderlichkeit der umgebenden Bedingungen noch weiter ge
steigert.
Zu den Schwierigkeiten , welche in Bezug auf Verall
gemeinerungen hieraus entstehen , müssen noch die Schwierig
keiten zugefügt werden , welche aus der Unbestimmtheit der

Beweise resultieren , der Zweifelhaftigkeit, Unvollständigkeit
und der widerstreitenden Beschaffenheit der Angaben, mit welchen
wir zu thun haben . Nicht allen Reisenden kann Vertrauen ge
schenkt werden. Manche sind schlechte Beobachter, manche sind
durch Glaubensansichten oder Gebrauch voreingenommen, manche
durch persönliche Neigungen oder Widerwillen, und Alle haben
nur unvollkommene Gelegenheiten zur Wahrheit zu gelangen .
Ähnliches gilt für die Geschichtsschreiber. Sehr wenig von dem,
was sie erzählen , gründet sich auf unmittelbare Beobachtung .
Der grössere Theil desselben kommt durch Canäle , welche färben,
verdüstern und verdrehen , während noch überall Parteistimmung,
religiöser Bigotismus und die Empfindungen des Patriotismus
Übertreibungen und Unterdrückungen verursachen . Zeugnisse ,
welche moralische Züge betreffen, werden daher leicht verdreht .
Viele von den unter einem und demselben Namen zusammen
gefassten Völkerschaften bieten beträchtliche Charakterverschie
denheiten dar : ein Beispiel sind die Australier , von denen be
merkt worden ist , dass manche Stämme ruhig und umgänglich
sind, während andere ungestüm und schwer zu behandeln sind .
Ferner erleiden das Betragen , die Gefühle und Ideen eingeborner
482 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIV.

Völker häufig derartige Veränderungen , dass Reisende , zwischen


deren Besuchen viele Jahre vergangen sind , ganz verschiedene
Schilderungen geben. Die ursprünglichen Gefühle und Glaubens
ansichten werden häufig durch den Einfluss von Missionären und
in einem noch grösserem Maasse durch die Berührung mit Händ
lern und Ansiedlern verdunkelt. Aus allen Theilen der Welt
erhalten wir Beweise dafür , dass Eingeborne durch den Verkehr
mit Europäern heruntergekommen sind. Dies sind also noch
weitere Ursachen einer Entstellung des Beweismaterials .
Es treten aber auch noch weiter die Complicationen hinzu,
welche Folgen von Veränderungen der Wohnsitze und Beschäf
tigungen sind. An der einen Stelle werden Stämme in einen
Antagonismus zu ihren Nachbarn genöthigt und an einem andern
Orte werden sie zu ruhigem Leben geführt : eines der daraus
entspringenden Resultate ist , dass Auffassungen und Gefühle,
welche einem vorausgehenden Zustande angepasst waren , nun
aber in einem späteren Zustande noch lange Zeit fortleben, als
mit diesem nicht übereinstimmend erscheinen .
So müssen wir erwarten auf Anomalien zu stossen und
müssen uns mit Folgerungen zufrieden geben, welche im durch
schnittlichen Mittel sich als richtig herausstellen.

§. 189.
Ehe wir die Bedeutsamkeit der hier gezogenen Inductionen
vollständig verstehen können , müssen wir noch einmal die wesent
liche Beschaffenheit der socialen Zusammenwirkung betrachten.
Wie in §. 48 hervorgerufen wurde : vom sociologischen Gesichts
punkte aus 97, wird Ethik nichts anderes als eine bestimmte Dar
stellung der Formen des Betragens , welche für den vergesell
schafteten Zustand passend sind " ; und in späteren Abschnitten
wurde es klar gemacht, dass mit dem Erheben über jene frühe
sten Gruppen, bei welchen die Individuen einfach in Berührung
leben, ohne wechselseitige Störung und ohne gegenseitige Hülfe ,
der vergesellschaftete Zustand nur durch erfolgreiches Zusammen
wirken erhalten werden kann : bald zur Vertheidigung nach aussen,
bald zur Erhaltung nach innen. Das heisst : das Gedeihen der
Gesellschaften hängt, alles Übrige gleich vorausgesetzt, von dem
Maasse ab , in welchem innerhalb ihrer die Bedingungen zu
solchem Zusammenwirken erfüllt sind. Woraus , nach dem Grund
§. 189. Zusammenfassung der Inductionen . 483

satze des Überlebens des Passendsten , folgt , dass Grundsätze


des Betragens , welche Rücksichtnahme auf jene Bedingungen
enthalten, und Gefühle , welche zur Unterstützung solcher Grund
sätze dienen, herrschend werden , während Grundsätze des Be
tragens , welche nur solche Theile des Lebens der Individuen
betreffen , welche das sociale Zusammenwirken nicht augenschein
lich berühren , keine Gutheissungen von solch ausgesprochener
und dauernder Art erheischen.
Dies scheint auch die Erklärung der Thatsache zu sein,
welche vielen Lesern der letzten zwei Capitel aufgefallen sein muss,
dass die, die Mässigkeit und Keuschheit betreffenden Ideen und
Empfindungen weniger verständliche Beziehungen zum socialen
Typus und zur socialen Entwicklung erkennen lassen , als die
Ideen und Empfindungen , welche das zusammenwirkende Ver
halten, nach aussen und nach innen, betreffen . Denn wenn es,
durch die ganze Gemeinde zerstreut , Leute giebt , welche bis
zum Excess essen oder trinken , so sind die hieraus für die Ge
meinde sich ergebenden üblen Folgen indirecte. An erster Stelle
wird die militärische Wirksamkeit nicht direct gestört, solange
sich nicht innerhalb der bewaffneten Macht eine solche Trunk
sucht oder Fressgier zeigt, dass die Disciplin dadurch empfind
lich berührt würde. Und an zweiter Stelle wird der Process.
der Erhaltung in der Gemeinde so lange nicht direct beeinträch
tigt , als Einer , welcher bis zum Übermaass isst oder trinkt,
seinen Nachbar nicht angreift oder ihm in irgend einer Weise
zu nahe tritt. Wenn ein Mensch auch beide Fehler begeht, so
kann er doch die Personen und das Eigenthum seiner Genossen
- kann
achten und seine Obliegenheiten unabänderlich erfüllen,
folglich den grundlegenden Principien des socialen Zusammen
wirkens genügen. Was für Schaden auch der Gesellschaft aus
seinem Betragen entstehen möge , er ist die Folge der Ver
schlechterung einer ihrer Einheiten . Beinahe dasselbe gilt für
die Vernachlässigung der Keuschheit : die Durchführung des Zu
sammenwirkens , des äusseren oder inneren , wird nicht noth
wendigerweise oder unmittelbar gestört ; aber das verursachte
Übel ist ein schliessliches Herabsetzen der Bevölkerung der
Zahl nach wie der Qualität nach . In diesen beiden Fällen er
zeugt das sociale Bewusstsein, nicht besonders wach für sociale
Resultate, nicht immer entsprechende sociale Empfindungen.
484 Die Inductionen der Ethik . Cap. XIV.

Anders verhält es sich mit jenen Formen des Betragens,


welche die Bedingungen für sociales Zusammenwirken, äusseres
oder inneres , direct und augenfällig beeinträchtigen . Feigheit
oder Insubordination setzt in einer sehr offenbaren Weise die
Wirksamkeit einer kämpfenden Masse herab ; es treten daher
in Folge hiervon leicht entsprechende Ideen und Empfindungen
in Bezug auf jene auf. So sind ferner das Morden oder Über
fallen von Mitbürgern , das Wegnehmen ihres Besitzthums , das
Brechen von mit ihnen abgeschlossenen Contracten, Handlungen,
welche in so augenfälligerweise mit den , ein sociales Leben
bildenden Handlungen in Widerstreit sind , dass mit ziemlicher
Regelmässigkeit eine Verurtheilung derselben erfolgt. Wenn
daher auch in verschiedenen Gesellschaften die sich auf der
artige Classen von Übertretungen beziehenden Meinungen und
Gefühle weit auseinandergehen , so finden wir doch , dass diese
Verschiedenheiten im Verhältnis stehen zu Verschiedenheiten in
den Typen der socialen Thätigkeitsäusserungen , - die eine
oder die andere Reihe von Verurtheilungen wird ausgesprochen,
je nachdem die eine oder die andere Gruppe von Thätigkeits
äusserungen die herrschendere ist.
Alles zusammengenommen zeigen uns die vorstehenden Capitel
eine Gruppe von moralischen Zügen , welche einem Leben äusserer
Feindseligkeit eigenthümlich sind. Wo die vorherrschenden Arten
socialen Zusammenwirkens die Form eines beständigen Kämpfens
mit benachbarten Völkerschaften sind, da entwickelt sich ein Ge
fühl des Stolzes auf Angriff und Raub , Rache wird eine ge
bieterische Pflicht , geschicktes Lügen ist rühmlich und (mit Aus
nahme kleiner Stämme , die sich nicht weiter entwickeln) Ge
horsam gegen despotische Führer und Herrscher ist die grösste
Tugend ; zu derselben Zeit besteht Verachtung für Industrie und
nur in so geringem Maasse Rücksichtnahme auf Gerechtigkeit
innerhalb der Gesellschaft , als zu ihrem Fortbestehen nothwendig
ist. Wo auf der andern Seite die hauptsächlich vorherrschenden
Arten socialen Zusammenwirkens die innere Erhaltung zum
Zwecke haben , während die Formen des Zusammenwirkens
gegen äussere Feinde entweder bedeutend abgenommen haben
oder ganz verschwunden sind , da ruft ein nicht herausgeforderter
Angriff nur einen theilweisen Beifall hervor oder überhaupt keinen ;
Beraubung, selbst von Feinden, hört auf rühmlich zu sein ; Rache
g
§. 190. Zusammenfassun der Inductionen . 485

wird nicht mehr für eine Nothwendigkeit angesehen ; das Lügen


wird ganz allgemein verurtheilt ; in den Verhandlungen der Bürger
unter einander wird streng auf Gerechtigkeit gehalten ; politischer
Gehorsam wird insoweit eingeschränkt , dass Unterwürfigkeit
gegen einen Despoten für verächtlich gehalten wird ; und an
statt dass Industrie für schimpflich angesehen wird, wird sie in
einer oder der andern Form als für Jedermann gebieterisch be
trachtet.
Natürlich werden in Folge der Verschiedenheiten der aus
der Vergangenheit von verschiedenen Arten von Menschen er
erbten Natur , durch die Wirkungen der durch das Alter ge
heiligten Gebräuche , durch die Einflüsse religiöser Glaubens
meinungen, in Verbindung mit den einer jeden Gesellschaft eigen
thümlichen Umständen , diese Beziehungen verwickelt und be
schränkt ; in ihren grossen allgemeinen Umrissen sind sie aber
deutlich , ―――― so deutlich wie wir es von ihnen nur erwarten
können .
§. 190.
Hieraus entspringt die Thatsache, dass die in verschiedenen
Gesellschaften herrschenden ethischen Empfindungen, ebenso wie
die in einer und derselben Gesellschaft unter verschiedenen Be
dingungen herrschenden , zuweilen einander diametral entgegen
gesetzt sind. Verschiedenartige Beweise für diese Wahrheit sind
in den vorausgehenden Capiteln mitgetheilt worden ; es dürfte
aber ganz gut sein , sie hier noch durch eine Reihe von Gegen
sätzen zu bekräftigen .
Unter uns schändet es das Gedächtnis eines Menschen für
alle Zeit, einen Mord begangen zu haben und schändet für Genera
tionen alle , die mit ihm verwandt sind ; die Pathâns bieten
aber ein vollständig verschiedenes Gefühl dar. Einer, der einen
Mollah (Priester) getödtet und vergebens eine Zufluchtsstätte vor
seinen Rächern zu finden versucht hatte , sagte endlich : „ Ich
kann nur ein Märtyrer sein . Ich will gehen und einen Sahib
tödten. " Er wurde , nachdem er einen Sergeanten erschossen
hatte , gehenkt, vollkommen zufriedengestellt 97 sein Vergehen ge
sühnt zu haben ".
Die in England herrschende ethische Stimmung ist die , dass
Jemand, der von sich selbst Besitz ergreifen und sich zu einem
widerstandslosen Sklaven machen liesse , mit Verachtung an
486 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIV.

gesehen werden würde. Das Volk der Drekete, einem Sklaven


district der Fidschi- Inseln, 27 sagte aber, es sei ihre Verpflichtung,
für ihre Häuptlinge Nahrung und Opfer zu werden " , und „ dass
es ihnen zur Ehre gereiche, als für einen so edlen Zweck passend
betrachtet zu werden. "
Weniger extrem, obschon der Natur nach verwandt, ist der
Contrast zwischen den Empfindungen , über welche unsere eigene
Geschichte innerhalb der wenigen letzten Jahrhunderte berichtet.
Zur Zeit der Königin Elisabeth führte Sir John Hawkins den
Sklavenhandel ein , und zur Erinnerung an diese That wurde
ihm gestattet , in sein Wappen „ einen halben Neger ordentlich
mit einem Strick gebunden" aufzunehmen : die Ehrbarkeit seiner
Handlung wurde danach von ihm selbst vorausgesetzt und von
der Königin und dem Volke anerkannt. In unserer Zeit aber
wird das Sklaven-machen , welches WESLEY 22 die Summe aller
Nichtswürdigkeiten " nennt , mit Abscheu betrachtet ; und viele
Jahre lang hielten wir eine Flotte, den Sklavenhandel zu unter
drücken .
Völker , welche sich über die Familien- oder Clan-Organi
sation erhoben haben , sind der Meinung, dass derjenige, welcher
sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat , selbst die Strafe
erdulden muss , und es wird für die äusserste Ungerechtigkeit
angesehen, wenn die Strafe irgend Jemand anders treffen sollte ;
unsere frühesten Vorfahren dachten und fühlten aber anders ,
wie es die Australier noch jetzt thun , deren "7 erster allgemeiner
Grundsatz in Bezug auf Bestrafung der ist, dass, im Falle der
Schuldige nicht gefunden wird , alle seine Verwandten seiner
Schuld theilhaftig sind " : „ die Brüder des Verbrechers fühlen
sich ebenso schuldig wie er es ist. "
Von den civilisierten Völkern wird die Individualität der
Frau in so weit anerkannt , dass das Leben und die Freiheit
einer Frau nicht als mit Leben und Freiheit ihres Mannes ver
knüpft angesehen werden ; und gegenwärtig, nachdem sie schon
das Recht des ausschliesslichen Besitzes von Eigenthum erlangt
haben , kämpfen die Frauen für vollständige Unabhängigkeit,
sowohl häusliche als politische. Es ist, oder war, auf den Fidschi
Inseln anders . Die Frauen der Fidschi-Häuptlinge betrachten
es als eine heilige Pflicht , sich nach dem Tode ihrer Männer
erdrosseln zu lassen. Eine Frau, welche von WILLIAMS gerettet
§. 191. Zusammenfassung der Inductionen . 487

worden war, " entlief während der Nacht, stellte sich, nachdem
sie den Fluss durchschwommen hatte, ihrem Volke und bestand
auf der Vollziehung des Opfers , welchem entzogen zu werden
sie in einem Augenblicke der Schwäche mit Bedauern gestattet
habe ; " und WILKES erzählt noch von einer andern Frau, welche
ihren Retter mit Schmähungen überhäufte und ihm für alle
spätere Zeit den tödtlichsten Hass trug".
Hier [in England] und auf dem Festlande ist das religiöse
Verbot des Diebstahls und die gesetzliche Bestrafung desselben
mit einer starken gesellschaftlichen Verurtheilung verbunden ;
so dass das Verbrechen eines Diebstahls niemals vergeben wird.
In Belutschistan sind indessen völlig entgegengesetzte Ideen und
Gefühle allgemein verbreitet. Dort besagt " ein beliebtes Lied ,
dass der Belutsche , welcher stiehlt und mordet, sieben Genera
tionen seiner Vorfahren den Himmel erwirbt . "
In unserm Welttheile findet die Verurtheilung der Unwahr
haftigkeit einen starken Ausdruck, und zwar bei gebildeten und
niedriger stehenden Classen. In vielen Theilen der Welt ist dies
aber nicht der Fall. In Blantyre ist es beispielsweise nach
MACDONALD 97 eher ein Compliment , ein Lügner genannt zu werden . "
Die in England verbreitete Stimmung ist die, dass auch der
blosse Verdacht einer Unenthaltsamkeit seitens einer Frau ge
nügt , ihr Leben mit einem Makel zu versehen ; es giebt aber
Völker, deren Empfindungen keine derartige Verurtheilung ver
anlassen , und in manchen Fällen wird sogar das Entgegen
gesetzte hervorgerufen : „ bei den Wotjäken ist Unkeuschheit
eine Tugend . "
Es finden sich sonach in Bezug auf alle Ausschlag gebenden
Gebiete des menschlichen Betragens bei verschiedenen Menschen
rassen und auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der näm
lichen Rassen einander entgegengesetzte Glaubensansichten und
einander widersprechende Empfindungen .

§. 191 .
Ich war wohl im Begriffe zu sagen , dass die in den vor
ausgehenden Capiteln mitgetheilten und in den vorstehenden
Paragraphen in einen Brennpunkt zusammengezogenen Beweise
ein für allemal den Glauben an einen moralischen Sinn, wie ein
solcher gewöhnlich angenommen wird , zerstören müssten. Aber
488 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIV.

eine lange Erfahrung hindert mich daran, das zu erwarten . Bei


den Menschen im Grossen und Ganzen lassen sich ein Leben
lang gehegte Überzeugungen weder durch zwingende Beweis
gründe, noch durch eine grosse Menge von Thatsachen zerstören.
Nur bei denjenigen , welche nicht durch ihren Glauben oder
durch eine liebgewonnene Theorie zur Annahme der Hypothese
von einer übernatürlich erschaffenen Menschheit verbunden sind,
wird das Zeugnismaterial beweisen, dass der menschliche Geist
kein ihm ursprünglich eingepflanztes Gewissen besitzt. Obschon
ich früher, wie aus meinem ersten Werke, 99 Social Statics " , her
vorgeht, der Lehre der intuitiven Moralisten (und zwar anfangs
vollständig , in späteren Capiteln indessen mit einigen still
schweigend angenommenen Beschränkungen) gefolgt bin , so ist
es mir doch allmählich klar geworden , dass die erforderlichen
Einschränkungen die Lehre , so wie sie von jenen vorgetragen
wird, praktisch genommen beseitigen . Es ist mir klar geworden,
dass es unmöglich ist anzunehmen , die Menschen besässen alle
gemeinsam eine eingeborne Auffassung von Recht und Unrecht,
wenn bei uns der allgemein geltende Glaube der ist , dass ein
Mensch , welcher einen Raub begeht und es nicht bereut , auf
ewig verdammt sein wird , während ein anerkanntes Sprichwort
bei den Belutschen lautet : „ Gott wird nicht einem Menschen
seine Gunst schenken, der nicht stiehlt und raubt. "
Während es sich aber uns gezeigt hat, dass die Lehre von
dem moralischen Gefühl in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht
richtig ist, hat es sich uns nun auch gezeigt, dass dieselbe eine
Wahrheit und zwar eine viel höhere Wahrheit verdunkelt . Denn
die in den einzelnen auf einander folgenden Capiteln aufgeführten
Thatsachen liefern vereinigt den Beweis, dass die in einer jeden
Gesellschaft anerkannten Empfindungen und Ideen den in ihr
vorherrschend ausgeübten Formen der Thätigkeitsäusserungen
angepasst werden . Ein Leben beständiger äusserer Feindselig
keit bringt ein Gesetzbuch hervor , in welchem Angriff , Er
oberung, Rache vorgeschrieben werden, während friedliche Be
schäftigungen verurtheilt werden . Umgekehrt ruft ein Leben
sicher begründeten inneren Wohlwollens ein Gesetzbuch her
vor , welches die zu harmonischem Zusammenwirken führenden
Tugenden vorschreibt, - Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftig
keit, Rücksicht auf die Ansprüche Anderer. Die Schlussfolgerung
§. 191 . Zusammenfassung der Inductionen . 489

ist eben die, dass, wenn das Leben inneren Wohlwollens Genera
tion auf Generation ununterbrochen fortbesteht , als Resultat
nicht bloss das entsprechende Gesetzbuch , sondern auch die
entsprechende Art der gemüthlichen Erregungen --- ein den
moralischen Erfordernissen entsprechendes moralisches Gefühl
hervorgehen muss . Menschen in diesen Umständen werden bis
zu den für vollständige Leitung nothwendigem Grade jenes ein
geborne Gewissen erlangen , von welchem die intuitiven Mora
listen irrthümlicherweise annehmen , dass es die Menschheit im
Allgemeinen besitzt . Es bedarf nur der Fortdauer absoluten
Friedens äusserlich und eines rigorösen Innehaltens eines An
griffe vermeidenden Lebens innerhalb der Gesellschaft , um den
Menschen in eine naturgemäss durch alle Tugenden charakte
risierte Gestalt zu bringen .
Diese allgemeine Induction wird wiederum durch eine spe
cielle Induction bestätigt. Als bald diesen erhabenen Zug der
Natur entfaltend, bald jenen darbietend , habe ich als Beispiele
jene verschiedenen uncivilisierten Völker angeführt, welche , ob
gleich sie in andern Beziehungen unter uns stehen, uns moralisch
überlegen sind, und habe hervorgehoben, dass sie sämmtlich frei
von Feindseligkeit innerhalb der einzelnen Stämme sind. Die
Völkerschaften , welche diesen Zusammenhang zeigen , gehören
verschiedenen Rassen an. In den Bergen von Indien finden wir
einige, welche ihrem Ursprunge nach Mongolen , Kolaren , Dra
vidier sind ; in den Wäldern von Malacca , Burma und in ab
geschlossenen Theilen von China existieren derartige Stämme
von noch anderer Abkunft ; im Ostindischen Archipel giebt es
einige , welche zu dem Stamme der Papuas gehören ; in Japan
leben die friedfertigen Ainos , bei denen „ keine Überlieferung
von tödtlichen Kämpfen besteht" ; und in Nord- Mexico existiert
noch ein anderes solches Volk , welches mit den übrigen nicht
verwandt ist , die Pueblos. Man könnte sich keinen entschei
denderen Beweis als den von diesen isolierten Gruppen von
Menschen erbrachten wünschen , welche in ihren Wohnorten
weit von einander getrennt und der Rasse nach von einander
verschieden, in den zwei Beziehungen gleich sind , dass die Um
stände sie lange Zeit von Kriegen frei gelassen haben und dass
sie jetzt von Natur gut sind .
Die Güte , welche unter diesen Bedingungen erreicht werden
490 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIV .

kann , erregt die Verwunderung derjenigen , welche eine der


artige Güte nur als von Völkern erlangt kennen , welche sich
mit ihrer Überlegenheit brüsten . Ein Beweis hiervon ist die
Bemerkung des General FYTCHE über den Bericht Mr. O'RILEY'S
in Bezug auf die Let-htas : „ die von ihm gegebene Schilderung
ihrer Würdigung moralischer Güte und die Reinheit ihres Lebens,
im Vergleiche mit den halbcivilisierten Völkern, inmitten denen
sie wohnen, streift fast an einen Roman. "
Dürften wir nicht verständigerweise die Folgerung ziehen ,
dass der von diesen kleinen nicht cultivierten Stämmen erreichte
Zustand von den grossen cultivierten Nationen erreicht werden
.
kann , wenn das Leben innerer Freundlichkeit nicht mehr durch
ein Leben äusserer Feindschaft Einschränkung erleidet ?

§. 192.
Dass die In- Betracht-nahme einer solchen Eventualität für
Alle angenehm sein wird, vermuthe ich nicht . Für die Vielen,
welche , im Osten lebend , stillschweigend annehmen , dass die
Indier nur zum Vortheil der Anglo- Indier leben , wird dieselbe
kein Vergnügen bereiten. Ein derartiger Zustand wird wahr
scheinlich denen unerwünscht scheinen , welche sich dazu an
werben lassen , andere Menschen auf Befehl niederzuschiessen ,
ohne nach der Gerechtigkeit ihres Vorgehens zu fragen , und
die sich durch einen Befehl aus der Downing Street für von
Schuld freigesprochen halten. Gleich wie unter den Anthropo
phagen die Unterdrückung der Menschenfresserei nicht günstig
angesehen wird , so verursacht bei sociophagen Nationen wie
der unserigen eine Betrachtung des Aufhörens von Eroberungen
nicht viel Vergnügen . Keine starke Sehnsucht nach einem solchen
Zustand kann unser den Oberbefehl führender General fühlen,
welcher sagt , dass die Pflichten eines Soldaten „ die edelsten
sind, die das Geschick einem Menschen auflegen können " , und
dessen Motto ist : " der Mensch ist ein Wolf seinen Mitmenschen
gegenüber. "
Über diese Aussicht werden sich auch , so wunderbar dies
auch klingen mag , diejenigen nicht freudig angeregt fühlen,
welche " Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen “
predigen ; denn die Aussicht eröffnet sich nicht in Verbindung
mit ihrem Glauben . Die Annahme , dass die Menschheit nur
g
§. 192 . Zusammenfassun der Inductionen. 491

durch die Annahme des christlichen Ideals gerecht werden kann ,


ist mit der Schlussfolgerung unverträglich, dass die Menschheit
durch die beständige Zucht friedfertigen Zusammenwirkens in
eine ideale Form gebracht werden kann . Unsern Theologen
scheint die Lehre bei weitem besser zu sein, dass der Mensch, im
Grunde schlecht , nur durch die Versprechungen des Himmels und
die Furcht vor der Hölle gut gemacht werden kann , als die
andere Lehre , dass der Mensch , von Grunde aus nicht böse,
unter Bedingungen , welche die edleren Gefühle anregen und
den niedrigen keinen Raum lassen , gut werden wird . That
sachen , welche dem Anscheine nach beweisen , dass die nicht
christianisierte menschliche Natur unheilbar sündhaft ist , ge
währen ihnen Befriedigung , als zur Rechtfertigung ihrer Religion
dienend , und Zeugnisse , welche zum Beweise des Gegentheils
führen , widerstreben ihnen , da sie zeigen , dass ihre Religion
falsch ist.
Es ist aber durchaus nicht ausgemacht , dass ihre Stellung
etwa zu bedauern wäre ; denn es muss eine Übereinstimmung
zwischen dem herrschenden Culturzustand und der socialen Stel
lung und der durchschnittlichen Natur aufrecht erhalten werden .
Wenn irgend Jemand sagt, dass die ländergierigen Nationen von
Europa in ihrem täglichen Leben nicht von einem ethischen Ge
fühl regiert werden können , sondern dass ihnen ein solches durch
die Furcht vor der Verdammnis aufgenöthigt werden muss , SO
bin ich nicht darauf vorbereitet, ihm zu widersprechen. Wenn
ein Schriftsteller, welcher nach der Meinung derjenigen, welche
es wissen können , die Natur der Herren , welche wir in fremde
Länder schicken , richtig schildert , von einem derselben voller
Sympathie beschreibt, wie er seinen Soldaten , welche die für ihre
Unabhängigkeit kämpfenden Stämme niederschiessen , zuruft :
„ Schickt sie zur Hölle , Leute , " so glaube ich wohl , dass die
jenigen möglicherweise Recht haben , welche behaupten , solche
Naturen könnten nur durch die Furcht vor einem Gott in
Ordnung gehalten werden , welcher sie " zur Hölle schickt “ ,
wenn sie sich schlecht betragen . Ich gebe zu , es ist eine
haltbare Annahme , dass der Glaube an eine Gottheit , welche
ruhig zusieht , wenn Myriaden seiner Geschöpfe ewige Qualen
erdulden, passenderweise während des Zustandes der Welt be
stehen bleiben mag , auf welchem nackte Barbaren und Bar
SPENCER, Principien der Ethik. I. 32
492 Die Inductionen der Ethik. Cap. XIV .

baren in Fellen von Barbaren in guten Zeugkleidern nieder


geworfen werden .
Den Wenigen aber , welche nach einem Rückblick auf die
Umwandlungen , deren Zeugen vergangene Jahrtausende ge
wesen sind , vorwärts blicken auf gleichartige Umwandlungen.
welche , wie zu erwarten ist , künftige Jahrtausende mit sich
bringen werden , wird es Befriedigung gewähren , sich eine
Menschheit vorzustellen , welche sich in dem Maasse einem har
monischen socialen Leben angepasst hat , dass alle Bedürfnisse
des Lebens freiwillig und mit Freuden von einem Jeden ohne
Schädigung Anderer befriedigt werden.
III. Theil .

Die Ethik des individuellen Lebens .

32*
I. Capitel .

Einleitung.

§. 193.
Die vorausgehenden vierzehn Capitel haben gezeigt , dass
ethische Empfindungen und Ideen an einem jeden Orte und zu
jeder Zeit durch die örtliche Form der menschlichen Natur, die
socialen Antecedentien und die umgebenden Verhältnisse bestimmt
werden. Hieraus entsteht nun die Frage : Wie werden wir von
allem dem, was besonders und zeitweilig ist, das scheiden, was
allgemein und beständig ist ?
Es ist uns gezeigt worden , wenn nicht ausgesprochen , so
doch stillschweigend, dass selbst die Sprache, welche beim Er
örtern moralischer Fragen im Gebrauche ist , die allgemein
verbreiteten Annahmen so vollständig enthält, dass die Menschen
kaum im Stande sind, von ihnen losgelöst zu denken . „ Pflicht "
und „ Verbundensein " enthalten beispielsweise den Gedanken an
Gehorsam , Unterordnung , Unterwerfung unter eine Autorität,
und lassen stillschweigend folgern , dass rechtes und unrechtes
Betragen dies nicht sind in Folge ihres inneren Wesens, sondern
zu solchen werden durch ihre von aussen herantretenden Vor
schriften. Wie können wir uns von dem Einflusse des beson
deren Gesetzbuches , unter welchem wir erzogen worden sind,
und der irreführenden Ausdrucksweise unserer Bezeichnungen
befreien ?
Offenbar müssen wir eine Zeit lang angenommene Lehren
und Ausdrucksweisen unbeachtet lassen. Wir müssen direct zu
den Thatsachen gehen und sie von Neuem untersuchen, entfernt
von allen vorgefassten Meinungen. Ich will damit nicht sagen,
496 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. I.

dass die alten Ideen und die alten Wörter verworfen werden
sollen ; das soll bei weitem nicht geschehen . Wir werden sehen,
dass der grössere Theil derselben ganz gerechtfertigt und wieder
aufzunehmen ist : in einigen Fällen mit verstärkter Autorität und
in andern Fällen mit mehr oder weniger Einschränkung.
Ethische Ideen und Empfindungen sind als Theile der Lebens
erscheinungen im Ganzen zu betrachten . Wir haben es zu thun
mit dem Menschen als einem Product der Entwicklung , mit
der Gesellschaft als einem Product der Entwicklung und mit
den moralischen Erscheinungen als Producten der Entwicklung.
Niemand braucht um einen etwaigen Verlust von Autorität be
sorgt zu sein. Anstatt zu finden , dass eine evolutionistische
Ethik niedrigeren Formen des Betragens als denjenigen , welche
gegenwärtig vorgeschrieben werden , Vorschub leistet , werden
wir im Gegentheile finden , dass eine evolutionistische Ethik
mit vielem von dem , was nach der Meinung der sich zum Be
sitze des höchsten Führers Bekennenden für unschuldig oder zu
rechtfertigen zu halten ist, unvereinbar ist .

§. 194.
Da Vervollkommnung der hauptsächliche Vorgang der Ent
wicklung ist, so dürfen wir erwarten , dass der Inbegriff der die
Ethik bildenden Vorstellungen zu derselben Zeit, in welcher die
einzelnen Theilbegriffe ungleichartig werden , an Bestimmtheit
und an jener Art von Zusammenhang gewinnt , welche eine
systematische Ordnung ihnen giebt. Als diese Erwartung er
füllend wollen wir zuerst hervorheben , dass während jene Vor
stellungsreihe zahlreiche Handlungen der Menschen gegen ein
ander in ihren Beurtheilungskreis einbezieht , welche anfänglich
nicht als recht oder unrecht anerkannt werden , sie schliesslich
auch die verschiedenen einzelnen Seiten des privaten Verhaltens
-
in jenen Kreis aufnimmt, jene Handlungen jedes Individuums,
welche in directer Weise nur es allein betreffen und welche
nur in entfernter Weise seine Mitmenschen betreffen.
Von nahezu allen diesen Handlungen wird gewöhnlich an
genommen, dass sie jenseits der Vorschriften der Ethik liegen :
nicht bloss jene vielfachen , welche gleichgültig sind und , wie
unsere körperlichen Bewegungen von Minute zu Minute, ebenso
gut in dieser wie in einer andern Weise vorgenommen werden
§. 195. Einleitung . 497

können , sondern auch jene zahlreichen , welche dem eigenen


Selbst Gutes oder Schlimmes bringen. Eine Theorie aber von
Recht und Unrecht , welche von neun Zehnteln des Verhaltens,
mit welchem das Leben weitergeführt wird , keine Kenntnis
nimmt, ist eine Thorheit. Entweder das Leben im Allgemeinen
ist ein Desiderat oder es ist dies nicht. Wenn es ein Desiderat
ist, dann sind alle jene Arten des Betragens , welche zu einer
vollkommenen Form desselben hinführen , moralisch gutzuheissen .
Wenn das Leben im Gegentheile kein Desiderat ist, dann fällt
der Gegenstand fort : das Leben brauchte gar nicht erhalten zu
werden und alle seine Erhaltung betreffenden Fragen , mit Ein
schluss der Ethik, verschwinden . Nach der gewöhnlichen Auf
fassung besteht die Ethik allein aus Verboten von gewissen
Arten von Handlungen , welche die Menschen gerne ausführen
möchten, und von Vorschriften, gewisse Handlungen auszuführen ,
welche sie nicht gern ausführen möchten. Sie sagt nichts aus
über die grosse Masse von Handlungen , welche das normale
Leben darstellen, genau so als wären diese weder gerechtfertigt
noch ungerechtfertigt . Traditionelle Empfindungen und Aus
drücke haben einen solchen Einfluss , dass die Mehrzahl der
Leser selbst jetzt noch nicht im Stande sein wird zu begreifen ,
dass es eine ethische Rechtfertigung für das Streben nach posi
tiven Annehmlichkeiten geben kann.
Ein solches privates Verhalten , welches in der Richtung
sinnlicher Excesse Fehler begeht, wie Trunkenheit, nehmen sie
allerdings als der ethischen Beurtheilung und daraus folgender
Verurtheilung unterliegend auf: der Grund für die Verurtheilung
ist die wahrgenommene Schädigung, ursprünglich des Individuums
und secundär auch Anderer. Sie lassen aber die Wahrheit un
beachtet, dass , wenn eine Schädigung des Individuums in diesem
Falle einen Grund zur moralischen Missbilligung abgiebt , dann
auch ein Vortheil für das Individuum (solange damit keine un
mittelbare Schädigung Anderer oder eine entfernt liegende Schä
digung des Individuums verbunden ist) ein Grund für moralische
Gutheissung ist.

§. 195 .
Obgleich der Mensch hoch über den andern Geschöpfen
steht, so bleibt er doch in Gemeinschaft mit ihnen den Gesetzen
498 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. I.

des Lebens unterworfen ; und Erfordernis für ihn ist , wie für
jene , Übereinstimmung mit diesen Gesetzen . Für ihn ist , wie
für jedes andere lebende Wesen Selbsterhaltung das zuerst Ge
forderte ; es wird demnach ohne Selbsterhaltung die Erfüllung
aller andern Verbindlichkeiten , altruistischer ebensogut wie
egoistischer, unmöglich.
Selbsterhaltung wird aber nur durch Ausführung von Hand
lungen vollzogen , welche durch Begierden angeregt werden . Es
muss daher die Befriedigung dieser Begierden vorgeschrieben
werden , wenn das Leben erhalten werden soll . Dass dies mit
den Empfindungen der Fall ist , welche zum Athmen , Essen,
Trinken und zur Vermeidung extremer Temperaturen veranlassen,
bedarf keines Beweises : Schmerz und Tod sind das Resultat des
Ungehorsams und Vergnügen das Resultat des Gehorsams . Und
wie das Empfinden einer jeden unserer primären Freuden direct
die Lebensthätigkeit fördert , so fördert das Empfinden einer
jeden unserer secundären Freuden dieselbe indirect.
Unzweifelhaft giebt es daher einen Abschnitt der Ethik,
welcher die Gutheissung aller normalen Thätigkeiten des indi
viduellen Lebens ausspricht, während er die abnormen verbietet .
Diese allgemeinste Ansicht gleichzeitig evolutionistisch und
hedonistisch steht mit mehreren specielleren Ansichten in Über
einstimmung .

§. 196 .
Wie in der Vorrede hervorgehoben worden ist, wird auf die
Mehrzahl der Geister eine unheilvolle Wirkung dadurch hervor
gebracht , dass die Ethik als ein strenger Mahner dargestellt wird,
welcher gewisse Arten von Freuden verklagt, während er Ver
gnügungen anderer Arten keine Unterstützung gewährt . Wenn
sie auch nicht offen heraus behauptet, dass alle Befriedigungen
ungehörig sind , so macht sie doch dadurch , dass sie eine An
zahl derselben verbietet und von den übrigen nichts sagt , den
Eindruck, dass die übrigen, wenn sie nicht zu verdammen sind,
doch nicht zu billigen sind. Durch diese einseitige Behandlung
des Betragens entfremdet sie sich eine Menge Menschen , welche
andernfalls ihre Lehre annehmen würden .
Wird angenommen, dass allgemeine Glückseligkeit das Ziel
ist (denn wenn Gleichgültigkeit oder Elend das Ziel wäre , so
§. 196. Einleitung . 499

würde Nichtexistenz vorzuziehen sein) , dann ist die stillschwei


gende Folgerung die , dass das Glück einer jeden Einheit ein
passendes Ziel ist ; und eine weitere sich daraus ergebende Fol
gerung ist, dass für ein jedes Individuum, als eine Einheit, sein
eigenes Glück ein entsprechendes Ziel ist . An und in sich er
fahrene Glückseligkeit fügt dem gesammten Betrag an Glück
ebenso viel hinzu wie die von einem Andern in sich erfahrene ; und
wenn das Glück nicht für das eigene Selbst erstrebt werden sollte,
warum sollte es für irgend Jemand anderes erstrebt werden ?
Wenn die Gesammtsumme des Glücks dadurch grösser gemacht
werden könnte, dass ein Jeder das Glück eines Andern erstrebte,
während sein eigenes Glück für ihn von Andern erstrebt würde,
so könnte Etwas zu Gunsten der Theorie des absoluten Altruis
mus gesagt werden. An erster Stelle aber ist der grössere Theil
des für jeden Einzelnen möglichen vergnüglichen Bewusstseins
nur von ihm selbst zu erlangen, - ist ein gewisse Thätigkeits
äusserungen begleitendes Bewusstsein und kann ohne diese nicht
bestehen. Und selbst, wenn an zweiter Stelle es anders wäre,
so würde ein Verlust eintreten, wenn ein Jeder nur das Glück
Anderer erstreben wollte . Denn weil nämlich ein Jeder von
den Andern das Gleiche thun müsste , so würde der gleiche
Betrag an Bemühung in Verbindung mit einem weiteren Betrag
von Bemühung , wie ein solcher den sich einander kreuzenden
Bestrebungen anschliessenden Missverständnissen nothwendig
folgen würde, erfordert werden . Stellt man sich vor, A ernähre
B, während B den A ernähre, und so fort mit C , D u . s . w. , so
würde anstatt einer Zunahme der Annehmlichkeit eine Abnahme
derselben eintreten . Dasselbe würde bei der Mehrzahl anderer
zu befriedigender Bedürfnisse der Fall sein . Wie bereits im
Anfang (§§. 82, 91 ) gezeigt worden ist, ist ein System der Ethik,
welches auf Altruismus besteht · und den Egoismus unbeachtet
lässt, selbstmörderisch.
Ein solches System ist, wenn der Ausdruck gestattet wäre,
doppelt selbstmörderisch ; denn während seine unmittelbare Wirk
samkeit Schaden stiftete, müsste seine entferntere Wirksamkeit
noch schädlicher sein . Ein Verlust an der Fähigkeit, Glück zu
empfinden , muss die auf Alle sich erstreckende Wirkung sein.
Denn viele unserer Freuden sind ursprünglich mit der Ausübung
von Functionen verknüpft, welche für die körperliche Wohlfahrt
500 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. I.

nothwendig sind ; und ein Nichtempfinden derselben bedingt einen


niedrigeren Zustand des Lebens, eine verminderte Kraft und eine
verminderte Fähigkeit alle Pflichten zu erfüllen.

§. 197.
Eine sich ferner ergebende , beinahe ganz allgemein un
beachtet gelassene Folgerung muss hier nochmals ausdrücklich
hervorgehoben werden . Bereits im 71. Paragraphen habe ich die
Aufmerksamkeit auf die offenkundige Wahrheit gelenkt , dass
das Individuum nicht allein bei der Sache in Betracht kommt,
sondern dass alle seine Nachkommen daran betheiligt sind.
Aus der gänzlichen Nichtbeachtung dieser Wahrheit erkennen
wir noch deutlicher als gewöhnlich, wie tief der durchschnittliche
Verstand steht. Wenn ich auf dem Festlande beobachtete , wie
die Frauen mit nicht beschatteten Gesichtern, um das blendende
Sonnenlicht abzuhalten genöthigt sind , ihre Augen halb zu
schliessen , die Augenwinkel in Falten in die Höhe zu ziehen
und auf diese Weise in Folge der täglichen Wiederholung einige
zehn oder zwanzig Jahre früher als nothwendig wäre Krähen
füsse bekommen , so habe ich es manchmal für erstaunlich ge
halten, dass diese Frauen , obschon sie ängstlich darauf bedacht
sind, sich ihre Schönheit zu erhalten, doch nicht im Stande ge
wesen sein sollten, ein so einfaches Verhältnis zwischen Ursache
und Wirkung zu erkennen. Man dürfte aber annehmen , dass
ein Beispiel selbst noch extremerer Dummheit (wenn man den
Ausdruck durchgehen lassen will) von der Unfähigkeit der Leute
dargeboten wird , einzusehen , dass Missachtung ihrer selbst Miss
achtung der Nachkommenschaft einschliesst . Es giebt zweierlei
Wege, auf denen dies geschieht.
Unfähigkeit in angemessener Weise für die Nachkommen.
zu sorgen, ist die eine üble Folge . Ohne körperliche Wohlfahrt
bei den Eltern kann es keine erfolgreiche Erhaltung der Kinder
geben ; und wenn die Rasse erhalten werden soll , dann wird
die Sorge für das eigene Selbst mit dem Hinblick auf die Sorge
für die Nachkommen zur Verpflichtung. Dieser normale Egois
mus muss ein derartiger sein , wie er nicht bloss die Fortführung
des Lebens zum Resultat hat , sondern jenes kraftvollen Lebens,
welches Thatkraft verleiht. Auch wird die gehörige Sorge für
das Individuum selbst nicht bloss gefordert , weil die Pflichten
§. 197. Einleitung . 501

des Brodverdienens anders nicht erfüllt werden können ; sie wird


auch gefordert durch die Rücksicht auf erzieherische Pflichten.
Kränklichkeit bringt Reizbarkeit und Niedergeschlagenheit mit
sich , macht für das richtige Benehmen gegen die Kinder unfähig
und schädigt sie für ihr ganzes Leben durch Verbitterung ihrer
Stimmung und durch Ertödtung ihrer Sympathien .
Die Wohlfahrt der Nachkommen ist indessen auf eine noch
innigere Weise mit der Wohlfahrt des individuellen Selbst ver
bunden. Gute oder schlechte Behandlung seines oder ihres
Körpers durch eine jede Person , beeinflusst die Constitutionen
seiner oder ihrer Nachkommen nach der guten oder schlechten
Seite. Wenn man nicht der Meinung ist, dass starke und robuste
Menschen von verbutteten und ungesunden Eltern erwartet
werden können, oder dass hohe Intelligenz und edler Charakter
mit Wahrscheinlichkeit von einfältigen und verbrecherischen
Vätern und Müttern ererbt werden können , so muss zugegeben
werden, dass eine jede Behandlung des eigenen Selbst , welche
die körperliche oder geistige Entwicklung fördert, dahin strebt,
die nächste Generation vortheilhaft zu beeinflussen (ich sage
„ strebt" , weil es in Folge des Atavismus complicierende Ein
flüsse giebt) , und dass eine jede Behandlung des Individuum.
selbst , welche die körperliche Gesundheit untergräbt oder die
Seele, nach der Seite des Intellects oder des Gemüths , schädigt ,
dahin strebt, die Natur der nächsten Generation zu erniedrigen .
Während aber die Menschen täglich Bemerkungen machen über
die Ähnlichkeiten der Kinder mit den Eltern und die Vererbung
dieses oder jenes Fehlers am Geiste oder Körper beachten, lassen
doch ihre Beurtheilungen des Betragens die nahe liegende Fol
gerung unbeachtet. Sie sind nicht im Stande , den Schluss zu
ziehen , dass , wenn die Constitution vererbt wird , die Hand
lungen, welche die Constitution schädigen oder verbessern , den
körperlichen und geistigen Charakter der Kinder und der Kindes
kinder zum Guten oder zum Üblen beeinflussen.
In gewissen extremen Fällen ist allerdings eine deutliche
Anerkennung der aus den Vergehen der Eltern herrührenden
Schäden vorhanden. Obgleich von einer Verdammung derjenigen ,
welche erworbene Krankheiten auf ihre Kinder vererbt haben,
nicht häufig zu hören ist , so ist doch nicht daran zu zweifeln ,
dass sie stark empfunden wird . Wahrscheinlich werden die
502 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. L

Meisten darin übereinstimmen , dass , wenn die Grösse des zu


gefügten Leidens als Maassstab angewendet wird, der Mord ein
geringeres Verbrechen ist, als den Nachkommen erblich belastete
Constitutionen und daraus folgend lebenslanges Elend zu geben.
Aber selbst in ihrer crassesten Form wird von denen, die sich
versündigt haben, über die Sünde selbst nur leicht gedacht . Es
giebt allerdings verwandte Fälle, in welchen das Gefühl der Ver
anwortlichkeit zuweilen als Abschreckungsmittel dient , - Fälle
zum Beispiel, wo die Kenntnis von dem Vorhandensein von Geistes
krankheit in der Familie Ursache zur Entsagung einer Verheirathung
wird. Wo indessen die Schwächen oder Krankheiten oder Fehler,
welche sie wahrscheinlich überliefern , von einer weniger in die
Augen fallenden Art sind, sind die Menschen in leichtsinniger Weise
bereit, unberechenbares Übel ihren Nachkommen zu bereiten.
In einer verwandten Beziehung ist das Bewusstsein der
Verantwortlichkeit noch geringer. Die Wahrheit wird nicht an
erkannt, dass ein derartig anhaltender Missbrauch des Körpers
oder Geistes , dass diese dadurch geschädigt werden , auch eine
Benachtheiligung der Nachkommen enthält ; und in Folge dessen
wird auch die Wahrheit nicht erkannt, dass es eine Pflicht ist,
das Leben so zu führen , dass alle Theile des Systems in nor
malem Zustande erhalten werden.
Diese weiteren Gründe für gehörige Sorge um das eigene
Selbst müssen nachdrücklich hervorgehoben werden . Eines jeden
Menschen Gesundheit sollte von *ihm wie ein in Erbe über
kommenes Gut angesehen werden, welches er verbunden ist , in
einem so guten , wie er es erhalten hat, wenn nicht noch besserem
Zustande weiter zu geben.

§. 198.
Ausser diesem speciellen Altruismus, welcher einen normalen
Egoismus gebieterisch macht , giebt es noch einen allgemeinen
Altruismus , welcher letzteren in gewissem Maasse obligatorisch
macht. Die Verbindlichkeit dazu hat beides , eine negative und
eine positive Seite .
So viel Sorge um sich selbst wie nöthig ist , die Gefahr
auszuschliessen Andere zu belästigen , ist eine Folge einer ge
hörigen Rücksichtnahme auf Andere . Wenn wir von jenen rohen
Gruppen , in welchen die Menschen ein so unabhängiges Leben
§. 199 . Thätigkeit . 503

führen, dass sie einzeln die vollen Resultate ihres eigenen Ver
haltens auf sich nehmen , zu weiter entwickelten Nationen
kommen, so werden die Mitmenschen immer mehr und mehr in
unsere Handlungen verwickelt. Unter einem mit Austausch von
Diensten durchgeführten socialen Systeme sind diejenigen , welchen
ungehöriges Selbstaufopfern Arbeitsunfähigkeit gebracht hat, ge
wöhnlich genöthigt , Contracte theilweise oder ganz zu brechen
und auf diese Weise Übel zuzufügen ; und dann legt jede solche
Unfähigkeit, sofern sie das Brodverdienen aufhebt , gewöhnlich,
zuerst auf Verwandte und dann auf Freunde, oder weiter noch
auf das Publicum eine Steuer , welche wieder eine Extraarbeit
erfordert. Jedermann ist daher verbunden , jene gedankenlose
Selbstlosigkeit zu vermeiden, welche leicht dazu führt, Übel über
Andere zu bringen, ―― Übel , welche häufig grösser sind als die
aus vollständiger Selbstsucht hervorgehenden.
Die hier als von positiver Art angeführte altruistische Recht
fertigung des Egoismus folgt erstens aus der Verbindlichkeit, ein
gewisses Bemühen zur Wohlfahrt besonderer Personen oder zur
Wohlfahrt der Gesellschaft aufzuwenden, - einer Verpflichtung,
welche nicht gehörig erfüllt werden kann, wenn die Gesundheit
untergraben worden ist. Und sie folgt zweitens aus der Verpflich
tung, so weit es die ererbte Natur zulässt, eine Quelle socialer
Freude für die Menschen um uns herum zu werden : um dies Er
fordernis zu erfüllen muss gewöhnlich ein solcher Strom geistiger
Energie vorhanden sein , wie ihn ein invalider Mensch nicht unter
halten kann .

II. Capitel.

Thätigkeit .

§. 199.
In einer systematischen Abhandlung ist die ausdrückliche
Wiedergabe gewisser Gemeinplätze unvermeidlich . Einer zu
sammenhängenden Reihe geometrischer Theoreme müssen bei
spielsweise, selbstverständliche Lehrsätze vorausgeschickt werden .
Dies muss die Entschuldigung dafür sein , dass ich hier gewisse
Allen geläufige Wahrheiten zur Sprache bringe .
Das neugeborne Kind bewegt zuerst seine kleinen Glied
504 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. II.

maassen nur schwach umher ; nach und nach kriecht das Kind
auf dem Fussboden ; bald geht es , und nach einiger Zeit läuft
es. Wie es sich weiter entwickelt , äussern sich seine Hand
lungen in Spielen , Wettläufen , langen Spaziergängen : das Maass
seiner Ausflüge dehnt sich allmählich weiter aus in dem Maasse,
wie es sich dem erwachsenen Leben nähert . Die Mannheit bringt
die Fähigkeit mit sich, Touren und Entdeckungsexpeditionen aus
zuführen, mit Einschluss von Reisen von Continent zu Continent
und gelegentlich um die Erde. Wenn das mittlere Lebensalter
überschritten ist und die Lebenskraft abzunehmen beginnt, werden
diese extremen Thätigkeitsäusserungen seltener. Reisen werden
abgekürzt , und bald erstrecken sie sich nicht weiter als bis zu
Besuchen auf dem Lande oder an die Meeresküste . Wenn das
hohe Alter vorschreitet , werden die Bewegungen auf das Dorf
und die umgebenden Felder beschränkt, später auf den Garten,
noch später auf das Haus , bald nur auf das Zimmer , endlich
auf das Bett ; und zuletzt, wenn die allmählich abnehmende Kraft,
sich umher zu bewegen, ganz aufgehört hat , kommen auch die
Bewegungen der Lungen und des Herzens zu Ende. Betrachtet
man das Leben als ein Ganzes, so stellt es sich dar in der Ge
stalt von Bewegungen, welche schwach beginnen , allmählich bis
zur Reife zunehmen , dann culminieren und abnehmen, bis sie so
schwach enden wie sie begonnen haben .
Leben ist hiernach Thätigkeit ; und das vollständige Aufhören
der Thätigkeit ist Tod . Hieraus entsteht die allgemeine Folgerung.
dass, weil das am höchsten entwickelte Benehmen dasjenige ist.
welches das vollkommenste Leben ausführt , Thätigkeit eine ethische
Gutheissung und Unthätigkeit eine ethische Verurtheilung erfährt.
Dies ist eine allgemein angenommene Schlussfolgerung , welche
keiner weiteren Bestätigung bedarf. Selbst von denjenigen,
welche gewohnheitsgemäss nützlichen Thätigkeiten aus dem
Wege gehen , wird eine Missbilligung der Glieder ihrer Classe
ausgesprochen, welche zu träge sind, selbst sich zu amüsieren :
absolute Faulheit erregt den Unwillen Aller.

§. 200.
Die Art der Thätigkeit, mit welcher wir es hier hauptsäch
lich zu thun haben , ist die an erster Stelle auf die Selbsterhal
tung und secundär auf die Erhaltung der Familie gerichtete.
§. 200. Thätigkeit . 505

In dem Laufe der Natur macht sich das Gebieterische einer


solchen Thätigkeit wirksam selbst geltend . Bei allen unter dem
Menschen stehenden Geschöpfen (mit Ausnahme der meisten
Schmarotzer) sterben die Individuen , welchen sie abgeht , und
nach ihnen ihre Nachkommen , wenn sie überhaupt solche haben.
Nur diejenigen bleiben leben , welche in angemessener Weise
thätig sind ; und unter derartigen wird ein gewisser Vortheil
bei der Selbsterhaltung und der Erhaltung der Nachkommen von
denjenigen erzielt, bei denen die Thätigkeit grösser als gewöhn
lich ist die eintretende allgemeine Wirkung ist die, die Thätig
keit bis zu der Grenze zu erheben, jenseits welcher der Nach
theil für die Species grösser ist als der Vortheil . Bis zu der
Zeit herauf, in welcher der Mensch zu dem gesellschaftlichen
Zustand übergieng , galt dies Gesetz für ihn ebenso wie für
die niederen Thiere ; und es galt auch noch für ihn durch die
früheren socialen Entwicklungsstufen. Ehe das Sklaven-machen
begann , konnte keine Familie dem Verhältnis zwischen Arbeit
und Lebensbedürfnissen sich entziehen . Und die ethische Gut
heissung dieses Verhältnisses in den primitiven Gesellschaften
ist aus der Thatsache zu folgern, dass extreme Ungleichheit in
der Vertheilung der Anstrengungen und Vortheile auf die beiden
Geschlechter die Erniedrigung und eventuell das Aussterben
zum Resultate haben muss .
Wenngleich im Verlaufe der socialen Entwicklung vielfache
Möglichkeiten eingetreten sind , sich der normalen Beziehung
zwischen Anstrengungen und Vortheilen zu entziehen, und zwar
so , dass nur die Vortheile ohne die Anstrengungen erreicht wurden ,
so müssen wir doch , wenn wir das vorstehend erwähnte all
gemeine Gesetz des Lebens vor Augen halten, folgern, dass diese
Fälle von Sich- entziehen je nach den Umständen eine mehr oder
weniger entschiedene Missbilligung herausfordern.
Da wir es hier direct nur mit der Ethik des individuellen
Lebens zu thun haben , so brauchen wir nicht in Betracht zu
ziehen , wie sich folgerichtig das Verhältnis zwischen dem trägen
Individuum und der Gesellschaft, in welcher es existiert, gestaltet.
Alle andern Fälle unbeachtet lassend, beschränken wir uns auf
diejenigen Fälle , in welchen ein von dem Erzeuger in anstän
diger Weise , ohne seine Kräfte übermässig anzustrengen , er
langtes Besitzthum nach seiner Vererbung dazu dient , einen
506 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. II.

Sohn in Trägheit zu erhalten : Fälle , welche keine Schädigung der


Mitbürger ohne Weiteres enthalten. Der Urtheilsspruch über jeden
derartigen Fall lautet : obgleich es möglich ist für das Indivi
duum, das Gesetz des Lebens zu erfüllen , insoweit körperliche
Thätigkeiten in Betracht kommen dadurch, dass es sich dem Sport
und der Jagd widmet, und insofern gewisse Arten geistiger Thä
tigkeiten in Betracht kommen in nutzlosen Beschäftigungen , so
fehlen doch diejenigen geistigen Thätigkeiten, intellectuelle und
gemüthliche , welche einen Theil seines Lebens als des einen
socialen Wesens bilden sollten ; und insofern wird sein Leben ein
abnormes.
§. 201.
Die uns angehende Hauptfrage ist indessen die : Welches
sind die ethischen Seiten der Arbeit, in ihren unmittelbaren Be
ziehungen zu Freude und Schmerz betrachtet ? Von dem Ge
sichtspunkte der absoluten Ethik aus sind Handlungen nur dann
recht, wenn sie ausser dem , dass sie zum künftigen Glück des
eigenen Selbst oder Anderer oder Beider hinführen , auch un
mittelbar für sich vergnüglich sind . Was müssen wir denn nun
von der nothwendigen Arbeit sagen , von welcher die meiste von
unangenehmen Gefühlen begleitet wird ?
Derartige Arbeit wird gerechtfertigt, oder vielmehr gefordert
von den Vorschriften jener relativen Ethik, welche nicht das ab
solute Rechte, sondern das geringste Unrecht in Betracht zieht.
Während des gegenwärtigen Durchgangszustandes der Mensch
heit wird die Unterwerfung unter ein so nichtvergnügliches Ge
fühl , wie es Arbeit mit sich bringt, gerechtfertigt als ein Mittel,
Gefühlen zu entgehen , welche noch weniger Vergnügen ent
halten , — ein kleinerer Schmerz wird ertragen um einen grösseren
zu vermeiden, oder um ein Vergnügen zu erlangen, oder Beides.
Der ein solches Compromiss nothwendig machende Zustand
ist der Zustand unvollkommener Anpassung an das sociale Leben.
Die Umwandlung der unregelmässigen Thätigkeiten des wilden
Menschen in die regelmässigen Thätigkeiten des civilisierten
Menschen schliesst eine Umgestaltung in sich , - ein Zurück
drängen mancher Kräfte , welche nach Thätigkeit verlangen, und
eine Überanstrengung anderer Kräfte über die Grenze des Ver
gnügen-bereitens : die Fähigkeit zu andauernder Anstrengung und
andauernder Aufmerksamkeit ist eine der besonders erforderlichen
§. 202. Thätigkeit . 507

und eine, welche gegenwärtig mangelhaft vorhanden ist. Diese


Anpassung muss durchgemacht werden , und die sie begleitenden
Leiden müssen getragen werden.
Und hier scheint ein passender Ort zu sein, mich über die
wechselnde Grösse missvergnüglicher , sich häufig bis zu posi
tivem Schmerze steigernder Empfindungen zu verbreiten, welche
mit Nothwendigkeit der Erfüllung der Verpflichtung zum Arbeiten
folgt. Die Mehrzahl der Menschen spricht von der Anstrengung ,
körperlicher oder geistiger , als wenn die Kosten derselben für
Alle die gleichen wären. Obgleich persönliche Erfahrung ihnen
den Beweis giebt , dass , wenn sie gesund und frisch sind , sie
mit Leichtigkeit eine Muskelkraft entfalten , deren Entfaltung,
wenn sie durch Krankheit hinfällig oder durch Übermüdung er
-
schöpft sind, ihnen schmerzhaft ist , obgleich sie ferner finden,
dass sie, wenn ihre geistige Energie lebendig ist, anhaltende Auf
merksamkeit für Nichts achten , zu welcher sie in geschwächtem
Zustande vollständig unfähig sind : so sehen sie doch nicht ein ,
dass diese zeitweiligen Gegensätze zwischen ihren eignen Zu
ständen parallel sind zu den beständigen Gegensätzen zwischen
den Zuständen verschiedener Personen.
Die ethische Beurtheilung muss die Thatsache in Rechnung
ziehen, dass die Anstrengung , körperliche oder geistige, welche
dem Einen leicht ist, dem Andern mühsam ist .

§. 202 .
Wir kommen nun zu einer Frage von besonderem Interesse
für uns Kann die Beschaffenheit des Menschen seinen gegen
wärtigen Lebensbedingungen so angepasst werden, dass die noth
wendige Arbeit , welche geleistet werden muss , angenehm ist ?
Eine bejahende Antwort wird den meisten Menschen un
gereimt erscheinen. Ihre Beobachtungen auf die Thatsachen
ihrer Umgebung beschränkend oder sie höchstens auf derartige
weitere Thatsachen ausdehnend , wie sie die Geschichte civili
sierter Völker darbietet , können sie nicht an die erforderliche
Änderung der Natur glauben . Solch Beweismaterial wie das,
welches im ersten Theile dieses Werkes (§§ . 63-67) beigebracht
worden ist , um zu beweisen , dass Freuden und Schmerzen in
Bezug auf die Beschaffenheit des Organismus relativ sind , und
dass kraft der unbegrenzten Modificationsfähigkeit der Con
SPENCER, Principien der Ethik. I. 33
508 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. II.

stitution ursprünglich schmerzhafte Handlungen Vergnügen be


reitend werden können, hat für sie kein Gewicht . Obgleich sie
wahrscheinlich Manchen kennen , welcher die Arbeit so liebt,
dass er nur mit Schwierigkeit von ihr zurückgehalten werden
kann , - obgleich ihnen hier und da Einer begegnet , welcher
sich beklagt , dass ein Feiertag eine langweilige Zeit sei , so
scheint es ihnen doch nicht verständlich zu sein , anzunehmen,
dass die richtige Lust zu beständiger Arbeit , welche jetzt ein
ausnahmsweiser Zug ist, ein ganz allgemeiner Zug werden könnte .
Es ist unleugbar, dass es verschiedenartige Verausgabungen
von Energie, körperlicher und geistiger, giebt, — häufig extreme
Verausgabungen, welche willig übernommen und eifrig fort
geführt werden : Zeugnis liefern die Formen des Sports und der
Jagd, und die intellectuellen Anstrengungen während des socialen
Verkehrs. In diesen Fällen ist die aufgewandte Energie häufig
bei weitem grösser als die auf die täglichen Ansprüche ver
wandte. Was macht den Unterschied aus ? In der einen Classe
von Thätigkeiten macht der Wetteifer das angenehme Bewusst
sein möglich, welches die erwiesene Leistungsfähigkeit begleitet,
und das angenehme Bewusstsein der der Leistungsfähigkeit ge
zollten Bewunderung, während in der andern Classe das Nicht
vorhandensein von Wetteifer , oder auf jeden Fall von einem
direct sichtbaren Wetteifer, das Nichtvorhandensein eines grossen
Theils dieses angenehmen Bewusstseins mit sich bringt. Nichts
destoweniger kann das , was übrig bleibt , ein machtvoller An
trieb werden , welcher fortdauernde Beschäftigung angenehm
macht. Lieblingsbeschäftigungen, Steckenpferde, geben Beweise
für diese Wahrheit . Ich kann zwei Fälle anführen , in denen
Beschäftigungen dieser Art ohne Noth so eifrig fortgesetzt werden,
dass kaum Zeit für die Mahlzeiten übrig gelassen wird. Obgleich
in diesen Fällen die Vergnügen bereitende Ausübung der Ge
schicklichkeit ein bedeutsamer Factor ist, und obgleich bei vielen
Beschäftigungen für eine solche nur geringer Raum vorhanden
ist, so dürfte doch beinahe überall die Befriedigung, welche der
Ausführung einer Leistung in der vollkommensten Weise folgt,
dazu genügen , die Leistung angenehm zu machen , wenn sie
mit jener überströmenden Energie verbunden ist , welche als
eine Begleiterin einer normal entwickelten Natur vorausgesetzt
werden muss .
§. 203. Thätigkeit. 509

§. 203.

Gelangen wir zu dem Schlusse , dass Arbeit bis zu einer


gewissen Grenze verbindlich ist, so bleibt uns noch zu betrachten
übrig , ob irgend ein Grund zu der Folgerung vorhanden ist,
dass Arbeit bis über diese Grenze gethan , das Gegentheil von
verbindlich ist. Die gegenwärtige Stufe des menschlichen Fort
schritts ist der Annahme günstig , dass je grösser die Arbeit,
desto grösser die Tugend ist ; dies ist aber eine nicht gerecht
fertigte Annahme.
Die absolute Ethik schreibt nicht mehr Arbeit vor als zur
wirksamen Selbsterhaltung, zur wirksamen Aufbringung der Nach
kommen und zur Erfüllung eines gehörigen Antheils socialer Ver
pflichtungen nothwendig ist. Wie bei den niedrigsten Geschöpfen ,
so ist auch bei den höchsten das Lebenbleiben der ursprüng
liche , durch Thätigkeitsäusserung zu erreichende Zweck ; und
obgleich , in zunehmendem Grade je höher wir steigen , Hand
lungen selbst , mit den mit ihnen verbundenen Gefühlen,
secundäre Zwecke werden , so bleiben sie doch immer secun
däre Zwecke und können nicht gerechterweise zum Schaden
des ursprünglichen , primären Zweckes in seinem ganzen Um
fange , ――――― der Durchführung eines , nicht allein seiner Länge
nach, sondern auch an Breite und Tiefe vollkommenen Lebens,
―――――― ausgeübt werden. Die hedonistische Ansicht , welche in
der evolutionistischen Auffassung enthalten ist , führt zu einer
ethischen Gutheissung jener Form des Betragens , welche im
höchsten Grade zum Glücke des eigenen Selbst und zum Glücke
Anderer beiträgt ; und es folgt hieraus , dass Arbeit , welche
die Kräfte bis über die normale Grenze in Anspruch nimmt
oder mehr als nothwendig die für andere Zwecke verwend
bare Zeit vermindert , oder Beides , keine ethische Gutheissung
erhält.
Wenn Anpassung an den socialen Zustand mit der Zeit eine
derartige Natur hervorbringen muss , dass die nothwendige Arbeit
Vergnügen bereiten wird , so ist eine begleitende Schlussfolgerung
die , dass sie nicht eine Fähigkeit zur Arbeit bis über diese
Grenze hervorbringen wird . Es wird daher Arbeit, welche diese
Grenze überschreitet , abnorm und ungehörig sein . Denn da
Arbeit unvermeidlich körperliche Kosten mit sich bringt - da
33*
1
510 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. II.

der damit verbundene Verbrauch aus dem Gesammtvorrath wieder


ersetzt werden muss, welchen die organischen Thätigkeiten liefern,
- so vermindert überflüssige Arbeit, da sie aus diesem Vorrath
mehr entnimmt als nothwendig ist , die für das Leben im All
gemeinen verwendbare Menge , -vermindert sie die Ausdehnung
oder die Intensität dieses Lebens .
Offenbar bezieht sich indessen diese Betrachtung mehr auf
jene völlig entwickelte Form des Lebens, welche die absolute Ethik
vor Augen hat, als auf die gegenwärtige Form, welche von einer
relativen Ethik geleitet werden muss. Auf unserm Übergangs
zustand mit seiner unentwickelten Fähigkeit zur Arbeit ist ein
häufiges Überschreiten der Grenze erforderlich und muss als
Begleiterscheinung der weiteren Entwicklung jener Fähigkeit
angesehen werden . Alles, was wir billigerweise sagen können,
ist , dass gegenwärtig die Grenze nicht in dem Maasse über
schritten werden sollte, dass körperliche Verkümmerung dadurch
verursacht wird , und dass sie innegehalten werden sollte , wo
kein gewichtiger Grund vorhanden ist , über sie hinauszugehen.

§. 204.
Da die Handlungen eines jeden Menschen mit den Hand
lungen Anderer auf vielfache Weise in Zusammenhang stehen,
so folgt hieraus , dass die Ethik des individuellen Lebens nicht
vollständig von der Ethik des socialen Lebens getrennt werden
kann . Ein Betragen, dessen nächst liegende Resultate rein per
sönlich sind, hat häufig secundäre Resultate , welche social sind.
Wir müssen daher in jedem Falle die Wege betrachten , auf
denen Handlungen , welche direct das eigene Selbst betreffen,
dazu gelangen, indirect Andere zu betreffen .
Im vorliegenden Falle braucht kaum erwähnt zu werden,
dass ausser jener Verpflichtung zur Arbeit , welche aus den Ge
setzen des individuellen Lebens ableitbar ist, noch eine sociale ,
dieselbe noch weiter einschärfende Verpflichtung besteht. Wenn
gleich es in einer primitiven Genossenschaft für ein Individuum
möglich ist, sämmtliche Folgen seiner Unthätigkeit auf sich selbst
zu nehmen, so wird es doch in einer fortgeschrittenen Genossen
schaft, welche aus Bürgern besteht, die der Sympathie nicht bar
sind, schwierig, das träge Individuum in voller Ausdehnung die
Folgen seiner Trägheit erdulden zu lassen , und es wird noch
205. Ruhe. 511

schwieriger, seine Nachkommen dies thun zu lassen . Selbst wenn


von den Mitbürgern entschieden werden sollte , dass die äussersten
Folgen der Trägheit getragen werden müssten , so muss diese
Entscheidung auf Kosten sympathischen Schmerzes gefasst werden.
Jedenfalls wird daher Andern ebensowohl wie dem eigenen Selbst
Übles zugefügt , und das dies Übel zufügende Betragen muss , auch
aus diesem weiteren Grunde, ethisch gemissbilligt werden.
Missbilligung , wenn schon von einer vollständig verschie
denen Art, verdient auch ein Betragen entgegengesetzter Art, -
durch das Übertreiben der Arbeit bis zu einem solchen Extrem,
dass Krankheit , Heruntergekommensein und Arbeitsunfähigkeit
verursacht wird . Denn auch durch ein solches Betragen werden
Andern Lasten und Schmerzen auferlegt .
Es verbinden sich also altruistische Motive mit egoistischen
Motiven dazu , zur Arbeit bis zu einer bestimmten Grenze, aber
nicht über diese Grenze hinaus anzuregen.

III . Capitel.

Ruhe .

§. 205 .
Obgleich die von der Ethik vorgeschriebene Beschränkung
der lebenerhaltenden Thätigkeiten, wie sie gegen Ende des letzten
Capitels speciell dargestellt wurde, dem Anscheine nach die Fol
gerung enthält, dass Ruhe ethisch vorgeschrieben ist, und sie in
hohem Maasse auch wirklich enthält , so muss dieser Folgesatz
doch bestimmt ausgesprochen und aus mehreren Gründen aus
führlich dargestellt werden.
Der erste Grund ist der, dass es verschiedenartige Thätig
keiten, nicht von einer lebenerhaltenden Art giebt , auf welche
übergegangen werden kann, wenn die der Erhaltung des Lebens
gewidmeten Arbeiten zu Ende geführt sind . Die im letzten
Capitel gezogene Folgerung enthält daher nicht die Forderung
absoluter Ruhe.
Ferner haben wir die verschiedenen Arten von Ruhe zu
beachten, welche, wenn auch nicht vollkommen , doch annähernd
512 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. III.

so sind ; und das Bedürfnis für eine jede dieser Arten muss her
vorgehoben werden.
Etwas muss bei jedem der verschiedenen Abschnitte gesagt
werden : Ruhe in Zwischenabsätzen während der Arbeit ; nächt
liche Ruhe ; Ruhe eines Tages nach einer Reihe von Tagen ;
und gelegentlich lange Ruhe in langen Zwischenräumen .

§. 206.
Rhythmus, wie er sich durch alle Functionen hindurch, wie
andernorts , zeigt, wird von dem abwechselnd auftretenden Ver
brauch und Wiederersatz begleitet . Jeder Zusammenziehung des
Herzens, jeder Erfüllung der Lungen folgt eine momentane Er
schlaffung der bei ihnen angewendeten Muskeln . Bei dem Pro
cesse der Ernährung haben wir den kurzen Rhythmus, welcher
die peristaltische Bewegung darstellt , verbunden mit dem län
geren , durch die Periodicität der Mahlzeiten herbeigeführten
Rhythmus . Bei weitem tiefer, als es auf den ersten Blick der
Fall zu sein scheint, reicht die Anpassung an dies Gesetz ; denn
manche organische Thätigkeiten , die dem Anscheine nach con
tinuierlich sind , sind in Wirklichkeit unterbrochen . Ein Muskel,
welcher eine Zeit lang in beständiger Zusammenziehung ver
harrt und sich in einem gleichförmigen Zustande zu befinden
scheint , ist aus einer grossen Zahl von Einheiten aufgebaut,
-
welche einzeln zwischen Thätigkeit und Ruhe abwechseln , —
die einen erschlaffen, während sich die andern contrahieren ; so
wird eine beständige Leistung des ganzen Muskels durch die
unbeständigen Leistungen der ihn zusammensetzenden Fasern
zu Stande gebracht.
Das in dieser Weise in jedem Organe und in jedem Theile
eines Organs von Augenblick zu Augenblick in die Erscheinung
tretende Gesetz zeigt sich auch während aller längeren und
bedeutenderen Zusammenwirkungen von Theilen. Combinierte
Muskelanstrengungen, welche die Kräfte des ganzen Körpers in
irgend einem beträchtlichen Grade in Anspruch nehmen, können
nicht ungestraft beständig ohne Unterbrechungen wiederholt
werden, selbst während der zur Thätigkeit bestimmten Zeit. In
derartigen Fällen überwiegt der Verbrauch in einem beträcht
lichen Maasse den Wiederersatz und macht eine Unterbrechung
nothwendig , während welcher die rückständigen Ergänzungen
§. 207. Ruhe. 513

in gewissem Maasse ausgeglichen werden können, - eine Pause


zum „ Athemschöpfen “ , wie man sich gewöhnlich ausdrückt . Lange
ununterbrochene Ausdauer , selbst bei mässigen Anstrengungen,
ist schädlich ; und wenngleich auch eine solche ruhelose Hand
lung, wenn sie gelegentlich ausgeführt wird , keinen bleibenden
Schaden hervorbringt, so ist doch, wenn sie sich täglich wieder
holt , Verlust an Kraft das endliche Resultat. Der Schreib
krampf bietet ein Beispiel einer localen Form dieses Übels dar,
wie es verschiedene Fälle von Atrophie übermässig benutzter
Muskeln thun.
Auch gilt dies nicht allein von körperlichen Handlungen .
Es gilt auch ebenso für geistige Thätigkeiten. Eine concen
trierte Aufmerksamkeit erzeugt , wenn sie zu anhaltend an
gespannt wird, nach einiger Zeit eine nervöse Störung und Un
fähigkeit. Täglich viele Stunden lang fortgesetzte Beschäftigung,
selbst mit einer so einfachen Sache , wie dem Beseitigen der
kleinen Fehler in von Maschinen gemachten Spitzen , bringt nicht
selten chronisches Gehirnleiden hervor. Einige eingleisige Eisen
bahnen in den Vereinigten Staaten , auf denen die Bewegung
der Züge durch den Telegraph von einer centralen Stelle aus
reguliert wird , bieten ein höchst merkwürdiges Beispiel durch
die Thatsache, dass die Leute, welche in der genannten Weise
den Verkehr zu leiten haben und nicht einen Augenblick er
schlaffen dürfen , ohne die Gefahr, Unglücksfälle herbeizuführen,
niemals länger als wenige Jahre aushalten : sie werden für immer
unfähig.
Diese ungehörig anhaltenden Anstrengungen , körperliche wie
geistige , kündigen sich mehr oder weniger deutlich durch die
sie begleitenden schmerzhaften Empfindungen an. Die Empfin
dung protestiert , und diese Proteste können nicht ungestraft
unbeachtet gelassen werden.

§. 207.
Auf der Nothwendigkeit jener vollkommenen Ruhe , welche
wir Schlaf nennen , braucht nicht noch besonders bestanden zu
werden ; ein paar Worte dürften aber passenderweise über ihre
Dauer gesagt werden , _______ sie ist bald zu kurz, bald zu lang.
Die geläufigen Beurtheilungen der Gewohnheiten von Men
schen unserer Umgebung gehen von der irrthümlichen Annahme
514 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap . III.

aus , dass für Personen desselben Geschlechts und desselben


Alters dieselbe Menge von Schlaf erforderlich ist , - eine als
anerkannt aufgestellte Meinung, welcher nichtsdestoweniger be
ständig mit Bemerkungen über die ungleiche Zahl der Ruhe
stunden , mit denen verschiedene Personen auskommen können,
widersprochen wird . Die Wahrheit ist , dass das erforderliche
Maass von Schlaf von der Constitution abhängt. Je nachdem
die Lebensenergie klein oder gross ist , können viele Stunden
ihm mit geringem Erfolge gewidmet werden oder nur wenige
Stunden mit grossem Erfolge . Um zu verstehen , welches die
vitalen Erfordernisse , und , als Folgerungen hieraus, die Gewohn
heiten sind, welche wir von unserem gegenwärtigen Standpunkt
aus als im Besitze ethischer Gutheissung befindlich ansehen.
müssen wir uns für einen Augenblick unterbrechen und einen
Blick auf die Physiologie des Gegenstandes werfen.
Der Unterschied zwischen Wachen und Schlafen ist der.
dass in dem einen Zustande der Verbrauch grösser ist als der
Wiederersatz , während im andern der Wiederersatz den Ver
brauch übertrifft. Ein Beweis dafür, dass Wiederersatz bestän
dig eintritt , dass er aber in der Schnelligkeit abändert , wird
durch das gegeben , was als Photogene bekannt ist. Während
des frühen , jugendlichen Lebens , wo das Blut reich und die
Circulation gut ist , wird die Zerstörung von Nervengewebe ,
welche durch jeden das Auge treffenden Eindruck hervorgerufen
wird, augenblicklich wieder ausgeglichen, so dass das Auge bereit
ist, einen neuen Eindruck sofort vollkommen zu würdigen. Im
späteren Leben zeigt sich aber die verminderte Lebensenergie
durch die zur Wiederherstellung der Empfindlichkeit der Ele
mente der Netzhaut und der damit zusammenhängenden Nerven
―― eine
nach jedem Gesichtseindruck erforderliche längere Zeit,
Zeit , welche vollständig erkennbar ist , wenn der Eindruck ein
starker war. Das Resultat ist , dass ein aufgenommenes neues
Bild in gewissem Maasse durch das Bestehenbleiben des voraus
gehenden , sich in seinen complementären Farben darstellenden
Bildes verwischt wird.
Diesen Verschiedenheiten in der Schnelligkeit des Wieder
ersatzes auf verschiedenen Lebensstufen eines und desselben
Individuums gehen die Verschiedenheiten in der Schnelligkeit
des Wiederersatzes bei verschiedenen Individuen parallel , und
§. 207. Ruhe . 515

daraus erklären sich die ungleichen Mengen des erforderlichen


Schlafes . Für diese Ungleichheit ist eine doppelte Ursache vor
handen. Bei einer lebenskräftigen Person ist der Wiederersatz
während des wachen Zustandes verhältnismässig so rapid , dass
er hinter dem durch die Thätigkeit verursachten Verbrauch nicht
weit zurückbleibt ; die Folge hiervon ist , dass am Schlusse des
Tages weniger Wiederersatz gefordert wird . Und aus derselben
Ursache folgt noch ferner, dass während des Schlafes der Wieder
ersatz , so wie er hier eben zu erfolgen hat , rapider eintritt.
Umgekehrt folgt in einem Individuum mit niedrigem Ernährungs
stande und langsamer Circulation der Thätigkeit schneller die
Erschöpfung, und die durch die Thätigkeit verbrauchten Theile
bedürfen einer längeren Ruhe um wieder zur Thätigkeit geschickt
gemacht zu werden..
Wenn nun aber auch gefolgert werden muss , dass ein In
dividuum , welches als Faulenzer verurtheilt wird , häufig nicht
mehr absolute Ruhe nimmt als für ihn erforderlich ist, und wozu
es rechtmässigerweise durch seine Empfindungen veranlasst wird ,
so dürfen wir doch nicht den Schluss ziehen, dass es kein solches
Ding wie Übermaass von Schlaf gebe . Es besteht ganz allgemein
die Neigung, nicht nur mehr davon zu brauchen als nothwendig
ist, sondern auch mehr als wohlthätig ist. Mit dem Überschreiten
einer gewissen Grenze kräftigt der Zustand vollständigen Aus
ruhens nicht mehr, sondern schwächt. Wenn den Organen des
Lebens ihre Reize fehlen, so erschlaffen sie, und wenn das Aus
ruhen fortdauert, nachdem der Wiederersatz bewirkt worden ist,
macht sie eine weitere Unterbrechung ihrer Thätigkeitsäusse
rungen unfähig , den während des thätigen Lebens nothwendig
werdenden Wiederersatz mit der gewöhnlichen Geschwindigkeit
auszuführen : ein Gefühl der Müdigkeit ist die Folge. Wahr
scheinlich bezeichnet bei denen , deren Körper sich in so weit
im normalen Zustande befinden , dass sie gesund schlafen , das
erste vollständige Wachwerden die gehörige Grenze für die
nächtliche Ruhe. Manchmal ist ein Tag nach einem in dieser
Weise begrenzten Schlaf ein Tag ungewöhnlicher Thätigkeit .
Wir haben hier eine scheinbare Ausnahme von dem all
gemeinen Gesetze zu verzeichnen , dass zur Erhaltung des körper
lichen Wohlseins die Empfindungen die entsprechenden Führer
sind. Dieses Fehlen einer Übereinstimmung ist höchst wahr
516 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap . III.

scheinlich mit unserm Übergangszustande in Verbindung zu


bringen, während dessen das Leben im Durchschnitt so uninter
essant und häufig so ermüdend ist, dass die in Aussicht tretende
Erneuerung desselben nach dem Erwachen nicht als Reiz zum
Aufstehen dient , sondern eher das Gegentheil bewirkt ; denn
Jedermann hat es erfahren, dass , wenn der bevorstehende Tag
eine Freude in Aussicht stellt, z . B. einen Ausflug , das zeitige
Aufstehen keine Schwierigkeit macht. Möglicherweise dürfte
daher eine vollständigere Anpassung an den socialen Zustand
und seine nothwendigen Beschäftigungen jene normale Abkürzung
des Schlafes , welche jetzt schwierig ist , erleichtern . Für eine
lange Zeit wird aber noch die Folgerung der relativen Ethik
gelten , dass die Führung durch die Empfindungen hier durch
auf Erfahrung gegründete Urtheile ergänzt werden muss .

§. 208.
Die civilisierte Menschheit hat die Gewohnheit angenommen,
noch eine fernere periodische Ruhe zu halten, - eine wöchent
liche Ruhe ; und ohne die für ihre Annahme angeführten Gründe
zu den unserigen zu machen , können wir das Angemessene einer
solchen aus andern Gründen annehmen.
Eintönigkeit, ganz gleichgültig von welcher Art sie ist, ist
ungünstig für das Leben. Es ist nicht bloss eine Unterbrechung
der während des wachen Zustandes ausgeführten Thätigkeiten
nothwendig, es müssen auch nicht bloss die Thätigkeiten durch
Zwischenpausen des Schlafes unterbrochen werden , es scheint
auch jene zusammenhängende Reihe von Thätigkeitsäusserungen,
welche in der Wiederholung mehrerer auf ähnliche Beschäftigung
verwendeter Tage besteht, eine Unterbrechung durch Ruhetage
zu erfordern . Es tritt eine cumulative Ermüdung ein , welche
nicht durch die periodischen Unterbrechungen , wie sie die Nächte
bringen , beseitigt wird : es sind grössere periodische Unter
brechungen in längeren Zwischenräumen erforderlich. Die an
haltende Anstrengung täglicher Beschäftigungen ist in allen
Fällen eine Anstrengung, welche einige Theile des Körpers mehr
betrifft als andere , und jener tägliche Wiederersatz , welcher
genügt, den Körper im Grossen und Ganzen wieder zur Arbeit
geschickt zu machen , scheint dazu nicht zu genügen , Theile
wieder in einen arbeitsfähigen Zustand zu bringen , welche be
§. 209. Ruhe. 517

sonders in Anspruch genommen worden waren. Es hat daher


ein sich wiederholender Ruhetag, wenn nicht eine religiöse , doch
immer eine ethische Sanction.
Wir können ferner in so weit mit den Sabbatariern über
einstimmen , dass wir zugeben , eine periodische Unterbrechung
der täglichen Arbeit sei als Mittel zur Erhaltung geistiger Ge
sundheit nothwendig . Wie die Verhältnisse jetzt liegen , sind
die meisten Menschen nicht im Stande, sich von den prosaischen
Anschauungen der Welt und des Lebens frei zu machen, welche
die mechanische Routine zu erzeugen neigt ; und sie würden
gänzlich leistungsunfähig werden , wenn sie alle Tage mit Arbeit
verbrächten. Zwischenpausen von Unthätigkeit sind erforderlich,
während welcher über die unendliche Menge von Dingen , in
mitten derer wir leben, nachgedacht und die Aufnahmefähigkeit
der angemessenen Gedanken und Gefühle gefördert werden kann.

§. 209.
Ich brauche nicht die körperlichen und geistigen Vortheile
besonders zu betonen, welche von jenen längeren Unterbrechungen
der Arbeit , welche jetzt gewöhnlich alljährlich wiederkehren ,
herzuleiten sind. Um nicht bei dem positiven Vergnügen zu
verweilen, welches sie bereiten (welches indessen mehr als eine
mit Überlegung erstrebte Folgewirkung anzusehen ist), so genügt
es , die von ihnen gewöhnlich hervorgerufene Wiederkräftigung
und erhöhte Fähigkeit zur Arbeitsleistung in die Erinnerung zu
rufen , um zu zeigen , dass sie ethisch gutgeheissen , oder viel
mehr, wo es die Umstände gestatten, ethisch vorgeschrieben sind .
Ohne hierauf ausführlich einzugehen , gehe ich zu den
altruistischen Gründen über, welche die Ruhe rechtfertigen und in
gehöriger Weise als verbindlich erkennen lassen . Die Ansprüche
der Angestellten und die Ansprüche der Mitbürger, mit welchen
Übereinkünfte getroffen worden sind, verbieten in gleicher Weise
das Übermaass in der Arbeit : die Lebensenergie darf nicht
in so verschwenderischer Weise verwendet werden , dass da
durch die Vollendung derselben auf's Spiel gesetzt wird . Ein
gesundes Urtheil hat abzuwägen zwischen den Forderungen
solcher Anstrengungen , wie sie zur Erfüllung dieser Ansprüche
nothwendig sind, und den Forderungen eines solchen Ausruhens ,
wie es Erschöpfung und Arbeitsunfähigkeit verhindert. Die
518 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IV.

Pflicht gegen Andere verbietet es , sich selbst übermässig an


zustrengen.
So nachdrücklich aber auch das sich hieraus ergebende
Verbot ist, es ist noch ein anderes Verbot vorhanden, ―― wenn
nicht für Alle zwingend , so doch für diejenigen , welche wahr
scheinlich in die Lage kommen , Nachkommen zu haben. Wie
in dem einleitenden Capitel nachdrücklich hervorgehoben worden
ist, ist die Bewahrung eines gesunden Körpers ebensowohl wie
eines gesunden Geistes eine Pflicht gegen die Nachwelt . Ein
Herunterkommen des körperlichen Seins muss die Folge eines
Ausdauerns in unmässiger Arbeit sein . Anzunehmen , dass es
für die Kinder gleichgültig sei , ob von dem Erzeuger ein Leben
geführt worden ist , welches körperlich normal war, oder ob es
ein körperlich abnormes gewesen ist , ist widersinnig. Wenn
ein gewohnheitsgemässer Mangel an Ruhe und in Folge dessen
eine Unzulänglichkeit des Wiederersatzes eingetreten ist , die
in dieser Weise hervorgerufene Abnormität hinterlässt wie jede
andere ihre Spuren an den Nachkommen , - nicht immer in
augenfälligem Grade, da ein jedes Kind ausser dem, was es von
seinen beiden Eltern erbt, auch noch von vielen Vorfahrenreihen
erbt , aber nichtsdestoweniger irgendwie in gehörigem Maasse.

IV . Capitel.

Ernährung .

§. 210.
Ausgenommen vielleicht , dass die meisten Menschen darin
übereinstimmen , dass Gefrässigkeit zu verurteilen ist und dass
der gourmet " ebensogut wie der gourmand " ein Mensch ist.
vor welchem man nur geringe Achtung haben kann, werden sie
es für widersinnig halten , etwa zu meinen , wie es die obige
Überschrift angiebt, dass die Ethik irgend etwas über das Zusich
nehmen der Nahrung zu sagen hat . Obgleich sie damit , dass
sie Excesse der eben angedeuteten Art verdammen , ausdrücken.
dass sich der Mensch derselben nicht schuldig machen sollte.
und dass sie dieselben durch den Gebrauch dieses Ausdrucks
§ . 211 . Ernährung . 519

zu den unrechten Handlungen zählen , so lassen sie doch die


augenfällige Thatsache unbeachtet, dass, wenn es in Bezug auf
die Nahrungsaufnahme ein Unrecht giebt , auch ein Recht vor
handen sein muss .
Augenscheinlich liegt die Wahrheit darin , dass tägliche Hand
lungen in einer Art und Weise ausgeführt, welche nicht augen
fällig von dem Normalen abweicht, aufhören entweder als recht
oder als unrecht angesehen zu werden . Ebenso wie die meisten
geläufigen mathematischen Wahrheiten , wie die , dass zweimal
zwei vier ist , gewöhnlich nicht für Theile der Mathematik ge
halten werden, - wie die Kenntnis , welche ein Kind von den
umgebenden Gegenständen erhält, gewöhnlich nicht in den Be
griff der Erziehung mit inbegriffen werden , obgleich sie einen
in hohem Grade bedeutungsvollen Theil derselben bildet, ebenso
wird die vor Allem wesentliche und als eine sich von selbst ver
stehende Sache ausgeführte Erhaltung des Lebens aus der Theorie
des Benehmens fortgelassen. Da sie aber einen Theil des Betra
gens bildet, welcher für die Wohlfahrt von fundamentaler Bedeu
tung ist, kann sie rechtmässigerweise nicht so fallen gelassen werden .
Wie unpassend es ist, sie unbeachtet zu lassen , als einen der
ethischen Beurtheilung nicht unterliegenden Gegenstand, werden
wir sehen, wenn wir beobachten, in welch verschiedener Weise
die sie betreffende geläufige Meinung auf falsche Wege geräth .

§. 211 .
Es haben uns bereits die in §. 174 angeführten extremen,
von den Eskimos , den Jakuten und den Australiern dargebotenen
Beispiele gezeigt , dass enorme Mengen von Nahrung unter ge
wissen Bedingungen angemessen sind und die Befriedigung der
scheinbar übermässigen Gelüste nach solchen nicht bloss gerecht
fertigt , sondern gebieterisch ist : der Tod tritt ein als eine
Folge der Unfähigkeit eine hinreichende Menge aufzunehmen ,
um die durch ein strenges Klima oder lange dauerndes Fasten
verursachten Verbrauchsmengen auszugleichen. Ich möchte hier
noch die Erfahrungen arctischer Reisenden hinzufügen, welche,
gleich den Eingebornen der arctischen Länder, ein grosses Ver
langen nach Thran erlangen.
Die Erwähnung dieser Thatsachen ist eine passende Ein
leitung zur Erörterung der Frage, ob , in Beziehung auf Nahrung,
520 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IV.

den Begierden gehorcht werden soll oder nicht. Wie bereits


erwähnt, werden die meisten Menschen dagegen Einsprache er
heben, dass diese Untersuchung als eine ethische angesehen wird,
und Viele werden es lächerlich machen wollen .
Doch sind , wenn
nicht das Essen, sondern das Trinken in Betracht kommt, ihre
in sehr starken Ausdrücken abgegebenen Urtheile von der Art,
welche sie moralische nennen ; sie sehen aber nicht ein , dass
es , weil die Frage die Wirkung der verschluckten Gegenstände
betrifft, widersinnig ist, das Betragen, welches diese Wirkungen
1
verursacht, als moralisch oder unmoralisch zu betrachten , wenn
die Sachen flüssig sind, aber nicht so , wenn sie fest sind.
Anpassung geht überall und immerwährend vor sich, inner
halb der Menschenrasse wie bei niederen Gruppen , und unter
andern daraus folgenden Resultaten findet sich die Anpassung
der Begierde nach Nahrung an das Bedürfnis der Ernährung.
Selbst wenn dies nicht durch die oben angeführten extremen
Beispiele bewiesen würde, würde es sich als eine unvermeidliche
Folgerung aus dem Gesetze des Überlebens des Passendsten er
geben. Jede unter zwei Fällen eintretende falsche Anpassung
muss schädlich gewesen sein , und bei sich gleich bleibenden
andern Verhältnissen muss immer die falsche Anpassung die
Neigung gehabt haben , das Aussterben der Individuen zu ver
ursachen , bei welchen sie eingetreten war. Im Durchschnitt
muss es daher einen angemessenen Mittelwerth geben : das , was
als Abweichung vom Normalen vorhanden ist , beträgt nur ein
geringes Verhältnis von dem Normalen.
Manche Abweichungen kommen zweifellos vor . Wir finden
noch immer Vererbung von Zügen , welche für das primitive
wilde Leben angemessen sind und unangemessen für das ruhige
civilisierte Leben ; unter diesen Zügen findet sich jene Neigung ,
über das Maass des unmittelbaren Bedürfnisses hinaus aufzu
nehmen , was während des unregelmässigen Lebens des Wilden
gut war, was aber für den regelmässig lebenden Europäer nicht
gut ist. Es dürfte ferner zugegeben werden , dass Menschen,
welche ein monotones Leben führen, wie es ja die Meisten thun,
ein Leben , welches viel zu tragen und wenig zum Erfreuen dar
bietet, geneigt sind, die wenigen Thätigkeiten , welche vergnüg
lich sind , in ungehörigem Maasse zu verlängern ; und eine von
diesen ist das Essen . Wenn die Beschäftigung , an welche nach
§. 211. Ernährung . 521

Beendigung der Mahlzeit wieder herangetreten werden muss ,


Vergnügen bereitet, dann ist der Wunsch, die Mahlzeit zu ver
längern, vergleichsweise gering.
Das grössere oder geringere Übermaass , welches gern als
Resultat dieser Ursachen erscheint, ist nicht sowohl eine Folge
davon , dass den natürlich auftretenden Empfindungen gehorcht
wird, als vielmehr eine Folge der dauernden Erregung der Em
pfindungen : ein verwirrender Factor, der durch jene Einbildungs
kraft möglich gemacht worden ist , welche ebensowohl schlimme
Wirkungen äussert wie gute Wirkungen. Nicht dass eine unmittel
bare Begierde die Handlung anregte, vielmehr wird die Handlung
angeregt durch die Hoffnung, jenes angenehme Gefühl zu erfahren,
welches die Befriedigung einer Begierde begleitet. In ähnlicher
Weise entstehen Übel daraus, dass man sich zu Mahlzeiten nieder
setzt, wenn der Hunger nicht dazu auffordert, - dass man an peri
odisch wiederkehrenden Mahlzeiten Theil nimmt, mag man hungrig
sein oder nicht. Viele Menschen essen als eine sich von selbst ver
stehende Sache , nicht in Übereinstimmung mit ihren Empfin
dungen , sondern trotz des Widerspruchs ihrer Empfindungen.
Und dann hört man , merkwürdig genug, von diesen Übertretern
die Behauptung , dass die Empfindungen keine angemessenen
Führer seien ! Nachdem sie in Folge davon, dass sie ihnen be
ständig nicht gehorcht haben , gelitten haben , kommen sie zu
dem Schlusse , dass ihnen nicht gehorcht zu werden brauche .
Es ist zweifellos richtig, dass kränkliche Leute sich gelegent
lich dadurch Übel zufügen, dass sie so viel essen wie ihr Appetit
es ihnen eingiebt ; und Manche , welche in keiner augenfälligen
Weise unwohl sind, erfahren an sich dasselbe . Aber aus diesen
Erfahrungen Einwendungen gegen die Gesetzlichkeit der Er
scheinungen abzuleiten, ist unhaltbar. In derartigen Fällen sind
die Anpassungen zwischen allen den verschiedenen Bedürfnissen
des Organismus und den verschiedenen Empfindungen , welche
zu deren Befriedigung auffordern , durch Ungehorsam gegen
letztere chronisch in Unordnung gebracht worden . Wenn durch
ein fortwährendes Leben im Zimmer , oder durch Überarbeitung,
oder durch unaufhörliche geistige Anstrengung, oder durch nicht
angemessene Kleidung , oder durch Einathmen schlechter Luft
die körperlichen Functionen gestört worden sind , dann hört ein
Führen durch die Empfindungen auf zuverlässig zu sein . Es
522 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. IV.

wird dann nothwendig , entweder , wie in manchen Fällen , den


Appetit zu unterdrücken , oder , wie in andern Fällen , Nahrung
ohne Hunger aufzunehmen : wenn der abnorme Zustand durch
physiologische Sünden herbeigeführt worden ist, wird eine künst
liche Regulierung erforderlich, um die natürliche Regulierung zu
ergänzen. Dies beweist indessen Nichts . Man sagt, dass nach
einem lange andauernden Hungerleiden die Befriedigung des
gierigen Hungers durch eine tüchtige Mahlzeit tödtlich sei. Die
Entkräftung ist so gross , dass irgend eine beträchtliche Menge
von Nahrung nicht verdaut werden kann , und dass es noth
wendig ist , kleine Quantitäten zu nehmen . Hieraus ist aber
nicht zu folgern, dass die Befriedigung des Hungers durch eine
tüchtige Mahlzeit gewöhnlich tödtlich ist. Ganz ähnlich ist es
überall . Die üblen Folgen , welche gelegentlich daraus entstehen,
dass so viel gegessen wird , wie der Hunger eingiebt , müssen
den vielfachen früheren Fällen von Ungehorsam gegen die Em
pfindungen und nicht diesem besonderen Falle des Gehorsams
ihnen gegenüber zugeschrieben werden .
Während man die Übel anerkennt, die eine Folge des Zu
viel-Essens sind , werden die Übel , welche eine Folge des Zu
wenig-Essens sind , nur wenig anerkannt. Die asketische Be
einflussung durch ihre Religion und ihre Erziehung führt die
meisten Menschen darauf, es für verdienstlich zu halten, mit so
wenig Nahrung wie nur möglich auszukommen , und verleitet
sie dazu , die Nahrung Anderer zu beschränken . Unheilvolle
Wirkungen folgen dann. Unangemessene Ernährung, besonders
solange noch das Wachsthum fortdauert , ist unzweifelhaft Ur
sache unvollkommener Entwicklung , entweder in Bezug auf die
Grösse oder in Bezug auf die Qualität der Gewebe , oder in
Bezug auf Beides ; und Eltern , welche für die Ernährung ver
antwortlich sind , sind verantwortlich für ungesundes Leben.
Kein Züchter von Rindern oder Pferden lässt es sich auch nur
im Traume einfallen, ein schönes Thier durch eine kümmerliche
Diät erziehen zu wollen. Kein Besitzer eines schönen Thieres
erwartet , dass es auf der Strasse oder auf dem Felde gute
Dienste leisten werde , wenn es nicht gut genährt wird . Wissen
schaft und gesunder Menschenverstand verbinden sich zur An
erkennung der Wahrheit , dass Wachsthum und Lebensenergie
in gleicher Weise von einer ordentlichen Zufuhr der Materialien
§. 212. Ernährung . 523

abhängig sind , aus denen der Körper und das Gehirn während
der Jugend aufgebaut und im erwachsenen Zustand leistungs
fähig erhalten werden. Die Aufnahme einer hinreichenden Menge
von Nahrung ist gesichert , wenn dem Hunger gehorcht wird,
während , wenn die Zufuhr den Forderungen des Hungers ent
gegen geschmälert wird , unvermeidlich ein grösserer oder ge
ringerer Ausfall an Grösse oder Kraft eintreten wird.
Allgemein gesprochen können wir daher sagen, dass es eine
ethische Gutheissung erhält , wenn dem Verlangen nach Nahrung
vollständig nachgegeben wird , und zwar aus den beiden Gründen ,
weil die Befriedigung des Verlangens an und für sich ein Element
ist, welches unter die normalen vom Leben dargebotenen Annehm
lichkeiten gerechnet werden muss , und weil seine Befriedigung
indirect zu einer ihr folgenden Fülle des Lebens und zu dem
Vermögen alle Verpflichtungen des Lebens erfüllen zu können
hinführt.
§. 212.
Jemand , der sich über die Eintönigkeit seiner Mahlzeiten
beklagt und dem darauf hin Vorwürfe gemacht werden , wenn
er die Genüsse aufsucht, welche ihm eine Abwechslung der Diät
bringt (ich führe eine Thatsache an) , wird durch diese Vorwürfe
von einem moralischen Gesichtspunkte aus stillschweigend ver
urtheilt. Hieraus ist die Folgerung zu entnehmen , dass eine
Lehre von Recht und Unrecht auch Etwas über das Geziemende
oder Ungeziemende der Nachgiebigkeit gegen einen Wunsch nach
Abwechslung zu sagen hat. Ein Jeder , welcher mit der eben
angeführten Meinung der frommen Schottin nicht übereinstimmt ,
nuss daher der entgegengesetzten Meinung sein : dem Verlangen
nach abwechslungsreicher Nahrung soll entsprochen werden ,
dasselbe erfährt eine gleiche Gutheissung wie das Verlangen
nach einer gehörigen Nahrungsmenge.
Natürlich ist hier nicht der passende Ort , auf die Gegen
stände , Verschiedenheit, Qualität und Zubereitung der Nahrung
näher einzugehen , ―――――― Gegenstände , deren blosse Erwähnung
denen unangebracht zu sein scheinen wird, welche die im ersten
Capitel des vorliegenden Werkes dargestellten Lehren , dass
jeder Theil des Betragens , welcher direct oder indirect die
Wohlfahrt berührt , eine ethische Seite hat , nicht angenommen
haben. Das , was hier in Betreff der drei Gegenstände gesagt
SPENCER, Principien der Ethik. I. 34
524 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IV.

oder angedeutet werden muss , kann unter den einen Gesichts


punkt, Befriedigung des Gaumens, als verschieden von der Stillung
des Hungers , zusammengefasst werden ; ― verschieden sind die
Gesichtspunkte in gewissem Maasse, nicht gänzlich, da das eine
als normaler Reiz für das andere dient . Einestheils als eine
weitere Folge des Asketicismus und anderntheils als Reaction
gegen die grobe Sinneslust , von welcher die Geschichte gelegent
lich von den Tagen der Römer herab bis auf neueste Zeiten zu
berichten hat, ist man zu der Ansicht gekommen, dass die Freuden
der Tafel zu missbilligen sind , — oder , wenn nicht positiv zu
missbilligen, so doch zu übergehen als für eine Betrachtung nicht
geeignet. Diejenigen, welche dieser Ansicht sind , sind allerdings,
gleich andern , unzufrieden mit geschmackloser Nahrung, sie sind
auch nicht weniger bereit , Köche zu entlassen , welche kein
genussreiches Mittagsmahl zubereiten können . Während sie aber
praktisch gastronomische Annehmlichkeiten erstreben , weigern
sie sich doch, deren theoretische Rechtmässigkeit anzuerkennen .
Ich darf hier diese unredliche Art und Weise, den Gegen
stand zu behandeln , nicht nachahmen ; ich fühle mich vielmehr
zu der Behauptung verpflichtet , dass gehörige Rücksicht auf
die Bedürfnisse des Gaumens nicht bloss ganz passend, sondern
dass eine Nichtberücksichtigung derselben unrecht ist . Die ent
gegengesetzte Ansicht enthält die Meinung , dass es für den
Körper gleichgültig ist , ob er der Sitz vergnüglicher Empfin
dungen oder indifferenter oder schmerzhafter Empfindungen ist .
Es geht ihn aber sehr viel an . Wie in einem früheren Capitel
(§. 36) hervorgehoben worden ist , machen Freuden die Fluth
des Lebens höher steigen , während Schmerzen sie sinken lassen ;
und unter den dies bewirkenden Freuden finden sich die Freuden
des Geschmacksinnes . Es sind zwei Gründe dafür vorhanden.
warum, wenn die Nahrung gern genommen wird, die Verdauung
derselben gefördert wird , und warum sie , wenn die Nahrung
widersteht , gehindert wird . Gemeinsam mit jeder angenehmen
Empfindung regt ein angenehmer Geschmack die Thätigkeit des
Herzens an, und , als Folge hievon , auch die Lebensfunctionen
im Allgemeinen, während er gleichzeitig in einer noch directeren
Weise die Organe anregt , welche die Verdauungsflüssigkeiten
absondern . Man braucht sich nur der gewöhnlichen Beobach
tung zu erinnern, dass ein den Appetit anregender Geruch das
§. 213. Ernährung . 525

Wasser im Munde zusammenlaufen macht , um einzusehen, dass


der Nahrungscanal als ein Ganzes durch eine vergnügliche Reizung
des Gaumens zur Thätigkeit angeregt , und dadurch die Ver
dauung unterstützt wird . Und weil nun eine gute Ernährung
von einer guten Verdauung abhängt, und weil von einer guten
Ernährung die für die täglichen Leistungen erforderliche Energie
abhängt , so folgt hieraus , dass gehörige Rücksichtnahme auf
Befriedigung des Gaumens geboten ist .
Diejenigen , welche irgend welche Erfahrungen eines invaliden
Lebens gemacht haben , wissen sehr wohl , eine wie geringe
Menge einer Nahrung gegessen werden kann , welche indifferent
oder von nicht angenehmem Geschmack ist, und wie mühsam die
Verdauung einer solchen Nahrung ist, während das Umgekehrte
für eine angenehme und willkommene Nahrung gilt : die sich
bei einer solchen ergebenden angemessenen Mahlzeiten werden
besser verdaut und stellen eine Bedingung her zur Wiederher
stellung und zur Wiederaufnahme der Verantwortlichkeiten des
Lebens . Und wenn die Vortheile einer solchen Berücksichtigung
des Gaumens zur Erscheinung gebracht werden , wo die Lebens
kräfte gering sind , so existieren sie zweifellos , wenn schon
weniger offenbar, wo die Lebensenergie eine grosse ist .
Natürlich kann , wie in Bezug auf die Menge so auch in
Bezug auf die Art und die Beschaffenheit der Nahrung ein
Excess auftreten und tritt auch auf : die letzte Art des Über
maasses führt zu der ersteren . Aber ebensowenig in diesem
Falle wie in irgend einem andern ist Missbrauch ein Grund
gegen den Gebrauch .

§. 213.
Bevor ich dies Capitel schliesse , was ich jetzt thun muss ,
damit es nicht ein Capitel über Diätetik wird , muss ich noch
etwas über die altruistische Bedeutung der hier gezogenen Fol
gerungen sagen ; dabei will ich nur, in weiterer Zurückweisung
der gewöhnlichen asketischen Ansicht , die Bemerkung machen ,
dass der hebräische Mythus , welcher das Essen des Apfels seitens
der Eva als durch die Schlange eingegeben darstellt , sich in
den Köpfen vieler Menschen zu einer allgemeinen Theorie über
unsere Beziehungen zur Nahrung erweitert zu haben scheint :
ihr Asketicismus folgert stillschweigend daraus , dass Ver
34*
526 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IV.

anlassungen zur Befriedigung des Geschmacksinnes Eingebungen


des Teufels sind.
Von den hier anzuführenden altruistischen Beziehungen be
trifft die erste die indirecten Wirkungen des Übermaasses, wie
sie die Umgebung zu erleiden hat durch die gelegentlichen Er
krankungen und häufigeren Verstimmungen , welche dasselbe
hervorbringt : Nachtheile für Andere, deren Voraussicht ebenso
wohl als Abschreckungsmittel dienen sollte wie voraussichtliche
Nachtheile für das Individuum selbst . Dann ist eine entferntere
altruistische Beziehung in der Wirkung zu erblicken , welche
auf die Gesellschaft ausgeübt wird, wenn der Excess allgemein
ist . Wenn man sich daran erinnert, dass der Nahrungsvorrath,
welchen eine Gesellschaft erlangt , eine begrenzte Menge ist,
so folgt daraus , dass , wenn die Glieder derselben mehr ver
brauchen als zur vollständigen Selbsterhaltung erforderlich ist,
sie den Betrag an menschlichem Leben , welcher für den be
wohnten Bezirk entsprechend ist, vermindern . Wenn die Menschen
im Grossen und Ganzen , sagen wir , ein Sechstel mehr essen,
als zum völligen Leben und zur vollständigen Lebensenergie
erforderlich ist, - wenn zehn Millionen Menschen so viel essen
wie zur vollen Befriedigung von zwölf Millionen genügend ist,
dann geschieht offenbar , angenommen das menschliche Leben
ist das erstrebte Ziel , ein Unrecht seitens derer , welche seine
Zunahme verhindern . Der Antheil jedes einzelnen Individuums
an diesem Unrecht mag unmerkbar sein ; das summierte Unrecht
aber ――― durch welches die Existenz von zwei Millionen Menschen
unmöglich gemacht wird, - ist hinreichend merkbar.
Die noch übrige altruistische Beziehung ist die , welche die
Nachkommen betrifft . Eine chronische mangelhafte Ernährung
der Eltern schädigt die Kinder. Was die Mütter betrifft , so
ist das Unvermeidliche dieses Resultats klar. Der Aufbau der
Frucht hat gleichzeitig zu erfolgen mit dem Weiterführen des
mütterlichen Lebens, und das Ernährungsmaterial wird für beide
Vorgänge benutzt. Wenngleich auch bei der Concurrenz zwischen
den beiden, der erstere eine gewisse Priorität hat und ganz be
deutend auf Kosten des zweiten durchgeführt wird , so wird doch,
wenn die Zufuhr der ernährenden Materialien unzureichend ist,
das Wachsthum der Frucht gehemmt ebenso wie Schwächung
der Mutter herbeigeführt wird . Eine kümmerliche Entwicklung
§. 214. Reizmittel . 527

des Kindes und eine folgende Beeinträchtigung des vollen Lebens


sind die Folgen . Rücksicht auf die Nachwelt verlangt daher ge
bieterisch gute Ernährung.

V. Capitel.

Reizmittel .

§. 214.
Mehrere Capitel über die Ethik des individuellen Lebens
zu schreiben und über den Gebrauch von Reizmitteln Nichts zu
sagen, ist ganz ausser Frage . Während die Menschen über die
meisten Theile des privaten Betragens kein moralisches Urtheil
fällen und auch annehmen , dass dieselben keinem solchen unter
worfen sind : über jenen Theil des privaten Betragens, welcher
das Trinken gegohrener Flüssigkeiten betrifft, nehmen die meisten
Menschen, unter Fällung strenger moralischer Urtheile, an, dass
die Ethik ein gebieterisches Gesetz enthält ; und der Einbeziehung
von Fragen, welche sich auf alkoholische Reizmittel beziehen , in
das Bereich der Ethik, folgt dann die Einbeziehung von Fragen
in Betreff des Opium-Essens.
Wir wollen hier bemerken, wie wir es früher bemerkt.haben,
dass die Verurtheilung von Gebräuchen , welche im Übermaass
sicher schädlich sind und von vielen Leuten für überhaupt schäd
lich gehalten werden , praktisch genommen auf Gebräuche be
schränkt wird , welche ursprünglich Vergnügen bereiten . Ein
Mensch kann sich dadurch, dass er sich täglich zu sehr exponiert ,
einen chronischen Rheumatismus oder durch Überanstrengung
eine unheilbare nervöse Störung zuziehen ; und obgleich er hier
durch sein Leben mehr schädigt und seine Brauchbarkeit in
einem bei weitem höheren Grade herabsetzt , als wenn er ge
legentlich zu viel Wein trinkt , seine körperliche Übertretung
findet nur eine milde Missbilligung, wenn es überhaupt zu einer
solchen kommt. In diesen Fällen ist aber die Übertretung nicht
vergnüglich ; und die verdammenswerthe Sache bei solchem un
rechten Betragen ist das daran Vergnügen-Empfinden.
Man sagt , dass dieser Widerspruch in der moralischen
Schätzung eine Folge der Vorstellung ist, dass in der Annahme
528 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. V.

schädlicher Gewohnheiten , welche ursprünglich Vergnügen be


reiten , eine Gefahr liege , während es nicht gefährlich sei , Ge
wohnheiten anzunehmen , welche ursprünglich schmerzhaft sind ;
die Erwiderung hierauf lautet dahin, dass, obschon wir natürlich
annehmen, dass dies richtig ist , dies doch nicht richtig ist . Die
Verpflichtungen, welche den Menschen obliegen, oder von denen
sie annehmen, dass sie ihnen obliegen, führen sie in einer grossen
Zahl von Fällen dazu , eine sitzende Lebensweise zu führen , zu
viele Stunden zu arbeiten, unreine Luft zu athmen und dergleichen
mehr, und zwar trotz der Widerspruch erhebenden Empfindungen,
und trotz der beständig erhaltenen Beweise , dass sie sich da
durch selbst schädigen . Offenbar ist es nur die unbestimmte
Vorstellung , dass Befriedigung ein Laster ist , welche die Ver
dammung Befriedigung gewährender Übertretungen veranlasst,
während keine Befriedigung gewährende Übertretungen nur leicht
oder durchaus gar nicht verurtheilt werden .
Hier haben wir den Gegenstand , soweit wir es zu thun im
Stande sind , gelöst von dem populären Urtheile und nur von
physiologischen Betrachtungen geleitet zu betrachten .

§. 215.
Es kann meiner Meinung nach nicht bezweifelt werden ,
dass vom Standpunkte der absoluten Ethik aus Reizmittel jeder
Art gemissbilligt werden müssen , oder dass jedenfalls ihr täg
licher Gebrauch gemissbilligt werden muss . Nur Wenige, wenn
überhaupt irgend Jemand , werden behaupten wollen , dass sie
zur Erfüllung des Lebens eine nothwendige Rolle spielen .
Alles normal in den Körper Eingeführte dient den Lebens
processen entweder dadurch, dass es Material liefert, welches bei
der Bildung oder dem Wiederersatz von Geweben unterstützend
wirkt , oder Material , welches während seiner Umwandlungen
Wärme und Kraft ergiebt, oder das Material, welches als Vehikel
dient, das Wasser. Ein Reizmittel, alkoholisch oder Anderes,
ist weder Gewebsnahrung , noch Wärme bildende , noch Kraft
erzeugende Nahrung . Es wirkt nur auf die Schnelligkeit des
molecularen Umsatzes , - denselben erhöhend und dann , unter
gewöhnlichen Umständen , wenn es in beträchtlicher Menge ge
nommen wird , ihn herabsetzend . Nun werden Stoffe , welche
weder zum Aufbau des Körpers noch als Kraftvorräthe verwandt
§. 216. Reizmittel . 529

werden können , die Summe der Lebenserscheinungen nicht ver


mehren, sondern nur ihre Vertheilung ändern . Und da in einem
vollständig für das Leben, welches es zu führen hat, ausgerüsteten
Wesen die Functionen bereits den Anforderungen angepasst
sind , so scheint aus einer Änderung des hergestellten Gleich
gewichts keinerlei Vortheil abgeleitet werden zu können .
Diese Schlussfolgerung hat eine grosse Tragweite , ―――― sie
führt uns über den Punkt hinaus , bis zu welchem diejenigen,
welche die gänzliche Enthaltung von gegohrenen Getränken ver
langen , zu gehen wünschen . Auch Thee und Kaffee muss von
den Listen der in die Diät aufzunehmenden Sachen ausgeschlossen
werden. Die pflanzlichen Alkaloide , denen sie ihre Wirkung
verdanken , sind ebensowenig der eigentlich so zu nennenden
Nahrung gleich , wie der Alkohol , und ebenso wie der Alkohol
modificieren sie nur für eine gewisse Zeit die Geschwindigkeit
des molecularen Umsatzes, veranlassen eine lebhaftere Entwick
lung von Energie im Verlaufe einer gewissen Zeit mit der
Folge einer Herabsetzung der Energie während einer andern
Zeit . Vom physiologischen Standpunkte aus muss also der Ge
brauch derselben verdammt werden , wenn der Gebrauch von
Alkohol verdammt wird.
Sollte dabei gesagt werden , dass die Verurtheilung des
letzteren dadurch herausgefordert werde, weil er dem Missbrauch
sehr ausgesetzt ist , so kann darauf erwidert werden , dass das
einem Missbrauche Ausgesetztsein auch für die andern Reizmittel
gilt ; wenn schon die hervorgerufenen Nachtheile weder so häufig
noch so augenfällig sind . In Frankreich kommen gelegentlich
Todesfälle in Folge von Kaffeetrinken vor, und in England ver
ursacht ungehöriges Theetrinken nicht selten Nervosität .

§. 216.
Während aber vom Standpunkte der absoluten Ethik aus
der Gebrauch von Reizmitteln nicht vertheidigt werden zu können
scheint , dürfen wir doch immer fragen , ob die relative Ethik
Etwas zu ihrer Rechtfertigung darbietet, - ob wir, unter den
existierenden Bedingungen , wo wir dem socialen Zustand nur
unvollkommen angepasst und genöthigt sind , von den natürlichen
Anforderungen abzuweichen, nicht Reizmittel gebrauchen dürfen,
um den sich hieraus ergebenden Nachtheilen entgegenzuwirken.
T
530 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. V.

Es ist eine Thatsache von einiger Bedeutung, dass wir über


die ganze Erde, bei nicht mit einander verwandten Rassen und
auf allen Stufen des Fortschrittes ein oder das andere Mittel,
welches das Nervensystem angenehm beeinflusst , in Gebrauch
finden , - Opium in China , Tabak bei den nordamericanischen
Indianern, Hanf in Indien, Haschisch in verschiedenen Gegenden
des Orients, einen narkotischen Pilz im nördlichen Asien , Kava
bei den Polynesiern , Chica und Coca im alten Peru und ver
schiedene gegohrene Getränke ausser dem Weine der Europäer
-
und dem Biere verschiedener africanischer Stämme, das Soma
der primitiven Arier und das Pulque der Mexicaner. Es soll
damit nicht gesagt werden , dass diese Universalität des Ge
brauchs von Reizmitteln sie angesichts der oft daraus entstehen
den Krankheiten rechtfertige ; es legt aber die Frage nahe , ob
es nicht einen Zusammenhang zwischen dem Gebrauche irgend
eines erregenden oder beruhigenden Mittels und der von den
Umständen bedingten Lebensweise giebt, - einem Leben, welches
hier monoton, dort mühsam und an andern Orten voll von Ent
behrungen ist. Möglicherweise dürften diese Arzneien und Ge
tränke eine Existenz zuweilen erträglich machen , welche sonst
unerträglich wäre , oder jedenfalls wenigstens die durch eine
solche verursachten körperlichen oder geistigen Leiden so weit
besänftigen , dass die von ihnen ausgehenden Nachtheile ver
mindert werden .
Verschiedene Zeugnisse lauten dahin , dass da, wo das täg
liche Leben eine starke Abnutzung des Gehirns mit sich bringt,
der beruhigende Einfluss des Tabaks von Nutzen ist , ―――――――― jenen
Verbrauch an Nervenkraft hemmt, welchen im andern Falle das
anhaltende Denken und Sorgen hervorrufen würde. Im normalen
Zustande hören diejenigen Theile des Körpers, welche stark in
Anspruch genommen worden sind, auf, thätig zu sein , wenn die
Anstrengung vorüber ist : der Blutzufluss wird abgeschnitten
und sie treten in einen ruhenden Zustand über. In den abnormen
Zuständen aber, welche bei Vielen durch Überarbeiten hergestellt
werden, verhält sich die Sache anders . Die Theile, welche thätig
gewesen sind, werden blutüberfüllt und bleiben in Thätigkeit, wenn
eine solche nicht mehr verlangt wird . Denken und Empfinden
kann nicht zum Aufhören gebracht werden und es tritt ein Auf
wand ein , welcher nicht bloss nutzlos , sondern schädlich ist.
§. 217. Reizmittel . 531

Hieraus ist die Rechtfertigung für den Gebrauch eines Mittels.


abzuleiten, welches den Verbrauch von Gewebe hindert und die
Kräfte haushälterisch behandelt.
Wo ferner die constitutionellen Kräfte im Erschlaffen sind
und die Arbeit eines Tages sich als so erschöpfend herausstellt,
dass die Fähigkeit zu verdauen theilweise fehlschlägt , da kann
angenommen werden, dass die Gefässthätigkeit und die Leistungs
fähigkeit der Nerven mit Vortheil durch Alkoholgenuss, erforder
lich zur wirkungsvollen Beeinflussung der Nahrung, erhöht werden
kann, da eine ordentliche gut verdaute Mahlzeit dazu dient, den
Körper für die Arbeit eines weiteren Tages tauglich zu machen ,
was er andernfalls nicht sein würde.
Es giebt dann auch Menschen , bei denen eine ungehörige
Anstrengung einen Zustand von nervöser Erregung herbeiführt,
die durch eine Dosis Opium gemildert oder beseitigt wird ; und
das Leben dürfte zuweilen ein solches sein, dass ein so behan
delter Zustand häufig wiederkehrt. Wenn dies der Fall ist,
erscheint der Gebrauch des Mittels gerechtfertigt .

§. 217.
Selbst die Anhänger der gänzlichen Enthaltung geben zu,
dass alkoholische Getränke mit vollem Recht zu medicinischen
Zwecken gebraucht werden können ; und dieses Zugeben, folge
richtig erklärt, enthält die Schlussfolgerung, dass , wie oben be
hauptet wurde , Reizmittel im Allgemeinen passenderweise an
gewendet werden können nicht bloss , wo positive Krankheit
vorhanden ist , sondern auch da , wo Unfähigkeit mit den An
forderungen des Lebens Schritt zu halten, vorhanden ist. Denn
wenn ein sehr augenfälliges Abweichen vom normalen Zustande
am besten mit Branntwein oder Wein behandelt werden kann,
so kann nicht wohl geleugnet werden, dass eine vielleicht täglich
wiederkehrende Abweichung auf ähnliche Weise behandelt werden
könnte. Constitutioneller Schwäche, oder der mit vorrückenden
Jahren eintretenden Schwäche, dürfte, wie der Schwäche eines
Invaliden, mit Vortheil durch die Hebung der körperlichen Kräfte
begegnet werden können zu Zeiten , wo der Körper die zur
Wiederauffrischung führende Arbeit zu leisten hat , - das ist
die Zeit , wo Nahrung zu verdauen und zuweilen wo Schlaf
herbeizuführen ist. Hieraus ist aber nur eine Vertheidigung
532 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. V.

solcher Fälle abzuleiten, wo es sich um den Gebrauch von Reiz


mitteln zur Unterstützung der Wiederherstellung des Körpers
handelt. Wenn damit , wie beim Geniessen alkoholischer Ge
tränke zwischen den Mahlzeiten oder bei Anwendung von Ein
spritzungen von Morphium unter die Haut , eine zeitweise Er
höhung der Kraft oder der Empfindung erreicht wird , welche
zu keinem wiederherstellenden Resultate führt, tritt Missbilligung
gerechterweise an die Stelle der Billigung. Im Laufe der Natur
sind normale Freuden die Begleiterinnen normaler Thätigkeits
äusserungen, und Freuden, welche durch willkürliches Abweichen
vom Normalen erlangt werden , finden keine ethische Gutheissung.
Nur eine einzige Ausnahme sollte hier gemacht werden.
Reizmittel können mit Vortheil angewendet werden , wenn die
Eintönigkeit des gewöhnlichen Lebens dann und wann durch
festliche Unterhaltungen unterbrochen wird. Wie in einem vor
ausgehenden Capitel entwickelt worden ist , macht die tägliche
Wiederholung der nämlichen Thätigkeitsformen , welche auf
unserer Entwicklungsstufe unvermeidlich specialisiert sind , eine
ungehörige Anstrengung gewisser Theile des Körpers nothwendig.
Unterbrechung der Einförmigkeit ergiebt daher Vortheile dadurch,
dass die Wiederherstellung des Gleichgewichts gefördert wird.
Die chronisch ausser Gleichgewicht gehaltenen Functionen werden
bei ihrer Rückkehr zum Gleichgewicht unterstützt. Daher er
eignet es sich, dass sociale Zusammenkünfte, bei denen mit einer
geistigen Aufheiterung die Aufnahme reichlichster und abwechs
lungsreicher Nahrung und reichlichen Weines Hand in Hand
geht, sich häufig als in hohem Maasse heilsam herausstellen, --
dass ihnen keinerlei schädlichen Reactionen folgen , dass sie
vielmehr Kräftigung erreicht haben. Derartige Mittel zu solchen
Zwecken angewandt dürfen indessen nur gelegentlich gebraucht
werden : wenn sie häufig wiederholt werden , verbieten sie sich
von selbst.
§. 218 .
Um nun das zusammenzufassen , was hier versuchsweise über
diese schwierige Frage gesagt worden ist - so können wir an
erster Stelle folgern , dass die absolute Ethik , soweit dieselbe
das individuelle Leben betrifft , dem täglichen Gebrauche von
Reizmitteln keinen Vorschub leistet. In einer vollkommen nor
malen Lebensordnung können sie keine Stelle finden.
§. 219. Bildung . 533

Bei einem derartig annähernd normalen Leben , wie es in


früheren Zeiten lebenskräftige Personen führen durften , da ist
ebenfalls kein Raum für sie. So lange nichts vorhanden ist,
was die vollständige Entfaltung aller organischen Functionen
stört , kann auch keine Nothwendigkeit zur Anwendung von
Mitteln vorliegen , diese zeitweise zu erhöhen. Was die Ethik
in dieser Sache zu sagen hat , muss die Form eines Verbotes
annehmen.
Nur dann, wenn die excessiven Verpflichtungen, welche das
Leben häufig mit sich bringt , grössere oder geringere tägliche
Abspannung hervorrufen , oder wenn in Folge constitutioneller
Schwäche oder der verminderten Lebenskraft des hohen Alters
die gewöhnliche Inanspruchnahme der Energie etwas grösser ist
als ihr wirksam begegnet werden kann , scheint ein triftiger
Grund zur Anwendung reizender Mittel , alkoholischer oder
anderer , vorhanden zu sein , und auch dann nur , wenn sie in
einer solchen Weise genommen werden , dass die wiederherstellen
den Processe dadurch gefördert werden .
Darüber hinaus werden noch solche gelegentliche Anwen
dungen dieser Mittel vertheidigt werden können , wenn sie in
Verbindung mit gesteigerter Ernährung und belebenden Um
ständen den Körper seiner gewohnheitsgemässen Beschäftigung
zu entreissen dienen, welche in allen Fällen etwas, wenn nicht
bedeutend, vom vollkommenen Gleichgewicht ableitet.

VI . Capitel.

Bildung .

§. 219.
In ihrer weitesten Bedeutung genommen heisst Bildung die
Vorbereitung zu einem vollständigen Leben . Sie umfasst an
erster Stelle allen solchen Unterricht und alle derartigen Kennt
nisse, wie sie zur wirksamen Selbsterhaltung oder zur Erhaltung
einer Familie nothwendig oder vorbereitend sind . Und sie um
fasst an zweiter Stelle die Entwicklung aller Fähigkeiten im
Grossen und Ganzen , wie sie dieselben zur Nutzbarmachung
534 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VL

jener verschiedenartigen Quellen des Vergnügens geschickt macht,


welche Natur und Menschlichkeit aufnahmefähigen Geistern bieten.
Die erste dieser beiden Abtheilungen der Bildung besitzt
mehr als eine ethische Gutheissung : sie ist ethisch vorgeschrieben .
Das Erlangen der Fähigkeit die Geschäfte des Lebens aus
zuführen ist ursprünglich eine Pflicht gegen das eigene Selbst
und secundär eine Pflicht gegen Andere. Wenn wir unter dem
Begriff dieser Fähigkeit , wie wir es thun müssen , auch jene
Geschicklichkeit mit verstehen , welche für mit der Hand aus
zuführende Beschäftigungen nothwendig ist, ebenso wie Geschick
lichkeit jeder höheren Art, so wird es offenbar , dass (ausgenom
men diejenigen , welche umsonst erhalten werden) das Fehlen
derselben ein gesundes körperliches Leben unausführbar macht.
ebenso wie auch die Ernährung der in Abhängigkeit Lebenden
unausführbar macht. Ferner macht die Vernachlässigung eines
Aneignens der zur entsprechenden Erhaltung des eigenen Selbst
und der Nachkommen erforderlichen Kraft entweder das Belasten
Anderer mit dem Darbringen von Unterstützung nothwendig,
oder aber , wenn sie sich dies zu thun weigern , es fügt ihnen
nothwendigerweise jenen Schmerz zu, welchen das Erblicken von
Elend verursacht .
Was die zweite Abtheilung der Bildung betrifft , so wird
eine gebieterische Verpflichtung dazu nicht behauptet . Diejenigen,
welche eine asketische Ansicht vom Leben haben, haben keinen
Grund für jenen Grad der Ausbildung der Fähigkeiten, welcher
dieses oder jenes andere verfeinerte Vergnügen zu erhöhen bestrebt
ist , und , wie wir z . B. bei den Quäkern sehen , es entsteht in
der That hieraus eine Missachtung und häufig eine Missbilligung
einer derartigen vollständigen oder theilweisen Ausbildung. Nur
diejenigen , welche den Hedonismus annehmen , können folge
richtig diese Übung des Verstandes und Gefühls vertheidigen .
welche den Weg zu verschiedenen, müssige Stunden ausfüllenden
Annehmlichkeiten vorbereitet. Nur sie allein können dieselbe
als zur Erlangung eines vollständigen Lebens nothwendig und
als aus diesem Grunde eine ethische Gutheissung erhaltend an
sehen.
Von diesen allgemeinen Ideen über Bildung , wesentlicher
und nichtwesentlicher , wollen wir zur Betrachtung der ein
zelnen Abtheilungen derselben übergehen .
§. 220. Bildung. 535

§. 220.
Es giebt einen, gewöhnlich vernachlässigten Theil der Bil
dung , welcher in gleicher Weise von denen , welchen er die
Mittel zum Leben liefert , wie von denen anerkannt werden.
sollte , welche von ihm keine materiellen Vortheile zu erlangen
suchen ; er mag passenderweise voran stehen. Ich meine die
Erlangung manueller Geschicklichkeit.
Dass dies eine passende Vorbereitung für das Leben bei
denen ist , welche mit productiver Industrie beschäftigt sind,
wird nicht bestritten werden , obgleich gegenwärtig selbst die
Knaben, welche es vielleicht nothwendig haben, nur wenig dazu
ermuthigt werden , sich Geschicklichkeit in Handverrichtungen
anzueignen ; nur jene Arten von Geschicklichkeit , welche die
Spiele mit sich bringen , werden gepflegt. Es sollte aber Ge
schicklichkeit in Handverrichtungen und Schärfe der Auffassung
auch von denen erlangt werden , welche dazu bestimmt sind,
Lebensgänge höherer Arten einzuschlagen . Ungeschicktheit der
Glieder und Unfähigkeit die Finger geschickt zu brauchen, bringt
beständig kleines Ungemach und gelegentlich grosses Unglück
im Gefolge ; während Gewandtheit häufig die Wohlfahrt entweder
des eigenen Selbst oder Anderer unterstützt. Jemand , der im
Gebrauch seiner Sinne und seiner Muskeln wohl geübt ist , ist
weniger leicht als der Ungeübte Unglücksfällen ausgesetzt und
weiss, im Fall des Eintretens solcher, sicher die Schäden wirk
samer auszugleichen . Wenn diese augenfällige Wahrheit nicht
unbeachtet gelassen würde , so würde es widersinnig sein , erst
noch darauf hinzuweisen , dass , weil die Gliedmaassen und die
Sinne zu dem Zwecke vorhanden sind, die Handlungen den um
gebenden Gegenständen und Bewegungen anzupassen , es die
Aufgabe von Jedermann ist, Geschicklichkeit in der Ausführung
solcher Handlungen zu erlangen.
Es soll Niemand meinen, dass ich hier die Erweiterung der
formalen Ausbildung in dieser Richtung vertheidige ganz im
Gegentheile . Das Hineinformen aller Erziehung in Lehrstunden
ist eine der Sünden unserer Zeit. Die Pflege der Geschicklich
keit in Handverrichtungen sollte , zusammen mit Gewandtheit
im Allgemeinen , im Gange der Arbeit zur Erreichung ander
weitig gewünschter Ziele geübt werden. Bei jeder vernunft
536 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. VI.

gemäss geleiteten Erziehung müssen zahllose Gelegenheiten ge


geben sein zur Übung jener Fähigkeiten , welche der Hand
werker und Experimentator beständig in Thätigkeit bringt.

§. 221 .
Intellectuelle Bildung in ihrer ursprünglichen Form ver
bindet sich mit der eben geschilderten Bildung ; denn da eine
Disciplinierung der Gliedmaassen und der Sinne sie geschickt
machen soll zu dem directen Behandeln der umgebenden Dinge.
so ist die Intelligenz in ihren aufeinanderfolgenden Stufen ein
Mittel , die Handlungen indirecter Arten , in ihrer Complexität
immer grösser und grösser werdend , zu leiten . Die höheren
Errungenschaften und Resultate des Intellects sind jetzt vom
praktischen Leben so entfernte geworden , dass ihre Beziehungen
zu demselben gewöhnlich aus dem Auge gelassen werden. Wenn
wir uns aber daran erinnern , dass in dem Stock , der zum Er
heben eines Steinblocks benutzt wird , oder in dem zur Fort
bewegung eines Bootes angewandten Ruders Beispiele von dem
Gebrauche von Hebeln vorliegen , während bei dem Zielen mit
einem Pfeile so verfahren wird , dass sein Fall während des
Flugs in Betracht genommen wird , und dadurch gewisse Grund
sätze der Dynamik stillschweigend in Anerkennung treten , und
dass von diesen unbestimmten frühzeitigen Erkenntnissen der Fort
schritt zu den Verallgemeinerungen der Mathematiker und Astro
nomen Schritt für Schritt verfolgt werden kann , so sehen wir,
dass Wissenschaft allmählich aus der rohen Kenntnis des Wilden
hervorgegangen ist. Und wenn wir uns daran erinnern , dass.
wie diese rohen Kenntnisse des Wilden zur einfachen Leitung
seiner lebenerhaltenden Handlungen dienten , die entwickelten
Wissenschaften der Mathematik und Astronomie zur Leitung in
der Werkstatt und im Geschäftshause und zum Steuern der
Schiffe dienen , während die hoch entwickelte Physik und Chemie
alle Processe der Manufactur beherrschen , so sehen wir , dass
an dem einen Ende der Reihe wie an dem andern die Förderung
der Fähigkeit der Menschen, erfolgreich die umgebende Welt zu
behandeln und dadurch ihre Bedürfnisse zu befriedigen , der Zweck
der intellectuellen Cultur ist , welcher allen andern vorausgeht.
Selbst für diese Zwecke erkennen wir es als praktisch, dass
die intellectuelle Bildung, welche uns mit der Natur der Dinge
§. 221 . Bildung. 537

bekannt macht , weiter sein sollte , als sie gewöhnlich für er


forderlich gehalten wird. Die Vorbereitung für diesen oder jenen
#t!-

Beruf ist bei weitem zu speciell . Es kann keine angemessene


Kenntnis einer besondern Classe natürlicher Thatsachen erlangt
werden oder einige Kenntnis anderer Classen. Jeder Gegen
stand und jede Handlung bietet gleichzeitig verschiedene Ord
nungen von Erscheinungen dar, -mathematische, physikalische,
chemische, - zu denen in vielen Fällen noch andere hinzutreten ,
welche dem Kreise der Lebenserscheinungen angehören ; und
diese Erscheinungen sind so mit einander verwoben , dass das
volle Verständnis irgend einer Gruppe das theilweise Verständ
nis der übrigen umfasst . Wenngleich auf den ersten Blick die
Ausdehnung der intellectuellen Bildung , wie sie hier als noth
4

wendig hingestellt wird , unausführbar zu sein scheint, so ist sie


: es doch nicht. Wenn die Erziehung richtig durchgeführt wird ,
01

so können die Hauptwahrheiten jedes Zweiges der Naturwissen


schaft deutlich mitgetheilt und fest aufgenommen werden , ge
trennt von den vielen, gewöhnlich zusammen mit ihnen gelehrten
Folgesätzen. Und nachdem eine solche Vertrautheit mit diesen
Hauptwahrheiten der verschiedenen Wissenszweige erlangt wor
den ist , dass ihre hauptsächlichsten Folgerungen verständlich
werden , wird es möglich , vernünftige Vorstellungen von jeder
einzelnen Gruppe von Erscheinungen zu erhalten und für eine
specielle Beschäftigung vollständig vorbereitet zu werden .
Jener Theil der intellectuellen Bildung, welcher die Kennt
nis der Naturwissenschaften umfasst, erfährt, während er indirect
von der Ethik gutgeheissen wird als zur Selbsterhaltung und zur
Erhaltung Anderer führend , auch eine directe Gutheissung ohne
die praktischen Zwecke zu berücksichtigen . Für das Dienst
mädchen, den Bauernjungen , den Gewürzkrämer, ja selbst für den
durchschnittlichen Philologen oder Schriftgelehrten bietet die
Welt , die lebende und todte , mit dem Universum rings umher,
kein so grossartiges Panorama dar, wie für diejenigen, welche von
den überall vor sich gehenden, unendlich grossen und unendlich
kleinen Handlungen eine gewisse Vorstellung erlangt haben und
sie nun noch von einer andern Seite als der technischen be
trachten können . Wenn wir uns vorstellen, dass in einen prächtig
ausgeschmückten Saal ein Lichtstumpf gebracht wird und nahe
'an irgend einen Punkt an der Wand gehalten die Zeichnung auf
538 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VL

einem kleinen Theil derselben sichtbar macht , während alles


Übrige dunkel bleibt , ―――――――― wenn wir uns statt dessen vorstellen,
dass plötzlich erzeugtes elektrisches Licht gleichzeitig auf einmal
den ganzen Raum mit seinem verschiedenen Inhalte erhellt , so
können wir uns eine Vorstellung von dem verschiedenen Bilde
machen , unter welchem die Natur von dem ganz ungebildeten
Geiste und von dem hochgebildeten Verstande betrachtet wird.
Wer nur immer diesen ungeheuren Gegensatz gehörig würdigt,
wird einsehen, dass Naturwissenschaft, richtig aufgenommen, eine
Erhebung des geistigen Lebens mit sich bringt.
Noch ein weiteres Resultat muss anerkannt werden . Jenes
Studium aller Classen von Erscheinungen , welches, während es
uns entsprechende allgemeine Vorstellungen von ihnen giebt,
uns bald in dieser Richtung bald in jener zu Grenzen hinführt,
welche keinerlei Forschung überschreiten kann, ist nothwendig,
um uns unserer Beziehung zu dem letzten Geheimnisse aller
Dinge bewusst zu machen, und in dieser Weise ein Bewusstsein
wach zu rufen , welches wir rechtmässigerweise als mit dem
ethischen Bewusstsein verwandt anselien dürfen.

§ 222.
In ihrer vollen Bedeutung angenommen umfasst die Kennt
nis der Naturwissenschaft auch Kenntnis der Socialwissenschaft,
und diese enthält eine gewisse Art von historischer Kenntnis.
Soviel davon wie zur politischen Richtschnur nothwendig ist,
sollte ein jeder Staatsbürger zu erlangen sich bestreben . Ob
gleich die grosse Mehrzahl der Thatsachen , aus denen richtige
sociologische Verallgemeinerungen gezogen werden können , nur
von jenen wilden und halbcivilisierten Genossenschaften dar
geboten werden, die in unsern erziehlichen Lehrplänen unbeachtet
gelassen werden , so sind doch manche Thatsachen erforderlich,
welche in der Geschichte entwickelter Nationen enthalten sind.
Aber ausser den unpersönlichen Elementen der Geschichte,
welche hauptsächliche Aufmerksamkeit verlangen , sollte auch
eine gewisse Aufmerksamkeit gerechterweise ihren persönlichen
Elementen geschenkt werden. Gewöhnlich nehmen diese voll
ständig die Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Geschichts
theorie der Grossen Männer , welche stillschweigend von den
Unwissenden aller Zeiten angenommen und in neueren Zeiten
§. 222. 1 Bildung . 539

.Th von Mr. CARLYLE bestimmt ausgesprochen worden ist , enthält


die Folgerung, dass Kenntnis der Geschichte aus einer Kenntnis
P der Herrscher und ihres Thuns besteht ; und durch diese Theorie
wird bei der grossen Masse der Menschen eine Liebhaberei für
Geschwätz über verstorbene Individuen genährt, welche nicht ach
1 tungswerther ist als die Liebhaberei für Klatscherei über jetzt
noch lebende Individuen. Aber während keinerlei , Könige und

E Päpste, Minister und Generäle betreffende Mittheilungen , selbst


INC. wenn sie mit erschöpfender Bekanntschaft der Intriguen und Ver
träge , Schlachten und Belagerungen verbunden werden , irgend
welche Einsicht in die Gesetze der socialen Entwicklung geben,
während die einfache Thatsache, dass Arbeitstheilung bei allen
vorwärts gehenden Nationen ohne Rücksicht auf den Willen der

K. Gesetzgeber und von ihnen unbeachtet fortgeschritten ist , ge


nügt , um zu erweisen , dass die den Gesellschaften Form geben
den Kräfte ihre Resultate abgesehen von den Zielen der leitenden
Staatsmänner und häufig trotz derselben ausgearbeitet haben, —
Bet
so sollte doch eine gewisse mässige Zahl von leitenden Per
sonen und ihre Handlungen passenderweise in Betracht gezogen
werden. Die vorausgegangenen Stufen des menschlichen Fort
schritts, von denen Jedermann Etwas wissen sollte , würden in
einer gar zu schattenhaften Gestalt vorgestellt werden , wenn
13

sie der Ideen von den mit ihnen zusammenhängenden Personen


und Ereignissen entkleidet würden . Überdies ist ein gewisser
4

Betrag einer derartigen Kenntnis nothwendig , um in angemessener


12
Weise die Auffassung der menschlichen Natur im Allgemeinen
zu erweitern , - um die Extreme, gelegentlich gut, aber meistens
schlecht, kennen zu lernen, welche diese zu erreichen fähig ist .
Mit der Bildung dieser Art geht naturgemäss eine rein
litterarische Bildung Hand in Hand . Dass eine solche in passen
dem Umfange in die Vorbereitung zu einem vollständigen Leben
mit eingeschlossen werden muss , bedarf keiner besondern Er
wähnung. Eher ist es nothwendig zu sagen , dass sowohl bei
einer ordentlich abgewogenen Erziehung als auch ebenso im
erwachsenen Leben der Litteratur weniger Raum eingeräumt
werden sollte als ihr jetzt zugemessen wird . Fast alle Menschen
sind zu geistigen Beschäftigungen leichterer Art oder von einer,
vergnügliche Erregungen ohne grosse Anstrengungen bietenden
Art geneigt , und Geschichte , Biographie , Werke der Fiction ,
SPENCER, Principien der Ethik. I. 35
540 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. VI.

Dichtung sind in dieser Hinsicht für die Majorität anziehender


als die Wissenschaft , anziehender als jene Erkenntnis der
Ordnung der Dinge im Grossen und Ganzen, welche als Richt
schnur des Handelns dient.
Indessen dürfen wir hier doch nicht vergessen , dass vom
hedonistischen Gesichtspunkte aus, welcher dieses direct erlangte
Vergnügen in Betracht zieht , litterarische Bildung grossen An
spruch an Anerkennung hat, und wir können auch zugeben, dass
sie , da sie zu Kraft und Reichthum der Ausdrucksweise durch
die Darbietung von Material für Bilder und Anspielungen führt.
die geistige Kraft und die sociale Wirkungsfähigkeit erhöht.
Beim Fehlen derselben ist die Unterhaltung matt.

§. 223.
In Bezug auf Bildung haben die Menschen wie bei andern
Sachen die Neigung, in das eine oder andere Extrem zu fallen.
Entweder es wird, wie bei der grossen Mehrzahl, Bildung über
haupt kaum erstrebt , oder sie wird , wie bei der Minderzahl,
beinahe ausschliesslich und häufig mit unglücklichen Folgen er
strebt.
EMERSON Sagt von den Gebildeten, dass das erste Erforder
nis sei, ein gutes Thier zu sein, und dies ist das erste Erforder
nis für einen Jeden . Ein Lebenslauf, welcher das Thier opfert,
obschon dies unter speciellen Verhältnissen vertheidigt werden
könnte , ist als allgemeiner Grundsatz nicht zu vertheidigen.
Innerhalb des Bereichs unserer positiven Erkenntnis sehen wir
nirgends Geist ohne Leben ; wir sehen nirgends Leben ohne
einen Körper, wir sehen nirgends ein volles Leben, ――― ein Leben.
welches in Bezug auf Intensität, Breite und Länge gleich hoch
steht , - ohne einen gesunden Körper . Jede Verletzung der
Gesetze der körperlichen Gesundheit ruft einen körperlichen
Schaden hervor, welcher eventuell in irgend einer Weise, wenn
gleich häufig in einer unsichtbaren Art , die geistige Gesundheit
schädigt.
Bildung ist daher zu fördern in Unterordnung unter andere
Erfordernisse . Ihre Ausdehnung muss derartig sein , dass sie
mit der körperlichen Wohlfahrt verträglich ist und dieser dient :
und sie muss auch derartig sein , dass sie mit der normalen
Thätigkeit nicht bloss der geistigen Kräfte, sondern aller andern
§. 223. Bildung . 541

Ic
verträglich ist und sie zu erreichen strebt . Wenn sie bis zu
E
einer Ausdehnung geführt wird , welche die Lebhaftigkeit ver
2. mindert und Gleichgültigkeit gegen die verschiedenartigen natür
lichen Genüsse erzeugt, dann ist sie ein Missbrauch ; und noch
mehr wird sie zum Missbrauch , wenn sie , was häufig der Fall
ist, so weit getrieben wird , dass Widerwille gegen die Gegen
stände erzeugt wird , in Bezug auf welche die Aufmerksamkeit
P ungehörigerweise angestrengt worden ist .
T Besonders was die Frauen betrifft , verlangt die Überbildung
H eine Verurtheilung , da durch dieselbe ungeheurer Schaden an
gerichtet wird. Man sagt uns , dass die höhere Erziehung, wie
sie jetzt in Girton und Newnham ertheilt wird , mit der Aufrecht
erhaltung guter Gesundheit nicht unverträglich ist , und wenn
wir diejenigen bei Seite lassen , welche genöthigt sind zurück
11
RS

zutreten , so ist dies allem Anscheine nach richtig. Ich sage


ET*

absichtlich " scheint richtig zu sein . " Es giebt verschiedene


Grade dessen, was gute Gesundheit genannt wird . Gewöhnlich
wird ihr Vorhandensein behauptet und vorausgesetzt, wo keine
körperlichen Störungen zu Tage treten ; es besteht aber ein
weiter Spielraum zwischen diesem Zustande und jener vollen
Gesundheit, welche sich in gehobener Stimmung und überströmen
der Energie äussert. Besonders bei Frauen kann eine Gesund
heit erhalten werden , welche gut zu sein scheint, und doch den
Ansprüchen der Rasse nicht zu entsprechen im Stande ist. Denn
bei Frauen ist noch bei weitem mehr als bei Männern consti
tutionell ein Überschuss von Lebenskraft vorgesehen , welcher
der Forterhaltung der Species gewidmet ist . Wenn der Körper
überangestrengt wird , so wird der in dieser Weise zurück
gehaltene Theil beträchtlich vermindert, ehe jener Theil, welcher
zur Erhaltung des individuellen Lebens verwandt wird , an
gegriffen wird. Die Kosten der Thätigkeit, und ganz besonders
der Gehirnthätigkeit, welche sehr kostbar ist, müssen getragen
werden ; und wenn der Aufwand übermässig ist , so kann ihm
ohne Abzug von jener Reservekraft, welche zur Erhaltung der
Rasse dienen sollte , nicht begegnet werden . Die reproductive
Fähigkeit wird in verschiedenen Graden geschmälert, - zuweilen
bis zu dem Grade , dass Unfähigkeit zum Empfangen von Kindern ,
zuweilen so weit, dass Unfähigkeit Milch zu geben, eintritt, und
in zahlreichen Fällen in geringerem Grade, welche ich hier un
35*
542 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VI.

erwähnt lassen muss . Ich habe gute Gewährsleute , wenn ich


sage , dass eines der entfernteren Resultate der Überbildung
sehr häufig eine Ursache häuslicher Entfremdung wird.
Ich will noch hinzufügen, dass eine angemessen hohe Bildung
ebenso der Männer wie der Frauen ohne Schaden erlangt werden
könnte , wenn unsere Art zu leben vernünftiger wäre . Wenn
die werthlosen Kenntnisse , welche in dem enthalten sind , was
jetzt als eine gute Erziehung angesehen wird , fortgelassen
würden , so könnte alles das, was zu einer Richtschnur zum Han
deln nothwendig, das Meiste von dem, was zur allgemeinen Auf
klärung wünschenswerth ist und ein gut Theil von dem , was
als besonderer Schmuck bezeichnet wird , ohne schädliche Nach
wirkungen erlangt werden .

§. 224 .
Den egoistischen Beweggründen zur Bildung müssen noch
die altruistischen Beweggründe angefügt werden . Ein der Kennt
nisse bares menschliches Wesen , welches auch Nichts von jenem
intellectuellen Leben hat, welches die Disciplinierung der geistigen
Anlagen verleiht, ist vollständig uninteressant . Eine Vergnügen
machende Person zu werden , ist eine sociale Pflicht . Daher
besitzt die Bildung , und namentlich die Bildung , welche zur
Belebung anregt , eine ethische Gutheissung , und hat sogar noch
etwas mehr erhalten .
Besonders gilt dies für ästhetische Bildung , von welcher
bis jetzt noch keine Notiz genommen worden ist . Während sie
vorgeschrieben wird als das Individuum selbst zur höchsten für das
vollständigste Leben und das grösste Glück erforderlichen Ent
wicklung führend, wird sie auch vorgeschrieben als die Fähigkeit
erhöhend, den Menschen der Umgebung angenehme Befriedigung
zu gewähren. Obgleich Übung in den bildenden Künsten , in
der Musik , in der Dichtkunst gewöhnlich zu ermuthigen ist,
hauptsächlich weil sie Empfänglichkeit für Freuden erzeugt,
welche der ästhetisch Ungebildete nicht haben kann , so sollte
man doch diejenigen , welche mit etwas mehr als durchschnitt
lichem Geschick dazu veranlagt sind , die Anlagen aus Beweg
gründen auch des Wohlwollens entwickeln lassen. Im höchsten
Grade gilt dies für die Musik ; und mehrstimmige Musik, welche
das persönliche Element unterordnet , sollte vor allen andern
§. 225. Vergnügungen . 543

Arten aus altruistischen Gründen gepflegt werden . Es muss


indessen hinzugefügt werden , dass Übermaass der ästhetischen
Bildung , genau so wie Übermaass in intellectueller Cultur , zu
missbilligen ist : in diesem Falle nicht wegen der damit zusammen
hängenden Überanstrengung , sondern wegen des ungehörigen
Aufwandes an Zeit , - der Inanspruchnahme eines zu grossen
Raumes im Leben . Bei einer Menge von Menschen , besonders
bei Frauen, ist die Pflege der Schönheit in einer oder der andern
Form die vorherrschende Beschäftigung. Um ein hübsches An
sehen zu erlangen , werden viel bedeutungsvollere Zwecke ge
opfert. Obgleich anerkannt werden muss, dass ästhetische Bildung
Ta

seitens der Ethik gutgeheissen wird , so ist doch , anstatt das


Verlangen nach ihr nachdrücklich hervorzuheben, eine bei weitem
grössere Veranlassung vorhanden , ihr Übermaass zu verdammen.
Eine scharf eingehende Abhandlung über ästhetische Sünden ,
welche überall in der Unterordnung der Nützlichkeit unter den
äusseren Schein sichtbar sind, thut Noth.

VII . Capitel.

Vergnügungen.
F
§. 225.
Ich habe das letzte Capitel mit einer Erörterung geschlossen ,
deren Hauptgegenstand sie mit dem Hauptgegenstande dieses
Capitels in Zusammenhang bringt. Unmerkbar gehen wir von ,
in ästhetischer Bildung einbegriffenen Thätigkeitsäusserungen und
1
der passiven Theilnahme daran zu solchen über, welche zu der
Gruppe der Erholungen und Vergnügungen gehören . Diese haben
wir jetzt vom ethischen Standpunkte aus zu betrachten .
Der grossen Mehrzahl derer , welche mehr oder weniger
von jenem Asketicismus in sich aufgenommen haben , welcher
zwar für Zeiten chronischer Fehden angemessen war und auch
als Zaum für eine unbeherrschte Sinnlichkeit von Nutzen ist ,
aber doch die Theorie des Lebens im Geiste zu vieler Menschen
T beeinflusst hat, mag es als eine widersinnige Annahme erscheinen ,
L dass Vergnügungen ethisch gerechtfertigt sind . Wenn sie sie
544 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. VII

aber nicht, in Gemeinschaft mit den Quäkern und einigen extremen


Evangelischen für positiv unrecht halten , so müssen sie entweder
sagen, dass Vergnügungen weder recht noch unrecht sind , oder
sie müssen sagen, dass sie positiv recht sind, - dass sie mora
lisch zu billigen sind .
Dass sie von einer hedonistischen Ethik gutgeheissen
werden , bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung . Sie sind
Vergnügen-bereitende Thätigkeitsäusserungen ; und darin liegt
ihre hinreichende Rechtfertigung, solange sie nicht in ungehöriger
Weise den Thätigkeiten, welche obligatorisch sind , Eintrag thun.
Obgleich die meisten unserer Freuden als Begleiterscheinungen
jener verschiedenen Verwendungen von Energie sind , welche
zur Selbsterhaltung und der Erhaltung der Familie beitragen ,
so ist doch die Beschäftigung mit einem Vergnügen des Ver
gnügens selbst wegen gutzuheissen und selbst zu empfehlen,
wenn die ersten, nächsten Pflichten erfüllt sind.
So sind sie auch ferner vom physiologischen Standpunkte
aus zu billigen . Es erhöhen nicht bloss die gemüthlichen An
nehmlichkeiten, welche die normalen das Leben erhaltenden Ar
beiten begleiten , die Lebensverrichtungen , sondern es werden
diese letzteren auch durch jene Annehmlichkeiten erhöht, welche
die überflüssigen Verwendungen von Energie begleiten , die mit
Vergnügungen verknüpft sind : sie werden in der That dadurch
noch viel mehr erhöht . Derartige Annehmlichkeiten dienen dazu,
die Fluth des Lebens zu erheben und in gehörigem Verhältnisse
genossen führen sie zu jeder Art von Wirkungsfähigkeit.
Endlich ist auch hier evolutionistisch eine Rechtfertigung
vorhanden. In § . 534 der Principien der Psychologie ist gezeigt
worden, dass, während bei den niedrigsten Geschöpfen die kleinen
bei ihnen vorhandenen Energien gänzlich in jenen Thätigkeits
äusserungen aufgebraucht werden , welche zur Erhaltung des In
dividuums und zur Fortpflanzung der Art dienen , sich bei Ge
schöpfen der aufeinanderfolgenden höheren Stufen ein stufenweise
zunehmender Vorrath nicht verbrauchter Energie erzeugt : jede
Vervollkommnung der Organisation führt etwas Ökonomie ein
und vergrössert damit die überschüssige Kraft . Dieser Über
schuss wird in dem ausgegeben, was wir Spiel nennen. Bei den
höheren Wirbelthieren wird die Neigung zu diesen überflüssigen
Thätigkeitsäusserungen augenfällig ; und sie wird besonders augen

1
§. 226. Vergnügungen . 545

fällig beim Menschen, wenn er in einer Lage ist, welche die Er


haltung seiner selbst und seiner Familie durch die mit der Con
currenz verbundenen Anstrengungen nicht zu beschwerlich macht.
Die stillschweigende Folgerung ist die, dass in einer vollständig
entwickelten Form des menschlichen Lebens ein beträchtlicher
Raum durch die Vergnügen-bereitende Ausübung der Fähigkeiten
ausgefüllt wird , welche nicht durch die täglichen Thätigkeits
äusserungen erschöpft sind.

§. 226.
In jener oben angezogenen Stelle der „ Principien der Psycho
logie " (§§ . 533-540) , wo ich diesen Unterschied zwischen den
das Leben erhaltenden Thätigkeiten und den Thätigkeiten einer
nicht das Leben erhaltenden Art gezogen habe, welch' letztere des
Vergnügens wegen ausgeübt werden , habe ich den weiteren Unter
schied nicht gezogen zwischen den Thätigkeiten der sensorischen
und denen der motorischen Organe. Es findet ein Unterschied
statt zwischen den Annehmlichkeiten , welche ästhetische Wahr
nehmungen gewähren und den von Spielen und Leibesübungen
ausgehenden . Es war Mr. GRANT ALLEN Vorbehalten , diesen
Unterschied in seiner „ Physiologischen Aesthetik" hervorzuheben .
Es kann indessen hier kein absoluter Unterschied gezogen
werden ; denn Annehmlichkeiten , welche aus gewissen Er
regungen der Sinne abgeleitet werden , sind häufig mit Muskel
thätigkeiten verbunden und von solchen abhängig , und ferner
werden die aus Muskelthätigkeit, welcher Art diese auch sein mag,
hervorgehenden Annehmlichkeiten ausgeführt unter der Leitung
der Sinne. Überdies ist mit beiden gewöhnlich eine starke Ge
müthserregung verbunden, welche bedeutungsvoller ist als beide.
Doch ist der Unterschied ein natürlicher, und Mr. GRANT ALLEN
hat ihn über allen Zweifel sicher gestellt.
Selbst Menschen asketischer Sinnesart verschmähen jene
Freuden , intellectuelle und gemüthliche , nicht, welche das Reisen
gewährt. Das Aufsuchen der ästhetischen Genüsse , welche
schöne Scenerie , die Berge, das Meer bieten, ――― an erster Stelle
diejenigen, welche unmittelbare Folgen der durch die Formen und
Farben erzeugten Gesichtseindrücke sind , hauptsächlich , und
secundär aber diejenigen , welche von den durch Association
angeregten poetischen Empfindungen ausgehen, ―― wird von Allen
546 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VII.

gebilligt. Dasselbe gilt in einem gewissen Grade von dem Auf


suchen jener Befriedigung, welche die Erforschung der unbekann
ten Formen des menschlichen Lebens und seiner Erzeugnisse.
fremder Völker, ihrer Städte, ihrer Lebensweise -――― gewährt.
Man wird zuweilen traurig gestimmt, wenn man denkt, was für
eine ungeheure Mehrzahl von Menschen auf die Welt kommen
und sie wieder verlassen und überhaupt kaum wissen , was für
eine Art von Welt es ist. Und dieser Gedanke legt es nahe,
dass, während das Reisen der Befriedigung wegen gutzuheissen
ist, es noch weiter der Bildung wegen gutgeheissen werden muss.
da die damit verbundene Erweiterung der Erfahrungen die all
gemeinen Vorstellungen beeinflusst und verständig macht. Moderne
sociale Veränderungen und Änderung der Ansichten sind in an
sehnlichem Maasse Folgen der Erleichterung des Verkehrs mit
ungleichen Formen des Lebens, des Charakters, der Lebensweise.
welche die Eisenbahnen mit sich gebracht haben.
Nach den Vergnügen, welche die wirkliche Darstellung neuer
Scenen bereiten, können passenderweise die Vergnügen genannt
werden, welche bildliche Darstellungen solcher gewähren . Wäh
rend dieselben in vielen Fällen hinter den von der Wirklichkeit
gewährten zurückbleiben, übertreffen sie diese in vielen andern
Fällen. Durch ihre Wiedergabe auf Leinwand wird einer land
schaftlichen Darstellung oder dem Innern eines Hauses noch ein
künstlerisches Interesse beigegeben, so dass etwas seinem Wesen
nach Alltägliches in etwas Schönes umgestaltet wird : möglicher
weise , weil der Geist in Gegenwart des Gegenstandes selbst so
sehr mit dessen andern Seiten beschäftigt war , dass seiner
ästhetischen Seite keine Aufmerksamkeit gewidmet wurde . In
dessen , mag die Ursache davon sein , welche sie wolle , Werke
der Kunst eröffnen neue Bereiche des Entzückens, und nach dem
Grundsatze des Hedonismus wird die Annahme dieses Entzückens
gutgeheissen oder vielmehr vorgeschrieben . Wenige Freuden
sind in noch vollständigerem Maasse zu billigen und weniger
der Missbilligung ausgesetzt, als diejenigen, welche Gemälde und
natürlich auch plastische Bildwerke gewähren.
Es scheint nicht wünschenswerth zu sein hervorzuheben,
dass die auch durch leichte Litteratur vermittelten Vergnügungen
eine ethische Gutheissung erfahren , wenn man sieht , dass so
allgemein eine Neigung vorhanden ist, diesen im Übermaass nach
§. 226. Vergnügungen . 547

zugehen. Vielleicht wird eine Erregung der Gefühle , wie sie


das Lesen guter Poesie hervorruft, in keinem ungehörigen Grade
aufgesucht , aber ohne Frage werden zu viel Romane u. dergl.
gelesen, wie es häufig der Fall ist mit Ausschluss jeder belehren
den Bücher , und Vernachlässigung nützlicher Beschäftigungen
verursachend . Während dem gelegentlichen Sichgehenlassen in
jener ausserordentlichen Befriedigung, welche das Verfolgen der
guten und üblen Schicksale imaginärer , aber durch lebendige
Charakterzeichnung zur Wirklichkeit gebrachter Personen ge
währt , ethische Gutheissung nicht vorzuenthalten ist , ist doch
das zu häufige Sichgehenlassen in dieser Richtung , welches so
allgemein ist, noch viel mehr zu missbilligen : diese gemüthliche
Unmässigkeit untergräbt die geistige Gesundheit. Auch dürfen
wir nicht zu bemerken vergessen , dass zwar eine Gutheissung
mit vollem Rechte für einen Roman von einer humanisierenden
Tendenz in Anspruch genommen werden kann , dass aber für
eine brutalisierende Dichtung , - für jenen Cultus des Blut
durstes , welchem so viele Geschichten gewidmet sind , nichts
anderes als Verdammung auszusprechen ist.
Natürlich kann vieles, was soeben vom Roman gesagt worden
ist , auch in Bezug auf das Schauspiel gesagt werden. Noch
höher selbst als die Befriedigung, welche das Lesen eines guten
Romans gewährt, ist die, welche ein gutes Schauspiel gewährt ;
und die durch ein Übermaass derselben hervorgerufene Demorali
sation würde noch grösser sein , wenn die gleiche Gelegenheit
fortdauernd darin aufzugehen vorhanden wäre . Intensive Ver
gnügungen müssen nur sparsam genossen werden . Das all
gemeine Gesetz des Verbrauchs und Wiederersatzes schliesst es
ein, dass im Verhältnis zur Reizung einer Fähigkeit eine spätere
Erschlaffung und Untauglichkeit zur Handlung eintreten muss ,
- eine Untauglichkeit, welche so lange andauert, bis der Wieder
ersatz vollzogen ist . Daher wird die überschwengliche Sympathie
für Personen in einem Roman oder einem Drama nur empfunden
auf Kosten einer darauf folgenden Unempfindlichkeit. Ebenso
wie das Auge, wenn es einem starken Licht ausgesetzt war, für
Augenblicke unfähig wird, jene schwachen Lichter wahrzunehmen ,
durch welche die uns umgebenden Gegenstände zu unterscheiden
sind, so tritt nach einem thränenvollen Mitgefühl für die , imagi
näres Unglück tragenden Leidenden für eine Zeitlang ein Fehlen
548 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. VIL

von Mitgefühl für Personen um uns herum ein . Häufiger Theater


besuch ist daher ebenso wie vieles Romanlesen ethisch zu miss
billigen.
Vielleicht ist unter den Vergnügungen der ästhetischen
Classe diejenige , welche Musik gewährt, die , welcher am aus
gedehntesten ohne üblen Folgen nachgegeben werden kann . Ob
gleich nach einem Concert , wie nach einem Roman oder nach
einem Schauspiel, das Leben matt erscheint, so tritt doch eine
weniger ausgesprochene Reaction ein , weil die dabei erregten
Empfindungen mit den durch den täglichen Verkehr angeregten
nur entfernt verwandt sind . Und doch wird den Freuden der
Musik bis zu einem Übermaass nachgegeben, welches , wenn es
nicht in anderer Weise schädlich ist, durch die damit verbundene
Aufwendung von Zeit, - durch die Erfüllung eines zu grossen
Raumes im Leben - schädlich ist.

§. 227.
Bei sämmtlichen vorstehend erwähnten Classen von Ver
gnügungen, welche als Resultat der überschüssigen Anregungen
der Lebenskräfte erscheinen , ist das Individuum wesentlich
passiv. Wir wenden uns jetzt zu der Classe , bei welcher es
hauptsächlich activ ist , eine Classe , welche wiederum in zwei
Classen unterabgetheilt werden kann, - in die des Sports und
die der Spiele . Mit den verschiedenen Formen des Sports hat
die Ethik nur wenig zu thun ausser der Abstufung ihrer Miss
billigung. Derartige Formen , welche das directe Verursachen
von Schmerz , besonders an Mitgeschöpfen im Gefolge haben,
sind nichts anderes als Mittel zur Befriedigung der von Wilden
der niedrigsten Art ererbten Gefühle. Dass es nach diesen
Tausenden von Jahren socialer Erziehung noch so Viele giebt,
welche sich an den Zweikämpfen im Preisringen oder an dem
Aufgespiesstwerden von Pferden und Reitern bei Stierkämpfen
erfreuen , beweist , wie langsam die Instincte der barbarischen
Zeit unterdrückt werden . Kein verdammendes Urtheil über
diese blutgierigen Vergnügungen , welche die allerschlechtesten
Theile der menschlichen Natur lebendig erhalten und dadurch
das sociale Leben auf's Tiefste schädigen , kann zu stark sein.
In einem gewissen , wenn schon in einem geringeren Maasse,
muss natürlich ein verdammendes Urtheil auch über den Sport
§. 227. Vergnügungen. 549

-
der Jagden ausgesprochen werden , in geringerem Maasse, weil
als theilweiser Beweggrund das Erlangen von Nahrung dazu
tritt , weil das Zufügen von Schmerz weniger augenfällig ist,
und weil das hauptsächlichste Vergnügen die erfolgreiche Auf
wendung von Geschicklichkeit gewährt . Es kann indessen nicht
geleugnet werden, dass alle Thätigkeitsäusserungen, mit welchen
das Bewusstsein verbunden ist, dass damit andern empfindenden
Geschöpfen , mögen sie auch noch so tief unter uns stehen ,
Leiden verursacht werden , in einem gewissen Grade demorali
sierend wirken . Es ist allerdings möglich, dass die Sympathien
so weit specialisiert werden können, dass die nämliche Person ,
welche mit wild lebenden Thieren keine Sympathie hat, für ihre
Mitmenschen in hohem Maasse Mitgefühl besitzt ; aber es kann
nicht ein voller Betrag von Sympathie in der einen Beziehung
vorhanden sein und in der andern fehlen . Es kann noch hinzu
gefügt werden, dass das Specialisieren der Sympathien noch die
Wirkung hat , dass sie in dem Verhältnisse kleiner werden , in
welchem der Abstand von der menschlichen Natur grösser wird ,
und dass daher das Tödten eines Hirsches mehr gegen sie ver
stösst als das Tödten eines Fisches.
Jene Formen des Aufwands von Lebenskraft , welche die
Form der Spiele annehmen , gewähren Freuden , welchen durch
in ihrem Gefolge auftretende Schmerzen nur geringer , wenn
überhaupt irgend ein Abbruch geschieht. Gewisse Formen , wie
Fussball, sind allerdings ebenso sehr zu missbilligen wie Sports,
da sie brutalisierender sind als manche Formen dieser ; auch
können jene Wettleistungen , sogenannte Spiele , wie Wettrudern ,
nicht besonders ethisch gebilligt werden, bei welchen eine schmerz
hafte und häufig schadenstiftende Überanstrengung des Körpers
durchgemacht werden muss, um einen Sieg zu erringen, der nach
der einen Seite Freude macht , auf der andern Schmerzen ver
ursacht. Jene Spiele finden aber ethische Gutheissung , mit
welchen, bei einem mässigen Aufwande von Muskelanstrengung,
die Anregung einer nicht zu intensiven Concurrenz verbunden
ist, eines Wettkampfes , der durch die wechselnden Zufälle des
Streites von Augenblick zu Augenblick lebendig erhalten wird.
Unter diesen Bedingungen sind die Thätigkeitsäusserungen der
Muskeln wohlthätig, die Ausbildung des Wahrnehmungsvermögens
ist nützlich, während dem gemüthlichen Vergnügen nur geringer
550 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VII.

Abbruch geschieht . Und hier werde ich veranlasst, die gegen


wärtig so allgemeine Gewohnheit zu beklagen, an die Stelle der
Spiele die Turnübungen zu setzen , - heftige Äusserungen der
Muskelkraft mit nur geringem damit verbundenen Vergnügen
an Stelle von mässigen Äusserungen der Muskelkraft verbunden
mit grossem Vergnügen . Dies widerrechtliche Vordrängen ist
eine Folge jenes verderblichen Asketicismus , welcher meint, dass
Vergnügen an sich keinerlei Bedeutung hat, und dass, wenn das
selbe Maass von Leibesübung geleistet wird , auch das gleiche
Maass von Wohlthat erreicht wird : die Wahrheit ist , dass jenem
Aufbrausen der Lebensfunctionen, welches die Freude hervorruft,
die Hälfte des Vortheils zuzuschreiben ist.
Über die häuslichen Spiele , welche hauptsächlich Schnellig
keit der Auffassung, Schnelligkeit der Überlegung und Schnellig
keit des Urtheils verlangen , kann allgemeine Billigung aus
gesprochen werden mit Einschränkungen von keiner grossen
Wichtigkeit . Für junge Leute sind sie besonders wünschens
werth , da sie verschiedenen intellectuellen Fähigkeiten eine
werthvolle, durch andere Mittel nicht zu erreichende Ausbildung
geben. Unter der Anstrengung des Wettkampfes werden die
Fähigkeiten schnell zu beobachten, genau aufzufassen und richtig
zu folgern erhöht ; und als Zugabe zu den unmittelbar erlangten
Freuden wird auch das Vermögen erlangt , vielen von den Zu
fälligkeiten des Lebens wirkungsvoller zu begegnen. Es muss
noch hinzugefügt werden, dass derartige Nachtheile , wie sie sich
hierbei wohl einfinden , wie die einen Sieg oder eine Niederlage be
gleitenden Erregungen , bei den Spielen , welche den Zufall als
einen ansehnlichen Factor enthalten , nur gering , aber da sehr
bemerkbar sind , wo kein Zufall mit in's Spiel kommt . Schach
z. B. , welches zwei Intelligenzen in einer solchen Weise zum
Kampfe verknüpft , dass die Überlegenheit der einen über der
andern in Bezug auf gewisse Kräfte ganz unverkennbar hervor
tritt, erzeugt, viel mehr als Whist, in dem Besiegten ein Gefühl
der Demüthigung ; und wenn die Sympathien sehr lebendig sind ,
erregt es bei dem Sieger ebenso wie dem Besiegten eine gewisse
Verstimmung.
Natürlich kann eine solche ethische Gutheissung wie sie
den Spielen zuerkannt wird , nicht ausgesprochen werden, wenn
Hasardieren oder Wetten mit ihnen verbunden wird . Da Beides
§. 228. Vergnügungen . 551

ASSE in einer sehr entschiedenen Weise und häufig bis zu einem


123 extremen Grade das Erlangen von Vergnügen auf Kosten des
Schmerzes eines Andern in sich schliesst , so sind beide zu ver

Hi dammen, und zwar sowohl wegen dieser unmittelbaren Wirkung,


als auch wegen der entfernteren Wirkung - des Unterdrückens
des Mitgefühls für Andere .

E
§. 228.
Ehe ich zu der altruistischen Seite der Vergnügungen über
gehe, muss noch eine weniger allgemein anerkannte egoistische
Seite erwähnt werden . Wenn sie nicht während ihres ganzen
Lebens sich ein Interesse an Zeitvertreib bewahrt haben , so finden
sich Die, welche in Folge von Überarbeitung heruntergekommen
sind (vielleicht ein ihnen durch gebieterische Pflichten auferlegt
gewesenes Überarbeiten) , gewöhnlich nicht im Stande , sich in
irgend einer befriedigenden Weise zu erholen : sie können sich
nicht mehr vergnüglich unterhalten . Die Fähigkeiten zu allen
übrigen Vergnügungen sind verkümmert , und das einzige Ver
gnügen für sie ist nur das , was der Beruf giebt. In solchen
Fällen wird eine Wiederherstellung, wenn nicht ganz verhindert,
so doch durch das Fehlen von aufheiternden Beschäftigungen
in hohem Maasse verzögert. Häufig leiden die in abhängigem
Verhältnisse Stehenden hierunter.
Diese letzte Betrachtung zeigt , dass diese Classen von
E
Handlungen, gleich andern , welche ursprünglich das Individuum
betreffen , in gewisser Ausdehnung auch andere Individuen be
treffen . Sie betreffen aber andere Individuen auch noch auf
eine noch directere und beständigere Art. Jeder Person liegt
nicht allein die gebieterische Verpflichtungob , sein Leben so
zu führen, dass eine unbillige Störung der Lebensführung Anderer
vermieden wird, und die nicht weniger gebieterische Verpflich
tung, unter verschiedenen Umständen Andere beim Führen ihres
Lebens zu unterstützen, sondern es liegt ihnen auch eine gewisse
Verpflichtung ob , die Freuden des Lebens Anderer durch Ge
selligkeit zu erhöhen und durch Pflege jener Kräfte , welche
zur Geselligkeit führen . Ein Mensch kann eine ganz gute öko
nomische Einheit in der Gesellschaft sein, während er im Übrigen
eine beinahe werthlose Einheit bleibt. Wenn er keine Kennt
nis von den Künsten , keine ästhetischen Empfindungen , kein
552 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VIII.

Interesse an Romanen , am Drama , an Poesie oder Musik hat.


wenn er nicht an irgend welchen Vergnügungen Theil nehmen kann
wie jenen , welche täglich und in längeren Zwischenräumen die
müssigen Stunden im Leben ausfüllen , ― wenn er nach alledem
einer ist , welchem Andere nicht leicht ein Vergnügen bereiten
können, während er gleichzeitig Andern kein Vergnügen machen
kann , dann wird er in hohem Maasse eine todte Einheit und
dürfte , wenn er nicht einen besondern Werth hat, besser ganz
aus dem Wege gehen.
Damit hiernach Jedermann zum allgemeinen Glück sein
Theil beitragen könne , soll er in gehörigem Maasse jene über
schüssigen Thätigkeitsformen ausbilden , welche ursprünglich
eigenes Glück gewähren.

VIII . Capitel.

Ehe.

§. 229.
Bis hierher ist , wenn nicht absolut , aber doch mit hin
reichender Deutlichkeit die Unterscheidung zwischen der Ethik
des individuellen Lebens und der Ethik des socialen Lebens auf
recht erhalten worden ; wir kommen aber in diesem und dem
folgenden Capitel zu einem Theile der Ethik, welcher in einem
gewissen Sinne zwischeninne steht. Denn bei den Beziehungen
der Ehe und der Elternschaft werden Andere betroffen , nicht
beiläufig und indirect, sondern nothwendig und direct. Während
die ursprüngliche ethische Gutheissung der sich aus ihnen er
gebenden Seiten des Betragens auf die gehörige Erfüllung des
individuellen Lebens bezieht, so sind diese doch nicht zu trennen
von jenen Seiten , die sich auf das Betragen beziehen , welches
wegen seiner Wirkungen auf die Umgebenden ethisch zu billigen
oder zu missbilligen ist.
Wir wollen zuerst einen Blick werfen auf die allgemeine
Verpflichtung, welche auf dem Individuum zur Unterstützung der
Erhaltung der Art liegt, während es den Anforderungen seiner
eigenen Natur genügt.
§. 230. Ehe . 553

§. 230.
In den " Principien der Biologie " (§§ . 334-351 ) wurde der
nothwendige Antagonismus erklärt zwischen individueller Aus
bildung und Reproduction , - zwischen der Aneignung von
Nahrung und Kraft für die Zwecke des individuellen Lebens , und
der Aneignung derselben zum Grundlegen für die Entwicklung
und Ernährung anderer Leben. Die extremen Fälle , in denen
nach einer Existenz von einigen wenigen Stunden oder einem
Tage der Körper des Erzeugers sich theilt oder in zahlreiche
Keime neuer Individuen zerfällt, und die weniger extremen Fälle,
in welchen ein kurzes Dasein der elterlichen Form mit der Um
wandlung der Haut in eine schützende Kapsel endet , während
das Innere ganz in junge Individuen umgewandelt wird , er
läutern in nicht misszuverstehender Weise das Aufopfern des in
dividuellen Lebens zur Erhaltung des Lebens der Art. Es wurde
gezeigt, dass , wenn wir in der Stufenleiter aufsteigend zu Ge
schöpfen eines complicierteren Baues und grösserer Beweglich
keit und besonders , wenn wir zu Geschöpfen , bei denen die
Jungen ernährt werden müssen, kommen, der Aufwand des elter
lichen Lebens zur Hervorbringung und zum Aufziehen anderer
Leben allmählich geringer wird . Ferner sahen wir nach der
Betrachtung der "" verschiedenen Interessen der Species, der Er
zeuger und der Nachkommenschaft " in den „ Principien der
Sociologie" (§§ . 275-277) , dass bei der menschlichen Species
eine solche Versöhnung dieser Interessen erreicht worden ist,
dass mit der Erhaltung der Rasse nur mässige individuelle Opfer
Hand in Hand gehen ; und weiter, dass wir mit dem Aufsteigen
von niedrigeren zu höheren Typen der Menschen uns dem Ideal
einer Familie nähern , in welcher 99 die Sterblichkeit zwischen der
Geburt und dem zeugungsfähigen Alter auf ein Minimum sinkt,
während die Unterordnung des Lebens der Erwachsenen unter
die Aufzucht der Kinder auf das möglichst kleine Maass zurück
geführt ist. "
Schliesslich bleibt indessen der Antagonismus zwischen der
individuellen Ausbildung und der Reproduction in Geltung, und
zwar gilt er in einer directen Weise , weil die Reproduction
nothwendigerweise körperliche Ansprüche macht , und gilt in
indirecter Weise , wegen der durch die Aufzucht der Kinder
554 Die Ethik des individuellen Lebens . Cap. VIII.

nothwendigen körperlichen und geistigen Anstrengung : eine An


strengung, welche zwar bei der Ausübung der geeigneten Instincte
und der Befriedigung der betreffenden Erregungen angenehm
empfunden wird und in so weit eine Erfüllung des individuellen
Lebens ist, aber doch nichtsdestoweniger eine Aufgabe ist , die
die individuelle Entwicklung in verschiedenen Richtungen be
schränkt.
Die Wahrheit aber , welche uns hauptsächlich angelegen
ist hervorzuheben, ist, dass sich aus der Annahme, die Erhaltung
der Rasse sei ein Desiderat, eine gewisse Art von Verpflichtung,
diese Anstrengung auf sich zu nehmen und sich diesem Opfer
zu unterwerfen , ergiebt . Überdies erfordert etwas der natür
lichen Billigkeit Vergleichbares, dass, ebenso wie jedes Individuum
den vergangenen Individuen für die Kosten seiner Hervorbringung
und Aufzucht verpflichtet ist , ihm auch die entsprechenden
Kosten zum Vortheil künftiger Individuen zu tragen obliegt .
Bei Stämmen und kleinen Gesellschaften, bei denen die Auf
rechthaltung der Zahlen von Bedeutung ist , wird diese Ver
pflichtung augenfällig ; und wie wir in der Auffassung der Un
fruchtbarkeit als einer Schande sehen , begegnet ein Fehl
schlagen in der Ausführung derselben der Missbilligung . Natür
lich kommt aber diese Verpflichtung in Wegfall bei grossen
Nationen , wo die Zunahme eher ein Übel als ein Vortheil ist ;
und hier kann in vielen Fällen das Individuum, der Mann oder
die Frau , seine oder ihre Verpflichtung in irgend einer andern
Weise als in einem Zuwachs zur Bevölkerung abtragen .

§. 231 .
Verlassen wir hier diese Betrachtungen , welche vielleicht
mehr zu der Ethik des socialen Lebens als zur Ethik des in
dividuellen Lebens gehören , und kehren wir zur Betrachtung der
Ehe als einem Theile des individuellen Lebens zurück, so haben
wir zuerst ihre ethische Gutheissung, als in dieser Art aufgefasst,
zu erwähnen. Alle Thätigkeitsäusserungen zerfallen in zwei
grosse Gruppen : diejenigen, welche das Leben des Individuums
ausmachen und erhalten , und diejenigen, welche das Leben der
Rasse fördern ; und hier scheint der Schluss gestattet zu sein,
dass , wenn zur vollkommenen Gesundheit die zu dem einen bei
tragenden Organe einzeln ihre Functionen ausführen müssen,
§. 231. Ehe. 555
Tel
Belmez es auch die zu dem andern beitragenden Organe thun müssen.

KODA Ein Theil der Organisation , welcher zur Hervorbringung von


Nachkommen bestimmt ist, kann kaum in Unthätigkeit gelassen
de
werden und den übrigen Theil der Organisation unbeeinflusst
Di ' lassen. Das nicht seltene Auftreten von Hysterie und Bleich
sucht zeigt , dass Frauen , bei denen die reproductive Function
ein weit grösseres Verhältnis zu der Gesammtsumme der Func
M:
tionen ausmacht als bei Männern , dem Erleiden schwerer con
stitutioneller Übel in Folge der mit dem Cölibat verbundenen
Fami
Unvollständigkeit des Lebens ausgesetzt sind : schwere Er
krankungen, denen wahrscheinlich in zahlreichen Fällen kleinere
Waste
und nicht wahrgenommene Übel entsprechen . Wie früher be
merkt worden ist , bestehen für das , was wir gute Gesundheit
Lemtr nennen, weite Grenzen ; und überall, bei Männern und Frauen ,
giebt es viele Störungen der vollen Gesundheit , welche nicht
--
als solche wahrgenommen werden, Störungen indessen, welche
erkannt werden können , wenn man sich des Contrastes zwischen
dem gewöhnlichen Zustande des Körpers und Geistes und dem
durch einen auffrischenden Ferienaufenthalt erlangten erinnert.
12 Dass die physiologischen Wirkungen eines vollständig cöliba
tären Lebens auf beide Geschlechter in einem bestimmten Maasse
67 schädlich sind, scheint fast eine nothwendige, sich aus den natür
in lichen Bedingungen ergebende Folgerung zu sein.
Mögen nun aber auch über diesen Punkt die Meinungen
auseinander gehen oder nicht, darüber besteht keine Meinungs
verschiedenheit , dass die Wirkungen eines cölibatären Lebens
geistig schädlich sind . Ein grosser Theil der Natur des Menschen ,
zum Theil intellectuell, aber hauptsächlich gemüthlich, ― findet
seinen Thätigkeitsbereich in dem ehelichen Verhältnis und später
in dem Verhältnis des Erzeugers zu den Kindern ; und wenn
dieser Bereich verschlossen wird, so müssen manche der höheren
Gefühle unthätig und andere nur schwach thätig bleiben . Das
durch die Ehe hergestellte Verhältnis ist der normale und noth
wendige Reiz , direct für specielle Elemente der Seele , und in
direct für alle ihre Elemente .
An erster Stelle muss eine Erhöhung der Lebenskräfte an
erkannt werden . Fortdauernde und scharfe Anstrengungen, im
Leben Erfolg zu haben , werden häufig durch die Verlobung an
geregt, - Anstrengungen, an welche vorher nicht gedacht wurde .
SPENCER, Principien der Ethik. I. 36
556 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VIII.

Dann dient später das Bewusstsein der Familien-Verantwort


lichkeiten, wenn solche eingetreten sind , als scharfer Sporn zur
Aufbietung der Kräfte : häufig allerdings ein so scharfer Sporn,
dass er beim Fehlen einer klugen Zurückhaltung zur Über
arbeitung führt . Die beachtungswertheste Thatsache aber ist,
dass unter diesen Bedingungen eine Erhöhung der Thätigkeit
verhältnismässig leicht und selbst vergnüglich wird, welche vor
her schwierig und abstossend war.
Die unmittelbare Ursache dieser grösseren Energie ist die
vermehrte Grösse der gemüthlichen Erregung, welche das ehe
liche Verhältnis und nach diesem das Verhältnis zu den Kindern
bedingt ; und dabei ist beides zu erkennen : ein grösserer Betrag
an gemüthlicher Erregung und eine höhere Form der Gemüths
erregung. Zu den niedrigeren egoistischen Gefühlen , welche
vorher die hauptsächlichen , wenn nicht die einzigen Reize ab
gaben , gesellen sich jetzt jene höheren egoistischen Empfin
dungen , welche in den Zuneigungen ihre Befriedigung finden,
in Verbindung mit jenen altruistischen Empfindungen , welche
ihre Befriedigung in dem Glücke Anderer finden . Welch' mäch
tige Einflüsse auf den Charakter hierbei thätig werden , zeigt
sich in der moralischen Umwandlung , welche die Ehe häufig
bewirkt. Häufig wird das eitle, gedankenlose , sich nur um Ver
gnügungen kümmernde Mädchen in die hingebende Frau und Mutter
umgewandelt ; und häufig wird der grillig angehauchte , sym
pathielose Mann in den aufopfernden Gatten und sorgenden Vater
umgewandelt. Und es ist noch hinzuzufügen , dass gewöhnlich
nun mehr als vorher die Zucht der Selbstbeherrschung aus
geübt wird.
Es äussert sich ferner auch eine gewisse Wirkung auf die
Denkfähigkeiten, vielleicht nicht sowohl hinsichtlich ihrer Stärke.
als vielmehr in ihrem Gleichgewicht. Bei Frauen wird häufig
die intellectuelle Thätigkeit vermindert ; denn der Antagonismus
zwischen der individuellen Ausbildung und der Reproduction ,
welcher bei ihnen am schärfsten ausgesprochen ist , macht sich
ganz besonders am Gehirn geltend . Aber sowohl für den Gatten
als für die Frau bieten sich täglich viele Veranlassungen zur
Ausübung des Urtheils , in gleicher Weise in ihrem Verhältnis
uz den häuslichen Angelegenheiten , zu einander und zu den
Kindern , ― Übungen der Urtheilskraft , welche im cölibatären
§. 232. Ehe. 557

Ba
Zustande nicht verlangt werden ; und daraus geht eine Zunahme der
intellectuellen Stetigkeit und des Sinnes für Gleichmaass hervor.
Es muss indessen bemerkt werden , dass die von der Ehe
zu erwartenden wohlthätigen Wirkungen, - als einem grossen ,
im andern Falle verhältnismässig unthätig gelassenen Theile der
el menschlichen Natur einen Wirkungskreis gebend , ――― eine nor
male Ehe, eine Ehe aus Liebe , zur Voraussetzung haben. Wenn
es statt dessen eine von der , ethisch zu missbilligenden Art
eine Geschäftsheirath ist, dann dürfte eher eine Erniedri
gung als eine Erhebung folgen .

§. 232 .
Jetzt kommen wir aber zu einer schwierigen Frage . Wenn
auf der einen Seite die Ehe , als eine Bedingung zur Erfüllung
des individuellen Lebens darbietend , ethisch gutgeheissen und
geradezu ethisch vorgeschrieben wird, und wenn auf der andern
Seite alle Handlungen , welche gewiss oder wahrscheinlich Übel
- Miss
im Gefolge haben , ethische Missbilligung erfahren ,
billigung , wenn das Übel wahrscheinlich nur das Individuum
selbst trifft , und noch mehr , wenn vorauszusehen ist , dass das
Übel Andere überkommt : was haben wir dann von unbedachten
Ehen zu sagen?
Die Wahrheit braucht nicht noch besonders betont zu wer
den , dass , wenn häusliche Verantwortlichkeiten übernommen
werden, ohne eine genügende Aussicht ihnen gerecht werden zu
können, ein Unrecht geschieht : besonders gegen die Kinder und ,
als selbstverständliche Folge , gegen die Rasse . Einen Schritt
zu thun, welcher zum Resultat einen von Armuth heimgesuchten
Hausstand mit halbverhungerter und halbbekleideter Familie
haben wird , ist , wenn er nach dem ihm folgenden Elend ab
geschätzt wird , einem Verbrechen sehr ähnlich . Wenn nach
langen Jahren des Kummers , der Sorgen , der Kälte und des
Hungers für Erwachsene und Kinder , einige von den vielen
Gebornen bis zur Reife aufgezogen sind , schlecht aufgewachsen ,
ungesund und der zur Selbsterhaltung nothwendigen Anstrengun
gen unfähig, so ist es ganz offenbar, dass Wesen hervorgebracht
worden sind , welche sich selbst und der Gemeinde ein Fluch
sind . Über das Betragen , welches derartige Folgen hat , muss
eine scharfe Verurtheilung ausgesprochen werden .
36 *
558 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VIII.

Und doch , was würde andererseits eintreten , wenn ohne


eine befriedigende Aussicht auf die Möglichkeit eine Familie er
halten zu können, keine Ehen geschlossen würden ? Nehmen wir
an, dass man sich im Durchschnitt zu einem Aufschub von zehn
Jahren entschlösse, so dass die Gefahren übler Folgen , welchen
sich die Menschen jetzt gewöhnlich aussetzen , nicht vorhanden
wären. Die verbreitete Voraussetzung ist, dass eine solche be
harrliche Selbstbeschränkung rein wohlthätig sei . Indessen ist
dies bei weitem nicht richtig .
Ich beziehe mich nicht auf die Thatsache, dass zehn Jahre
eines zum Theil abnormen Lebens ein ernstliches Übel sind , ob
schon dies bei der Abschätzung der Gesammtresultate mit in
Rechnung gezogen werden sollte . Ich denke auch nicht an
die vergrösserte Wahrscheinlichkeit häuslicher Missstimmungen,
welche daraus hervorgehen, dass weitere zehn Jahre jedem In
dividuum des verheiratheten Paares eine stärkere Festigkeit der
Meinungen und eine verminderte Umwandlungsfähigkeit der Em
pfindungen eingebracht haben. Ich denke aber hauptsächlich an
die Wirkungen auf die Nachkommenschaft. Die stillschweigende
Annahme , welche die Vertheidiger des MALTHUS'schen Mittels
gegen Übervölkerung machen , ist , dass es von keinem Belang
für die Kinder ist , ob sie jungen oder alten Eltern geboren
werden. Dies ist ein Irrthum .
Weil viele Factoren zusammenwirken , ist das Beweismaterial
so verdunkelt , dass die Aufmerksamkeit für gewöhnlich nicht
auf die angedeuteten Wirkungen gelenkt wird ; sie treten aber
ganz sicher ein. Der Antagonismus zwischen der individuellen
Ausbildung und der Reproduction schliesst unter andern Dingen
die Folgerung ein , dass die überschüssige , auf die Erhaltung
des Lebens der Species verwendbare Lebenskraft die ist, welche
nach der Erhaltung des individuellen Lebens übrig bleibt . Daher
sind die Wirkungen auf die Nachkommenschaft aus frühen, mittel
alterlichen und späten Ehen nicht beständig, weil der Überschuss,
trotzdem er in einem allgemeinen Verhältnis zum Alter steht,
nicht auf jeder Altersstufe constant ist. Aus dieser allgemeinen
Beziehung ergiebt sich aber das Resultat, an erster Stelle, dass
Kinder aus sehr frühzeitiger Ehe schädlich beeinflusst sind ; denn
da , wo die Entwicklung der Eltern , oder noch specieller der
Mutter, nicht vollendet ist, ist der verwendbare Überschuss ge
Ins
§. 232. Ehe. 559
trelet
ringer als der , welcher nach Vollendung der Entwicklung vor
eit eini
handen ist . Es ergiebt sich auch, dass da , wo die mütterliche
rden? Vr
Lebenskraft gross und in Folge dessen die überschüssige Lebens
Aufsb
energie gross ist, eine lange Reihe von Kindern geboren werden
Falsa
kann , ehe irgend eine Verschlechterung ihrer Qualität bemerk
mich bar wird, während andererseits eine Mutter mit einem nur kleinen
18 el Überschusse bald ganz und gar aufhören dürfte , sich fort
sei. zupflanzen. Als ferneres Resultat tritt ein, dass Abänderungen
in dem Gesundheitszustande der Eltern , welche Abänderung in
dem Überschuss an Lebenskraft mit sich bringen , ihre Wirkungen
auf die Constitution der Nachkommen äussern , in dem Maasse,
dass Kinder , welche während eines bedeutend gestörten Ge
sundheitszustandes der Mutter geboren werden , entschieden
G schwächer sind . Und dann ergiebt sich endlich und hauptsäch
lich das Resultat , dass , nachdem die constitutionelle Lebens
Fris energie ihren Höhepunkt erreicht hat und dann jenes allmähliche
Sinken beginnt , welches in etwa zwanzig Jahren oder so ab
ན་མ་ཤེས་པས་ solute Unfruchtbarkeit mit sich bringt , auch eine allmähliche
Abnahme jenes Überschusses an Lebenskraft eintritt, von welchem
die Erzeugung von Nachkommen abhängt, und mit ihr eine daraus
folgende Verschlechterung der Qualität solcher Nachkommen. Diese
en a priori Folgerung wird a posteriori bestätigt. Mr. J. MATTHEWS
DUNCAN hat in seinem Werke über „ Fruchtbarkeit , Unfrucht
EX barkeit und verwandte Gegenstände " die Resultate der Statistik
mitgetheilt , welche zeigen , dass Mütter von fünfundzwanzig
Jahren die schönsten Kinder zur Welt bringen und dass von
Müttern, deren Alter bei Schliessung der Ehe von zwanzig bis
fünfundzwanzig reicht , Kinder kommen , deren Sterblichkeits
verhältnis geringer ist , als wenn das Alter der Mutter entweder
grösser oder geringer ist : der scheinbare Widerspruch zwischen
diesen beiden Angaben ist ein Ergebnis der Thatsache , dass,
während die im Alter von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren
begonnenen Ehen die ganze Periode der höchsten Lebenskraft
decken , die im Alter von fünfundzwanzig begonnenen in eine
Periode fallen, welcher die Jahre fehlen, in denen die Lebens
kraft sich zu ihrem Höhepunkt erhebt und die Jahre des Herab
gehens vom Höhepunkt umfasst.
Diese Thatsache nun , dass Kinder von Müttern , welche
sich zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren verheirathet
560 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VIII.

haben , ein niedrigeres Sterblichkeitsverhältnis darbieten als


Kinder von Müttern, welche früher oder später geheirathet haben,
beweist , dass das Alter der Eheschliessung keine bedeutungs
lose Sache für die Rasse ist , und dass die Frage über frühes
oder spätes Heirathen weniger einfach ist als es den Anschein
hat. Während die Kinder einer verhältnismässig frühzeitigen,
unbedachtsam eingegangenen Ehe durch nicht zureichende Er
nährung leiden dürften, haben die Kinder aus einer späten Ehe
wahrscheinlich in Folge der anfänglichen Unvollkommenheit zu
leiden , - eine Unvollkommenheit , welche mit einer guten Ge
sundheit und einer mässigen Wirkungskraft verträglich , aber
doch jene höhere Wirksamkeit, welche für das beste und erfolg
reichste Leben erforderlich ist, entbehrt. Denn besonders heut
zutage unter der Herrschaft einer scharfen Concurrenz kann
ein geringes Weniger an constitutioneller Lebenskraft einen voll
ständigen Misserfolg mit sich bringen .
Ethische Betrachtungen bieten daher , ausgenommen die
entschiedene Missbilligung von Heirathen in einem früheren Alter
als zwanzig Jahren (bei den höheren Rassen der Menschheit)
nur eine unbestimmte Richtschnur . Gewöhnlich findet ein Com
promiss verschiedener Wahrscheinlichkeiten statt. Während
rücksichtslos unbedachtsame Heirathen auf's Schärfste verurtheilt
werden müssen , so scheint doch , dass in vielen Fällen recht
mässigerweise Gefahr gelaufen werden könne , damit nicht die
übeln Folgen eines zu langen Aufschubs eintreten.

§. 233.
Was hat aber die Ethik zu sagen betreffs der Wahl bei
der Ehe - die Wahl einer Frau seitens des Mannes und eines
Gatten seitens der Frau ? Sie hat sehr entscheidende Dinge zu
sagen.
Die gewöhnliche Conversation beweist, wie tief die geläufigen
Gedanken und Empfindungen über diese Frage stehen. „ Das
wird eine sehr gute Partie für sie sein , " ist eine Bemerkung,
welche man hört in Bezug auf irgend ein junges Mädchen, das
mit einem wohlhabenden Manne verlobt ist. Oder, wenn es sich
um die Wahl irgend eines jungen Mannes handelt, wird gesagt :
„Sie ist ein sehr gebildetes Mädchen und aus einem guten
Kreise ; ihre Freunde werden sich bemühen , ihn in seinem Be
§. 233. Ehe. 561

rufe vorwärts zu bringen. " Ein anderes verlobtes Paar wird


geschildert als gut für einander passend : er ist ein häuslicher
Mann und ihr liegt nicht viel an Gesellschaft. Oder, vielleicht
wird die bevorstehende Heirath aus dem Grunde mit Beifall
beurtheilt, dass die Dame eine tüchtige Hausfrau und mit einem
geringen Einkommen gut zu wirthschaften verstehen wird, oder
dass der künftige Gatte ein verträgliches Temperament hat und
nicht zu eigensinnig ist . Aber über das Passende der Verbindung ,
nicht nach den äusseren Verhältnissen, sondern nach ihrer inneren
Bedeutung betrachtet , wird nur wenig oder gar nichts gesagt .
Die erste Grundlage für ein ethisches Urtheil ist der gegen
seitige Zustand der die Verbindung erstrebenden Gefühle . Wo
nichts von jener gegenseitigen Anziehung vorhanden ist , welche
das antreibende Moment sein sollte , da können die evolutionistische
und die hedonistische Ethik nur gleichmässig protestieren , was
auch von andern Gesichtspunkten ausgehende Moralsysteme nur
sagen mögen. Ehen dieser Art sind nur Rückschläge auf Ehen
früherer Typen, auf solche, wie sie bei den rohesten Wilden zu
finden sind. Die mariage de convenance ist mit einem gewissen
Schein von Recht legalisierte Prostitution genannt worden .
Wenn wir aber nun das Verbot bei Seite lassen , welches
die Ethik über Ehen ausspricht , welche Handelsgeschäfte sind ,
oder welche aus andern Beweggründen geschlossen werden als
aus Liebe, so haben wir doch noch das physiologisch begründete
Verbot zu erwähnen . Wie schon in dem einleitenden Capitel
hervorgehoben wurde , so sehen wir auch hier , wie allgemein
die Blindheit ist, allen Folgen gegenüber, mit Ausnahme der aller
nächst liegenden, so zweifellos auch das Eintreten entfernt liegen
der Folgen sein mag. Nur in extremen Fällen denken entweder die
direct Betheiligten oder ihre Verwandten und Freunde an die
wahrscheinliche Qualität der Nachkommen bei Erörterungen über
das Angemessene einer Heirath. Missbilligung, sich vielleicht bis
zur Verurtheilung steigernd , wird wohl ausgesprochen , wenn
die in Aussicht genommene Verbindung eine Ehe zwischen Ge
schwisterkindern oder mit einem Theile ist, welcher wahrschein
lich Wahnsinn erbt ; aber die Inbetrachtnahme der von den
Nachkommen zu tragenden Folgen geht kaum darüber hinaus .
Schwacher Geist oder schlechte körperliche Constitution wird
nur selten als hinreichender Grund angesehen , einen Werber
562 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VIII.

zurückzuweisen . Magere , flachbrüstige Mädchen , geschwächte,


ewig kränkelnde Männer, von denen Manchen ihrer Constitution
nach körperliche Energie fehlt , andere , welche weder intellectuell
noch gemüthlich rechtes Leben haben, und Viele, welche wegen
dieses oder jenes Fehlers so schwach sind, dass sie zum Durch
führen des Kampfes um's Dasein untauglich sind , werden ge
wöhnlich für gut genug zur Ehe und zur Vaterschaft gehalten.
In einer beinahe wohlüberlegt scheinenden Weise werden so
Häuser gegründet, in denen Krankheit und Stumpfsinn und üble
Laune herrschen und aus denen ungesunde und unfähige Kinder
und Enkel hervorgehen .
Ethische Betrachtungen sollten hier als starre Hinderungs
gründe dienen . Wenn schon das Sich-leiten-lassen durch die
Gefühle insoweit zu achten ist, als Ehen , welche nicht von ihnen
veranlasst worden sind, verurtheilt werden müssen, so darf doch
dieses Sich-leiten-lassen durch die Gefühle nicht für so autoritativ
gehalten werden , dass alle von ihnen eingegebenen Ehen gebilligt
werden sollten . Eine Verwahrung gegen eine gewisse Verkehrt
heit der Empfindung muss stattfinden . Verhältnismässige Schwäche,
welche um Schutz bittet, ist einer der Züge bei Frauen, welche
beim Manne die Empfindung der Zuneigung erregt - ,,die zärt
liche Erregung , " wie BAIN es nennt ; und zuweilen regt ein
Grad von verhältnismässiger Schwäche , welcher den natürlich
vorhandenen übertrifft , dies Gefühl sehr stark an : das Mitleid,
welches mit Liebe verwandt ist, geht in Liebe aus . Es kommen
auch umgekehrte Fälle vor, in welchen eine Frau von ungewöhn
licher Kraft der Natur zu einem Manne hingezogen wird, welcher
an Körper und Geist schwach ist. Aber diesen Abweichungen
von den normalen Neigungen muss widerstanden werden. Die
Ethik verlangt , dass hier das Urtheil dem Instinct zu Hülfe
kommt und ihn controlliert.

§. 234 .
Es bleibt noch eine Frage übrig, welche regelmässig über
gangen wird , weil ihre Erörterung schwierig ist , deren Ver
nachlässigung aber mit zahllosem Missgeschick beladen ist ,
eine Frage, betreffs deren die Ethik in ihrer umfassenden Form
ein Urtheil zu sprechen hat und, ohne ihre Functionen zu ver
nachlässigen, abzugeben nicht ablehnen kann.
§. 234. Ehe. 563
idchen, by.
Das Wort : „ der Buchstabe tödtet , aber der Geist macht
en ihre
lebendig" wird nicht bloss durch die Art erläutert , in welcher
lewezz
Viele Te die Beobachtung religiöser Ceremonien die wesentlichen Vor
schriften der Religion ersetzt , sondern es wird allerorten be
dass
stätigt . Wie in dem ursprünglichen Rechtssystem der Römer,
h sind we
ehe es durch die Einverleibung des Jus Gentium Einschränkungen
atersca
erfuhr , das Wesentliche die Erfüllung von Formalitäten war,
WeiseP
mehr als die Behauptung des Rechts , - wie bei uns selbst die.
Thatsache , dass die Gerechtigkeit den technischen Formen der
nize
Gesetze geopfert wurde, zu dem ergänzenden System der Billig
keit geführt hat, dazu bestimmt, die sich ergebenden Ungerechtig
stareFa keiten gut zu machen , - wie ferner in dem System der Billigkeit
1-lassen die Beobachtung von Regeln und das Anpassen an Verordnungen ,
beth sich immer verwickelter gestaltend , im Verlaufe der Zeit so
issen, 8.22 schwerfällig und lästig wurde, dass die aus den Augen verlorene
t fürsor Billigkeit durch Unbilligkeit, oder Ungerechtigkeit, ersetzt wurde ,
nen Eer so ist es überall. Wo nur immer Erfordernisse , welche ihre
gewisseTer Wurzeln in der Natur haben , dahin gelangen , von einer von
1
massize aussen kommenden Autorität aufgenöthigt zu werden , da nimmt
eiFrase der Gehorsam gegen diese äusserliche Autorität die Stelle des
gt - 3 Gehorsams gegen die natürlichen Anforderungen ein .
Wella M Dies gilt in einem ansehnlichen Grade für die Ehe . Ich
mer den x meine hier nicht bloss , dass angenommen wird , Verbindungen
an: das einer wesentlich ungesetzlichen Art würden durch einen kirch
us. Esit lichen Act oder durch Eintragung legitimiert ; ich meine noch
Vol mehr. Ich meine, dass angenommen wird, wenn die bürgerlichen
Vorschriften erfüllt worden sind und die kirchliche Sanction
nwiri
Ab erlangt worden ist, sei keine weitere Controle anzuerkennen ,
Weria wenn die religiösen Beschränkungen und die socialen Beschrän

tinet kungen über die Beziehungen der Geschlechter zu einander ge


hörig beachtet worden sind, gebe es weiter keine Beschränkungen .
Die physiologischen Beschränkungen werden , weil sie keine
officielle Anerkennung gefunden haben, als nicht vorhanden an
genommen oder unbeachtet gelassen. Daraus entspringt eine
Imass
.deren! ungeheure Masse von Unglück.
Der Antagonismus zwischen individueller Ausbildung und
Maler &
Reproduction tritt während des ganzen Processes der Erhaltung
der Rasse in Thätigkeit. Es ist wohl richtig, dass das Erfüllen
oner
des individuellen Lebens zum hauptsächlichen Theile in der Förde
564 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. VIII.

rung des Lebens der Species besteht ; es ist aber auch nicht
weniger wahr, dass vom Anfang bis zum Ende das letztere dem
ersteren eine Grenze setzt . Wir haben nur zu bedenken , dass,
so entzückt auch die Mutter ist, wenn sie ihrem Kinde Nahrung
giebt, sie doch eine ernstliche körperliche Einbusse zu erleiden
hat ausser der körperlichen Einbusse , welche für sie mit der
Erzeugung des Kindes schon verbunden gewesen ist ; wir sehen
dann, dass, so gross auch die mütterliche Befriedigung sein mag,
sie bringt einen Verlust an Befriedigungen mit sich , welche ein
höher entwickeltes individuelles Leben ihr gebracht haben könnte,
und dass, wenn viele Kinder produciert und aufgezogen werden,
die Opfer am individuellen Leben und an den Freuden , welche
eine höhere Entwicklung mit sich bringen würde , sehr gross
werden. Dieses Gesetz hat unvermeidlich während der ganzen
-
Dauer der reproductiven Function vom Anfang bis zum Ende
ebenso mit dem Anfangspunkte wie mit dem endlichen Ausgange
- seine Gültigkeit ; und Vernachlässigung desselben, oder Gleich
gültigkeit gegen dasselbe , bringt tiefgehende , körperliche und
geistige Schädigungen mit sich . Wenn die physiologischen Be
schränkungen nicht beachtet werden , wird das Leben in jeder
Weise untergraben.
Wenn aus den sämmtlichen Hülfsquellen , welche die er
haltenden Organe an Material und an Kräften darbieten , der zur
Fortführung des individuellen Lebens erforderliche Theil bis über
das normale Verhältnis in Anspruch genommen wird, und zwar
von den naturgemäss dem Leben der Species vorbehaltenen
Theile, dann tritt eine Verminderung der Lebenskraft ein, welche
die vitalen Vorgänge und alle davon abhängenden Vorgänge
berührt. Es treten chronische Störungen der Gesundheit , ver
minderte körperliche Lebhaftigkeit , Sinken der geistigen Kräfte
und zuweilen sogar geistige Störung ein. In Folge des in dieser
Weise herbeigeführten Unheils , selbst wenn es noch nicht so
extrem sein sollte, findet sich das über die Familie und Andere
gebrachte Unheil ein ; denn die Unfähigkeit, Verpflichtungen zu
erfüllen, niedergeschlagene Stimmung und gestörter Geisteszustand
schädigen unvermeidlich die Individuen der Umgebung . Meh
rere Specialisten , welche reichliche Mittel zur Beurtheilung
haben , stimmen in der Ansicht überein , dass die aus Excessen
dieser Art sich zusammenhäufenden Übel grösser sind als
S
§. 235. Elternschaft . 565
st abe ..
die aus Excessen aller andern Arten entstehenden zusammen
de das
zu bes genommen.
rem Kink Wenn daher die Ethik , richtig aufgefasst, ein Urtheil über
das ganze, die unmittelbare oder entfernter liegende Wohlfahrt
des eigenen Selbst oder Anderer , oder Beides , beeinflussende
le fire.
Betragen ein Urtheil zu fällen hat , dann muss sie den Mangel
sen istr
an Selbstbeschränkung, welchen sie in andern Fällen verdammt,
riedi
auch in diesem Falle verdammen .
it sich F

DÍACTCE
Frenta
Türde. IX . Capitel.
treat
Elternschaft .
his r
nike §. 235.
Then de Der in diesem Capitel zu behandelnde Gegenstand ist natür
lich nur zum Theile von dem im letzten Capitel behandelten zu
trennen. Obgleich es indessen bei der Erörterung der Ethik
Leber: der Ehe , als an erster Stelle die Beziehungen der Eltern zu
einander betreffend , nothwendig war , die Beziehungen der Er
welde zeuger zu der Nachkommenschaft in Betracht zu ziehen, so hat
artitia es doch als das Beste geschienen , die ausführliche Betrachtung
DeThe dieser letzten Beziehungen einem besondern Capitel vorzu
wird: behalten.
Tarte Es ist bereits hervorgehoben worden, dass nach der Ordnung
raft der Natur ― ,,so sorgsam für den Typus . . . so sorglos in
Men T Bezug auf das Einzelleben " ------- die Wohlfahrt der Nachkommen
sade den Vorrang vor der Wohlfahrt derer erhält, welche jene her
vorbringen. Obgleich das Glück oder Unglück des verheiratheten
Paares gewöhnlich das hauptsächlich in Betracht gezogene Re
BOCC sultat ist, so muss dieses Resultat doch als von untergeordneter
eca Bedeutung angesehen werden im Vergleich mit den in den Nach
Robert kommen erzielten Resultaten der Superiorität oder Inferiorität
der gebornen und bis zur Reife erzogenen Kinder. Denn im
X-PET Verhältnisse , wie die Erhaltung der Rasse gut oder schlecht
erreicht wird, muss sich bei der Art oder Varietät die Neigung
Beat
zeigen, gut weiter zu gedeihen oder herabzukommen.
Es müssen daher alle die Erfordernisse , welche das nächst
S
566 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap . IX .

liegende Ziel , die Ehe, betreffen, als den Erfordernissen unter


geordnet betrachtet werden, welche das endliche Ziel berühren,
―――― das Aufbringen von Gliedern einer neuen Generation.
Die
evolutionistische Ethik verlangt , dass dieses letztgenannte Ziel
als das oberste Ziel angesehen wird.

§. 236.
Offenbar sichern die elterlichen Instincte in hohem Maasse
die Erfüllung dieses obersten Zweckes, denn eine jede Art oder
Varietät, bei welcher diese Instincte nicht stark genug sind ihn
zu erfüllen , muss sofort zum Aussterben gebracht werden . Wir
werden daher auf die Wahrheit geführt , dass die Erreichung
jener Freuden , welche die Elternschaft mit sich bringt , eine
doppelte Gutheissung erfährt , diejenige , welche die Ethik
des individuellen Lebens direct ergiebt , und diejenige , welche
indirect von der Ethik des socialen Lebens ausgesprochen wird.
Aber die Befriedigung der elterlichen Zuneigung ist, während
sie als ein Zweck an und für sich nicht unbeachtet gelassen
werden darf, doch , wie oben schon angedeutet wurde , haupt
sächlich als ein Sporn zur Erfüllung der elterlichen Verant
wortlichkeiten zu betrachten. Die Ordnung der Dinge wird
gestört, wenn dies Beides nicht in seiner natürlichen Beziehung
gehalten wird , wenn die Verantwortlichkeit, anstatt von den
Erzeugern selbst getragen zu werden , auf die Schultern Anderer
übertragen wird . Man könnte wohl gemeint haben, diese Wahr
heit sei zu augenfällig um erst noch ausgesprochen werden zu
müssen ; unglücklicherweise verhält es sich aber doch bei weitem
anders . Wir sind in böse Zeiten gekommen , in denen es dahin
gekommen ist , es für eine allgemein angenommene Lehre zu
halten , dass ein Theil der Verantwortlichkeit nicht von den
Erzeugern, sondern vom Publicum übernommen werden müsse,
ein Theil , welcher allmählich immer grösser wird und droht
das Ganze zu werden. Agitatoren und Gesetzgeber haben sich
zur Verbreitung einer Theorie verbunden, welche , logisch weiter
verfolgt, in die ungeheuerliche Folgerung ausgeht, dass es Sache
der Eltern ist, Kinder zu erzeugen, und Sache der Gesellschaft,
die Sorge um dieselben zu übernehmen . Die gegenwärtig in
Mode befindliche politische Ethik stellt ohne Zögern die Behaup
tung auf, dass ein jeder Mensch , während er als Erzeuger für
DR.
§. 236. Elternschaft. 567
forder
die geistige Cultur seiner eignen Nachkommenschaft nicht verant
icheZr.
wortlich ist , als Bürger , zusammen mit andern Bürgern für
1 GREE
die geistige Cultur der Nachkommen aller andern Menschen ver
letztam.
antwortlich ist ! Und diese widersinnige Lehre hat sich jetzt
so fest gesetzt , dass die Leute in Erstaunen gerathen , wenn
man sie leugnet. Eine sich von selbst verstehende Unwahrheit
hat sich in eine sich von selbst verstehende Wahrheit umgewandelt !
in b Hand in Hand mit dem beinahe ganz allgemeinen Aberglauben,
ine je dass die gesellschaftliche Ordnung ein Kunstwerk und nicht das
&g Product des Wachsthums ist , geht der nicht zu erschütternde
cht Glaube , dass Gesetzgeber , von ihren Wählern beeinflusst , mit
Vortheil eine der fundamentalen Einrichtungen , unter welcher
sich h sich die Natur im Grossen und Ganzen und die menschliche
Welle & Natur im Besondern bis hierher entwickelt hat, bei Seite setzen
diejenige können ! Männer , welche sich in geschäftlichen Speculationen
espn verschlagen gezeigt haben, Männer, welche sich bei Hetzjagden
P als gute Reiter bewähren und in ihren Grafschaften populär
eaubtety sind , Männer , welche bei Gerichtsverhandlungen gewandt sind
work . und einen schlechten Fall besser erscheinen lassen , Männer ,
welche einmal gute lateinische Verse geschrieben oder sich als
ers in Bezug auf die schlechte Aufführung der griechischen Götter
cben Be gelehrt erwiesen haben, vereinigen sich, organische Abhängigkeits
anstat verhältnisse, das Resultat einer Erziehung von Millionen Jahren,

Jalter A zu lösen . Männer , deren Bildung für die Ämter , welche sie
übernommen haben, von so wenig Belang ist, dass sie nicht ein

en wer mal einsehen, dass im socialen Leben Alles aus gewissen Zügen
des individuellen Lebens hervorgeht, dass das individuelle mensch
liche Leben nur ein specialisierter Theil des Lebens im Ganzen
Dtd 5
ist, und dass es daher, solange nicht die das Leben im Ganzen
De La
leitenden Wahrheiten begriffen sind , kein richtiges Verständnis
joht
des socialen Lebens geben kann , ―――― Männer , welche hiernach
denm
in Bezug auf die grossen Thatsachen , welche zu kennen haupt
11.
sächlich ihre Sache sein sollte, unwissend sind , haben versprochen ,
‫ن‬
den Befehlen von Leuten zu folgen , welche nicht bloss in Bezug
22hr
auf diese Thatsachen, sondern in Bezug auf das meiste Andere
ignorant sind. Die von den Ganzblinden gewählten Halbblinden
nehmen das Amt der Weltverbesserer auf sich ! Täglich an die
Entdeckung gewöhnt , dass feststehende Gesetze schlecht sind
und durch Parlamentsbeschlüsse abgeschafft werden müssen,
568 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IX.

haben sie unversehens ihre Gedanken auf Gesetze nicht


menschlichen Ursprungs ausgedehnt und unternehmen nun ruhig,
auch ein Naturgesetz durch einen Parlamentsbeschluss ab
zuschaffen !
Dieses Ignorieren der Wahrheit, dass alles Leben auf der
Erde nur durch die gehörige Erfüllung der elterlichen Verbindlich
keiten erwachsen ist und dass es nur durch die bessere Erfüllung
derselben allmählich möglich gemacht worden ist, bessere Lebens
typen zu erzeugen, wird aber im Laufe der Zeit verhängnisvoll.
Die Verletzung eines Naturgesetzes wird in diesem Falle , wie
in allen andern Fällen , in gehöriger Zeit zur Folge haben , dass
die Natur sich rächt ,
- und die Rache wird fürchterlich sein
in dem Verhältnisse , in welchem die Verletzung gross war.
Ein System, unter welchem die elterlichen Pflichten en gros von
denen erfüllt werden , welche nicht die Eltern sind , unter der
Ausflucht, dass viele Eltern diese Pflichten nicht erfüllen können
oder nicht erfüllen wollen , - ein System , welches hiermit die
minderwerthigen Kinder minderwerthiger Eltern nothwendiger
weise auf Kosten höher entwickelter Eltern und in Folge da
von zum Schaden höherwerthiger Kinder befördert , - ein
System , welches danach den Unfähigen dazu hilft, sich zu ver
vielfältigen und die Vermehrung der Fähigen verhindert , oder
ihre Fähigkeit vermindert , muss den Verfall und möglicher
weise das Aussterben herbeiführen . Eine Gesellschaft , welche
auf einem solchen Systeme verharrt , muss , unter sonst gleich
bleibenden Verhältnissen , an die Wand gedrückt werden im
Concurrenzkampfe mit einer Gesellschaft, welche nicht die Thor
heit begeht , ihre schlechtesten Glieder auf Kosten der Besten
aufzuziehen .
Das Gesetzbuch der Natur gestattet daher nicht, dass sich
Eltern ihren Verbindlichkeiten entziehen. Während es vom
hedonistischen Gesichtspunkte aus in nachdrücklicher Weise die
durch die elterlichen Zuneigungen gewährte Befriedigung gut
heisst , fordert sie vom evolutionistischen Gesichtspunkte aus
gebieterisch die Ausübung aller jener Handlungen , durch welche
die jungen Individuen auf den Kampf des Lebens vorbereitet
werden. Und wenn die Verhältnisse so liegen , dass ein Theil
dieser Handlungen durch Vertretung gethan werden muss , so
bleibt es immer eine Forderung , dass die damit verbundenen
ebens
§. 237. Elternschaft. 569
auff
ternehme Kosten und Mühen selbst getragen werden und nicht auf die
Schultern Anderer gelegt werden.
mens

§. 237.
alles Let
Die Zeit wird kommen , wo Hand in Hand mit der voll
ständigen Anerkennung der elterlichen Pflichten ein hartnäckiger
je bes
Widerstand gegen die unrechtmässige Anmaassung dieser Pflich
ist, be
ten auftreten wird . Während der Erzeuger , wie er es thun
ZeitFe
soll, gewissenhaft allen den Anforderungen genügen wird, welche
seine Vaterschaft mit sich bringt, wird er es einer jeden Vereini
Fuze e
gung von Menschen fest verweigern , seine Kinder von ihm fortzu
៦ . nehmen und sie nach ihrem Belieben zu modeln . Wir haben
etzung die Stufe überwachsen, auf welcher der Despot, mit einer Armee
Ebtenat hinter sich, seinen Willen allen Staatsbürgern auflegen konnte ;
'n sind wir haben aber den Zustand noch nicht überwunden , auf welchem
cht ertz eine Majorität von Staatsbürgern , mit der Polizei hinter sich,
elches ha den nicht zu ihrer Zahl gehörigen Staatsbürgern ihren Willen
TD vorschreiben kann in Bezug auf alle nur möglichen Dinge. Wenn
and aber dieser verachtungswürdige Aberglaube , dass die Majorität,
als im Besitze der Macht befindlich, auch im Besitze des Rechtes
ilt sa: ist, nach ihrem Belieben über die Personen und das Eigenthum
Paphinige
und die Handlungen derer , die zufällig in der Minorität sind ,
und al schalten und walten zu können , vorübergegangen ist , ―――――― wenn
llschar * man zu der Erkenntnis gelangt ist, dass Regierungsmaassregeln
ter SU an ethischen Vorschriften ihre Schranken finden : dann wird
afte jeder Erzeuger seinen Wirkungskreis als einen betrachten , in
night welchen der Staat nicht eindringen darf. Und wenn unter solchen
ten de Verhältnissen gelegentlich , wenn auch selten , einmal der Fall
eintritt, dass die elterlichen Pflichten nicht erfüllt werden, dann
nicht,& bringen die dadurch veranlassten üblen Folgen , nach dem starren
breai e Gange der Natur, ihre Heilung von selbst mit sich. Denn beim
where Menschen gilt , wie bei niedrigeren Geschöpfen , die Thatsache ,
medi dass die schlecht aufgebrachte Nachkommenschaft der Minder
Isp werthigen im Kampfe um's Dasein mit der gut aufgezogenen
‫لللا‬ Nachkommenschaft der Vorzüglicheren unterliegt und nach einer

S oder nach zwei Generationen zum Vortheil der Species ausstirbt.


Das ist eine strenge Zucht , werden die Meisten sagen. Ganz

Term richtig ; die Natur übt aber eine Zucht aus, welche vielfach hart
TENS ist , und welcher doch auf die Länge gehorcht werden muss .
T
570 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IX

Den Nothwendigkeiten, welche sie uns auflegt, kann nicht ent


gangen werden, selbst nicht durch die vereinigten Anstrengungen
von Universitäts- Graduierten und Abgeordneten der Arbeiter;
und der Versuch , sich ihrer Zucht zu entziehen , läuft in einer
noch härtere Zucht aus. Maassregeln , welche das Verschwin
den der minderwerthigen Individuen und Familien verhindern,
müssen im Laufe der Generationen ein Verschwinden der Nation
im Grossen und Ganzen verursachen.
Zu derselben Zeit, wo der Eingriff in die elterliche Sphäre,
in einem normalen socialen Zustande , als eine Übertretung
empfunden wird, wird er auch ferner als eine Beraubung jener
täglichen Freuden empfunden werden, welche die Förderung der
Entwicklung der jungen Individuen an Körper und Geist ge
währt. Denn wenn die Thorheiten einer Erziehung ausgestorben
sein werden, welche kurz beschrieben werden kann als eine, die
dem Geiste das vorenthält , was er braucht , und ihm das auf
nöthigt , was er nicht braucht , dann wird eine Zeit kommen,
in welcher die Beaufsichtigung der Erziehung , auf alle Fälle in
ihren sämmtlichen einfacheren Theilen , gleichzeitig leicht und
erfreulich sein wird . Das allgemeine Gesetz , dass durch auf
einanderfolgende Stufen der organischen Entwicklung hindurch
eine Verlängerung der Periode eintritt, während welcher elter
liche Pflege aufgewandt wird , wie es sich schliesslich in dem
Gegensatze zwischen der menschlichen Rasse und niederen Rassen
ebenso wie in dem Contraste zwischen Nicht- civilisierten und
Civilisierten zeigt, ist ein Gesetz , welches, wie es jetzt ein langes
und mühsames körperliches Aufziehen der Jungen durch ihre
Eltern mit sich bringt, später ein langes und sorgfältiges geistiges
Aufziehen derselben durch die Eltern mit sich bringen wird ;
und obgleich die höheren und specielleren erzieherischen Lei
stungen durch Stellvertretung werden ausgeführt werden müssen,
so wird doch diese stellvertretende Ausführung unter elterlicher
Oberaufsicht stattfinden .
Die Menschen empfinden keinen angemessenen Stolz darüber ,
schöne menschliche Geschöpfe zur Reife zu bringen . Es ist wohl
wahr, dass die Mutter, welche jedes ihrer Kinder mit Triumph
vorführt und sich während deren Kindheit daran erfreut, es den
Besuchern, niedlich angekleidet und mit einem Haar, auf welches
morgens und abends viel Zeit verwandt worden ist, vorzustellen,
§. 238. Elternschaft . 571
ENPRAZNIVC

die Ernährung nicht gänzlich vernachlässigt und auch dafür be


sorgt ist, dass den täglichen Lectionen gehörige Aufmerksamkeit
gewidmet wird. Es ist auch ferner wahr , dass der Vater , die
Bestimmung der Orte zur Erziehung seiner Knaben gewöhnlich
der Mode überlassend , zuweilen Erkundigungen einzieht und ein
unabhängiges Urtheil ausübt , und überdies mit Befriedigung
einen guterzogenen Jüngling und einen , welcher mit Preisen
nach Hause kommt, betrachtet. Es ist aber nichtsdestoweniger
wahr , dass wir kaum irgendwo die nothwendige eingehende
Sorgfalt finden . Schwere Missgriffe werden täglich in beinahe
jeder Familie begangen aus Unkenntnis der physiologischen An
forderungen ; und beim Fehlen der als Richtschnur dienenden
Kenntnis seitens der Eltern wachsen zahllose Kinder heran mit
für ihr ganzes Leben geschädigten Constitutionen . Gleichzeitig
findet sich auch keine derartige , wohl überlegte Unterstützung
-
für den Geist eines jeden Kindes, wie sie erforderlich ist, kein
Suchen nach einem Gange intellectueller Bildung , welche dem
Inhalte und der Methode nach vernünftig ist , und nichts ausser
einer kurz angebundenen moralischen Zucht. Wenn wir beob
achten, welche Energie von Vater und Mutter darauf verwandt
wird , Erfolg in der Welt zu erreichen und sociale Ansprüche
zu erfüllen , dann werden wir darauf geführt , wie verhältnis
mässig klein der Raum ist , welchen der Ehrgeiz einnimmt,
die Nachkommen körperlich , moralisch und intellectuell höher
stehend zu machen . Und doch ist dies der Ehrgeiz , welcher
jenen jetzt so eifrig von Eltern verfolgten ersetzen wird , und
welcher anstatt beständiger Enttäuschungen eine dauernde Be
friedigung hervorrufen wird.
Und dann wird als eine Folge der Erfüllung jener hohen
elterlichen Functionen jene Belohnung im hohen Alter kommen ,
welche in einer liebevollen Pflege durch die Kinder besteht, viel
grösser, als eine solche jetzt bekannt ist.

§. 238.
Irgend etwas einer gehörigen Erfüllung elterlicher Verpflich
tungen, wie sie hier aufgefasst werden , Ähnliches ist nur unter ge
wöhnlich unbeachtet gelassenen Bedingungen möglich Be
dingungen , von deren Nichtbeachtung angenommen wird , dass
sie nicht in das Bereich der ethischen Beurtheilung falle.
SPENCER, Principien der Ethik. I. 37
572 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IX.

„ Die Vorsehung hat mir eine grosse Familie geschickt, " ist
eine Bemerkung, welche gelegentlich von Jemand gehört werden
kann, welcher mehr Kinder hat als er versorgen kann . Obgleich
er sich in andern Beziehungen nicht zu einem orientalischen
Fatalismus bekennt , in dieser Beziehung thut er es. " Gott hat
es so gewollt, " scheint sein Gedanke zu sein ; und indem er so
denkt , hält er sich für befreit von Tadel dafür , dass er die
Kümmernisse eines von Armuth gedrückten Hauswesens über
sich gebracht hat.
Wenn indessen unbedacht eingegangene Ehen missbilligt
werden müssen , ――――― wenn das zur Welt- Bringen von Kindern .
wo wahrscheinlich die Mittel , irgendwelche zu erhalten , nicht
vorhanden sein werden, ein die Verurtheilung herausforderndes
Betragen ist, dann müssen auch die verurtheilt werden, welche
viele Kinder zur Welt bringen , wenn sie nur die Mittel haben.
deren nur wenige aufzuziehen. Unbedachtsamkeit nach Ein
gehen der Ehe kann nicht als recht betrachtet werden , wenn
Unbedachtsamkeit vor der Verheirathung für unrecht an
gesehen wird.
Die verkümmerten und übelgestalteten Körper der Bewohner
des Ostendes von London erzählen von der mageren Kost und
der mangelhaften Kleidung , unter denen die vielen Kinder von
Eltern mit knappen Mitteln während ihrer ersten Lebensjahre
gelitten haben ; und selbst in Dörfern auf dem Lande , wo die
sanitären Zustände verhältnismässig gut sind, kann man an den
schwächlichen und kränklichen Menschen die Resultate der Ver
suche sehen, grosse Familien bei geringem Lohne aufzubringen.
Während diese unüberlegte Vermehrung die sich täglich er
neuernden Leiden nicht befriedigten Hungers und das Elend
unzureichender Erwärmung mit sich bringt , - während ihr
jener Mangel an körperlicher Kraft zur Last zu legen ist, welche
eine ausgiebige Arbeit unausführbar macht, bringt sie auch ge
wöhnlich eine geistige Stumpfheit mit sich, welche alle mit Aus
nahme der allermechanischsten Leistungen unmöglich macht ;
denn geistige Kraft kann nicht von schlechtgenährten Gehirnen
ausgehen. Unglückliches und mühsames Leben ziehen sich hier
nach Eltern zu , welche mehr Kinder hervorbringen als sie ordent
lich aufziehen können.
Die Dinge werden ferner dadurch noch schlechter gemacht,
§. 239. Elternschaft . 573
12
dass den Eltern selbst eine ungehörige Last aufgelegt wird , -
dem Vater , wenn er gewissenhaft ist , durch eine nachtheilige
Q1 Arbeitsmenge, und noch mehr der Mutter, deren Körper, schon
erschöpft durch die Geburt so vieler Kinder, noch weiter durch
die Sorgen erschöpft wird, welche Tag für Tag die vielen Kinder
beanspruchen. Die hedonistische Ethik, wenn wir sie als ganz
Da
besonders die unmittelbaren Wirkungen auf das Glück in Be
T
tracht ziehend auffassen, verurtheilt offenbar streng ein Betragen ,
welches in dieser Weise Elend rings um sich her hervorruft,
während die evolutionistische Ethik, wenn wir sie als ganz be
sonders die zukünftigen Resultate in Betracht nehmend ansehen ,
ein Betragen streng verurtheilt , welches hiernach niedriger
stehende Naturen anstatt höherer den späteren Generationen
ande übermittelt.
Mit: Selbst wo Eltern hinreichende Mittel besitzen , für die körper
13. liche Wohlfahrt vieler Kinder in ausreichendster Weise zu sorgen,
PRE
muss doch immer die Vorsorge für ihre geistige Wohlfahrt un
genügend sein . Wenn schon in einer Familie mit mehreren
Kindern diese sich unter einander ergötzen und einander lehren
und in dieser Weise gegenseitig ihr geistiges Wachsthum unter
stützen, so wird doch, wenn ihre Zahl zu gross wird , die elter
liche Aufmerksamkeit, welche sie einzeln nöthig haben, zu sehr
vertheilt, und die tägliche Entfaltung elterlicher Liebe, welche
bei der moralischen Entwicklung der Kinder ein bedeutsamer
9.2

Factor ist, kann nicht einem jeden in angemessenem Maasse ge


widmet werden.

§. 239.
Dem ethischen Tadel dieser unbedachten Vermehrung muss
3

noch ein gleicher Tadel einer gewöhnlich damit verbundenen


und in hohem Maasse jene verursachenden Unbedachtsamkeit
angeschlossen werden. Das Wesen derselben wird sich am
besten zeigen, wenn ich einige Thatsachen anführe, von Rassen
dargeboten, welche , da sie uncivilisiert sind , als in allen Be
ziehungen niedriger als wir stehend angesehen werden .
Die erste derselben kommt von einer in den meisten ihrer
Gebräuche brutalen Genossenschaft - von Uganda.

„ Die Frauen haben selten mehr als zwei oder drei Kinder, und
es besteht ein Gesetz , dass eine Frau , wenn sie ein Kind geboren
37*
574 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IX.

hat, zwei Jahre lang von ihrem Manne getrennt leben muss , in wel
"
chem Alter die Kinder entwöhnt sind.
Bei einem noch brutaleren Volk, - den Fidschi-Insulanern,
finden wir eine ähnliche Thatsache . SEEMANN sagt :

"" Nach der Geburt eines Kindes leben Mann und Frau für drei,
selbst vier Jahre getrennt von einander, so dass kein anderes Kind
störend in die Zeit fällt, welche für das Stillen der Kinder als noth
wendig angesehen wird . ...
. . . Ich hörte von einem Weissen erzählen,
welcher auf die Frage , wie viel Brüder und Schwestern er habe,
offenherzig geantwortet hatte, zehn ! " " Das kann aber nicht sein, "
war die Entgegnung der Eingebornen , „ eine Mutter kann kaum so
LL
viele Kinder haben. ' Als erzählt wurde, dass diese Kinder in jährigen
Zwischenräumen geboren wären und dass derartige Vorkommnisse in
Europa gewöhnlich wären, waren sie sehr verwundert und glaubten, dass
es hinreichend erkläre, warum so viele Weisse „blosse Knirpse " wären.

In diesen Fällen besteht indessen Polygamie : so macht


beispielsweise in Uganda die ungeheure Überzahl der Frauen,
zum Theil in Folge der Vernichtung der Männer im Kriege und
zum Theil in Folge der Gefangennahme von Frauen im Kriege,
dieselbe beinahe ganz allgemein . Hier ist daher der Gebrauch,
insoweit die Männer in Betracht kommen, nicht so merkwürdig.
Aber in zwei der grösseren Bezirke von Neu- Guinea giebt es mono
game Völkerschaften, bei welchen eine gleiche Regel gilt. Der
Rev. J. CHALMERS erzählt uns , dass in Motu-Motu die Eltern
nach der Geburt eines Kindes „nicht eher wieder zusammen
leben , als bis das Kind kräftig ist, läuft und entwöhnt ist ; und
in dieser ganzen Zeit schläft er [der Ehemann ] in Dubu. Seine
Freunde kochen Nahrung für ihn . " In ähnlicher Weise erzählt
er uns von dem Motu- Stamm , dass die Eltern getrennt leben,
" bis das Kind geht und entwöhnt ist" . Um sich der geläufigen
Meinung hierüber zu vergewissern , legte er ihnen die Frage
vor : „Wenn ein anderes Kind geboren wird, ehe das erste gross
und im Stande ist zu gehen, schämen sie sich dann ? " Hierauf
erhielt er die Antwort : „ Ja , schrecklich ; und das ganze Dorf
wird davon sprechen. "
Es zeigen uns daher jene kriegerischen und blutgierigen
Völkerschaften und noch mehr diese handeltreibenden, friedfertigen
und monogamen Stämme von Neu-Guinea ein tiefes Bewusstsein
der Wahrheit , dass zu häufiges Kinderbringen für die Rasse
-
nachtheilig ist, dass es sowohl gegen die möglichst vollstän
§. 240. Elternschaft . 575

dige Entwicklung des bereits gebornen als auch des sofort ge


boren werdenden Kindes verstösst. Ausser jenem beständig
vorhandenen Überschuss an Lebenskraft, welcher im Haushalte
es weiblichen Körpers nach der Ausgleichung des Aufwandes
für das individuelle Leben übrig bleibt, ist auch noch das vor
24
handen , • was wir einen Reservefonds an Lebenscapital nennen
Kin
können , angehäuft während der Zwischenräume , in denen der
Überschuss nicht in Anspruch genommen wird . Dieser Reserve
lat fonds , während der Zeit , in welcher ein Kind entwickelt wird,
aufgebraucht , bedarf einiger Zeit zu seinem Wiederersatze,
einer kürzeren oder längeren Zeit, je nachdem die constitutionelle
Energie gross oder klein ist. Und wenn, lange vor dem Ende
jener Zeit , das Zeugungssystem wieder in Thätigkeit gerufen
wird , so ist das doppelte Resultat eine übermässige Belastung
des mütterlichen Körpers und ein Kind , welches Einbusse an
seiner vollkommenen Entwicklung erleidet ; gleichzeitig wird sein
Vorgänger zu zeitig seiner natürlichen Nahrungsquelle beraubt.
Dies sind die nothwendig eintretenden Folgen . Es sind dies
begleitende Folgeerscheinungen jener allgemeinen Ursache, welche
die Reproduction vor und nach gewissen Altersstufen unmög
lich macht.
Es spricht daher hier, wie in verschiedenen vorausgehenden
Fällen, die evolutionistische Ethik ein Verbot aus , für welches
die landläufige Ethik , aus welcher Quelle sie auch abgeleitet
werden mag, kein Anzeichen einer Aussprache hat.

§. 240.
Wie sind denn nun die Interessen des Individuums und die
Interessen der Rasse mit einander auszusöhnen ? Diese Frage,
welche sich hier ganz unvermeidlich darbietet, ist eine schwierig ,
wenn nicht unmöglich zu beantwortende , --- vielleicht können
die beiden nicht mit einander ausgesöhnt werden.
Wie bereits viele Male gesagt worden ist, sind die Menschen
lange Zeit auf dem Wege gewesen , sich dem socialen Zustande
anzupassen , in welchen sie die Zunahme der Zahl gezwungen
hat , und haben sich nur theilweise demselben angepasst. Auf
vielfache Weisen hat das Überleben von Instincten , welche dem
praesocialen Zustande angemessen waren, eine chronische Ursache
von Elend abgegeben ; und auf vielfache Weise hat der Mangel
576 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. IX.

an Empfindungen , welche dem socialen Zustande angemessen


sind, eine chronische Ursache anderer Nöthe dargestellt.
Während das Übermaass an Fruchtbarkeit fortdauernd jenen
Druck der Bevölkerung vermehrt hat, welcher eine Ursache des
Fortschritts ist, gehört es zu den hauptsächlichsten Factoren bei
dem Hervorbringen jenes Elendes und muss auch noch lange
ein solcher bleiben ; wie aber in den „ Principien der Biologie
§§. 373-374 gezeigt worden ist , ist eine Folgerung aus dem
allgemeinen durch das ganze Thierreich hindurch zu verfolgenden
Gesetze die , dass eine noch höhere Entwicklung des Geistes,
durch beständig zunehmenden Druck der Bevölkerung herbei
geführt, und eine in Folge davon auftretende immer grössere
Gehirnthätigkeit allmählich die Fruchtbarkeit vermindern wird,
bis thatsächlich das Übermaass verschwindet : der höchste Grad
der individuellen Ausbildung hat den niedrigsten Grad der Re
production zur Folge . Und die weitere , am angeführten Orte
hervorgehobene Folgerung ist, dass dieser Grad der individuellen
Ausbildung, sich besonders in einem gehobenen geistigen Leben
zeigend , in einer weiter umfassenden Intelligenz und inten
siveren Gefühlen -- keine bewusst werdende Anstrengung mit sich
bringen, sondern das natürliche Ergebnis einer Organisation sein
wird, welche den Anforderungen einer kostbareren Selbsterhaltung
angepasst ist. Wenn auch daher von der Ethik vorgeschriebene
Entbehrungen vorkommen , so müssen sie Schritt für Schritt
von wahrscheinlich der Ausdehnung nach grösseren Compen
sationen begleitet werden .
Indessen kann nur im langsamen Verlaufe von Jahrhunderten
eine solche Veränderung des Gleichgewichts bewirkt werden.
Ob in der Zwischenzeit irgendwelche Beschränkungen in dem
Processe eintreten dürften , lässt sich unmöglich sagen. Etwas
ist indessen sicher. Kein Schluss kann aufrecht erhalten werden,
welcher nicht mit der endgültigen Wahrheit übereinstimmt , dass
die Interessen der Rasse über die Interessen des Individuums
vorherrschen .
SLAGEN

§. 241 . Allgemeine Schlussfolgerungen . 577


&:
N&

X. Capitel.

Allgemeine Schlussfolgerungen.
1:
§. 241.
Der Titel dieser Abtheilung - " Die Ethik des individuellen
Lebens " www . hat in Betreff der möglichen Beschaffenheit ihres
Inhaltes eine öffentlich ausgesprochene Neugierde erregt. Es
kann Nichts ausser klugen Ermahnungen gemeint sein , so
wurde gedacht ; und es erregte offenbar Überraschung , dass
für diese eine ethische Sanction in Anspruch genommen werden
sollte .
Die sich in dieser Weise äussernde geistige Stimmung ist
meiner Ansicht nach keine ausnahmsweise. Das gewöhnliche
individuelle Leben , wenn es ein derartiges ist , dass es nicht
direct Andere zum Guten oder zum Bösen berührt , wird als
ausserhalb des Bereiches der Ethik liegend angenommen ; oder
11‫ܘ‬111

vielmehr, man denkt gewöhnlich über die Sache gar nicht weiter
nach. Da die Ethik, wie sie gewöhnlich aufgefasst wird, keinen
43

formalen Anspruch gemacht hat, diesen Theil des Verhaltens zu


regulieren, so wird von ihr angenommen, dass sie mit der Sache
Nichts zu thun habe. Es ist richtig, dass dann und wann Aus
drücke zu hören sind , welche eine halbbewusste Meinung vom
Gegentheil voraussetzen lassen. "" Sie hätten ihre Kraft durch eine
so grosse Anstrengung nicht übernehmen sollen ; " „ Sie hätten .
nicht so lange ohne Nahrung bleiben sollen, " ― das sind nicht

selten gehörte Äusserungen. Sie hatten ganz Recht die


Stellung aufzugeben , wenn Ihre Gesundheit dabei litt , " wird
dem Einen gesagt, während über einen Andern das Urtheil ge
fällt wird , Es ist unrecht von ihm, seine Zeit im Nichts
thun hinzubringen , wenn er auch wohlhabend sein mag. " Ge
legentlich hören wir auch, dass man darauf besteht, es als eine
Pflicht anzusehen , sich Ferien zu machen, um ein Krankwerden
zu vermeiden : besonders im Hinblick auf zu erfüllende Ver
antwortlichkeiten . Das heisst also , die Wörter soll , recht ,
unrecht , Pflicht werden in Verbindung mit verschiedenen
Theilen des privaten Verhaltens gebraucht ; und ein derartiger
Gebrauch solcher Wörter , welche doch in andern Fällen eine
578 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. X.

ethische Bedeutung haben, lässt folgern, dass sie auch in diesen


Fällen eine ethische Bedeutung haben .
Es giebt überdies , wie in dem eröffnenden Capitel hervor
gehoben wurde, manche Arten des individuellen Lebens, in Bezug
auf welche ethische Überzeugungen der allerausgesprochensten
Arten herrschen , - so z. B. das Übermaass im Trinken . Eine
Anerkennung der ungeheuren übeln Folgen, welche daraus ent
springen , führt zur starken Missbilligung . Es fehlt aber das
Bewusstsein der augenfälligen Wahrheit , dass , wenn diese Ab
weichung vom Normalen wegen der unheilvollen Folgen verdammt
werden muss , so auch alle Abweichungen , welche unheilvolle
Folgen, wie verhältnismässig klein sie auch immer sein mögen.
nach sich ziehen , verurtheilt werden müssen . Es muss ein
geräumt werden , dass , in ihrer vollkommen entwickelten Form
aufgefasst , die Ethik Urtheile abzugeben hat über alle Hand
lungen, welche die individuelle Wohlfahrt berühren.
Im ganzen Verlauf der vorstehenden Reihe von Capiteln
ist es , wie ich meine , hinreichend klar gemacht worden , dass
für die Herrschaft der Ethik auf diesem weiteren Gebiete ein
grosses Bedürfnis vorhanden ist .

§. 242 .
Zweifellos muss dieses Herrschen von einer nicht scharf
bestimmten Art sein es dürfte mehr mit der Herrschaft eines
Suzerains als mit der eines factisch regierenden Herrschers zu
vergleichen sein. Denn über den grösseren Theil dieses Ge
bietes sind Compromisse zwischen verschiedenartigen Erforder
nissen zu schliessen ; und in der Mehrzahl der Fälle können
ethische Betrachtungen wenig mehr thun als uns auf vernunft
gemässe Compromisse hinzuführen .
Dies wird wahrscheinlich als eine Rückkehr zu der alten
Lehre vom Mittelweg angesehen werden , - eine in allgemein
unbestimmter Art , aber gelegentlich auch bestimmt von Cox
FUCIUS ausgesprochene und entschieden von ARISTOTELES durch
gearbeitete Lehre. Und es muss zugegeben werden, dass in den
meisten Classen von Handlungen, welche nicht direct andere Per
sonen berühren, die zwischen den Extremen liegenden Wege auf
gesucht und befolgt werden müssen . Die Lehre vom Mittel ist
nicht, wie ARISTOTELES annahm, ganz allgemein anwendbar ; ihre
§. 242 . Allgemeine Schlussfolgerungen . 579
J

Nichtanwendbarkeit wird in Bezug auf den Theil des Verhaltens


augenfällig , welcher hinsichtlich seiner Wichtigkeit über allen
――――
andern steht , Gerechtigkeit : allerdings nicht Gerechtigkeit,
bens:
wie sie gesetzlich formuliert ist, noch Gerechtigkeit , wie sie von
Communisten und andern derartigen Leuten aufgefasst wird ,
sondern Gerechtigkeit, wie sie ableitbar ist aus den Bedingungen,
welche für das Durchführen eines harmonischen socialen Zu
sammenwirkens aufrecht erhalten werden müssen . Die Ethik
schlägt nicht die theilweise Erfüllung eines Contracts vor, weil
es das Mittel wäre zwischen der Nichterfüllung und einer voll
ständigen Erfüllung. Sie vertheidigt nicht die mässige Be
raubung Deines Nachbars eher, als das ihm Alles Nehmen oder
A

das ihm Nichts Nehmen . Auch schreibt sie nicht den Angriff
auf einen Mitmenschen vor als zwischeninneliegend zwischen dem
ihn Tödten und dem ihn gar nicht Berühren. Im Gegentheile
besteht in Bezug auf Gerechtigkeit die Ethik auf dem Extreme
- schreibt vollständige Erfüllung eines Contractes , absolute
Achtung vor dem Eigenthum Anderer, gänzliches Fernhalten von
persönlicher Schädigung vor. Dasselbe gilt auch für die Wahr
haftigkeit . Das Rechte liegt nicht zwischen den beiden Extremen
der Falschheit und der Wahrheit : vollkommenes Beharren bei
der Thatsache wird gefordert. Und es giebt noch verschiedene
Arten des Verhaltens , welche als Sünden gerechnet , aber von
der Lehre des Mittels nicht in Betracht genommen werden , da
sie nicht nur theilweise , sondern gänzlich verboten werden
müssen. Was aber das gewöhnliche private Leben betrifft , so
kann man annehmen, dass die Lehre vom Mittelweg in der Mehr
zahl der Fälle gelten kann .
Aber dies zugegeben bietet sich doch noch immer die Frage
dar : Wie ist der Mittelweg zu finden ? Solange die Lage der
Extreme nicht ermittelt worden ist, kann die Lage des Mittels
nicht erkannt werden . Wie ganz richtig bemerkt worden ist :
" es ist unausführbar die Lage desjenigen zu bestimmen , was
auf der einen Seite excessiv , auf der andern Seite mangelhaft
ist , solange nicht Übermaass und Mangel selbst bestimmt worden
sind . " Und hier ist es , wo die Ethik des individuellen Lebens
ihren Gegenstand findet. Sie ersetzt die Leitung durch einen
nicht gebildeten Sinn , welcher gewöhnlich im privaten Verhalten
durchaus gefolgt wird , durch eine Leitung , welche zwar der
580 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. X.

Hauptsache nach noch immer empirisch , aber doch verhältnis


mässig zuverlässig ist ; denn sie ist das Resultat eines wohl
überlegten und methodischen Studiums der Anforderungen,
eines Studiums , welches Missverständnisse aufklärt und un
bestimmte Ideen auf bestimmte zurückführt. So ist es z. B. in
Bezug auf Ernährung zweifellos richtig , dass gänzliche Ent
haltsamkeit auf der einen und Gefrässigkeit auf der andern Seite
zu vermeiden sind, ---- dass Nahrung mit Mässigung zu nehmen
ist. Es kann aber mit Recht behauptet werden, dass das Essen
nicht durch die Beobachtung eines Mittels zwischen diesen beiden
Extremen zu regulieren ist , es ist vielmehr durch Erreichung
dessen zu leiten, was in einem gewissen Sinne ein Extrem ge
nannt werden kann , -- die vollständige Befriedigung des Hungers.
Und hier zeigt sich uns die Nothwendigkeit einer kritischen
Untersuchung. Denn die Vorstellung von einem Mittel zwischen
völliger Enthaltung und Gefrässigkeit wird zusammengeworfen
mit der Vorstellung von einem Mittel zwischen gar keiner Be
friedigung und einer vollständigen Befriedigung des Hungers ;
und in Folge dieser Verwirrung wird von Manchen dies letztere
Mittel vorgeschrieben . Aber die nicht selten ausgesprochene
Idee, dass es am besten sei mit dem Essen aufzuhören, während
man noch hungrig sei, würde niemals ausgesprochen worden sein,
wenn es nicht so viele Menschen gäbe , welche ein abnormes
Leben führen und so viele Menschen , welche essen , ehe sie
der Hunger dazu veranlasst. In dem Gesundheitszustande ,
welcher da besteht , wo weder seitens des Individuums selbst ,
noch seitens seiner Voreltern eine chronische Nichtberücksich
tigung physiologischer Erfordernisse bestanden hat , wird die
Ernährung vollzogen nicht durch ein theilweises Erfüllen des
Verlangens nach Nahrung , sondern durch dessen vollständiges
Erfüllen, ― durch ein Gehen bis zu der durch die Neigung ge
zogenen Grenze.
Ein Erinnern an die verschiedenen in den vorausgehenden
Capiteln , so denen , welche die Thätigkeit und die Ruhe , die
Bildung und die Unterhaltungen betreffen , gezogenen Schluss
folgerungen wird es klar machen , dass es überall die Aufgabe
der Ethik des individuellen Lebens ist, in dieser Weise irrthüm
liche Meinungen durch systematische Beobachtung und Analyse
des privaten Verhaltens und seiner Resultate aufzuklären .
§. 243. Allgemeine Schlussfolgerungen . 581

2
§. 243.
[ Die Erinnerung an diese Schlussfolgerungen weist darauf
hin , dass ausser dem Darbieten einer bestimmten Auffassung
vom Mittelweg, wo ein solcher einzuhalten ist, die Ethik des in
dividuellen Lebens auch einer verwandten Idee Bestimmtheit
giebt , - der Idee des Maasshaltens. Ich meine hier nicht
jenes Maasshalten , welches in der Lehre vom Mittel enthalten
ist und zugleich ein gerechtes Abschätzen von Übermaass und
Mangel bezeichnet ; ich meine vielmehr jenes Maasshalten, welches
in Bezug auf verschiedene Theile des Verhaltens besteht.
Während innerhalb einer jeden Abtheilung der Thätigkeits
äusserungen die mittlere Stellung gehörig beachtet werden kann, so
kann doch das gehörige Beachten des Maasshaltens zwischen den
verschiedenen Gruppen der Thätigkeitsäusserungen fehlen. Es
giebt verschiedene Arten von körperlicher Thätigkeit , manche
sind zur Selbsterhaltung erforderlich und manche nicht ; es giebt
verschiedene Arten geistiger Thätigkeit, welche in verschiedenen
Weisen und Graden die Erhaltung des individuellen Lebens
unterstützen , und verschiedene andere , welche diese Erhaltung
nicht unterstützen oder dies nur auf entfernte Weise thun. Und
dann ist noch ausser dem Aufrechthalten eines richtigen Maass
verhältnisses zwischen den das Leben fördernden Beschäftigungen
und den Beschäftigungen, welche nicht direct dem Leben förder
lich sind, das Aufrechthalten der richtigen Verhältnisse zwischen
den Unterabtheilungen dieser letzteren zu beachten , ― rich
tige Maassverhältnisse zwischen Bildung und Unterhaltung und
zwischen verschiedenen Arten der Bildung und verschiedenen
Arten der Unterhaltung . Die Vorstellung eines Mittels berührt
die zahlreichen , sich hier darbietenden Probleme nicht , denn sie
enthält ein Compromiss zwischen zwei Dingen und nicht eine
Anzahl von Compromissen zwischen vielen Dingen.
Ein Jeder wird bei einem Blick um sich herum sehen, dass die
grosse Mehrzahl der Einzelleben mehr oder weniger dadurch ent
stellt ist, dass es nicht gelungen ist, zwischen den körperlichen und
geistigen , zu vollständiger Gesundheit und vollständigem Glück
erforderten Thätigkeitsäusserungen das Gleichgewicht aufrecht zu
halten, und dass daher hier viele Probleme vorliegen, mit welchen
sich die Ethik des individuellen Lebens zu beschäftigen hat.
582 Die Ethik des individuellen Lebens. Cap. X

§. 244.
Während aber diese Abtheilung der Ethik, deren Aufgabe
die Ordnung des privaten Verhaltens ist, durch ihre ausgesproche
nen Urtheile wohl dazu dienen kann , eine jede Art von Thätig
keit von einem gar zu weiten Abweichen nach beiden Seiten
der Mässigung abzuhalten , und während sie wohl dazu dienen
kann , äusserste Missverhältnisse zwischen den verschiedenen
Arten der Thätigkeiten zu verhindern , so kann doch nicht von
ihr erwartet werden , dass sie durch ihre Vorschriften ein voll
kommen reguliertes Betragen hervorbringt.
Nur durch das allmähliche Umgestalten der menschlichen
Natur in den Zustand des Tauglichseins für den socialen Zu
stand kann sowohl das private Leben als auch das öffentliche
Leben eines jeden Menschen zu dem gemacht werden , was es
sein sollte . In Bezug auf das private Leben besonders sind die
hier dargebotenen Probleme so compliciert und so veränderlich ,
dass nichts einer bestimmten Lösung derselben Ähnliches durch
irgendwelche intellectuellen Processe erreicht werden kann , so
methodisch und sorgfältig sie auch immer sein mögen. Voll
ständig können sie nur durch die organische Anpassung der
Constitution an die Bedingungen gelöst werden. Alle unter
geordneteren Geschöpfe , unfähig , wohlüberlegte Gesetzbücher
des Verhaltens auszuarbeiten , werden gänzlich durch die Ein
gebungen der Instincte und Verlangen geleitet , welche einzeln
den Bedürfnissen ihres Lebens angepasst sind . In jeder Species
werden die Empfindungen in ihrer Stärke den Anforderungen
ordentlich angepasst und in richtigem Maassverhältnisse zu
einander durch directes oder indirectes Gleichgewicht oder durch
beides , gehalten ; denn diejenigen Individuen , bei denen dies
Gleichgewicht nicht gut ist , verschwinden unvermeidlich oder
sind nicht im Stande Nachkommen zu erziehen . Es giebt Viele ,
welche zwar dies nothwendige Verhältnis als in den Lebenskreisen
unterhalb des Menschen anerkennen , aber doch stillschweigend
leugnen, dass es durch das ganze Leben des Menschen wirksam
ist, auf jeden Fall aber wenigstens seine Wirksamkeit ignorieren,
und sie thun dies trotz ihrer Kenntnis von den ungeheuren Ver
schiedenheiten der Gewohnheiten und Empfindungen , welche die
vielgestaltige Menschheit selbst unter den verschiedenen Um
en
§. 245 . Allgemeine Schlussfolgerung . 583

ständen , denen sie ausgesetzt gewesen ist , erhalten hat . Ein


Jeder indessen , welcher sich den Gegensatz überlegt zwischen
Jane denen, welche mit Vergnügen Zeugen der Quälerei von Menschen
und Thieren sind , und denen, welche nicht dazu vermocht werden
können , Zeugen dieser Quälereien zu sein wegen des sym
pathischen Schmerzes , den sie erleiden , dürfte aus diesem einzigen
Contraste auf eine Fähigkeit zur Modification schliessen, welche
Tes: eine annähernd vollkommene Anpassung der Natur an das zu
lockme führende Leben möglich macht, - eine Anpassung, nach welcher
hin ein Fortschritt wahrnehmbar sein wird , wenn die ab
geschmackten Gesetzgeber, welche ihn beständig verhindern, ab
gestorben sein werden .
Am Ende muss daher der Grad einer jeden , der das pri
E vate Betragen zusammensetzenden Thätigkeiten und das Maass
verhältnis zwischen den verschiedenen Thätigkeiten selbständig

Ps durch die natürlichen Eingebungen reguliert werden . Alles , was


die Ethik des individuellen Lebens in der Zwischenzeit thun
kann , ist , die Erfordernisse , an welche die Natur anzupassen
ist, deutlich vor Augen zu halten und beständig mit Nachdruck
auszusprechen.

§. 245 .
ART Endlich muss noch eine Warnung ausgesprochen werden ,
nicht gar zu eifrig nach dem Erreichen des Ideals zu streben ,
2N HN AT

―― die Natur nicht zu sehr aus ihrer ererbten Form heraus an

zustrengen. Denn die normale Umwandlung kann nur langsam


von statten gehen.
Wie in andern Dingen Mässigung herrschen muss, so muss
auch in der Selbstkritik Mässigung herrschen . Beständiges Über
legen über unsere eignen Handlungen bringt ein krankhaftes
Bewusstsein hervor , vollständig ungleich jenem normalen Be
wusstsein, welches rechte, freiwillig ausgeführte Handlungen be
gleitet ; und auf den Zustand eines mit Anstrengung lange er
• haltenen unsteten Gleichgewichts folgt leicht ein Rückfall in
das stete Gleichgewicht , auf welchem sich die ursprüngliche
Natur wieder festsetzt . Es dürfte daher eher ein Rückschritt
als ein Fortschritt die Folge sein.
!
584

Anmerkung zu S. 237.
Eine Betrachtung, die sich mir erst nach dem Erscheinen der ersten
Auflage darbot, lasse ich hier andeutungsweise folgen, um eine Ände
rung der stereotypierten Platten zu vermeiden.
Wird die erbliche Übertragung moralischer so gut wie physischer
Eigenthümlichkeiten zugestanden , so ergibt sich daraus , dass egoistische
Menschen in der Regel egoistische Nachkommen haben werden. Was
folgt daraus? Erstens müssen die häuslichen Aufregungen verhältnis
mässig gross sein , denn das Benehmen selbstsüchtiger Kinder gegen
einander und gegen ihre Ältern führt tagtäglich zu Widerspruch und
Streitigkeiten. Zweitens werden solche Kinder , wenn sie erwachsen
sind, viel eher als andere dazu kommen, die Billigung ihrer Vorgesetz
ten zu verscherzen, sich ihre Freunde zu entfremden, und ihre Familie
durch ungehöriges Betragen oder sogar durch Verbrechen zu com
promittieren . Drittens haben die Ältern solcher Kinder abgesehen von
all dem auf solche Weise ihnen bereiteten Kummer schliesslich auch
noch den Schmerz zu ertragen, dass sie im Alter vernachlässigt werden.
Die Grausamkeit, die uns in extremem Grade bei manchen Wilden ent
gegentritt, welche ihre alterschwachen Genossen dem Hungertode über
lassen, zeigt sich auch, nur in geringerem Maasse, bei allen gefühllosen
Söhnen und Töchtern ihren gefühllosen Ältern gegenüber , und diese
haben in ihren alten Tagen in entsprechendem Grade von der erblich
übertragenen Härte zu leiden, als sie ihre Umgebung einst hart be
handelt hatten. BROWNING'S Geschichte in Versen 99 Halbert and Hob
liefert einen typischen Beleg für diese Wahrheit.
Das höchste Maass eigenen Glückes , das überhaupt durch das
Streben nach dem Glücke Anderer zu erringen ist, entspringt wohl un
streitig aus den Bemühungen für Kräftigung der altruistischen Gefühle
und dem Wiederauftreten solcher gekräftigter Gefühle bei den Kindern,
wodurch diese zu einer Handlungsweise angehalten werden, die für die
Ältern eine Quelle reinster Glückseligkeit wird.
NB
LATRONAS

Litteraturnachweise.

Um die Quelle für irgend eine Angabe im Texte zu finden, möge


man folgendermaassen verfahren. Nachdem man sich die Nummer
th des Paragraphen gemerkt, in welchem die Angabe steht, suche man
in dem vorliegenden Verzeichnisse die entsprechende fettgedruckte
BAL Ziffer auf. Unter den dahinter stehenden Namen ist dann derjenige
des Stammes , Volkes oder Landes aufzusuchen, von dem jene Angabe
T handelt (die Namen stehen hier in derselben Ordnung , wie sie im
Texte auf einander folgen) ; um sie leichter auffindbar zu machen, sind
diese Namen cursiv gedruckt. In der auf den Namen folgenden Klammer
1.E sind nun der Name des Autors durch seine Anfangsbuchstaben und
Bar dahinter der Band und die Seite des betreffenden Werkes bezeichnet,
RELAT

I und wo mehrere Werke desselben Verfassers in Frage kommen , ist


AL der abgekürzte Titel desjenigen beigefügt , in dem sich die citierte
Stelle findet. Die Bedeutung dieser Abkürzungen endlich, deren ich
mich bedienen musste , um Raum zu sparen und die überflüssige
Wiederholung der ganzen Titel zu vermeiden , ist aus dem zweiten
Verzeichnisse zu ersehen , wo hinter den in alphabetischer Ordnung
LaC aufgeführten Namen der Autoren u. s . w. die vollen Titel der an
gezogenen Werke angegeben sind.

(Verweisungen zu Bd . I.)

§ 13. Aristoteles (Arist . Nicom. Ethik, I, 7, ibid. I, 8). § 14.


Hutcheson (Hutch . ch . IV) . § 14 *. Selige (Ev. Matth. V, 7 , 9 ; Psalm
XLI, 1 ). § 18. Dymond (Dym. pref. IX ; ch. II) . § 52. Bodo und
Dhimals (J. A. S. B. XVIII , 741 ) . § 60. Plato (Pla. Rep . Davies
und Vaughan's Übersetz. XXIX ) - Aristoteles (Arist. Nicom. Ethik,
I, 8 ; X, 7 ) — Juden (Psalm XVII, 2 ) ――――― Erste Christen (Colosser
――
IV , 1) Aristoteles (Arist . Nicom. Ethik , V , 1 ) . § 74. „Liebe
Deinen Nächsten " (3. Mose XIX, 18) . § 89. Kant (Kant 54-55) .
-
§ 106. Socrates (Xen. Memor. III , 9) Plato (Grote, Plato I , 420 ,
-
479) Aristoteles (Arist . Nic . Eth. III , 4 ) - Stoiker (Zeller, Stoiker,
Epicuräer und Skeptiker , übers. von Reichel, 253-254) ·-- Epicur
(Zeller 456) ――――― Kant (Kant 54-55).
586 Litteraturnachweise [für Band I ].

- Zulus
§ 112. Veddahs (Bailey in T. E. S. L. N. S. II, 302)
(Call . pt. II , 146-147 ) - Australier (Smyth I , 107) - Tonga
Insulaner (Mar. II , 108 ) ――― Goldküste (Ellis , T. S. P. 11) Alte
Mexicaner (Zur. 138-141 ) - Hebräer (Schenk. V, 431 ; Bruch, 368 ;
Fritz V, XXXIV) ― Rig- Veda (R. V. I, 33 , 4 , 5 ; VI, 14 , 3 ; X,
81 , 7 ; IV , 17 , 16 ) - Ramses (R. P. II , 70) - Chryses (Hom.
"9 Iliade " , Lang, Buch 1 , 2 ) - Mittelalt. Europa (Brace 230) . § 113.
Assyrier (R. P. N. S. IV , 56 ; R. P. V, 8 ; XI , 49 ; IX , 42) -
Aegypter (R. P. II , 70-72 ) . § 114. Karenen (Mason in J. A. S. B.
XXXVII . P. II, 143) - Dakotas (Scho. IV, 70) - Irokesen (Morg.
--
119) Alte Inder (Mahab . XIII, 3880 ; Bhàvari in Wil . 459 ; Cural
in Con. 220) Chinesen (Alex . 117 , 254-255) ―― Aegypter (Renouf
72) . § 115. Bish. von Durham (Herald of Peace , Dec. 1890 )
L. Cranbrook (Standard, 12. Juli, 1889) - Dr. Moorhouse (Manchester
Examiner, 14. Mai , 1887 ) - Deutscher Kaiser (Zeitungen 18. Juni,
1888 ) . § 116. Malagassen (Drury 192) ――――――――――――― Hebräer (Bruch 34 )
Aegypter (Poole in Cont. Rev. Aug. 1881 , 286 ) - Mill (Mill 124).
§ 117. Otahitier (Howke II, 101-102 ) - Alte Indier (Maha . III,
1124 etc. ) ―――― Ramayana (Rich. 149 ) Chinesen (Edkins 85 , 179).
§ 120. Araber (Palgr. 10-11 ) - Russen (Niemo . II , 167)
Matelhapees (Licht . II , 306 ) - Araber (Baker 263 ) ――― Makalolo
(Liv. Zamb. 285) - Aequat. African. (Reade 260) - Araucanier
(Smith 214 ) ww Chinooks (Lewis & C. 439) - Tschucktschen (Erm. II,
530 , Anm .) ▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Mahabharata (Wheel. I, 121 ) - Franzosen (Leber
XIII, 10-11 ) ――――― Patagonier (Falk. 125 ) Dakotas (Irving 134)
-Eskimos (Crantz I, 154) - Kaffern (Thomps. II , 354) — Mayo
runas (Reade 158) Bambaras (Caillié , I, 398 ) .- Wakarivondo
(Thom . 487) Araber (Peth . 151 ) - Khonds (Macpherson in Perc.
345) ___ Tahitier (Cook in Hawke. II, 203) ――――――― Vateaner (Turn. # P. R. "
450) Fidschianer (Wilkes III , 103 ) . § 121. Innuiten (Hall II,
315) Alte Peruaner (Garci. II. Buch, 12. Cap. ) . § 126. Busch
männer (Liv. „ Miss. Trav. " 159) Uganda (Wils. & Fel. I, 224)
Beduinen (Burt. „ Pilgr. “ III, 66—67) ― Kukis (Rown. 187 )
Pathans (Temp . " Rep. " 63) . § 127. Alte Indier (R. V. I , 74 ; VII,
6, 2 ; VII, 32 , 7 ; Maha. XII , 5290 ; V, 5617) - Assyrier (R. P.
I, 49, 78 ; V, 9 ; ib. N. S. II, 137 , 143 , 153 ; IV, 61 ) - Sueven
(Caesar IV , 2 ; VI , 21 ) Mottos (Verschiedene Adelsregister) --
Wolseley (Wolse. 5 ) . § 128. Alte Indier (Maha . XIII , 5571 , in Wil .
448 ; Jones, Works, III, 242) Perser (Sadi I, St. 33 ; II, St. 4)
-Chinesen (Lao-Tsze, XXXI ; Confuc. Anal. XII, 19 ; Mencius, Book I,
P. I, Ch. 6 ; ibid. IV, I, 14 ) Sumatraner (Mars. 173) - Thârus
(Nesfield in Calc. Rev. 1885 , LXXX, 41 ) - Irokesen (Morg . 92 , 330).
§ 129. Fidschi-Insulaner (Ersk. 247 ; Will. I , 218 , 246—247)
Waganda (Wils . & Fel. I, 201 ) - Karl d. Gr. (Hallam 16). § 131.
-
Comanchen (Möll. I, 185) Patagonier (Snow II , 233) Ost-Afri
caner (Liv. 99 Miss . Trav. " 526) Kalmücken (Pallas I , 105 )
――――――――― Merv-Turkomanen
Kirghisen (Atkin . „ Amur “ 206 ; ib . Sib . 506 )

H
Litteraturnachweise [für Band I]. 587
I
(O'Don. II , 407 , 278) - Pathans (Temp . Rep . " 62) - Afridi
(Rown. 123-124) - Kukis (Dalt 45) - Mongolen (Gil. 273)
Angamis (Stewart in J. A. S. B. XXIV , 652 ) Chinooks (Waitz
III, 337) - Waganda (Wilson & Fel. I, 224) -- Fidschianer (Will
―――― Tvashtri und Indra
I , 127). § 132. Vishnu (R V. I , 61 , 7)
(Muir , O. S. T. V, 229 ; Wheel. I , 244) - Nordmänner (Dasent
XXXIV) Alte Deutsche (Caesar VI, 21 ) -- Franzosen (Ste . Pal.
II, 47) -- Dreissigjähr. Krieg (Gind. II, 393-397 ). § 133. Wald
Veddahs (Hartshorne in Fort. Rev. Mar. 1876 , 416 ) - Eskimos
(King in J. E. S 1848 , I, 131 ) ――――― Feuerländer (Darwin in Fitz.
III, 242 ; Snow I , 328) Neu-Guinea (Macgil. I , 270 ; Earl 80)
- Lette (Kolff 61) - Vera Cruz-Indianer (Baker in P. R. G. S.
1887 , Sept. , 571) - Thârus (Nesfield in Calc. Rev. LXXX , I, 41 )
-
Irokesen (Morg. 333). § 135. Australier (Grey II, 240) Sioux
(Burt , C. S. 125) ――――――― Guiana (Schom . I , 158) - Fidschi-Insulaner
(Will. I, 186 ) ――― Neu-Seelander (Thoms. II , 86) - Kukis (Macrae
in As. Res . VII, 189) Araber (Peth. 27) -- Ost-Africaner (Burt.,
C. A. II, 329) ―――― Japaner (Dening, Pt. II, 81 ) ― Alte Indier (R. V.
X , 87 ; VII, 104 ; Wheel. I, 287-288 , 290). § 136. Alte Indier
(Manu II, 161 ; VI, 47-48 , in Wil. 283 ; Cural in Con . 427)
Perser (Con. 226 ; Sadi II , St. 41 ; Hafiz in Jones III , 244)
Chinesen (Lao-Tsze LXIII ; Mencius , Buch V, Th. 1 , Cap . III ; Conf.
Anal. XIV , 36 ) . § 137. Lepchas (Campbell in J. E. S. L. July,
--
1869 , 150-151 ) . § 139. Philippinen (Fore. 213 ) Quianganen
-
(P. S. M. July , 1891 , 390) Araber (Burck. 84-85 ) . § 140.
Guiana (Im Thurn 213-214) . § 141. Alte Indier (Wheel. I, 102 ,
103 , Anm . ) Todas (Shortt in T. E. S. L. N. S. VII , 241 )
Bodo und Dhimals (J. A. S. B. XVIII , P. II , 744) - Hos (Hayes
in Dalt. 194) - Pueblos (Ban. I, 555 , 547) - Manansas (Holub
II , 206-211) ― Thárus (Nesfield in Calc. Rev. LXXX , 41) —
- Kirghisen
Let-htas (Fytche I, 343). § 144. Araber (Palgr. I, 37)
(Atkin. Sib . 506) ――――――― Ost-Africaner (Burt. , C. A. II , 274) - Fidschi
- Ainos
Insulaner (Wilkes III , 77 ; Jackson in Ersk. 460) (Bird
II , 101 ) Australier (T. E S. L. N. S. III , 246 ) Samoaner
(Jackson in Ersk. 415 ) ―➖ Kaffern (Licht 7 , 272) Africaner
(Wint. I, 213 ) -- Nordameric. Indianer (Morg . 327) ― Neu-Seelander
(Angas II, 22 ; Thoms. I, 191 , 98 ) St. Augustin-Insel (Turn. Samoa
292-293) . § 145. Buschmänner (Burch. II , 54) - Hottentotten
-
(Burch. II, 349 ; Kolben I , 165 ) Ost-Africaner (Liv. 29 Miss . Trav. "
――――――
601 ) Loango (Proyart in Pink. XVI , 565 ) - -— Australier (T. E. S. L.
N. S. III, 271) - Sandw.-Insulaner (Van. III, 21 ) - Guiana (Brett
276) -- Thibet (Bogle 110). § 146. Australier (Eyre I, 278 ; Sturt
I , 114 ; II , 105) - Tasmanier (Mered . I, 201 ) ― Tonga-Insulaner
(Mar. I, 228) . § 147. Alte Indier (R. V. X, 107 , 2 , 5 etc .; Manu
III, 105 , 106 ; IV, 29 ; III , 98) - Apastamba (Bühler 114 , 119 )
Perser (Shâyast XII, 4 in West 341 ; Sadi VIII , 60 ; ib . VIII , 2)
―――
Chinesen (Conf. Anal. VI , 28 ; VIII , 11 ; X, 15). § 148. Alte
SPENCER, Principien der Ethik . I. 38
588 Litteraturnachweise [für Band I].

――――
Deutsche (Tac. Germ. XXI) Christen (Lecky II, 93 ; Browne P. II,
§ 2). § 149. Neu-Seeländer (Angas I , 312 ; Cook in Hawke . III,
447 ; Thoms . I , 149) ― Ost-Africaner (Burt. , C. A. II , 333) -
Fidschi-Insulaner (Will. I , 55 , 133) ― Dakotas (Burt. , C. S. 124-125 )
- Nagas (Butler 58 ) Steins (Colq . Shans . 160) - Chryse (Colq
-
Chrysé II, 120 , 268) Malayische Stämme (Favre 97-100 , 8 , 73,
72 , 100-102 ) - Arafuras (Kolff 161-163 ) . § 150. Buschmänner
(Moffat 58 ; Licht . II, 195 ; Moffat 156) - Hottentotten ( Kolben I,

332, 165, 142 , 318 ) Dyaks (Boyle 223) . § 151. Karenen (Mason
in J. A. S. B. XXXVII , P. II, 144) - Honduras (Herr. IV, 141 )
- Loando (Monte I, 244 ) ――― Dahomeer (Burt . „ Miss . " I, 195 , Anm.;
ibid . II , 190 , Anm. ) - Ashantees (Burt . W. & W. 121 , 128 ) -
H
Damaras (Baines 243 ; Galt . 190) — Dahomeer (Burt. Miss . L
- ――――
345) Marutse (Holub II , 297) West- Africaner (Wolseley in
Fort. Rev. Dec. 1888 ) Prairie-Indianer (Burt . , C. S. 124-125)
Comanchen (Bollaert in J. E. S. 1850 , II, 269 ) . § 152. Griechen
(Grote II, 32 ) . § 153. Veddahs (Tenn . II, 445 ) -- Tanna-Insulaner
(Turn . " P. R. " 92) - Papuas (Jukes II, 248) - Dyaks (Boyle 215)
- Malagassen (Drury 230) - Eskimos (Hall II , 312 ) - Irokesen
――――――
(Morg. 171 ) Chippewähs (Scho. II, 139) - Araucanier (Thomps.
I, 416 , 403 ) - Mandingos (Park in Pink. XVI, 871 ) - Luan (Kolff
127) . § 154. Alte Indier (Maha . III , 16782 , 16796 , 16619 etc. )
Zend-Avesta (Haug 242) ――― Perser (Sadi I, St. 10) - Aegypter
(Dunck. I, 203 ; Poole in Cont . Rev. Aug. 1887 , 287 ) - Chinesen
(Legge, R. of Ch . 224 ; Conf. D. of Mean etc. XX ; Mencius II. Buch,
1. Th . , Cap . 6 ; I. Buch, 1. Th. , Cap. 7) . § 155. Karenen (Mason
in J. A. S. B. XXXVII , P. II , 152) Afridis (Mac Greg. I, 27)
- Fidschi-Insulaner (Will. I, 128-129) — Veddahs (Tenn. II, 444 ;
Prid. 460) . § 157. Dakotas (Burt., C. S. 130 ) ·― Mishmis (Grif. 40)
- Kirghisen (Vali. 279) Fidschi-Insulaner (Will. I, 124) - Uganda
(Wils . & Fel. I, 224) ―――― Central-Americaner (Laet 9. Buch , 2. Cap.;
Dun. 336) - Philippinen (Fore . 186-187 ) . § 158. Griechen (Mahaf.
27, 150) - Merovingische Periode (Mart. II , 709 ; Salv. IV, c. 14 )
- Frühe Feudalperiode (Mart. II , 709) Französische Monarchie
(Crowe II, 201 ) - Lecky (Lecky I, 138 ) . § 159. Kois (Morris 89)
Sowrahs (Shortt , Pt. III , 38) - Central-Indier (Fors . 164)
Ramósis (Sinclair in I. A. July 1874 , 186 ) Santhals (Sherwill in
J. A. S. B. XX , 554 ; Man 21 ) - Puluyans (Oppert in M. J. L. S.
1887-1888 , 104) ―――――――― Wald- Veddahs (Bailey in T. E. S. L. N. S.
- -- Hottentotten (Barrow
II, 291 ) Ostjaken etc. (Rev. Sib . II , 130 )
I, 101 ; Kolben I, 59) - Irokesen (Morg. 335) - Patagonier (Snow
―――――――――
II, 233) Khonds (Macpherson in J. R. A. S. VII , 196) ――― Kolis
(Sinclair in I. A. July 1874 , 188) ――― Khonds (Macph. Rep. 27).
――――――
§ 160. Mexicaner (Tern . V, 102 ) Ost-Africaner (Liv. Zamb. 309 ;
...) - Aegypter (St. John 77) --- Frankreich (Mich. I , 341 )
England (Kirkus in Fort . Rev. Nov. 1866 , 644) . § 162. Araucanier
(Smith 201 ) -Arawaks (Hillhouse in J. R. G. S. II, 229) Dakotas
Litteraturnachweise [für Band I] . 589
1.9
- -
ooki (Burt. , C. S. 131 ) Ost-Africaner (Burt. , C. A. II , 333 ) — Beduinen
-
(Burck. 201 , 56) — Chippewähs (Hear. 345 ) - Kamtschadalen (Kotze
CAT
II, 16) - Dakotas (Burt . , C. S. 131 ) - Fidschi-Insulaner (Will . I,
Irt.
177) - Hottentotten (Kolben I, 123 ) - Zulus (Thomps. II, 418 ) -
1 -3
Karenen (Mason in J. A. S. B. XXXVII , Pt. II , 144 ) -- Eskimos
19
(Hall II , 314) § 163. Assyrier (Smith 14) - Hindus (Müller,
$ 150 H. L. 333-334) ―――――― Chinesen (Conf. Anal . I, 2 ; Edkins 155 ; Legge,
Patro R. of Ch. 104) ―― Aegypten (Poole in Cont. Rev. Aug. 1887 , 286) .
51
§ 164. Khonds (Rown. 101 ) - Bhils (Hunter in J. R. A. S. VIII ,
ras Hem ? 189 ; Mal. C. S. II , 100)
― Kalmücken (Pallas I, 106) Sgaus
Ess L. (Mason in J. A. S. B. XXXV, Pt. II , 12 ) - Chinesen (Conf. Anal .
WA.. I, 7 ; X, 4) - Perser (Sadi I, St. 28 , 31 ; ibid. I, 25) - Alte Indier
• Ber (Manu VII, 8) ―――――― Aegypter (R. P. N. S. III , 21 ; Dunck. I, 184)
SALT TE Mottos (Burke's & Debrett's Peerages). § 165. Mexicaner (Herr. III,
CS 203 ; Tern. II , 195 ; Herr. IV , 126 ) Fidschi-Insulaner (Ersk.
208 , 456 ; Will. I, 30) ―――― Dahomeer (Ellis , E. S. P. 162-163 ;
-Im Dalzel 69 ; Ellis , 1. c . ) - Friedrich d. Gr. (Gould II , 302)
Invi -
Frankreich (. . . . . . .) . § 168. Chippewähs (Scho. V , 150)
311 Schlangen-Indianer (Lewis 308 ) - Dakotas (Burt. , C. S. 126 )
Irokesen (Morg . 329) - Eskimos (Crantz I , 154) - Chippewähs
1 -L (Hear. 90) - Stämme von Guiana (Brett 27) ―――― Araucanier (Smith
798 19 ________ -–
214) Chippewähs (Frank. Journey 161 ) Creek Indianer (Scho.
V, 272) Tupis (Sou. I, 250) -- Patagonier (Falk. 125) ――――― Hotten
――――
totten (Kolben I , 159 ) Betschuanen (Burch . II , 564) — Kaffern
Menaios [ (Schoo. 79) -Ashantees (Beech. 129) Fernando Po (J. E. S.
―――― Unterer Niger (Allen & T. I, 396) - Chinooks
Karar! 1850 , II, 114).
MacGreg (Ross, Oregon 92) Damaras (And., Ngami 231 ) ◄ Congo (Tuck.
120) ―――――――――― Dahome (Burt. 19 Miss . " II , 248) ― Mishmis (Coop. 207)
1845. Buschmänner (Spar. I, 198 ) - Araber (Niebuhr in Pink. X , 131 )
124 - Ost-Africaner (Liv. Zamb. 67) - Abyssinier (Bruce IV, 474)
Bach Cañaris (Cieza , ch. 44) . § 169 Khonds (Camp. 50) - Javaner
( Raf. I , 246) ――――― Caraiben (Schomb. II, 427-428) Südost-Indien
m
(Lew. 90-91 ) ――――― Santhals (Sherwill in J. A. S. B. XX, 554) . § 170.
――
I Manu (Manu IV, 238 in Wil . 285) Todtenbuch (Bunsen V, 254-255)
――――――――――― Perser (Alb. 21 ; Fram. 48 ) . § 171. Griechen (Arist. Pol . 3. Buch,
is Ir
Eun Ja 5. Cap.) . § 172 Manansas (Holub II, 211 ) . § 173. Confucius (Anal.
I, 14 ; VIII, 21 ) . § 174. Australier (Grey II, 277-278 ; Christison
in J. A. S. VII , 148 ) ―――― Eskimos (Lyon 181-182) - Jakuten etc.
P
(Coch. I, 254 ; Wrang. 384 ; Erm. II , 361 ) . § 175. Tahitier (Cook
in Hawke. II , 202 ) ―――― Araber (Palgr. I, 10) -Alte Völker (Manu II,
57 ; Muir, O. S. T. V, 324) Aegypter (Dunck. I, 225) . § 176 .
Arafuras (Kolff 161 ) ――― Alte Indier und Griechen (Müller, R. V. I,
118 ; Muir, O. S. T. V. 260) - Dahomeer (Burt. „ Miss. " II , 250)
Ainos (Bird II , 96 , 102 ) Polynesier (Will . I , 141-145 )
Ainos (Bird II, 68) . § 177. Kalmücken (Pallas I, 131 ) - Khonds
(Camp. 164) -―――― Guiana (Brett 349) Guatemalaner (Haef. 406)
Peruaner (Garci. 6. Buch, 22. Cap . ) - Yucataner (Lauda, §§ XXII ,
590 Litteraturnachweise [für Band I].

XXXII) Mexicaner (Saha . 1. Buch, 22. Cap. ) - Veddahs (Bailey


in T. E. S. L. N. S. II , 291 ) - Lepchas (Campbell in J. E. S. L.
July 1869 , 147 ) Sumatraner (Marsd . 173 ) - Foolas etc. (Wint.
I, 72) Neger (Waitz II , 86 ) . § 178. Gallier (Diod . V , 2) -
Alte Germanen (Tac. XXII) ――― Eonius (Greg. V, 41 ) - Karl d. Gr.
(Egin. 24. Cap . ) - Franzosen (Mont . II, 14) - Engländer (Massey
II , 60). § 179. Asiaten (Balf. I , 164 ) ―― Beduinen (Burt. Pilg.
III. 93) . § 180. Kasias (Yute in J. A. S. B. XIII , 620) - Cyrus
(Plut. Symp. lib . I. qu. IV) . § 181. Thibet (Wilson 235 ) . § 182.
Alte Indier (Wheel. I , 131-136 , 142 ; Maha . V , 14667 etc.)
Ladakhis (Drew 287 , 239 , 240 , 250) - Alte Indier (Muir, O. S. T.
IV, 41 ; V, 324 ; Maha . I, 4719-4722 , in Muir, O. S. T. II, 336 ).
§ 183. Chinooks (Lewis 439 ; Ross 92 ) ― Sioux (Lewis 77)
Creeks (Scho . V , 272) ―――――――― Tupis (Sou. I , 241 ) - Caraiben (Waitz
III , 382) ―― Eskimos (Lubb. 556) - Chippewähs (Hear. 129 )
Dakotas (Burt. , C. S. 142) Nicaragua (Pala . 120 ; Herr. III ,
340–341 ) ――― Kamtschadalen etc. (Ploss I, 293) - Kalmücken (Pallas
I, 105) - - Kirghisen (Vali. 85) - Mongolen (Prczew. I, 70) ―――――― Kare
- Todas (Shortt in
nen (Mason in J. A. S. B. XXXV, Pt . II , 19)
T. E. S. L. VII , 240) -- Shoa (Harris III , 167) ―― Oberer Congo
(Tuck. 181 ) Buschmänner (Lubb . II, 48-49) Ladrona-Inseln
(Frey. II , 360) - Pelew-Inseln (Kubary , 50-51) - Mandan-Ind.
(Cat. I, 121 ) Chippewähs (Keat. II, 165 ) - Kaffern (Barrow I
160) Tonga-Insulaner (Mar. II, 161 ) - Sumatraner (Mars . 222 )
Borneo (Low 300) - Dory (Kops in Earl 81 ) - Loyalitäts-Ins.
(Ersk. 341 ) -- Feuerländer (Snow in T. E. S. L. I , 262 ) ――― Mu
sheras (Calc. Rev. Apr. 1888 , 222) ――――― Bodo und Dhimals (Hodgson
in J. A. S. B. XVIII , 719) - Santhals (Dalt . 217) ――――― Veddahs
- · Fidschi
(Virchow in A. K. A. W. 1881 , 21 ) - Australier (Tap. 19 )
――
Insulaner (Ersk. 225 ; See . 191-192 ) Tahitier (Cook in Hawke.
II, 196 , 188) . § 184. Wotjäken (Buch 45 ) - Chibchas (Simon, 254)
Japaner (Dixon 472-473 ) . § 186. Tahitier (Cook in Hawke.
II, 186 ) Dahomeer (Burt . " Miss. " I, 83) - Ostafrikaner (Burt.,
C. A. II, 332) . § 187. Ka-ka-tah (Tap . 101 , 94 , 95 , 93 ) . § 190.
Pathans (Oliv. 139-140) - Fidschi-Insulaner (Ersk. 461-464)
Australier (Grey II, 239) Fidschi-Insulaner (Ersk. 288 ) ――― Belu
tschen (Oliv. 29) -
· Blantyre (Macdon. I, 185) - Wotjäken (Buch 46).
§ 191. Belutschen (Oliv. 24) Ainos (Bird II , 103 ) - Let-ntas
(Fytche I, 343) . § 192. Wolseley (Wolse . 5 ; Debrett) . § 239. Uganda
(Wils. and Fel. I, 186-187 ) - Fidschi-Insulaner (See 190) Motu
motu (Chalm. 162-163 ) . § 242. Über das Mittel (J. G. Smith 57 ).
2.1

Titel der Werke mit ihren Abkürzungen .

A. k . A. W. --- Abhandlungen der kön. Akademie der Wissenschaften.


Berlin.
Alb. - ALBITIS , F. , The Morality of all Nations. 1850 .
Alex . ALEXANDER , G. G. , Confucius , the Great Teacher. 1890 .
Allen - ALLEN , W., and T. R. H. THOMSON, A Narrative of the
Expedition to the River Niger in 1841. 2 vols. 1848.
And. _ _ _ _ _ _ _ _ ANDERSSON, C. J. , Lake Ngami . 1856 .
Angas _______ ANGAS , G. F. , Savage Life and Scenes in Australia and
New Zealand. 1847 .
Arist. Aristoteles , Politik.
» - Nicomachische Ethik.
As . Res. -- Asiatic Researches.
Atkin. ATKINSON , T. W. , Oriental and Western Siberia. 1858.
29 Travels in the Regions of the Upper and Lower Amoor,
etc. 1860 .
Baines -- BAINES , T. , Explorations in South -West Africa. 1864.
Baker — BAKER , Sir S. , The Nile Tributaries of Abyssinia. 1867.
Balf. ―― BALFOUR , E. , Cyclopaedia of India . 3. ed . 3 vols . 1875 .
Ban. ――――――― BANCROFT , H. H. , Native Races of the Pacific States of
North America. 5 vols . 1875 .
Barrow BARROW , Sir J. , Travels into the Interior of Southern
Africa.
Beech. BEECHAM, J. , Ashantee and the Gold Coast. 1841 .
Bird - BIRD, ISABELLA, Unbeaten Tracks in Japan . 2 vols . 1880.
Bogle - BOGLE , Narratives of the Mission of GEORGE BOGLE to
Thibet, etc. ED. R. C. MARKHAM. 1876 .
Boyle — BOYLE, F. , Adventures among the Dyaks of Borneo . 1865 .
Brace - BRACE, C. L. , Gesta Christi. 2. edit. 1886.
Brett BRETT, Rev. W. H. , The Indian Tribes of Guiana . 1868 .
Browne -- BROWNE, Sir TH., Religio Medici . 1656 .
Bruce - BRUCE, J. , Travels to discover the source of the Nile. 1804.
Bruch BRUCH, J. FR. , Die Weisheitslehre der Hebräer . Strass
burg, 1851 .
Buch ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ BUCH, M. , Die Wotjäken . Helsingfors , 1882.
592 Titel der Werke mit ihren Abkürzungen.

Bühler - BÜHLER, G. , The Sacred Laws of the Aryas. Oxf.


Bunsen ―――― BUNSEN , Baron C. C. J. , Egypt's Place in Universal
History. Transl. by C. H. COTTRELL . 5 vols. 1848-1867.
Burch. - BURCHELL , W. J. , Travels in the Interior of Southern
Africa. 2 vols . 1822-1824 . 4º.
Burck . --- BURCKHARDT , J. L. , Notes on the Bedouins and Wa
hábys. 1829. 4º.
Burt. ―――――――― BURTON, R. F. , The City of the Saints, etc. 1861 .
29 The Lake Regions of Central Africa. 2 vols. 1860 .
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Zur. ZURITA, AL. DE, Rapport sur les différentes classes de chefs
de la Nouvelle Espagne Trad. par H. TERNAUX-COMPANS .
In der E. Schweizerbart'schen Verlagshandlung (E. Koch) in
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Autorisirte deutsche Ausgabe


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stitution von Blattorganen durch Axenorgane bei den Pflanzen . B. Kritik von
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Gestalt und Anordnung der Blüthen.
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ductionen der Psychologie. III. Theil. Allgemeine Synthese. IV. Theil. Spe
cielle Synthese. V. Theil. Physische Synthese. Anhang. I. Über die Wir
kungen der Anästhetica und Narcotica . II. Bewusstsein unter der Einwirkung
von Chloroform .
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Band V. Die Principien der Psychologie. II . Band.
Inhalt: VI. Theil. Specielle Analyse. VII. Theil. Allgemeine Analyse.
VIII. Theil . Übereinstimmungen . IX. Theil. Folgerungen.
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Häusliche Einrichtungen. Anhang. A. Weitere Erläuterungen des primitiven
Denkens. B. Die mythologische Theorie. C. Die Methode der Sprachvergleichung
bei den Mythologen. D. Zusätze zum I. Band.
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niells. V. Theil. Staatliche Einrichtungen. Litteraturnachweis. -- Titel der
citirten Werke.
Preis Mk . 16.- .

Band IX . I. Abth . Die Principien der Sociologie. IV . Band . I. Abth.

Inhalt : Vorwort. VI . Theil. Kirchliche Einrichtungen .


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Band X. Die Principien der Ethik. I. Band .


Inhalt : Vorwort. I. Theil. Die Thatsachen der Ethik. II. Theil. Die
Inductionen der Ethik. III. Theil. Die Ethik des individuellen Lebens.
Preis Mk. 12.-.

Band XI . I. Abth . Die Principien der Ethik , II . Band . I. Abth.


Inhalt : IV. Theil . Gerechtigkeit .
Preis Mk . 8.—.

Die II. Abtheilung dieses Bandes erscheint im Jahre 1895 , womit dieser
Band abgeschlossen ist.
I
NOV 11 1898

N 4
JU 9 191
2 1926
VUE APK

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