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Adorno,+Theodor+W ++-+Werke+Bd +20 +Vermischte+Schriften+I+II+Seiten+1254+-+1262+Kopie - Natur
Adorno,+Theodor+W ++-+Werke+Bd +20 +Vermischte+Schriften+I+II+Seiten+1254+-+1262+Kopie - Natur
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Abituriums-Aufsatz
sen, aber auch von denen, die ums Letzte und Heim-
lichste kämpfen mit dem wachen Mut verwegener Ge-
danken; sie haben alle die Natur geliebt, Goethe und
Hölderlin, Schubert und Mahler, Eichendorff und
Nietzsche und Maupassant; alle diese ungleichen
Menschen haben sich verloren, um sich zu finden, sie
haben ihre Seele gefunden, sie wurden erhoben in ihre
Heimat.
– Es soll nicht geleugnet werden, daß in diesem
Sich-Verlieren Gefahr ist; daß weiche und schwache
Menschen in die Natur gehen können, nicht um sich
zu verlieren, nicht um sich zu finden, sondern um sich
zu fliehen. Aber wenn sie sich nicht wiederfinden: ist
es ein Schaden? Nein. Die Natur ist ihnen auch nur
das, was ihnen alles ist: die Dekoration für ihr armse-
liges, kleines Ich, der Hintergrund, vor dem sie ihre
Szenen mimen.
Denen aber, die Mut haben zum Leben, ist in unse-
rer späten müden Zeit die Natur die letzte Wurzel der
Kraft. In dem Naturerlebnis vollzieht sich die Gestal-
tung der Welt im Ich: eine gestaltete Welt geht in ein
gestaltetes Ich sinnvoll ein, leuchtend im Abglanz des
Göttlichen. Die Welt aber im Ich zu gestalten, ist der
Sinn des Lebens. Nur durch die Gestaltung der Welt
wird das Ich Persönlichkeit.
Dies Ziel zu erreichen, gibt uns die Natur den star-
ken Auftrieb. Wir wollen ihr dankbar sein.
Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften
18.268 Juvenilia GS 20.2, 733
Ostern 1921